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German Pages 299 [300] Year 2018
Anselm Haverkamp Metapher – Mythos – Halbzeug
Anselm Haverkamp
Metapher – Mythos – Halbzeug
Metaphorologie nach Blumenberg
ISBN 978-3-11-048371-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048637-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048494-6 Library of Congress Control Number: 2018955783 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: André Kertész, Washington Square, Winter, 1954 © 2018 Estate of André Kertész/Higher Pictures Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Legende André Kertész’ „Washington Square 1954“ ist eine legendäre Photographie des Platzes, an dem 5th Avenue in New York beginnt. Sie ist von der Nordseite aus einem Apartment aufgenommen, das Kertész mit seiner Frau Elisabeth seit 1952 bewohnte. Aus ihm hat er Platz und Stadt dreißig Jahre lang photographiert und darunter auch dieses berühmteste aller New York Bilder aufgenommen. In Henry James’ Roman Washington Square (1881) war der Platz bereits zu einem städtischen Zentrum mit den Ambitionen eines neuen Paris geworden. André Kertész Of Paris and New York (Metropolitan Museum 1985) hat ihn in utopischen Nachkriegs-Aspekten verewigt, unter denen dann eine Generation später, in Don DeLillos Epos Underworld (1997) ein untergründiger Hang zur Apokalypse hervortrat. Auch DeLillos Buch trägt auf dem Umschlag einen Kertész, der 1972 vom selben Fenster aus aufgenommen wurde und die neuen, zum Inbegriff der globalen Weltordnung bestimmten Twin Towers zeigt, vor denen ein großer schwarzer Vogel kreist. Eine Ahnung der Wende von 9/11 konnte in „Washington Square 1954“ nicht aufkommen. Sie lag nach einem heftigen nächtlichen Schneefall unter der idyllischen Oberfläche begraben wie der unter dem Geäst der Bäume verborgene sagenhafte Indianerfriedhof, der bis in die Tage von Henry James, Edith Wharton und Djuna Barnes von den Ureinwohnern besucht worden sein soll, besungen in den Leaves of Grass von Walt Whitman (1867): „Mannahatta: upsprang the aboriginal name“. Überdeckt von dem unberührten frühmorgendlichen Schnee im Januar 1954 hält das Bild einen der glücklichen Augenblicke fest, für die Kertész’ Werk berühmt ist: Dem einsamen Spaziergänger bringt er eine mit wehendem Rock am anderen Brunnenrand ins Bild schlitternde Passantin in den Sinn, als wär’ es das Paris Baudelaires und Benjamins. Im Layout des Buches erscheint die Passantin auf dem Rand verdoppelt: geht der Blick des Lesers im Eingedenken des Spaziergängers über den Einband hinaus. Siehe dazu den Beitrag des Vf.s zu Hans Blumenbergs 70. Geburtstag, „Schauplatz: Umbesetzung, momentane Evidenz: Washington Square 1954“, in Hans Blumenberg zum Geburtstag, hg. von Michael Krüger. Akzente 37, Heft 3 (1990), 60 – 66.
Inhalt Anhand von Blumenberg Ein Nachwort als Vorwort
1
Grundzüge einer Metaphorologie 1
Die Technik der Rhetorik Blumenbergs Projekt 11
2
Das Skandalon der Metaphorologie Blumenbergs philosophischer Einsatz
3
Metapher und Politik Aristoteles (Quine), Merleau-Ponty
29
61
Der philosophische Ort der Metaphorologie 4
5
6
Metaphorologie zweiten Grades Unbegrifflichkeit, Vorformen der Idee Unbegrifflichkeit des Seins Die Aufgabe der Seinsgeschichte
79
95
Blumenberg in Davos Kant und das Problem der Metakinetik
Absolutismus der Wirklichkeit 7
Lernen am Ausgang der Höhle Blumenberg für Unbelehrbare 127
8
Epochenschwelle, Anachronie 143 Der umgangene Quintilian
105
VIII
9
Inhalt
Säkularisation als Metapher Blumenberg vs. Carl Schmitt 165
Grenzwerte des Politischen 10
11
12
Arcanum translationis Das Fundament der lateinischen Tradition
181
Religio Zur doppelzüngigen Wurzel institutioneller Bindung
195
Allotria Das paläo-anthropologische Apriori der Gastfreundschaft
203
Weiterungen im Poetischen 13
Humor – Die Latenz der Form Wolfgang Preisendanz’ Provokation
223
14
Et–Et – Die Wahrheit der Kunst in einer Nuss Ein Nachtrag zu Carlo Barcks Wörterbuch 233
15
Die Spur des Genitivs im Nichts Dieter Henrich, Beckett und Hölderlin
239
Halbzeug/Skizzen 16
Paradigma Metapher, Metapher Paradigma Zur Metakinetik hermeneutischer Horizonte (Blumenberg/Derrida, 257 Kuhn/Foucault, Black/White)
17
riverrun Quintilian… Vico‥ Joyce
Nachweise Namenregister
281 285
275
Anhand von Blumenberg Ein Nachwort als Vorwort „Nous n’avons pas choisi d’être aristotéliciens. Nous le sommes …“ (Barbara Cassin)¹
Arbeit am Mythos ist ein trefflicher Titel, nicht nur, weil er den Gegenstand ‚Mythos‘ neu bestimmt, sondern weil er Philosophie als Arbeit an ihren Gegenständen, so auch an der unhintergehbar mythischen Vor-Gegebenheit dieser Gegenstände zeigt. Das hat Folgen für das Weiterarbeiten mit Blumenberg. Isabelle Stengers’ Penser avec Whitehead (2002) ist ein Beispiel dafür, wie sich die Lektüre eines Autors weiterführen und über ihn hinaus führen läßt. Leider ist die Formel des „Penser avec“ in der Übersetzung nicht so schön zu variieren wie im Französischen.² Hier ist sie, weniger elegant, aber begreifensnäher, auf ein „Anhand von“ beschränkt, während Stengers Untertitel „Une libre et sauvage création de concepts“ auch auf Blumenbergs Metaphorologie zutrifft, sofern sie die Wildheit des „Mit-Denkens“ anstelle des üblichen bilanzierenden Referierens unterstreicht. Anders als andere, die sich über die Jahre zur Orientierung anboten, eignet sich Blumenberg nicht zu Synthesen, wie sie selbst ein Adorno oder Derrida angedeutet haben. Dafür zeigt sich in der Arbeit an Blumenberg, was Weiterdenken im Einzelnen sein kann. Das Projekt der Metaphorologie entzieht sich der Synthese auf eine eigene Weise: nicht auf Grund tiefer liegender Differenzierungsoder Negativitäts-Züge, sondern auf Grund der diese überbauenden historischen Kontingenzen. Beide, Historizität und Kontingenzen, verlangen auf derart schwankenden Untergrund eine andere als die bloße begriffliche Pertinenz. Metaphern erfassen mehr, als Begriffe von sich aus begreifen. Die Intuition des wilden Denkens in Metaphern – ein philosophischer Gemeinplatz, wenn es je einen gab – unterstellt der Wildheit rückwärtig den entscheidenden, kreativen Anteil am Begreifen und schreibt dem mythischen Material, in dem es sich herausbildet, die historische Schwelle ein, an der die Arbeit beginnt. Wie und ob diese Vorgegebenheit zu überschreiten ist, wird im wilden Denken noch nicht – das ist die Schwelle – mitgedacht.
Barbara Cassin, „Sens“, L’archipel des idées de Barbara Cassin (Paris: Éditions de la maison des sciences de l’homme 2014), 29. Vgl. die vom Vf. mit Jean-Claude Monod verfaßten, unter den Titel Philosophie de la métaphore: Penser avec Blumenberg gestellten Blumenberg-Arbeiten (Paris: Herman 2017). https://doi.org/10.1515/9783110486377-001
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Anhand von Blumenberg
Trotz der ausufernden Konjunktur von Metapherntheorien gibt es auf diesem Feld nicht viel mehr als allgemeinste Anhaltspunkte, und unter ihnen scheint der Begriff der Metapher noch der handfesteste. Es ist, als verlange er keine weitere Erklärung, obwohl sich darunter die unterschiedlichsten Auffassungen finden. Blumenbergs Metaphorologie (1960) bietet in der Reihe der jüngeren MetaphernAnsätze, darunter George Lakoffs und Mark Johnsons Metaphors we live by (1980), den letzten großen Entwurf, der in der begrifflichen Abkunft von Aristoteles verharrt, bei ihm aber, anders als bei Lakoff und Jonson, nicht nur als Remittende stehen geblieben ist. Denis Donoghue, ein Virtuose der literarischen Interpretation, der jüngst auch ein Metaphernbuch geschrieben und darin ein Kapitel „After Aristotle“ überschrieben hat, weist Lakoff–Johnsons Trivialisierungen mit leichter Hand zurück, zu Recht.³ Andererseits kann Peter Fuchs das systemtheoretische Pendant zu der geballten literarischen Tradition, die undurchschaut auch bei ihm mitläuft und alles andere ist als ein beliebiger Wildwuchs, die Metapher des Systems nur als eine ‚durchstrichene‘ Version des aristotelischen Modells gelten lassen: als jene Fähigkeit zur Selbstüberschreitung, die Blumenberg als „Mut der Vermutung“ der Neuzeit insgesamt bescheinigt hatte.⁴ Literatur und Systeme sind die Extremposten, an denen die Reichweite der von Blumenberg frei nach Heidegger so genannten ‚Metakinesis‘ abschätzbar ist, die in der Treffsicherheit des jungen Heidegger „Umgangsbewegtheit des Herstellens“ heißt und das charakteristische Merkmal der poiesis ist.⁵ Die in den aristotelischen Problemata belegten Metakinesen (10.13) benennen mit der untergründigen Bewegtheit begrifflichen Erfassens eine systematische Voraussetzung, die in der mimetischen Einbettung flexiblen Sprachgebrauchs Metaphern möglich macht. Blumenbergs Metaphorologie handelt von dieser Voraussetzung, die als Anlaß jeden Neubegreifens in Metaphern reflektiert ist und an ihnen thematisierbar geworden ist; Bruno Snell hatte darin die Entdeckung des Geistes gesehen (1946). Nicht an der prinzipiellen Offenheit der Metakinesen, sondern an der Vielfalt der historischen Anläße liegt es im Folgenden, wenn im Festhalten an der Quelle Aristoteles die weiterführenden Momente des metaphorologischen Projekts nur verlängert, aber zu keinem Ende gebracht sind. Kant, der erklärte Anlaß von Blumenbergs Unternehmen, wie auch Baumgartens Ästhetik verlangen Konse-
Denis Donoghue, Metaphor (Cambridge MA: Harvard University Press 2014), 164– 165. Peter Fuchs, Die Metapher des Systems (Weilerswist: Vellbrück Wissenschaft 2001), 242– 244. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (1922), jetzt im Anhang der Gesamtausgabe 62 (Frankfurt/M: Klostermann 2005), 345 – 399: 373; der Text ist erst 1986 wiedergefunden worden, so daß ihn Blumenberg zuvor wohl nur vom Hörensagen gekannt haben kann und zur Kenntnis genommen haben wird, was die Entdeckung der Sachlage, die in den umgebenden bekannten Texten der Zeit durchaus manifest ist, nicht beeinträchtigt.
Ein Nachwort als Vorwort
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quenzen, die Blumenberg nicht völlig übersehen, aber doch unterschätzt hat. Sie sind in einer Figur Quintilians, der Metalepsis, angedeutet, die von Blumenberg in der Beschreibung der „Sprengmetaphorik“ aus dem rhetorischen Befund der transumptio erschlossen worden ist und einen vagen Anhalt im Gebrauch auch dieses Terminus bei Aristoteles gehabt haben mag (Metaphysik 1072b 20). Christopher Wood sieht darin die „tiefere Untersuchung“ bestätigt, die Blumenberg bei Kant angeregt fand.⁶ Die Verkomplizierung, die als historische nach transzendentaler Ausarbeitung schreit, ihrem systemtheoretischen Supplement, so erhellend es auch sein mag, hinterrücks einzuschreiben, war meine Sache allerdings nie. Dies umso weniger, als in Quintilians unübertroffener, ebenso wirksamer wie unterschätzter Anknüpfung an ‚den Philosophen‘ (Institutio oratoria 8.3.6 oder 8.6.9) ein kaum zu überbietendes Netzwerk von Unterscheidungen vorliegt, das bei Blumenberg nicht mit in den Blick kommt, sondern intuitiv übersprungen ist. Zum Glück hatte bereits Heinrich Lausberg (1960), altväterlich umständlich wie er war, Quintilian in die Hand genommen und nicht Luhmann.⁷ Ungleich näherliegend gab schon die interpretative Praxis des New Criticism zu denken, indem sie, rhetorisch beschlagen, Quintilian selbst aber seit Puttenhams Arte of English Poesie entfremdet (1589), nach den Seven Types of Ambiguity von William Empson (1930) in der Structure of Complex Words (1951) einen präzise datierten neuzeitlichen Textbestand aufgearbeitet hatte. Der im Jahrhundert-Unternehmen des Oxford English Dictionary erfaßte Sprachwandel, der ‚Geschichte‘ als sprachliche Verfasstheit erweist, ist in der philologischen Aufarbeitung von I.A. Richards und Empson bis hin zu Donoghue textkritisch erschlossen worden. Ich lege den analytischen Standard, der dort erreicht ist, an die Phänomenologie der Geschichte an, die Blumenberg postuliert hat, sich bei ihm aber immer wieder nur auf den einen selben Generalnenner, die Metapher, zurückgeworfen sah, sowie in ihrem Gefolge auf den seit Vico mit der Metapher kurzgeschlossenen Mythos. In dieser Hinsicht war die an der ramistischen Rhetorik geschulte, seit Kenneth Burke an Vicos „Four Master Tropes“ (1941) orientierte Tradition, die wir aus Joyce, Proust und Beckett kennen, ungleich differenzierter. Metaphorologie
Christopher Wood, „Metalepsis“, Denkfiguren / Figures of Thought, hg. Eva Horn und Michèle Lowrie (Berlin: August 2013), 111– 113. Dazu kommen komplette linguistische Neuformatierungen wie die der Lütticher Rhetorik von Jacques Dubois, Francis Edeline, Jean-Marie Klinkenberg, Philippe Minguet, François Pire und Hadelin Trinon (Groupe μ, Centre d’études poétiques, Université de Lièges), Rhétorique générale (Paris: Larousse 1970, Seuil 1982), für die das Paläonym der Metapher – M/μ steht für Quintilians Metapher – wegweisend blieb, während in der vergleichbaren Neuveranlagung von Michele Prandi, Grammaire philosophique des tropes (Paris: Minuit 1992), die Synekdoche zur zentralen metaphorischen Figur avanciert.
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Anhand von Blumenberg
verlangt Differenzierungen ihrer rhetorischen Provenienz, die Blumenberg auf sehr eigene Faust, ingeniös, okkasionell, in Begriffsbildungen wie ‚Sprengmetaphorik‘ oder ‚Metaphernrealismus‘ und nicht zuletzt auch den ‚Wirklichkeitsbegriffen‘ (Poetik und Hermeneutik I 1964) erschlossen hat. Gehörte es zu den Eigenheiten Blumenbergs, zum Weiterdenken anzuhalten, so tun sie das weniger obwohl, als weil sie im Unfertigen bleiben. Denn unfertig sind die Gedanken, solange gedacht wird. Das kennzeichnete die Misere der von Erich Rothacker vergeblich entschuldigten ‚dogmatischen Denkform‘ (1954) mit samt des positivistischen Historismus, an dem der junge Blumenberg sein erstes Maß nahm. Deren dogmatischen Versteinerungen – Katachresen und abusiones in der Sprache der Rhetorik – setzte das rhetorische Lexikon Jahrhunderte effektiver translationes entgegen, unter denen die erste, vom Griechischen in das Latein Quintilians führende, von Cicero zu philologischer Disziplin geführte Übernahme prägend geblieben ist. Unfertig heißt seither auch ‚weiter übersetzbar‘ und als übersetzbar ‚parat‘ in der an Husserl anknüpfenden Redeweise der Phänomenologen; die Paratheit ist sprachlich-historischer Natur. Harold Blooms Map of Misreading (1975), der rhetorischen Tradition näher, spricht treffend von ‚retroping‘. Was parat liegt im tropischen Vorfeld des begrifflich zu Erfassenden, kann Blumenberg nach der Kritik der reinen Vernunft zitieren: „Würde man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können, als bis man ihn definiert hätte, so würde es gar schlecht mit allem Philosophieren stehen“ (A 731/ B 759).⁸ Der wissenschaftshistorisch und forschungspolitisch letzte, brisanteste Wechsel, der das Interesse an Blumenberg bewegt und eine metaphorologische Antwort verlangt, heißt ‚Anthropologie‘. Sie verspricht anstelle der Metakinesen ein ur-literales Fundament der seit Baumgarten und Kant erschütterten reformierten Selbstverständnissse. Kurz, sie ersetzt und erspart die historische Arbeit der Metaphorologie. Ich teile das künstlich wiederbelebte Erkenntnisfundierungsinteresse an der Anthropologie nicht und habe das in ihm kultivierte Mißverständnis oft genug zurückgewiesen. Denn tatsächlich verhält es sich umgekehrt, und die Vertiefung des Aristoteles durch Kant, die Blumenberg mit Heidegger und Walter Bröcker teilt, bringt das metaphorologische Format auch und insbesondere des Anthropologiebegriffs heraus, den Untergrund der von Adorno als ein totaler ‚Verblendungszusammenhang‘ denunzierten, von Blumenberg als ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ beschriebenen falschen, ihrer Dialektik vollends erlegenen Aufklärung. Anthropologie, in Hegels Enzyklopädie mit
Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ (1971), Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 327– 405: zit. 328.
Ein Nachwort als Vorwort
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dem Werden, und zwar dem „Werden der Freiheit“ verbunden, entgeht der probaten Ideologisierung des Freiheitsbegriffs nur, weil und solange die Freiheit bei Hegel (nicht Blumenbergs Stärke) eine wechselnde, konflikthaft anwachsende „Voraussetzung der entwickelten Formen des Geistes“ ist: nicht deren täuschende Substanz, sondern ein Moment ihrer Kinese.⁹ So steht am Ende dieses Buches keine anthropologische Apotheose der Metaphorologie, sondern nur der unfertige Aufriß des „schwanken Grundes“, den Hölderlins Mnemosyne, „fernahnend“, in den Metakinesen des Aristoteles imaginiert hat, und den Dieter Henrich, der Kollege und Konkurrent von Blumenberg in der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, in seiner Bedeutung für die Anknüpfung Becketts an Hölderlin in Erinnerung gebracht hat (2016); es ist dies (das ist zu ergänzen) ein metaphorologisch zu erforschender Grund. Die Rolle der Literatur, genauer seit Baumgarten und Kant der Ästhetik als einer geschichtsbildenden Kraft, ist ein weites, kaum erschlossenes, stark überfremdetes Feld, auf dem meine Blumenberg-Anknüpfungen sporadisch geblieben sind.¹⁰ Zentrale Bezüge wie der Begriff der ‚Kraft‘, seit Newton ein Inbegriff unbegriffener Wirkungen (Figura cryptica 2002), und die performativen Implikationen der Metapher, die Hans Lipps (von Blumenberg übersehen) entdeckt hat (Metapher 2007), sind hier mit zu denken, aber in ihren Kontexten leicht zugänglich und deshalb nicht wieder abgedruckt.¹¹ Dasselbe gilt für die untergründigen Verbindungen zur sprachanalytischen Tradition, vorzüglich bei Stanley Cavell und Ted Cohen (Die paradoxe Metapher 1998). Stattdessen sind einige prägnante, in der Prägnanz fruchtbare poetologische Weiterungen aus dem Umfeld mit einbezogen. Sie betreffen den gemiedenen Hegel (neben Quintilian die wichtigste Lacuna im Werk Blumenbergs), der in den Kreisen um Poetik und Hermeneutik die Geister ebenso schied wie motivierte, exemplarisch bei Wolfgang Preisendanz, Karlheinz Barck, Dieter Henrich. In der Anordnung der Kapitel folge ich den Anlässen und Interessenlagen in Dreierfeldern: ‚Grundzüge‘ (1– 3) und ‚Ort‘ (4– 6) referieren und situieren das Projekt der Metaphorologie. ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ (7– 9) bezeichnet eine im historischen Wandel sensibler Phasen und Cäsuren (Platon, Quintilian, Schmitt) gleichbleibende Tendenz oder Latenz, an der ‚Grenzwerte des Politi-
Thomas Khurana, Das Leben der Freiheit: Form und Wirklichkeit der Autonomie (Berlin: Suhrkamp 2018), 409 ff. (§ 82). Vgl. Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp, Christoph Menke Baumgarten-Studien: Zur Genealogie des Ästhetischen (Berlin: August 2014). Vf. Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), Kap. 5; Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik (München: Fink 2007), Kap. 8. Hg. Die paradoxe Metapher (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), Einleitung.
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Anhand von Blumenberg
schen‘ auszumachen und zu bemessen sind (10 – 12): Begriffe, in denen ‚Metakinetik‘ zu unterstellen, aber weiter zu explizieren oder zu revidieren ist. Charakteristischerweise – das lehrt die Epochenschwelle Quintilian wie keine andere – sind Paläonyme wie die Metapher rhetorischer Herkunft. Die Provinz der Aesthetica Baumgartens (1750), von deren kantischer Revision Blumenberg ausgeht, stellt die alten Termini auf die Probe, erledigt sie aber nicht. Die Konjunktur neuer Begriffe wie des Symbols täuscht darüber bis heute nachhaltig hinweg. Politische Voraussetzungen und ästhetische Weiterungen der Epoche führen in Kulissen, aus denen die Philosophie Blumenbergs auf die Bühne seiner Zeit trat (10 – 12). Im Umfeld von Poetik und Hermeneutik erinnern sie an viel liegen Gebliebenes, längst nicht Abgeschlossenes, weiter Unerledigtes (13 – 15). Die historische Strecke des Diskutierten (die letzten zwanzig Jahre) ist in der Zusammenstellung der Dreiergruppen mit abgebildet; einiges geht noch auf Versuche der achziger Jahre zurück und ist entscheidend von Blumenbergs Rückzug geprägt, der zuerst in Poetik und Hermeneutik XII zu Buche schlug (1986) und vom Tod Paul de Mans (Ende 1983) mit betroffen war, der mit Blumenberg zu den Ausblicken der Theorie der Metapher beitrug (1983), aber an dem Kolloquium darüber nicht mehr teilnehmen konnte. Es blieb bei Unfertigem.¹² Die Metapher des von Blumenberg aus Sein und Zeit (§ 15) geborgten, von Rüdiger Campe ans Licht gehobenen ‚Halbzeugs‘ betrifft nicht nur die Rohlinge der analytischen Bearbeitung vor ihrer Ausfeilung, nicht allein den vorbegrifflichen Status der Aussagen, sondern die Zeit der Ausarbeitung, Latenzzeit. Sie zeigt hier einmal mehr: nichts ist auf einen Streich zu erledigen. So ist nichts mehr Halbzeug als das abschließend skizzierte, über die Jahre vorläufig Erwogene (16 – 17). Jeder Entwurf hängt an der Sprach-Materie der im historischen Geschichte schwankend vorfindlichen Orte.¹³
Vgl. Stand der Beiträge und Einleitung des Vf.s zu der Sektion „Rhetorik, Poetik, Dekonstruktion“, Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft (DFG-Symposien XVIII), hg. Gerhard Neumann (Stuttgart: Metzler 1997), 183 – 193: „Nothing presents itself…“ Ebenso „Nach der Metapher: Nachwort zur Neuausgabe“, Theorie der Metapher. Studienausgabe (Darmstadt: WBG 1996), 497– 503. Auf eine explizite Auseinandersetzung mit der anschwellenden, in die Form einer Blumenberg-Gesellschaft (2017) einmündenden Welle der Blumenberg-Literatur habe ich über das gelegentlich Gesagte hinaus verzichtet. Vgl. zuletzt Vf. „Latenzzeit Mittelalter: Kurt Flasch und der junge Hans Blumenberg“, Philosophische Rundschau 65 (2018), über Flaschs monumentale Selbstdarstellung Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland 1945 – 1966 (Frankfurt/M: Klostermann 2017).
Ein Nachwort als Vorwort
Abgekürzt zitierte Referenztexte Harold Bloom, A Map of Misreading (NewYork NY: Oxford University Press 1975). Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), kommentierte Ausgabe von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013). Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001). Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2007). Kenneth Burke, A Grammar of Motives (Berkeley CA: University of California Press 1945). Jacques Dubois, Francis Edeline, Jean-Marie Klinkenberg, Philippe Minguet, François Pire und Hadelin Trinon (Groupe μ), Rhétorique générale (Paris: Larousse 1970; Seuil 1982). William Empson, Seven Types of Ambiguity (London: Chatto and Windus 1930). William Empson, The Structure of Complex Words (London: Chatto and Windus 1951). Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983). Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998). Anselm Haverkamp, Jean-Claude Monod, Philosophie de la métaphore: Penser avec Blumenberg (Paris: Herman 2017). George Lakoff, Mark Johnson, Metaphors we live by (Chicago IL: University of Chicago Press 1980). Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik (München Hueber 1960). I. A. Richards, The Philosophy of Rhetoric (New York NY: Oxford University Press 1936). I. A. Richards, Speculative Instruments (London: Routledge & Kegan Paul 1955). Erich Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften (Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1954). Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes (Hamburg: Hoffmann und Campe 1946). Isabelle Stengers, Penser avec Whitehead (Paris: Gallimard 2002).
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Grundzüge einer Metaphorologie
1 Die Technik der Rhetorik Blumenbergs Projekt „ehestens Kant“¹
Hans Blumenbergs ästhetische und metaphorologische Schriften umfassen kaum mehr als zwei Jahrzehnte, die fünfziger und sechziger Jahre, mit einigen Nachkömmlingen, bevor mit der Arbeit am Mythos (1979) das vielbändige Spätwerk der achtziger Jahre einsetzt. Dem frühen Ruhm zum Trotz und trotz der Hochschätzung des Spätwerks ist die Blumenberg-Philologie nicht aus den Kinderschuhen herausgekommen. Man spricht von genialen Anfängen und einem Spätwerk, als sei der Autor ein Spätentwickler, dessen Werk am Ende zu reicher Fülle gedieh, nachdem die schmächtigen Nachkriegsversuche, zeitverhaftet wie sie sein mußten, überwunden waren. Wegmarken in dieser rudimentären Chronologie sind trotz so bekannter Meilensteine wie der Nachahmung der Natur (1957) spärlich, nicht zu sagen obskur. Die beiden ersten bedeutenden Bücher, Dissertation (1947) und Habilitationsschrift (1950), in atemberaubendem Tempo Ende der vierziger Jahre vollendet, sind nie im Druck erschienen, und die Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), in denen die Schriften der fünfziger Jahre ihren Höhepunkt finden, sind erst nach dem Tod des Autors in einer selbstständigen Ausgabe zugänglich geworden (1998). Das geschah nicht ohne sein Zutun, sei es aus Zurückhaltung, sei es aus Überdruß gegenüber dem, was er als unvollkommen, überholt oder gescheitert ansehen mochte, aber in Ausnahmefällen wiederaufzunehmen bereit war. Der frühe Blumenberg war anders als es die gewaltigen Überbauungen der Arbeit am Mythos erkennen lassen. Noch die großen, wegen ihrer anschaulichen Gelehrsamkeit und ihres anekdotischen Geschicks gerühmten Bände der achtziger Jahre sind begleitet von Stücken der älteren, härteren Prosa pointierter Theoriebildung. Die Anthropolo-
Nachwort zu der Auswahlausgabe Ästhetische und metaphorologische Schriften (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 435 – 454. Die Seiten-Nachweise der Blumenberg-Texte beziehen sich unter dem Kurztitel Schriften auf diese Ausgabe. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), separater Nachdruck (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), im Folgenden nach der inzwischen erschienenen kommentierten NeuAusgabe (Berlin: Suhrkamp 2013), hier 138. Seitennachweise unter dem Kurztitel Paradigmen nach dieser Ausgabe. https://doi.org/10.1515/9783110486377-002
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1 Die Technik der Rhetorik
gische Annäherung an die Rhetorik, für zehn Jahre versteckt in einer italienischen Avantgarde-Zeitschrift (1971), und der Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (1979), als abschließender Beitrag zu einer wissenschaftshistorischen Bilanz zur Metapherntheorie verfaßt, zeigen, daß die frühen Ansätze weder überholt noch vergessen waren, daß sie im Gegenteil mit größter Schärfe in den Vordergrund treten konnten.² Das Kapitel Im Fliegenglas, überschüssig wie es ist unter den Schluß-Exkursen der Höhlenausgänge (1989), ist das letzte bedeutende Beispiel. In ihm findet der Grundgedanke der Metaphorologie nicht nur ein Echo, sondern eine neue, abschließende Pointe. Dies anhand eines Autors, der nicht nur bei Blumenberg die Provokation Heideggers befrieden hilft, Wittgenstein. „Die Problematik der Höhlenausgänge liegt darin, daß man in einer Höhle nicht darstellen kann, was eine Höhle ist“, umreißt Blumenberg das Terrain des weitläufigen Werks, auf dem Wittgenstein die letzte, unübertreffliche Denkfigur bietet.³
Theorie der Metapher (Wege der Forschung 389), hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, 2. Aufl. 1996), 438 – 454, dort der abschließende Beitrag des Bandes. Der Einbau des Ausblicks in das Bändchen Schiffbruch mit Zuschauer, dem Blumenberg den Untertitel „Paradigma einer Daseinsmetapher“ gegeben hat, ist von emblematischer Undurchsichtigkeit, es vorsichtig zu sagen; er täuscht. Keine Daseinsmetaphorik, so paradigmatisch sich das bloße Dasein im Blick des Zuschauers offenbaren mag, verheißt der Ausblick, sondern eine Revision der Paradigmatik der Metaphorologie. Diese war in dem kurzen Stück Paradigma grammatisch immerhin als syntaktischer Grenzwert faßbar und daraus wird in der Anthropologischen Annäherung an die Rhetorik die Konsequenz gezogen. Beide sind in den Sammelband Wirklichkeiten in denen wir leben aufgenommen, der nach dem Ausblick erschien, von dessen Programm aber methodisch überflügelt wird. Wie die Cassirer-Rede am Ende des Bandes zeigt, zog sich Blumenberg trotz des doppelt, in Annäherung und Ausblick neu gefaßten, tiefer gelegten Ansatzes, auf eine Minimalkonzeption im Stil der ‚symbolischen Formen‘ zurück. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt/M: Suhrkamp 1989), 89. Das Szenario des Zurückkommens auf das metaphorologische Design ist bemerkenswert. Es ist, als erlaube sich Blumenberg erst am Schluß wieder in der alten Sache und auf dem alten Niveau tätig zu werden. Tatsächlich bieten die unter der Überschrift „Andere doch keine letzten Gefangenschaften“ stehenden letzten Kapitel der Höhlenausgänge eine Genealogie des eigenen Ansatzes. Das „Fliegenglas“ folgt auf die Würdigung der Platon-Verdienste des Lehrers Walter Bröcker, welche auf eine in dieser Härte bis dahin bei Blumenberg unerhörte Abrechnung mit dem „Rezeptionsunfall“ Heideggers, dessen Lehrer, folgt, sowie davor Freud und Husserl, um danach, im vorletzten Kapitel, an „Hitlers letztem Funkspruch“ den als Alternative zu Heideggers Seinsgeschichte eingeführten ‚Wirklichkeitsbegriff‘ in Stellung zu bringen. Zwischen Heidegger und Hitler läßt geballte Wittgenstein-Lektüre dem ‚Seinsbegriff‘ Heideggers keine Chance: „dieser Abweg oder Umweg bietet sich nicht mehr an“ (806). Dabei stimmt Blumenberg mit Heidegger überein: die Crux der Phänomenologie liegt bei Platon, aber Wittgenstein zeigt die Platon gemäßere Lösung. Das Buch endet nicht damit; Blumenberg hatte immer mehr zu sagen. Am Ende steht, im reinen unkommentierten Zitat „Ein anderer Mythos“, ein Gleichnis (würde Wittgenstein sagen) aus dem Babylonischen Talmud.
Blumenbergs Projekt
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Am Ende der Höhlenausgänge, als deren letzter, erweist sich das Fliegenglas als ein Gleichnis für die Höhle der Phänomenologie. Es zeigt, wie die phänomenale Falle, die in der Politeia totalitäre Züge annahm, in den Wirklichkeitsbegriff der Phänomenologen eingebaut ist. Als die der Phänomenologie angemessenere Rezeption kann es den „Rezeptionsunfall“ Heidegger nicht vergessen machen, aber es wirft ein Licht auf die Anfälligkeit, die Verführbarkeit des Philosophen (2002). Blumenbergs Projekt unter den Überwucherungen des Spätwerks zu rekonstruieren, in seiner Re- oder De-konstruktion der Philosophie Heideggers und Wittgensteins lesbar und nachvollziehbar zu machen, ist eine unsichere Sache, solange man die Ausgangskonstellation nicht im Blick hat. In den frühen Schriften liegt sie glasklar, in deutlichen Abstufungen und Weiterentwicklungen vor Augen. Die Frage der Diskontinuität, der Ablenkung, Umlenkung oder Aufgabe der ursprünglichen Projekt-Umrisse wird erst in den siebziger Jahren virulent, nach der Fehlrezeption, der Blumenberg sein zweites großes Werk, Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975) erlegen sah.⁴ Zwar fand er die gelehrte Konzeption und die Eleganz der historischen Darstellung gewürdigt, die metaphorologische Pointe dagegen völlig übersehen. Das Projekt der Metaphorologie kam zum Stillstand; es zog in der Lesbarkeit der Welt (1981) eine Vielfalt von Miscellanea nach sich, aber so viele grundlegende Merksätze man daraus gewinnen mag, es ist keine grundlegende methodische Abhandlung mehr. Hin und wieder finden sich noch Ansätze einer methodischen Vertiefung wie in dem Stück Paradigma, grammatisch aus den verstreuten Beobachtungen zur Metapher (1971), und der Aufsatz Geld oder Leben (1976), der das Wort „metaphorologisch“ im Untertitel trägt, verspricht ein kapitales neues Paradigma, dessen Stelle im Kontext der alten Paradigmen, aber auch des neuen Ausblicks unerörtert blieb. Nun war schon die Metaphorologie nicht, als was sie fast ratlos gelobt wurde, nur die gründlichste Abhandlung des rhetorischen Phänomens der Metapher. Das war sie gewiß auch in dem paradigmatischen Sinne, der im Titel stand, und sie
Der ohne Zweifel große Erfolg der Legitimität der Neuzeit (1967) war womöglich in der Sache gar nicht angemessener; er lag an einer theologiegeschichtlichen Provokation, die sich anhand der Wissenschaftsgeschichte nicht wiederholen ließ, deren wissenschaftshistorische Konsequenz im Gegenteil nichts als eine Art übermäßiger Fleißarbeit erschien. Daß er die handliche façon de parler von der ‚Säkularisierung‘ im ersten Buch doch nicht vom Tisch gebracht hatte, zeigte sich am zweiten, dem man die metaphorologische Struktur sowenig ansah, wie man sie der Anwendung im ersten abgenommen hatte. Das hätte nicht überraschen dürfen, denn daß die auf diese Weise in der Rezeption bestätigte theologische Präokkupation der Geistesgeschichte den Fortschritt der Naturwissenschaften als Epiphänomen ihrer selbst mißversteht, ist Teilaspekt des Buches.
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fügte sich darin dem geistesgeschichtlichen Stand der Zeit nur zu gut, der in der Figur der Metapher für diskutabel hielt, was an Rhetorik insgesamt diskutabel sein mochte.⁵ Die „Umkehrung der Blickrichtung“ deren Programm im Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit ausformuliert wurde, deren Tragweite im späteren Werk aber dahinstehen sollte (Schriften 193), zitiert die ‚kopernikanische Wende‘ Kants, mit der, recht besehen, die Reichweite der Paradigmen problematisch wurde; allenfalls in der Wissenschaftsgeschichte Thomas Kuhns schien ihr eine regionale, dem historischen Charakter der Experimentalwissenschaften geschuldete, via Wittgenstein aufgeklärte Bedeutung zu bleiben (Schriften 172). Das indirekte Eingeständnis des Ausblicks, mit der Metapher womöglich auf das falsche Pferd gesetzt zu haben, faßt neu, wofür die Metapher wohl das richtige, aber inaktuelle Paradigma war: „Die modernen Schwierigkeiten der Rhetorik mit der Wirklichkeit,“ heißt es im Neuansatz der Anthropologischen Annäherung, „bestehen zum guten Teil darin daß diese Wirklichkeit keinen Appellationswert mehr hat, weil sie ihrerseits Resultat künstlicher Prozesse ist“ (Schriften 429/30). Der Befund der Metaphorologie, den „ehestens Kant“ adäquat diagnostiziert hätte und Blumenberg ihm als Anstoß für die „tiefere Untersuchung“ der Paradigmen explizit dankt (Paradigmen 16), hatte mit Kants Entdeckung auch schon ihre historische Grenze offenbart. Blumenberg sah diese Begrenzung als Crux jeder Metaphorologie vorgezeichnet, hatte aber offengelassen, ob Kants transzendentale Reflexion, die ihm als Modell dienen sollte, über diese Grenze mehr als transzendental, in einem „radikaleren“ historischen Sinne erhaben sein könnte. Der „eigentümliche Sachverhalt“, den Blumenberg gleich zu Beginn der Metaphorologie zu bedenken gibt, „daß die reflektierende ‚Entdeckung‘ der authentischen Potenz der Metaphorik die daraufhin produzierten Metaphern als
Der begriffsgeschichtliche Anlaß, der am Ort der Erstveröffentlichung der Paradigmen, dem Archiv für Begriffsgeschichte auf der Hand zu liegen schien, tat ein übriges, Blumenberg unter den Kompromiß dieser forschungspolitischen Errungenschaft, der er sich nicht verschließen konnte, zu verbuchen. Immerhin erwies ihm Joachim Ritters Einleitung in das auf dieser Grundlage begonnene Historische Wörterbuch der Philosophie ausführlich die Ehre, als das schlechthin NichtMachbare nicht kommensurabel zu sein. Er war es tatsächlich nicht, denn die Metaphorologie barg, wie Ritter klar einsah, den Stachel einer radikalen Alternative. Sie war mehr als eine „subsidiäre Methodik für die gerade ausholende Begriffsgeschichte,“ als die Blumenberg eigenhändig das abgetane Vorhaben verleugnet, als sei er rückblickend von der eigenen Kompromißbereitschaft enttäuscht (Schriften 193). Die Metaphorologie hätte, seine Vorzugsmetapher zu zitieren, das Wörterbuch „gesprengt“ statt ergänzt. Tatsächlich trifft der Satz nicht auf die Metaphorologie zu, sondern was in der Lesbarkeit der Welt daraus werden sollte: ein ins Subsidiäre rückgestuftes begriffsgeschichtliches Komplement des Spätwerks seit der Arbeit am Mythos. Daß Begriffsgeschichte dem Autor eine liebe Gewohnheit und virtuos geübt blieb, läßt den Verlust nicht leichter verschmerzen.
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Objekte einer historischen Metaphorologie entwerten“ müsse (Paradigmen 13), scheint mit Kants transzendentaler Wende erfüllt. Die grundsätzliche ‚Verborgenheit‘ der Metapher, mit der Blumenberg Heideggers ‚Seinsverborgenheit‘ beim Wort nimmt und auf historisch gegebene Zustände sprachlicher Erschlossenheit von Welt bezieht, scheint präzise bei Kant der „authentischen Potenz“ verlustig gegangen zu sein. Daß die von der Rhetorik unterstellte Wirklichkeit „keinen Appellationswert mehr hat“, ruft eine Nachfolgeformation auf den Plan, die Blumenberg mit Kant Anthropologie nennt (Schriften 407); sie läßt die Menge der rhetorischen Konstellationen als vorkritische Wirklichkeitsbegriffe hinter sich. Die Wirklichkeit kommt auf einen anthropologischen Begriff, aber es ist eine neue Figur, die wie die alten Begriffe von Wirklichkeit diese produziert, moduliert, figuriert. Weit davon entfernt, der Anthropologie als solcher das Wort zu reden, bezeichnet der Ausdruck Anthropologische Annäherung an die Rhetorik einen neuen Stand von Rhetorik, auf dem Anthropologie der Rhetorik an verborgener Wirkung nahekommt und sie an nötigem „Appellationswert“ übertrifft. Sie ist eine transzendental radikalisierte Rhetorik, deren absolute Metaphern, Nietzsche beizuziehen, Anthropomorphismen sind und als Anthropologica – den Aesthetica Baumgartens entsprechend – neue Evidenz schaffen und hermeneutisch geltend machen (Schriften 419). In der Genesis der kopernikanischen Welt war die transzendentale Wende mit der historischen Einsicht Kants in die ‚kopernikanische Wende‘ verbunden und als metaphorologische Wende zur anthropologischen Welt markiert. Schon unter den Paradigmen, die alles andere als eine willkürliche Konstellation vorstellen, war diese Möglichkeit vorgezeichnet im vorletzten Paradigma der „Metaphorisierten Kosmologie“. Es steht nicht von ungefähr an dieser Stelle, denn in ihm wird „die kopernikanische Umformung des Kosmos zum Orientierungsmodell“, und die Frage, deren Beantwortung dieses Modell anbietet, ist keine andere als die „Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt“ (Paradigmen 142). Mit „rein theoretischen und begrifflichen Mitteln“ war sie „noch nie [zu] beantworten“ gewesen – der antiken Erkenntnispragmatik hatte sie sich nicht stellen können, weil sie erst dem Schöpfergott, seiner Stelle im Kosmos geschuldet ist. Als anthropologische Frage folgt sie aus dem Umformungsprozeß des Kosmos zu einem Orientierungsmodell, in dem diese Stelle vorgesehen ist. Blumenberg läßt zur Formulierung des Befundes den Titel Max Schelers, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) nicht aus, denn er gibt ihm Gelegenheit, die universalhistorische Fehlverwendung des Wortes Kosmos zu korrigieren und ihn durch den phänomenologischen Weltbegriff zu ersetzen, der sich allein aus dem Wandel der nurmehr in einem metaphorischen Sinne kosmischen Orientierung erklärt. Allein metaphorologisch, durch keine sachliche Referenz gestützt, impliziert die Genesis
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der kopernikanischen Welt den Übergang vom rhetorischen zum anthropologischen Welt-Bild. Die Anthropologische Annäherung indiziert also keine anthropologische Wende des Autors, wie man immer wieder hört; sie zielt im Gegenteil auf die metarhetorische Radikalisierung des überholten metaphorologischen Projekts, nachdem dieses die Tücken der Historisierung offenbart hatte. Die mangelnde Historisierung der Phänomenologie ging tiefer als die metaphorologische Differenzierung erwarten ließ. Die Absicht, die in der Einleitung zu den Wirklichkeiten in denen wir leben (1981) formuliert wird, „eine Phänomenologie der Geschichte“ zu entwerfen (Wirklichkeiten 6), ist im ersten Essay nach ihrem Erkenntnisinteresse benannt: Unter dem Titel „Lebenswelt und Technisierung“ postuliert er den Perspektivwechsel vom methodischen Thema ‚Metapher‘ auf den phänomenologischen Horizont ‚Wirklichkeit‘; er liefert die phänomenologische Begründung für das, was die Anthropologische Annäherung methodisch motivieren, zugleich aber in der Anwendung begrenzen soll.⁶ Im Horizont von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Leben‘ versinken die Schichten der verflossenen metaphorologischen Umbesetzungen. Anthropologie verleugnet die figurale Genealogie ihres Wirklichkeitsbegriffs, nivelliert ihn zum Mythos. Die Blumenberg-Lektüre hat sich diesem Zug zum Mythos nur zu gern gefügt und in vorauseilendem Gehorsam das Projekt verkannt, dem Blumenberg selbst bis zur Selbstverleugnung nachgegangen ist. Wirklichkeiten in denen wir leben ist die einzige Aufsatzsammlung Blumenbergs; vom Autor selbst komponiert, entwirft sie einen Übergang von den frühen Schriften auf den Horizont der Arbeiten nach der Arbeit am Mythos. Eine vergleichbar übergreifende Absicht oder Perspektive, vergleichbar der ‚Phänome-
Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“ (1963), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 7– 54. Die Engführung beider, phänomenologischer Wahrheit und metaphorologischer Methode war das Diskussionsangebot der gleichzeitigen, programmatischen Vorlage Blumenbergs zu Poetik und Hermeneutik I (1964), „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in der die Poetik des Romans die methodische Provokation hermeneutischer Horizontabhebungen ist. Zum Programm der Rezeptionsästhetik ist die Methode in der Konstanzer Antrittsvorlesung von Hans Robert Jauß erhoben worden, Literaturgeschichte als Provokation (1967). Der andere Philosoph der Stunde, Dieter Henrich, ließ es sich nicht nehmen, mit dem Vorwurf des „vorkritischen“ Rückfalls den kantischen Ehrgeiz von Blumenbergs Entwurf auf die Probe zu stellen, Poetik und Hermeneutik I, Diskussionsteil 225 – 226. Clemens Lugowskis Begriff des ‚mythischen Analogon‘ hätte sich angeboten, zumal ihn dieser an der Form der Individualität im Roman (1931) entwickelt hatte; für Blumenberg erübrigte er sich, da alle Arbeit am Mythos grundsätzlich in Analoga verläuft und ‚Rezeption‘ bei Blumenberg der Inbegriff solcher Analoga ist. Siehe inzwischen auch Vf. „Nothing Fails like Success. Poetics and Hermeneutics: A Postwar Initiative by Hans Blumenberg“, MLN [Modern Language Notes] 130 (2015), 1221– 1241.
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nologie der Geschichte‘ in den Wirklichkeiten, läßt sich für das Gros der frühen methodischen Schriften nicht fingieren. Das Feld ist zu reichhaltig, um eine solche Flurbereinigung zuzulassen, zumal sie der Autor wohl nur wieder in einiger Härte gegen sich selbst vorgenommen hätte. Blumenbergs Tendenz zur Anknüpfung an Gegebenes folgend empfahl sich für die Titel der Unterteilung einer größeren Auswahl die Verwendung von ihm selbst nicht gescheuter Begriffe, die ein Problemfeld deskriptiv benennen, ohne eine terminologische Präferenz zu unterstellen. Die Gliederung der Schriften nach den Aspekten von Poetik, Metapher und Rhetorik kommt der Vorliebe des Autors für paläonyme Bildungen nach: dem Willen zur Wiedergewinnung unterschätzter oder historisch verborgener Termini, die, ins rechte Licht gesetzt, verkannte Möglichkeiten erkennen lassen. ‚Poetik‘ ist ein solches Paläonym bis heute, die ‚Metapher‘ war es seinerzeit und bezog daraus ihren gelehrten Anreiz; dazu kommt die abschätzige Bedeutung von ‚Rhetorik‘, gegen deren Verkennung Blumenberg entschiedener als irgendein anderer in seiner Generation angearbeitet hat. Daraus erhellt sich, daß jeder dieser Termini, indem er neu für sich spricht, an der Stelle anderer steht, denen er vorgezogen wird: Poetik an der Stelle von Ästhetik, Metapher an der Stelle von Hermeneutik, Rhetorik an der Stelle von Technik – was nicht heißt, daß Blumenberg die Worte ästhetisch, hermeneutisch und vollends Technisierung vermiede, er sie aber unter den methodischen Vorzeichen von Poetik, Metaphorologie und Rhetorik anders besetzt, in bestimmter Absetzung vom zeitgenössischen Usus. Die schwierige Raffinesse, mit der er eine terminologische Umfirmierung grundlegender philosophischer Termini verfolgt hat, ist der Rede von der ‚Phänomenologie der Geschichte‘ wie keiner anderen abzulesen. Was in ihr als ein Auf-den-Plan- und In-Erscheinung-Treten von Geschichte thematisch werden sollte, ist die epoché der Technisierung. Man erwartet darunter alles andere als Ausführungen zu Poetik, Metapher, Rhetorik, und doch ist dies die historische Bahnung, auf deren Spur Blumenberg der Provokation der Technisierung als dem zentralen, unhintergehbaren Zeitproblem der Lebenswelt nachgeht, das er als Hypothek von Husserl und Heidegger übernommen hat. Dabei ist entscheidend, was Blumenberg als erste, seit der Habilitationsschrift kaum mehr thematisierte Vorentscheidung praktiziert, die durchgängige Ersetzung des unreflektierten Ausgangs von ‚regionalen‘ (in der Terminologie der Rhetorik ‚topischen‘) Gegebenheitsweisen der Phänomenologie durch die in diesen immer schon meta-rhetorisch mit gegebene räumliche Vorstruktur der Sprache, des Logos. Vor der anfänglichen, transzendentalen Formel, die das Muster für die Phänomenologie der Geschichte ist – „Kosmos und Logos waren Korrelate“ – liegt als phänomenologische Urspur die Verräumlichung dessen, was die Habilitationsschrift ‚ontologische Distanz‘ nennt. In dem grammatisch-syntaktisch vor-ausgelegten Vor-Raum der ontologischen Distanz spielt die aristote-
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lische „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte“, der die Paradigmen der Metaphorologie zu danken sind (Paradigmen 16). Die Habilitationsschrift nennt sie den „Inbegriff des Geschichtlichseins selbst“, den „gründigsten Strukturverhalt von ‚Geschichte‘“ (Distanz 27). In einem kompakten Resumé bezieht Blumenberg die ‚Metakinese‘ des ontologischen Horizontes, von der hier erstmals pointiert die Rede ist, auf die grundlegende „räumliche Metaphorik“ des „ontologischen Bewegungsbegriffes“ (seine Hervorhebung) und postuliert ihn als die grundlegende „Dimension geschichtlicher Metakinetik.“⁷ Was sich in diesen Begriffen auf Heideggers Spuren als das Weiterverfolgen einer aristotelischen Platon-Kritik ausnimmt, stellt keine explizite Neuaufnahme oder Weiterführung der von Aristoteles selbst rehabilitierten Rhetorik dar, sondern eine ganz von der prägenden Kraft der Negativ-Fixierung getragene Historisierung des Platonismus als eines Vorgängersyndroms der Phänomenologie, die sich in Husserls Krisis vor ihren historisch blinden Fleck gestellt findet und die platonische Urszene, das Nein zur Rhetorik durchzuarbeiten beginnt. Vor den Epochen dieser phänomenologischen Vorgeschichte, deren transzendentale Aufklärung Blumenbergs Metaphorologie auf Augustinus, Kant und Nietzsche datiert, liegt die ursprüngliche, antike Formation, aus welcher der Antrieb der poiesis als das wichtigste metakinetische Moment in die Moderne der Phänomenologie herüberreicht: „mit welchem ‚Mut‘ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft“, ist der letzte Satz der Einleitung in die Metaphorologie (Paradigmen 17), mit dem Blumenberg nicht die leidige vorrationale Rolle des Poetischen für die Findung
Hans Blumenberg, Die ontologische Distanz: Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls (Habilitationsschrift Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1950), 8 – 10d, mit Anm. 3a–n (Distanz 218), hier 10d. Der Seiten- und Anmerkungszählung zufolge nach dem Abschluß des Manuskripts revidiert, bringt diese Stelle die Arbeit auf den letzten Stand. Karl Ulmers Freiburger Habilitationsvortrag von 1944, verspätet publiziert unter dem Titel „Die Wandlung des naturwissenschaftlichen Denkens zu Beginn der Neuzeit bei Galilei“ gibt Blumenberg eine neue Version der aristotelisch-galileischen Differenz vor: „Es wandelt sich das, was die Grundphänomene im Bereich der Bewegung sind.“ Die „Struktur des Wißbaren“ wandelt sich: „An die Stelle der Fügung, die auf der Idee der physis beruht und die als táxis bezeichnet wird, tritt die Fügung, die auf der Idee der Gesetzmäßigkeit beruht.“ Symposion II (1949), 293 – 349: 347, 348. Der Sachverhalt selbst, nicht der Begriff der Verräumlichung, der weder bei Ulmer noch bei Blumenberg eigens ausgezeichnet, von Blumenberg aber zum Thema gemacht ist, zeigt eine im Ausgang von Husserl und Heidegger begründete frühe Nähe zur Grammatologie von Jacques Derrida (1967), seinen Schriften zur platonischen Chora, sowie der „Mythologie blanche“ (1971). Vf. „Paradigma Metapher, Metapher Paradigma“ (1985), Die paradoxe Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 268 – 286; in diesem Band, Kap. 16.
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philosophischer Begriffe aufwärmt, sondern umgekehrt den genuin philosophischen Anteil an der ‚Poetik‘ des Machbaren herausstreicht. Poetik ist deshalb dezidiert nicht Ästhetik, sondern als Antipode zur Hermeneutik eine Voraussetzung von Ästhetik, die von dieser in der Rezeption nicht eingeholt werden kann; in der literarischen Produktion findet sie jenen ausgezeichneten Niederschlag, an dem ablesbar ist, wieweit er als ein ästhetischer einholbar ist. Pauschal gesagt ist Poetik die „Idee des schöpferischen Menschen“, die im Untertitel des Aufsatzes Nachahmung der Natur (1957) steht und in der Nachahmung der Natur ihren Horizont hat. Dessen Abschattungen sind den Paradigmen der Metaphorologie weitgehend synchron, führen aber in der Naturarbeit über deren technische Beherrschung hinaus zum ersten, frühen Korrelat von Lebenswelt: dessen, was Blumenberg an der Stelle des ‚Seins‘ bei Heidegger ‚Wirklichkeitsbegriff‘ nennt. In der Thematisierungsleistung ist dieser Begriff des Begreifens ein philosophischer und literarischer zugleich; er benennt den Horizont, in dem alle Literatur philosophisch ist. Aus der Koinzidenz von Natur und lebensweltlicher ‚Wirklichkeit‘, ihrer philosophisch selbstbewußten Erfassung konform, erwächst die „Möglichkeit des Romans“ (Untertitel); auf ihr beruht dessen Rolle als exemplarische Gattung der Moderne (Schriften 48). Die der Thematisierungsleistung des Romans entgegen gesetzte, rein ästhetische Seite ist die in stetem Bezug auf Valéry beschriebene, der Tradition der lyrischen Moderne in vielen Hinsichten verpflichtete Auflösung der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, die ihrerseits die strukturelle Thematisierung ontologischer Distanz in sich trägt, sie in der linguistischen Gegebenheit des sprachlichen Materials verbirgt. Sie überschreitet, genau genommen, das phänomenale Gegebensein und damit auch die Zuständigkeit des Wirklichkeitsbegriffs (Schriften 114). Wenn es für Blumenberg ein Thema im forschungsrhetorischen Horizont von Poetik und Hermeneutik geben konnte, war es dieser literarische Anteil an der phänomenologischen Leistung der Moderne.⁸ Der dem impliziten Begriff der Wirklichkeit entsprechende poetologische Begriff, der die immanente Sprach-
Anfang der sechziger Jahre soll Blumenberg auf den Namen der von ihm mit seinem Kollegen Hans Robert Jauß ins Leben gerufenen Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik gekommen sein, und Gründe für diese prägnante Firmierung entfielen mit der Legende, kein anderer als Blumenberg hätte auf sie verfallen können. Als „Prägnanz im Gegensatz zu Indifferenz“ hat Blumenberg später die Aura von ‚Bedeutsamkeit‘ erklärt, Arbeit am Mythos (Frankfurt/M: Suhrkamp 1979), 78. Was impliziert, daß mit dieser Prägung mehr intendiert war als ein Logo für das Konsortium der Literaturwissenschaftler und Philosophen, das die Gruppe in Gestalt von Blumenberg und Jauß begründete. Der Gegensatz von Poetik und Hermeneutik in Blumenbergs Werk spricht für eine Kompromißformel, in der die Hermeneutik, die Blumenberg nicht teilte, wie auch die Poetik, die er vorschlug, nicht indifferent sein konnten.
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struktur auf den angemessenen hermeneutischen Nenner bringen soll, ist der der ‚Sprachsituation‘. Er zeigt frühzeitig an der paradoxen Kommunikationsstruktur der Lyrik, was jenseits von Metaphorologie der Begriff der Unbegrifflichkeit leisten können soll: „Der Prozeß der Poetisierung, der sich an der Sprache vollzieht, ist (also) vergleichbar mit dem Prozeß der theoretischen Vergegenständlichung“, aber dies nicht in romanhafter Thematisierung, sondern in der Entgrenzung zu „elementarer Vieldeutigkeit“ vor jeder mythisch narrativen Diskursivierung oder Verdichtung (Schriften 146, 155). Eine Metaphorologie der modernen Lyrik (aller Lyrik, wie Paul de Man gezeigt hat) ist deshalb fehl am Platze: der Begriff der ‚absoluten Metapher‘, den Hugo Friedrich in die Struktur der modernen Lyrik (1957) eingeführt hatte, ist die Verlegenheitsverwechslung eines elementar Vor-metaphorischen mit dem metaphorologisch systematisch Verborgenen.⁹ Metapher als Gegenstand von Metaphorologie hat entgegen den Erwartungen (und oft genug zu deren Erleichterung) mit Ästhetik nichts zu tun. Darin kommt Blumenberg mit dem von ihm vermutlich nicht gelesenen William Empson überein, der ‚ambiguity‘ an der Stelle der romantischen Metapherntheorie seines Lehrers I.A. Richards als poetisches Prinzip der Moderne etablierte. Es ist der Effekt von ‚ambiguity‘ auf die grammatisch-rhetorische „structure of complex words“, könnte man sagen, der Blumenbergs ‚Sprachsituation‘ zum Resultat hat. Im Unterschied zu der destruktiv-regenerativen Funktion der poetischen Mittel geht es in Blumenbergs Metaphorologie um die Latenz von Technik oder, wie es in dem frühen Grundsatzpapier über Natur und Technik (1951) heißt, eine Latenthaltung von Technik, die als Technisierung in der Moderne lebensweltlich beherrschend wird (Schriften 260). Die rhetorische téchne, deren verborgenes Wirken in der Metaphorologie zu verfolgen ist, repräsentiert nur eine Phase, deren Ränder im Verhältnis von Platonismus und Phänomenologie undergründig korrespondieren; ihre sukzessive metaphorologische Diagnose ist bereits bei Augustinus
Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (1957) war die gegebene Provokation des Kolloquiums Poetik und Hermeneutik II: „Immanente Ästhetik—Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne“, hg. Wolfgang Iser (München 1966). Zu dessen theoretischer Orientierung wurde „Sprachsituation und immanente Poetik“ verfaßt. Paul de Man nahm das Unternehmen zum Exempel seiner grundsätzlichen Erwägungen von „Lyrik and Modernity“ in Blindness and Insight (1971). Blumenbergs rhetorische Erläuterung der absoluten Metapher im Kolloquium fällt leider hinter den eigenen Entwurf zurück auf eine verbesserte Version von Friedrich (Diskussionsteil 457, 492). Tatsächlich dürfte eine für Blumenberg maßgebliche Verwendung des „absolut“ der absoluten Metapher nicht in Friedrichs Lyrik, sondern in Kants Behandlung von Newtons absolutem Raum liegen, genauer in Ernst Cassirers Referat desselben in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (1921). Vf. „Mass Times Acceleration: Rhetoric as the MetaPhysics of the Aesthetic“, Qui parle 12 (2000), 127– 143; dt. Version in Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), Kap. 5.
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gegen Ende der Antike angelegt und wird bei Kant auf dem Höhepunkt der Aufklärung wieder manifest; vollends bei Nietzsche liegt sie auf der Hand. Licht als Metapher der Wahrheit (1957) ist aus diesem gutem Grund nicht Teil der Metaphorologie, so sehr sie auch Teil daran hat, denn dieses blendende Stück ist selbst kein Paradigma dieser Phase, sondern das Kernstück der antiken Vorgeschichte der metaphern-rhetorischen Paradigmatik, des platonischen Phantasmas der von Derrida an Aristoteles rekonstruierten „mythologie blanche“. Zum Proto-Paradigma wird das Licht durch Augustinus, der die Lichtmetaphysik metaphorologisch reduziert und damit, Kants kopernikanischer Revolution am anderen Ende der Formation vorgreifend, die Paradigmatik der absoluten Metapher am unvordenklichen Modell durchspielt (Schriften 156). In der Metapher des Lichts wird durchsichtig, was die schiere Opposition von Natur und Technik begründet und in ihr zum Eigengewicht der „sich selbst sinngebenden Dynamik der Technik“ verdichtet ist (Schriften 261). Als das primordiale Modell der Absolutheit aller metaphorologischen Verborgenheit erhellt das Licht den Abgrund über den hinweg die Natur „selbst schon eine Verformung“, die nachträgliche „Pointierung der ursprünglichen Weltstruktur“ und also des Kosmos ist; so Blumenbergs spätere Fassung des Arguments in „Lebenswelt und Technisierung“ (Wirklichkeiten 20). Seither ist Technisierung unterwegs zur Sprache und die Sonne, wie Derrida mit Aristoteles sagt, immer schon ein „Lüster“, Kunstprodukt.¹⁰
Die „Mythologie blanche“ (1971) als aristotelisches Korreferat zu Blumenbergs Licht-Abhandlung zu lesen hat einen bei der gegenseitigen Unkenntnis beider Autoren fast geisterhaften Effekt, ist aber nicht ohne philologische Chancen. Der Vorwurf einer gewissen neoplatonischen Schwäche Blumenbergs, sei es Vorliebe oder Fixierung, ist durchgehend. Er wird idealtypisch faßbar in der denkwürdigen Diskussion zwischen Blumenberg und Pierre Aubenque, Verfasser des bedeutenden, von Heidegger nicht unbeeindruckten Werks über den Seinsbegriff des Aristoteles, Le Problème de l’être chez Aristote (1956). Derrida zitiert Aubenques Ausarbeitung der Mimesis in ihrer natürlichen Fixierung an eine Physis qua Sonnen-System, einen Rückbezug, wie er hinzusetzt, „der Beziehung von Erde und Sonne im System der Wahrnehmung“, Marges: De la philosophie (Paris: Minuit 1972), 244, 251. Auf dem Colloquium Le Néoplatonisme in Royaumont 1969 befragte Aubenque Blumenbergs „Neoplatonismen und Pseudoplatonismen“ zum selben Sachverhalt und erklärte die vorgelegte Interpretation der kinesis für „nicht aristotelisch, sondern vielleicht plotinisch.“ Der Austausch ist im Detail von zu großem Interesse, um in Kürze referierbar zu sein; er trifft den Kern des Blumenbergschen Begriffs der Metakinetik, das ist: der platonischen Voraussetzung oder plotinischen Nachkonstruktion des aristotelischen Begriffs, genau. Aubenques Abschwächung „Das ist doch eine Metapher“ kontert Blumenberg trocken: „Das glaube ich auch.“ Le Néoplatonisme, Colloques Internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique (Paris: CNRS 1971), Diskussionsteil 473 – 474. Die Diagnose des Pseudoplatonismus impliziert, wo Aristoteles Rhetorik diszipliniert, eine wilde Metaphorologie, die im Zuge der von Blumenberg wirkungsgeschichtlich gewendeten Proliferation eine prozeßartige ‚Seinsentfaltung‘ nach sich zieht (Schriften 294).
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Rhetorik ist auf diese Weise immer auch Meta-Rhetorik. Im Unterschied zur Technik, die allein in Gestalt der rhetorischen téchne zu selbstreflexiver Anwendung oder zur Ablenkung vom Ziel gegenständlicher Bearbeitungen imstande ist, macht die Rhetorik das metakinetisch-technisierende Momentum möglich, durch das die Frage nach der Technik (1953) von Heidegger zur allgegenwärtigen „Schickung des Geschickes“ erhoben werden kann. Blumenbergs Skizze zu Natur und Technik (1951) geht von dieser Frage aus; er zitiert als einzigen Referenztext Heideggers Humanismus-Brief, dessen Wortlaut durchscheint in der „letzten Phase möglicher technischer Realisierung“ (Schriften 265). In den Heidegger gewidmeten nachgelassenen Stücken der Verführbarkeit des Philosophen (2000) wird Blumenberg „den damals schwer-begreiflicherweise berühmten Vortrag ‚Die Frage nach der Technik‘“ nur noch abfällig nennen; als „Schickung des Geschickes“ ist Technisierung nicht mehr die Frage, der totalitär-platonische Rest kein Grund mehr zur Sorge.¹¹ Der dynamisierte Begriff der Technisierung ‚terminologisiert‘ die Metakinetik der Metaphorologie: metaphorologisch entspricht ‚Technisierung‘ dem terminologisierten Paradigma der ‚Wahrscheinlichkeit‘ (Paradigmen 116), ist Technisierung die „letzte Phase“ totalisierter Wahrscheinlichkeit, die nun nicht einmal mehr wahr-scheinlich zu sein braucht, um lebensweltlich ‚wahr‘ zu werden und es zu bleiben. Technisierung ist die (verborgene) Latenz der
Die Verführbarkeit des Philosophen (Frankfurt/M: Suhrkamp 2000), 104. Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“ (1953), Vorträge und Aufsätze (Pfullingen: Neske 1954), 26. Blumenberg hat das Design von ‚Natur und Technik‘ über ‚Technik und Wahrheit‘ bis ‚Lebenswelt und Technisierung‘ mehrfach verändert und die Änderung von der ‚Natur‘ zur ‚Wahrheit‘ in der Zuspitzung auf die ‚Lebenswelt‘ als nötige Korrektur kommentiert (Wirklichkeiten 52, Anm. 2). Auch hier diskreditiert der Autor umstandslos die ältere Fassung auf ihr unnötiges Mißverständnis hin: Daß „der Blick auf die Sache“, wie er schreibt, „weithin verstellt [sei] durch die Herrschaft der […] Antithese von Technik und Natur“ (12), ist Teil schon der alten These; die Verstellung ist rhetorischer Natur und Teil der „Phase in der Geschichte des Seins“, von der Heidegger spricht im Humanismus-Brief, und die Blumenberg zitiert als „letzte“. Statt der „Phase“ spricht er im Lebenswelt-Aufsatz von der Technisierung als „Prozeß“ (16); wie das gründlich abgewehrte Geschick kommt er von weither und findet zu einem letzten Dauerton. Er durchdringt den Umschlag von der metaphorologischen Wahr-scheinlichkeit zur wahrgewordenen Durch-Technisierung. Blumenberg braucht das Wort ‚durch‘ ständig in diesem Sinne; man könnte meinen, es manifestiere die plotinische methexis. Der entscheidende Schritt in und hinter der Terminologisierung, der insbesondere auch im Roman der Zeit den Wirklichkeitsbegriff verändert hat, ist nach der Lebenswelt-Abhandlung im „Ausblick auf Unbegrifflichkeit“ abzusehen, war in den Paradigmen und den Wirklichkeitsbegriffen aber kaum angedeutet („Geld oder Leben“ wäre die Ausnahme gewesen). Zu dieser von Blumenberg nicht mehr gesehenen und entfalteten Möglichkeit Rüdiger Campe, Das Spiel der Wahrscheinlichkeit: Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist (Göttingen: Wallstein 2002).
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Technik in der Rhetorik, die sich über die Rhetorik hinaus verwirklicht, durchsetzt und lebensweltlich wahr wird. Der Schritt von der metaphorologischen Ausprägung des Paradigmas Wahrscheinlichkeit zur Technisierung sprengt die Metaphorologie. Nicht nur entzieht Technisierung der Wahrscheinlichkeit die platonisierende Illusion; sie re-literalisiert über die metaphorologische Terminologisierung hinaus die fundierende Verräumlichung der Metakinese in einem Netz technologischer Verknüpfungen, deren Enden ganz unmetaphorisch in den lebensweltlichen Alltag hineinragen. Unmittelbar nach der Metaphorologie signalisiert der Lebenswelt-Aufsatz den meta-rhetorischen Wechsel von der Metakinetik zur Technisierung, der zur Arbeit am Mythos des im Prozeß der Technisierung verdichteten Verblendungszusammenhangs wird, mitsamt den in diesen Prozeß immer neu eingebauten mythischen Entlastungsgeschichten (Adornos Rede vom ‚Verblendungszusammenhang‘ greift Blumenberg gern auf; die Arbeit am Mythos verkauft sich gut als dessen Erbe). Der Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos (1971) testet das Paläonym ‚Mythos‘ auf seine wirkungsgeschichtliche Potenz; er überschreibt die methodische Hypothek der metaphorologischen Paradigmen, die in der Glosse zu Kuhn ad acta gelegt sind, in den Entwurf der Anthropologischen Annäherung aus demselben Jahr (1971). Blumenberg konzentriert sich auf das mythische Supplement, das die Paradigmen der Metaphorologie immer schon zu überfluten drohte.¹² Die metaphorologische Reaktionsbildung auf die Über-
Der Mythos-Aufsatz, kapitale Programmschrift zum Unternehmen Poetik und Hermeneutik IV: „Terror und Spiel“ (1971), führt, wiewohl er das Wort Rhetorik nicht enthält, auf die Höhe der meta-rhetorischen Reflexionen nach der Metaphorologie. Indem er die mythische Dimension der Wirklichkeitsbegriffe – die wirklichkeitsbildende Rolle der Mythen und mythischen Analoga – bis hin zur Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971) rekapituliert, spielt er alle poietischen und mimetischen Register der metaphorologischen Analyse durch, die er im „Finalgedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen“ bei Nietzsche als die „formale Struktur des Mythos gleichsam beim Wort genommen“ findet (Schriften 352). Es ist „nicht nur die materiale, sondern auch und gerade die formale Rezeption“, die den Mythos mythisch macht (351). Als Rezeption verkörpert der Mythos Metakinetik in ihrer auf anthropomorphe Gestalten drängenden metamorphotischen Tendenz (358). In die Reihe der anthropomorphen Vorzugsgestalten des Mythos fügt sich die Anthropologie als letzte Metamorphose ein, ist sie Inbegriff des Verblendungszusammenhangs, den Blumenberg in Adornos ‚negativer Dialektik‘ verdichtet sieht (330). Die in Blumenbergs eigenem Oeuvre herausgearbeitete nach-metaphorologische, meta-rhetorische Perspektive, die im Mythos-Aufsatz die Reihe der Wirklichkeitsbegriffe Revue passieren läßt, ist leicht zu übersehen und doch klar eingezeichnet im Titel: „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential“ benennen die Doppelansicht der meta-rhetorischen Hexerei, die „Terror und Poesie“ entbindet, das ist: mythische Latenz und rhetorische Performanz. Freuds Theorie der Wiederholung, „jener zwanghaften Anamnesis der Latenz,“ deckt mit der Umprägung der platonischen Anamnesis die verdeckte Rhetorik der Rezeption auf: einen „Mechanismus von ebenso
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flutung, das untergründige Implikat aller weiteren Arbeit am Mythos, heißt dann ‚Unbegrifflichkeit‘. Dieses Implikat weiterzuexplizieren, es gegen den Strich der mythischen Oberflächenbehandlung zu lesen, steht mit der Andeutung einer metaphorologischen Analyse zweiten Grades dahin, die in der zweiten Natur der Technisierung ihren Anhalt hätte. Im Ausblick begann Blumenberg Heideggers ‚Uneigentlichkeit‘ des Daseins als rhetorischen Effekt der mythischen Überflutung aufzufassen statt als Beweis einer „Episode der Seinsverborgenheit“ (Schriften 207). Die Selbstverbergung des Seins entpuppte sich als meta-rhetorische Grundformel, der Heideggers Seinsbegriff auf den Leim ging. Statt der Selbstverbergung bildet die auto-poiesis der Wirklichkeitsbegriffe rhetorische Funktionsbilder aus, in denen die kognitive Funktion der Hintergrundmetaphern modifiziert, überformt oder unterlegt wird. Neoplatonismus ist die Chiffre für eine solche meta-rhetorische Formation, die älteste; Tradition und Rezeption eine andere, in der diese keine kleine Rolle spielt. In der Dissertation hatte Blumenberg zum ersten Mal Kritik und Rezeption als Korrelate des Seinsverständnisses oder Wirklichkeitsbegriffes eingeführt.¹³ In der Folge wird er diese Begriffswahl gegen zwei anders gelagerte Angebote profilieren, das Modell der gnostischen Pseudomorphose bei Hans Jonas und das der Hintergrunderfüllung bei Arnold Gehlen. Die Anwendung, die Heideggers Existentialanalytik in Jonas Werk Gnosis und spätantiker Geist (1934) erfahren hatte, ist das Modell, an dem Blumenberg das eigene historische Erkenntnisinteresse zu artikulieren gelernt hat, während die anthropologische Philosophie Gehlens als ihr insgeheimer Gegenpol wirksam blieb. Jonas hatte den Begriff der ‚Pseudomorphose‘ von Spengler bezogen und für das gnostische Paradigma der spätantiken ‚Horizontverschmelzungen‘ verwendet. Blumenbergs Vorbehalt, untergründig gegen Gadamer gerichtet, ist in dem
großartiger wie verhängnisvoller Potentialität“ (347). Blumenberg nennt den Namen Rhetorik nicht; die Rhetorik der Latenz hält nicht still. Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie (Inaugural-Dissertation Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1947), 12. Auch hier ist die „Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit der Geschichte“ das leitende Interesse und die Auflösung der „Verfestigung ontologischer Sichtweisen im Gange der Tradition“, kurz die „Destruktion der traditionellen Ontologie“ Voraussetzung des „Wirklichkeitsbezuges“ (Beiträge 5). Die Korrektur von Heideggers Sein und Zeit liegt in der Dekonstruktion (avant la lettre) der mittelalterlichen Ontologie als Rezeptionsvorgabe der Moderne. Das de-(kon‐)struktive Momentum von Kritik und Krisis ist Implikation des Rezeptionsbegriffs und der aus ihm entwickelten wirkungsgeschichtlichen Methode. Wie das Verhältnis von „Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik“ (1959) im Untertitel ankündigt, liegt die Metakinetik in der Rezeption, lagert sie sich strukturell, in der ‚Morphologie‘ der Traditionsbildung als einem metaphorologischen Analogon ab (Schriften 266).
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Rezensionsaufsatz Epochenschwelle und Rezeption (1958) enthalten, der die Rolle von Jonas für die Erforschung des spätantiken Synkretismus als des langfristig entscheidenden Rezeptionssyndroms herausstellt, dabei den Verschmelzungsbegriff der Pseudomorphose aber systematisch ausblendet. Der einzige Einwand gegen Jonas, an dem Blumenberg liegt, ist die Vernachlässigung des antiken Skeptizismus: der „skeptischen Abwendung von der theoria“, sofern diese „auch eine spezifische Ausprägung des Akosmismus“ sei und in der Gleichgültigkeit gegen den Kosmos „gleichsam eine Form innerweltlicher Transzendenz“ einschloß, „die sich jede eschatologische ‚Lösung‘ versagt“.¹⁴ Hier fällt der ausgesparte Begriff in der gesteigerten Form des Ausrufs: „Was für eine tolle Pseudomorphose“ und was sie so „toll“ macht, die Verrücktheit ihrer Verrückung auf die Spitze treibt, ist der christliche, nicht der gnostische Gewaltakt der Uminterpretation, durch den Ambrosius die „skeptische epoché“, der Blumenbergs ganzes Interesse gilt, „für die eschatologische Vorläufigkeit in Dienst“ nimmt: „nur so war überhaupt mit der skeptisch-stoischen Funktionseinheit bei Cicero fertig zu werden“ (Epochenschwelle 118). Nur so, durch den rhetorischen Gewaltakt hermeneutischen „Umverstehens“ sei die „genuine“ metaphorologische Präferenz für die antike ‚Erkenntnispragmatik‘ zu erledigen gewesen (Paradigmen 36). In den historischen Untersuchungen Blumenbergs wird Rhetorik zum überindividuellen Organ des Seinsverständnisses oder Wirklichkeitsbegriffs; hier scheint sich anzubahnen, was man als anthropologische Annäherung verstanden hat. Tatsächlich verhält es sich geradezu umgekehrt mit der von ihm selbst so genannten Annäherung, und Gehlen ist die exemplarische Gegenposition. In Blumenbergs Annäherung erhellt sich das verborgene Wirken der Rhetorik als der von Gehlen übersehene institutionenbildende consensus: als „Basis für den Begriff von dem, was ‚wirklich‘ ist“ oder, nach einem Zitat Nietzsches, der ersten Autorität des Essays, „Form an sich“ (Schriften 408, 410). „Gehlens Absolutismus der Institutionen“ ist „fatal“ (415), weil er die institutionelle Leistung unterschlägt, mit der die Rhetorik im Gegenzug zu einer unausweichlich ins Totalitäre tendierenden Reparatur des Mängelwesens ‚Mensch‘ deren Resultat ‚zweite Natur‘ immer schon als die Kopie einer ersten zu behandeln gelernt hat und von alters als
Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, Philosophische Rundschau 6 (1958), 94– 119: 118. Die zentrale Rolle, die Jonas in diesem Aufsatz spielt für die „Anwendung“ Heideggers, ist charakteristisch für Blumenbergs Selbstverständnis einer von Heidegger ausgehenden neuen Möglichkeit der „Geschichtsbefragung“, wobei er an Jonas rühmt, „keins“ sei „von vergleichbarer Gewaltlosigkeit“ (110). Eben darin, in der unvergleichlichen Gewaltlosigkeit, sei dieses Buch ein „ebenso bestürzendes wie nobles document humain“ (107). Blumenbergs eigenes, an diesem Maßstab gewachsenes skeptisches Projekt als ein solches lesen zu lernen, bleibt die Aufgabe.
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eine artifizielle zu beherrschen gewöhnt ist. Die rhetorische Funktion der metarhetorischen Formationen von Rezeption und Traditionsbildung ist mithin schon eine rhetorische Annäherung an die Anthropologie und der Begriff der Anthropologie ihre technologische, ‚technisierte‘ Kreatur. Die diffuse Oberfläche der meta-rhetorischen Funktionen, exemplarisch in den pseudoplatonischen Umformungen neoplatonischer Ideen, unübersichtlich in Rezeptionsschicksalen und Zufällen der Traditionsbildung, beweist gegen alle transzendentale Rand-Unschärfen der fortgeschrittenen Moderne ein übers andere Mal, und sei es ex negativo, die methodischen Vorzüge der verflossenen metaphorologischen Konstrukte. Geld oder Leben (1976) ist das unausgeschöpfte, liegen gebliebene Paradigma dieses Typs, an dem die „eigentümliche Objektivität der Fiktion“ besticht: „einer ganz und gar auf dem subjektiven und reziproken Wertungsverhältnis beruhenden Substitution“ (Schriften 182). Man sieht oder ahnt doch, wie dieses letzte der Paradigmen das erste sein könnte, das über die Anthropomorphismen der anthropologischen Formation hinaus, allein auf Grund der inhärenten Logik der Substitutionsverhältnisse, quasi „wirklichkeitsfrei“ technisierbar ist. Es ist in der Tat „nicht damit getan“, verwahrt sich Blumenberg, „in der Thematik des Geldes die Protometapher für die des Lebens aufzufinden“ (187– 188). Es könnte eher umgekehrt sein, daß sie die strukturelle Latenz zur technologischen Durch-Organisierung in post-anthropologischen Seinsverhältnissen aufweist, zu deren Bewältigung eine Epoche neu installierter metaphorologischer Techniken den „Mut zur Vermutung“ aufbringen muß. Die epochale Leistung in dieser Andeutung eines Paradigmawechsels, der den kopernikanischen Komparativ noch überträfe, ist an Blumenbergs Lieblingsmetapher, der ‚Sprengmetaphorik‘ des Kreises zu ermessen, die schon die aristotelische kinesis in ihrem Bann hielt. Sie bringt den meta-rhetorischen Grenzwert schlechthin, die Unbegrifflichkeit ins Spiel, deren meta-physisches Korrelat die Unendlichkeit ist. „Das Sprengmittel [der Sprengmetaphorik] ist der Unendlichkeitsbegriff“, und was in diesem den Horizont der Metaphorologie mitsprengt, so Blumenbergs Diagnose schon in den Paradigmen, ist ein „neues Medium der uneigentlichen Aussage“, das Cusanus in der „Welt der mathematicalia“ fand (Paradigmen 177). Die Berechenbarkeit, Abgleichbarkeit von „Möglichkeitsgewinn und Wirklichkeitsverlust“, welche die Philosophie des Geldes der des Lebens als Gewinn und Verlust anbietet (Schriften 188), hat Blumenberg nicht weiterverfolgt. Er hat sie (mit Simmel) wieder Kant überlassen als der Epochenschwelle, von der er nicht lassen konnte, als deren letzte Kante er das transzendentale Unternehmen Phänomenologie sah. So endet der Ausblick wie die Paradigmen unentwegt mit Kants Freiheitsbegriff, im Lichte der von Nietzsche ein weiteres Mal im „ewigen Kreislauf“ restituierten absoluten Kreismetapher, als „tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren“ (Paradigmen 189, letzter Satz).
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Der Ausblick auf die Unbegrifflichkeit nimmt eine Theorie der tabula rasa neu in den Blick, die nicht anders als von Kant zurück auf Plotin gehen kann und den neoplatonischen Horizont, dem Blumenberg in Wittgensteins Fliegenglas die angemessene Diagnose gestellt sieht: in „einer neuen Form von Platonismus, in dem eine Sprache der Inbegriff des in ihr Denkbaren wird“ (Schriften 218). Simmel, in dessen Philosophie des Geldes ein neues Moment aufschien, das hinter den Horizont der phänomenalen Wahrnehmbarkeiten zu führen versprach, droht in seiner Kant-Interpretation zurück zu fallen auf die „Irreführung einer absoluten Metapher, die beim Wort genommen wurde“, auf den Kurzschluß freien Handeln mit der ‚Handlung‘ des Verstandes in der Synthesis der Vorstellungen (Schriften 209, letzter Satz). Das meta-rhetorische Kapital der Technik, das damit vorerst verspielt worden ist, hat im Paradigma des Geldes mehr als nur ein re-mythisierendes, lebensphilosophisches Analogon. Es zeigt die substitutive Struktur der Unbegrifflichkeit jenseits der Phänomene der Lebenswelt, deren technische Logik in dieser ebenso tragend wie verborgen ist, denn sie liegt unterhalb der Oberfläche der ausgeprägten symbolischen Form ‚Geld‘. Schon in Plotins „Herleitung der Kreisbewegung des Himmels aus der Nachahmung der reinen Vernunft“ war, wie Blumenbergs kantianisierende Rede von der ‚reinen Vernunft‘ nahelegt, „die Struktur der Metapher selbst metaphysisch hypostasiert“ (Paradigmen 173). Blumenberg hat diesen Befund als Ganzen kursiviert, denn er thematisiert von seiner Seite her den vorprogrammierten metaphysischen Rückfall in eine ursprüngliche Mimesis, die „nur im Verfehlen treffen, nur im Anderssein wahr sein kann“, und die in dieser Annäherung, die für Plotin die Idee der Mimesis ist, „die genaue Darstellung der Funktion der ‚absoluten Metapher‘“ bietet: „sie gibt ein ‚Bild‘ an der Stelle des Begriffs und des Nachvollzugs im Begreifen, sie bildet nach im wörtlichen Sinn, und ihr Nachbilden ist zugleich Metapher für das Nachgebildete und Metapher für das Nichterreichen-Können“ (Paradigmen 173). Die in Plotins altgriechischem Zitat zu entdeckende, im Projekt der Metaphorologie weit vor Kant zurückgehende, sein Symbol historisch neu perspektivierende Pointe, ist im kursiven zugleich der Metapher für das ihr eingebaute Versagen leicht zu übersehen, in der nahegebrachten Aktualität aber kaum zu übertreffen: Ein Bild, ist zu ergänzen, das die Phänomenalität des Begreifens immer schon sprengt. „Ein Bild hielt uns gefangen“, wird Blumenberg die Fliegenglas-Parabel der Philosophischen Untersuchungen zitieren, deren Fluchtpunkt von alters auf der Hand liegt und doch aufs Neue zu erinnern bleibt: „Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen“ (§ 15, zit. Schriften 232). Wittgenstein wiederholt und exponiert die ‚logische Verlegenheit‘ des skeptischen Philosophen, auf die Blumenberg eine methodische Antwort entwirft.
2 Das Skandalon der Metaphorologie Blumenbergs philosophischer Einsatz „Die Welt muß warten“ (Martin Heidegger)¹ „So philosophieren wir bis auf weiteres“ (Hans Blumenberg)²
Der Krieg ist vorbei, wir sollten uns der Philosophie zuwenden, hatte Maurice Merleau-Ponty im Mai 1945, in einer der ersten Nummern von Le temps modernes geschrieben, wovon Hans Blumenberg, gerade einem Arbeitslager entkommen, kaum Kenntnis haben konnte, womit er aber entschieden übereinstimmte.³ Wir haben uns längst an das Urteil Adornos gewöhnt (und daran gewöhnt, es auf sich beruhen zu lassen), daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr möglich seien. Wenig bemerkt ist die Implikation, die in Adornos Diktum unausgesprochen mitspielt, daß nach Auschwitz Philosophie nicht etwa möglicher sei als Gedichte, es sei denn, beide änderten sich auf eine unvordenkliche Weise. Das scheint beiden, der Lyrik wie der Philosophie, nach 1945 leichter von der Hand gegangen zu sein als der skeptische Adorno erwartete. Der junge Blumenberg hatte davon eine akutere Wahrnehmung als je einer. Die hermeneutische Tugend der ‚Anknüpfung‘ und ihre spätere Vollendung zur Konsensfähigkeit, wie sie von Joachim Ritter erfunden, von Erich Rothacker befördert, von Hans-Georg Gadamer wirkungsgeschichtlich gerechtfertigt und von Jürgen Habermas mit den höheren Einleitung in den unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied verfaßten Kommentar zu Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (Berlin: Suhrkamp 2013), 195 – 240. Als „Prolegomena zu einem Kommentar“ zuerst im Hamburger Warburghaus 2008 vorgetragen und gedruckt in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 187 – 205; erweitert in Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie, hg. Anselm Haverkamp, Dirk Mende (Frankfurt/M: Suhrkamp 2009), 33 – 61; engl. Kurzversion Telos 158 (Winter 2011/12), 37 – 58. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik. Gesamtausgabe 62, hg. Walter Bröcker (Frankfurt/M: Klostermann 1989), 179. Hans Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, hg. Manfred Sommer (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 165. Maurice Merleau-Ponty, „La guerre a eu lieu“ (Le Temps modernes No. 1, Juin 1945), Sens et nonsens (Paris: Nagel 1948, 1966), 245 – 269, mit der Maxime „Nous n’aurons à cacher aucune vérité si nous disons toutes les autres“ (269). Der Vergleich mit Blumenberg, der auf Merleau-Ponty zunehmend verwies, verdient eine ausführlichere Bearbeitung, als hier möglich ist. Vgl. nur dessen Notes de Cours 1959 – 1961, hg. Stéphanie Ménasé (Paris: Gallimard 1969). https://doi.org/10.1515/9783110486377-003
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2 Das Skandalon der Metaphorologie
Weihen der Kritischen Theorie versehen wurde, steht noch so unangefochten in Geltung, daß sie bis heute unhintergehbar erscheint. In dem denkwürdigen historischen Kompromiß von Hermeneutik und Ideologiekritik – das systemtheoretische Supplement der Habermas-Luhmann-Diskussion mit eingeschlossen – ist sie dauerhaft befestigt worden.⁴ Was immer sich diesem Vorzeichen sperren oder entziehen mochte – naturgemäß ganze Ströme ausländischer, notorisch französischer Philosophie – ist in den Pointen blaß oder gänzlich unwahrnehmbar geblieben, bis sie, wenn es dazu kam, förmlich umgelesen, umgetauft, reformiert waren. Adorno selbst gab und blieb das renitenteste, resistenteste und symptomträchtigste Beispiel, während Blumenberg der zunächst radikalste, dann der an Verkennung tiefgründigste Fall wurde. Gewiß, das mag an ihm selbst mehr gelegen haben als denen, denen entgegen zu kommen er nicht müde, aber schließlich überdrüssig wurde. Indessen ist das nicht alles, was heute dazu zu sagen ist. Adornos Einschätzung dessen, was nach 1945 an Philosophie möglich sein könnte, war minimalistisch. Seine Minima moralia, der aristotelischen Magna moralia aus der Ferne eingedenk, sind datiert auf die Jahre 1944– 47; sie erschienen 1951, wenige Monate nach Heideggers Holzwegen, worin dieser Arbeiten seit den späten 30er Jahren zusammengefaßt und auf einen Titel gebracht hatte, den der Holzwege, die den derben, trotzigen Provokationswert kaum mehr ahnen lassen, den sie gehabt haben müssen: auf dem Holzweg gewesen zu sein.⁵ Blumenberg, der sein Konzentrat an Minima erst sehr viel später in die Waagschale werfen sollte – Die Sorge geht über den Fluß, die ebenfalls nicht aufhört, die Hypothek Heidegger auszuloten – hatte inzwischen in kurzer Folge seine akademischen Pflichtschriften hinter sich gebracht, die nichts als entschiedenste Heideggerbewältigung betrieben. So fand sich die Kieler Habilitationsschrift von 1950, Die ontologische Distanz, noch um einen programmatischen Zusatz ergänzt, den der Autor sich anläßlich der eben erschienenen Holzwege nicht nehmen ließ.
Zur Erinnerung ein Stück Verlagspolitik: Am Beginn der von Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes begründeten (grauen) Theorie-Reihen 1 und 2 des Suhrkamp Verlags zog Jürgen Habermas’ Erkenntnis und Interesse (Frankfurt/M: Suhrkamp 1968) in der eigens eingerichteten (roten) Theorie-Diskussions-Reihe die Bände Hermeneutik und Ideologiekritik (Frankfurt/M: Suhrkamp 1971) und Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann nach sich (Frankfurt/M: Suhrkamp 1971), gefolgt von einer (gelben) Reihe von Theorie-Diskussions-Supplementen (1973 ff.). Früh fehlt der Name Blumenberg im Herausgeber-Quartet. Vgl. das Blumenberg-Porträt von Ferdinand Fellmann, Information Philosophie 3 (2008), 49 – 54. So situiert Walter Bröcker, Die Geschichte Philosophie vor Sokrates (Frankfurt/M: Klostermann 1965), 58, das Motiv des Auf-dem-Holzweg-Seins bei Parmenides: „Das heiße ich dich beherzigen“.
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Das im Eifer des Gefechts demonstrativ bewiesene Auf-der-Höhe-der-Zeit-Sein (das kein Auf-dem-Holzweg-Sein, dem man das irregegangene Dasein der Zeit unschwer abnahm, mehr sein wollte) mag dem Autor im Nachhinein nicht behaglich gewesen sein; jedenfalls hat er sein Handexemplar zur Warnung für ungewitzte Benutzer mit dem auf Giftschränken üblichen Totenkopf beklebt (im Marbacher Archiv anzusehen). Das war sowohl weise, als auch erfolgreich; man hat sich bis heute nicht mehr dafür interessiert. Ich will Sie damit verschonen, der ausgewachsenen Allegorie vom Wissen im Nachkrieg zu folgen, die daraus zu entfalten möglich und durchaus der ausführlicheren Rede wert wäre.⁶ Blumenbergs Anteil am Nachkrieg ist beträchtlich; in keiner philosophischen Nachkriegskarriere samt ihrer zeittypischen Vorkriegshypotheken ist eine vergleichbar tiefe, gründliche, philosophische Reaktion und Form des Durcharbeitens zu finden. Sie ist lesbar in seinen Schriften, zumal dem, was er Zeit seines Lebens aus den unter Verschluß gehaltenen Anfängen gemacht hat, in einem an Selbstverleugnung grenzenden, lakonischen Entgegenkommen dessen, was ich im folgenden als einen Grundzug seiner Philosopie zu fassen versuche und auf den minimalen Nenner des Weiterphilosophierens bringe. Denn allen Anmutungen von Abträglichkeit zum Trotz ist es das, was er gegen den Strich der Pathosformeln der Zeit tat: weiter philosophieren. Er tat es nicht ungerührt, sondern, so könnte man sagen, in pathetischer Unterdrückung eines Pathos, das an den eigenen Quellen litt. Ein Weiterphilosophieren, wie Merleau-Ponty programmatisch empfahl, das mehr sein mußte als nur weiter zu philosophieren: „plus de philosophie“ würde Merleau-Pontys Schüler in dieser Sache, Jacques Derrida, gesagt haben und damit die von Blumenberg beherzigte Umkehrung der Antriebsrichtung getroffen haben: denn immer weiter allein wäre nicht mehr und nicht länger Philosophie. Blumenbergs Moral und Theorie des Weiterphilosophierens kommt in einer Reihe fundamentaler Arbeiten der fünfziger Jahre in Gang, die trotz der teilweisen Berühmtheit, die sie genießen, in ihrer situativen Pointiertheit bis heute kaum durchschaut sind und in der Maske ihrer totalen historischen Gelehrsamkeit vollends undurchschaubar bleiben. Die Paradigmen zu einer Metaphorologie gehen Ende der fünfziger Jahre zum ersten Mal aus der Reserve, sie zeigen die Kralle eines Löwen, der sich entschließt, domestizierbar zu sein.⁷ Anders als ihre Zeit-
Vf. „Unbegrifflichkeit: Die Aufgabe von Seinsgeschichte“ (2002), Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg (Berlin: Kadmos 2004), Kap ; frz. „L’inconcéptualité de l’être“, übersetzt von Jean Greisch, Archives de Philosophie 67 (2004), 269 – 278; hier im folgenden Teil. Die schlagende Kontinuität des Projekts beweist der Erstling von stud. phil. Hans Blumenberg, „Die sprachliche Wirklichkeit der Philosophie“, Hamburger Akademische Rundschau 1 (1946/47), 428 – 431.
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genossen, Gadamers Wahrheit und Methode im selben Jahr oder Adornos Negative Dialektik ein paar Jahre später, sind sie Entwurf geblieben, ein Experiment ohne die intendierten Folgen. Denn so gründlich die groß angelegten späteren Werke des Autors den metaphorologischen Ansatz genutzt haben, ja ohne ihn undenkbar wären – sie sind dem Programm der Metaphorologie nur punktuell gefolgt, haben es in Aspekten variiert statt in den Konturen fixiert; als Projekt ist es unvollendet geblieben. Allerdings hat Blumenberg in einer Reihe von bemerkenswerten kleineren Arbeiten – im Vergleich mit der späteren Beredtheit hunderte Seiten aufbietender Bände frappierend knappen, hoch konzentrierten und extrem schwierigen Stücken – eine methodische Ausarbeitung und Vertiefung des alten Ansatzes erwogen, die mehr als die weitläufige Anwendung und Amplifizierung bezweckt, an denen die großen Werke so reich sind.⁸ Ihre Spur beweist, daß das methodische Projekt der Metaphorologie virulent geblieben ist, auch wenn davon wenig mehr sichtbar geblieben ist als der rote Faden einer alles in allem dubiosen Problemlage. Dafür ist das rhetorische Paläonym der Metapher, das die Prägung der Metaphorologie zum programmatischen Ausgang nimmt, ein prägnanter, aber unsicherer Anhalt.⁹ Tatsächlich scheint die Geologen-Metapher der Leitfossilien, die Blumenberg einfiel, als er die Paradigmen zwei Jahrzehnte später überdachte, den paläonymen Gebrauch zu bestätigen, den er derzeit von der Metapher wie auch anderen termini technici der obsolet gewordenen Rhetorik machte. Es ist bemerkenswert, daß die Metaphorologie selbst an keiner Stelle auch nur den Hauch einer Definition der Metapher bietet, und es muß im Nachhinein doppelt auffallen, daß Blumenberg keine Anstalten machte – und das in einem Archiv für Begriffsgeschichte – die Metapher begriffsgeschichtlich herzuleiten, als hätte sie – womöglich als einzige – keine Geschichte, als überbiete und überstiege sie alle Geschichte. Es schien, als hätte Blumenberg damals nur ein gängiges, im Strukturalismus auf neue Begriffe gebrachtes a-historisches Verständnis von Rhetorik unterschrieben. Indessen, wie Leitfossilien eine geologische Schicht datieren helfen, so datiert das Paläonym Metapher die Methode der Metaphorologie auf die historische Schicht ihrer Entstehung, auf die Poetik des Aristoteles und den in dieser zur Balance gebrachten schwelenden Konflikt von Philosophie und Rhetorik – tatsächlich kommt die deutliche Anspielung auf Aristoteles, mit der die Einleitung zur Metaphorologie
Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), im Folgenden abgekürzt als Schriften. Zur Strategie des paläonymen Ausgangs vgl. Jacques Derridas „Hors livre“ zu La dissémintion (Paris: Seuil 1972), 26, Anm. 13, und die Interviews in Positions. Entretiens avec Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine (Paris: Minuit 1972), 95 ff.
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beginnt, einer Definition des Begriffs der Metapher am nächsten.¹⁰ Der fossile Charakter des Metaphernbegriffs tritt in den Vordergrund, weil er die Vergangenheit eines Anfangs belegt, der über die gesamte Epoche der Metaphysik bis hin zu Kant unterstellt wird; in dessen ‚Symbol‘ findet Blumenberg die Epoche als ganze erschlossen. Nach Kant ist die Unterstellung dieses Ursprungs von Nietzsche, der ihr Ende besiegelt, und erst recht von Heidegger bestätigt worden – Blumenberg sortierte hier einen Gemeinplatz um: der Anknüpfung wegen wie auch, im selben Zug, zum Zwecke der Durchkreuzung, die auf dem Fuße folgte, eh man sich’s versah, aber auch ohne, daß man es sich noch versehen wollte. Denn die Metaphorologie ist nicht, als was sie fast ausnahmslos gerühmt wurde, ein Werk zur Metapher und ihrer Theorie, so viele grundlegende Anregungen sie für eine Metapherntheorie auch bieten mag. Ihr Gegenstand liegt tiefer, aber es mag einen Teil der Faszination ausmachen, daß mit dem exemplarisch vorgeschobenen, in der Form von Paradigmen vorgeführten Phänomen der Metapher die Frage verbunden ist, wofür die Metapher, die rhetorisch dadurch definiert ist, daß sie für etwas einsteht mit ihrem Wort, steht in Blumenbergs Philosophie: „ihr sprachliches Wesen“ etwa, wie es Adornos Negative Dialektik in Erinnerung rufen wird, und in der Tat umreißt Adornos Satz: „Rhetorik vertritt in Philosophie, was anders als in der Sprache nicht gedacht werden kann“, Blumenbergs Unternehmen nicht schlecht; die spätere Annäherung an Adorno war kein Zufall.¹¹ Adorno nennt an dieser Stelle auch das Stichwort der Technisierung, das in Blumenbergs parallel entworfenem Vortrag zu Lebenswelt und Technisierung (1959) den Rahmen vorzeichnet, in dem Rhetorik und Metapher als technische Nenner stehen.¹² Zwanzig Jahre später leitet dieser Vortrag den mit viel Bedacht komponierten Rückblick Wirklichkeiten in denen wir leben ein (1981), der Stand und Aktualität des Projekts über die fünfziger Jahre festhält. In der Legitimität der Neuzeit 1965 (Überarbeitungen 1973 – 76) und der Genesis der kopernikanischen Welt von 1975 kam dieses Projekt zu einsamen Höhepunkten, bevor die Arbeit am Mythos 1979 die Reihe der Werke des nächsten Jahrzehnts bis hin zu den Höhlenausgängen von 1989 eröffnet, aber ohne die metaphorologischen Grundlagen mehr zu erwähnen, ja fast eher sie verleugnend.
Die gleichzeitige Dissertation von Ernst Tugendhat, Tì katà tinós: Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe (Freiburg: Alber 1958), erkennt und unterstreicht, Heidegger folgend, Aristoteles’ entscheidende Rolle für die fällige Revision der „philosophiegeschichtlichen Forschung“ (Einleitung, 1– 6). Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (Frankfurt/M: Suhrkamp 1966), 61 (seine Hervorhebung). Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“ (1959), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 7– 54.
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Die methodische Kralle (um auf den Löwen zurückzukommen) der Metaphorologie ist nicht schwer zu entziffern, aber man ist daran gewöhnt, sie bereits im eingezogenen Zustand, zurückgezogen in eine gelehrte Zusatzdebatte wahrzunehmen, die nicht zu Blumenbergs eigenen Bedingungen stattfand, der er sich aber ohne viel „Brummen“ unterzog. Parenthese: Es war Erich Rothacker, der, als er Blumenberg einmal mehr bat – und das gewiß nicht zum ersten Mal – der Sache zuliebe gute Miene zum bösen Spiel zu machen, schrieb: „Also bitte nur leise brummen“ (Brief vom 5.7.1963). Der unmittelbare Anlaß war ärgerlich und der weitere Kontext gravierend genug: Gadamer hatte Blumenberg auszubooten versucht (Briefe Blumenbergs an Ritter vom 7.4.66 und 18.1.65).¹³ Wie dem im einzelnen auch gewesen sein mag, ohne Gebrumm, in einem an Selbstverleugnung grenzenden Gleichmut, hat Blumenberg die Paradigmen an Ort und Stelle, in Rothackers Archiv für Begriffsgeschichte beisetzen lassen.¹⁴ Er hat sich einen selbständigen Sonderdruck erbeten und für eine Weile als sein erstes Buch in den Verlagsankündigungen der sechziger Jahre, in Sammlung Insel und Edition Suhrkamp, aufgeführt.¹⁵ Dort steht die Metaphorologie neben der „Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik“, wo sie als Programmschrift einen hohen, aber eigentümlich leeren Status innehatte und ohne explizite Anknüpfung blieb, auf die der Verfasser ja selbst fürderhin verzichtete. Ich werde auf die Details der umstehenden Evidenzen verzichten, da sie ohne Gewicht in der Sache sind und vom Kern der Agenda Blumenbergs nur ablenken; ihre weitere Entwicklung sollte
Das komplizierte, den Briefwechseln dieser Zeit unterliegende Gerangel mit seinen auf den ersten Blick undurchschaubaren Affekten bedarf nicht nur umfangreicher Archivarbeit zur genaueren Nachkonstruktion der Sachlage, sondern einer Abwägung von Nuancen, die in der Sache wenig wichtig sind. Vgl. inzwischen den Bericht von Margarita Kranz, „Begriffsgeschichte institutionell: Die Senatskommission für Begriffsgeschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft“, AfB 53 (2011), 153 – 226: hier 164 ff. (172 f. zum Verhältnis Gadamers zu Blumenberg). Die sachliche Anteilnahme Rothackers an Blumenberg hielt sich in Grenzen; das geht aus dem Bericht hervor, den Wilhelm Perpeet dem nachgelassenen Fragment Rothackers, Das Buch der Natur: Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte (Bonn: Bouvier 1979) vorangestellt und im Untertitel markiert hat (7– 10). Der kurze Paragraph „Methodologisches zur Metaphern-Forschung“ in diesem Fragment bietet wenig mehr als die Bonner Kontroverse mit Ernst Robert Curtius, dessen Nachkriegs-Provokation Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1947) bei Blumenberg immer präsent ist. Rothackers Formel nennt das mittlerweile obsolete andere Ende des terminologischen Spektrums den „Gegensatz von bloßer Wortgeschichte und Geistesgeschichte“ (Buch der Natur 41). In dem begriffsgeschichtliche Parcours, den Rothackers Schüler Karl-Otto Apel dem „Verstehen“ gewidmet hatte, AfB 1 (1955), 142– 199: 182 f. war Rothackers Position schon programmgerecht umgewidmet. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Separatum AfB 6 (Bonn: Bouvier 1960), 7– 142; erste selbständige Neuausgabe (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998). Im folgenden nach der kommentierten Ausgabe (Berlin: Suhrkamp 2013) als Paradigmen zitiert.
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den Fußnoten kleinlicher Gelehrtenquerelen entwachsen sein, so charakteristische Facetten des Nachkriegs sie in der Tat bergen. Nur ex negativo bleibt wichtig, daß Blumenberg am Format der Begriffsgeschichte und der ausgelösten Meinungsverschiedenheiten, wie sie bis heute andauern, wenig lag. Zwar beherrschte er die Begriffsgeschichte auf seine Weise virtuos, betrieb er sie leidenschaftlich und hatte er eine eigene Meinung zur Verwendung ihres Begriffs, in der er von Ritter und seiner Schule abwich, aber das alles hatte mit dem Projekt der Metaphorologie nur sehr anläßlich und höchst mißverständlich zu tun.¹⁶ Nicht darin bestand die Provokation, nicht darin lag das Skandalon der Metaphorologie, und das war Ritter wie Rothacker und auch Gadamer klar, der kompromißloser in der Sache reagierte, da sie die eigene Heidegger-Bewältigung und Entschärfung betraf. In der Selbstperiodisierung der Wirklichkeiten formuliert „Lebenswelt und Technisierung“ den Horizont der philosophischen Problemlage, auf welche die Metaphorologie eine methodische Antwort anbot, und für die Blumenberg das Vorhaben von Ritters Wörterbuch als gegebenen, vielleicht sogar willkommenen Testfall auffaßte. Daß er die Gelegenheit zur Provokation nutzte, ist offenbar, sie unterlief ihm nicht etwa. Daß Ritter sie denkwürdig verewigte in seiner Einleitung, unterstreicht das Faktum.¹⁷ Daß Blumenberg auf die Art der Schadensbegrenzung aber nur gelegentlich und verdeckt, lakonisch und ironisch Bezug nahm, darf von dem Problemstand nicht ablenken, zu dem er einen ersten fundamentalen Beitrag lancierte: den methodischen Voraussetzungen des Weiterphilosophierens, das Ritter, Gadamer und Habermas auf Konsens und Anknüpfung anlegten, Blumenberg aber alles andere als konsensfähig oder anknüpfenswert sah, sondern in die implizite, derzeit deutliche, von Adorno geteilte Frage faßte, wie anzuknüpfen sei – von einem Konsens über Abgründe hinweg zu schweigen, und das heißt: zu schweigen in der zweiten Hinsicht. Zu schweigen zur Not in einer Höflichkeit, die in seinem Briefwechsel mit Carl Schmitt zu einer kaum nachvollziehbaren, peinlichen Ironie getrieben ist, dabei aber gnadenlos durchzuarbeiten in der ersten Hinsicht, der Anknüpfung. Denn keinen der strittigen Begriffe hat Blu-
So zitiert der letzte Herausgeber des vollendeten Historischen Wörterbuchs, Gottfried Gabriel, in seinem Beitrag „Kategoriale Unterscheidungen und ‚absolute Metaphern‘“ in dem Sammelband Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie, hg. Anselm Haverkamp, Dirk Mende (Frankfurt: Suhrkamp 2009), 65 – 84, aus den Akten des Wörterbuchs einen Brief Blumenbergs an Ritter vom 18.1.1965 (67 f.), der deutlich genug und in distanzierender Manier von „der Differenz der begriffsgeschichtlichen ‚Theorien‘“ (im Plural und in Anführung) spricht, einer Differenz, von der er in diesem Fall absieht, auf der er aber explizit besteht. Joachim Ritter, Vorwort, Historisches Wörterbuch der Philosophie (Basel: Schwabe), I (1971), VIII–IX.
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menberg aufgegeben, weder den der Begriffsgeschichte (die Domäne der Ritterschule), noch den der Hermeneutik (die erklärte Domäne Gadamers). Das heißt nicht, daß er diese Begriffe geteilt hätte; sie nicht ungeprüft zu lassen, ist die erkannte Notwendigkeit. Blumenbergs Weiterphilosophieren führt über die Positivität der gegebenen Worte hinaus in die Kulisse einer verdrängenden Historie. Als symptom-beladene Deckerinnerung fungiert das Paläonym Metapher – der alte Name aus dem Repertoire des Aristoteles. Technisierung ist der treffende, von Heidegger unmäßig strapazierte Ausdruck für den Prozeß, in dem der Begriff der Metapher als Anhalt und markantes Leitfossil dient. „Lebenswelt und Technisierung“ und „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ führen Studien zum Abschluß, welche die im Dunkel liegenden ersten akademischen Versuche des Autors, Dissertation und Habilitation, vollenden und zu einer partiellen Veröffentlichung bringen: Werke, die Ende der vierziger Jahre zügig entworfen wurden und in der Folge unfertig liegen blieben, bevor sie in „Lebenswelt und Technisierung“ und den „Paradigmen“ zu neuer programmatischer Gestalt fanden und in Legitimität und Genesis zu einem umfänglichen Ergebnis kamen. So bedeutend dies Ergebnis war, Blumenberg war mit der Resonanz nicht zufrieden; er fand seine methodische Grundlage verkannt und wandte sich der Arbeit am Mythos zu (1979), ergänzte diese dann aber noch durch die Reste des alten Projekts zur Lesbarkeit der Welt (1981), entwickelte den methodisch harten Kern der metaphorologischen Problematik aber nur noch sehr sporadisch weiter, so in der entlegen publizierten „Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), in der Simmel-Studie „Geld oder Leben“ (1976) und im „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979). So deutlich räsonnierend und selbstkommentierend diese Etappen vor uns liegen, sie täuschen; zutreffend sind sie nur für die in den Wirklichkeiten dokumentierte erste Hälfe. Wie die inzwischen aus dem Nachlaß zum Druck gekommenen Werke zeigen, hat Blumenberg Mitte der siebziger Jahre mehr als die Wende zur Arbeit am Mythos (1979) vollzogen und auch deren Monumentalität durchaus divergierende Momente eingezeichnet. Der durchgängige Zug bleibt die stetig mitlaufende Vertiefung und tentative Revision der phänomenologischen – man kann auch sagen spät- oder nach-phänomenologischen – Grundlagenreflexionen, wie sie in Lebenszeit und Weltzeit (1986) die letzte vollendete Form gefunden haben. Sie bilden den Generalbaß, der seit den in entschiedener Form vorgetragenen Thesen der ersten Ansätze das Werk unterfängt. Die Metaphorologie entwickelt aus der phänomenologischen Konstellation ihr methodisches Leitmotiv, das den Ansatz zur radikalsten Ausprägung trieb, in den späteren Werken aber unschlüssig blieb. Für das beiseite gelegte metaphorologische Projekt, das 1960 in mehr oder minder deutliche Konkurrenz zu Gadamers Wahrheit und Methode trat und in dem von Blumenberg mit bestimmten Tandem von Poetik und Hermeneutik seit 1964
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Konturen annahm, sprang Mitte der siebziger Jahre eine Theorie der Unbegrifflichkeit ein, die das Design nach Paradigmen in seinen phänomenologischen Grundlagen neu akzentuierte, revidierte. Der abermals der puren Kontingenz von Umständen verdankte Ausblick auf diese Theorie, geschrieben für das seit 1974 in Arbeit befindliche Unternehmen der Theorie der Metapher (1983), an dem Blumenberg sich mit Auszügen der bis dahin nicht mehr gedruckten Metaphorologie beteiligte, entstammt einer Reihe von Vorlesungen, die posthum unter dem Titel Beschreibung des Menschen zur Veröffentlichung kamen (2006). Bereits in der „Anthropologischen Annäherung“ an die Rhetorik (1971) war der erneuerte Entwurf in programmatischer Schärfe vorgedacht und in Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900) war sogar ein metaphorologisches Paradigma der neuen Art skizziert worden, dessen Titel „Geld oder Leben“ (1974) die Neuorientierung anzeigt. Aus der Verschiebung, Weiterentwicklung, Verallgemeinerung zu der jetzt angedachten, dann unvollendet gelassenen Theorie der Unbegrifflichkeit (aus dem Nachlaß veröffentlicht 2007) ist für das ursprüngliche Projekt im Rückgang auf die zurückliegenden Quellen zu lernen, die in „Lebenswelt und Technisierung“ in eine erste konzise Form gebracht waren. Im Brennpunkt dieser Schrift steht, wie in der programmatischen Anknüpfung, die wenig später die Frankfurter Antrittsvorlesung von Jürgen Habermas unter dem Titel „Erkenntnis und Interesse“ (1965) in der umgekehrten Emphase vortragen sollte, die offen gebliebene Provokation der Krisis-Abhandlung Husserls.¹⁸ Dabei ist der Rede wert, wie konsequent Blumenbergs Projekt auf der Höhe der Zeit formuliert wurde: einer im Nachkrieg verschärften, von Autoren wie Adorno mit der gleichen Schärfe, aber in anderer Pointierung versehenen ‚Situation‘. Das ist seit Karl Jaspers’ Diagnose der Geistigen Situation der Zeit (1931) und Jean-Paul Sartres Serie der Situations (seit 1947) der Aktualitätsbegriff par excellence, den Blumenberg aufgreift (Wirklichkeiten 51) und den Gadamers „Wirkungsgeschichte“ zur selben Zeit nivelliert.¹⁹ Das Situations-Selbstverständnis der Zeit kristallisierte sich an und gegen Heidegger. Die Krisis Husserls hatte es auf den Begriff gebracht: Situation ist Krise und erfordert Bewußtheit. Sie umfaßt die Generationen von Adorno bis Derrida, der die Kennmarke des ‚contre
Jürgen Habermas, „Erkenntnis und Interesse“ (Frankfurter Antrittsvorlesung 1965), Technik und Wissenschaft als Ideologie (Frankfurt/M: Suhrkamp 1968), 146 – 168, als dessen durchgängiges Feindbild die Phänomenologie Husserls aufgebaut wird. Der erklärte Ausgangspunkt der Kritischen Theorie, der pro domo nach Max Horkheimer formuliert ist (Technik 147), verblasst unter dem versteckten Husserl-Verriß Adornos, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (1956), der schon parat lag (Technik 159). Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen: Mohr 1960, 2. Aufl. 1965), 285.
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Heidegger‘ geprägt hat.²⁰ Blumenberg ist vor Derrida der Philosoph, der die Konfrontation mit Heidegger in der Sache am weitesten getrieben, sie ohne Umschweife,Vermeidung, Beschönigung ausgetragen hat. Das ist ein eigenes Thema, das in den Grundzügen für die Ausgangskonstellation und den Anlaß der Metaphorologie unverzichtbar ist. Auch der begriffsgeschichtliche Anlaß ist ohne die Hypothek der nach-heideggerschen Problemsituation, den mit Heidegger nicht erledigten und ohne Heidegger nicht zu erledigenden Widerspruch Husserls eingeschlossen, nicht nachvollziehbar. Als ein Emblem, die „Verkörperung der philosophischen Situation dieser Zeit“, ist für Blumenberg die „Kraftprobe von Davos“ bestimmend, ja einschneidend geblieben: jene sagenhafte, über eine Woche währende, von den Zeitgenossen atemlos verfolgte, bis heute vielfältig nachgestellte „Disputation“ von Cassirer und Heidegger 1929, die Blumenberg interessanterweise „zumindest mit einem Punktsieg von Heidegger“ enden sah und die er in einer späten, minutiösen Miszelle sarkastisch durchgearbeitet hat.²¹ „Lebenswelt und Technisierung“ liefert einen prägnanten Situationsbericht zu der selben Lage gegen Ende der fünfziger Jahre, konträr zum hermeneutischen Kompromiß von Wahrheit und Methode, und mit der methodischen Konsequenz der Metaphorologie. Der Kommentar hat dieser weitgehend untergründig verlaufenden, implizit konträren Intention in ihren Verzweigungen, Unklarheiten, aber auch Unausgegorenheiten ein Stück weit zu folgen. In der Metaphorologie indiziert Blumenberg den Stand der Dinge an einem (wie er unterstreicht) „Zitat höchst gegenwärtiger Philosophie“ aus einschlägiger Quelle, einem Essay seines Lehrers Walter Bröcker, dereinst Chefassistent bei Heidegger höchstselbst, der unter dem Titel Dialektik – Positivismus – Mythologie soeben (1957) die Lage der Philosophie nach Heidegger resumiert hatte und (zeigt Blumenberg) sie ein letztes Mal im aporetischen Stand phänomenologischer Unschuld präsentierte: der Frage „Was die Welt eigentlich sei“ (Paradigmen 30.10).²² Das Desiderat in all der Eigentlichkeit, auf der Bröcker mit Heidegger insistiert bis in die Ausweglosigkeit der ostentativ re-mythisierenden Tendenzen (das macht Blumenberg in wenigen Strichen klar), ist längst kein unschuldiges, sondern war eine „immer entschiedene Frage.“ „Daß sie [diese Welt] ‚Kosmos‘ sei, war eine der konstitutiven Entscheidungen unserer geistigen Geschichte, eine in
Jacques Derrida, „Entretiens du 1999“, in der aufschlußreichen Bilanz von Dominique Janicaud, Heidegger en France (Paris: Albin Michel 2001), I: 89 – 126: 114 ff. Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, hg. Manfred Sommer (Berlin: Suhrkamp 2010), 113. Vgl. „Affinitäten und Dominanzen“, Ein mögliches Selbstverständnis (Stuttgart: Reclam 1997), 166. Walter Bröcker, Dialektik—Positivismus—Mythologie (Frankfurt/M: Klostermann 1957), 35. Zu der Aktualität von Bröckers Buch vgl. Adornos zeitgleiche Frankfurter Vorlesung Ontologie und Dialektik (1960/61), hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), 50 (Nachweis 354.39).
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ihrem Ursinn […] immer wieder mitgehörte Metapher, fortgesponnen in der WeltPolis und im Welt-Lebewesen, im Welt-Theater und im Welt-Uhrwerk“ (Paradigmen 30.23). Keine Eigentlichkeit des Weltbegriffs stehe in Frage und konstituiere die Fragwürdigkeit der Welt, sondern die Metapher, die der Kosmos geblieben ist und in deren Form und Funktion er es geblieben ist. Das Schlaglicht, das Blumenberg als „höchst gegenwärtiges“ auf den historischen Sachverhalt wirft, trifft den Gegenstand, ohne daß an Ort und Stelle die Konsequenz der Beobachtung, welche die Welt als tragenden Begriff herauspräpariert, schon zu einem Ende gebracht sein könnte. Was diese Exposition in all ihren Konsequenzen heißen mag, liegt in einem dichten Netz von Implikationen beschlossen, die in der Metaphorologie nach Paradigmen unterschieden sind: nach erkenntnispragmatischen Parametern der Reichweite von Metaphern, die ihr Begreifen in dieser Reichweite erst bilden, statt es in Begriffen vorgeprägt vorzufinden. „Blumenbergs Grundgedanke verharrt noch weithin in der Latenz“, resignierte deshalb manch einer davor, daß die Metaphorologie jeder dogmengeschichtlichen Auswertung sich entzieht, sich vor ihr wie instinktiv verschließt.²³ Wie das Beispiel von ‚Kosmos‘ und ‚Welt‘ zeigt, ist die Latenz systematischer Art, ist sie Methode, und zwar in dreifacher Hinsicht. Sie begründet Methode in der von Husserl so genannten ‚Krisis‘ (1); sie ‚vertritt‘ Methode in einer Art wie der von Adorno postulierten ‚kritischen‘ Theorie (2); und sie praktiziert diese Methode in einer Blumenberg ganz eigenen Weise der Darstellung: einer genuinen Schreibart (3), die in der ersten Hinsicht, Husserls Krisis antwortend (1), wie in der zweiten Hinsicht, das Ärgernis Heidegger konternd (2), situationsbezogen operiert. Die in der umständlich betitelteten „Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ apostrophierte Aktualität bringt diese Sachlage auf den angemessenen Krisenbegriff: nicht irgendeine neue, im Politischen markante Zeitstelle steht zur Debatte, sondern rhetorische actualitas. Was Methode wird in der Metaphorologie, in ihr als methodisch möglich entworfen wird, liegt beschlossen im zeithistorischen Kontext einer ‚Sprachsituation‘, wie Blumenberg noch erläutern wird (1966), die eine neue Weise des historischen Mitreflektierens ‚zeitigt‘ (auch ein Lieblingswort Adornos). In dieser neuen Aktualität konkurriert der Entwurf Blumenbergs mit Ritters Wörterbuch wie auch – auf der anderen Seite des Spektrums – mit Lausbergs Handbuch der Rhetorik (Lausberg, Blumenberg, Gadamer, alle im selben Jahr 1960).²⁴ Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung (Hamburg: Junius 1993, 2007, 2011), 28. Die falsche, aber populäre Konsequenz, es handle sich (nur) um eine ‚literarische‘ Form, lag nicht fern. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik I–II (München: Huber 1960). Vgl. die Rez. von Klaus Dockhorn, Göttingische gelehrte Anzeigen 214 (1962), 177– 196, wo parallel auch
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Für die Metaphorologie, die sich die methodische Konsequenz vornimmt und dies aus Anlaß einer konkurrierenden forschungspolitischen Initiative in der denkbar gründlichsten Weise tut, resultiert daraus eine Art der Darstellung, die man in einem alten, aus der Überlieferung des Aristoteles bekannten Sinne ‚esoterisch‘ nennen kann. Sie liegt in dessen Poetik vor, die in diesem Fall noch den unschätzbaren Vorteil hat, für den Begriff der Metapher in der Philosophie verantwortlich zu zeichnen.²⁵ Wie dieser älteste und naheliegendste Bezugstext der Metaphorologie, die Poetik des Aristoteles, ist die Metaphorologie ein esoterischer Text: geht sie auf einen ihrerzeit aktuellen Forschungskontext zurück, ohne den ihr Gehalt nicht nachvollziehbar ist: aus dessen Arbeitshorizont sie sich erst adäquat – in der Weise ihrer methodischen Impliziertheit in ihn – erschließt. Das ist nicht nur pragmatisch wichtig, weil spätere Interessenten nicht mehr wie die in die Sache involvierten Ritter, Gadamer, Rothacker situationsmächtig sind und der Text kommentierungsbedürftig geworden ist, sondern aus viel gründlicheren Hinsichten, die in der Darstellbarkeit des Gegenstandes liegen und Teil des methodischen Problems sind. Der Vortrag „Lebenswelt und Technisierung“ ist mit dem Zusatz „unter Aspekten der Phänomenologie“ versehen und formulierte die methodischen Voraussetzungen dieser Ausgangssituation im Blick auf Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften, mit der Datierung „zwischen 1934 und 1937“ (Wirklichkeiten 17). Er tut es bei all dieser speziellen Genauigkeit nicht ohne einen zusätzlichen, unerwarteten Fluchtpunkt, Paul Valéry, der für Blumenberg wie für Adorno, Löwith oder auch Gadamer den Standard der Sprachreflexion repräsentierte.²⁶ Zurückblickend auf die griechische Sophistik und Lukrez, denkt BluGadamers Wahrheit und Methode zu besprechen war, Göttingische gelehrte Anzeigen 218 (1966), 169 – 206. Vgl. Aristotle, Poetics, Introduction, Commentary and Appendices by D.W. Lucas (Oxford: Clarendon Press 1968), ix-xi. Der altphilologisch geschulte Gelehrte Blumenberg ist souverän in der Handhabung der aristotelischen Termini und Schemata: von der esoterischen Schreibart und ihrer synkritischen Entfaltung bis zu den Variationen der mittelalterlichen Quaestio- und Kommentartechnik in der Anlage der einzelnen Paradigmen. Im Namen der von Blumenberg mit begründeten Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik ist die Anknüpfung an Aristoteles’ Poetik auf prägnante Weise explizit gemacht und ins Verhältnis gesetzt zu dem, was sie jedenfalls nicht ist, Hermeneutik im Sinne Gadamers. Nach Adornos repräsentativer Rezension „Valérys Abweichungen“ (1960) aus den Noten zur Literatur II (Frankfurt/M: Suhrkamp 1961) gehören Blumenbergs Valéry-Essays „Sokrates und das objet ambigu“ (1964), und der Leitessay „Sprachsituation und immanente Ästhetik“ für Poetik und Hermeneutik II (1966), der Valérys Rolle voraussetzt, ohne ihn eigens zu nennen, zu den Höhepunkten der Valéry-Rezeption der Zeit (Schriften 74– 111, 120 – 135). Karl Löwiths philosophische Summe Paul Valéry: Grundzüge seines philosophischen Denkens (Göttingen: Vandenhoeck 1971), sah in Valéry den Eckstein der „abendländisch-europäischen“ Tradition nach Nietzsche und
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menberg nicht daran, Heidegger zu erwähnen, der ausgehend von der Sophistik die Krisis-Schrift provoziert hatte.²⁷ Wie kaum ein anderer Text hat „Lebenswelt und Technisierung“ den impliziten Ausschluß Heideggers als bestimmte Negation im Ausschluß vollzogen. Dabei dreht sich doch weiter, und erst recht, alles um dessen Provokation, wie ein Blick in die Einleitung der Habilitationsschrift lehrt. Heidegger war für Husserls Krisis wie für Blumenbergs Nachfolge Husserls der unverminderte Anstoß: „Vom mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, in der Krisis der Neuzeit zu stehen, ist die Gegenwart erfüllt“, hob Blumenberg an, um sogleich mit Heidegger auf die „Notwendigkeit“ zu kommen, sich „dem Widerfahrnis der Krisis zu stellen“ – in Heideggers Worten: „das Wesen der Geschichte […] aus dem Sein selbst zu denken“ und, im Nachtrag zu den eben im Druck erschienenen Holzwegen, das eigene Projekt zu schärfen: „Heidegger sucht die auf den ersten Blick diffusen Phänomene der Neuzeit aus der Einheit eines Sinnganzen und das heißt: als geschichtliche Epoche zu begreifen. Die Epoche aber entsteht nicht aus dem nächsten Schritt eines linearen Geschichtsverlaufs, in gradueller Differenz zum Vorhergegangenen, sondern sie entspringt aus der Wende [Blumenberg gibt Husserls ‚Wende‘ den Vorzug vor der ‚Kehre‘ Heideggers], die das Ganze des Seienden in seinem Sein nimmt. Diese Wende gilt es zu begreifen […].“ Indessen, die Einsicht in Heideggers Provokation, „das von ihr herausgeforderte Denken“ habe sich in der Wende „einzurichten“, die in der Neuzeit Epoche macht und in der Phänomenologie ‚Krisis‘ – Zuspitzung der ‚epoché‘ – bedeutet, ruft in der Zuspitzung den Widerstand mit auf den Plan: „Das Sicheinrichten des Entwurfs ist zugleich ein Standfassen gegen das Widerfahrnis der geschichtlichen Wende“ und „diesem Standfassen entspringen Selbstand der Vernunft und Gegenstand des Seienden“.²⁸ Es wäre möglich, aber verfrüht, Die Legitimität der Neuzeit unmittelbar aus dem Widerspruch gegen Heideggers Diagnose herzuleiten, speziell aus der „Zeit
nutzte ihn als Alternative zu Heidegger. Wie Blumenbergs „Sprachsituation und immanente Ästhetik“ setzte Adornos Ästhetische Theorie (Frankfurt/M: Suhrkamp 1970) Valéry mit dem Stand der „Logizität“ der Kunst gleich (207). Noch das Kolloquium der Poetik und Hermeneutik IX (1981) kam mit Blumenberg auf die Exemplarität Valérys als einen selbstverständlichen Ausgangspunkt zurück, Vgl. den schon derzeit notorischen, unter dem Namen der Sophistik auf philosopische Krisis gerichteten Marburger Sophistes-Kommentar Heideggers vom WS 1924/25, Platon: Sophistes (Gesamtausgabe, Bd. 19), hg. Ingeborg Schüßler (Frankfurt/M: Klostermann 1992), gebündelt im Resumée des langen aristotelischen Einleitungsteils, § 34 (Sophistes 230 ff.). Hans Blumenberg, Die ontologische Distanz (Habilitationsschrift Kiel 1950), Zitate 3, 7, 9 (seine Hervorhebungen, meine Verdeutlichungen in Klammern). Vgl. hierzu die Sparte der „Rezeptionsunfälle“ in Blumenbergs später Summe der Höhlenausgänge (Frankfurt/M: Suhrkamp 1989), 730 ff.
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des Weltbildes“ (1938), die Blumenberg in der Freiburger Vortragsfassung gekannt haben muß, bevor er sie 1950 nach den Holzwegen zitieren konnte.²⁹ Verfrüht, solange der methodische Ort der Metaphorologie fehlt. Heideggers ‚Geschick‘ indiziert mehr und verlangt mehr als ‚Gelassenheit‘: „Strenge der Forschung“, nimmt der frühe Blumenberg ihn beim Wort. Was auf den ersten Blick als ein Stück radikaler Mimesis an Heideggers Entwurf erscheint und dem Verfasser deshalb im Nachhinein peinlich geworden sein mag, ist doch von äußerster Härte. Eine in der Motivation sonst kaum mehr erkennbare Einrede gegen die ‚Seinsgeschichte‘ in der Legitimität verrät diese Herkunft: „Seinsgeschichte schließt aus, daß die Signaturen einer Epoche aus der dialogischen Struktur der zwar nicht mit der Geschichte identischen, auch in ihr nicht ständig spontan ‚aktiven‘, aber doch durch Not und Nötigung, Aporie und heteronome Überspannung ‚aktivierbare‘ Vernunft erklärt werden können“.³⁰ Das ist nicht ohne Hintersinn gesagt, denn es heißt nicht weniger als: Die dialogische Hermeneutik von ‚Frage und Antwort‘ Gadamers, auf die sich auch die Blumenberg-Leser gerne berufen, ist keine hinreichende Antwort auf die von Heideggers ‚Seinsgeschichte‘ geschürte Krisis; sie ist nur und bestenfalls eine heuristische Hilfe anstelle der nötigen methodischen Klärung. Am ursprünglichen Ort des Nachtrags zur Habilitation war das im „Standfassen“ in der Manier Heideggers „entspringende“ Paar von „Selb-stand“ und „Gegen-stand“ auf den Stand der „originären Gegenstandsbildung“ gebracht, der in einer bahnbrechenden Arbeit des Husserl-Assistenten und Blumenberg-Lehrers Ludwig Landgrebe, „Husserls Phänomenologie und die Motive zu ihrer Umbildung“ (1939), vorlag.³¹ Darin hatte dieser die nötigen Schlüsse aus den von ihm gleichzeitig unter dem Titel Erfahrung und Urteil publizierten Fragmenten gezogen (1938), und nicht zuletzt, im letzten Teil, explizit auch für Heidegger selbst.³² Der junge Blumenberg nutzt die dort rekonstruierte Theorie der ‚absoluten Subjektivität‘ – nach Landgrebe „vor allem der Einsicht in die Struktur und Aufeinanderschichtung, das Fundierungsverhältnis der Gegenständlichkeiten selbst“ – um Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“ (1938), Holzwege (Frankfurt/M: Klostermann 1950, 3. Aufl. 1957), 69 – 89, mit neueren Zusätzen 89 – 104. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt/M: Suhrkamp 1966), 159; integrale Fassung der dreibändigen Neuausgabe von 1973 – 1976 (1978), 220; im Folgenden nach dieser definitiven Ausgabe. Ludwig Landgrebe, „Husserls Phänomenologie und die Motive zu ihrer Umbildung“, Revue internationale de Philosophie 2 (1939), 277– 316: 301– 303. Vgl. dazu den Hinweis bei Emmanuel Lévinas, „La ruine de la représentation“ (Husserl-Gedenkschrift 1959), En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger (Paris: Vrin 1949,1967,1974), 125 – 135: 126. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1938), ausgearbeitet von Ludwig Landgrebe (Hamburg: Meiner, 4. Aufl. 1972), Vorwort Landgrebes.
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die eigene Theorie der ‚ontologischen Distanz‘ zwischen „Selb-stand und Gegenstand“ als Methode gegen die ‚Widerfahrnis‘ der Wende in Stellung zu bringen (Distanz 10); die spätere Theorie der Selbstbehauptung hat hier erste Wurzeln.³³ „Lebenswelt und Technisierung“ bringt die Skizze, zu der Heideggers Holzwege der willkommene Anlaß waren, auf das Niveau, auf dem das von Gadamer ins Benehmen gesetzte Paar von Wahrheit und Methode Methode verlangt. Die seinsgeschichtliche Latenz der ‚Kehre‘ Heideggers scheint von ungebrochener Kraft, der hermeneutischen Domestizierung in Wahrheit und Methode ungeachtet. Allzu offensichtlich unterbieten saloppe Patentlösungen wie „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ die Problemlage (Wahrheit und Methode 478). Weder unterschreibt Blumenberg solche Verallgemeinerungen, noch illustriert er sie. Als Stein des Anstoßes dient ihm „Die Frage nach der Technik“ (1953), zu der Heidegger in dem so genannten „Humanismusbrief“ an den Pariser Freund und Interpreten Jean Beaufret das Wesen der Wahrheit (1943) mutiert sah.³⁴ Nach Blumenbergs Konstruktion der Krisis ist die Frage anders zu stellen und als Gegenstand einer anderen Wende zu erweisen als der von Heidegger archi-historisch postulierten Kehre. Rückblickend wird er „den damals schwer-begreiflicherweise berühmten Vortrag ‚Die Frage nach der Technik‘“ nicht mehr der Rede wert halten (Die Verführbarkeit des Philosophen 104). Seit „Lebenswelt und Technisierung“ ist diese Frage für ihn erledigt. Der Titel „Lebenswelt und Technisierung“ benennt die offenbaren Desiderate Husserls, deren Heideggersche Version richtig zu stellen und in Gestalt der Kehre zu widerlegen ist, wobei klar wird, daß Husserls Skepsis und Heideggers Ambivalenz gleichermaßen zu revidieren sind. Allerdings gewinnt Blumenberg die Revision aus Husserl gegen Heidegger und ohne dessen weitere Erwähnung: allein aus einer „Auseinandersetzung mit den Krisis-Ideen Husserls“, welche „die Errungenschaften phänomenologischer Sacherschließung […] nicht wieder preisgeben“ soll, denn deren „bleibend erhellende Einsicht scheint mir [Blumenberg] zu sein, daß Technisierung eine im Schoße des theoretischen Gesamtprozesses entspringende Transformation ist“ (Wirklichkeiten 40). Anders als
Hans Blumenberg, „Selbsterhaltung und Beharrung“ (1969), Subjektivität und Selbsterhaltung, hg. Hans Ebeling (Frankfurt/M: Suhrkamp 1976), 144– 207. Die metaphorologische Genealogie des Motivs – die „Hypothese, daß die unendliche Macht [Gottes] im Grunde identisch mit der Unendlichkeit des Möglichen“ sei (Legitimität 237/8) – hat in der Konstanzer Schule Rainer Warning literarhistorisch ausformuliert, Funktion und Struktur: Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels (München: Fink 1975), 234 ff. Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“ (1953), Vorträge und Aufsätze (Pfullingen: Neske 1954), 9 – 40.Vgl. hierzu den Kommentar von Heinz-Dieter Kittsteiner, Marx mit Heidegger – Heidegger mit Marx (München: Fink 2004), 159 ff.
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Landgrebe, der eben noch für eine „kritische Prüfung der aus der Sprache für die Deskription sich anbietenden Ausdrücke auf ihren ursprünglichen Sinn hin“ plädiert hatte, kann sich Blumenberg mit der bloßen „Unmittelbarkeit der Erfahrung“ nicht zufrieden geben, so sehr ihm das „Ineinander von Deskription und [Heideggerscher] Destruktion“ bei Landgrebe gelegen kommen mußte (und in einer Reihe von Formulierungen bereits ein Blumenberg-Reflex bei Landgrebe sein mag).³⁵ Statt der Pathologisierung der Technik im ‚Gesamtprozeß‘ betont Blumenberg die in diesen eingelagerte, in ihm stetig optimierte Leistung einer Funktionalisierung, die als Formalisierung Methode und Technisierung aneinander bindet.³⁶ So daß die Wirklichkeit dessen, was als Gegebenheit von ‚Lebenswelt‘ naiv und unvermittelt verstanden wird, darin sowohl historisch, als auch im selben Zuge technisch geworden wäre – was die Voraussetzung all dessen, was als phänomenale Sacherschließung aus dem Fundus der absoluten Subjektivität fließt, in Epochen von Technisierung auf je eigene, historische Begriffe von Wirklichkeit führt. Die Konsequenz der ‚Wirklichkeitsbegriffe‘ zieht Blumenberg in dem Leitartikel zum Gründungskolloquium von Poetik und Hermeneutik I wenig später (1964), ohne daß die Herkunft des Begriffs aus der Metaphorologie über den esoterischen Kreis der Gruppe hinaus hätte deutlich werden können. Die historische Folge von Wirklichkeitsbegriffen, die als Alternative zu dem generalisierten Seinsentzugsgeschehen Heideggers fungieren und auch der pauschalen Pathologisierung der Lebenswelt in der Krisis widersprechen, zeichnet nicht zuletzt der Begriffsgeschichte ein historisches Profil ein, das sie in Ritters Entwurf nicht hat, ja nicht einmal ahnt. Sie verlangt der Begriffsgeschichte Differenzierungen ab, die einerseits Heideggers Sein und Geschichtlichkeit als plattes, mystifiziertes Gegenbild zum ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ hinter sich lassen (dem später einmal die Arbeit am Mythos gelten wird), die aber auch Husserls Weltbegriff in bloßer schematischer Gegenbildlichkeit erstarrt zeigen. Dagegen soll die Phänomenologie nach Blumenberg sich „des Umschlagens aller Selbstverständlichkeitscharaktere der Wirklichkeit in die Kontingenz“ bewußt werden, denn – so der Befund und die eigene Wende Blumenbergs – „die phänomenologische Methode ist selbst ein Paradigma des Kontingenzbewusstseins“
Vgl. Ludwig Landgrebe, „Von der Unmittelbarkeit der Erfahrung“ (1957), Der Weg der Phänomenologie (Gütersloh: Mohn 1963), 125 – 141: 138 f. Die Bezüge sind offenkundig; Blumenberg hat diesen Vortrag in Köln bei Landgrebe gehalten. Vgl. die systemtheoretische Fassung des Sachverhalts bei Niklas Luhmann, „Reflexive Mechanismen“ (1966), Soziologische Aufklärung I (Opladen: Westdeutscher Verlag 1969); sowie die anthropogenetische Konstruktion des „Wagenhebereffekts“ bei Michael Tomasello, The Cultural Origins of Human Condition (Cambridge MA: Harvard University Press 1999).
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als nämlich „jenes Basisvorganges im geistigen Substrat der technischen Welt, den man als ‚Ent-selbstverständlichung‘ bezeichnen könnte“ (Wirklichkeiten 46 – 48). Mit der Zunahme an Technisierung kommt eine „Forcierung der Kontingenz“ in den Blick, die in der Radikalisierung der ontologischen Distanz eine Radikalisierung der Methode verlangt und, heißt das: den historischen Ort der Phänomenologie als einer Methode mit zu reflektieren zwingt.³⁷ Als Paradigma eines eigentümlichen, in sich höchst problematischen Bewußtseinstyps, den Blumenberg ‚Kontingenzbewußtsein‘ nennt, bekommt es Phänomenologie mit einem Phänomen zweiter Ordnung zu tun, das im Prozeß der Technisierung erwächst: dem der Ambivalenz. Kontingenzbewußtsein, so man es überhaupt ein Bewußtsein alten Stils nennen kann, ist bewußtes Bewegtsein im Ambivalenzkonflikt: konflikthaftes Bewußtwerden eher als stationär-bewußtes ‚da‘ Sein. Die Metaphorologie trägt dem Rechnung, so daß man jetzt sagen kann: „Metaphern indizieren Kontingenz – und sie kompensieren Kontingenz.“³⁸ § 15 der Krisis Husserls handelte „über die Methode unserer historischen Betrachtungsart“ im Sinne einer „den heutigen Philosophen aufgegebenen“, ja genauer „durch sie hindurch gehenden Willensrichtung“, die Blumenberg als einen „voluntaristischen“ Zug beklagt und Gadamer zum bloßen „wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein“ herabstuft (Wahrheit und Methode 285).³⁹ Husserls Postulat – „worauf er [der Philosoph] eigentlich hinaus will, was in ihm Wille ist aus dem Willen und als Wille der geistigen Vorväter“ – ist damit aber nicht völlig erledigt. Blumenberg wird diesen methodischen Stachel, der im Begrifflichen steckt, zu retten versuchen. „Es heißt [fährt Husserl an dieser Stelle fort], die sedimentierte Begrifflichkeit, die als Selbstverständlichkeit der Boden seiner [des Philosophen] privaten und unhistorischen Arbeit ist, wieder lebendig zu machen
Auch dieser Begriff ist ein Übergangsbegriff und hat seinen historischen Ort, wie Blumenbergs Artikel „Kontingenz“, Religion in Geschichte und Gegenwart III (1958), 1793 – 1794, andeutet, der Kontingenz das letzte Theologoumenon nennt, bevor es zur ‚Kontingenzwelt‘ als gottverlassener im Privativum kommt und die „Welt als pures Faktum verdinglichter Allmacht […] keine zugängliche Ordnung mehr“ hat (Legitimität 194), woraus der ausweglose Sachverhalt der doppelten Kontingenz gegenseitiger Erwartungserwartungen folgt, den Niklas Luhmann ausbehandelt, exemplarisch im Grundriß der Sozialen Systeme (Frankfurt/M: Suhrkamp 1984), 166. Der letzte Band von Poetik und Hermeneutik XVII (1997) zum Thema Kontingenz ist dem Gedächtnis des Gründers Blumenberg gewidmet und dessen thematischer Präferenz eingedenk, könnte seiner historischmetaphorologischen These aber nicht entfremdeter auftreten. Ralf Konersmann, „Figuratives Wissen“, Vorwort, Wörterbuch der philosophischen Metaphern (Darmstadt: WBG 2007), 7– 21: 12. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936), hg. Walter Biemel, Husserliana VI (Den Haag: Nijhoff 1954, 2. Aufl. 1962), 72– 73 (Husserls Hervorhebungen, meine Ergänzungen).
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in seinem [dem Philosophen] verborgenen geschichtlichen Sinn“, nämlich „daß alle seine Selbstverständlichkeiten Vorurteile sind“, aber auch, und gravierender noch, „daß alle Vorurteile Unklarheiten aus einer traditionalen Sedimentierung sind, und nicht etwa bloß in ihrer Wahrheit unentschiedene Urteile“ (Krisis 73).⁴⁰ Vollendeter kann man nicht sagen, was eine philosophische Hypothek ist. Unbeschadet der voluntaristischen Selbstsituierung, die Husserl – symptomatisch – vornimmt (und Blumenberg beklagt), enthält die „sedimentierte Begrifflichkeit“, die Husserl den Boden nennt, worauf der „unhistorische“ Ansatz der Phänomenologie arbeitet, eine grundlegende Einsicht, auf die Blumenberg in der Folge baut: Metaphorologie soll von den begrifflich gefaßten Sedimenten der Philosophiegeschichte handeln, von den Rahmen und Verknüpfungen, für welche die Metapher seit Aristoteles das rhetorisch-technische Analyse-Paradigma ist. In der Metapher ‚kristallisiere‘ sich (greift Blumenberg eine von Kant entliehene, von Oswald Spengler und Arnold Gehlen zur Hochkonjunktur gebrachte mineralogische Metapher auf) die phänomenologische Reduktion, die ihrer historischen Problemlage bewußt ist, und sie treffe so das angemessene Verständnis ihrer neuzeitlichen Wende. Gehlens Vortrag „Über kulturelle Kristallisation“ (1958) hatte dieses mineralogische Gleichnis als die letzte Phase in der konsolidierenden „Anreicherung“ eines institutionell gegebenen Zustands beschrieben, die an die Stelle bloßer Weiterentwicklung trete (das ist Blumenbergs aktuelles Interesse an der Konsolidierung Husserls), und zwar dann, wenn „die Gegenmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hinein genommen oder ausgeschieden [worden sind], so daß […] Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden.“⁴¹ So daß also der Ergebnischarakter des Denkens, der in Begriffe gefaßt ist, strukturell kaum mehr über den Untergrund hinausginge, der sich darin kristallin als ein kulturell gewordener manifestieren würde, der, im Gegenteil, das bewegende Moment in sich hielte und behielte (Paradigmen 16.35 ff.).
Als eine implizite letzte, tendenziell bestätigende Antwort auf Blumenbergs Husserl-Lektüre in diesem Punkt kann man zwei späte Vorträge Gadamers, „Die Wissenschaft von der Lebenswelt“ (1972) und „Zur Aktualität der Husserlschen Phänomenologie“ (1974) lesen, Gesammelte Werke III (Tübingen: Mohr Siebeck 1978), 148 – 159, 160 – 171: 158 f. und 162 f. Andererseits, und für Blumenberg ungleich erhellender, die Darstellung von Maurice Merleau-Ponty, „Le philosophe et son ombre“ (Husserl-Gedenkschrift 1959), Signes (Paris: Gallimard 1960), 201– 228. Dazu die konzise Darstellung zum Stand der Forschung bei Leonard Lawler, „Verflechtung“, Husserl at the Limits of Phenomenology, hg. Leonard Lawler, Bettina Bergo (Evanston IL: Northwestern University Press 2002), ix–xxxvii: xiv ff. und xxxiv. Arnold Gehlen, „Über kulturelle Kristallisation“ (1961), Studien zur Anthropologie (Neuwied: Luchterhand 1965), 293.
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Es würde zu weit führen, den bekannten Stellen zu Husserls ‚historischer‘ Wende in ihren Echos Ende der 50er Jahre nachzugehen.⁴² Worauf es mir ankommt, ist hier allein die methodische Konsequenz, die Blumenberg nicht nur zu einer korrigierenden Weiterführung Husserls gebracht hat, sondern zu einer Überbietung Heideggers und zu einer Verschärfung der im Widerspiel beider umkämpften Krisis. Sein Versuch der Synkrisis Husserls und Heideggers überschießt bereits in der Habilitationsschrift den Übersetzungsversuch Landgrebes von 1939 und war vom Katzenjammer des „wahren Inderweltseins“ nach der Kehre, dem Bröcker 1958 den Spiegel vorhielt, nicht länger zu beeindrucken.Wohl konnte das Projekt der Metakinetik an die brillante Analyse des Bewegungsbegriffs in Bröckers Aristoteles (1933) anknüpfen, aber die aktuellste Anwendung, die in dem ehrgeizigen Freiburger Habilitationsvortrag eines weiteren HeideggerSchülers, Karl Ulmers, von sich reden machte, war nicht frei von krassen Mißverständnissen und für Blumenberg Anlaß zu einer grundsätzlichen Klärung, die zur tentativen Einführung des später aufgegebenen, anspielungsreichen eher als aufschlußreichen Begriffs der ‚Metakinese‘ in der Metaphorologie führt.⁴³ Ulmer hatte die Wende zur Neuzeit in einer „Struktur des Wißbaren“ gesucht, welche den „Grundphänomenen im Bereich der Bewegung“ zugrunde liegen sollte: „An die Stelle der Fügung, die auf der Idee physis beruht und die als taxis bezeichnet wird, tritt die Fügung, die auf der Idee der Gesetzmäßigkeit beruht“.⁴⁴ Blumenberg vermißte in diesem Wandel nichts weniger als Heideggers „Radikalisierung“ (Distanz 10a), und wenn er sich in der Kürze seines veritablen Verrisses nur auf ein einziges Zitat aus den Holzwegen beschränkte – ein Zitat, das es freilich in sich hatte, handelte es sich doch um das unverblümte Beispiel der „totalen Mobilmachung“ (Holzwege 89) – so ist das in der Sache doch leicht zu extrapolieren. Die Metakinese, die dem von Heidegger postulierten ‚Wesen‘ der Geschichte eignet, reicht tiefer hinab in eine Syntax, die in der ‚taxis‘, als welche die wissenschaftliche Idee der Gesetzmäßigkeit fungieren soll, keineswegs „nur
Als eine grundsätzliche Alternative ist die Husserl-Lektüre der Tübinger Habilitationsschrift von Ernst Tugendhat zu erwähnen, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (Berlin: De Gruyter 1966), der Husserls historisches Problem der „Sinnsedimentierung“ wie Blumenberg (den er nicht zitiert) einschätzt (250 ff.), es aber auf andere Weise „über Heidegger hinaus“ gehen sieht (255) und in der Gegenrichtung zu enthistorisieren sucht (215 ff.) – ohne, anders als Blumenberg, die Unverborgenheitstheorie mit in Zweifel zu ziehen (397 ff.). Walter Bröcker, Aristoteles (Frankfurt/M: Klostermann 1933), 176 ff. mit Folgen für die Auffassung der Kategorien 242 f. Karl Ulmer, „Die Wandlung des naturwissenschaftlichen Denkens zu Beginn der Neuzeit bei Galilei“ (Freiburger Habilitationsvortrag 1943), Symposion 2 (1949), 293 – 349: 347– 348.
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eine alternative Position der [ideengeschichtlichen] Auslegung“ finden soll (Distanz 10a). Kurz gefasst ist die Metakinetik, die in der Metaphorologie unversehens auftritt und ganz ohne weitere Einführung ihres Begriffs zum zentralen Gegenstand ernannt wird, dazu gedacht, die seinsgeschichtliche Bewegung namens Alétheia, des ‚Wesens‘ der Wahrheit im technischen Zeitalter des Wahrheitsentzugs, zu ersetzen: sie formaler zu fassen in der Funktion statt der Supposition einer Substanz, als die Heidegger das Drama der Ver- und Entbergung in Szene setzt. Blumenbergs spätere Standardreferenz Cassirer hatte die neuen Koordinaten für die Wende zur Neuzeit vorgegeben: Substanz und Funktion.⁴⁵ Doch vermeidet Blumenberg, eine entwaffnend glatte Wende von der Substanz zur Funktion als den neuzeitlichen Standard der Metakinetik zu ratifizieren. Diese ersetzt zwar und erübrigt die Seinsgeschichte nach Heidegger, und sie tut es für die in der Krisis strittige Neuzeit in einem gesteigerten Maße, deren kritisches, bei Husserl nachgerade pathologisches Moment die Technisierung ist. In der Metakinetik ist das pathogene, von Blumenberg in seiner Ambivalenz erkannte Moment der Technisierung keineswegs getilgt: sie trägt Ambivalenz aus. Das hält Blumenberg eher bei Husserl als ihn Cassirer anzunähern: in einer problematischen Mittellage, und zwar in etwa der selben, die er ironischerweise an Heidegger selbst diagnostiziert, wenn er, dessen Davoser Attitüde zwar abweisend, der von Cassirer postulierten „Disjunktion von Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ nur ein sehr relatives, typologisches Recht läßt (Selbstverständnis 166). In dieser Disjunktion wiese Cassirers Typologie der Begriffstypen eine dominante Amplitude der Metakinetik für die Neuzeit auf, erfasse sie aber nicht deren tieferen Beweggrund, dessen von Blumenberg mehr und mehr geschätzter Begriffsname die ‚Ambivalenz‘ Freuds wird.⁴⁶
Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (Berlin: Cassirer 1910). Die demonstrativ den Reigen der Wirklichkeiten beschließende Würdigung „Ernst Cassirers gedenkend“ (1974), hält die Bedeutung dieses Werks für „die Theorie der Begriffsbildung“ zwar hoch und bleibt doch eigenartig leer (Wirklichkeiten 164); in der Legitimität kam es nicht, in der Genesis nur am Rande vor (Genesis 598), so daß die Würdigung ein Desiderat markiert, das angesichts der behaupteten Nähe ein Ungenügen anzeigt. Es ist bereits in der an Cassirer angelehnten ersten Ahnung des ‚Wirklichkeitsbegriffs‘ bemerkbar (so etwa Substanzbegriff und Funktionsbegriff 34) und wäre folgerichtig mit Fleiß nicht nach ihm zitiert. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, Programmessay zu Poetik und Hermeneutik IV (1971), wo in der Frage „nach der Funktion mythologischer Rezeptionsvorgänge als Indikatoren geschichtlicher Wirklichkeitsverständnisse“ Adorno gegen Cassirer favorisiert wird: gegen einen „fast dämonisierten Funktionalismus des Mythos“ (Schriften 330 ff., hier 332). Wie der stringentere Titel der französischen Ausgabe La raison du mythe (Paris: Gallimard 2005) zeigt, die in Analogie zu der Übersetzung des Satzes vom Grund als Le principe de
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Die Metakinetik, die bei Heidegger als Bewegungs-Geschichte das ‚Wesen‘ (im aktiven Sinne des Verbs ‚wesen‘) der Alétheia ist, bleibt auch nach der HusserlReparatur, die Blumenberg vorschlägt, von einer Doppeldeutigkeit geprägt, die den Funktionsbegriff überspannt, ja sprengt; es scheint, als treibe sie die Kontingenz in der Technisierung erst hervor. Für Blumenberg bedeutet das phänomenologische Inne-Werden der Kontingenz und ihrer Sprengwirkung ‚Freiheit‘ an der Stelle des ‚Schicksals‘, das Husserl umständehalber schlecht und Heidegger grundsätzlich falsch verstanden hätte. Die Metaphorologie nimmt diese Freiheit zum „Mut zur Vermutung“ zusammen – er ist das Pendant zur Selbstbehauptung und das letzte Wort in der Metaphorologie. Die „Legitimität der Technisierung“, die Blumenberg bei Husserl „zugestanden“ findet, und die in der Legitimität der Neuzeit das volle „Pathos“ des Meisters der Krisis verdient hat (Wirklichkeiten 44), beweist nur: „der Konstitutionsprozeß der Neuzeit ist nicht eindeutig determiniert, er enthält eine Ambivalenz“, welche in die Epoché der Lebenswelt als „einer Kontingenzwelt“ eingeht (Wirklichkeiten 33, 47).⁴⁷ Wird mithin der Entzug von Ambivalenz, die das Fortschreiten der Technisierung begleitet, zum methodisch bedeutenden Anhalt, so wird in ihr die Metapher (und mit der Metapher die Metaphorologie) als das die Metaphysikgeschichte entscheidende Paradigma der Metakinetik ansichtig, das von der Sophistik bis Nietzsche reicht und von Heidegger in seine historischen Schranken gewiesen wurde: „Das Metaphorische gibt es nur in der Metaphysik“, ist der akute Satz aus dem Satz vom Grund, Heideggers letzter seinsgeschichtlicher Synthese, die 1957, im Jahr der ersten Vorstellung des Projekts der Metaphorologie (1958), die Latenz des metaphorologischen Motivs bestätigt.⁴⁸ Blumenbergs Entwurf breitet das komplexe Design tentativ, in fortschreitenden Graden der Komplexion aus. Die Ambivalenz der Technisierung, die in der Forcierung von Kontingenz die erste neuzeitliche Kompromißbildung ihrer Latenz zeitigt, ist mythischer Art und Herkunft. Ihre phänomenologisch relevante historische Leistung ist die Übertragung des Mythos in eine Neuzeit, die in der Folge (so etwas wie) ‚Dialektik der Aufklärung‘ nach sich zieht und Arbeit am Mythos verlangt. Die Metaphorologie widmet sich einer Ambivalenz, die im ‚Prozeß‘ der
la raison (Paris: Gallimard 1962) zu lesen ist, hat Blumenberg die ‚Latenz‘ Freuds in der ‚Ambivalenz‘ dessen entdeckt, was er von Heidegger als ‚Seinsgeschichte‘ kannte und in Adornos Negativer Dialektik als eine (utopische) „Wiederherstellung des reinen und unbesetzten Möglichkeitshorizonts“ entworfen findet (Arbeit am Mythos 246). Historisch ausgeführt in einem Seitenstück zum Legitimitätsbuch, „Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit“, Einleitung zu Galileo Galilei, Sidereus Nuncius: Nachricht von neuen Sternen (Frankfurt/M: Insel 1965, Neuauflage Suhrkamp 1980), 7– 65: 46 f. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen: Neske 1957), 89.
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Technisierung fortschreitend zu einer Dialektik im Beweggrund der Neuzeit wird, der als Grund und Bewegung an der metaphorologischen Topik des Paradigmas der ‚Übertragung‘ teilhat. Aristoteles’ Poetik hatte dieses Paradigma auf einen Begriff, eben den der Metapher gebracht. Als Paradigma – das ist für Blumenbergs Titelwahl kennzeichnend – war es bereits bei Platon ein thematisierendes und zugleich selbst-überschreitendes Moment dessen, was je ‚der Fall‘ sein sollte, für diesen Fall aber zwangsläufig auch schon weiter über sich hinauswies.⁴⁹ Ein Moment der theoretischen Praxis, über deren Ökonomie die Metaphorologie als einer „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ – deshalb taucht der Begriff hier auf – methodisch zu handeln hatte (letzter Satz der Einleitung, Paradigmen 16.29). Platonisches Paradigma und aristotelische Metapher bilden ein Amalgam, das Blumenberg als den strukturellen Kern der sedimentierten Begrifflichkeit Husserls ausmacht. Die Seinsgeschichte Heideggers, von der Seinspräferenz des Aristoteles voreingenommen, hatte mit der sprachlichen Prädisposition der Erschlossenheit von Welt wohl gerechnet, dabei aber die anti-rhetorische (anti-sophistische) Implikation der alltäglich gegebenen Ontologie leichtfertig mit übernommen, die Blumenberg in der meta-rhetorischen Korrelation von Kosmos und Logos vorgeprägt findet und zum Ausgangspunkt nimmt: „Kosmos und Logos waren Korrelate“ ist seine bekannteste Formel, die den Ort des Paläonyms Metapher bezeichnet an der Stelle des von Aristoteles ontologisch fixierten Begriffs der Metapher (Paradigmen 12.31). Sie bedeutet nicht allein, wie Blumenberg am Anfang der langfristig stabilen Theorie-Konstellation der Metaphysik festhält, daß die Metapher sich aus der Korrelation von Kosmos und Logos erklärt und bewährt; sie bedeutet auch, daß diese Korrelation in der Metapher thematisch wird und in eine wohl definierte Funktion eintritt, die Aristoteles nach vier Typen unterschieden und exemplifiziert hat. Das läßt sich hier nicht annähernd vertiefen. Genug, wie Blumenbergs hochgeschätzter Kollege Bruno Snell scharfsinnig (und bis heute nicht recht gewürdigt) bemerkt hat, daß der Ursprung der Metapher aus der Thematisierung von Funktion erwächst und als Funktion von Thematisierung entdeckt wird; das ist der Kern seiner Entdeckung des Geistes (1946) und rief in der ersten Reaktion auf die Paradigmen „typologische Arbeit“ mit auf den Plan.⁵⁰
Victor Goldschmidt, Le paradigme dans la dialectique platonicienne (Paris: Vrin 1947, 1985), 76 ff. und an diesen anknüpfend Giorgio Agamben, Signatura rerum: Sur la méthode (Paris: Vrin 2008), 26 ff. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes (Hamburg: Claassen 1946, 3. Aufl. 1955), 427 ff.; Der Aufbau der Sprache (Hamburg: Claassen 1952), 159. Ähnlich der Ausgangspunkt in Ernst Tugendhats Dissertation Tì katà tinós (1958), 1– 2. Vf. Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik (München: Fink 2007), 124 ff. Nach dem Zeugnis von Blumenberg selbst, „Beobachtungen an Meta-
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Blumenberg entdeckt in der Metapher des Aristoteles einen ersten ‚Funktionsbegriff‘ avant la lettre; er ist für die folgende Entwicklung paradigmatisch, denn er trägt das Konzept der Funktion ein in die Behauptung von Substanz und bezeugt den damit in Gang gekommenen Prozeß der Technisierung im Begreifen und im Begriff von Welt. ‚Erkenntnispragmatik‘ limitiert und reguliert fortan das Feld der Wahrheitsmetaphorik in ihren historischen Spielarten (Paradigmen 29.5). Die anlässlich der Davoser Debatte persiflierte Fixierung Heideggers auf das ‚Sein‘ ist also auflösbar, wenn auch nicht zu dessen Konditionen. Denn daß „sich Heidegger mit Luther für die Substanz als erste und [unterstreicht Blumenberg] einzige Kategorie gegen die funktionale Kategorienvermehrung der ‚symbolischen Formen‘“ Cassirers entschied (Selbstverständnis 166), versetzt diese erste und einzige Kategorie in die Funktion ‚Meta‘ der Metaphysik, und die Metaphorologie trägt dieser Meta-Funktion Rechnung, indem sie – bei transzendentaler Tieferlegung, Heidegger vorausgesetzt und nicht beiseite geschoben – die funktionale Kategorienvielfalt historisiert und als produktive Kraft in Zusammenhalt bringt.⁵¹ Blumenberg spricht von einem „Strukturbegriff der Kulturleistungen“, der den Formbegriff Cassirers an Husserl annähere, dabei aber eher abschwäche (Selbstverständnis 163). Die Antwort auf die Davoser „Verkörperung der philosophischen Situation dieser Zeit“, die er im Protokoll des Heidegger-Assistenten Bollnow zitierreif vorfindet (Selbstverständnis 167), stellt Heideggers Konzept auf funktionsbezogene Füße, welche ‚symbolische Formen‘ mit Heidegger (und nicht gegen ihn) ermöglichen; der Rest der Davoser Komödie, die von dem jungen Levinas am Ort denkwürdig illustriert und in der Folge als ein böses Omen gedeutet wurde, ist Schweigen. Die Kontroverse von Davos, an die Blumenberg zurückdachte, und die ohne ihn bis heute nicht befriedigend zu Ende geführt ist (allen beeindruckten Beiständern und nachgeborenen Interessenten zum Trotz), entzündete sich an der Rolle Kants und der Entwicklung des Neukantianismus bis Cassirer, aber auch bis zu Heidegger selbst. Das war in Kant und das Problem der Metaphysik als einem phern“, AfB 15 (1971), 161– 214: 164, war Snell Zeuge der ersten Vorstellung der Paradigmen vor der Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft für begriffsgeschichtliche Forschung, die „im Mai 1958“ unter dem Vorsitz von Gadamer zu Ritters Projekt des Historischen Wörterbuchs zusammengetreten war. Das lange verschollene Protokoll dieser Sitzung von Günter Gawlik belegt große Verständnislosigkeit auf Seiten der anwesenden Fachgutachter, nicht zu sagen eine eher unfreundliche Verwirrung. Ich habe Florian Fuchs für den Fund des zeitweise verlorenen Protokolls zu danken, auf das er am Rande seiner BA-Arbeit stieß (EU Viadrina 2009). In einer dem Ereignis der Davoser Disputation an die Seite gestellten Glosse „Das Sein – ein MacGuffin“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1987) hat Blumenberg diese Funktion der Seinsprätentionen Heideggers mit bemühtem Witz gekontert und auf die Allegorie eines Selbstläufers wie einer self-fulfilling prophecy gebracht (Ein mögliches Selbstverständnis 157– 160).
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Nachtrag zu Sein und Zeit zu Tage getreten.⁵² Nun scheint in dem Rollentausch, in dem Heideggers Neulektüre Kants den von Cassirer abgelegten Kantianismus ostentativ anders begründete, in ihrer ontologischen Reorientierung wenig mit Husserls späterem Krisenbewusstsein zu tun zu haben, ja es gar nicht erst aufkommen zu lassen und die in der Krisis gewärtigte historische Undurchsichtigkeit nicht mehr zu berühren. Indessen täuscht der Eindruck der Davoser Protokolle, und der forsche Ton der heideggerschen Programmatik trug wohl dazu bei. Erst im Nachhinein Blumenbergs wird klarer, was die unmittelbare Aktualität verwischte: Heideggers „endliches Dasein“ verlagerte die Differenz, die der in die transzendentale Einbildungskraft eingetragene „Bezug zur Zeit“ ausmachen sollte (Kant und das Problem der Metaphysik § 32). Weniger pauschal gedacht und im Kantbuch alles andere als pauschal entwickelt, löst sich für Heidegger und für Blumenberg gleichermaßen die metaphysische Verzerrung der von Blumenberg in Husserls Namen auf sich und die Phänomenologie genommenen Traditionslast – kurz, der zu Paradigmen geronnenen Metaphorologie. All das wäre an den analytischen Teilen des Kantbuchs zu zeigen gewesen. Bei Wiederaufnahme der Metaphorologie in dem geschickt arrangierten Patchwork der „Beobachtungen an Metaphern“ von 1971 setzt deshalb die funktionale Bestimmung einer Typologie von Metaphern im zweiten Teil der Paradigmen die Analyse von Kants Zeitbegriff durch Heidegger voraus und formuliert versuchsweise „für den Bereich absoluter Metaphern, daß diese Defizienz des Begriffs der Zeit in all ihren versuchten Bestimmungen offenbar darin Ausdruck findet, daß Metaphorik des Raums darin vorkommt und nicht zu eliminieren ist“ (Beobachtungen 165 – 166). Das historische Projekt der Metaphorologie – bezogen auf die zeitgenössische Situiertheit der Philosophie nach Heidegger und in der Absicht, sie aus der unhistorischen Selbstvergessenheit der Phänomenologie zu erlösen, der Husserl den Namen ‚Krisis‘ gab – ist für Blumenberg als Variationsmuster der funktionalen Korrelationen von Kosmos und Logos zu denken und historisch klar umrissen. Es umfaßt die Tradition von Aristoteles bis Nietzsche. In ihr ist kein schicksalshafter Verfall zu befürchten, wie er für Heidegger und Nietzsche mit Sokrates einsetzt und in Aristoteles’ Bearbeitung der platonischen Philosophie greifbar sein soll, aber es ist doch ein „Mut zur Vermutung“ aufzubringen, der unabsehbar auf neue Gestalten drängt. In Paradigmen gefaßt, welche die Modifikationen der Wirklichkeitsbegriffe begleiten und unterfangen, ist die Materie der Metaphorologie der im Begriffs-Gebrauch sedimentierte Rohzustand des je anders philosophie Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (Gesamtausgabe 3), hg. FriedrichWilhelm von Herrmann (Frankfurt/M: Klostermann 1991), Anhang IV: „Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger“, 274– 296, hier Cassirer im Protokoll von Joachim Ritter (274, 277) und Heidegger im Protokoll von Otto Friedrich Bollnow (275).
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renden Vermutens. Den Faktor der Technisierung gegen den Faktor der Remythisierung ausspielend, hat Blumenberg für diesen Rohzustand die Industriemetapher des ‚Halbzeugs‘ gefunden: „Was ich hier vorlege [schreibt er in der größtmöglichen Beiläufigkeit] ist ja ohnehin nur Halbzeug, und die Perfektion und Lückenlosigkeit, mit man über ‚das Sein‘ handeln kann [kurz: Heidegger], ist auf diesem Felde ganz unerreichbar“ (Paradigmen 33.13). Zwischen dem sprachlichen Gesagtsein im Allgemeinen, über das sich leicht lückenlos handeln läßt (Selbstironie tut es hier), und begrifflicher Perfektion liegt das unabsehbare Feld der an- und vorformulierten, sedimentierten Begriffsgebräuche einer theoretischen Praxis, deren Erkenntnispragmatik Blumenberg ins Verhältnis zu der Wahrheitsmetaphorik allfälligen Gesagtseins setzt (in deutlicher Kontroversstellung zu Wahrheit und Methode). Auch hier ist die Vorgabe Heideggers (Ironie hin oder her) unverzichtbar und bis ins Detail maßgebend. Blumenbergs metaphorologische Konsequenz ist nur die richtigstellende Bestellung des von Heidegger eröffneten, im Konzept der Seinsgeschichte leider irrig generalisierten Feldes: „Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang [so hatte Heidegger in Sein und Zeit explizit gemacht] erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche.“⁵³ Auch ohne die gewußte Perfektion ist dem begrifflichen Rohling eine Pragmatik des Erkennens eingeschrieben, auf die der metaphorische Gebrauch effektiv zu- und vor-greift. Die Metapher des Halbzeugs ist ein Indikator für das, was der Paradigmabegriff bei aller Lückenhaftigkeit für die Metaphorologie leisten können sollte: die Modi eines theoretischen Gebrauchs erfassen, deren Standard nicht erst der wahrheitsgerechte Begriff sein kann; sie sind Zustände von ‚Unbegrifflichkeit‘ wird der spätere Vorschlag lauten. Wichtiger ist an dieser Stelle: das Halbzeug soll Modell des diesem Zustand eingezeichneten Standes der Technisierung sein. Als Metapher (nicht schon zu sagen Allegorie) des zum Status von Paradigmen geronnenen Standards zwischen Rohstoff und funktionsfähigem Erzeugnis macht das industrietechnische Halbzeug den erkenntnispragmatischen Grundzug einer jeden Metapher greifbar und steigert ihn in die von Cassirer durchaus gewärtigte, von Heidegger zurecht gefürchtete Zweideutigkeit zwischen funktionaler Optimierung und mythischer Re-substantialisierung – eine Zweideutigkeit, in der die aus mythenträchtiger Ambivalenz auf technische Perfektion drängende Stringenz der Funktionsbegriffe qua Metapher tendenziell die Oberhand behalten sollte. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer 1927, 9. Aufl. 1963), 69 (meine Ergänzung). Vgl. Rüdiger Campe, dem ich an dieser Stelle besonders verpflichtet bin, „Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher: Blumenbergs systematische Eröffnung“ (2000), Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie 283 – 315: 285 ff. und 288 f.
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In der Anlage der Metaphorologie hat Blumenberg dieser Komplizierung, obwohl sie bereits die ausgefeilte Pointe von „Lebenswelt und Technisierung“ war, vorerst unmarkiert Rechnung getragen in einer latenten Zweiteilung der Paradigmen, deren erste Hälfte den Widerstreit von Wahrheitsmetaphorik und Erkenntnispragmatik in Quer- und Längsschnitt bis an den Rand der Neuzeit behandelt (I–V), um sodann in der zweiten Hälfte (VI–X) den im Funktionieren der neuzeitlichen Hintergrundmetaphoriken ausgeprägten Typologien nachzugehen, sie im Wandel der Korrelation von Kosmos und Logos aufzusuchen und vom Mythos zum Logos, vom Kosmos zum System, vom organischen zum mechanischen Weltbild, von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit durchzugehen, immer dem Zug der wachsenden Technisierung folgend bis hin zur Überspannung und Sprengung der Funktionalen, die Nietzsche als das ‚Gesetz‘ der Wiederkehr der Antike wieder erkannt und gegen jeden ‚Fortschritt‘ vom Typ Newtons gewendet hätte. So beschließt die Metaphorologie den Parcours der Metaphysik (Paradigmen 188), der auf einer Fermate zum Einhalten gebracht ist, ohne es zur fertigen Theorie gebracht zu haben. Was danach kommt, ist eine Frage des Weiterphilosophierens im metaphorologisch geschulten, gewappneten und gewitzten Kontingenzbewusstsein, das als gekonnte Epoché auf der Höhe der Zeit operiert. Auch das tentative Stichwort der ‚Unbegrifflichkeit‘ trägt diesen technisch-historischen, in diesem Sinne nach-metaphysischen Index. Rhetorik und Metapher spielen die paradigma-bildende Rolle, indem sie zurückführen an die Urszene der Metaphorologie als der Krisis: auf die aristotelische Korrelation von Kosmos und Logos bei der Abwehr, wie Barbara Cassin und Michel Narcy am entscheidenden Ort, dem Buch Gamma der Metaphysik, aufgewiesen haben, der Sophistik.⁵⁴ In einem aufs Äußerste geschärften Widerspruch zu Heideggers Diagnose dieser Abwehr postuliert Blumenberg seine Metakinetik, deren Bewegtheit im Bereich dessen spielt, was in der Aristoteles-Lektüre Heideggers ‚Metaphysik‘ heißt und was bei Derrida genauer – wir lernen bei Blumenberg, warum Derrida hier genauer ist – als ‚Logozentrismus‘ diagnostiziert wird. Denn dessen berühmter Essay „La Mythologie blanche“ von 1971 gilt der Reichweite des ‚Phantoms‘ Metapher im aristotelischen Grundriß.⁵⁵ Er bietet ein
Barbara Cassin, Michel Narcy, La décision du sens: Le livre Gamma de la Métaphysique d’Aristote (Paris: Vrin 1989), 10 f. (Bezugstext ist Heideggers Satz vom Grund 135 ff.) Jacques Derrida, „La Mythologie blanche: La métaphore dans le texte philosophique“ (1971), Marges – de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247– 324: 258. Rodolphe Gasché, The Tain of the Mirror: Derrida and the Philosophy of Reflection (Cambridge MA: Harvard University Press 1986), spricht in seiner Konstruktion des „philosophischen Phantoms der Metapher“ von „quasi-metaphoricity“ (311) als den „conditions of possibility of a general metaphorology“ (307 ff.), wobei er sich in loser Anknüpfung auch an Blumenbergs Licht-Aufsatz orientiert (16).
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kongeniales Seitenstück zu dem platonischen Paradigma, dem Blumenbergs metaphorologische Pilotstudie „Licht als Metapher der Wahrheit“ gewidmet war. Gleich das erste der Paradigmen, die „Metaphorik der mächtigen Wahrheit“, ist gezeichnet als der lange angebahnte Prozeß einer ebenso überflüssigen wie am Ende überschüssigen Rhetorisierung, der von Aristoteles noch strategisch beherrscht wurde, in der stoischen Katalepsis aber von der serenen Evidenz der Lichtmetaphysik in eine „Qualität der Wahrheit selbst“ umschlug (Paradigmen 13): „von der sich selbst bahnschaffenden Wahrheit zum beliebten Ausdruck der Patristik“ (Paradigmen 22.30).⁵⁶ Was in Habermas’ kaum noch respektvoller Wende gegen Husserls „unkritische“ (oder vor-kritische) Theorie-Anhänglichkeit als ein verflossenes Klischee in Erinnerung kommt, die „kosmische Ordnung“ als „Prototyp für die Ordnung der Menschenwelt“ (Technik und Wissenschaft 152), ist ein metaphorologisch aufzuklärender Sachverhalt. Man sieht, so entschieden Blumenbergs Metaphorologie aus der zeitgenössischen Selbstsituierung nach Heidegger hervortritt, so bestimmt greift sie ein in die Anlage der in dieser Situierung strittigen Geschichte, deren Pointe in der zwischen Platon und Aristoteles einseitig bewältigten Rhetorik liegt – einer Rhetorik überwältigt von den eigenen Mitteln – und ihrer Fortschreibung in der von Heidegger überschlagenen lateinischen Tradition, und in dieser (das fehlt der These der Legitimität) der bis heute unterschätzte Quintilian und seine stille Rezeption mehr noch als die sich mit seinen Mitteln selbstermächtigende Patristik. So daß die eher konventionelle Reichweite der Metaphorologie zwischen Aristoteles und Nietzsche unvollständig beschrieben wäre ohne die vielen selbstreflexiven Momente, die ihr in der Reaktion Platons und Plotins eingeschrieben sind, um dann in Schüben wiederzukehren bei Cicero, Augustinus, Cusanus, Kant – Präferenzen, die Blumenberg in seinen intrikaten metaphorologischen Lektüren meistens gegen den Strich der herrschenden ideen- und dogmengeschichtlichen Trendmeldungen herausgearbeitet hat, zur Ratlosigkeit der in dieser vorbelastenden Hypothek unberatenen, historisch ungewitzten Spezialisten. Die „Abtragung jener vielfältig-undurchsichtigen Traditionslast“ (Paradigmen 12.7), die sich Husserl als historisches Seitenstück zur phänomenologischen Arbeit wünschte, ist kein simples Verlebendigen, wie Husserl selbst noch meinte (Krisis 73), sondern krisenfähiger, krisis-bezogener Vollzug des Weiterphilosophierens. Die meta-rhetorischen Begrenzungen des Weiterphilosophierens, Wei-
Vgl. die komplementäre Studie von Werner Beierwaltes, „Die Metapher des Lichts in der Philosophie Plotins“, Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961), 334– 362, sowie seine Beiträge „Licht“ und „Lichmetaphysik“ zu Ritters Historischem Wörterbuch V (1980): 282– 289.
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terforschens, Weiterlesens gelten hoch-kritischen, krisis-zuspitzenden Momenten in den Schichten der von ihnen bestimmten Geschichte, soll sie legitimer Gegenstand der Phänomenologie werden können. Als ein Teil dieses philosophischen Projekts ist die Metaphorologie mit guten Gründen unabgeschlossen geblieben: Das Futur Zwei der Vergangenheit ist und bleibt so „vielfältigundurchsichtig“ wie Husserl sagte: es ist unvordenkliche Nachwirkung sedimentierter Begreifensgeschichte im akut Aktuellen. So mag es angemessen sein, zusammen mit den Ergebnissen des Projekts, das die Metaphorologie ist und auf ein weiteres bleibt, die Desiderate der Krisis allererst aufzuzählen, die in einer Metaphorologie zu begründen und in ein phänomenologisches Kontingenzbewußtsein (der Epoché) zu überführen sind. Blumenbergs Philosophieren ist metaphorologisch, seine begriffsgeschichtlichen Ein- oder Auslassungen sind Teile des metaphorologischen Projekts und nicht umgekehrt, wie er sich in unglücklicher Ironie, sei es lakonisch, hat umverstehen lassen. Daß er sich so leicht hat umverstehen lassen, mag man bedauern, ist aber vergleichsweise unwichtig, und nur weil er die Motive für vergleichsweise unwichtig hielt, mag er sich ab und an zu ostentativer Anpassung verstanden haben. Der akademische Gestus der Unterwerfung, den er beispielsweise gegenüber dem von ihm de facto mit den schärfsten Worten widerlegten Carl Schmitt gnadenlos mimt – das akademische Theater, das er zersetzend mitspielt – spielt eine parodistische Intention aus, die man bei ihm zumeist treuherzig übersieht, und er tut dies mit einer nachgerade sadistischen Brillanz, die in der gelehrten Maskerade die veritable Travestie von der „Verführbarkeit des Philosophen“ aufführt.⁵⁷ Es wäre interessant zu wissen, wie er in einem Briefwechsel mit Heidegger umgesprungen wäre, gegen den sein explizites Urteil nicht härter ausfallen konnte, als es immer wieder ausgefallen ist, dessen letzte Worte er jedoch in versöhnlichem Respekt aus der Quelle seines Lehrers zu tradieren bereit, ja (diesem folgend) zu verklären bereit war.⁵⁸ Kaum je ist eine tiefer gehende Ambivalenz in der Einstellung eines Philosophen getrennter geblieben von der Bestimmtheit der Werkintention als bei Hans Blumenberg. Das ist eine Seite,
Das ist dem sehr punktuellen Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Carl Schmitt, hg. Alexander Schmitz und Marcel Lepper (Frankfurt/M: Suhrkamp 2007), zwar überdeutlich, aber doch nur gegen den auf eine tiefere Bedeutsamkeit angelegten Strich der Edition und der diese über-motivierenden und weiter gehenden Ambitionen und Interessen an dieser Verbindung abzulesen. Eingelassen in Die Verführbarkeit des Philosophen stehen sie da als „Ein Dementi“ nicht nur, wie der Titel des Stücks explizit erklärt (Verführbarkeit 107), sondern als ironische Bestätigung des letzten Stücks im Sorgebuch, das „Ein noch unbestätigtes Schlußwort“ überschrieben ist, Die Sorge geht über den Fluß (Frankfurt/M: Suhrkamp 1987), 222 (letzte Worte, letzte Seite).
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die wir in unserer Neugierde überschätzen mögen. Die andere ist sachlich wesentlicher und konklusiver, weshalb ich mit ihr schließe. Blumenbergs Philosophie ist experimentell, ihr Halbzeug ein principium rationis. Das zeigt neben der Metaphorologie das Labor der Zettelkästen und Mappen, deren Vorformen in den großen Erzählungen von der Arbeit am Mythos narrativ überspielt sind. Der Blick ins Labor zeigt die Unterseite der legendär gewordenen Oberfläche der großen Entwürfe, die ihrerseits darauf warten, der Theorie des Autors getreu, auf den neuen Stand der nächsten Zeit gebracht und, folglich, weitergedacht zu werden.⁵⁹ Es ist nicht die geringste, vielleicht die größte Hinterlassenschaft Blumenbergs, Philosophie als Praxis des Weiterdenkens im Weitergehen gehalten zu haben: einem Weiter in jeder Bedeutung des Wortes – zeitlich und qualitativ. Das ist bei all der Faszination, die das Archiv verwaltet, und bei allem ostentativen Fetischismus des verwahrten Gedankens in den Gestalten des Archivs, der weitertragende und weiter zu tragende, der Werkgestalt im Definitivsein des „ihre Zeit in Gedanken fassenden“ Denkens eingeschriebene Gedanke, der seinerzeit die letzte Aktualität gefunden hatte.⁶⁰ In dieser Formel, der es seiner Zeit nicht an Attraktion fehlte, trifft Blumenberg mit Hegel zusammen, ohne daß damit der lacuna, die Hegel im Werk Blumenbergs geblieben ist – ab und an markiert in Ausfällen gegen Hegels Prätentionen von ‚Hochbegrifflichkeit‘ und dem darin liegenden Vorsprung der Begriffe im ‚Vernünftigen‘ (Höhlenausgänge 578) – zu genügen wäre. Blumenbergs Werk ist darin ganz eigentümlich und allein Derrida verwandt, daß es die Verantwortung des abgeschlossenen Werkes nicht als eigene Wahrheit propagiert, sondern dessen Wahrheit für seine Wirkung offen hält und weiter zu tragen anhält.⁶¹ Mit der an seinem Fall immer neu aufbrechenden, immer wieder
Vf. „Metaphorologie im Zettelkasten: Splitter einer Sprengmetapher Hans Blumenbergs“, Denkbilder und Schaustücke: Das Literaturmuseum der Moderne (Deutsches Literaturarchiv Marbach), Marbacher Katalog 60 (2006), 249 – 252. Hegels Satz aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie ist im Vorfeld der Marxschen Kritik zu einem der Kristallisationspunkte des Komplexes Hermeneutik und Ideologiekritik geworden, der die Herkunft dieser Debatte aus Gadamers Hegellektüre (und der Gadamer-Festschrift Hermeneutik und Dialektik 1970) in Rüdiger Bubners Beitrag dieses Titels offenlegte und dabei die von Blumenberg in Angriff genommene phänomenologische Hypothek Husserls berührte (ohne Blumenberg in der gegebenen Situation nennen zu wollen): „Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt“ (Hermeneutik und Ideologiekritik 210 – 243: 230 f.). Vgl. Vf. „Radical Patience: Deconstruction’s Fall into History“, Einführung zu der DerridaGedenktagung Derrida/ America, hg. Peter Goodrich, Anselm Haverkamp, Cardozo Law Review 27 (2005), 547– 551. Der Untertitel zitiert Hegels „In die Zeit Fallen“ aus der Vernunft in der Geschichte mit Bedacht (Hamburg: Meiner 1956, 133), da es denkwürdig kommentiert wurde in Derridas „Ousia et Grammé: note sur une note de Sein und Zeit“ (Marges 31– 78), einem Beitrag zur Pariser
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skandalösen Konsequenz, daß sich über Blumenberg nicht in Positionen handeln läßt, sondern nur im Weiterdenken des in sich – der transzendentalen Unfertigkeit der Zeit entsprechend – übergängig Kristallisierten. Das ist Blumenbergs Fassung des Stands der Diskussion, die Heideggers Schlußwort zu Davos nicht ohne einen schalen Nachgeschmack hinterlassen hatte (Kant, Anhang 296). Der Zustand des metaphorologischen Halbzeugs wie auch der Zustand der ihm gewidmeten Theorie, der Metaphorologie, wie sie vom Autor verlassen worden und liegen geblieben ist, ist ein autorisierter, vom Autor hergestellter und hinterlassener. Mehr noch, er ist ein im schärfsten Sinne des Wortes entscheidender: Ort der Entscheidung des Philosophen. Denn an der selben Stelle der zur definitiven Gestalt ausgewachsenen Werke, auf die der Philosoph Blumenberg ein Äußerstes an Präzision verwandte, erlaubt das unerfüllte Projekt Einblick in die Bewegung einer aus freien Stücken mit dem Mut zur Vermutung verfahrenden Philosophie, die Blumenberg als Praxis von Theorie entwickelt hat und folgerichtig auch folgeträchtig hinterlassen hat. Die Theorie der Unbegrifflichkeit mag in dieser Konsequenz trotz ihrer unabgeschlossenen Gestalt ein besserer Indikator sein als die Beschreibung des Menschen, in die sie eingebettet lag.⁶² Auch Blumenbergs Neigung zur Anthropologie zielte auf eine Tieferlegung der Lebenswelt Husserls, die sich an Heideggers „Transformation der Phänomenologie“ entzündete.⁶³ Indessen, die Aporetik der anthropologischen Fermate, die manch einen beruhigt, wie sie manch andere – Blumenberg selbst darunter – beunruhigt, taucht ein in die mythen-kompromittierten Wasser der Zeiten nach der Metaphysik.⁶⁴ Das sind die Festschrift von Heideggers französischer Liaison Jean Beaufret (1968), eines akademischen Lehrers von Derrida, dessen Text die seinerzeit äußerste Provokation des französischen ‚contre Heidegger‘ darstellte, die sich mit Blumenbergs Ausgangspunkt berührt (Marges 35 f.). Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2007), mit dem Einsatzpunkt im Motiv der actio per distans (Unbegrifflichkeit 10), die in der Beschreibung des Menschen, hg. Manfred Sommer (Frankfurt/M: Suhrkamp 2007), als ein empiristischer Sachverhalt gefaßt ist (508, 575), bevor sie als eine „verborgene Disposition“ (578) quasi unbegrifflich zum Tragen kam. Das Motiv war von Mary Hesse, Forces and Fields: A Study of Action at a Distance in the History of Physics (London: Nelson 1961), 25 ff. als ‚model‘ behandelt worden, das als „metaphysical framework of physics“ von der primitiven Analogie bis in die moderne Physik hineinreichen sollte (Forces and Fields 290 ff.). Bereits Blumenbergs Schülerin Barbara Merker hatte in ihrer brillanten Dissertation Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis: Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls (Frankfurt/M: Suhrkamp 1988), eine überzeugende Darstellung des von Blumenberg intendierten Stands des phänomenologischen Teils in der Beschreibung des Menschen gegeben und den metaphorologischen Rahmen punktuell berührt (Exkurs 131 ff.). Hier empfiehlt sich ein Blick in Herbert Schnädelbachs konzises Referat Philosophie in Deutschland 1831 – 1933 (Frankfurt/M: Suhrkamp 1983), das tentativ bis 1960 vorausschaut und
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anthropomorphen Interessenlagen, denen der Jargon der Eigentlichkeit Adornos (1964) zur selben Zeit eine Diagnose widmete, als Gehlens Urmensch und Spätkultur, Freuds Totem und Tabu (1913) neu orchestrierend (1956), die im Sand der Geschichte verwischten Spuren des Subjekts zu transponieren und, nicht anders als Adorno, zu retten versuchte, die am Schluß von Foucaults Les mots et les choses (1966) zum Emblem jeden nachmetaphysischen Philosophierens geworden sind.⁶⁵ Denn hatte, wie Adorno nicht anders dachte, „Philosophie […], nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteresse bekundete, beim Begriffslosen“, so konnte das nur beim „Einzelnen und Besonderen“ sein (Negative Dialektik 19). Foucault nun näher als Adorno, nimmt die Unbegrifflichkeit Blumenbergs in diesem Sand, in den Gemengelagen der Geschichte, die materialen Gründe des Weiterdenkens in die eigene Hand. So findet das bislang letzte metaphorologische Phantom, das des Lebens, das in den so genannten Lebenswissenschaften den Menschen als Gestalt längst zu ignorieren gelernt und als ideologische Gesamtgestalt ad acta gelegt hat, in Blumenbergs Simmel-Lektüre einen Entwurf, dessen Orientierung am lebensphilosophischen Kontext der Philosophie des Geldes (1900) zwar offen läßt, mit welcher Konsequenz der metaphysische Horizont selbst (und nicht nur dessen anthropologische Mythisierung) überschritten ist. Denn davon muß die Stelle der Unbegrifflichkeit in der anthropologischen Beschreibung des Menschen – in Erfüllung der ontologischen Distanz – abhängen. Dagegen erscheint die Eignung des Paradigmas Geld, ‚Leben‘ frei von aller mythenanfälligen Erfahrung in reinem Kontingenzbewußtsein zu fingieren, so durchschlagend wie das Anthropologieneutrale Funktionieren, das bei Simmel wie bei Cassirer dem Ambivalenzaufkommen im Haushalt der Kontingenzen standhalten sollte und als eine transhistorische Hypothese am Ende doch nicht genügen konnte.⁶⁶
zur Arrondierung dieser „Konstellation“ […] empfiehlt, sich „an Hegels Verwendung von ‚Anthropologie‘ zu erinnern: als Name für den Systemteil, in dem ‚der subjektive Geist […] an sich oder unmittelbar‘ oder als ‚Seele oder Naturgeist‘ Gegenstand der Untersuchung ist“ (273). Hierzu hatte der Ritter-Schüler und Blumenberg-Vertraute Odo Marquard terminologie-strategische Vorschläge gemacht, deren historisierende Absicht in der gebrochenen Verwendung des Wortes ‚Anthropologie‘ bei Blumenberg unverzichtbar ist, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (Frankfurt/M: Suhrkamp 1973), 122 – 144: 131 ff. mit aktuellem Ausblick 138 ff. Michel Foucault, Les mots et les choses: Une archéologie des sciences humaine (Paris Gallimard 1966), 398 (letztes Wort). Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900), der Blumenberg seine letzte metaphorologische Wende verdankt, die er unter dem so marginalen, wie witzigen Titel „Geld oder Leben: Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels“ (1976) versteckte (Schriften 177– 192), bietet das erste und einzige ausgearbeitete Paradigma der Unbegrifflichkeit.
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Was sich an den äußersten Grenzwerten des Geld-oder-Leben-Paradigmas – das in der Radikalisierung der historischen Perspektive dem primordialen Einsatz des Licht-als-Wahrheit-Paradigmas vergleichbar wird – ablesen läßt, wäre dann dieses: Die Latenz der Technisierung zwingt die metaphorologische Reflexion auf ein neues Niveau. Wie dereinst die Lichtmetaphysik verlangt die im Lebensbegriff zu mythischen Ausmaßen gediehene Grundmetaphorik des biologischen Lebens eine metaphorologische Reduktion, die sich dem Stand des in sie eingelassenen Prozesses der Technisierung gewachsen zeigen muß. Blumenberg hat diese Konsequenz nur angedeutet und in seinen Anstalten zur Arbeit am Mythos als die Wiederkehr eines nahezu Gleichen anklingen lassen. Er läßt sich dabei keinen eschatologischen Hauch anmerken, für den sogar ein Derrida anfällig blieb, aber er verläßt im Aushalten seiner stoischen Ruhe das Feld der Beschreibung nicht, das einmal auf den Namen des Menschen hörte und die Metaphysik Heideggers (die von Heidegger wie von Gott verlassene und von Husserl in Gottes Namen vergebens gehütete Metaphysik) ihm überlassen hatte: Die Krise steckt in der Unzugänglichkeit des Subjekts für sich selbst, in der überraschenden Wahrnehmung [hier verläßt Blumenberg den unsichern Boden der intersubjektiven Postulate endgültig und ohne tröstliche Aussicht] seiner Undurchsichtigkeit nicht nur und nicht primär für die anderen (Beschreibung des Menschen 895).
Es war allerdings schon zur Stelle, als Blumenberg 1958 den ersten Einwurf Bruno Snells konterte und sich zur Ergänzung der Paradigmen durch „typologische Verfahren“ im zweiten Teil veranlaßt sah (Beobachtungen 169).
3 Metapher und Politik Aristoteles (Quine), Merleau-Ponty Das Thema „Metapher und Politik“ verbindet eine Trivialität mit einer Komplikation. Da die Komplikation der Rede wert ist, beginne ich mit der Trivialität, in der eine gewisse Brisanz lauert. Der Sachverhalt grenzt an Redundanz: die Metapher ist politisch – was sonst; die Politik verfährt metaphorisch – wie sonst? Wir haben keinen anderen Nenner, auf den wir Politik bringen könnten. Indessen, der Teufel der adäquaten Beschreibung sitzt im Detail. Welches Detail wird in Gestalt der Metapher als ein bestimmender Faktor erfaßt, und welches politik-konstitutive Differential erhält in der Metapher einen Namen, der mehr als eine gebildete Chiffre ist, mehr als das tendenziell hypokrite Einverständnis, Ungrades gerade sein zu lassen? Die Wahrheit der Politik ist ein Übereinkommen im Metaphorischen. Das ließe der Metapher nichts als den status corruptionis der politischen Kommunikation. Die Frage muß deshalb genauer sein, zu welcher Differenzierungsarbeit befähigt der Begriff der Metapher über die mehr oder minder vage Übereinkunft in der Metapher hinaus?
I. Politik, der Ort der Metapher (Aristoteles, Quintilian, Baumgarten) Ganz gegen den Augenschein vertragen sich Metapher und Politik bestens, gehören sie von Anfang an zusammen. Aristoteles, der den sprachlichen Befund der Metapher als erster begrifflich gefaßt hat, tat das in einem esoterischen Nebenwerk, das den epistemologischen Wert der Kunst mit ihrer politischen Rolle kurzschloß oder, vorsichtiger gesagt (denn dieser Kurzschluß mag nur ein Produkt der modernen Rezeption sein), die Kunst mit ihrer Funktion in der griechischen Polis verbunden zeigte. Das Werk ist die Poetik, und die darin exemplarisch gemachte Kunst, der des Aristoteles philosophisches Interesse gilt, ist die Tragödie, die deshalb seit der Wiederentdeckung der Poetik in der Renaissance als weitgehend durch ihre Wirkung, Katharsis, definiert galt und als ein reflexiver Me-
‚Keynote‘ zu einer Münchner Tagung zum Thema „Metapher und Politik“, zu der mir 2013 Johannes Ungelenk Gelegenheit gab, hier um Quine ergänzt. Veröffentlicht unter dem Titel Politik der Metapher (Würzburg: Königshausen und Neumann 2015), 25 – 39. https://doi.org/10.1515/9783110486377-004
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chanismus ihrer Struktur, der Mimesis, aufgefaßt wurde. An dieser durch und durch modernen Auffassung der Poetik des Aristoteles sind inzwischen Zweifel aufgekommen, die unmittelbar mit dem mechanischen Verhältnis zusammen hängen, wonach Metaphern qua Katharsis eine politische Wirkung auslösen, stützen oder sogar ermöglichen können sollen. Das ist selbst ein (in Blumenbergs Sinne) metaphorologisches Problem, denn die therapeutische Metapher der Katharsis stammt noch aus der historischen Vergangenheit der Tragödie, der Wirkung der Mysterienkulte.¹ Aber sie wird dann statt einer Art von Naturkausalität, der naturnahen Kausalität medizinischer Verläufe, durch eine technische Funktion interpretiert, die ihrerseits, als mechané, einen theatralischen Apparat braucht, der als ein solcher bei Aristoteles Gegenstand wird. Damit bin ich allerdings mit einem ärgerlichen Aspekt der Trivialität zu schnell über die bessere Hälfte derselben Trivialität hinweg gegangen. Denn wer glaubt schon, daß Metaphern eine katharsis-ähnliche Wirkung haben, stützen oder ermöglichen können sollten und wie nach dem Modell des Pavlovschen Hundes einen vom Stimulus zum Response überspringenden Effekt haben könnten – was hieße, daß das Theater als black box der mysteriösesten Wirkungen funktionierte? Nichts wäre verfehlter, und doch war nichts erfolgreicher als diese naivste aller Vorstellungen, und es ist seit langem an der Literaturwissenschaft, dieses grandiose Mißverständnis, das sie selbst einmal in die Welt gesetzt hat und gepflegt wird bis in Max-Planck-Institute unserer Tage, aufzuklären. Nicht diese Trivialität ist es, die das Zusammengehen von Metapher und Politik von alters grundiert und die Einführung des Metaphernbegriffs in der Poetik als eines analytischen Instruments motivierte. Dafür ist der Hauptbegriff der Poetik, die Mimesis, als deren Korrelat die Metapher auftritt, der beste Indikator. Allerdings ist auch sie, ein im Grunde platonischer Begriff, mit dem sich Aristoteles auf Platon bezieht und von ihm absetzt, über die Jahrhunderte hin ein opakes Feld irregeleiteter Meinungen geblieben, als deren Kern sich die Rede von der „Nachahmung der Natur“ herausbildete. Genau das indessen, Nach-ahmung der Natur, ist die Mimesis in der Poetik des Aristoteles nicht, wiewohl sie als das, was sie ist, als Mimesis, Nachahmung initiiert, auslöst, nahelegt oder empfiehlt.² Oder auch nicht, oder nicht ganz, und dieser Spielraum der dramatischen Mimesis ruft die Metapher auf den Plan des Theaters als das, was bei Aristoteles den Gipfel politisch-kommunikativer Kompetenz darstellt und als städtische Errungenschaft gefeiert wird: to astú heißt das städtische Raffinement, das die Metapher bietet. So bereits ausführlich Jacob Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie (1857), hg. Karlfried Gründer (Hildesheim: Olms 1970), 10, 16. Vgl. Hans Blumenberg, „Nachahmung der Natur“ (1956), Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 9 – 46.
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Denn für sich genommen benennt die platonische Mimesis nur die unvordenkliche Teilhabe der Phänomene am Kosmos der Ideen, was eine weitere Mimesis zweiten Grades in der Technik zwar erlaubt, deren Simulation für Platon aber verbietet. Aristoteles faßt die mimetische Einbettung der Kunst in die Welt wie die des Logos in den Kosmos schon quasi ‚transzendental‘ auf, als eine Bedingung der Möglichkeit von Poetik, weshalb die Mimesis in der Poetik nicht mehr und nicht weniger als dieses Eingebettetsein heißt, aus dem heraus sich das dramatische Geschehen, sei es nun nach-ahmend von, oder ein-fühlend in, nährt. Man kann also sagen, Mimesis ist die auf die proto-politische, polis-konstitutive Einbettung der Tragödie in die Lebenswelt bezogene Teilhabe an der PolisGeschichte, die im überlieferten Mythos als eine tragische Bindung – als das, was die Römer re-ligio, Doppelbindung durch Lektüre, nennen werden – einsichtig wird.³ In der Tragödie wird die religiöse Bindung der Polis politisch, und es ist die Übertragung von der mythischen Bindung zur politischen Funktion, deren historische Schwelle in der Tragödie das Thema ist, was Aristoteles philosophisch interessiert und die Einführung der Metapher als eines im weitesten Sinne der Zeit politischen Begriffs grundiert. In der vergleichsgeleiteten Übertragung als generalisierter Funktion erfüllt die Metapher die politische Aufgabe der Thematisierung. Bruno Snell hat diese Urfunktion der Metapher als die Entdeckung des Geistes denkwürdig gemacht und in ihrer wissenspolitischen Konsequenz aufgewiesen.⁴ In der Metapher unterscheidet Aristoteles (und bietet er nach Art der Philosophie, deren Begründung sich darin begrifflich manifestiert) vier kategoriale Übergänge an für den Spielraum, in dem der Logos, welcher der Mythos ist, variabel wird, ohne schon ein allotria zu veranstalten (Poetik 1457a, 58a, 59a). Die Abweichung vom oikeion, dem eingeführten Haus-Gebrauch der Worte, die in der Metapher statthat, ist also meta-mimetisch in dem Sinne, daß die Toleranz, und auch die Überanstrengung der Toleranz der Wortverwendungen faßbar wird nach der Maßgabe des im tragischen Mythos vor Aug’ und Ohr Gebrachten. Die Metapher ist Begriff einer philosophischen Politik und sie bleibt es in jeder an Aristoteles orientierten Rhetorik. In der Beschränkung auf diesen Rahmen, in dem die schöne Koinzidenz von Kosmos und Logos in der Politik wie in der Rhetorik fortlebt, schlummert – unbemerkt in „metaphors we live by“ – die Möglichkeit der Selbstübersteigung, welche die Poetik zuerst im Schicksal der tragisch zur Darstellung gebrachten Grenzen des Polis-Lebens thematisiert fand und als einen
Vf. „Medea ex machina: Aristoteles über Euripides“ (2011), Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles (Berlin: Kadmos 2015), 89 – 102. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes (Hamburg: Classens 1946, 3. Aufl. 1955), hier 427 ff.
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vorzüglichen Gegenstand der philosophischen Reflexion entdeckte. Poetik, so stellte sich heraus, ist ein Produkt philosophischer Reflexion und nicht des rhetorisch-pragmatischen Regelbewußtseins allein. In der Reflexion, die latent bereits eine ästhetische Reflexion im modernen Sinne ist, tritt die kritische, von Platon hypo-kritisch behandelte Doppelung der Mimesis ein in eine Modellfunktion der sich weiter verdoppelnden Anwendungen. Die Metapher wird zum Paradigma für weitere Übertragungen, die seit der lateinischen Adaption durch Cicero und Quintilian zu einer über die Jahrhunderte unüberschaubar gewordenen, vielfachen Verzweigung der metaphorischen Änderungskategorien geführt hat. Es ist eine seither offene Frage, ob, inwieweit und wo die Poetik den Rahmen der gegebenen Rhetorik und der darin gefaßten historisch-epochalen Sprachsituationen je effektiv überschreitet. Blumenberg hat die situative Rahmung an der immanenten Poetik der Avantgarden, vorzüglich Valérys hervorgehoben.⁵ Noch Paul de Man hielt die Überschreitung dieser Rahmenbedingung für wishfull thinking und war nur, allenfalls, bereit in der Literatur eine thematisierende Rolle dessen zu erkennen, was in der Rhetorik auf Thematisierung nicht nur nicht angewiesen ist, sondern sie per se unterläuft.⁶ Schon die Ästhetik Baumgartens hatte Quintilians Rhetorik auf den Stand und zum Resultat einer poetikspezifischen Leistung gebracht, und zwar einer (das ist nötig hinzuzufügen), die nicht nur wirkungsspezifisch ist, wie man bis heute gern denkt und dem Aristoteles unterstellt, sondern von einem Erkenntnis-Interesse ganz eigener Art zeugt. Das führt zurück zum Paradigma der Metapher, das bei Baumgarten als figura cryptica ästhetischer Wirkung nach figuralen Modellen (wie bei Aristoteles selbst) unterschieden wird. Bei Baumgarten schließt diese Modellierung eine dezidiert moderne politische Wendung ein, die er mit einem Terminus bedenkt, dessen griechische Form die Latinisierung der Rhetorik überstanden hatte und in einer seltsamen Karriere vom christlichen Martyrium über die epikuräische Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Michel Foucaults letzte kalifornische Vorlesungen führt und dort glückliche Urstände feiert.⁷ Es ist die Parrhesie, die Baumgartens letztes Wort zur Ästhetik ist: eine politische Freizügigkeit (in der lateinischen Rhetorik bloße licentia), die keine momentan begrenzte Wirkung der Poetik, sondern die Freiheit der ästhetischen Reflexion benennt.
Hans Blumenberg, „Sprachsituation und immanente Poetik“ (1966), Ästhetische und metaphorologische Schriften 120 – 135. Paul de Man, The Resistance to Theory (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1985), 17 ff. Michel Foucault, Le courage de la vérité (Cours au Collège de France 1983 – 1984), hg. F. Gros (Paris: Gallimard-Le Seuil 2009). Vgl. Diskurs und Wahrheit (Berlin: Merve 1996), 119 ff.
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Das klingt wie ein Ei des Kolumbus und ist als eine Art Münchhausiade außer Betracht politisch ernsthafter Ansätze geblieben wie, maßgeblich bis heute, in Schillers ästhetischer Erziehung. Die historische Karriere des Metaphernbegriffs von Aristoteles bis Baumgarten, die Wiederentdeckung der Rhetorik vom 19. Jahrhundert bis zum Poststrukturalismus, sprechen eine andere Sprache, in der Baumgarten leider ein abseitiger Schauplatz geblieben ist, zum Schaden der fälligen historischen Klärungen. Indessen sind die Konjunkturen der Metapherntheorien in ihren Wellen so überbordend, daß man jeden Überblick aufgegeben, aber immerhin die Chance eröffnet hat, aus dem Nicht-Terminus dieses historischen Paläonyms den ihm inhärenten Begriff neu erarbeiten zu können. Das kann auf dreierlei Weisen passieren, die sorgsam von einander zu unterscheiden sind: (1) in der radikalem Abkoppelung vom überlieferten Begriff der Metapher, wie das in der Linguistik Usus geworden ist und durchaus legitimen Zwecken dienlich sein mag, wenn man sich der neo-nymen Verwendung des Neuanfangs bewußt ist, statt in den verlassenen, diskreditierten Gefilden der Rhetorik weiterzuwildern. (2) in historisch bestimmter Anknüpfung an die zeit- oder epochenspezifischen Merkmale oder Verwendungen des Metaphernbegriffs, die von bestimmten Autoren und ihren Handbüchern ausgeht, aber nicht überspringen sollte in ein wohlfeiles Allgemeines. (3) in der Rekonstruktion von metaphorologischen Paradigmen historisch manifester oder impliziter Metaphernbegriffe bzw. ihrer tropologischen Abschattungen und Filiationen; diese orientiert sich oft und mit guten historischen Gründen am Begriff des Modells. Alle diese drei Weisen der Metaphern-Verwendung hängen nur noch historisch oder meta-theoretisch zusammen. Ich sehe auch keine Probleme in allen drei Hinsichten, solange sie unterschieden sind, nicht vermengt werden oder unausgewiesen von einander zu profitieren suchen. Das täte auch den legitimen, neonym motivierten Zwecken nicht gut, wie Evelyn Fox Keller am Metaphernbedarf der Biologie seit der Entdeckung der DNA gezeigt hat.⁸ Umgekehrt wird es nötig, Aufmerksamkeit zu pflegen für die über die dritte Hinsicht herzustellende, im Begriff der Metapher manifeste, paläo-nyme Identität, die als Gegenstand einer neuen, historischen Epistemologie übrig bleibt.⁹ Diese wird sich der Emergenz Evelyn Fox Keller, The Century of the Gene (Cambridge MA: Harvard University Press 2000), 132; Making Sense of Life (Cambridge MA: Harvard University Press 2002), 130 ff. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten (Frankfurt/M: Suhrkamp 2006), Einleitung.
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von Begriffen zuwenden, der Begriffs-Werdung, worin der Metapher eine prominente Rolle zukommt. Davon ist hier nicht zuvörderst zu handeln, sondern von dem dazu unklar quer liegenden Symptomfeld des Politischen, das in den ersten beiden Hinsichten eine triviale, lebensweltlich gegebene Sachlage betrifft, in der dritten Hinsicht dagegen eine formative, modellbildende, transzendentale Komponente darstellt. Die dreifache Aufspreizung des metaphern-zentrierten und metaphern-relevanten Forschens wird mehr oder weniger beunruhigt, gefährdet und unterlaufen von der seit Aristoteles und Quintilian mehr oder minder explizit mit laufenden Hypothek einer Poetik, die in Begriffen der Alltags-Rhetorik nicht aufgeht: die para-dox zur ortho-dox aufgehenden, politischen Metapher stehende poetische Metapher. Wenn man unterstellt, daß jede doxa politisch ist, so ist es die orthodoxe Metapher per se; die paradoxe Metapher dagegen, die als solche selten erkannt wird oder unter fremder Flagge läuft – in Spezifikationen wie der Metalepse oder unter dem modernen Generalnenner der Ambiguität – schwankt: sie ist nicht orthodox politisch, sondern paradox brisant. Sie entspricht dem politischen UnOrt der Poetik, deren Funktion Baumgarten als ästhetisch bestimmt und Foucault als Parrhesie propagiert hat. Was in der aristotelischen Poetik als tragisches Supplement der philosophischen Reflexion wert war und politisch relevant, vertritt einen ostentativ kritischen Anspruch, der die politische Praxis überschießt, sie überfordert, und das ohne deren normative Konstitution explizit zu befragen, sondern eher ihre latenten, politisch emergenten Motive zu artikulieren. Erst jetzt nähern wir uns dem Thema „Metapher und Politik“ in einem mehr als trivialen Sinne.
II. Die Paradoxie der Metapher (Quine, Empson, Blumenberg, de Man) Die neonyme Neubeschreibung des linguistischen Feldes, so unproblematischerweise politisch sie ist, zehrt untergründig – daher das unschuldige Wildern – von dem, was Aristoteles gedacht hat, in der Tradition der Metaphysik aber ontologisch so stark belastet wurde, daß Nachfolgeprobleme unvermeidlich aufkamen wie jüngst und nachhaltig die Kompromißbildung der so genannten Referenz.¹⁰ Willard van Orman Quine hatte allen Grund, in seiner Neusituierung der Semantik Aristoteles gegen den neueren mainstream richtig zu rücken: „Things had es-
Vgl. den Klärungsversuch von Gareth Evans, The Varieties of Reference, hg. John McDowell (Oxford: Clarendon Press 1982).
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sences, for Aristotle, but only linguistic forms have meaning. Meaning is what essence becomes when it is divorced from the object of reference and wedded to the word.“¹¹ Analytisch relevant ist die in der Folge von Quine ausgearbeitete semantische Crux der kognitiven Synonyme, in welcher die implizite Metaphorizität jeder Bedeutung eine Theorie der Synonymität vor jeder Übertragung qua Metapher erfordert.¹² Die Semantik der Synonyme funktioniert aufgrund von Äquivalenz. Bei Aristoteles ist das Synonym ein Fall von wörtlicher Resistenz, der heute nur zu gerne als Garantie für Referenz aufgefaßt wird, während der Wechsel als Homonymie zu Buche schlägt. So lebt der Variationsbedarf der Dichter von Synonymen, während die Überredungskunst der Sophisten von der Gegebenheit von Homonymen zehrt (Rhetorik 1404b37).¹³ Die pragmatistische Pointe Quines ist in der Hitze der äußerst spitzfindigen Folgediskussionen als eine anarchistische Geste aufgefaßt worden, wofür die kongeniale Behauptung der „indeterminacy of translation“ als probater Stein des Anstoßes herhalten mußte.¹⁴ Jedenfalls behält die analytische Reformulierung der aristotelischen Vorgabe, die in Quines „Two Dogmas of Empricism“ hervortritt, eine grundpolitische Dimension. Diese politische oder proto-politische, Politik sprachlich begründende Dimension der die aristotelische Tradition bewegenden metaphorologischen Umverlagerung von der Ontologie zur Referenz – Blumenberg nannte das bewegende Moment Metakinetik, Derrida Dekonstruktion – läßt sich in den Grundzügen als eine historisch bestimmte Formation lokalisieren, auch in ihrem geopolitischen Ursprung.¹⁵ Derrida nennt sie auto-immun, und er behandelt diese Autoimmunität geradezu als eine Allegorie ihrer meta-physischen Herkunft aus der Oikonomia eines Europa, für das geohistorisch anders gelagerte Politiken ein unverständliches Allotria sind, das sich den kognitiven Synonymbildungen wie auch
Willard van Orman Quine, „Two Dogmas of Empiricism“ (1951), From a Logical Point of View: Logico-Philosophical Essays (Cambridge MA: Harvard University Press 1953, 2nd ed. 1961), 20 – 46: 22. Die Beschränktheit der konventionellen Aristoteles-Darstellungen ist an Terence H. Irwin, Aristotle’s First Principles (Oxford: Clarendon Press 1988), 52– 55, abzulesen (dort zu Quine 537, Anm. 26). In Quines Anschlußtext „The Problem of Meaning in Linguistics“ (1951), From a Logical Point of View, 47– 64: 48 – 50. Vgl. Ernst Heitsch, Die Entdeckung der Homonymie. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1972, Nr. 11 (Wiesbaden: Steiner 1972), 66, 71. Julie K. Ward, Aristotle on Homonymie: Dialectic and Science (Cambridge UK: Cambridge University Press 2008), 1, 17, 69 f. Grundlegend Willard van Orman Quine, Word and Object (Cambridge MA: MIT Press 1960), Kap. II. Jacques Derrida, L’autre cap (Paris: Minuit 1991); dt. Das andere Kap (Frankfurt/M: Suhrkamp 1991). Voyous (Paris: Galilée 2003).
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der Übersetzbarkeit entzieht. All das gehört in den Bereich der großformatigen Modellbildungen, der metaphorologisch aufzuklärenden, allegorisch funktionierenden Formate, die hier nicht auf einen Streich zu behandeln sind. Ich wende mich deshalb der politisch paradoxen Metapher in der Literatur zu, die quer steht zu den heimischen Diskurs-Ökonomien und Poetik in den semantischen Lacunen, Ambiguitäten oder anagrammtischen Operationen signalisiert. Was passiert, wenn eine politisch-lebensweltlich hinreichend adaptierte Metapher zu einem Eingeständnis ihrer inadäquaten Passung gebracht wird? Das mag tages- (oder sogar partei‐)politisch von einigem Nutzen sein. Solange aber die Reste von Abweichungstendenzen auf das Resultat zurechenbar bleiben, ist alle Abweichungspoetik, die sich dem linguistischen Feld-, Wald- und Wiesen-Verstand aufdrängt, politisch nur genau so lange nützlich ist wie sie poetisch unzurechnungsfähig bleibt. Die poetische Paradoxie betreibt nicht etwa schlechte Reklame (was schlechte Literatur gerne tut), sie ist meta-politisch. Das ist wohl der beste Sinn, den man aus Aristoteles’ Poetik ziehen kann: einer Politik, die in der Poetik über ihre Grundlagen hinauszudenken lernt. Für den platonischen Philosophen Aristoteles waren das mythische Urgründe, in den späteren, christlichen Zeiten waren es die (von Montaigne bis Derrida so genannten) ‚mystischen Quellen‘ von Autorität, während mit fortschreitender Moderne systemische Grundlagen von Verwaltung in den Vorderund traten – alles in allem eine Verschiebung weiter metaphorologischer Felder, ihrer Politiken und Kritiken. Anders als in reflektiertlegitimen, ja selbst in fälschlich erschlichenen, illegitimen Metaphern-Nutzungen, sind die paradoxal verfahrenden poetischen Texte von einer tiefenhistorischen Natur, folgen sie ana- oder para- oder proto-grammatischen Mustern. In ihren Figuren sind die Verwendungsschichten der Worte und Namen Schicht für Schicht, im Geschichte also der Rezeption auf eine unvordenkliche Weise aufgehoben: verwahrt, virtualisiert und, heißt das, um- und gegenwendbar. Ihr Text, das Gedicht als Ergebnis von poiesis, ist der proto-politische Ort eines gänzlich unweil grundsätzlich vor-politischen Aktes der Sprach-Behauptung, die Foucault wie Baumgarten Parrhesie nennt und eine ästhetische Moral (wiewohl man die ihr nicht zutraut) ist. Die Para-doxie der Metapher, ihre Wider-sprüchlichkeit, transportiert einen tiefer liegenden, die Schicht der Artikulation kaum erreichenden, latenten Widerspruch, der in den Fluß der Gesagtseinsgeschichte eingelassen ist und sich in kompakten Sprachsituationen manifestiert. In der genialen Dissertation von William Empson, Seven Types of Ambiguity, die den neuzeitlichen Befund auf den Nenner der Ambiguität – irreduzibler Zweideutigkeit – bringt, hat die neuere, den Namen des New Criticism rechtfertigende Philologie ein methodisch nicht annähernd erschöpftes Paradigma (1930). Es liegt brach, solange weitgehend unbedarfte Politisierungen der Sprach- und Litera-
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turforschung den cultural turn als eine naïve Rückwendung zu vermeintlich nichtsprachlichen Objekt-Referenzen praktizieren, die de facto nur krude, unter-reflektierte Nachfolge-Ontologien sind. Lassen Sie mich das Brachland des sprachlichen Allotria, das ungewitzt verkannt liegt, technisch genauer bestimmen und die ungenutzten Rückwirkungen der Hinsicht (3) auf die isolierten, kulturwissenschaftlich korrumpierten Hinsichten (1– 2) durchgehen. Die Metapher, selbst die orthodoxe, ist keine Hinsicht unter anderen; sie zwingt dazu, das ganze methodische Feld zu resituieren. Das folgt aus der exzentrischen Situation der Literaturwissenschaft als einer Wissenschaft des in der Ökonomie des Wissens politisch Anderen qua Allotria.¹⁶ Worauf es in der neuzeitlichen Sprachsituation der Ambiguität ankommt, ist die in historisch bestimmter Zweideutigkeit – und das ist keine beliebige Mehrdeutigkeit – eingefaltete, paradoxe Selbstüberschreitung der in der Orthodoxie selbstbeschränkten Metapher. Von Longinus war die sprachliche Selbstüberschreitung der Metapher als philosophisch sublim propagiert worden, während sie Quintilian in größerer Nähe zur alltagsrhetorischen Ausgangssituation der Metapher als Grenzlage der translatio gesehen und diese terminologisch unterschieden hatte. Als Verdoppelung des Übertragungsmodells der Metapher steht sie bei ihm unter dem terminus technicus der transumptio und heißt auf Griechisch, parallel zur Metapher, Metalepsis. Obwohl die Unterscheidung von Metapher und Metalepsis im tradierten Schulwissen undeutlich und unausgereizt geblieben ist, so war es ihre markante Leistung nicht; war sie also praktisch nicht ineffektiv, wurde sie aber in neuerer Zeit wenig beachtet, wo sie unter die barocke Form der ‚kühnen Metapher‘ fiel.¹⁷ In George Puttenhams Arte of English Poesie (1596), der Avantgarde-Poetik der Elizabethaner, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, daß sie die Termini aus Quintilians Handbuch mit neuartigen, sprechenden Namen versieht, heißt die Metalepsis „the farfet“ und ist die Figur des von weither herbei Geholten, wozu das Teleskop die zeitgemäße technische Errungenschaft darstellte, die über das den bloßen Augen nur sehr begrenzt und außerdem nur täuschend Zugängliche hinausreicht.¹⁸ Sie widerspricht – wir befinden uns in der ersten Blüte der neuzeitlichen Naturwissenschaften – der orthodoxen Ökonomie des heimischen
Vgl. die grundlegende Skizze von Barbara Cassin, „Paien“, L’archipel des idées de Barbara Cassin (Paris: Éditions de la maison des sciences de l’homme 2014), 83 – 96: 88 ff. Harald Weinrich, „Semantik der kühnen Metapher“ (1963), Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: WBG 1983, 2. Aufl. 1996), 316 – 339. En detail Vf. „Ein knebbes Ding in einem Wort: Ungedachte Natur in postlapsaren Welten und Zeiten“, Theatrum mundi: Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, hg. Björn Quiring (Berlin: August 2012), 167– 189.
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Herds, dem oikeion der Semantik und ihren Übertragungskategorien, allerdings nur quantitativ. Der Raum des Sichtbaren erscheint erweitert, was das Übertragungsprinzip der Metaphorik letzten Endes bekräftigt. Das geht soweit, daß ein ungeahnter ‚Metaphernrealismus‘ um sich greift, ein Metaphorismus, in dem die Formel der Ut pictura poesis zu einer buchstäblich-literalen Wahrheit kommt. In den Politiken des Literalsinns, die in den reformierten Kulturen zum Standard öffentlichen Austauschs geworden sind, zur Verhandlungsbasis aller öffentlichen Diskurse, ist das eine politisch schwer zu hinterfragende, ihrer falschen Plausibilität nur sehr umständlich zu überführende Sachlage. Tatsächlich handelt es sich um einen historischen Trugschluß, der die Literatur und mehr noch die bildende Kunst belastet, sofern diese beiden von nun an zu nichts anderem taugen sollen als zu Zeugen des Fortschritts der technischen Mittel, allen voran der allgegenwärtigen Perspektive.¹⁹ Daraus ist ein ganzes Feld sekundärer Metaphorik erwachsen, eines metaphorisch verallgemeinerten Perspektivismus und einer absoluten Raum-Metaphorik, außerhalb derer nichts mehr vorstellbar ist: alle Vorstellung hängt nun an einem ubiquitären Raum-Begriff, der mit der älteren Ordnung der Dinge alle anderen, nicht-perspektivischen Raum-Anordungen obsolet, unsichtbar, fast unlesbar gemacht hat. Tatsächlich ist das metaphorologische Syndrom sekundär-metaphorischer Räume und die dazugehörige Semantik ein epochenspezifisch neuzeitliches Phänomen, das der Transzendental-Setzung der Kategorien von Raum und Zeit bei Kant vorausgeht und in ihnen als totalen Anschauungsformen gipfelt; Kantianern gelten sie als so grundgegeben wie den Zeitgenossen des Aristoteles die kosmische Ordnung der Ideen. Heidegger sprach deshalb von der „Zeit des Weltbildes“.²⁰ Dagegen haben die Paradigmen zu einer Metaphorologie von Hans Blumenberg, die gerade keine neue Metapherntheorie bieten, sondern der mit Kant dringlich gewordenen Bedingung der Möglichkeit transzendentaler Konstruktionen nachgehen, das Paradigma der Mimesis, das die Metapher analog der Methexis an die Ideenwelt versteht (nämlich: als deren Verlängerung in die politische Lebenswelt hinein), als einen immer schon fehlgehenden platonischen Entwurf gezeigt.²¹ Wenn es richtig ist, daß Mimesis die Struktur der Metapher als ihr eigenstes Strukturmoment voraussetzt, wie Paul Ricoeur scharfsinnig nahegelegt hat, tut sie dies doch auf eine selbst wieder metaphorische Weise, in der das übertragende Moment der ‚Nachahmung‘ zwar der Mimesis entspricht, die Symptomatisch Jonathan Crary, Techniques of the Observer (Cambridge MA: MIT Press 1990). Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“ (1936), Holzwege (Frankfurt/M: Klostermann 1950, 3. Aufl. 1957), 69 – 104. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), 172 f. (Kommentar 455).
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vollendete Met-hexis der Ideen aber notwendig verfehlen muß. Für Aristoteles ist dieses systemische Fehlgehen der Mimesis in der Einbettung der lebensweltlichen Oikonomia zwar so gut aufgehoben, wie es die Ideen – das ist seine Version des Platonismus – in der Form der Dinge immer auch schon sind.²² Gleichwohl strebt in der minimalen technischen Inkongruenz der Metapher – das ist Derridas Punkt in der Debatte – das reine Ahmen schon, noch bevor es Nach-ahmung ist oder Vorahmung sein könnte, über den Tellerrand des oikon hinaus und damit auch immer schon über die Haupt-Funktion der Haupt-Bedeutung, des kyrion onoma als des Haupt-Wortes (des lateinischen nomen).²³ Paul de Man ist deshalb in seiner Metapherntheorie, die er an dem Mathematiker Pascal entwickelt hat, so weit gegangen, die Metapher vor dem Wort zu lokalisieren als eine offene Latenz, die erst in der finalen Bedeutung der Rezeption beseitigt wird und in einem jumping to a conclusion als der lexikalische Standardfall eher zu erschliessen als zu identifizieren ist. Die von Empson diagnostizierte, von Blumenberg so genannte neuzeitliche ‚Sprachsituation‘ der Ambiguität bestünde dann darin, daß diese bereits in ihrem Ansatz zur Metapher – noch bevor es zu einer, sei es mehr oder minder adäquaten Über-tragung kommt – die Zweideutigkeit der Wendung der Tropen austrüge in „a directional motion that is manifest only as a turn“, präzisiert de Man.²⁴ Aufgrund eines Drehmoments, das vor der Übertragung liegt und diese sowohl ermöglicht, als auch und zugleich in der Schwebe der Zweideutigkeit hält, entspräche die Metapher der Funktion meta- in ihrem Namen, ohne dem behaupteten Sachverhalt des ÜberTragens überhaupt genügen zu müssen oder darauf festgelegt zu sein.²⁵ Was für de Man, der alles andere als ein anarchistischer Nihilist war, sondern nur ein überkritischer Geist, Tür und Tor öffnete für ästhetisch-ideologische Mißbräuche und allfällige politische Folgeerscheinungen.²⁶ Wohingegen das Repertoire der metaphorischen Figuren für Baumgarten die Latenz des Ästhetischen in den
Paul Ricoeur, La métaphore vive (Paris: Seuil 1974), 362 ff. Jacques Derrida, „Le retrait de la métaphore“ (1978), Psyché: Inventions de l’autre (Paris: Galilée 1987), 63 – 94; dt. „Der Entzug der Metapher“, Die paradoxe Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 197– 234. Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 151. Vf. Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), Kapitel 1. Vgl. Paul de Man, Aesthetic Ideology, hg. Andrzej Warminski (Minneapolis MN: Minnesota University Press 1996). Die zuvor unter dem selben Titel veröffentlichte Auswahl Die Ideologie des Ästhetischen, hg. Christoph Menke (Frankfurt/M: Suhrkamp 1993), ist nur in den ersten drei von acht Kapiteln (Teil I) mit der verspäteten amerikanischen Ausgabe identisch.
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(deshalb) so genannten aesthetica fassen konnte und als Gegenstand von epistemologischem Interesse reflektierbar machte.²⁷ Es kennzeichnet deshalb – die ideologische Anfälligkeit jeder Ästhetisierung von Politik, wie man sie nach Benjamin pflichtschuldigst verdammt hat und sie auch de Man rigoros verwarf, geschenkt – die Sprachsituation der paradoxen, qua Paradoxie ästhetisch reflektierten Metapher, daß sie die semantischen Lacunen und Latenzen, die in den lexikalisch manifesten, synchron gestützten Sprachverwendungsständen einer Zeit untergründig mitwirken, heraufbringt und zwar in einem krisen- oder ereignis-zentrierten Modus noch vor der Ausbildung zur expliziten Epoche heraufbringt und in ungeahnten Implikationen, Fehlleistungen, Vorgriffen faßbar und fruchtbar macht. Ian Hacking hat für das Aufkommen neuer Erkenntnisse und ihrer Begriffe das Wort Emergenz benutzt als die Weise, in der das Ausreizen der figuralen Dimension eines gegebenen Diskurses schlicht nichts als passiert.²⁸ Ästhetik transportiert nach Baumgarten, nach Empson und Wolfgang Iser keine krude sinnliche Wahrnehmung, sondern Spuren unverwirklichter, aber stets virulenter, mehr oder minder effektiv verdrängter, aber gleichwohl untergründig formierender Sprach-Sachverhalte. Der umstrittene Unterschied von Rhetorik und Poetik, zwischen orthodox ordentlicher, politisch eingebetteter Metaphorik und einer die geltenden Grammatiken sprengenden, metaleptischen Metaphorik ist durchaus nachweisbar, aber nicht allein oder adäquat aus der Ausdruckssphäre gegebener Politiken und Doktrinen zu begreifen. Nur in historisch-epistemologischer Hinsicht ist er zu fassen, weshalb ich diese Hinsicht (3), da sie durchaus kein unpolitisches Feld bleibt, proto-politisch nenne; es ist als ein solches unterscheidend-kritisch zu erforschen und in den Rückwirkungen auf die rhetorische Analyse maßgeblich zu machen.
III. Proto-Politik der Metapher, das ‚Leben‘ (Merleau-Ponty) Die Lebenswelt ist voller un- oder halb-bewußter, kollektiv geteilter Sprachlatenzen, die durch political correctness nicht nur nicht zu kontrollieren, sondern durch unbedachte Verschiebungen eher zu verschlimmbessern als auszuartikulieren sind. Die Kunst liegt quer dazu, aber mit eingebettet in die sprachliche Wirklichkeit ihrer Zeit, die sie doch auf dem Grund der in ihr gewärtigten Latenzen Vgl. Rüdiger Campe, Christoph Menke, Anselm Haverkamp, Baumgarten-Studien: Zur Genealogie der Ästhetik (Berlin: August 2014). Ian Hacking, The Emergence of Probability (Cambridge UK: Cambridge University Press 1975). Vgl. Wolfgang Iser, Emergenz: Nachgelassene und verstreut publizierte Essays, hg. Alexander Schmitz (Konstanz: Konstanz University Press 2013).
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überschreitet. Anders als die Philosophie ragt sie nicht durch das, was sie auf den Begriff bringt, sondern durch das, was sich dem Begreifen sperrt, schwer zum Begreifen kommt, nicht gewußt sein will, aber doch auch „nicht gut nicht“ gewußt sein kann, an Frakturen und Einschlüssen von inkommensurabel Anderem im sprachlichen Ausdruck latent bleibt, in jede neue Gegenwart hinein. Stanley Cavell hat dieses (von Ferne immer noch aristotelische) philosophische Interesse an der Kunst exemplarisch an Shakespeares fortdauernder Wirkung aufgewiesen.²⁹ Insofern ist – Shakespeare ist der Paradefall – das proto-politische Feld der Kunst in paradoxer Weise von politischerer Brisanz, als es die tagespolitischen Begriffe von Korrektheit ahnen und kommunizieren. Anders als es das Alibi des politischen Positivismus – des Gesagten und als gesagt Bezeugten – behauptet, enthält, bewahrt und behauptet die literarische Sphäre im Verfehlen, Versagen und Versäumen des lexikalisch Manifesten die je akute Latenz vergangener Zukünfte und ungelebter Vergangenheiten. Die Paradoxie der zeitbedingt verunglückten, im Unglück aber desto weiter tragenden Metaphern ermöglicht in unvordenklichen Gegenwarten das Risiko und erfordert den Mut des gegenwärtig in einer Welt Lebens, das nicht mimetisch – mimetisch sowenig wie magisch – funktioniert, aber ohne Sprache als Kompaß ihrer einzig erreichbaren, die längste Zeit schon ‚zweiten Natur‘ nicht auskommt. Aber das ist erst die eine Seite der Medaille. Denn ragt zwar die Paradoxie der verqueren, inkommensurablen Momente in die Orthodoxie der Verhältnisse hinein, ist sie sogar oft ein Anlaß und Ansatz zur orthodoxen Metapher, so wird sie dort als lästige Kontingenz unterschätzt und offiziell nur in entschärften Formen wirksam.³⁰ Das genügt nicht, langte nicht einmal im überschaubaren Sozialsystem der Polis, von dem Aristoteles handelte, und gewiß nicht in dessen Korrelat, dem geometrischen Kosmos der Ideen, an dem Platon und seine Schule mimetisch Anteil nahmen. Der erratische paradoxe Untergrund des historisch Sedimentierten ist keine reine, bloße Kontingenz, wie Niklas Luhmann meinte; er bringt die unreine Kontingenz bloß hervor, so daß ein gesteigertes Kontingenzbewußtsein durch Komplexionsreduktion nicht zu haben ist. Luhmann unterschätzt die Latenz in der Kontingenz oder, wie Husserl vor ihm genauer sah, er unterschätzt die Sachlage, „daß alle Vorurteile Unklarheiten aus
Stanley Cavell, Disowning Knowledge in Seven Plays of Shakespeare (Cambridge UK: Cambridge University Press 1987, updated edition 2003), zit. 191. Vf. Shakespearean Genealogies of Power (London: Routledge 2010, 2013). Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt Gregory Bateson dar, dessen Steps to an Ecology of Mind (1972) eine veritable Metapherntheorie andeuten, aber nicht ausarbeiten. Siehe seine „Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie“ (1956), Ökologie des Geistes, dt. Ausg. mit einer Einleitung von Helm Stierlin (Frankfurt/M: Suhrkamp 1985), 270 – 301: 279 ff.
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seiner traditionalen Sedimentierung sind, und nicht etwa bloß in ihrer Wahrheit unentschiedene Urteile“.³¹ An der Eventualität der latenten Umbesetzungen, allenfalls an einer Meta-Ökonomie des sprachlichen Haushaltens ist das verlangte Kontingenzbewußtsein zu adjustieren – so wie Aristoteles es in der Tragödie fand, aber schon dort, jenseits einer Politik des guten Lebens, tragisch ansiedelte. Dazu – denn das ist alles andere als eine triviale Angelegenheit – sollte ich den Anflug einer Alternative andeuten, in der das Politische einen Rückhalt hat, nämlich – des mimetischen Eingebettetseins der Metapher eingedenk – im Verhältnis von Metapher und Leben. So insistiert Maurice Merleau-Ponty, daß Sprache komplexer konstitutiert ist, als es der in die Sisyphus-Arbeit des Ausdrückens verstrickte Philosoph weiß und wissen kann. Daß die Wahrheit „spricht“ (wie er sagt) und nicht stumm darauf wartet, daß sie passiert, ist kein Zufall: „Man muß sich entschließen, [die Wahrheit] im lebendigen und werdenden Zustand zu untersuchen“.³² In der „natürlichen Verflechtung“ von Sprache und Leben – Merleau-Pontys Version der mimetischen Einbettung in die Lebensvollzüge – ruft die Metapher das geheimnisvolle, kryptisch-unvermerkte Leben der Sprache auf den Plan. Die Natur einer „leibhaften Verflechtung“, die den „geheimen [nämlich: unmerklichen] Verkehr der Metapher“ bestimmt, verbindet beides, mimetische Verflochtenheit und Metapher, auf der neuen Stufe einer zweiten Natürlichkeit. Es findet sich die „natürliche Verflechtung“ durch die Metapher in dieser Natur nicht nur erläutert, sondern in ihrer lebendigen Auswirkung in und als Sprache verdeutlicht.³³ Anhand der Sprache erst „sähe“ man, sagt Merleau-Ponty: sähe man erst und am besten, was an der Sprache am besten zu „sehen“ ist. Als „eine Weise, die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen“, steht die Sprache, die Merleau-Ponty im Werk des Philosophen immer neu, wenn auch immer nur als unausdrückbares Schweigen andrängen sieht, nicht in dessen Macht. Die Worte, die in ihm, dem Philosophen wie dem Philologen, und durch ihn hindurch zusammenfinden, folgen nicht seinem Kommando, sondern einer in ihm mit gewachsenen Ordnung, in der „die natürliche Verflechtung ihres Sinnes“ sprachlich manifest, und das hieße: erst in Gestalt der Sprache, der Sprache in Wort-Gestalt manifest wird. Das ist der Kern des Logos-Zentrismus, der in seiner von Heidegger denunzierten Verkennungsgeschichte feststeckt.
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936), Husserliana VI, hg.Walter Biemel (Den Haag: Nijhoff 1954, 2. Aufl. 1962), 73. Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, éd. Claude Lefort (Paris: Gallimard 1964), 165 – 167; dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare (München: Fink 1986), 166 f. Vgl. Renaud Barbaras, Le tournant de l’expépience: Recherches sur la philosophie de MerleauPonty (Paris: Vrin 2013), 286 f. Damit ist keine Abwertung der Metapher verbunden, sondern eher die Rückgewinnung des zunehmend verstellten aristotelischen Begriffs.
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Die Proto-Politik der Metapher entspricht der Verflechtung der Sprache in ein Leben, das in der Sprache des zoon politikon zu Wort gebracht ist – und nicht etwa in dessen politischer Dimension, die in Metaphors we live by eine mehr oder minder (also eher minder) korrekte, kognitiv approbierte Vororientierung fände (Lakoff und Johnsons wohlfeiles Ergebnis).³⁴ Deren Moral von der Geschicht’ ist selbst gar keine genuin politische, sondern ersetzt nur, was in Aristoteles’ Ausgangsdesign die kosmologische Ouverture war. Die Säkularisations-Politiken haben sie als restlos überholt ad acta gelegt und sich mit fragwürdigsten Teleologie-Surrogaten getröstet, darunter mit dem Fortschritt der kommunikativen Kompetenzen und der Ubiquität der Medienkultur. Tatsächlich ist der neue Kosmos ganz wie der alte eine Sphäre der radikal (nun quasi transzendental) immanenten Selbst-Transzendenz – was den Literalsinn der Realisten, welcher Couleur auch immer, zum Fortschritts-Phantasma werden und in eine leere Ferne streben ließ, die nun erst der wahren Ästhetisierung der Politik Raum schafft, die Benjamin verwarf; de Man nannte den Kollateralschaden zurecht ‚Ästhetische Ideologie‘. Man sieht, wie er zustande kommt und sich hält: Für die Metapher ist die Immanenz ihres Strebens selbst da noch Gesetz, wo sie die Transzendenz der Höhle, die sich im Lichte der trügerischen Scheinwerfer Platons ankündigte, dem übermenschlichen Lüster der Sonne da draußen als Referenz zuschreiben möchte.³⁵
George Lakoff, Mark Johnson, Metaphors We Live By (Chicago IL: University of Chicago Press 1980). Jacques Derrida, „La mythologie blanche“ (1971), Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247– 342; dt. „Weiße Mythologie“, Randgänge der Philosophie (Wien: Passagen 1999), 229 – 290. Dazu jüngst Rodolphe Gasché, „The Eve of Philosophy: On ‚Tropic‘ Movements and Syntactic Resistance in Derrida’s White Mythology“, International Yearbook for Hermeneutics 13 (2014), 1– 22.
Der philosophische Ort der Metaphorologie
4 Metaphorologie zweiten Grades Unbegrifflichkeit, Vorformen der Idee I. Gesagtseinsgeschichte Selbstexplikativ bis zur Redundanz scheint es, von zweiten Graden zu sprechen, wenn die Rede von Metaphern sein soll. ‚Metaphorologie‘ – eine begriffliche Erfindung von Hans Blumenberg – macht diese Sekundarität zum Programm der impliziten Logik von Metaphernvorkommen.¹ Blumenberg folgt darin keinem Geringerem als Aristoteles, der den Begriff der Metapher geprägt und als philosophischen Begriff eingeführt hat; und er stimmt darin überein mit dem Wittgenstein-Schüler und Kommentator Max Black, der einige Jahre vor der Metaphorologie den Begriff der Metapher für die analytische Philosophie diskutabel und zur Grundlage dessen gemacht hatte, was im Anschluß an Wittgenstein die ‚Grammatik‘ von Wortverwendungen heißen sollte.² Black war der erste neuere Philosoph, der den Begriff nicht nur philosophisch zu verwenden wußte (was auch Hegel oder Nietzsche vor ihm getan hatten), sondern der an diesem Begriff die Differenz der sprachanalytischen Philosophie zu den Anregungen herausarbeitete, die diese der aristotelischen Philosophie verdankte – und das nicht von
Entwurf aus Anlaß eines Dresdner Kolloquiums, das von dem DFG-Graduiertenkolleg „Repräsentation Rhetorik Wissen“ der EU Viadrina und dem Thyssen-Projekt „Sprach-Bilder“ der TU Dresden 2005 veranstaltet und von Dirk Mende unter dem Tagungstitel zur Veröffentlichung vorbereitet wurde, Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie (Frankfurt/ M: Suhrkamp 2009), 237 – 255. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, auch als selbständiger Sonderdruck des Archivs für Begriffsgeschichte 6 (Bonn: Bouvier 1960); unveränderte Neuausgabe (Frankfurt/ M: Suhrkamp 1998); im folgenden zitiert nach der kommentierten Ausgabe von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied (Berlin: Suhrkamp 2013). Max Black, „Metaphor“, Proceedings of the Aristotelian Society 55 (1954), 273 – 294; Models and Metaphors (Ithaca NY: Cornell University Press 1962), 22– 47: 22 „the logical grammar of ‚metaphor‘“; dt. Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Neuausgabe 1996), 55 – 79: 55. Blacks Entwurf ist nicht nur metapherntheoretisch bedeutend, er ist avant la lettre metaphorologisch in einem Blumenberg-nahen Verständnis. Mit Aristoteles’ Poetik im Hintergrund grundiert Black seine Theorie in einer Wittgensteinschen Grammatik des Gebrauchs des Begriffs der Metapher, dessen Begreifen dem aktuellen Gebrauch von Metaphern mehr oder minder implizit ist. https://doi.org/10.1515/9783110486377-005
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ungefähr, hatte sie doch ihre Begriffe in den zwanziger Jahren an der großen Oxford Übersetzung des Aristoteles geschärft. Blumenberg kannte Blacks Aufsatz aus den Proceedings der Aristotelian Society von 1954 wohl noch nicht, als er Ende der fünfziger Jahre die Paradigmen zu einer Metaphorologie verfaßte und (das traf sich, schien es, gut) im Vorfeld von Joachim Ritters Historischem Wörterbuchs der Philosophie in einer Zeitschriftenfassung publizierte, die vom Verlag auch als selbständiger Sonderdruck zu erhalten war (das Archiv für Begriffsgeschichte kam in seinen ersten Bänden sowohl in Monographien, als auch im Zeitschriftenformat heraus). Aber wie Black hat Blumenberg mit dem von Wittgenstein über Thomas S. Kuhn auf ihn gekommenen Paradigma-Begriff eine quasi ‚grammatische‘ Hintergrundorientierung des Projekts der Metaphorologie im Auge, deren im genaueren Sinne metaphern-logische Grundierung er unter dem Titel „Paradigma, grammatisch“ thematisiert hat (in Nachträgen zur Metaphorologie, die er als „Beobachtungen an Metaphern“ in derselben Zeitschrift publiziert hat).³ Ganz in der Tradition und Ökonomie des Triviums hält sich die Neuschöpfung der ‚Metaphorologie‘ an die alte Arbeitsteilung von Logik und Grammatik, indem sie die Menge ihrer historischen Phänomenbestände in Paradigmen abhandelt, deren Deklinationen oder Konjugationen die Muster abgeben für Regeln und Typen, Ausnahmen und Abweichungen. Was Blacks neue Pointierung der ‚Interaktion‘ angeht, deren Leistung die Metapher nicht nur zum Ergebnis hat, sondern zum Relais einer syntaktisch generativen Bedeutungsproduktion macht, so wird sie von Blumenberg aus zwar postulierbar, bei ihm selbst aber analytisch nur okkasionell, und das heißt, noch nicht systematisch erfaßt; sie rückt erst später ins Blickfeld. Erwachsen ist das Projekt der Metaphorologie jedenfalls nicht wie das Blacks aus einem mehr oder minder dringenden und jedenfalls evidenten Bedarf an analytischer Präzisierung, sondern aus einer begriffsgeschichtlichen „Verlegenheit“ – Blumenbergs Ausdruck für die systematisch geforderte Logik des Bedarfs statt dessen ererbter oder geteilter oder gefühlter, bloßer ‚Problemsituation‘ (Paradigmen 14).⁴ In eine „logische Verlegenheit“ sah sich die Geistes- und Ideengeschichte (einschließlich der Ernst Cassirers) durch die Phänomenologie Husserls und Heideggers gebracht. Vollends der Nachkriegskonsens der Begriffsgeschichte ist ein Ausdruck dieser Verlegenheit, in der die begriffsge-
Hans Blumenberg, „Paradigma grammatisch“, Auszug aus „Beobachtungen an Metaphern“, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 195 – 199; Ästhetische und metaphorologische Schriften, Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 172– 176, letztere im folgenden zitiert als Schriften. Die ‚logische Verlegenheit‘ entspricht der zeitgenössischen ‚Problemsituation‘ in Karl Poppers ‚Logik der Forschung‘, zuletzt Objective Knowledge (Oxford: Clarendon Press 1972), s.v.
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schichtliche Reinigung des philosophischen Bestecks von völkischen Fehlverwendungen dessen Legitimität als eine historische restaurieren sollte und dabei doch nur der einzigen epochalen Errungenschaft der Philosophie des Jahrhunderts, der Phänomenologie Husserls samt ihrer heideggerschen Verirrungen den Stachel der Krise nehmen sollte. Mit dem Begriff der ‚Krise‘ hatte Husserl Mitte der dreißiger Jahre begonnen, die Provokation des ihm über den Kopf gewachsenen Heidegger neu zu beantworten und das Projekt der Phänomenologie historisch tiefer zu legen. Der junge Blumenberg, 1950 bei Heideggers ehemaligem Chefassistenten Walter Bröcker und Husserls Schüler Ludwig Landgrebe mit einer bis heute unpublizierten Arbeit über Husserls Krisis der Phänomenologie habilitiert, hat sich der zeitgenössischen Philosophie als einer geschichtlichen Krise gewidmet und sie zu einer „Phänomenologie der Geschichte“ entwickelt, deren erklärter methodischer Kern- oder Reduktionsbegriff in den fünfziger Jahren gegen die Begriffsgeschichte – und das heißt: gegen den Strich der von Joachim Ritter mit Hilfe von Erich Rothacker und Hans-Georg Gadamer in das NachkriegsKompensations-Monument des Historischen Wörterbuchs gepreßten und dieser Tage vollendeten Begriffsgeschichte – Blumenbergs Metaphorologie wird.⁵ Historisch befindet sich das methodische Projekt der Metaphorologie in einem doppelten, bestimmten Widerspruch gegen das begriffsgeschichtliche Erkenntnisinteresse der Zeit, dessen kompensatorische Hinsichten ich hier nur im Blick auf seine metaphorologische Konsequenz berühren kann, aber wenigstens in den paradigma-bildenden Aspekten mit behandeln will.⁶ Ich versuche es in einer historisierenden Skizze dessen, was ich Blumenbergs Projekt nenne (ohne die durchaus erheblichen kriminalistischen Details aus Umfeld und Geschichte des Ritterschen Wörterbuchs durchzugehen), um sodann in einer analytischen
Joachim Ritter, Vorwort, Historisches Wörterbuch der Philosophie I (Basel: Schwabe 1971), v–xi: ix. Vf. „Die Technik der Rhetorik,“ Nachwort, Schriften 433 – 454: 437– 438, Anm. 4; Kap. 1 im vorliegenden Band. Ich habe an dieser Stelle nicht völlig damit hinter dem Berg gehalten, daß ich die Begriffsgeschichte als äußerst beschränkten historischen Kompromiß ansehe, ohne diese Behauptung hier bis in die Details der Vorgeschichte des Ritterschen Wörterbuchs verfolgen zu können.Vgl. dazu Magarita Kranz, nach deren Forschungen die Unabhängigkeit von Blumenbergs Metaphorologie von Ritters Wörterbuch-Projekt unabweisbar ist: „Begriffsgeschichte institutionell“, Teile I und II, Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2011), 153 – 226, und 54 (2012), 119 – 194. Wie ich derzeit andeuten wollte, aber weiter bekräftigen möchte, hätte die Metaphorologie Ritters Unternehmen nicht nur, wie dessen Vorwort den Ausschluß Blumenbergs erklärte, gesprengt, sie hätte es in der geplanten Form insgesamt undurchführbar gemacht. Die eigentümliche Konvergenz des von Ritter und seinem Schüler, dem Blumenberg-Freund Odo Marquard vertretenen Kompensations-Syndroms der Geisteswissenschaften mit dem von Jürgen Habermas archäologisch erwirtschafteten Zugewinn des ‚praktischen Erkenntnisinteresses‘ der hermeneutischen Wissenschaften lag als historischer Kompromiß fast auf der Hand.
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Nahaufnahme zum Umbruch dieses Projekts zu kommen, zu Blumenbergs ‚Kehre‘ (wenn man so will) von der Metaphorologie zum „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ auf der einen, bisher kaum ausgearbeiteten Seite, und zur „Arbeit am Mythos“ auf der anderen, in der größten Breite bekannten Seite. Während man die mächtige Kompromißbildung der Arbeit am Mythos tendenziell mit Adornos Anregungen zu einer Ideologiekritik übereinkommen sieht, mit der Blumenberg die vorherrschende Begriffsgeschichte konterkariert, kann man ihn in den methodisch radikaleren Ansätzen zu einer Theorie der Unbegrifflichkeit auf dem Weg zu analytischen Standards finden, für die vor allem Wittgenstein, den Blumenberg gegen Ende der siebziger Jahre zu lesen begann, die maßgeblichen Anregungen geliefert hat.⁷ Um eine Art von ‚Kehre‘ handelt es sich, weil Blumenberg in der Fortführung Husserls die seinsgeschichtliche Wendung der Phänomenologie beim späten Heidegger wohl im Ansatz zu durchkreuzen sucht, aber auch – ein ‚contre Heidegger‘ der Derrida’schen Art – auf seine Weise weiter verfolgt.⁸ In der Periodisierung, die ich in dieser Konstellation vorschlage, bilden die Paradigmen zu einer Metaphorologie von 1960 den ersten methodisch reflektierten, terminologisch manifesten Höhepunkt – ab hier gibt es Metaphorologie als Projekt. Den ersten Prototyp, der selbst nicht Teil der Paradigmen geworden, sondern deren ‚Vorform‘ geblieben ist, bildet die Abhandlung „Licht als Metapher“ von 1957, während die letzte, monumentale Engführung, Weiterführung der letzten Paradigmen, die als solche von der Rezeption nicht mehr durchschaut wurde, die Genesis der kopernikanischen Welt von 1975 ist. In deren Zeit fallen sowohl lose Nebenprodukte wie die „Beobachtungen“ von 1971, als auch der erste Vorbote der Tieferlegung, die „Anthropologische Annäherung“ aus dem selben Jahr.⁹ Wenig später gab die Aufforderung zu einem Rückblick auf das verblaßte,
Hans Blumenberg, „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979), geschrieben für Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983), 438 – 454; Schriften, 193 – 209. Das maschinenschriftliche Original des „Ausblicks“ (im Besitz des Vf.s) enthält eine Reihe stilistischer Tintenkorrekturen, unter denen der erste Wortlaut entzifferbar ist. Die Abweichungen sind kaum erheblich, aber in einigen Fällen symptomatisch. So folgte im ersten Satz dem Hinweis auf Rothackers Begriffsgeschichte der explizite, dann gestrichene Verweis auf Ritters Wörterbuch. Jacques Derrida, Entretiens du 1999, Dominique Janicauld, Heidegger en France (Paris : Albin Michel 2001), II: 89 – 126. Vf. Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg (Berlin: Kadmos 2004), 78, 81. JeanClaude Monod, „La philosophie du XXe siècle et l’usage des métaphores“, Ésprit 315 (2005), 26 – 42: 41. Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), Schriften 406 – 431. Die Genesis der kopernikanischen Welt (Frankfurt/M: Suhrkamp 1975), Erster Teil.
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nachgerade obsolet gewordene Projekt der Metaphorologie für den Reader Theorie der Metapher, der seit 1974 in Vorbereitung war, Anlaß zu einer Vorlesung im Sommersemester 1975, aus welcher der „Ausblick“ hervorging.¹⁰ Die Anknüpfung an die Metaphorologie von 1960 ist allerdings nicht so unkompliziert, wie es aussieht, weil sie nachträglich das alte Vorhaben umstandslos (als wäre es gescheitert) der Begriffsgeschichte zuordnet, während gleichzeitig bereits die Transformation der alten Konzeption eine erste, neue Gestalt annahm in einem Text, der sich zur „Theorie der Unbegrifflichkeit“ in etwa verhält, wie sich „Licht als Metapher“ zu den „Paradigmen“ der ausgewachsenen Metaphorologie verhalten hatte: der auf den ersten Blick marginale, auf den zweiten Blick eher esoterisch anmutende Simmel-Aufsatz „Geld oder Leben“ aus dem Jahr 1976, der in Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900) ein metaphorologisches Paradigma ganz neuer Art zu entdeckte.¹¹ Wie der Licht-Aufsatz statuiert die SimmelStudie ein Proto-Paradigma oder – wie Blumenberg Simmel zitiert – die „Vorform der Idee“ eines weiteren Typs von Metaphorologie, zu dem Simmels Logos-Abhandlung mit dem Titel „Vorformen der Idee“ selbst die Züge einer „Vorform“, und zwar für Blumenberg nun zur Idee einer Metaphorologie beiträgt.¹² Was das angeht, ist in Erinnerung zu bringen, daß bereits die Metaphorologie eine Typologie in Erwägung gezogen hatte, die unterhalb der Manifestationsebene der in Paradigmen verlaufenden „Metapherngeschichten“ eine Sphäre der „Übergänge“ auffinden sollte, für die sich als ältester Übergang der Typ „Mythos und Metaphorik“ anbot (Paradigma VII). Schon damals klang Simmel mit an (wiewohl dafür kein Zitat vorliegt), weil Blumenberg dort vom „Mythos als Vorform des Logos“ spricht, so daß es mindestens so aussieht, als hätte er Simmels LogosAufsatz mit im Sinn gehabt. Jedenfalls handelt „Geld oder Leben“ explizit von diesem neuen Typ des Übergangs, für den der Gemeinplatz vom Mythos zum Logos in der Metaphorologie als metaphorologisches Paradigma herhalten mußte.¹³ Worauf es mir für diesen Zweck ankommt, ist die in der Metaphorologie angedeutete, aber unausgeführt gelassene Doppelung einer Typologie der Paradigmen, an die dann die Simmel-Arbeit anknüpft. Sie führt zurück auf eine tiefere
Das Vorlesungsmanuskript vom Sommersemester 1975 ist unter dem Titel Theorie der Unbegrifflichkeit, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2007) erschienen. Hans Blumenberg, „Geld oder Leben: Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels“ (1976), Schriften 177– 192. Georg Simmel, „Vorformen der Idee“, Logos IV (1916/17), Gesamtausgabe XI (Frankfurt/M: Suhrkamp 2000), 252– 298 („Geld oder Leben“, Schriften 188, Anm. 9). Wilhelm Nestles fragwürdiger Erfolgstitel Vom Mythos zum Logos (Stuttgart: Kröner 1940) fungiert als das populäre Stichwort für die vorbegriffliche Ära der Metaphorik.
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Fundierung der älteren paradigmen-orientierten, begriffsgeschichts-analogen (sei es nun paradigma-kompatiblen oder paradigma-kontroversen) Anlage der Metaphorologie und ihres nun doppelt metaphorologischen Projekt-Horizonts, dessen metapherntheoretische Dimension es in der Doppelung überhaupt erst zu metaphorologischer Tiefe gebracht und diese ins methodische Bewußtsein gerufen hätte. Die Typologie der Übergänge, als deren erstes historisches Paradigma „Mythos und Metapher“ zu registrieren war, operationalisiert und verzeichnet die Bewegungsverläufe einer geschichtsbildenden Funktion, die Blumenberg mit Blick auf das aristotelische Prinzip der Kinesis ‚Metakinetik‘ nennt. In der Wiederaufnahme dieses Begriffs (der schon in Dissertation und Habilitationsschrift figuriert, dort ausführlicher begründet ist, sich des weiteren aber nur noch unerläutert weiterverwendet findet) gipfelt die zu äußerster grundsätzlicher Prägnanz getriebene Einleitung in die Paradigmen. ¹⁴ Metakinetik benennt im offenkundigen Bezug auf Aristoteles, über dessen Bewegungsbegriff Bröcker habilitiert hatte, was in Heideggers Seinsgeschichte für Bewegung sorgt: „Das Aussagen selbst [zu ergänzen: des Seins] ist zu verstehen als Bewegung“.¹⁵ Nach der Kehrtwendung der siebziger Jahre wird Blumenberg die metakinetische Begründung dessen, was das ‚Sein des Seienden‘ bei Heidegger geschichtlich auszeichnet, ‚Unbegrifflichkeit‘ nennen und die anfängliche Andeutung mit einer weiteren Andeutung vollenden, welche mit der ersten die aristotelische Szene in ihrer Heidegger-Beleuchtung teilt. Die theoretische Inszenierung dieses Schauplatzes ist darauf angelegt, die Manifestation der Metapherngeschichten in metaphorologischen Paradigmen durch eine Theorie zu hinterfragen, zu unterfangen und zu begründen, in der Unbegrifflichkeit für das kategoriale Sein sowohl eintritt, es privativ, als ein entzogenes – ein Nichts – charakterisiert, als auch der kapitalen Seinsprätention Heideggers entzieht. Dabei kommen zwei Problemhorizonte der Phänomenologie, die Blumenberg in der unentwegten Beschäftigung mit der Krisis-Abhandlung Husserls begleiten, zu einer Neuveranlagung. Barbara Merker hat sie als die geschichtsbildenden Zustände präpariert, zwischen denen – in deren Übergänglichkeit – die Metakinetik der Metaphorologie spielt: „Lebenswelt und Absolutismus der Wirklich-
Grundlegend Blumenbergs Habilitationsschrift Die ontologische Distanz: Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1950), 8 – 10d, 218 mit Anm. 3a–n. Walter Bröcker, Aristoteles (Frankfurt/M: Klostermann 1933), 177. Paradigmen 168 ff. (Kommentar 450 ff.). Heideggers Natorp-Bericht von 1922 war noch nicht wiederentdeckt (veröffentlicht 1987).
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keit“.¹⁶ Sie reicht von der mythen-ähnlichen Vorform der Lichtmetaphorik bis zu der späten, nach-metaphorologischen (oder auch nach-metaphysischen) Formation des Geld-oder-Leben-Paradigmas und ist in einer Abhandlung, mit der Blumenberg zu Anfang der sechziger Jahre, auf der Höhe der Metaphorologie, Bilanz gezogen hatte, auf den präziseren Konflikt von „Lebenswelt und Technisierung“ gebracht.¹⁷ Die Neuvermessung des metaphorologischen Feldes in der SimmelArbeit korreliert den Begriff der Lebenswelt mit dem Stand der ‚Technisierung‘, den Simmel in der ‚Form‘ des Gelds erreicht sieht. Im Zuge der Technisierung ist die ‚mythologie blanche‘ der alten aristotelischen Welt zur ‚ontologie grise‘ der cartesischen Neuzeit geraten.¹⁸ Wobei sich in der Technisierung der geschichtsimplizite Zug der ‚Logisierung‘ vom Mythos zum Logos durchhält, der die Seinsgeschichte Heideggers durchzieht und in der neuzeitlichen Technik jenes Höchstmaß an ‚Seinsvergessenheit‘ heraufbeschwört, das Heidegger alarmiert hat. Tatsächlich ist aus Blumenbergs meta-kinetischer Konzeption zu folgern, daß es nicht zuletzt die téchne der Rhetorik ist, die im Zuge der Technisierung das seinsgeschichtliche Thema (nicht zu sagen das heideggersche ‚Schicksal‘) der Metaphorologie bestimmt als die Bewegtheitsgeschichte eines historisch verfertigten, in den hermeneutischen Horizonten untergründig bewegten Gesagt-Seins eher denn eines ideal fertigen, prädikativen, kategorialen Seins.
II. Lebenstechnisierung Lebenswelt, soviel läßt sich leicht einsehen, liegt vor aller Technisierung des Begreifens in Begriffen, und das von Blumenberg an der Diskrepanz von Lebenszeit und Weltzeit 1986 in erneuerter Prägnanz herausgestellte ‚Lebensweltmißverständnis‘ kann die Sachlage nur um so gründlicher verleugnen, wie es auch die in der seinsgeschichtlichen Epoché befangenen, in ihrer Befangenheit absoluten Metaphern notwendig verkennt oder doch undurchschaut sein läßt –
Barbara Merker, „Bedürfnis nach Bedeutsamkeit: Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit“, Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Frankfurt/M: Suhrkamp 1999) 68 – 98: 88 ff. Zuvor ausführlicher in der bei Blumenberg abgeschlossenen Dissertation von Barbara Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis: Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls (Frankfurt/M: Suhrkamp 1988). Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“ (1963), Eingang in die Sammlung Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 7– 54. Jacques Derrida, „La mythologie blanche: La métaphore dans le texte philosophique“ (1971), Marges de la philosophie (Paris : Minuit 1972), 247– 324. Jean-Luc Marion, Sur l’ontologie grise de Descartes (Paris: Vrin 1975).
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nicht, weil es in einer Art Verblendungszusammenhang immer schon daran gehindert wäre, sondern weil es aus totalem Kontingenzmangel gar keinen Bedarf an einer derartigen Aufklärung haben kann (geschweige ihn empfände).¹⁹ Den allfälligen archaisierenden Anwandlungen der Arbeit am Mythos zum Trotz, die Blumenberg vom „Absolutismus der Wirklichkeit“ als einer Art anthropogenetischem „Ausgangszustand“ reden läßt, orientiert sich die Bestimmung der Absolutheit der Metapher am absoluten Raum Newtons und der transzendentalen Reflexion Kants auf ihn (für Blumenberg wohl vermittelt durch Cassirers Diskussion des Sachverhalts).²⁰ Denn die historische Zuständigkeit der Metaphorologie der ersten Phase, deren Zentralbegriff die absolute Metapher ist, hat Blumenberg nicht von ungefähr auf Kant datiert: Sie reicht von Augustinus’ Aufklärung der „mythologie blanche“ mitsamt der neoplatonischen Lichtmetaphysik bis zu Kants Symbolbegriff (Paradigmen 15), der die „reflektierende Entdeckung der authentischen (nämlich: der metaphysisch authentischen) Potenz der Metaphorik“ ermöglicht (Paradigmen 13) und die Technisierung der investierten Rhetorik auf ein neues Niveau sowohl hebt, als auch dieses neue Niveau bezeugt – mit der Konsequenz einer phänomenologischen Neubegründung der lebensweltlichen Ur- oder Letztbegründungen, man könnte sagen: der Geburt der Phänomenologie aus dem Geiste der Technisierung.²¹ Diese optimistische Einschätzung der Technik statt der Abwehrgeste unterscheidet Blumenbergs Begriff der Freiheit von Heideggers Schicksal. So daß für ihn im Lichte der Selbsthistorisierung der Phänomenologie der Begriff des Lebens den Status der metaphorologischen Absolutheit erwirbt, einer Absolutheit zweiten Grades allerdings, die diesen – ausgerechnet ihn, den Inbegriff alles lebensweltlich Gegebenen – zum Inbegriff des diesem entgegengesetzten Absolutismus der Wirklichkeit werden läßt: als eine phänomenologische Innenansicht der Dialektik der Aufklärung, könnte man sagen, mit der Blumenberg seit der Arbeit am Mythos offen sympathisiert.²²
Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit (Frankfurt/M: Suhrkamp 1986), erste Seiten; ebenso zuvor, in stark anthropogenetischer Hypostasierung, Arbeit am Mythos (Frankfurt/M: Suhrkamp 1979), erste Seiten (Merker, „Bedürfnis nach Bedeutsamkeit“ 76 ff.). Vf. „Masse mal Beschleunigung“ (1996), Figura cryptica: Theorie literarischer Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), Kap. 5 (Genesis 597 ff.). Zur kantischen Fundierung der Absolutheit der Metapher findet sich in Blumenbergs Zettelkasten in Marbach die aufschlußreiche Überschrift: „Die absolute Metapher als Schematismus des Raumes und die Idee einer letzten metaphysischen Wirklichkeit“ (Sigle TERM MET 17914). Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, hg. Manfred Sommer (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), 150 f. Vgl. den Programmentwurf „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ für das Mythos-Kolloquium von Poetik und Hermeneutik IV (1971), Schriften 327– 405: 330 ff. 354.
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In einer ersten Ergänzung seines metaphorologischen Ansatzes hatte Blumenberg schon 1964, in seinem Leitartikel für das Gründungskolloquium der von ihm mitbegründeten Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik von ‚Wirklichkeitsbegriffen‘ gesprochen, in denen Wirklichkeit – anders als Heideggers Alltäglichkeit – in lebensweltlicher Absolutheit unhintergehbar historisch geworden war.²³ Die Pointe des in der Absolutheit des Wirklichen Historisch-Werdens ist nicht zuletzt die diesem Historisch-Werden implizite Selbstvergeschichtlichung der Phänomenologie, die sich im ersten der Wirklichkeitsbegriffe, dem der ‚momentanen Evidenz‘ als Rückkehr der Phänomenologie an die Quellen der Philosophie stilisiert findet, um gegen Ende der metaphorologischen Epoche der Metaphysik in einen veritablen Verblendungszusammenhang adornesken Ausmaßes abzustürzen in den Rest- und Grenzbegriff einer Wirklichkeit des blinden Widerstands, des Wirklichkeitsbegriffs-Entzugs.²⁴ „Geld oder Leben“ sucht das diesem Begriff systematisch entzogene, aus ihm radikal entfernte, nur ex negativo zu fassende Lebensmuster in einer Metaphorologie auf, die abgeleiteten, zweiten Grades sein muß, weil sie sich auf eine sekundäre Modellierung von Lebenswelt richtet, die nicht mehr von und mit der Symptomatik durchschaubarer, lebensweltlich beziehungsreicher Metaphern rechnen kann, sondern zur Gänze nach dem von Kant entworfenen Muster der „Übertragung der Reflexion“ auf einen „ganz anderen Begriff“ metaphorisch ist und Metaphorologie als eine im strengen, phänomenologischen Sinne historische erfordert. Allein als Übertragung auf einen Begriff, von dem Kant pointiert sagt und Blumenberg pointiert zitiert, daß ihm „vielleicht nie [historisch gesprochen: die längste Zeit und nun nicht mehr] eine Anschauung direkt korrespondieren kann“, ist das Leben unter dem vollendeten Absolutismus der Wirklichkeit metaphorologisch konstituiert.²⁵ Es erweist sich deshalb nun noch der Entwurf der Lebenswelt selbst als eine metaphorologische Vorform – eine platonische Paideia – der phänomenologischen Selbstvergewisserung (Zu den Sachen und zurück 29). Erst in dieser Beleuchtung gewinnt das einleitende Postulat des „Ausblicks auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ an Klarheit: es sei „auch von den rück-
Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, Poetik und Hermeneutik I (1964), 9 – 27; Schriften 47– 73: 51 Anm. 5. Vgl. den Heidegger-Schüler Karl Ulmer, Philosophie der modernen Lebenswelt (Tübingen: Mohr 1972), § 1: „Der undurchsichtige Zusammenhang unseres modernen Lebens“, der dann den optimistischen, de facto aber ebenso undurchsichtigen Begriff des „Lebenswissens“ einführt. Vgl. Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit (Bern: Francke 1947). Dazu die bei Blumenberg abgeschlossenen Dissertation von Barbara Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis: Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls (Frankfurt/M: Suhrkamp 1988), 265 ff.
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wärtigen Verbindungen zur Lebenswelt [zu handeln] als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt aller Theorie“ (Schriften 193). Die Formulierung ist bis zum Äußersten schwach gehalten; sie gibt sich, trotz der ihr eingezeichneten Verkomplizierung, mit Fleiß als vorläufig. Denn sie sagt nicht, was sie andeutungsweise impliziert: daß es sich tatsächlich auch um einen ständig entzogenen – und deshalb alles andere als ungebrochen präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt handeln könnte. Nur als strikt und ausschließlich ein Rückhalt von Theorie ist präsent zu machen, was ständig entzogen ist an Lebenswelt und als ein Rückhalt allein in den rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt von dieser faßbar geblieben ist: „was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist“, erstickt Blumenberg schon im nächsten Satz jede falsche Hoffnung. Tatsächlich sind es nur noch ‚Leitfossilien‘ der verflossenen Motivierung, die als Rückhalt fungieren und auch dies nur für und über Theorie: „Metaphern sind in diesem Sinne Leitfossilien einer archaischen Schicht des Prozesses der theoretischen Neugierde“, und diese Neugierde als der Inbegriff aller theoretischen Motivierung „muß“ (tröstet Blumenberg) „nicht deshalb anachronistisch sein […], weil es zu der Fülle ihrer Stimulationen und Wahrheitserwartungen keinen Rückweg gibt“ (Schriften 193). Es gibt keinen Rückweg zu einer authentischen (metaphysisch authentischen) Erfülltheit der Intentionen, es gibt nur epochal datierte Bruchstücke der sprachlichen Versteinerung, und die sind mitnichten anachronistisch, sondern sind (mittlerweile) konstitutiv für einen neuen Typ der Lesbarkeit der Welt, deren Übergang zum Absolutismus des Wirklichen darin zu entziffern ist. So daß das metaphorologische Paradigma vom Mythos zum Logos nur eines, womöglich das archaischste unter den Fossilien ist, das indessen auch nur insofern der Rede wert geblieben ist, als danach der Ursprung der Philosophie zu datieren ist. Sind ‚Leitfossilien‘ im Vokabular der Geologen Mittel der erdgeschichtlichen Datierung, so widmet sich die Metaphorologie zweiten Grades einer Archäologie der phänomenologischen Erschlossenheitsweisen von Welt. Von der nötigen Verallgemeinerung dieses Befundes zu einer Theorie, auf die mit diesen Andeutungen ein Ausblick eröffnet sein soll, will ich mich hier nicht ablenken lassen; die Typologie der Übergänge ist nur eines der Desiderate. Vor solchen Weiterungen, zu denen einige Andeutungen im Unbegrifflichkeits-Ausblick stehen, halte ich mich an Blumenbergs eigenes Itinerar und wende mich der Manifestationsform zu, die für ihn das Paradigma der Dringlichkeit der Theoriebildung über die Variationsbefunde des metaphysischen Horizonts hinaus bedeutet hat: das des Geldes für das Leben. Im Entwurf des „Ausblicks“ wird es ihm dazu dienen, eine „Möglichkeit der Wirkung der bloßen Idee“ zu verdeutlichen, die jenseits des Symbols liegt (also auch jenseits des Geldes als einer der mutmaßlich ‚symbolischen Formen‘ Cassirers): „der Idee als des Inbegriffs von
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Möglichkeiten, wie es die des Wertes ist“ – „Oder die des Seins“ Heideggers, fährt Blumenberg fort (Schriften 206), im beständigen Seitenblick auf den Übergang von Simmels Lebensphilosophie zu den Verallgemeinerungsnotwendigkeiten der Phänomenologie angesichts der tiefer zu legenden „Hinblicknahme auf die Lebenswelt“ (Schriften 198). Deren Inbegriff (als einer von Möglichkeiten wie denen des Wertes) kann nicht anders als unbegrifflich sein.Was Blumenberg aus Simmel macht, ist also nicht, was Cassirer aus ihm gemacht hat (Schriften 183). Eher interessiert ihn, wie der „Lebensbegriff [Simmels] die jüngere Konzeption der Seinsgeschichte [Heideggers]“ antizipiert, mit dem Unbegrifflichkeitseffekt, daß „die Erklärungsleistung des höchsten Abstraktionsgrades […] trivialerweise universell“ sei, „aber dafür ihrerseits nicht mehr einsichtig“ sein kann (Schriften 188). Sie bezeugt einen krassen Verlust aller Anschaulichkeit, die als ein Motivierungsrückhalt nun überhaupt nicht mehr präsent zu machen ist, sondern nur noch strukturell, in Spuren des ‚Entzugs der Metapher‘ auffindbar und nachstellbar ist. Die Metapher ist dieser Entzug, wird Derrida an Heidegger (und gegen Ricoeur) zeigen.²⁶ In der ersten Annäherung – chronische Mißverständnisse gleich abzuwehren – sei es „ja nicht [unterstreicht Blumenberg] damit getan, in der Thematik des Geldes [wie dazumal hintergrundmetaphorisch] die Protometapher für die des Lebens aufzusuchen“ (Schriften 187), und sei es auch nur „für diesen unbestimmtesten der Begriffe Simmels“, der das Leben ist. Denn dessen Unbestimmtheit ist nur die Entzugserscheinung, an der die Deskription zum Stehen kommt, ohne daß mit ihr eine analytische Einsicht von Belang verbunden sein könnte. Die „eigentümliche Objektivität der Fiktion“, mit der das Paradigma ‚Geld‘ dieser Sachlage entgegenkommt, liege in der individuell allgemeinen Verbindlichkeit „einer ganz und gar auf dem subjektiven und reziproken Wertungsverhältnis beruhenden Substitution“ (Schriften 180). Das heißt: allein auf Grund der inhärenten Logik der Substitutionsverhältnisse wird Leben im Geld wirklichkeitsfrei technisierbar und garantiert Geld folglich eine lebenstechnische Freiheit der Selbstsorge, für die Blumenberg, wie nach ihm (und ohne ihn gelesen zu haben) Michel Foucault sie in der durch das Christentum abgebrochenen antiken (stoischen oder epikureischen) Skepsis fand.²⁷ Er nähert sich damit einem Autor, der ihm in vielen Hinsichten kongenial ist, Foucaults Lehrer Georges Canguilhem. Dieser hatte den Ausgangspunkt seiner Jacques Derrida, „Le retrait de la métaphore“ (1978), Psyché (Paris: Galilée 1987), 63 – 94; dt. Die paradoxe Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M : Suhrkamp 1998), 197– 234. Dagegen Paul Ricoeur, La métaphore vive (Paris : Seuil 1975), 362 ff. Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, Philosophische Rundschau 6 (1958), 94– 119: 118.
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medizin-historischen Erwägungen zum Lebensbegriff auf die Formel gebracht: „C’est le concept d’un etre sans concept“ – der Begriff für ein Sein ohne Begriff.²⁸ Wiewohl unbegrifflich, ist es doch nicht unbegreiflich. Im Gegenteil, nichts anderes passiert im Prozeß der Wissenschaften, als einen Begriff von dieser letzten oder ersten Unbegrifflichkeit zu erwirtschaften, aus der das Leben ins Zentrum vorrückt: „Le concept peut-il, et comment, nous procurer l’accès à la vie?“²⁹ Nichts weniger als die Natur des Begriffes selbst (in dem doppelten Verstande seiner Herkunft und seiner wesentlichen Bestimmtheit) steht in Frage, denn (ich paraphrasiere und akzentuiere eine längere Passage von größter Dichte): schreiten wir von dem, was wir Wissen und Erkenntnis nennen, zum Begriff des Lebens vor, oder kommen wir, umgekehrt, erst von der Unbegrifflichkeit des Lebens – und also über sie – zum Begriff? Falls es eine Logik gäbe, die dem Leben immanent wäre, dann müßte alle Erkenntnis des Lebens darauf gerichtet sein, diese Logik aufzufinden. „La nature est alors un tableau latent de relations dont la permanence est à découvrir, mais qui, une fois découverte, confère aux démarches de la détermination […] une rassurante garantie“ (Études 340). Was wir Natur nennen, ist ein tableau latenter Bezüge, eine tabula rasa der Latenz, auf dem seit dem 18. Jahrhundert der Prozeß der ‚Terminologisierung der Metapher‘ einsetzt, der die neue Ordnung der Dinge im Untergrund ihrer Metakinetik bedingt und in der Metaphorologie Blumenbergs am Paradigma der mathematischen Wahrscheinlichkeit abgehandelt ist.³⁰ Die Neubesetzung der tabula rasa Natur in der medizinischen Erforschung des Lebendigen ermißt – seit der Erfindung der Anatomie als des ersten privilegierten Zugangs zum Leben über den Umweg des toten Produkts des Lebens, der barocken Leiche – die Spanne von Leben und Begriff, deren späte Kongruenz im späteren 19. Jahrhundert (vor Saussure) die Linguistik neu entdecken wird in Titeln wie La vie des mots von Arsène Darmstetter, und die sich anbahnende Begriffskonjunktur ist nun nicht mehr von ungefähr eine des abgestorbenen rhetorischen Instrumentariums: des Relikts ‚Metapher‘.³¹
Georges Canguilhem, „Du singulier et de la singularité en épistemologie biologique“ (1962), Études d’histoire et de philosophie des sciences (Paris : Vrin 1968, 1994), 211– 225: 214. Georges Canguilhem, „La nouvelle connaissance de la vie“ (1966), Études 335 – 364: 335. Bereits Derrida zitierte Canguilhem, charakteristischerweise auch gegen Ende der „Mythologie blanche“ 311 ff. Vgl. Rüdiger Campe, Das Spiel der Wahrscheinlichkeit: Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist (Göttingen: Wallstein 2002), 10 ff. und 379. Robert Spaemann, „Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts“, Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 59 – 74. Arsène Darmstetter, La vie des mots (Paris: PUF 1887, 1943, 1950).Vf. „Einleitung in die Theorie der Metapher“, Theorie der Metapher 1– 27: 13 ff.
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Das Paradigma ‚Geld oder Leben‘ bringt den Zug der technisierenden Terminologisierung der Metapher auf ein unerhörtes Niveau der totalen Passung, die zugleich eine neue Phase der phänomenologischen Lebensweltmißverständnisse heraufbringt, mit der Seins- als Schicksals-Geschichte Heideggers als unheilvollem, re-mythisierendem Kurzschluß als Folge. Was die Allzweckverlegenheitslösung der Begriffsbereinigungsgeschichte nicht leisten, sondern nur unter den Teppich der Heideggervergangenheitsbewältigung kehren kann, provoziert einen ‚Abbau‘ zweiter Ordnung: Metaphorologie zweiten Grades. ‚Abbau‘ bietet sich als denkbar geschicktester Ausdruck Heideggers an für dieses neue Feld der phänomenologischen Reduktion, handelt es sich doch keinesfalls bloß um ein Rückgängig-Machen, sondern um eine erdgeschichtliche Ausbeute wie die bedeutender geologischer Vorkommen (Erz, Kohle, Öl). Die nötige Rückbindung an die Lebenswelt ist deshalb die Rückbindung an die metaphorologisch aufzudeckende Metakinetik des Lebenswelt-Kompositums von Leben und Welt. Der Motivierungsrückhalt der theoretischen Neugierde geht dabei nicht leer aus; im Gegenteil stößt er in der Totheit der keineswegs nun nur noch anachronistisch erschlossenen Welt auf phänomenale Effekte, die erst jetzt, auf dem gesammelten Bodensatz des Unbegrifflichen einsetzen. Ich nenne nur (ohne das ausführen zu können) den ebenso banalen, wie überraschenden Befund der Saturation, den wir Jean-Luc Marion verdanken: „le phénomène saturé“.³² Denn dieser unwahrscheinlichste, aller phänomenologischen Wahr-scheinlichkeit entgegengesetzte, allenfalls kontrafaktisch zugelassene Fall der lebensweltlich idealen Sättigung der Phänomene (für die allenfalls einmal das ästhetische Symbol ein guter Kandidat zu sein schien), wird jetzt nachgerade der statistische Normalfall. Die Sättigung ist im Kontext der allfälligen Alltäglichkeit (samt der ihr eingebauten Lebensweltmißverständnisse) eine Übersättigung (oder ‚Überdeterminierung‘ im Sinne Freuds). Phänomenologisch heißt das bei Marion „l’inverse de la situation commune d’un surcroit du concept sur l’intuition“ – also ein Überschuß, der die „Widerstimmigkeit“, von der Blumenbergs „Ausblick“ ausgeht, nicht wie von Husserl vorgesehen und von Blumenberg anachronistisch zitiert, „normal-stimmig“ macht (Schriften 194), sondern zur Provokation nimmt, so daß sich mit Marion fortfahren läßt (abermals verkürze ich Dichtes): die Intuition übertrifft, überschreitet und verkehrt sogar im Exzeß den Begriff, und dies nicht zuletzt, was Sinn, Bedeutung und Richtung (sens) des Begreifens angeht (Le visible 145). Jede Lebenswelt-Analyse ist deshalb angewiesen auf Metaphorologie, und zwar auf die zweiten Grades, nicht nur die ersten Grades, welche sich archäologisch den
Jean-Luc Marion, „La banalité de la saturation“ (2004), Le visible et le révélé (Paris: Cerf 2005), 143 – 187. De surcroit: Études sur les phénomènes saturés (Paris: PUF 2001), Definition s.v.
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Leitfossilien der philosophischen epoché gewidmet hatte. Darin ist sie allerdings speziell angewiesen auf das neugierige Erkenntnisinteresse der Sprachtheorie und eine genauere Einschätzung dessen, was der junge Blumenberg als ‚Sprachsituation‘ ins Auge gefaßt und mit der ‚immanenten Poetik‘ einer Epoche in Verbindung gebracht hatte (Schriften 120). Statt von immanenter Poetik braucht man nur ganz allgemein von Vorgaben der Sagbarkeit zu sprechen, um sich klar zu machen, daß es um den jeweiligen, aktuellen Stand dessen handelt, was im Bodensatz der Gesagtseinsgeschichte der Lebenswelt an Latenzen – an Sagbarkeit wie Unsagbarkeit, Erfülltheit wie Unerfüllbarkeit – unbegrifflich aufgelaufen und als ein ‚Geschichte‘ auf-geschichtet ist.
III. Metapher als Methode Dazu der vorläufige, thesenhafte Versuch, Metaphorologie auf dem Stand zweiten Grades zu definieren: Sie ist eine (meta‐) rhetorische Methode, die den Begriff der Metapher philosophisch – epistemologisch, ästhetisch, theoretisch – in Anwendung bringt. Sie ist im strengeren historischen Sinne methodisch, sofern sie angemessen in philosophischen – epistemologischen, ästhetischen, theoretischen – Diskursen zu verwenden ist.³³ Das Verhältnis der ‚Dienstbarkeit‘, in das Blumenberg die Metaphorologie zur Geschichte der Begriffe setzt, ist deshalb eins der unumgänglichen historischen Selbstvergewisserung der Philosophie. Ihr Gegenstand, der Anlaß zur Spezifikation ist, grenzt sich dabei ab – vom Gegenstand der Philosophie, deren Lehre an allerlei Modifikationen mündlicher oder schriftlich gefaßter Diskurse gebunden ist. Indem und insofern Metaphorologie als Methode deren Grenzwerte in den Blick nimmt, ist sie radikalisierte philosophische Reflexion in einem sehr bestimmten Sinne: Sie „unterbricht sich“ intermittierend im Vollzug, denn ihre Reflexion bricht sich am Sprach-Gegebenen (Zu den Sachen zurück 42– 43). – von der Philologie, deren Lektüre auf allerlei Modifikationen von textuellen Vorkommen gerichtet ist. Sofern Metaphorologie philologisch arbeitet, ist sie auch eine reflexiv erweiterte Philologie, die es mit dem rhetorisch-kritischen Repertoire in der ganzen Breite aufnimmt, exemplarisch und umstritten in der Sachlage des von Blumenberg selbst vermiedenen, in seiner eminent me-
Walter J. Ong, Ramus: Method and the Decay of Dialogue (Cambridge MA: Harvard University Press 1958, 1983) über Ramus’ meta-rhetorische Vorläuferschaft für Descartes’ Methodenbegriff.
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taphorologischen Konstitution verfehlten Begriffs der Allegorie (der, zeittypisch, auch in Ritters Wörterbuch fehlt).³⁴ von der Geschichtswissenschaft, deren Gegenstände vorzüglich institutionelle Dokumente und archäologische Artefakte sind. Wenn die Metaphorologie auf solche Gegenstände stößt, verlangt und inauguriert sie einen radikalisierten Geschichtsbegriff. Die Phänomenologie der Geschichte ist eine metakinetisch bewegte, deren keineswegs unbewegter Beweger längerfristig stabile Epochen der Unbewegtheit fixiert. „Sogar wenn sie ihre eigene Geschichte schreibt, beschreibt sie das Hervortreten ihrer ‚Phänomene‘“, bemerkt Blumenberg dazu (Wirklichkeiten 6).
Stattdessen sind Gegenstand metaphorologischer Analyse die unterschiedlichen Syndrome der sprachlichen Komplexion von Wörtern in ihrer lexikalischen Situiertheit zwischen Katachrese und Metapher, Formel und Begriff, und dies nicht isoliert, sondern in ihren paradigmatischen Vorkommen in Syntagmen, deren grammatische oder aber auch un- oder anagrammatische Ausprägung mit zu denken und mit zu dokumentieren ist.³⁵ Man sieht hier leicht, daß und wie Blumenbergs Metaphorologie das Rittersche Wörterbuch als Ganzes und mit wesentlichem Gewinn ersetzen könnte (es in der vorliegenden Form widerlegte, präzisierte oder ergänzte eher denn nur „sprengte“), und zwar sowohl in der Archäologie der Begriffe und ihrer mehr oder minder abgestorbenen Komplexionen und Komplexionsweisen, als auch in der Systematik der Begriffsbildungen und der in sie eingehenden semantisch-pragmatisch-präsuppositionellen Interaktionen, die Max Black (mit Wittgenstein im Kopf) entworfen hat. Die Variationsbreite zwischen begriffsgeschichtsbequemen Hintergrundmetaphoriken und den unbequemeren, komplizierteren, unabsehbareren Fällen von Sprengmetaphorik, die Blumenbergs erste Ausarbeitung nur angedeutet hatte, auf die er aber immer wieder zurückkommt, ist ein Desiderat, das wichtigste, das die Phänomenologie Heideggers und Husserls für ihn hinterlassen hat. Es gibt eine Ahnung von der ‚gefährlichen‘ supplementären Logik metaphorologischer Analysen, in denen Metaphorologie und Grammatologie (Derrida die nötige Ehre
Vgl. C.S. Lewis, The Allegory of Love (Oxford: Clarendon Press 1936) bis Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979). Vf. mit Bettine Menke, „Allegorie“, Ästhetische Grundbegriffe, hg. Karlheinz Barck & al. (Stuttgart: Metzler 2000), I: 48 – 104: 50, 54. William Empson, The Structure of Complex Words (London: Chatto & Windus 1951), hg. Jonathan Culler (Cambridge MA: Harvard University Press 1989). James Pustejovsky, The Generative Lexicon (Cambridge MA: MIT Press 1995).
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zu geben) übereinkommen.³⁶ Der grammatologische Sog, der Hang zu endlosen, unabgeschlossenen Reflexionsintermittenzen im ‚Geschichte‘ der Philosophie resultiert in Entzugsgeschichtsverschiebungen und Verwerfungen bis in die disseminative Streuung eines gänzlich Unbegrifflichen: „Phänomenen der Ungegenständlichkeit, die wie von selbst Akt und Reflexion in eins darzustellen scheinen“. Denn, sagt Blumenberg in einer der vielen unausgeführten Andeutungen: „Dem Dasein widerfährt seine Grundlosigkeit ohne Bedarf nach diesem Begriff“ (Zu den Sachen 323). Eine der exemplarischen Vorgaben, die zwischen Begriff und Leben zählt, ist Kierkegaards ‚Begriff‘ (sic!) der Angst. Er zeugt von einer Art des Begreifens, worin das Begriffensein selbst Inbegriff des Seins ist, welches das Leben ist.
Irene E. Harvey, „Metaphorics and Metaphysics: Derrida’s Analysis of Aristotle“, Journal of the British Society for Phenomenology 17 (1986), 308 – 330: 327. Die pauschale Abwehr des Ausdrucks ‚Metaphorologie‘ (Marges 262 ff.) bezog sich nicht auf Blumenbergs Titel, den er nicht kannte, erstreckt sich aber durchaus auf das zitierte begriffsgeschichtliche Mißverständnis des Blumenberg-Projekts.
5 Unbegrifflichkeit des Seins Die Aufgabe der Seinsgeschichte „im Sein ist Übergang in anderes …“ ¹
Blumenbergs Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit verharrt vor der Theorie: er markiert die Stelle des Ausblicks auf Theorie. In der Metaphorik des Ausblickens unterstreicht er die in Theorie begrifflich stillgestellte Metapher des theorein, des An- und Ausschauens. Das paßt in die Daseinsmetaphorik, der Blumenberg den Schiffbruch mit Zuschauer als „Paradigma einer Daseinsmetapher“ zuzählt.² Aber es fügt sich der phänomenologischen Metapher des Zuschauers von Schiffsbrüchen, einer Allegorie mit Vergangenheit, zu gut. Denn tatsächlich ist der „Ausblick“ der Verlegenheit angefügt als ein Caveat, das der Daseinsmetapher wie jeder Metapher anhängt und für den Fall die phänomenologische Konstruktion der Metaphorologie mit einem post-phänomenologischen Supplement versieht. Es führt den Trugschluß, der latent mit aller allegorisch ausgeführten Metaphorik verbunden ist und in der Daseinsmetaphorik wie keiner andern zutage tritt – „die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt
Ein erster Entwurf entstand 2000 als Kommentar zu einer Konstanzer Tagung zum Konzept der ‚Unbegrifflichkeit‘, wozu ich Gottfried Gabriel eine Reihe wertvoller Hinweise entlocken konnte. In ausgearbeiteter frz. Form wurde die These auf einer 2003 von Jean-Claude Monod in Paris veranstalteten Blumenberg-Konferenz vorgetragen, „L’inconceptualité de l’être“, dankenswerterweise übersetzt von Jean Greisch, Archives de Philosophie 67 (2004), 269 – 278. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik (1812), hg. Georg Lasson (Hamburg: Meiner 1920, 2. Aufl. 1934, 1967), II: 269 (Hegels Hervorhebung). Hans Blumenberg, „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“ (1979), nach der Ausgabe der Ästhetischen und metaphorologischen Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 193 – 209. Ich führe im folgenden die Rekonstruktion des „Ausblicks“ weiter, die ich im Nachwort „Die Technik der Rhetorik: Blumenbergs Projekt“ versucht habe. Der Text des „Ausblicks“ erschien zuerst in Ergänzung, deutlich abgesetzt, des Bändchens Schiffbruch mit Zuschauer (Frankfurt/M: Suhrkamp 1979), dessen Untertitel „Paradigma einer Daseinsmetapher“ den Anschluß an die Paradigmen zu einer Metaphorologie herstellt, die in Erich Rothackers Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960) erschienen waren und erst in einem separaten Nachdruck postum neu gedruckt wurden (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998); sie sind hier zitiert nach der kommentierten Ausgabe, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013). https://doi.org/10.1515/9783110486377-006
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aller Theorie“ – in die transzendentale Aporie aller Metaphorologie (Schriften 193). Die Parenthese – „obwohl nicht ständig präsent zu halten“ – nennt Präsenthaltung als den Punkt, an dem der „Ausblick“ die Aussicht der Daseinsmetaphorik, den allegorischen Horizont des Zuschauers allfälliger Schiffbrüche überschreitet, sie auf Dauer stellt, in ein Allzu-Menschliches verallgemeinert. Die Nietzsche-Reminiszenz, stellt sich heraus, ist tragend. Luhmanns Beobachterparadox, die raffinierteste Variante des Verallgemeinerungsmöglichen, damals noch nicht auf dem Markt, scheint in Blumenbergs Historisierung der phänomenologischen Schiffbruchsgeschichte weniger antizipiert als für müßig erklärt – als Gipfel des Historismus widerlegt: es erscheint des „metaphorischen Paradoxes“ überführt: „Die ins Paradox getriebene Metapher (Jacob Burckhardts „wir sind diese Welle selbst“) soll die erkenntnistheoretische Situation des Historikers der Revolutionsepoche veranschaulichen“ (Schiffbruch 66). Das hat in den „rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt“ durchaus eine erkenntnispragmatische, und sei es lebenswelt-hermeneutische Seite.³ Allerdings findet die Unbegrifflichkeit die Lebensweltphänomenologie in keiner anderen Lage als der radikaler Grundlosigkeit. Tatsächlich wurde der „Ausblick auf die Unbegrifflichkeit“ mit einem anderen als dem Verallgemeinerungsinteresse der Daseinsmetaphorik geschrieben: dem Interesse an der wissenschaftshistorischen Grenzbestimmung der Metaphorologie für den Band Theorie der Metapher, der innerhalb der Reihe „Wege der Forschung“ einen historischen Überblick von Metapherntheorien nach Nietzsche und Saussure geben sollte. In diesem Überblick waren drei Paradigmen der Theoriebildung unterschieden, das sprachanalytische, das strukturalistische und das hermeneutische, die eingeleitet wurden von den maßgeblichen, paradigmabildenden Arbeiten von Max Black, Roman Jakobson und Hans Blumenberg, der für diesen Zweck einem stark zugespitzen Auszug aus den Paradigmen zustimmte. Der letzte Teil des Bandes war perspektivierenden Darstellungen der drei Richtungen gewidmet, in denen Max Black auf Donald Davidsons Neufassung der sprachanalytischen Problemlage antwortete, Paul de Man die mit Derridas Dekonstruktion eingetretenen poststrukturalistischen Konsequenzen registrierte und Hans Blumenberg das hermeneutische Paradigma zu revidieren unternahm.⁴
Barbara Merker, Bedürfnis nach Bedeutsamkeit: Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit“, Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Frankfurt/M: Suhrkamp 1999), 68 – 98. Vgl. Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt: Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (Tübingen: Mohr Siebeck 2000), 270 ff. Vgl.Vf. „Einleitung in die Theorie der Metapher“ und das Nachwort zur Neuausgabe „Nach der Metapher“, Theorie der Metapher (Wege der Forschung 389), hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt:
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Blumenberg nannte den Anlaß, die Revision der Metaphorologie, gleich im ersten Satz. Schon in den Paradigmen war er von der dezidiert historischen „Verlegenheit“ ausgegangen, „daß die reflektierende Entdeckung der authentischen Potenz der Metaphorik die daraufhin produzierten Metaphern als Objekte einer historischen Metaphorologie“ nur „entwerten“ könne (Paradigmen 13) und folglich die Metapher „ein wesentlich historischer Gegenstand“ sei (Paradigmen 28). Die Verlegenheit ist in der Daseinsmetaphorik auf dem letzten, fortgeschrittensten Stand zu beobachten, den Blumenberg in der Phänomenologie illustriert findet und in der Latenz über Jahrhunderte nachplatonischer Philosophiegeschichte belegt sieht. Der Entwurf der Paradigmen hatte klare, in der Klarheit ihrer Distinktionen historische Konturen, die das Projekt zwischen Augustinus und Nietzsche situierte und bei Vico und Kant kulminieren ließ. Ihr Prototyp, das proto-paradigmatische, im Wortverstand von Derridas „mythologie blanche“ mythische Vorausexemplar, ist die neoplatonische Lichtmetaphysik mitsamt ihrer plotinischen, post-aristotelischen, als solcher von Derrida nachvollzogenen Dekonstruierbarkeit, deren metaphorologische Konsequenz Blumenberg bereits durch Augustinus eingeleitet sieht.⁵ Aber das Paradigma des „Lichts als Metapher der Wahrheit“ ist der Metaphorologie nicht eingegliedert worden, sondern für sich stehen geblieben. Wie Derrida ging es Blumenberg darin nicht allein um die Aufdeckung einer Grundschicht der „tropes instituteurs“.⁶ Im Gegenteil geht es beiden um einen katachrestisch beharrenden Zug, der bei Derrida „retrait“ heißt und im Paradigma der Metapher die paradigmatische Konstitution der Metapher abzeichnet: „chaque métaphore puisse toujours se déchiffrer à la fois comme figure particulière et comme paradigme du processus même de la métaphorisation“ (Marges 303). Die Paradigmen finden sich in der ihnen von Blumenberg im Titel zugerechneten Paradigmatik erst von Kant auf ihren Inbegriff, den der ‚ab-
WBG 1983, Studienausgabe 1996). Da das Erscheinen des Bandes unter sehr umständlichen Copyright-Verhandlungen litt und sich um Jahre verzögerte, sind die Originalbeiträge von Black, de Man und Blumenberg, die unter teilweiser gegenseitiger Kenntnisnahme zu Kolloquien in Chicago und Konstanz entstanden, im Erstdruck auch anderwärtig erschienen. Davidson und Derrida standen aus den genannten Copyright-Gründen für eine Übersetzung nicht zur Verfügung. Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit: Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“ (1957), Schriften 139 – 171: 156. Vgl. Werner Beierwaltes, „Plotins Metaphysik des Lichtes“, Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961), 334– 362. Jacques Derrida, „La Mythologie blanche: La métaphore dans le texte philosophique“ (1971), Marges – de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247– 324: 261. Vgl. „Le retrait de la métaphore“ (1978), Psyché (Paris: Galilée 1987), 63 – 94, der diesen Punkt gegen die Darstellung in Paul Ricoeurs La métaphore vive (Paris: Seuil 1975), zurecht rückte. Siehe Rodolphe Gasché, The Tain of the Mirror: Derrida and the Philosophy of Reflection (Cambridge MA: Harvard University Press 1986), 309.
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soluten Metapher‘ gebracht und sind in dieser Datierung ein veritables (nach Blumenberg womöglich das entscheidende) Stück Aufklärung, das von Nietzsche in seinen metaphorologischen, nach-metaphysischen Grenzen reflektiert wird. (Derrida datiert den Befund nicht weit entfernt davon auf Du Marsais und Fontanier.) Die Ausarbeitung des metaphorologischen Kernbestandes, die sich nichts Geringeres als die Genese der Moderne zur Aufgabe macht, fällt unter den Komplex der Genesis der kopernikanischen Welt (1972); Blumenberg betrachtete sie als gescheitert, seit er sein wissenschaftshistorisches Projekt wie zuvor die Metaphorologie selbst in der methodischen, metaphorologischen Pointierung verkannt sah. Er verlagerte die Arbeit von der metakinetischen Tiefenanalyse (Paradigmen 16) auf die Deskription der mythenbildenden Phänomene an der diskusiven Oberfläche in der Arbeit am Mythos (1979).⁷ Über das aufgegebene Projekt befragt, entwarf er im „Ausblick“ einen Rückblick, dessen Selbstkritik nahe daran ist, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Der „Ausblick“ situiert das Projekt der Metaphorologie neu, nicht ohne die alten Umrisse zu entstellen. Aber der Entstellungseffekt ist ein Teil der abgründigen Verlegenheit, ein dem Projekt der Metaphorologie eingeschriebener, mitzukalkulierender historischer, genauer sogar nach-metaphysischer Effekt. Die neue, an Kant orientierte, von Nietzsche mit inaugurierte Konstellation ist, ähnlich der unvordenklichen, von Plotin Augustinus hinterlassenen, Logozentrismus-kritisch. Sie geht dem Logos an die Wurzel des Seinsbegriffs. Sie bestätigt Heideggers knappes Verdikt wie die spätere Diagnose Derridas, daß Metaphern zur Metaphysik gehören, deren metaphysischer Natur entspringen: „Das Metaphorische gibt es nur innerhalb der Metaphysik“, war der vielsagende Satz.⁸ Und sie entspricht Adornos Diagnose der Negativen Dialektik von der Tieferlegung der meta-rhetorischen Kinetik, deren Erforschung die Metaphorologie gewidmet ist, in den zunehmend verdichteten Verblendungszusammenhang des 19. Jahrhunderts.⁹ Die metaphorologische Kur, die Blumenberg, analog zu Paul de Man, Heidegger verordnen wollte, hat dem späteren Blumenberg zufolge versagt. Das zwingt ihn zu Konsequenzen auf zwei komplementären Ebenen. Die eine ist die Arbeit am Mythos, die andere wird im „Ausblick“ angedacht, ist aber weitgehend unausgeführt geblieben. Für die Arbeit am Mythos ist Adornos Version der Kritischen Theorie die wichtigste Bezugsgröße, für den „Ausblick“ die sprachanaly-
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt/M: Suhrkamp 1979). Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt/M: Suhrkamp 1981) ist bereits von dieser Reduktion geleitet. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen: Neske 1957), 89. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (Frankfurt/M: Suhrkamp 1966), 61.
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tische Wende Wittgensteins (Arbeit am Mythos 246).¹⁰ Die Arbeit am Mythos steht unter den Bedingungen der Verblendung, während die nicht weiter ausgeführte theoretische Konsequenz die Transposition der Metaphorologie auf das neue Niveau der Verblendung bedeutet. Deren Inbegriff heißt seit Nietzsche ‚Anthropologie‘ und Daseinsmetaphorik ist ihre Domäne. Der Schiffbruch ist deshalb eher ein Supplement zur Arbeit am Mythos als Ergänzung der Paradigmen, eine ingeniöse semantische Milieu-Schilderung.Vorbereitet durch die Anthropologie-Kritik der „Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), liefert der „Ausblick“ analytische Grundvoraussetzungen zur Arbeit am Mythos, die dort nicht in derselben Schärfe mit theoretisiert sind. ‚Anthropologie‘ ist der neue, neueste Name für die ‚Aktualität‘ der Verblendungsrhetorik, die in den impliziten Anthropomorphismen aller Anthropologica nach der Weise ‚mythischer Analoga‘ zum Zuge kommt.¹¹ Sie schafft rhetorische actualitas, um sie im selben Zug, als self-fulfilling prophecy, auch schon zu beweisen; zeitgemäß entspricht actualitas ‚a reign of terror“, nahm Robert Merton schon 1948 kein Blatt vor den Mund.¹² Der paradigmatische Wechsel von Heidegger zu Wittgenstein erlaubt Blumenberg eine Präzisierung der nachphänomenologischen Pointe und Konsequenz dessen, was er seit der Habilitationsschrift über Husserls Krisis-Abhandlung als Effekt von Metakinesen zu fassen versucht hat, eine ‚Verräumlichung‘ in dem aktiven Sinne, den Derrida entwickeln wird, wo Blumenberg noch kontemplativer von ‚ontologischer Distanz‘ sprach.¹³ In der Allegorie des Zuschauers der
Vgl. schon den Entwurf „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ (1971), Schriften 327– 405: 330 explizit an die Adornos Diagnose der Negativen Dialektik anschließend. Für Wittgenstein ist das Kapitel „Im Fliegenglas“ der Höhlenausgänge (Frankfurt/M: Suhrkamp 1989) entscheidend, Schriften 210 – 249, in dem Blumenberg auf das metaphorologische Projekt erstmals nach dem „Ausblick“ wieder zurückkommt. Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), Schriften 406 – 431. Vgl. Rüdiger Campe, „Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher“ (2000), Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie, hg. Anselm Haverkamp, Dirk Mende (Frankfurt/ M: Suhrkamp 2009), 283 – 315. Clemens Lugowskis ‚mythisches Analogon‘ aus der Form der Individualität im Roman (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1932), gab eine frühe, von Blumenberg nicht explizit anerkannte Ahnung von den anthropologischen Implikationen dessen, was er als einen ganz und gar nicht mythen-ähnlichen, im Prozeß der Aufklärung stehenden Wirklichkeitsbegriff der Möglichkeit des Romans vorbehalten wollte im ersten seiner Leitartikel für Poetik und Hermeneutik: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ (1964), Schriften 47– 73. Der Ausdruck hat einen zeitgleichen Ursprung in dem Nachkriegsessay des Soziologen Robert Merton, „The Self-Fulfilling Prophecy“, Antioch Review 8 (1948), 193 – 210: zit. 200. Der in der Einleitung zur Metaphorologie favorisierte Begriff der ‚Metakinetik‘ (Paradigmen 16) kommt von Aristoteles über Heidegger auf Blumenberg, wird von ihm schon in der Dissertation gebraucht, Beiträgen zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie (Kiel 1947), und wird in der Habilitationsschrift Die ontologische Distanz: Eine Untersuchung über
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Schiffbrüche ist die Distanz thematisch. Im „Ausblick“ ist deshalb, analog zur Methode der phänomenologischen Reduktion, von der „Zurückführung auf Unbegrifflichkeit“ die Rede (Schriften, 203). ‚Unbegrifflichkeit‘ ist ein historisches, geschichtsträchtiges Reduktionsergebnis, von dem die „historische Phänomenologie“ ihren Ausgang nehmen soll, pointierter gesagt ein post-nietzschescher Effekt von ‚Technisierung‘, den Heidegger sich ängstlich verbaut hatte, nämlich einer der Rhetorik von Anfang an innewohnenden, in ihrer Latenz berechneten techné, die sich über die metaphorologische epoché der Seinsgeschichte hinaus und durch sie hindurch verwirklicht. Mit der Aufklärung wird sie wahr-scheinlich im auf Totalität drängenden Schein von Wahrheit. Das in diesem Sinne wahrscheinliche Resultat sind die Anthropomorphismen Kants, Nietzsches und de Mans.¹⁴ Richtet sich auf diese modernen Vorzugsgestalten der Verblendung die Arbeit am Mythos in der Form einer prähistorisierenden, gestaltverhafteten Beschreibung, so ist die Unbegrifflichkeit der quasi-transzendentale Bodensatz, auf dem diese Bewegung spielt. So ist die Begriffswahl der Unbegrifflichkeit kaum verhohlen an der Konzeption von Seinsgeschichte orientiert, der in der Metaphorologie die absoluten Metaphern der Metaphysik entsprachen. Nach deren absehbarem Ende in dem anthropomorphen Humanismus der Daseinsmetaphorik und des ihr von Adorno scharfsinnig abgelesenen Jargons der Eigentlichkeit erscheint das ‚Sein‘ Heideggers in der epoché der absoluten Metaphern der Seinsgeschichte heruntergewirtschaftet auf den unbegrifflichen (und damit keineswegs nur vorbegrifflichen) Horizont von und für deren Absolutheit.¹⁵ Denn was, so die offensichtliche Anknüpfung an und Wendung gegen Heidegger, könnte das Sein des Seienden sein, wenn nicht unbegrifflich? Konnte der nicht immer unironische Heidegger in gewiß nicht unironischer Umschreibung der biblisch-typologischen Urszene des
die Krisis der Phänomenologie Husserls (Kiel 1950), speziell den Anhängen 8 – 10d, weiter entwickelt. Der entscheidende Text Heideggers, der zugleich Revision seiner Philosophie nach der so genannten ‚Kehre‘ ist, der Humanismusbrief an Jean Beaufret, veröffentlicht als Pendant zu Platons Lehre von der Wahrheit (Bern: Francke 1947, 2. Aufl. 1954), empfiehlt „weniger Philosophie“ als Philologie: „mehr Pflege des Buchstabens“ (Platons Lehre 119). Der späte Paul de Man hat in seinem letzten Aufsatz über „Anthropomorphism and Trope in the Lyric“ die romantischen Züge einer Rhetoric of Romanticism (New York NY: Columbia University Press 1984) rekonstruiert, die hier am Werk ist. In der Dissertation hatte Blumenberg Heideggers „Vom Wesen des Grundes“ (1929) zum Ausgang eines „noch nicht zum Begriff gekommenen Seinsverständnisses“ genommen (Beiträge 132), dessen „Ursprünglichkeit“ ein in der Reformulierung des jungen Blumenberg „unvergegenständlichtes ‚Worin‘ der Dinge“ einen gründlicheren Begriff von ‚Welt‘ verlangt (Beiträge 66) und zwar, könnte man rückblickend ergänzen, den der Unbegrifflichkeit von Welt.
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Moses vor dem Dornbusch, das Sein „ist Es selbst“ behaupten, so entsprach dem im Seienden buchstäblich nur das Nichts. Ernst Tugendhat stellt das „implizite Verständnis dieses universalen Existenzsatzes“ auf die grammatischen Füße, daß in der Tat „alles ist-Sagen quasi der Inbegriff des Seins“ sei.¹⁶ Blumenbergs Kritik von Heideggers Seinsbegriff ist also nicht gegen die absolute Metaphorik gerichtet, die dieser Begriff in ‚Weltbildern‘ generiert, aber gegen die Verwechslung von deren Unbegrifflichkeit mit der „Selbstverbergung des Seins“ die Heidegger darin am Werk sehen will (Schriften 206). Absolute Metaphern sind nur der epochale seinsgeschichtliche Sonderfall, dessen suggestive halb- oder vor-begriffliche Sphäre als Begriffsannäherung die Seinsvergessenheit der Philosophie charakterisiert, bevor sie es als Phänomenologie mit einer Verschärfung der Verblendung zu tun bekommt, welche die Rede von der Seinsgeschichte als philosophischer Mythe vollends ad acta legen läßt. Das onto-theologische Motiv des Ego sum qui sum (Exodus 3.14) ist auch bei Werner Beierwaltes explizit auf Heidegger bezogen, allerdings ohne dessen Ironie. Beierwaltes stimmt wohl implizit mit Blumenbergs metaphorologischer Kritik überein, sofern er (immer anmerkungsweise) den von ihm wie von Derrida diagnostizierten ‚Entzug‘ der alétheia auf Schellings Weltalter datiert.¹⁷ Jacob Taubes, der von der Ironie Heideggers und Tugendhats absieht, empfiehlt seinerseits, „von dem Ausdruck das Nichts bei Heidegger einfach abzusehen“.¹⁸ Der Erledigung Heideggers folgt in der Genealogie, die der letzte Teil der Höhlenausgänge bietet, die „wissenschaftskritische Umdeutung“ der Höhle durch den HeideggerSchüler und Blumenberg-Lehrer Walter Bröcker.¹⁹ Blumenbergs Fazit zu Heidegger ist definitiv: „dieser Abweg oder Umweg bietet sich nicht mehr an“ (Höhlenausgänge 806). An dieser Stelle wird Unbegrifflichkeit zur methodischen Voraussetzung der neuen, metaphorologischen Arbeit am Mythos. Blumenberg
Ernst Tugendhat, „Das Sein und das Nichts“, ursprünglich in der Heidegger-Festschrift Durchblicke (Frankfurt/M: Klostermann 1970), 132– 162, jetzt Philosophische Aufsätze (Frankfurt/ M: Suhrkamp 1992), 36 – 66: 63, 65. Heideggers entscheidender Text und Stein des Anstoßes ist die mehrfach ergänzte Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ (1929), mit Ergänzungen in Wegmarken (Gesamtausgabe Bd. 9), hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt/M: Klostermann 1976), 103 – 122. Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus (Frankfurt/M: Klostermann 1972), 8, Anm. 14; 76, Anm. 331; 131, Anm. 128. Jacob Taubes, „Vom Adverb ‚Nichts‘ zum Substantiv ‚Das Nichts‘ – Überlegungen zu Heideggers Frage nach dem Nichts“, Poetik und Hermeneutik VI (1975), 141– 153: 142; Tugendhat, 64. Hans Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen (Frankfurt/M: Suhrkamp 2000), 107.Vgl. Walter Bröckers Darstellung der Sachlage aus der Zeit von Blumenbergs Dissertation im Programm der mit Johannes Lohmann begründeten Zeitschrift Lexis, „Die Sprache und das Sein“, Lexis 1 (1948), 42– 48.
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nimmt den Seinsbegriff Heideggers zum Anlaß, die Historizität seiner Paradigmen der Metaphorologie tiefer zu legen, und er stößt dabei, Heidegger nach-konstruierend, auf den kategorialen, kategorien-bildenden Fehler des Seinsbegriffs als illegitime Positivierung eines von Heidegger selbst, etwa frei nach Hegels Logik, apostrophierten Nichtses, das dem Sein selbst, wie es nun einmal ist, entspricht.²⁰ Das zur Katachrese zusammengeballte Nichts der Unbegrifflichkeit hat den Effekt, die Unbegrifflichkeit der Metapher, so denn die Metaphorologie diesen Begriff als ein seinsgeschichtliches Zitat oder Paläonym durchstrichen stehen lassen muß, nicht in der Bildlichkeit, ja nicht einmal mehr in der Metapher gelten zu lassen, sondern auf das leere, ana-grammatische Schema zu reduzieren.²¹ In seine Leere fließen die lebensweltlichen Bezüge zurück und produzieren die Menge der rhetorischen Sekundärphänomene – daseinsmetaphorisch kultiviert oder entzugsbedingt halluziniert. Unbegrifflichkeit ist die der anthropologischen, anthropomorph semantisierenden Verblendung ausweichende, den obstinat verblendeten Realismus der Wirklichkeitsbegriffe verlassende Bewegung dessen, was die postmoderne Mythenwelt an Remythisierungen auszeichnet: „tatsächlich können wir auf Metaphern nicht ausweichen, wo Formeln möglich sind“ (Schriften 204). Ihre Mittel sind solche der statistischen Wahrscheinlichkeit. Das hat Blumenberg leider nicht mehr interessiert; man könnte sagen, er war zu begriffsverliebt, zu sehr auf die metaphorologischen Restbestände der Seinsgeschichte fixiert. Die Formeln der Statistik haben keine ostentative Wahr-scheinlichkeit mehr, sie machen deren Wahrheit zu mehr oder minder falschen Alltagsfiktionen, irrelevanten Mustern ohne Wert.²² Der „Ausblick“ beschränkt sie auf die Übergangslogik des Verfalls –
Das für Blumenberg wie Heidegger maßgebliche, von beiden aber wie selbstverständlich unerwähnte Kapitel I.i.1 „Sein“ in Hegels Logik I, 66 – 92, dessen metaphorologische Dimension unerkannt ist, wird von Tugendhat, der Hegel von Heidegger trennt, in Vergleich gebracht („Das Sein und das Nichts“ 50 ff.). Dieter Henrich, auf der anderen Seite, hält in „Anfang und Methode der Logik“ (1963), Hegel im Kontext (Frankfurt/M: Suhrkamp 1971), 73 – 94, Heidegger nicht der Rede wert. Lothar Eley, Hegels Wissenschaft der Logik (München: Fink 1976), 52 ff. und 87 ff. verteidigt ihn gegen die sprachanalytische Zumutung. In „Was ist Metaphysik?“ ist Hegel von Heidegger als der einzige Zeuge erwähnt, bevor er ihn am Ende doch noch distanziert (Wegmarken 103 und 120). Von ana- oder gegebenenfalls proto-grammatisch spreche ich in dem Sinne, in dem Giorgio Agamben, „The Thing Itself“ (1984), Potentialities (Stanford CA: Stanford University Press 1999), 27– 38, das aristotelische gramma „the form of proposition itself and nothing else“ nennt (Potentialities 37). Zum sprachanalytischen Kontext Vf. Einleitung, Die paradoxe Metapher (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 7– 25. Vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit: Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist (Göttingen: Wallstein 2002), 10 f.
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er historisiert bei Adorno, was dieser methodisch nicht verstand – von der Gestalt zur Formel: „Unbegrifflichkeit will mehr als die Form von Prozessen und Zuständen, sie will deren Gestalt“ (Schriften 204). Daß Unbegrifflichkeit nicht ihrer selbst genug ist, nicht einmal sie selbst sein oder bleiben kann, läßt sie auf Gestalten drängen: die der Menschen wie vordem die der Götter. Die politisch relevante Menschengestalt, für Blumenberg die Vorzugsgestalt, in welcher der Absolutismus der Realität zur Verblendung wird, ist der Feind, den Carl Schmitts Begriff des Politischen als Inbegriff politischer Theologie hervorgebracht hatte; Blumenberg hat diese Art Theologie in der Legitimität der Neuzeit als „metaphorische Theologie“ entlarvt, welche – nicht ungewöhnlich, sondern deshalb so real-effektiv – „Theologie als Politik“ betrieb.²³ Der Absolutismus der Realität unterliegt in und trotz der Reduktion zur Formel der Darstellungslogik des Mythos, der endlosen Proliferation seiner Gestalten. Unter der Transformationsformel von Metapher und Formel hat in der Unbegrifflichkeit die „zur Anschauung komplexe und oft gegenläufige“ Beziehungsvielfalt von „Begriff und Symbol“ ihren Ort gefunden (Schriften 205). Der „Übergang“ in Hegels Kapitel „Urteil“ der Logik, sollte er nicht (trotz Blumenbergs ausgesprochener Aversion) die Quelle sein, liest sich doch wie der theoretische Kommentar: Das Seiende wird und verändert sich, das Endliche geht im Unendlichen unter; das Existierende geht aus seinem Grunde hervor in die Erscheinung und geht zugrunde; die Akzidenz manifestiert den Reichtum der Substanz sowie deren Macht; im Sein ist Übergang in anderes. (Logik II, 269)
Die Logik der Manifestation, in der Begriff und Symbol stehen, wartet auf ihre rhetorische Entfaltung; der „Ausblick“ bringt diese Entfaltung als den Untergrund der Paradigmen, in denen es zur Gerinnung rhetorischer Figuren kommt, in die Aussicht auf einen Begriff. Die ‚Zweideutigkeit‘, bei der Tugendhat es bewenden ließ, beließ es bei dem Anschein, daß Heideggers „Formulierung das Sein und das Nichts schließlich doch übergegangen (wäre) in das Sein und das Nichtsein“ (Tugendhat, 65). Die Latenz im Übergehen, die er im mutmaßlichen Übergang des
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt/M: Suhrkamp 1966), in der Überarbeitung der ersten Teile unter dem Titel Säkularisierung und Selbstbehauptung (1972), 113. Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), hat die Feindgestalt, die nach Blumenberg ein Reduktionsprodukt der Unbegrifflichkeit ist, umstandslos identifiziert: „Es ist der Jude als Gestalt des Antichrist“ (66). Eine metaphorologische Kritik von Schmitts Feindbegriff findet sich ansatzweise bei Blumenbergs Schülerin Francesca Rigotti, Die Macht und ihre Metaphern (Frankfurt/M: Campus 1994).
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„wäre“ zu fassen bekommt, ist die der Unbegrifflichkeit des Seins zwischen Blumenbergs Manifestationsformen von Formel und Gestalt, Begriff und Symbol. Interessanterweise führt Blumenberg die Dekonstruktion von Heideggers Seinsbegriff und dessen Implikationslogik über die Destruktion nicht entscheidend hinaus: „Unbegrifflichkeit ist hier, daß wir gründlich erfahren, welcher Art Seinsverständnis nicht ist“ (Schriften, 207). Das kritische Moment der in der Negation gründlichen Erfahrung entspricht dem Freiheitsbegriff, der am Ende des „Ausblicks“ gegen Simmels alles vorentscheidenden metaphorologischen Kurzschluß, „die beim Wort genommene“ absolute Metapher von der VerstandesHandlung (Schriften 209), den leeren Horizont der radikalisierten Skepsis eines Wittgenstein oder Stanley Cavell offen hält. Die Verstandes-Handlung ist (zwar noch) keine Handlung, aber sie provoziert den Dezisionismus. Den fortwuchernden mythischen Gestalten des Humanismus, seinen Anthropomorphismen wie der Biopolitik, ist auf Seiten des Philosophen, so er der Verführung nicht erliegt, kein Kraut gewachsen als das stete Nachschneiden. So hat die Trauerarbeit an der Tradition auf den letzten Seiten der Arbeit am Mythos alle Hände voll zu tun, über der „eschatologischen Melancholie, die über dem Ganzen liegt“, nicht den Kopf zu verlieren, „daß nichts mehr zu sagen“ wäre (Arbeit am Mythos, 689). „Wie aber, wenn es doch noch etwas zu sagen gäbe“, ist der letzte Satz des Buches und keine rhetorische Frage, auf die Blumenberg nichts mehr zu sagen hätte. Im Gegenteil, der skeptische Rückblick auf das Projekt der Metaphorologie begründet im „Ausblick auf Unbegrifflichkeit“ den einen Schritt, den die Philsophie über die Melancholie der Trauerarbeit am Mythos bei aller Skepsis immer schon voraus sein muß. Die Erkenntnispragmatik der antiken Skepsis war für Blumenbergs Erkenntnisinteresse ein unübertroffenes Vorbild, und ihre Wiederkehr in der docta ignorantia des Nikolaus von Cues blieb mit der Vorliebe für dessen Fassung der ‚Sprengmetaphorik‘ das grundlegende, durchgängige Motiv der Paradigmen. ²⁴ Es ist der Metaphorologie als Leitbild der Freiheit und der ihr allein verpflichteten Gestalt des Philosophen vorgezeichnet.
Hans Blumenberg, Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung, Auswahl besorgt von Hans Blumenberg (Bremen: Sammlung Diederich 1957), 16 ff.; ausgeführt in Legitimität der Neuzeit (2. Aufl. 1988), 566 ff.
6 Blumenberg in Davos Kant und das Problem der Metakinetik I. Szene Hans Blumenbergs Nähe zu Ernst Cassirer, die allzu offenbare Nachbarschaft seiner Metaphorologie zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist vielen aufgefallen und scheint kaum der weiteren Rede wert. Gewöhnlich dient die Rede „Ernst Cassirers gedenkend“ (1974) als Beweis, ein kurzes Stück, das Blumenberg an den vielsagenden Schluß einer ersten rückblickenden Präsentation seines Werks im Kontext einer Reihe zur zeitgenössischen Philosophie unter den Titel Wirklichkeiten in denen wir leben gestellt hat (1981). Für die dort dokumentierten Ansätze einer „Phänomenologie der Geschichte“ nimmt sich die Cassirer-Gedenkrede wie die Erinnerung an eine in die Zukunft weisende Perspektive aus. Indessen, der Schein trügt, denn in einer für Blumenberg sehr typischen Ironie soll Cassirers Werk nicht in dem, was es erreicht hat, sondern durch das, was es verfehlt hat, Anlaß und Vorbild sein: „Was bei Cassirer zu lernen bleibt, steckt gerade in dem, was ihm nicht gelungen ist, was aber in seiner Lebensarbeit und über diese hinaus als drängender Impuls bemerkbar ist.“¹ Der in Cassirers Werk andrängende, kaum mehr denn als Impuls denkwürdige Anlaß, den Blumenberg aus gegebenem Anlaß hervorhebt, sei es, „Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften, der symbolischen Formsysteme nicht der Selbstbestätigung von Gegenwarten dienstbar zu machen.“ Der Impuls ist also weit entfernt von der expliziten Intention, die Blumenberg selbst hegt, aber Grund genug, von dem
Deutsche Bearbeitung eines Vortrags auf der von Rüdiger Campe veranstalteten Konferenz „Around Ernst Cassirer“ (Yale University, 8. Mai 2015), gedruckt in MLN 131 (2016), 738 – 753; für die Verbesserung des englischen Textes war und bin ich Erica Weitzman dankbar. Es war Zweck und Schwierigkeit in der Sache, ein neo-kantianisch-heideggersches Sprachmilieu in ein Englisch zu bringen, aus dem auch am deutschen Original-Wortlaut zu lernen ist. Das gilt selbst für Stellen, in denen Heideggers, Cassirers und Blumenbergs Texte an die Stelle des ins Englische Kommentiert-Übersetzten treten. Der Kommentar wird in der Gegenrichtung nicht überflüssig, ändert sich in der Anlage aber nicht unerheblich. Hans Blumenberg, „Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg“ (1974), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 163 – 172: 168. Zit. „Phänomenologie der Geschichte“ Einleitung, 6. https://doi.org/10.1515/9783110486377-007
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Vorhaben Cassirers, das de facto ein Mißlingen darstellt, nämlich dem Entwurf der symbolischen Formsysteme in historischer Absicht zu lernen. So ist es keine Überraschung, daß die Suche nach Verweisen auf Cassirer in Blumenbergs nicht weniger umfangreichem Werk enttäuschend verläuft. Blumenberg zitiert Cassirer gelegentlich, aber noch weniger als seine Vorläuferin Anneliese Maier oder seinen Förderer Hans Jonas, weniger auch als Alexandre Koyré, Thomas S. Kuhn oder sogar Claude Lévi-Strauss. Meistens fehlen mögliche oder erwartbare Hinweise auf Cassirer schlicht oder sind sie unbedeutend. In der langen Rezension, die Blumenberg dem Werk von Anneliese Maier zur Genese der modernen Wissenschaften, einer Domäne Cassirers, gewidmet hat, kommt der Name nicht vor und selbst in der Genesis der kopernikanischen Welt sind die Hinweise auf ihn selten, eher abweisend oder kritisch. Für das „Zutagetreten des Neuen“ war Maier wesentlich (so schwer sich Blumenberg ihr gegenüber auch tat), während Cassirers ideengeschichtliche Methode als konventionell und ohne Interesse erschien – wenn nicht zu vermeiden, so jedenfalls zu überwinden.² „Ernst Cassirers gedenkend“ war Blumenbergs Rede bei der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises für Philosophiegeschichte, den als erster, sechzig Jahre zuvor (1904), Cassirer erhalten hatte, der längst als der bedeutendere Name auf diesem Feld galt. Aus gegebenem Anlaß machte Blumenberg deutlich, was im eigenen Werk bis zu dem Punkt, nach Legitimität der Neuzeit (1966) und Genesis der kopernikanischen Welt (1972), in der Schwebe geblieben war, und nun, am Ende einer rückblickenden Auswahl an die Oberfläche treten sollte und im Verhältnis zu Cassirer – dem gescheiterten Projekt Cassirers, um genau zu sein – neu zu klären war. Rede und Anlaß sind prägnant, und die Rede selbst ist präzise genug, um die Differenz genauer zu erkennen, aus der Blumenberg eine Wende in seinem Werk herleitet, die von der Metaphorologie (1960) zur Arbeit am Mythos führt (1979) und eine Abgrenzung von Cassirer unausweichlich macht. Mehr als ein Jahrzehnt später, nach einem halben Dutzend weiterer großer weißer Bände, erschien dann kurz nach Blumenbergs Tod (1996) ein weiteres Büchlein gesammelter Essays (aus derselben Zeit der Neuorientierung), das sich wie ein Supplement zu Wirklichkeiten in denen wir leben (1981) liest; es steht unter dem durch und durch skeptisch anmutenden Titel Ein mögliches Selbstverständnis (1997). Die Skepsis saß tief; Blumenberg war sich schmerzlich bewußt, mißverstanden zu
Hans Blumenberg, „Die Vorbereitung der Neuzeit“ (Rez. Anneliese Maier, Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik I–V, 1949 – 58), Philosophische Rundschau 9 (1961/62), 81– 133: 91. Blumenberg nennt Pierre Duhem als Maiers Vorläufer und beschränkt sich methodisch (ohne Zitat) auf R.G. Collingwoods ‚Logik von Frage und Antwort‘, die dieser in seinem letzten, posthumen Buch An Autobiography (Oxford: Clarendon Press 1939) vorgeschlagen hatte, dt. Denken: Eine Autobiographie, mit Vorwort von Hans-Georg Gadamer (Stuttgart: Koehler 1955).
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werden und dieses deprimierende Selbstverständnis war mit dem, wie er fand, Mißerfolg des Genesis-Buchs nur noch gewachsen. „Cassirers gedenkend“ mag er begonnen haben, die avisierte Phänomenologie der Geschichte zu revidieren und neu zu situieren. Arbeit am Mythos war die eine Konsequenz.³ Ein mögliches Selbstverständnis enthält unter anderen ein Stück, „Affinitäten und Dissonanzen“, das die ältere Cassirer-Würdigung mit einem methodisch aufschlußreichen Kommentar versieht. Es stellt in aller Kürze, aber großer Klarheit Cassirers Debatte mit Heidegger in Davos dar, ein philosophisches Ereignis, wie es im 20. Jahrhundert noch keines (und kaum je eines wieder) gegeben hatte, die zweiten Davoser Hochschulkurse von 1929. Schon für den jungen Blumenberg war es, zitiert er den Bericht des Heidegger-Assistenten Otto Friedrich Bollnow, „geradezu die Verkörperung der philosophischen Situation dieser Zeit“ (eine Formulierung, die Karl Jaspers Titel Die geistige Situation der Zeit von 1932 bestätigt).⁴ Bemerkenswert ist auch hier, in der Verkörperung der Zeit, zunächst und zuvörderst Cassirers „drängender Impuls“, die Philosophie „nicht der Selbstbestätigung von Gegenwarten dienstbar zu machen“ (Wirklichkeiten 168). Denn wo Heidegger versagte und das Versagen zum epochalen Desaster gereichte, hatte Cassirer widerstanden, blieb er indessen unschlüssig in seinem anschließenden Werk, besonders auch in The Myth of the State (1946), einem „Gebiet (hebt Blumenberg hervor), für das die Philosophie der symbolischen Formen am wenigsten Vorkehrung getroffen hatte“ (Arbeit am Mythos 59). Das führt zurück auf Davos als die offen gebliebene Agenda, die nicht allein Cassirers, sondern auch Heideggers Versagen gegenüber Husserl betraf.
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (Frankfurt/M: Suhrkamp 1979), 177 ff. und 185 – 87. Ein vom Autor unveröffentlichtes letztes Kapitel handelt unter dem Titel Präfiguration: Arbeit am politischen Mythos, hg. Angus Nicholls, Felix Heidenreich (Berlin: Suhrkamp 2014), von der schwierigen Frage, wie und in welchem Umfang Politik von den ihr inhärenten mythischen Tendenzen getrennt werden kann und sollte. Die Herausgeber dieses ursprünglich unterdrückten letzten Teils der Arbeit am Mythos sprechen von einem „latent politischen Buch“ (103), dessen Zögern Cassirer gegenüber sich bereits im Hauptteil angekündigt hatte (Arbeit am Mythos 186) und im Leitartikel zu dem Mythos-Kolloquium der Poetik und Hermeneutik IV, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ (1971), vis à vis Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) manifest war, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 327– 405. Inzwischen ist Angus Nicholls in seinem Versuch, Blumenbergs Philosophie unter dieser Rubrik zu fassen, Myth and the Human Sciences: Hans Blumenberg’s Theory of Myth (London: Routledge 2015), zu dem Schluß gekommen „what he [Cassirer] did not succeed in achieving“ (101); leider erklärt diese Einsicht nicht, was in Davos geschah. Hans Blumenberg, „Affinitäten und Dissonanzen“ (undatiert), Ein mögliches Selbstverständnis (Stuttgart: Reclam 1997), 161– 168: 166/67.
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Dessen Erbschaft, die unter dem zeitgemäßen Titel der Krisis der europäischen Wissenschaften (1936) stand, war der Gegenstand von Blumenbergs (unveröffentlichter) Habilitationsschrift Die ontologische Distanz (1950) gewesen. Davos redefiniert also in „Affinitäten und Dissonanzen“ eine Aufgabe, die von Heidegger und Cassirer wie auch von Husserl hinterlassen lag.Worin sie bestand, drängt sich Blumenberg in diesem kurzen Stück „möglichen Selbstverständnisses“ auf, fand sich in Heideggers kontroverser Kant-Interpretation eher als in Cassirers nachkantischem Unternehmen einer Philosophie symbolischer Formen. Während die politische Hypothek von Davos ein entscheidender Punkt für Blumenbergs Philosophie blieb – Die Sorge ging über den Fluß (1987) bis zur Verführbarkeit des Philosophen (2000) – unterzieht Ein mögliches Selbstverständnis das im CassirerGedenken bemerkte und bemängelte Defizit den harten kantischen Standards von Heideggers Zurückweisung Cassirers in Davos. So unerwartet auf den ersten, weniger informierten Blick Heideggers Wende zu Kant erschien, war sie doch nicht neu, sondern längst auf dem Weg, vorbereitet in den Seminaren, die Sein und Zeit (1927) vorauslagen. Die Wende zu Kant und dem Problem der Metaphysik, vorgetragen in Davos und im selben Jahr veröffentlicht (1929), war ein offenes Geheimnis, das Cassirer unterschätzte oder ignorierte, um es dann in einer Rezension umso entschiedener abzutun (1931), weil er das Kant-Problem hinter sich wähnte und nur als eine unnötige, überholte Komplikation für den in Aussicht genommenen Schulkonsens mit Husserl wahrnahm. Es kurz zu machen: Kant und das Problem der Metaphysik ist nicht nur ein erster Schritt in Richtung des von Heidegger nicht publizierten zweiten Teils von Sein und Zeit; in Blumenbergs Einschätzung der in Davos ausgespielten „Affinitäten und Dissonanzen“ zwischen Cassirer und Heidegger wird auch klar, daß es Heideggers Kant-Lektüre ist, die Blumenbergs Metaphorologie (1960) als Alternative zu der von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen unbefriedigend gelösten Fragen hervorrief. Blumenberg distanziert sich vom Kampf um die philosophische Hegemonie der Schulen, Hamburg oder Freiburg, distanziert sich von den allfälligen Affinitäten, stimmt aber – Sympathie für Cassirer in Ehren – überein mit Heideggers (sei es noch so brüsker) Abweisung von Cassirers Annäherungsversuch. So zitiert Blumenberg in einem der nachgelassenen Fragmente zur Theorie der Lebenswelt (2000) zustimmend die berühmt gebliebene Kritik von Julius Ebbinghaus (Heideggers Freiburger Freund) an den Neukantianern: „daß sie die transzendentale Deduktion der Kategorien nicht verstanden hätten.“ Und er erläutert die Zustimmung mit der „zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger 1929 in Davos geführte[n] Kontroverse, die zumindest mit einem Punktsieg
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von Heidegger endete.“⁵ Es ist eine klare Antwort auf die Frage, wer und wo die Neukantianer waren in dieser Debatte. Cassirers Schulinteresse, läßt Blumenberg keinen Zweifel, war die Husserl-Verbindung, die Hamburg mit Freiburg verbinden sollte. In ihr interessierte Heidegger sich für Kant statt und über Husserl hinaus, fand er aber bei Cassirer kein Verständnis, weil wohl auch er „die transzendentale Deduktion der Kategorien nicht [mehr] verstand“ oder verstehen wollte. Dafür gab es Gründe, so daß man zugeben muß, daß es in Davos mehr zu bestaunen gab als „Momente großer Intensität“, worüber Teilnehmer und Presse berichteten, als wäre es das erfüllte Dasein gewesen, das man nach Heidegger schaudernd zitiert wie eine auf perverse Weise wahrgewordene self-fulfilling prophecy, deren dunkle Botschaft ihr ganzes Ausmaß in der Folge offenbaren würde.⁶ Heideggers Davoser Kant-Interpretation übertrifft den Neukantianer Cassirer in einem erstaunlichen Rollentausch und markiert dabei den Punkt, an dem Blumenberg verstohlen in die Debatte eintritt. Bei genauerem Hinsehen ist man versucht, die Seite in Heideggers Kantbuch zu identifizieren, von der aus das Projekt „einer Metaphorologie“ (Blumenbergs tentativer Titel) seinen Anfang nehmen wird (1958). Für Heidegger hat die Philosophie der symbolischen Formen Anteil an dem von Ebbinghaus diagnostizierten Niedergang des Kantianismus (nicht zu sagen der ‚Kantvergessenheit‘) und verkörpert sie in diskreterer Form auch für Blumenberg nur noch einen minimalen Stand an kantischer Reflexion. Aber auch Cassirer hat für Blumenberg einen Punkt, und zwar einen, der ihn am Ende mit Heidegger verbindet. Im Chor der Dissonanzen bleibt eine Affinität, gibt Blumenberg im Vorbeigehen zu bedenken, die der Rede wert ist, und die führt zu seinem eigenen Projekt. Dagegen führte die offizielle Cassirer-Heidegger-Differenz nirgendwohin bei Cassirer und in die tiefste Irre bei Heidegger.
Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, hg. Manfred Sommer (Frankfurt/M: Suhrkamp 2000), 113. Julius Ebbinghaus, „Kantinterpretation und Kantkritik“, DVjs 2 (1924), 80 – 115; Gesammelte Schriften III (Bonn: Bouvier 1990). Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland: Heidegger und seine Zeit (München: Hanser 1994), 191, der Zitate aus Kant und das Problem der Metaphysik zur Steigerung des Stimmungsbildes einbaut. Man vgl. mit der populären Darstellung des Gemeinplatzes das Vorwort zu einer strikt auf diesen Anlaß beschränkten Heidelberger Tagung von 1999, Cassirer—Heidegger: 70 Jahre Davoser Disputation, hg. Dominic Kaegi, Enno Rudolph (Hamburg: Meiner 2002), v–viii: v, wo Blumenbergs „Affinitäten und Dissonanzen“ als Bestätigung dessen Erwähnung finden, was ein Raymond Klibansky (dem der Band gewidmet ist) verabscheut. Kaegis eigener Beitrag bietet gleichwohl eine bestmögliche Übersicht („Davos und davor,“ 67– 105), bezieht sich auch auf Blumenberg in Kürze (68), beschränkt aber die Darstellung Heideggers allein auf die spezielle Husserlsche Problemfassung, „reine Seinsprobleme in Sinnprobleme, in Fragen nach dem Wie des Gegebenseins von Gegenständen, umzusetzen“ (90).
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Blumenberg ist in der Sache klar und kompromißlos, so daß sich fragt, warum ein kenntnisreicher Davos-Bericht wie der von Karlfried Gründer, der Blumenberg gut kennt, seinen Beitrag nicht mit einbezogen hat (die harsche, pflichtschuldige Distanzierung von Heidegger unbeschadet, die eine dauerhafte Ambivalenz in historischem Maskenspiel zu verstecken verstand). Dies, obwohl Wirklichkeiten und Selbstverständnis keine abseitigen Publikationen sind und bei sorgfältiger Lektüre jedem klar sein muß, wie genau, bis in das kleinste Detail, Blumenberg die Materie präsent ist.⁷ Ich wende mich diesen Details unter Vermeidung des Maskenspiels zu, die Gründer und auch Birgit Recki übersehen hat, obwohl ihr die Differenz von Cassirers und Blumenbergs anthropologischem Ansatz kein Geheimnis ist.⁸ Dieser Differenz hatte sich Blumenberg in zwei unvollendeten Studien aus den selben siebziger Jahren gewidmet, die Manfred Sommer unter dem Titel Beschreibung des Menschen erst sehr spät gesammelt hat (2007). Ich vernachlässige sie, weil Cassirer dort im Vergleich mit Husserl, Gehlen, Adorno schon keine größere Rolle (mehr) spielt, von dort also kein weiteres Licht auf Davos fällt.⁹
II. Metaphorologie in Heideggers Kant Im ersten Schritt stimmt Blumenberg mit Heideggers Beschwerde überein: Cassirers symbolische Formen suchten „den kantianischen Kategorienbegriff der Erkenntnistheorie zu einem Strukturbegriff der Kulturleistungen“ zu erweitern (Selbstverständnis 163), aber sie verallgemeinerten dabei Kant bis zur Unkenntlichkeit, so daß der transzendentale Status dieser Formen bedeutungslos wird
Karlfried Gründer, „Cassirer and Heidegger in Davos 1929“, Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. Hans-Jürgen Braun, Helmut Holzhey, Ernst Wolfgang Orth (Frankfurt/ M: Suhrkamp 1988), 291– 302: 298 ff. Birgit Recki, „Der praktische Sinn der Metapher: Eine systematische Überlegung im Blick auf Ernst Cassirer“, Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. Franz-Joseph Wetz, Herman Timm (Frankfurt/M: Suhrkamp 1999), 142– 163: 152. Vida Pavesich hat zurecht den anthropogenetischen Punkt in Blumenbergs Antwort auf Heideggers Herausforderung Cassirers hervorgehoben, „Hans Blumenberg’s Philosophical Anthropology: After Heidegger and Cassirer“, Journal of the History of Philosophy 46 (2008), 421– 448: 433: „how being-in-the-world is a result of […] pre-history“, wobei die Hervorhebung der Prähistorie besondere Beachtung verdient. Zur dubiosen Rolle, welche die Anthropologie nach Kant in Blumenbergs Cassirer-Kritik verglichen mit Adorno und Gehlen spielt, vgl. meine Skizze „Die Technik der Rhetorik: Blumenbergs Projekt“, Ästhetische und metaphorologische Schriften, Nachwort, 433 – 454: 451. Sowie zum weiteren Kontext Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831– 1931 (Frankfurt/M: Suhrkamp 1983), 273.
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und kaum mehr transzendental heißen kann; sie erscheinen leer, unbegründet, empirisch und historisch kontingent, ohne daß eine im strengen Sinne kategoriale Begründung in Sicht käme. Obwohl – fügt Blumenberg in verhaltener Ironie an – dem „verspäteten Metaphorologen“ nicht entgehen könne, daß in Heideggers Klage, in Cassirers Darstellung des „mythischen Denkens“ – Philosophie der symbolischen Formen II (1925) – fehle die „Durchsichtigkeit“ der „Fundamente“ (Sein und Zeit § 11), die Metapher vom Fundament wohl „nicht unbesehen“ gebraucht werde, sondern sogar auf die Kant eigene Präferenz für Architektonik in der Kritik der reinen Vernunft zurückgehe (Selbstverständnis 162). In einer historisch bemerkenswerten Gegenüberstellung sieht er Heidegger in dem Abendmahlsstreit, der just 400 Jahre zuvor (1529) stattgefundenen hatte, auf der Seite Luthers und seiner (katholischen) Insistenz auf der „Substanz als der ersten und einzigen Kategorie“, während er Cassirer, entgegen der Unterscheidung von Substanz- und Funktionsbegriff, in eine (nachgerade wunderbare) „funktionale Kategorienvermehrung der symbolischen Formen“ abgleiten sieht – unter liebenswürdiger Verklärung von Zwinglis symbolischer Auffassung (Selbstverständnis 166). Kant und das Problem der Metaphysik impliziert (Blumenbergs Vergleich könnte nicht hintergründiger sein) eine Revision der Unterscheidung der Begriffstypen Cassirers, die in Heideggers Kant-Interpretation des Fundaments qua Sub-stanz erhellt ist: Denn, so Heideggers Einsatz im Kantbuch, „Substanz besagt [bei Kant] als Notion zunächst nur: Zugrundeliegen (Subsistenz)“.¹⁰ Heidegger legt den größten Wert darauf, „daß Kants Lehre vom transzendentalen Schematismus keine barocke Theorie“ sei, und erläutert den historischen Seitenblick durch das, was er in einführender Absicht als „eine freilich nur kurze und rohe Interpretation des transzendentalen Schemas einer Kategorie, nämlich der Substanz“ ausgibt (Kant 106). Blumenbergs seinerseits hintergründige Replik folgt der Darlegung Heideggers auf’s Wort, bis in die wortgemäße Analyse hinein, welche die spätere Metaphorologie als Explikation von Heideggers Verfahren an dieser Stelle verrät. Man erkennt leicht in den symbolischen Formen Cassirers den metatranszendentalen Ansatz des „verspäteten Metaphorologen“, der sich in der Me-
Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (Bonn: Friedrich Cohen 1929), § 22, 101; zit. nach Bd. 3 der Gesamtausgabe (Frankfurt/M: Klostermann 1991, 2. Aufl. 2010), 107; dort im Anhang auch die „Davoser Disputation“. Die Übersetzung von Richard Taft, Kant and the Problem of Metaphysics (Boomington IA: Indiana University Press 1990), 76, trifft im grundlegenden Fall der ‚sub-stance‘ sehr glücklich auf die passende lateinische Vorgabe, zeigt sich deren weiterer Komplizierung dann aber weniger und weniger gewachsen; an diesen Stellen weicht die Darstellung im folgenden oft und deutlich ab von der amerikanischen Fassung. Die Verweise auf diese und andere Übersetzungen entfallen deshalb hier.
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taphorologie anstelle der verfehlten „funktionalen Kategorienvermehrung“ Cassirers der ersten, sei es noch rohen Bestandsaufnahme von Kants Fundamentalmetaphorik in Heideggers Kantlektüre folgen sieht. Tatsächlich wechselt Heidegger fast abrupt, mitten im § 22, „Der transzendentale Schematismus“, von der sorgsam Zeile für Zeile fortschreitenden Freilegung der Kant unterstellten metaphysischen Agenda zu einer grundlegenden Darlegung dessen, was er selbst zu Beginn des Paragraphen als die eigene Agenda angekündigt hatte: „In solcher Anschaulichkeit wird das begrifflich Gemeinte allererst vernehmbar“ (Kant 102). Der in der geduldigen Einfachheit stupende Nachvollzug des von Kant „begrifflich Gemeinten“ stößt an der zitierten Stelle auf einen sorgfältig heraus präparierten entscheidenden Punkt, der an dem den Grund legenden Beispiel Kants, dem „Schema der Substanz“ (Kritik der reinen Vernunft A143/B183), als „Darstellungsfunktion“ auftaucht (Kant 107).¹¹ Im Gegenüber von „Schema der Substanz“ und „Darstellungsfunktion“ nimmt Heidegger Cassirers alte Unterscheidung auf, wendet er sie nun aber gegen den Strich der späteren Philosophie der symbolischen Formen, deren zweiten Band er gerade rezensiert hatte (1925) und dessen dritter Band eben erschienen war (1929) – ohne erkennbare Reaktion von Cassirer in Davos.¹² Wenn es so etwas wie eine Reaktion gegeben hätte, hätte sie nicht weit von Husserl liegen müssen; indessen (kommentiert Blumenberg): „Die reflexive Implikation im Phänomenbegriff erlaubte oder erzwang (bei Heidegger) den Übergang zur Seinsfrage: vom bedeuten zum sein als einem Wechsel nicht nur des Aspekts, sondern der Dignität der Frageposition“ (Selbstverständnis 164). Letztere, die kantische Dignität, kann nicht völlig verdecken, was in Husserls phänomenologischer Erbmasse nicht nur „erlaubte“, sondern womöglich sogar „erzwang“, in der Pathosformel vom Sinn des Seins aber wohl eine Brentano verpflichtete Kompromißfomel Heideggers geblieben war, die den Wechsel Brentanos Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles (1862) zu Kants Problem der Metaphysik abdeckte.¹³ Das
Heidegger zitiert nach der Ausgabe von Raymund Schmidt in der Philosophischen Bibliothek, Kritik der reinen Vernunft (Hamburg: Meiner Verlag 1926), in deren Neuauflage von 1930 der Hg. unter anderen „M. Heidegger in Freiburg“ für Verbesserungen dankt (Vorrede, X). Vgl. Martin Heidegger, „Besprechung Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken“, Deutsche Literaturzeitung 5 (1928), Heft 21, 1000 – 1012: 1012 (in Anhang der Gesamtausgabe, 255 – 270). Bei aller ausführlicher Würdigung ist die Kritik kompromißlos und entbehrt ihrerseits nicht des Vorwurfs der Abhängigkeit vom Geist der Zeit: „daß eine noch so reiche und den herrschenden Bewußtsein entgegenkommende Darstellung der Phänomene des Geistes nie schon die Philosophie selbst ist“ (Kant, Anhang 270). Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Pfullingen: Neske 1959), 92, bietet eine biographische Notiz zur ersten Bekanntschaft mit Franz Brentanos Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Freiburg/ Breisgau: Herder 1862). Vgl. die Ausarbeitung dieser Anre-
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Sein ist die Antwort, die Heidegger auf Aristoteles bei Kant findet. Enter Blumenberg. „Substanz besagt als Notion zunächst nur: Zugrundeliegen (Subsistenz)“, befand Heidegger, und der „verspätete Metaphorologe“ erkannte hier seine Mission, die nicht die Heideggers ist, im Gegenteil, aber vom selben „Erkenntnisinteresse“ angetrieben ist (ein Ausdruck Kants, dem Habermas zu der selben Zeit einige Prominenz verschaffte), nämlich einer „Phänomenologie der Geschichte“ mit anderem Ausgang. Ihr Schema [fährt Kant fort und führt Heidegger aus] muß die Vorstellung des Zugrundeliegens sein, sofern es sich im reinen Bilde der Zeit darstellt. Nun ist die Zeit als reine Jetztfolge jederzeit jetzt. In jedem Jetzt ist es jetzt. Die Zeit zeigt also die Ständigkeit ihrer selbst. Die Zeit ist als solche „unwandelbar und bleibend“, sie „verläuft sich nicht“ (A143/ B183).
Heidegger erläutert den metaphorologischen Befund der Kategorie der Sub-stanz in den Varianten des Vor-stellens und des Dar-stellens (als Modi des sub-stare der Sub-sistenz): Das „reine Bild der Zeit“ ist rein, sofern es (genitivus subjectivus) die Zeit, die es ist, zur Anschaung bringt, nämlich (Blumenberg) „Bedeutungen auf Anschauungen zurückführt [um sie] dadurch [Husserls Hypothek] eindeutig zu machen“ (Selbstverständnis 164). Die Sache mag klar und Heideggers Erhellung Kants geradezu trivial sein, gegenüber der Reduktion Husserls als spät-reformatorischem Impuls zu literaler Eindeutigkeit (im zitierten Abendmahlsstreit) ist das Interesse Blumenbergs an der über Kant verlaufenden metaphorologischen Intuition Heideggers bemerkenswert. Dieser verweist das Projekt der metaphorologischen Analyse, das Blumenberg bei ihm vorgeprägt findet, weiter an Kant. Es „enthüllt“ (Heideggers Wort) eine unerkannte, tiefere sprachliche Bewandnis in der transzendentalen Wende Kants. Baumgarten auf der ersten Seite des Kantbuchs ist dafür ein erster Indikator: „Der Gesichtskreis, in dem Kant die Metaphysik sah und innerhalb dessen seine Grundlegung ansetzen mußte [setzt Heidegger an], läßt sich im Rohen durch Baumgartens Definition kennzeichnen […].“ (Kant 5) Was der spätere Metaphorologe als Methode von Heideggers Kant-Lektüre – met-hodos in der aristotelischen Anspielung des Titels unterwegs zur sprache (1959)¹⁴ – im Nachhinein seiner Verspätung bestätigt findet in Davos, ist der gung in dem sogenannten Natorp-Bericht (1922), der aristotelischen Vorarbeit für Sein und Zeit (1927), gedruckt unter dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (1922) als Anhang von Gesamtausgabe 62 (Frankfurt/M: Klostermann 2005), 345 – 399: 371– 375. Vgl. Walter A. Brogan, Heidegger and Aristotle: The Twofoldness of Being (Albany NY: SUNY Press 2005), 80.
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Grund sowohl, einerseits, für Cassirers Mißlingen, aber auch, andererseits, für Heideggers Sackgasse der späteren Seins-Philosophie. Denn diese stellt sich letzten Endes als ein Erbe Kants heraus, als eine problembelastete Hypothek der Metaphysik, die sich als Problem – Kant und das Problem der Metaphysik lautet treffend Heideggers Titel – schon abzeichnete im Einfluß eines härteren KantKritikers, in Emil Lasks ambitionierter Logik der Philosophie (1910), die tiefen Eindruck auf den jungen Heidegger gemacht hatte. So befand Lask über-kritisch, was Heidegger als Kants Problem der Metaphysik erkennt: „Er [Kant] begnügt sich damit, daran zu appellieren, daß der transzendentallogische Gehalt eben bloße logische Funktion, bloße Form ist“.¹⁵ Die Crux, die der junge, seiner Verspätung bewußte Blumenberg wahrnahm, hatte bereits auf der selben Heidegger-Seite des Kantbuchs manifeste Züge angenommen: Die Zeit ist als solche „unwandelbar und bleibend“, sie „verläuft sich nicht“ (A143/B183). Schärfer gefaßt: die Zeit ist nicht ein Bleibendes unter anderen, sondern sie gibt gerade auf Grund des genannten Wesenscharakters – in jedem Jetzt jetzt zu sein – den reinen Anblick von so etwas wie Bleiben überhaupt. Als dieses reine Bild [unmittelbarer reiner „Anblick“] stellt sie das Zu-grunde-liegen [meine Verdeutlichung] in der reinen Anschauung dar. (Kant 107)
Blumenberg erinnert in „Affinitäten und Dissonanzen“ treffend, was Heidegger intuitiv, aber effektiv von Cassirer trennt, die „Selbstdefinition der Phänomenologie, [symbolisch gegebene] Bedeutungen auf Anschauungen zurückzuführen“, und er schließt mit der [wie schon zitierten] „reflexiven Implikation des Phänomenbegriffs“, die den „Übergang zur Seinsfrage […] erlaubte“, wenn nicht sogar „erzwang“ (Selbstverständnis 164). Kurz, Blumenberg identifiziert in der trans-
Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre: Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form (Tübingen: Mohr Siebeck 1911), 262/263. Die erste Hochschätzung Lasks steht schon in den Schlußbemerkungen von Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Dun Scotus (1916), Frühe Schriften (Frankfurt/M: Klostermann 1974), 131– 353: 348, wo das Argument des Kantbuchs explizit angedeutet ist. Das ist wenig bemerkt und kaum kommentiert worden, so kurz angedeutet bei Hanspeter Sommerhäuser, Emil Lask in der Auseinandersetzung mit Heinrich Rickert (Berlin: de Gruyter 1965), und in der Rez. von Rudolf Malter (1969), Materialien zur Neukantinanismus-Diskussion, hg. Hans-Ludwig Ollig (Darmstadt: WBG 1987), 87– 104: 95. Für die Lektüre Blumenbergs würde Lasks Plotin (260 ff.) als ein frühes Modell von Kategorien-Spekulation (267) einschlägig sein. So schon in den folgenden Jahren die gründliche Plotin-Monographie (die Heideggers Aufmerksamkeit wohl kaum entgangen ist) von Fritz Heinemann, Plotin: Forschungen über die plotinische Frage. Plotins Entwicklung und sein System (Leipzig: Meiner 1921), die der Kritik am Neokantianismus in dessen Dissertation folgt, Der Aufbau der kantischen Kritik der reinen Vernunft und das Problem der Zeit (Giessen: Töpelmann 1913).
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zendentalen Radikalisierung von Kants Kategorien, die mit der Problematisierung des transzendentalen Status der Kategorien in Raum und Zeit als Formen der Anschauung beginnt, eine sprachlich manifeste Schicht, die bei Kant auch selbst schon mit reflektiert ist und in der Darstellung in Anspruch genommen wird, von Heidegger aber immer noch – auf Grund der Unterstellung einer in sich selbstevidenten ‚Lebenswelt‘ – als eine Sphäre reiner Evidenz aufgefaßt wird: eines Typs von Evidenz, der Cassirers Interesse an der Phänomenologie wohl motiviert hatte, im Blick auf seine ‚symbolischen Formen‘ aber letzlich enttäuschen mußte.
III. Kants ‚Schema-Bild‘ Das buchstäbliche Zu-Grunde-Liegen der „reinen Anschauung“, das sich bei Kant metaphorisch im „Bild“ – genauer bei Heidegger dem „Schema-Bild“ (Kant 102) – ausgedrückt findet und dar-stellbar ist in der lateinischen Dreifaltigkeit von ponere als Setzen, Stellen, Legen (Kant 107), hat in dem Begriff der Substanz einen sprachlich manifesten Grund, der Evidenz transzendental begründet und in der sprachlichen Form seiner Vorgegebenheit bei Kant mit reflektiert ist, von Heidegger aber wie selbstverständlich – im Selbstverständnis der Phänomenologie Husserls – weitergeschrieben wird. Diese bei Kant (das ist Heideggers Entdeckung hier) mit gedachte, aber auch bei ihm nicht voll mit thematisierte transzendentale, quasi avant la lettre ‚metaphorologische‘ Vorstruktur der Darstellung findet bei Cassirer keine Beachtung und ist im Konzept der symbolischen Formen glatt übersprungen. Sie taucht bei Heidegger aus dem Untergrund der Lektüre auf, um später von ihm als Widerspiel der Aletheia-Struktur in ein Struktur-Bild gebracht zu werden, dem Schema-Bild Kants entsprechend, während sie bei Cassirer in der grundlosen Kontingenz der kulturellen Symbole verbleibt, deren ‚Prägnanz‘ als ein Nebeneffekt von Rezeption Arbeit am Mythos verlangt.¹⁶ Sie macht die Spur der ‚Metakinetik‘ zum methodischen Kern der Metaphorologie, wo das Konzept Eine konzise Hintergrund-Skizze findet sich in Blumenbergs essay „The Life-World and the Concept of Reality,“ übers. von Theodore Kisiel, Life-World and Consciousness: Essays for Aron Gurwitch, hg. Lester E. Embree (Evanston IL: Northwestern University Press 1972), 425 – 444 dessen dt. Vorlage verloren scheint. Der Gurwitch-Bezug ist interessant über das Werk von Kurt Goldstein (Cassirers Neffe) Der Aufbau des Organismus (1934), Neuausgabe von Thomas Hoffmann, Frank W. Stahnisch (Paderborn: Fink 2014); Neuauflage der amerikanischen Ausgabe The Organism (1934) with a preface by Oliver Sacks (New York: Zone Books 1995). Über Goldstein, Gurwitch und Cassirer, insbesondere Goldstein als Quelle für Cassirers ‚Prägnanz‘ in der Philosophie der symbolischen Formen III (1929), siehe Stephanos Geroulanos und Todd Meyers, Experimente im Individuum: Kurt Goldstein und die Frage des Organismus (Berlin: August Verlag 2014), 94 ff.
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des Grundes als metakinetische Grundbewegtheit an die Stelle des stabilen transzendentalen Fundaments tritt und auf Heideggers Lektüre der entscheidenden Rolle der kinesis in Aristoteles’ Physik zurückführt.¹⁷ Die methodische Konsequenz für Kant wie auch für Blumenbergs eigenes an Kant orientiertes Projekt liegt in Davos, in Heideggers Kant-Lektüre. Dort hatte Heidegger in der Exposition seines § 9, „Die Aufhellung von Raum und Zeit als reinen Anschauungen“, mit der Lichtmetaphorik des Aufhellens, Blumenbergs erstem protometaphorologischem Projekt des „Lichts als Metapher der Wahrheit“ (1957) vorgearbeitet.¹⁸ „Aufhellung“ ist ein mit Bedacht von Heidegger un-terminologisch gehaltener Zentralbegriff der Analyse, der dem kategorialen Paar von „Raum und Zeit als reinen Anschauungen“ gemäß ist, nämlich der Anschauungsfunktion der kategorialen Bestimmtheit in Raum und Zeit als dem, was sie kategorisch macht (Kant 44). Von vornherein ist die sprachliche Bindung der kategorisch begründeten, im aristotelischen Sinne kategorischen Evidenz in den Blick genommen: Es gilt, zunächst in bezug auf den Raum zu zeigen, wie er sich in der endlichen Erkenntnis von Seiendem bekundet, und worin demgemäß [dem Raum gemäß, der sich bekundet und dabei sich als erkennbar zeigt] sein Wesen allein darstellbar ist (Kant 44).
Als Kategorien ist Raum und Zeit eine sprachliche Rücksicht auf Darstellbarkeit eigen, die „sich bekundet“ und in der sprachlichen Form des Bekundens Blumenbergs Projekt begründet, so wie sie wenig später auch Derridas Kritik des Logozentrismus inspirieren wird.¹⁹ Die kategoriale Rolle des Raums zeigt sich im Vollzug, so wie Licht sich zeigt in dem Licht, das es ist. Das geschieht offenkundig, aber unthematisch. Es ist sprachlicher Natur, derzufolge es sich als darstellbar „bekundet“ (Kant 44): es braucht ein Vernehmen, das neben oder in, ja trotz der Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), 16, Kommentar 272 (dort weitere Hinweise). Den Ausdruck ‚Metakinetik‘ hatte Blumenberg früh, in Dissertation und Habilitationsschrift verwendet (beides unveröffentlicht); er taucht in der Metaphorologie zum letzten Mal auf und verschwindet mit der Aufgabe/ Umwandlung des Projekts. Die prägnante Ausarbeitung der Aristoteles-Interpretation von Heideggers Natorp-Bericht (1922) war noch nicht wiederentdeckt und veröffentlicht (1987). Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit“ (1957), Ästhetische und metaphorologische Schriften 139 – 171. Vgl. Jacques Derridas, „ousia et grammè: note sur une note de Sein und Zeit“ (1968), Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 31– 78: 56, Anm. 18; dt. Randgänge der Philosophie (Frankfurt/ M, Berlin, Wien 1976), 38 – 87: 63, Anm. 1 (insgesamt zugleich auch ein Kommentar des Kantbuchs). Derridas quasi metaphorologische Implikationen (dem Begriff konnte er selbst nichts abgewinnen) haben bei Rodolphe Gasché verspätete Beachtung gefunden, „The Eve of Philosophy: On Tropic Movements and Syntactic Resistance in Derrida’s White Mythology,“ International Yearbook for Hermeneutics 13 (2014), 1– 22.
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unthematischen Sichtbarkeit die sprachliche Seite des Zur-Kenntnis-Kommens bezeugt. In der unhintergehbaren Verschränkung der Sinne des Sehens und Hörens stellt sich die Sprache als das Medium heraus, das auf eine paradoxe Weise die kategorisch transzendentale Transparenz thematisch macht. In ihr tritt für Kant wie für Heidegger das Sein als die sprachliche Grundlage dessen auf, was ist. Ernst Tugendhat hat in stetem Widerspruch zum aufgesetzten Pathos der Seinsgeschichte des späten Heidegger, die Blumenberg als eine zur Grille geratene Hypothek Kants erweist, die sprachanalytischen Präsuppositionen erhellt, die dabei irreführend im Spiel sind.²⁰ Die im Sprachlichen verwickelte Sachlage wird von Heidegger im § 9 entflochten und unter der scholastischen Bezeichnung der repraesentatio singularis verhandelt: „Und zwar ist der Raum nach dem zuvor Gesagten das in einer reinen Anschauung Angeschaute“ (Kant 46). Das grammatisch manifeste Verhältnis von (reiner) Anschauung und Angeschautem entspricht dem ins Angeschaute eingegangenen, in ihm mit dar-gestellten, manifesten „Bild“ der im bloßen Schema „reinen“ (nur insofern „rein“ zu nennenden) Anschauung. Denn rhetorisch gesprochen ist das Echo des Begriffs Anschauung in der Substantivierung des Angeschauten die treffende, seit dem Barock (das Heidegger nicht von ungefähr abwehrt) literarisch ausgeprägte Bild-Figur der von Kant beschriebenen Funktion der Schemata. Der Raum als solcher dient Heidegger, nicht unähnlich Kants absolutem Raum in Cassirers Diskussion Einsteins (1921), als das kognitive Modell des Seins als solchen; Cassirer hätte das merken können (aber es ist unklar, ob Heidegger erwartete, daß er es merkte).²¹ Wichtiger als die Kant-Reminiszenzen des frühen 20. Jahrhunderts ist die von Heidegger betriebene Revision der phänomenologischen Voraussetzung, die Blumenberg als erkenntnisleitendes Problem übernimmt, denn es ist hier, wo das Konzept der von ihm entdeckten und deshalb so genannten absoluten Metapher seinen Ursprung hat (Paradigmen 14). Heidegger hatte das Problem am Ende des § 9 auf den folgenden Stand gebracht: „Das in der reinen Anschauung Angeschaute steht ungegenständlich und überdies unthematisch in einem Vorblick“ – einer proto-grammatischen Vorstruktur des Blickens, in welcher die „reine Anschauung“ als ein „ursprünglich Vorgestelltes“ das hervorbringt, was sie wahrnimmt, „d. h. [schließt Heidegger] wie sie ihr Angeschautes entspringen läßt“ (Kant 47) – bzw. (das ist die Pointe, die Heidegger als „Ursprung“ dramatisiert), wie sie das in der Anschauung ursprünglich Wahrgenommene als Angeschautes produziert. Die Dramatisierung Ernst Tugendhat, „Heideggers Seinsfrage“ (1991), Philosophische Aufsätze (Frankfurt/M: Suhrkamp 1992), 108 – 135. Die Frage, wie Heidegger Aristoteles’ Kategorien bei Kant wiederbelebt, hatte dieser in der Kritik der reinen Vernunft A 77/ B 103 elegant umgangen. Vgl. Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (Berlin: Bruno Cassirer 1921), 58, 83.
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verschleift die Differenz der mimetischen Angleichung des Erhellens an den Vollzug der Anschauung, wobei die Erhellung des transzendentalen Status’ der Kategorien an die Grenze stößt, innerhalb derer die Anschauung der transzendentalen Logik unterworfen bleibt bei Kant, nicht weiter mit ihr konkurrieren kann, und also der „Einsicht“ auch Heideggers, daß „die Kategorie weder ein Problem der transzendentalen Ästhetik noch der transzendentalen Logik“ allein sein kann (Kant 66). Indessen, beklagt Heidegger: „Kant bleibt diese Frage fremd.“ Der „unvergleichliche Vorrang vor der Ästhetik“, den die Logik erhält und den Heidegger momiert, steht und bleibt im Gegensatz zu der Tatsache, daß „andererseits gerade die Anschauung das Primäre in Ganzen der Erkenntnis darstellt.“ So nimmt es kein Wunder, daß Baumgarten den § 15 unerkannt heimsucht und nicht nur auf der ersten Seite, sondern fortwährend den Lauf der Untersuchung begleitet, ohne allerdings konklusiv zu werden, als Heidegger im § 22 zum „transzendentalen Schematismus“ befindet, daß „ein weiteres Vordringen“ für Kant zwar „möglich“ gewesen sei, aber eine „Antwort hierauf jetzt noch nicht gegeben werden“ könne (Kant 106).²² Spätestens hier, an der ausstehenden, nicht zu gebenden Antwort setzt Blumenberg ein, und Die ontologische Distanz (wiewohl der Krisis Husserls gewidmet) ist ein Titel, mit dem die Habilitationsschrift 1950 auf die Provokation von Heideggers Kantbuch (als der entscheidenden Provokation Husserls) antwortet, nämlich: „Der transzendentale Schematismus ist sonach der Grund der inneren Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis“ (Kant 108). Die Davoser Disputation hatte immerhin mit dem Einverständnis Cassirers begonnen: „Kant ist von Heideggers Problem ausgegangen“ (Kant, Anhang 277). Wie Heidegger andeutet, war es die von Baumgarten hinterlassene, von Kant nicht aufgelöste, sondern nur umgangene, von Cassirer vermiedene Hypothek. Hinter Blumenberg in Davos steht Baumgarten in Davos.
IV. Baumgarten in Davos Auch in der Metaphorologie, in der Blumenberg einige der überschüssigen Fäden seiner Habilitationsschrift neu zusammenflicht, spielt Baumgarten eine hintergründige (und wie bei Heidegger halb verdeckte) Rolle, die mit der programmatischen Kant-Anknüpfung allein nicht erledigt ist (Paradigmen 16). Baumgarten ist einer der wenigen, aber markanten Anlässe, an dem Cassirer explizit zu Wort
Vgl. Benno Erdmann, Die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft: Eine historische Untersuchung, Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Nr. 2 (Berlin: Königliche Akademie der Wissenschaften 1917), 54 ff.
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kommt, freilich wieder hinsichtlich nur dessen, „was zu lernen bleibt“. Es ist eher eine Nebenbemerkung, in der Baumgarten bescheinigt wird, er habe „die vermeintliche Systematik“ – im Kapitel „Hintergrundmetaphorik“ – der „ut pictura poesis in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts mit ihrer Lieblingsrede von den poetischen Gemälden […] durchschaut“ (Paradigmen 98/99). Es ist das kein anderer Topos als der, auf dem Kants Anschauung spielt. Blumenberg zitiert zu dem Zweck Cassirers Philosophie der Aufklärung (1931), deren Baumgarten-Kapitel (das letzte seines vielleicht besten Buches), kaum ohne den Eindruck des zur selben Zeit rezensierten Kantbuchs von Heidegger zu denken ist und die derzeit beste Darstellung der von Kant vernachläßigten Aesthetica Baumgartens bot. Angesichts der gleichzeitigen Heidegger-Rezension, der man die Enttäuschung ansieht, wundert es dann wenig, daß in Cassirers Baumgarten-Kapitel von Heidegger nicht weiter die Rede ist.²³ Allerdings bleiben offensichtliche Berührungspunkte, die in der Natur der Sache liegen, so in beider Einschätzung des transzendentalen Charakters von Baumgartens ästhetischer Innovation: einer Philosophie, in der – Kant „fremd“ bleibend – „Anschauung das Primäre im Ganzen der Erkenntnis darstellt“ (Kant 66), weil „Erkennen primär […] Anschauen“ ist (Kant 21). Diese Priorität, die Cassirer in stiller Übereinstimmung mit Heidegger herauskehrt, ist alles andere als unbestritten bei Kantianern, angefangen bei Kant selbst – eine schwache Ergänzung bestenfalls, und selbst für Heidegerianer von allenfalls historischem Interesse.²⁴ So empfahl der Hegelianer Dieter Henrich, kein Heidegger Enthusiast, aber lucide in seiner Rezension der Neuauflage des Kantbuchs (1952), eher die Wolff-Crusius Kontroverse als historischen Hintergrund und überging die Baumgarten-Referenzen.²⁵ Indessen kann Cassirer selbst schlecht übersehen haben, was es mit Baumgarten in Heideggers Kant auf sich hat. War sein Baumgarten-Kapitel ein Zufall oder enthält es eine Antwort auf Davos? Schwer zu sagen, aber Blumenberg ist ein scharfer Beobachter. Er stimmt mit Cassirer überein, zitiert, daß Baumgarten das ut pictura „Mißverständnis“ als „metaphorisch“ durchschaut habe.²⁶ Ernst Cassirer, „Kant und das Problem der Metaphysik: Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation“, Kant-Studien 36 (1931), 1– 26. Vgl. Dorothea Frede „Die Einheit des Seins: Heidegger in Davos“ über Cassirers Reaktion (Kaegi/ Rudolph 2002, 156 – 182). Günter Figal, Erscheinungsdinge (Tübingen: Mohr Siebeck 2010), 50. Figal, letzter Nachfolger Husserls und Heideggers auf dem Freiburger Lehrstuhl, führt das Kantbuch nicht einmal in der Bibliographie. Dieter Henrich, „Über die Einheit der Subjektivität“, Philosophische Rundschau 3 (1955), 28 – 69; engl. The Unity of Reason: Essays on Kant’s Philosophy (Cambridge MA: Harvard University Press 1994), 17– 54: 23 ff. Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung (Tübingen: Mohr Siebeck 1932), 470. Vgl. mein Kap. „Wie die Morgenröthe: Baumgartens Innovation“ (2002), in Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp,
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Aber es bleibt unklar, wieweit Cassirer mit dieser Einsicht den innovativ transzendentalen Anteils von Baumgartens Ästhetik im Auge hat. Eines Anteils, der nach Cassirer wie nach Heidegger „radikaler“ ist, als es Kant in seinem pointierten Gebrauch des Worts „radikal“ – seiner lateinischen Wurzel, radix, entsprechend – riskieren wollte. Kant hielt sich in der bekannten Fußnote zu Baumgarten an den klassischen Gemeinplatz der „Alten“ von „aisthetà kai nóeta“ (A 21/22, B 35/36). Die Frage, auf die Baumgarten nach kantianischer Schulmeinung eine mit Kant veraltete Antwort parat hatte und zu der Heidegger in Davos mit Verweis auf Baumgarten zurückkehrte, ist von Michael Friedman in seinem Buch über die neokantianischen Strömungen in der Philosophie der Zeit treffend zusammengefaßt worden: Kant [like Baumgarten] sets a not yet conceptualized manifold of sensations over and against the pure forms of logical thought. The problem of the categories is then precisely to explain how such pure forms of thought apply to the manifold of sensation so as to make the object of cognition possible in the first place. For Kant himself, this application of the forms of thought to the given manifold of sensations is itself only possible on the basis of an intermediate structure, the pure forms of sensibility, through which, in particular, the pure forms of thought acquire a spatio-temporal and therefore mathematical content.²⁷
Den Tenor von Blumenbergs Skizze bestätigend läßt Friedman keinen Zweifel, „where the true radicalism of Heidegger’s interpretation emerges […] Kant’s introduction of the so-called transcendental schematism […] has the effect of dissolving both sensibility and the intellect […] in a common root, the imagination, whose ultimate basis […] is temporality.“ Was bleibt als Problem und der Erkenntnis allererst (wieder) zugänglich zu machen ist, betrifft die „allgemeine Wurzel“ der Anschauung, der gegenüber Kant der Logik den kritischen Vorrang gibt trotz der offenbaren natürlichen Priorität, die der Ästhetik eigen scheint.²⁸ Die
Christoph Menke, Baumgarten-Studien: Zur Genealogie der Ästhetik (Berlin: August Verlag 2013), 28 ff. Die kürzlich aufgefundene „Disposition“ der Philosophie der symbolischen Formen von 1917 (Beinecke Rare Book Library, New Haven) zeigt den Weg von den Funktionsbegriffen zum Symbol, den Arno Schubachs Präsentation des Texts nachzeichnet, Die Genese des Symbolischen: Zu den Anfängen von Cassirers Kulturphilosophie (Hamburg: Meiner 2016), 76. Michael Friedman, A Parting of the Ways: Carnap, Cassirer, and Heidegger (Chicago IL: Open Court 2000), 32 (seine Hervorhebung); leider bezieht auch Friedman Blumenberg nicht in seine Darstellung ein. Der Punkt ist weiterentwickelt worden unter dem hier besonders treffenden Titel Was bleibt? (von Kants Philosophie) von Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt? (Hamburg: Meiner 2010), 46 ff. Brandt sieht die Stufen von Kants Anschauung analog zu der juridischen Unterscheidung von status naturalis und status civilis. Er verweist auf den zu Unrecht in Vergessenheit
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Evidenz der „vermittelnden Stuktur“ (als „intermediate structure“ bei Friedman zurecht hervorgehoben) oder, besser, die offenbare Unmittelbarkeit des Funktionierens dieser vermittelnden Struktur ist zufolge der nach-kantischen Einsicht Heideggers (das übersieht Friedman) sprachlich gegründet. Blumenberg folgt Husserls Krisis-Abhandlung (1936), in der die sprachliche Natur der vermittelnden Schicht in der Tiefenstruktur des historisch Sedimentierten liegt.²⁹ Im neuen Lexikon des von Saussure begründeten, zu der selben Zeit in Entstehung begriffenen Strukturalismus – genauerhin des von dem Husserl-Schüler Roman Jakobson aus der Diachronie in die Synchronie linguistischer Akte projezierten Sprachgebrauchs – garantiert das Geschichte des sprachhistorisch Sedimentierten die dauerhafte Verflechtung von Empfindung und Denken in der Anschauung selbst. Dem entspricht in Davos, ganz auf der Höhe der Zeit, Heideggers Kant-Lektüre.³⁰ Die Rede vom „Ursprung“ am Ende des § 9 definiert den Ursprung um; sie eröffnet die Frage nach Ursprüngen neu und anders als Cassirer. Für und an der Stelle von Blumenberg antwortend, dessen Metaphorologie (1960) mit der strukturalistischen Reformulierung des Problemstands zusammenfällt, ihn aber leider nicht explizit einbezieht, ist Zeit wie bei Kant und Heidegger kein Horizont, den es, Gadamers Wahrheit und Methode vom selben Jahr beizuziehen (ebenfalls 1960), als Zeitlichkeit immer neu zu verschmelzen gilt. Weder um Zeit als solche, noch um Sprache als solche geht es, sondern um sprachlich geronnene, im Gerinnen sedimentierte Zeit, und also keines Seins als solchen, sondern dessen, was je gesagt wurde in der mannigfaltigen Grammatik des Verbs „sein“ und seiner syntaktisch ausgeprägten Muster.³¹ Es ist die Saussure gefallenen Artikel von Klaus Reich, „Zum Problem der Anschauung als Erkenntnisquelle“, Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (1947), 580 – 586. Für die Differenzierung und semantische (implizit metaphorologische) Konsequenzen ist die Darstellung von Michael Wolff erhellend, „Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie: Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der reinen Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori“, Kant-Studien 100 (2009), 285 – 308: hier 301. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936), Husserliana VI, hg.Walter Biemel (The Hague: Nijhoff 1954, 2. Aufl. 1962), 73. Elmar Holenstein, Jakobson ou le structuralisme phénoménologique (Paris: Éditions Seghers 1975), wo die Bezüge für den frühen Husserl behandelt sind, aber für den späten Husserl leider fehlen. Im Resultat einschlägig Roman Jakobson, „Closing Statement: Linguistics and Poetics“, Style in Language, hg. Thomas A. Sebeok (Cambridge MA: MIT Press 1960), 350 – 377: 358.Vgl. dazu Stephan Grotz, Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson (Hamburg: Meiner 2000), 138. Vf. „Unbegrifflichkeit: Die Aufgabe von Seinsgeschichte“ (2002), Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg (Berlin: Kadmos 2004), 73 – 82; frz. Erstfassung „L’inconcéptualité de l’être,“ übers. von Jean Greisch, Archives de Philosophie 67 (2004), 269 – 278. Andeutungsweise „Metaphora dis/ continua“ (1996), Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt: Suhrkamp 2002), 73,
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verdankte, in der Differenz von Diachronie und Synchronie grundsätzlich neu gefaßte historische Gegebenheit der proto-syntaktischen Verflochtenheit von Sinnlichkeit und sprachlicher Form in der ästhetischen Erfahrung, welche die scheinbare Kontingenz der symbolischen Formen epistemologisch verankert. Der „Chiasmus“ von Leib und Sprache, der in der Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty (1945) entdeckt und beschrieben wurde (von Blumenberg spät rezipiert), kam erst zur entscheidenden Prominenz in der auf Derridas Heidegger-Kritik folgenden Analyse-Form der Dekonstruktion.³² Konstitutiv als Figur der Verflechtung war der Chiasmus in Baumgartens Aesthetica, wo er an Horaz’ Carmen saeculare, dem Monument seiner immerwährenden Poetik – aere perennius – illustriert war: béata pléno/Cópia córnu [beata copia pleno cornu] (§ 118).³³ Der Chiasmus von Sinnlichkeit und Sprache, den Baumgarten als transzendentales Paradigma entdeckt hat, verankert die kontingente Grundlosigkeit der symbolischen Formen samt ihres Bedarfs an Prägnanz und Gestalt, an denen Cassirers Symbolischen Formen liegt (aber auch Heideggers „Ursprung“). Er illustriert ein Muster untergründiger Metakinetik, die Blumenberg den aristotelischen Problemata verdankt und ihrer Wiederaufnahme in dem Problem der Metaphysik, das Heidegger bei Kant ausmachte, so wie Blumenberg nach ihm Kants „Symbol“ (Paradigmen 15). Es reduziert seit der Renaissance (einschließlich des von Heidegger für Kant abgewiesenen Barock) das erneuerte Wunschdenken nach einem metaphysischen Sein durch ein alles andere als irrationales, im Gegenteil durch und durch erkenntnis-pragmatisches Krisen-Management dessen, was es doch immer „noch zu sagen gibt“ (Arbeit am Mythos 689, letzte Sätze). Auf Husserls verwehten Spuren raffiniert Blumenberg Cassirers Bestandsaufnahme des in Kontigenz Unfundierten zu einem historisch reflektierten „Kontingenzbewußtsein“ all dessen, was es zu denken und denkend
wo im Anschluß an Tugendhat das Konzept der Seinsgeschichte in „Gesagtseinsgeschichte“ übersetzt ist. Wegweisend bei Rodolphe Gasché, „Deconstruction as Criticism“, Glyph 6 (1979), 177– 215, neuerlich ausgearbeitet von Leonard Lawler, „Verflechtung“, Introduction, Husserl at the Limits of Phenomenology, hg. Leonard Lawler und Bettina Bergo (Evanston IL: Northwestern University Press 2002), xiv und xxxiv. Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik (Aesthetica I–II, 1750 – 58), übersetzt von Dagmar Mirbach (Hamburg: Meiner 2007), I: 59. Zur Renaissance-Vorgeschichte des Motivs siehe Terence Cave, The Cornucopian Text (Oxford: Clarendon Press 1979), leider ohne Baumgarten, aber erhellend für die frz. und engl. Tradition der Rhetorik nach Ramus und Erasmus, die bei Baumgarten vorausgesetzt ist (und in der deutsch-idealistischen Tradition nach Kant unlesbar geworden ist). Vf. „A.G. Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 15 (2015), 35 – 48.
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zu begreifen gibt.³⁴ Das Futur Zwei der Vergangenheit, der vergangenen, aber nicht erledigten Zukünfte, mag auf viele Weisen obskur bleiben, sah selbst der späte Husserl ein (Krisis 73), aber das bedeutet nur, daß es unvordenkliches Nachspiel und akute Aktualität zugleich ist: angesammelte Geschichte vergangener Begreifens-Ansätze, deren gegenwärtiger Pegel immer neu und immer von Neuem zu erkennen und zu erforschen ist.
Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung“ (1963), die wichtigste Grundsatzerklärung des frühen Blumenberg, die implizit seine Cassirer-Kritik konterkariert und als Leitartikel zu Wirklichkeiten in denen wir leben fungiert, 7– 54: 27 ff. und 48 ff. Der dort entworfene Begriff des „Kontingenzbewußtseins“ entspricht Paradigma II „Erkenntnispragmatik“ der Metaphorologie (Paradigmen, Kommentar 301 ff.).
Absolutismus der Wirklichkeit
7 Lernen am Ausgang der Höhle Blumenberg für Unbelehrbare Das Werk von Hans Blumenberg, das in Deutschland best verkaufte und meist gelesene Werk eines Philosophen der letzten 50 Jahre, ist zugleich das mit humanistischer Bildung bei weitem unbefaßteste. Das ist ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt, bei dem es zu allererst um das Szenario gehen muß, in dem diese Lacuna ihren Ort hat. Blumenberg hat, ja er kultiviert Leerstellen, versteckte und verschwiegene Orte, wie kein anderer. Die Deckadresse dieser Lacuna lautet Höhlenausgänge, was man ohne Umstände, gebildeterweise, durch einen Untertitel wie „Inszenierungen von Paideia“ erläutern könnte. Tatsächlich bietet dieses letzte große Buch Blumenbergs ein Stück Arbeit am Mythos der Paideia, wie er von Werner Jaeger als Kern humanistischer Bildung monumentalisiert worden war (Jaeger selbst kommt nur implizit und am Rande vor), wobei die platonische Urszene, das Höhlengleichnis der Politeia, den Mythos und zugleich auch den Abschied vom Mythos inszeniert: einen Abschied, dessen Name Paideia ist.¹ Als erstes – das betrifft den Ursprung der Erziehungswissenschaften seit der Aufklärung – will ich mich deshalb um die Nachkonstruktion der Allegorie kümmern, die den Abschied vom Mythos in eine anhaltend prägende Szene versetzt hat und qua Aufklärung „Befreiung von unbegriffenen Mächten“ verheißt: bei Kant, dem dieser schöne Satz zu danken ist, aber nicht bei Blumenberg, bei dem doch sonst Kant bis auf eben dieses eine Motiv fast alles zu danken ist, und das ist die Frage, von der ich für den vorliegenden Zweck, die schwierige, bei Blumenberg alles andere als glatte, sondern von Anfang an durchkreuzte erzieherische Vorbildfunktion der Antike für die Moderne ausgehen will.
Einführungsvortrag zu einer Münsteraner Tagung Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren, veranstaltet und in der Vortragsfassung herausgegeben von Frank Ragutt und Tim Zumhof (Berlin: Springer 2015), 35 – 47. Hier in der ergänzten Heidelberger Fassung einer von Melanie Möller herausgegebenen Konferenz über Blumenberg und die Antike, Prometheus gibt nicht auf (München: Fink 2015), 47 – 59. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt/M: Suhrkamp 1989), 274 f. zu Werner Jaegers Hauptwerk Paideia I–III (1934– 947). https://doi.org/10.1515/9783110486377-008
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I. Paideia Entgegen der narrativen Verve der verba, der ein Text wie das Höhlengleichnis als Quelle gerade recht kommt, ist das spätere Werk Blumenbergs seit der Arbeit am Mythos (1979) alles andere als gradlinig – was in der faszinierenden Un-Ordnung der Dinge die Moral von der Geschicht’ selbst da vermissen läßt, wo sie nicht so fernliegt. Das Netz der Paideia, das sie so lesbar macht wie lesbar hält, sagt man sich, ist selbst mythisch-umwegig, und das erspart wohl den erhobenen Zeigefinger. Wenn aber richtig ist, daß Blumenberg, getreu der Dialektik der Aufklärung, schon im Mythos die dem Mythos eigene Aufklärung sucht;² und wenn deren Paideia sogar einen anthropogenetisch entscheidenden Schritt dargestellt haben sollte, demzufolge von Arnold Gehlen bis Michael Tomasello (also in der vollen Breite des derzeit Diskutablen) das Lernen von Lernen auf Dauer gestellt wurde und sich (nimmt man Schätzungen wie die von Michael Witzel hinzu) in rund 65.000 Jahren zur Struktur von Mythen verfestigt hat;³ dann wird der Begriff des Lernens selbst – des wichtigsten der „reflexiven Mechanismen“ Niklas Luhmanns – in seiner hoch geschätzten modernen Selbstbezüglichkeit fraglich.⁴ Die bei Gehlen und nach ihm bei Blumenberg beliebte Spätform der „mythischen Novelle“ bietet eine instruktive Quelle.⁵ Die fiktive, allegorisch raffinierte Form des (hierzulande gerne frei nach dem Neuen Testament ‚Gleichnis‘ genannten) Höhlen-Konstrukts der Politeia ist als komplexe Steigerung eines literarisch wenig erforschten Quellenstandes in nähere Erwägung zu ziehen; der von Blumenberg zitierte Francis Cornford setzte es unter den Titel „Allegory of the Cave“.⁶ Blumenberg widmet der Problemlage nur gelegentliche, überschüssige Bemerkungen, deren anthropologisches Styling selbst novellistische Züge trägt, aber mit Didaktik rein gar nichts im Sinne hat. Im Gegenteil, sein Text sprüht nur so von abfälligen Seitenhieben wie dem Satz, den ich als ein mögliches Motto in Betracht gezogen habe: „Noch Platos Mythos spiegelt das Sitzenbleibertum“ – freilich in einem ganz anderen Sinne als dem späterer Pädagogen und Bildungsforscher (Höhlenausgänge 799). Um den Pessimismus dieser Diagnose, der die Allegorie
Siehe Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (Amsterdam: Querido 1947), 22 ff. Vgl. Michael Witzel, The Origins of the World’s Mythologies (New York NY: Oxford University Press 2012), 6 und 210. Niklas Luhmann, „Reflexive Mechanismen“ (1966), Soziologische Aufklärung I (Opladen: Westdeutscher Verlag 1971), 92– 112. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (Frankfurt/M: Athenäum 1956, 2. Auflage 1964), 224. Francis Macdonald Cornford, The Republic of Plato (Oxford: Clarendon Press 1941), 227 ff.
Blumenberg für Unbelehrbare
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der Höhle zu einer veritablen ‚Allegorie des Lesens‘ eignet, dreht sich die Sorge des um den Philosophen Platon Besorgten. Zunächst fällt an Platons Text das äußerste Maß an Konstruiertheit auf, das auf lebensweltliche Wahrscheinlichkeit keinen Wert legt, sondern im rein Technischen spielt. Das mythische Szenario von Höhle und Sonnenlicht zielt auf einen Mythos, den es in der gezwungenen Konstruktion der Szene mit thematisiert. Die Distanzierung, die in der mythen-allegorischen Thematisierung virtuell möglich wird, steht ihrerseits allegorisch für die in der Höhle bestehende Fesselung, die von der Erzählung vergebens umgangen wird – eine unhintergehbare mise-enabîme von Paideia, wie sich herausstellen wird. Der eher dürre Literalsinn dieser Engführung ist aber kein anderer als der der Geschichte der Philosophie vor Platon: „der Übergang vom Mythos zur Physik“ in der entschiedenen Formulierung von Walter Bröcker, einem Lehrer Blumenbergs, ehemaligem Assistenten Heideggers in den dreißiger Jahren, der das Thema in einer Gadamer-Festschrift aufgriff in dem Jahr, das Wahrheit und Methode und die Paradigmen zu einer Metaphorologie verbindet (1960).⁷ Im letzten der sieben Teile der Höhlenausgänge, in dem Blumenberg die Genese des eigenen Ansatzes rekapituliert, ist Bröckers Interpretation der Stein des Anstoßes in dem positiven Sinn, daß von diesem Anstoß – Blumenberg hat die Kinesis-Theorie des Aristoteles im Sinn, der Bröcker ein erstes Buch gewidmet hatte (1933), bevor er seine Gesamtdarstellung von Platos Gesprächen unternahm (1964) – die eigene Denkbewegung Blumenbergs ihren Ausgang nimmt.⁸ Der Ausgang von der Lektüre des Lehrers führt über ein kleines, wiewohl ganz unnützes philologisches Geplänkel, das en detail nicht weiter zu interessieren brauchte, handelte es nicht von der Unbelehrbarkeit statt der Paideia in Platons Gleichnis: von „der Gegengewalt der bloßen Entfesselung“, die unübersehbar die „Gewaltsamkeit des Transports aus der Höhle hinaus“ nötig macht, und von der „daher gesagt werden“ müsse, die sie ausübten „ließen nicht eher von ihrem Erziehungsobjekt ab, bis sie es trotz seines Schmerzes und seiner Auflehnung ans Sonnenlicht herausgeschleppt hätten“ (Höhlenausgänge 742). Die Voraussetzung dafür, daß „die Erscheinungen Abbilder von Abbildern sind“, diskreditiere also nicht so sehr diese als „das Arrangement, in dem sie ihre Ausschließlichkeit behaupten“ (744). An der Konstruktion des (von Heidegger treffend benannten) „Gestells“ hängt die prophetische Evidenz, die das Höhlengleichnis in seiner Konstruiertheit zur perfekten Allegorie einer Medienwelt eig Walter Bröcker, „Das Höhlenfeuer und die Erscheinung von der Erscheinung“, Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken (Festschrift für Hans-Georg Gadamer), hg. Dieter Henrich & al. (Tübingen: Mohr Siebeck 1960), 31– 42: 33. Walter Bröcker, Aristoteles (Frankfurt/M: Klostermann 1933); Platos Gespräche (Frankfurt/M: Klostermann 1964), 278 ff. zum Höhlengleichnis.
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net, die gegenüber Platons gewaltbetonter Darbietung, welche die fortwährende mythische Gewalt den Methoden der Sophisten unterschob, als der vollendete „Absolutismus“ einer neuen Wirklichkeit erscheinen muß. Es ist die von seinem Schüler Blumenberg eifersüchtig überspielte Einsicht Bröckers, die falsche Teleologie der Medien nicht McLuhan-artig weiterwirken zu lassen und so die historisch verblaßte System-Gewalt als Mythenzitat zu entschärfen, sondern – will Blumenberg nicht verkennen – eine späte kantische Intuition, die „Erscheinung von der Erscheinung“ (aus Kants Opus postumum) im Höhlenfeuer schon, und nicht erst im gleißenden Sonnenlicht des Höhlenausgangs am Werk zu sehen und dort auf eine andere als die platt aufgeklärte Konsequenz zu führen. Die gibt Blumenberg, fast untergründig feixend, wie folgt zum Besten: „Im günstigsten Fall konnte doch der an der vollständigen Paideia Gescheiterte [ich ergänze: der am unverstellten Anblick der Ideen Gescheiterte] seinen Höhlengenossen nur berichten: Alles ist Physik“ (Höhlenausgänge 750). Allerdings ist er dann schnell, vielleicht zu schnell bei der Hand, Bröckers Konsequenz als ein originelles zwar, aber doch retardierendes Moment, als offenbaren Rückfall in den überwundenen, nun neu zu überwindenden Mythos zu bagatellisieren. Die eigene Darstellung hatte er zu Anfang der Höhlenausgänge unter die Überschrift „Nicht zu wissen, was eine Höhle ist“ gestellt (185 – 186): Was dem Philosophen bleibt, sind anstatt der ihm zuteil gewordenen Befreiung und Höhlenausführung nichts als Worte. [Das ist der Fluch der Sophistik.] Kein sokratischer Dialog, nur der blanke Lehrfrontalvortrag vor mordlüsternen Hörern und nur unter dem Zwang der Gefesselten, zuhören müssen. [Die hatten ihre Mordlust, setzte Plato implizit voraus und unterstreicht Blumenberg ausgiebig, inzwischen an Sokrates ausgelassen.] Es ist ihre Pflichtvorlesung. Was aber [setzt er nach dieser Einbeziehung der eigenen Hörer fort] – und das ist die an diesem Fortspinnen allein noch interessierende Frage – konnte Inhalt und Methode des peinlichen Kollegs sein? Daran darf und muß noch ein wenig Schwerarbeit gewendet werden [wir sind erst auf Seite 186]. Das Ineinandergreifen von Paideia und Politeia im Höhlendrama reflektiert eine doppelte Lehre aus dem [zur fingierten Erzählzeit] offenen Sokratesschicksal: […] Was ihm [dem Sokrates Platons] Logos und damit Gewißheit gewesen war, ließ sich doch den Dialogpartnern zuweilen nur als Mythos und damit als [lebensweltliche] Wahrscheinlichkeit – oder auch nur als Angebot zum Nachdenken – anempfehlen.Was in der Aussichtslosigkeit der Höhle hätte geschehen können und sollen, teilt Sokrates dem Glaukon nicht mit. Aber wenigstens dieser oder jener Zeitgenosse, der die früheren Dialoge kannte, mußte auf den Ausweg verfallen, die Geschichte weiterzudenken zu dem Verlegenheitsmittel der sokratischen Lehre hin: zu erzählen statt zu dozieren oder gar zu dialogisieren (was Sokrates weniger mag als er einräumt). [Letzteres setzt Blumenberg, wiewohl doch selbst ein glänzender Lehrer, aber gewitzt in eigener Sache, in (runde) Klammern; meine eränzenden Verdeutlichungen stehen im Unterschied dazu in eckigen Klammern.]
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Die Präferenz und zunehmende Praxis des Autors Blumenberg – die Vorlesung, die er Seminaren bei weitem vorzog – können wir beiseite lassen, denn die Verlegenheit liegt bei ihm wie bei Platon tiefer, und der Lehrer Bröcker bringt sie vollends an den Tag.⁹ Dort, am Ende des Buches, kurz vor der Fermate, die ihm die Philosophie Ludwig Wittgensteins gewährt – ein brillantes Büchlein in sich, das man gern als ein solches hätte statt seiner Einzwängung in die allfälligen „Rezeptionsunfälle“ der vielen Platonismen – ist Bröckers altväterlich kantische Anwandlung ein Trugschluß, den ein Wittgenstein konterkarieren hilft, den er aber auch hätte abwenden können; der, mit andern Worten, ein fulminantes Schlußkapitel abgegeben hätte, das effekiver gewesen wäre als der Platz unter „anderen“, und seien es die „letzten Gefangenschaften“ dieses letzten, auf diese Weise unschlüssig gebliebenen Teils VII, des kaum verhohlenen HeideggerKomplexes. Daß dies möglich gewesen wäre und mit Fleiß vermieden wurde, tritt nur am Rande ins Blickfeld, in einer der fundamentalen Fußnoten, die keiner schrieb wie er, hier also der beiläufigen Erwägung, wie man „Wittgenstein für das geeignete Antidot auf Heidegger halten“ könnte (Höhlenausgänge 760, Anm. 76). Ich komme darauf umgehend, denn der Weg führt über den ab- und zurechtgewiesenen Bröcker. Für diesen radikalisierte Kant das in der Höhle auf ein Gleichnis gebrachte Problem der Paideia Platons in der für ihn einzig relevanten, bei Platon bereits aus der Latenz drängenden Konsequenz. Ich gehe die Stelle kommentierend durch, denn Bröcker ist bei aller einläßlichen und erfolgreichen Darlegungskunst an den entscheidenden Stellen ein ebenso komplexer wie klarer Autor. Der „Übergang vom Mythos zur Physik“, den das Höhlengleichnis in propädeutischer Absicht darstellt, mag schon der „von der vorparmenideischen zur nachparmenideischen Physik“ sein, also von einer im Nachhinein mythischen Physik zu einer schlagend neuen Physik (Höhlenfeuer 37). Es sei nun „höchst bemerkenswert [zitiert Blumenberg den entscheidenden Schritt von der mythischen zur neuen Physik], daß beide, Plato und Kant, an der Notwendigkeit und Eindeutigkeit des Übergangs von den unmittelbaren Erscheinungen [der Höhle] zu den intersubjektiven Objekten der Physik [wie sie im Lichte der Ideen sich darbieten] keinen Zweifel haben, daß also beide überzeugt sind, daß man vom ersteren zum zweiten übergehen muß und nirgendwo anders hin übergehen kann, und daß beide nur noch [und nur deshalb noch] die Notwendigkeit eines weiteren Übergangs, nämlich [des Übergangs] von der Physik zur Metaphysik behaupten. Dieser weitere Übergang ist für Plato der Aufstieg zur Ideenwelt, bei Kant der Aufstieg zum Ding an sich“ (Höhlenausgänge 748). Nimmt man die Höhle als bloße
Vgl. Jean-Francois Courtine, Inventio analogiae: Métaphysique et ontothéologie (Paris: Vrin 2005), 120 ff.
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Staffage für die alles andere als mythische, aus dem Mythos sich erhebende, am Bild der Höhle entlang formulierte Schrittfolge des Aufstiegs, läßt sich die strittige Konstruktion methodisch kontrollieren. Ernst Hoffmann hat das wie in einem Korreferat zu Heideggers Darstellung getan, ohne daß, leider, das bei ihm nachgezeichnete Wechselspiel von Chorismos und Methexis Bröcker und Blumenberg noch beeindruckt hätte.¹⁰ Die Konsequenz, zu der Bröcker neigt, ist gleichwohl eine andere als die radikalere, die Blumenberg vorzieht, nämlich: zu keiner zu kommen und Platon, sei es in der aporetischen Form des Gleichnisses, zu mißtrauen und nicht einmal Wittgensteins Leiter als ernsthaften Ausweg in Betracht zu ziehen und also, kurz: der offenen novellistischen Form des Gleichnisses bis zum bitteren Ende treu zu bleiben. Blumenberg widersteht den akademischen Anfechtungen; er begegnet ihnen am Schluß mit einem Gleichnis, das „Ein anderer Mythos“ überschrieben ist und dem Babylonischen Talmud das letzte Wort gibt (820). Der Einwand gegen den Lehrer, dessen Folgerung abweisend, ist sarkastisch: „Danach [schneidet Blumenberg den Faden ab] verwickelt sich Bröcker in die ihm naheliegende These, die platonischen Ideen seien nichts anderes als der Ersatz für die mythische Götterwelt – und vor einem solchen Ersatz tue man besser, ihn auf sein Original zurück zu bringen, statt sich mit der Reduktionsform einer [Zitat Bröcker] durch den Übergang vom Mythos zur Physik entgötterten Welt zu begnügen“ (Höhlenausgänge 748). Indessen ist es das nicht, ist das kaum erst die Hälfte des Arguments, wiewohl Blumenberg nicht von ungefähr an der „ihm [Bröcker] naheliegenden“ Heidegger-Reminiszenz Anstoß nimmt. Der Punkt ist, wie er zugeben muß, schon Kant und nicht erst Heidegger: „Vergleichbar ist, was bei Kant geschieht: Die theoretische Welt der Erscheinungen kann bestimmte von der Vernunft erzeugte Fragen nicht beantworten und läßt allein die unbekannte Größe des Dings an sich als den Grund aller Affektionen des Gemüts übrig“ (749). Allerdings: „Was er [Kant] erreichen wollte, hat er, wie Bröcker zu Recht bemerkt, nicht erreicht. Dafür etwas [Zitat Bröcker], was er nicht gewollt hatte: Seine Restriktion des Wahrheitsanspruchs der Physik bedeutet eine Befreiung, welche die Kompensation der verlorenen Heimat im Diesseits durch ein postuliertes Jenseits überflüssig macht. Und zu welchem Ende? [faßt Blumenberg sein Unverständnis in eine rhetorische Frage:] Damit die Götter wiederkehren können?“ (749 – 750) Der Disput scheint verfahren und auf diese Weise kaum zu retten (das sieht man zur Not ein), aber im entscheidenden Punkt ist er nicht annähernd ausgereizt. Denn
Ernst Hoffmann, Platons Höhlengleichnis (Beilage zum Jahresbericht des Städtischen Gymnasiums Biel 1948), 9; eingearbeitet in Platon: Eine Einführung in sein Philosophieren (Zürich: Artemis Verlag 1950/ Hamburg: Rowohlt 1961), 51 ff.
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selbst wenn man die mögliche weitere Differenzierung der mythischen Anteile in der Anlage der Höhle außer acht läßt – daß sie womöglich das Schicksal der nachparmenideischen Physik meint – und wie immer man folglich die Ironie Bröckers auffassen möchte (denn das ist sie in Überbietung der Höhlen-Allegorie Platons): Blumenberg setzt nichts dagegen.¹¹ Er läßt Wittgensteins unerhört raffiniertere Fassung, die man nicht perfekter herausarbeiten konnte als er es gerade getan hat, ungenutzt liegen. Und selbst das, was auf der anderen Seite Bröcker mit den Göttern im Sinn hatte, die Blumenberg ihm als Erbe Heideggers ankreidet, ist nicht primär deren Wiederkehr, sondern die Einsicht in den fortwährenden mythischen Charakter des physikalischen Welt-Bildes, des heideggerschen „Gestells“, worin die Nachbilder von Göttern, so sehr sie Spukgestalten ähneln, doch die Aufmerksamkeit weiterhin fesseln. Tatsächlich bot Wittgenstein in Blumenbergs brillanter Lektüre eine über Kant hinausführende, Heidegger ins endgültige Abseits verbannende Wende, die in Form der Sprachanalyse die Raum-Kategorie neu erschließt: eine „neue Form von Platonismus, in dem eine Sprache der Inbegriff des in ihr Denkbaren wird“, ist die epochemachende Einsicht (Höhlenausgänge 760). Gegen die allzu glatte „Evidenz des Zeitprimats für die Deskription des Bewußtseins“, die Heidegger für die Phänomenologie befestigt hatte, schlägt in Tractatus 2.013 das Pendel der kantischen Anschauungsformen um zur anderen der beiden in Raum und Zeit zerfällten Seiten: in die Form einer raum-förmigen Syntax, in der die „Raumanschauuung als Bedingung für die Wahrnehmung bewegter Körper“ in der Zeit fungiert (760). Blumenberg lokalisiert hier ein erstes „Moment der Unbegrifflichkeit“ (773), und die „Optionspräferenz“ für Wittgenstein „als Antidot auf Heidegger“ ergibt sich im selben Streich. Damit verbunden – das ist die Voraussetzung der ironischen Wende in Platons Allegorie der umwelt-offenen, dem Sonnenlicht parasitär verpflichteten Höhle – ist der historische Ort neu bewertet, den die Höhle auf der nicht-überwundenen Schwelle der Zeiten von der alten, mythisch befangenen Physik in die ideenkonstruktive, latent schon transzendentale Physik zeichnet, ein Ort, den Blumenberg, wie erschöpft von der Arbeit am Mythos, im letzten Kapitel (vor dem Gleichnis aus dem Babylonischen Talmud) als die „Vorgabe für einen letzten Höhlenentwurf“ der empirischen Philosophie Arnold Gehlens zuschiebt: „von [d]em [Gehlen] ich mir ehestens [schreibt Blumenberg mit der sonst nur und „ehestens Kant“ vorbehaltenen Formel] eine Annäherung an diese Spätestform des Höhlengleichnisses versprechen würde“ (811). Aber er tut es, leider, ausschließlich im Blick auf die von Gehlen erschlos-
Vgl. dazu etwa Seth Benardete, Sokrates’ Second Sailing: On Plato’s Republic (Chicago IL: Chicago University Press 1989), 172 ff.
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senen paläoanthropologischen Artefakte und nicht auf die daran entwickelte Theorie von „Darstellung“, die kein Höhlengleichnis fortschreibt, sondern als anthropogenetischen „Gattungsbegriff aller Gehäuse“ den Begriff und das Aufkommen von „Institutionen“ einführt (812). Nichts, so scheint es Blumenberg, hätte der Höhle Platons fremder sein können – es sei denn man bezöge die drohende Mordlust der Angeketteten direkt auf den Prozeß gegen Sokrates und nicht nur auf den mörderischen Ausgang des Prozesses. Mir liegt in diesem Parcours der immer aufs Neue durchkreuzten Paideia an der abermals verfehlten, womöglich aber nicht vergeblich verfehlten, in sokratischer Ironie präsenten Konsequenz, die Blumenberg an Bröcker und in gewichtiger Implikation an Heidegger als immer wieder „dieselbe Schwäche“ anprangert, „die das Höhlengleichnis für den Platonismus verrät“, und die er „eine gefährliche Grundvorstellung“ nennt (auch, vermutlich, mit Jaegers Paideia im Sinn), „weil sie jeden autorisiert, mit der Vertröstung auf künftige Einsicht, was sein soll, der wütenden Verachtung auszuliefern, die im Grade der Unbestimmtheit von Erwartungen entsteht“ (Ende des Bröcker-Kapitels 751). Und, folglich: „Philosophie erweist sich als Kunst der Resignation“ (Ende des WittgensteinKapitels 791). Mag letzteres als der Weisheit letzter Schluß gelten für den Moment, den Blumenberg anläßlich Bröckers gegen Ende der achtziger Jahre erlebt hat – dessen Weisheit letzter Schluß ist es jedenfalls nicht, sondern der Adressat, auf den Blumenberg sich bezieht, steht in einem Rollentausch der seltsamsten Art im Hegel-Kapitel „Ein Staat ohne Höhlenausgang“. Hegel, bei Blumenberg die größte der Lacunen und gelegentlich verspottet als Meister der „Hochbegrifflichkeit“ (578), erfährt an Hand des Höhlengleichnisses seine vollendete Demontage als Philosoph: „Zwar steht im Kontext des Staatdialogs [der Politeia] die Paideia ganz im Dienst der Qualifikation zu Archonten“, räumt Blumenberg ein (572). Bei Hegel dagegen führe „der platonische Weg der Ausbildung des Philosophen nur zur Dienstleistung auf Zeit“ (572), so daß er folgern kann, der „Vorbehalt der reinen Theorie als der erfüllenden Lebensform, der im Kontext des Höhlengleichnisses bei Plato jenseits der Staatsdienstleistung erhalten bleibt, wird von Hegel zur Disposition gestellt“ (575). Daß deshalb schon bei Platon „die Paideia des Philosophen zugunsten der Funktion der Philosophie bedeutungsarm geworden“ ist (574), wird in Hegels Vollendung Platons unerträglich und schlägt gegen die Philosophie insgesamt aus. Hegels rigorose Fortsetzung Platons setzt sich fort in Blumenbergs rigoroser Ablehnung beider, Hegels wie Platons. Seine Vermeidung Hegels hat hier einen Ort, aber man kann nicht sagen, daß Hegels Bedeutung dabei unterschätzt wäre. Das erforderte ein eigenes Buch; genug hier, daß Gehlen Hegel an dieser Stelle als „Vorgabe für einen letzten Höhlenentwurf“ ersetzen können soll. Die Anthropogenese tritt an die Stelle der Phänomenologie eines sich
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im Vorgriff auf Absolutheit selbst überhebenden (zwischenzeitlich einmal Heiligen) Geistes. Der in Urmensch und Spätkultur in Vertiefung von Freuds Totem und Tabu (und in Konkurrenz zu Adornos gleichzeitigen Frankfurter Ästhetik-Vorlesungen) entwickelte Darstellungsbegriff umfaßt die Idee der „mythischen Novellen“ (224 ff.). In ihnen scheint die schwerfällige Arbitrarität der Artefakte in den protosyntaktischen Übergang eingebaut, den das Höhlengleichnis in der Version Wittgensteins thematisch machte und als Übergang allegorisch fassen ließ. Hier läge das missing link der kulturellen Genese, das in Platons Philosophie als Anamnesis begriffen ist und in der institutio der Rhetorik als Mnemotechnik diszipliniert wurde. Blumenberg schiebt Platons Anamnesis zurecht die Beweislast zu, sieht ihr aber bei Wittgenstein nicht ausreichend entsprochen, wiewohl sich der spätere Wittgenstein der Philosophischen Bemerkungen und Philosophischen Untersuchungen durchaus weiter mit der Frage trägt: „Wenn die Erinnerung kein Sehen in die Vergangenheit ist, wie wissen wir dann überhaupt, daß sie mit Beziehung auf die Vergangenheit zu deuten ist?“¹² Der in einem engeren Sinne philosophische Grund, welcher der evolutionären Errungenschaft der Darstellung in Form der „darstellenden Riten“ bei Gehlen entspricht, ist in dem von Blumenberg explizit vermiedenen Heidegger zu finden, dessen Seins-Ab- oder Umweg sich nach Wittgenstein so nicht mehr als Frage stellen lassen soll (immerhin dafür war er gut). Was bleibt von Heideggers Lektüre des Höhlengleichnisses in Platons Lehre von der Wahrheit (der ersten Nachkriegspublikation Heideggers, an die Bröcker anschließt), ist die Intuition des doppelten Diskurses, den die Politeia an dieser Stelle biete (stellenweise eingelassen in den Diskurs der Politik) und damit der prähistorischen Vertiefung, die der Begriff der Paideia anläßlich von Politik bei Platon erfährt. Seinsgeschichte und Seinvergessenheit hin oder her, handelt es sich Heidegger zufolge (der die Legitimität seiner Doppellektüre durchaus problematisch findet) um ein tiefer sitzendes Verhältnis zur Wahrheit, das den Anforderungen des bloßen immanenten „Sich-Auskennens“, wie er das praktische Erkenntnisinteresse der Höhlenbewohner treffend nennt, zwangsläufig entgeht.¹³
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, hg. Rush Rhees (Oxford: Blackwell 1964), 82; seine Hervorhebung. Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit (Bern: Francke 1947), 47 ff.Vgl. „Vom Wesen und Begriff der ‚Physis‘: Aristoteles, Physik B, 1“ (1939), Wegmarken (1967), Gesamtausgabe 9 (Frankfurt/M: Klostermann 1976), 239 – 301: 251 ff.
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II. Defizitbilanzierung Die reflexive Verdoppelung in der literarischen ‚Defizitbilanzierung‘, die Wolfgang Iser, Blumenbergs Kollege aus der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, nach Gehlens Darstellungsbegriff postuliert hat, ist bei Platon auf eine „Allegorie des Lesens“ gebracht – so der literaturtheoretische, rhetorik-technische Sachverhalt des Heidegger-Lesers Paul de Man (1979), der damals Blumenberg noch nicht gelesen hatte.¹⁴ Die von Heidegger an der Allegorie der Höhle entdeckte und von de Man im Modus der durchkreuzten Lektüre auf einen Begriff gebrachte Befund ist nun aber nicht etwa der (wie man Blumenberg entnehmen wollen könnte und wie man de Man weitgehend mißverstanden hat), daß in der Höhle nurmehr dieses eine zu lernen sei, daß es für die Höhle praktisch nichts zu lernen gibt. Die Latenz-Struktur der Alétheia ist von Heidegger nicht von ungefähr in Platons Höhlengleichnis aufgefunden und als unüberwindbare mythische Hypothek der Paideia ins Spiel gebracht worden: sie bringt die Doppel-Struktur der Mythen erst hervor, gibt den Mythen ihre unhintergehbare allegorische Struktur.¹⁵ In ihr verbirgt die im Höhlenfeuerschein gewonnene Selbst-Transzendenz des Sich-Auskennens eine für die Politeia immens politische Lehre, auf die Bröcker hinaus will: daß für die Politik mit einer Überwindung des Mythos nicht (mehr) zu rechnen ist, daß indessen ihre Einbettung qua ‚Lebenswelt‘ unter Einberechnung der medial begrenzten, sei es auch multiplen ‚Wirklichkeitsbegriffe‘ der Neuzeit punktuell nur von einzelnen zu durchbrechen ist; Blumenberg warnt seit der Arbeit am Mythos vor dem „Lebenswelt-Mißverständnis“, das dem Lebenswelt-Begriff Husserls innewohnt.¹⁶ Deshalb ist die ins Auge gefaßte Durchbrechung auch nicht in der vergeblichen Evidenz der Ideenwelt zu suchen und in der Höhle performativ zu erzwingen, sondern sie ist in der Latenz zu suchen, die im Feuerschein der Höhle als quasi-transzendentalem Abbild der Sonne ex negativo ablesbar ist – was Gehlen übrigens bestätigt (Urmensch 14). Das hat der treue Blumenberg-Schüler Heinrich Niehues-Pröbsting am Schattenwurf der Höhle in Platons Darstellung gezeigt und doch Blumenbergs Widerspenstigkeit in der Sache ihr eigenes Recht zu lassen versucht.¹⁷ Ich verstehe Blumenbergs
Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre (Frankfurt/M: Suhrkamp 1993); Paul de Man, Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979). Vgl. Vf. Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik (München: Fink 2007), 151 ff. Barbara Merker, „Bedürfnis nach Bedeutsamkeit: Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit“, Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Frankfurt/M: Suhrkamp 1999), 68 – 98. Heinrich Niehues-Pröbsting, „Platonvorlesungen: Eigenschaften, Lächerlichkeiten“, Die Kunst des Überlebens, 341– 368.
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Eigensinn in dieser Sache (vor allem die Ausblendung des Sophistes, über die sich Niehues-Pröbsting zu Recht wundert) ähnlich wie Wolfgang Wieland, den Niehues-Pröbsting zitiert: „die Eigenschatten der Höhlenbewohner seien [Zitat Wieland] in die ganze Schattenwelt verwoben“.¹⁸ Die Textil-Metapher der Verwebung, heißt das, zielt auf die hyperreflexive ‚Verflechtung‘ des Chiasmus, den Maurice Merleau-Ponty, nicht der unwichtigste, von Blumenberg zu spät bemerkte Konkurrent in der Phänomenologie nach Husserl, als die entscheidende Unentscheidbarkeit, die den blinden Fleck im Bewußtsein der Höhle charakterisiert.¹⁹ Das wäre der Sinn, den man der literarischen Bildung als der fortwirkenden Artikulation der in Mythen eingesunkenen Erfahrungsspuren der Anthropogenese (frei nach Gehlen oder Witzel) abgewinnen könnte und in der „Problemverschlingung“ von Chorismos und Methexis, die Ernst Hoffmann in der Stufung des Höhlengefüges erkennt (Platon 52), Schritt für Schritt nachvollziehen könnte. Stattdessen fügt sich Blumenberg, überdrüssig all der mathematisch kosmischen Idealität, in die Totalität der Höhlenverhältnisse und in die Resignation, die für ihn als letzter Philosoph der Schule Platons Wittgenstein verkörpert. Doch wie Platon im Höhlengleichnis hatte auch Blumenberg angesichts der Resignation Wittgensteins mehr zu sagen (Arbeit am Mythos, letzte Sätze). Das macht den in engeren Sinne literarischen Überschuß seines Werkes – oder besser: das, was man als ‚literarisch‘ wahrnimmt an seinem Werk – philosophisch; es nährt sich aus der tiefen Ambivalenz gegenüber einer unvordenklichen Verlegenheit, der Platon den Namen gegeben hat. Dem literarischen Manierismus der Resignation gegenüber bietet Gehlens Zug zur empirisch anthropologischen Konkretion für das Ausgangsprojekt Blumenbergs, für die Begründung gesteigerten Kontingenzbewußtseins eine Lernvoraussetzung, die Tomasello als eine Art von ‚Wagenheber-Effekt‘ beschreibt und im Spracherwerb ansiedelt.²⁰ Seit Witzels kühner, ebenso nützlicher wie eindrucksvoller Abgleichung von DNA-gestützter Migrationsforschung und strukturaler Mythenanalyse gewinnt das Feuer vor der Höhle einen bei Platon zweifellos mit gemeinten, von Hegel bagatellisierten, von Hoffmann aufgeschlüsselten, von dem spätberufenen Kantianer Bröcker weiter erschlossenen, von dessen desillusio-
Heinrich Niehues-Pröbsting, „‚Von den schönsten Gütern das erste‘: Platons Konzept der Bildung im Kontext von Dichtung, Sophistik und Rhetorik“, Bildungstheorie in der Diskussion, hg. Bärbel Frischmann (Freiburg/ München: Alber 2012), 105 – 129: 121. Zitat Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1982), 219 (von mir kursiviert). Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, éd. Claude Lefort. Paris: Gallimard 1964), 166. Michael Tomasello, The Cultural Origins of Human Condition. Cambridge MA: Harvard University Press 1999), 37 ff.
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niertem Schüler Blumenberg dann aber kaum mehr ernst genommenen, optimierten, aber doch wieder nur und bestenfalls allegorischen Quellenwert. Die metaphorologische Nachbereitung, die ich andeutungsweise skizziere, müßte deshalb die allegorische illustratio mitliefern: die illuminatio der Lernschwelle, die zu überschreiten, fürchtete Blumenberg, es erkenntnispragmatisch nicht lohnte, deren faktische Unüberschreitbarkeit indessen den unverzichtbaren Überschuß der Anamnese darstellt. Rita Casale hat das technische Komplement benannt; es heißt im Lexikon der rhetorischen Termini aemulatio – eine Errungenschaft des Humanismus der dadurch mitdefinierten Renaissance.²¹ Es ist leicht zu sehen, warum aemulatio zum Zwecke der exemplarischen illuminatio einen passenden Anschluß in puncto Bildung bietet. Frau Casale führt diese Errungenschaft der Renaissance-Poetik, in der das Zeitalter der ästhetischen Bildung sich ankündigt, gegen die eklatanten Verfallserscheinungen der gegenwärtigen Höhlenverkommenheit ins Feld, die sie treffend unter den Stichworten „Informatisierung des Wissens“ und „Technokratisierung von Autorität“ behandelt (329), und die wir der platonischen Höhlendiagnose ohne Mühe unterlegen können. Wie Blumenberg an der Abfolge der Wirklichkeitsbegriffe seit Platon gezeigt hat (eine implizite aemulatio Heideggers), entspricht die Selbstüberschreitung der imitatio in der aemulatio der freien poiesis des im Lernen von Lernen eröffneten Handelns.²² Dagegen beschränken Informatisierung und Technokratisierung sich auf die Optimierung der Bestände, der Zugänge und Kontrollen des „Sich-Auskennens“ in der Höhle und in ihren Beleuchtungsverhältnissen, während die Differenz in der Wahrnehmung von Höhlenfeuer und Höhlenausgang wie der Ausgang von Wittgensteins Fliegenglas von Grund auf, systematisch, verfehlt wird.²³ Doch was, resigniert Blumenberg, könnte das der Fliege, wäre sie befreit, schon bringen? Eine rhetorische Frage? „Kann der Sorge begegnet werden [kommt er zu dem für Pädagogen kaum abweisbaren und durch keine Erfahrung je widerlegten Schluß], der Verlust des Gehäuses werde sie [die Fliege wie jeden Schüler] vor eine Realität ungleich härterer Herausforderung stellen, als es die gläserne Abgeschiedenheit und bloße Bildlichkeit des Draußen gewesen war?“ (Höhlenausgänge 782)
Rita Casale, „Über die Aktualität der Bildungsphilosophie“, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 87 (2011), 322– 332: 330. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ (1964), Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 47– 73: 68 ff. Vf. „Auswendigkeit: Das Gedächtnis der Rhetorik“ (1991), Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 121– 148: 127 ff.
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Was bleibt im Rückblick, nach Blumenbergs Verdikt, von Platon? Denn die Komplikation der Blumenberg-Lektüre, auf der Niehues-Pröbsting insitiert, bleibt Platon selbst und konnte er als Stachel im Fleisch der Phänomenologie nach Blumenberg nur bleiben – „Alles ein permanenter performativer Selbstwiderspruch?“ fragt Niehues-Pröbsting.²⁴ „So klingt es“ in der Tat, während es Blumenberg, wie er in grimmigem Anklang an Carl Schmitt sagt, um eine „anthropologische Verschärfung der Ausgangsbedingungen“ zu tun ist: „daß auch der Begriff einer ihnen zugeordneten Rhetorik elementarer gefaßt werden muß“.²⁵ Davon hatte Platon eine Ahnung, die er literarisch, in die Form des Dialogs, gefaßt hatte und, in diesen eingeschachtelt, der Allegorie, die dafür ein Gleichnis abgeben können sollte. In dieser Einsicht und Konsequenz überschreitet Blumenberg Platon und liefert ihn an eine Rezeptionsgeschichte aus, deren Bilanz Niehues-Pröbsting von Grund auf gegen den Strich geht. Wo Blumenberg eine Variationsbreite ausnutzt, die auch in der Überwindung mythischer Züge zwangsläufig Mythisches weiter wirken läßt, beharrt Niehues-Pröbsting auf dem Kern einer philologisch zu sichernden Darstellung, die Platon vor Blumenbergs verheerender Konsequenz – darin sind sie sich beide, Lehrer und Schüler, einig – schützen soll; er spricht von der „kompletten Selbstdemontage“ Platons, sollte Blumenberg recht haben (140). Selbst wenn man der Nachkonstruktion, in der Niehues-Pröbsting die „Nachlässigkeit“ en detail widerlegt, die von Blumenberg (im Gefolge, immerhin, Werner Jaegers höchstpersönlich und obendrein Heideggers) benutzte Unterstellung: „daß das Licht des Feuers über die Köpfe der Gefangenen hinweg auf die Rückwand der Höhle“ falle (Höhlenausgänge 141, Anm. 8) und so die Möglichkeit zu Selbsterkenntnis und Anamnesis, wenn nicht durchkreuze, so doch ignoriere, erledigt sich der Fall nicht so wie NiehuesPröbsting verständlicherweise möchte. Im Gegenteil, so recht er mit dem genaueren Nachvollzug von Blumenbergs Lektüre hat, verschärft er doch seinerseits die Einsicht des Lehrers in einem entscheidenden Punkt. Die „Methode der freien Variation“, die er in Blumenbergs Lektüre erkennt und die „an der Armut der husserlschen Beispiele“ nicht scheitern sollte (141), sondern auf das Projekt einer historischen Phänomenologie hinführen soll, findet in der wohl verstandenen actualitas der Rhetorik (‚Aktualität‘ im rhetorischen Verstande) ein Modell der anthropologischen „Annäherung“, das selbst bereits einmal „gegen die traditionelle Mißachtung alles Rhetorischen durch die Philosophie seit Plato“ auf-
Heinrich Niehues-Pröbsting, „Die Höhle und ihre Schatten: Blumenbergs Platon-Kritik“, Merkur 68 (2014), Heft 777, 132– 142: 137. Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), Ästhetische und metaphorologische Schriften, 406 – 431: 409.
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trat.²⁶ Denn daß die „phänomenologische Variation“ historisch nicht „so frei“ ist, wie man sich das phänomenologisch dachte (Zu den Sachen 11), ist klar (ein Punkt, der Blumenberg mit Heidegger verbindet); aber die Frage ist jetzt, was die Variation der Motive an der Anthropologie haben kann, das mehr wäre als ein bloßer Anhalts- und Ruhepunkt für aktuale Evidenz (statt der „momentanen Evidenz“): das mehr wäre als „eine in allen Lebensformen vorhandene und durch diese variantenreich bewirkte ‚Verfehlung‘ der Anschauung des Wesentlichen“ (Zu den Sachen 9). Blumenberg grundiert die in ihm gewachsene Antipathie wie folgt: Denn diese Anschauung [des Wesentlichen] als sie selbst ist gar nicht zu haben. Es war Husserls platonisierende Illusion, es gebe die Wesensanschauung als eine Besitztum begründende und in diesem immer wieder begründete. Dabei hätte ihn der methodische Initialgedanke der freien Variation darauf stoßen müssen, daß es das gesuchte Endgültige solange nicht gibt, als es keine Einsicht in die Vollendung der Variation gibt, also [k]eine Präevidenz für die geforderte Evidenz“ (Zu den Sachen 9 – 10).
Das macht die rhetorische „Aktualität“ der Anthropologie aus, ja es bringt sie „fast in einem philologischen Sinn“ in die Rolle „der Textsicherung“ (Zu den Sachen 11). ‚Anthropologie‘ ist hier der Name für einen tieferliegenden, in der Rezeption der Mythen womöglich gewandelten, verlorenen oder zugewachsenen, „erkenntnispragmatischen“ Kern der Überlieferung.²⁷ Der in der anthropologischen Annäherung doch annäherungsweise anzustrebende Sinn, der dem Höhlen-Konstrukt Platons als „einer in allen Lebensformen vorhandenen und durch diese variantenreich bewirkten ‚Verfehlung‘ der Anschauung des Wesentlichen“ latent – tendenziell immer schon – eingeschrieben ist, läuft dem mutmaßlich intendierten Text-Sinn variantenreich davon, ohne als Allegorie der fortgesetzten Selbstvergewisserungen der Philosophie an Bedeutsamkeit zu verlieren, aber nicht, ohne ein philosophisches Defizit Platons aus der Latenz hervorzutreiben. Das ist Teil der von Husserl verkannten, von Platon aber durchaus auch selbst schon gefürchteten historischen Ironie. Dagegen ist kein Kraut gewachsen, und man sollte nicht, hat Niehues-Pröbsting Recht, die der Allegorie der Höhle literarisch eingeschriebene, in Konjunktiven und indirekter Rede gefaßte sokratische Ironie unterschätzen, die letztlich auch (so etwas wie) der „allegorische Ausdruck sokratischer Wahrheit“ sein könnte; so könnte man für dieses eine Mal Gadamer Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, hg. Manfred Sommer (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), 190 (bei Niehues-Pröbsting 137); Blumenbergs Hervorhebungen in den folgenden Zitaten (meine Verdeutlichungen in eckigen Klammern). Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960). Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), Paradigma II, 27 ff. und Kommentar 301 ff.
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dem ihm sonst so konträren Blumenberg beispringen lassen.²⁸ „Die Unfreiheit der Opportunisten“ in einer „Zeit der Demokratie“ ist und bleibt Teil dieser Ironie, bei der es Blumenberg mit den besten Gründen nicht bewenden lassen wollte.²⁹ Amicus Plato, erinnert Gadamer, war für Blumenberg schwer zu tolerieren; aber magis amica veritas hieß: vor Aristoteles ist schwer zurückzudenken. Was im Klartext nach Bröcker und Heidegger und auch Blumenberg heißt: nicht ohne Kant.
III. Coda Die allegorische Kontinuität des Gleichnisses von Platon bis Wittgenstein, die sich der Pädagogik ebenso leicht erschließt, wie sie sich im Dickicht der Lernziele verliert (von der Ungleichheit der Förderhorizonte integrierter Gesamt-Höhlen zu schweigen), verdichtet sich im kosmischen Ausmaß der mit zu vermittelnden Weltbilder. Die aktuell vollendete philosophische Höhlenratlosigkeit am Ausgang der Höhle erhellt ein New Yorker Kollege, der Wittgenstein-Nachfahre Thomas Nagel, viel gerühmt für lebensnahe Analysen eines aufgeklärten amerikanischen Alltags- und also Kontingenzbewußtseins, in einer Abhandlung mit dem wissenschaftsfreundlichen Titels Mind and Cosmos (2012), die einer zwischen Szientismus und ‚intelligent design‘ schwankenden Öffentlichkeit vor Augen führen soll Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is almost certainly false. ³⁰ Die im puren Höhlenverstand ausgearbeitete Logik der Technik, zeigt Nagel, hat einen neuen kosmischen Mythos gezeitigt, der als so absolut unhinterfragbar gilt, wie es kaum je ein Mythos zuvor war. Die Physik ist längst nicht das einzige, und politisch nicht länger das entscheidende Feld, auf dem die Uneinsehbarkeit solcher mythischer Größen die funktional nicht ersetzbare Rolle spielt, die qua Informatisierung des Wissens und Technokratisierung von Autorität eine Art Übersprungsrationalisierung erlaubt. Die Rolle des ‚Bruttoinlandsproduktes‘ als eines Generalnenners ökonomischer Entwicklung ist eine andere solche, nicht aus der Luft gegriffene mythische Größe, die sich wie alle Statistik zu einer ehedem allegorischen Interpretation von Wirklichkeit eignet und als solche nur schwer – in historisch geschärften Anstrengungen – aufklären und ersetzen läßt:
Hans-Georg Gadamer, „Plato und die Dichter“ (1934), Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie (Hamburg: Meiner 1968), 179 – 204: 202. Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit (Berlin: Suhrkamp 2012), 52 f. Francesca Raimondi, Die Zeit der Demokratie (Konstanz: Konstanz University Press 2014). Thomas Nagel, Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is almost certainly false (New York NY: Oxford University Press 2012).
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als „eine Form, die wunderlichen Wege der Welt zu beschreiben“, bringt Philipp Lepenies die aufgeklärte Verwunderung auf den Punkt.³¹ Die Vorläufer, die er zitiert, William Petty und Sohn – von Marx und Engels noch als bahnbrechende Vorgänger gewürdigt – durften in Blumenbergs Genealogie der ‚Wahrscheinlichkeit‘ nicht fehlen (Paradigma VIII). Nun braucht Thomas Nagel nicht wie Sokrates um sein Leben zu fürchten oder darum, die Studenten von NYU zu verderben. Aber ein paar Meilen weiter westlich säße er nicht so bequem zwischen den Stühlen wie am heimischen Washington Square. Und selbst dort ist die Rückseite dieser Bequemlichkeit ein hoher Preis, nämlich der, allenfalls als ein geistreicher Mann zu gelten, der sich um das aller-unwichtigste Geschäft der Welt kümmert, in dem er nichts als dem Weltlauf nachdenkt. Den gesicherten Verkaufserfolg der akademischen Credentials, die ein Ph.D. aus Nagels NYU und aus Jaegers Harvard bietet, kann die Marke ‚Philosophy‘ nur noch – immerhin noch? – um ein traditionelles Prädikat kosmetisch bereichern: um die Echtheitsgarantie einer sagenumwobenen Denk-Legende, welche – nach-mythisch und doch dem Mythos verpflichtet – die Bindung an ein Vergangenes bezeugt, das man nicht hinter sich läßt, so man es nicht zugleich weise bewahrt.
Philipp Lepenies, Die Macht der einen Zahl: Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts (Berlin: Suhrkamp 2013), 186, Zitat aus William Pettys Political Arithmetick (1676). Im Kommentar zur Stelle in den Paradigmen nachzutragen (Kommentar 423).
8 Epochenschwelle, Anachronie Der umgangene Quintilian varie varietur (De vulgari eloquentia 1.9.10)
I. Rezeptionsschleife, Anachronie Die Epochenschwelle – die ‚epoché‘ als Schwelle – die Hans Blumenbergs Verhältnis zur Antike skandiert und deren deskriptive Problematik sein Werk durchzieht, schließt auf der anderen Seite der hinter der Schwelle zurückgebliebenen Epoche einen eher kuriosen Nebeneffekt der Zeitenwende ein: das Untertauchen eines Namens, der wie kein anderer die Epochendifferenz verkörpert, und sei es im Verschwinden des Namens: Quintilian. In Blumenbergs Werk, das an Gelehrsamkeit nicht spart, ist das Fehlen dieses Namens von einiger Signifikanz. Sein methodisches Projekt Paradigmen zu einer Metaphorologie kommt in der antiken Ausgangskonstellation ohne diesen Autor aus, einer Konstellation, deren Vollendung Quintilian bis zur vollendeten Unkenntlichkeit verkörpert; Blumenberg hat sie ohne ihn – quasi über seinen Kopf hinweg – rekonstruiert. Nach Lage der Dinge, dem Stand der Latinistik der Zeit, musste er fast zwangsläufig ohne ihn auskommen, und es gäbe dazu nichts weiter zu sagen, widerspräche dieser Ausschluss nicht Blumenbergs eigener Konzeption von Rezeption, deren ‚Metakinetik‘ sich die Metaphorologie widmet als dem Kern dessen, was sich in Rezeption abspielt. So dass ich einen eigentlich kurzen Schluss – dass es dazu nichts zu sagen gibt – dahin gehend verlängern muss, dass es nicht darum gehen kann, das Projekt Blumenbergs durch den ihm unbekannten Quintilian zu erläutern, sondern eher darum, Quintilian durch Blumenberg so lesen zu lernen, dass der mit Hilfe Blumenbergs neu gelesene Quintilian Blumenberg zu ergänzen, ja womöglich weiter zu führen erlaubt, als er aus eigener Kraft angesichts des Desinteresses an diesem Autor im 20. Jahrhundert in der Lage war. Vorab ist die Anachronie dieser chronologisch paradoxen Rezeptionschleife von Interesse, denn Quintilians Fall eines verkannten, übersehenen, umgangenen Paradigmas der Rezeption bietet die denkbare beste Probe aufs Exempel dessen,
https://doi.org/10.1515/9783110486377-009
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was Blumenbergs Begriff der Rezeption methodisch zu erfassen sucht.¹ Quintilian ist der optimale, nicht zu überbietende Fall, weil er in dieser Schleife aus der historisch bedingten Verkennung in die Geschichte zurückkehrt, in der er in Blumenbergs Projekt namen- und begriffslos bleibt. Allein das ‚Leitfossil‘ Metapher (eine Geologenmetapher) indiziert die Variationsbreite dessen, was analytisch zu erschließen ist an begrifflichen Vorgaben und, genauer, begreifensgeschichtlichen Überhängen der Antike.² Leitfossile sind Datierungshilfen: In diesem Fall ist es die Metapher, die als Leitfossil – als blind gewordenes Paläonym aus dem Repertoire der Rhetorik – Aristoteles indiziert, der sie als Terminus eingeführt hat und auf den sie auch Quintilian in seinem Handbuch datiert. Was Quintilian angeht, unterscheidet sich Blumenberg wenig von seinen Zeitgenossen – mit ein paar Ausnahmen, die in ihrer Art auch nur bedingt als Ausnahmen aufzufassen sind, so Heinrich Lausbergs monumentales Handbuch der Rhetorik von 1960, dem selben Jahr wie Blumenbergs Metaphorologie und Gadamers Wahrheit und Methode. Klaus Dockhorn, der Nestor (wie man zu sagen pflegte) der deutschen Rhetorikforschung, machte in Rezensionen, die er Lausberg und Gadamer widmete, aber nicht Blumenberg, das für die obsolete Rhetorikforschung Richtige daraus und besiegelte aus gegebenem Anlass, ihrer rechtzeitigen Aktualität im hoch hergehenden Gefecht von Hermeneutik und Ideologiekritik, die Bedeutungslosigkeit – Quintilians.³ Das war nichts Neues und konnte nicht auffallen; der Sachverhalt ist alt und von schlagender Einseitigkeit: Es gibt so gut wie keine nennenswerte Monographie, bei der sein Name im Titel stünde oder es je getan hätte.⁴ Ich rede nicht von der zunehmenden Zahl an Ausgaben seit Michael Winterbottoms kritischer Oxford-Edition von 1970, worunter für unsere Zwecke vor allem Helmut Rahns Übersetzung in den folgenden
Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, Philosophische Rundschau 6 (1958), 94– 120, war ein Bezugspunkt der von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser begründeten ‚Rezeptionsästhetik‘, die ihr erstes Organ in der von Blumenberg mitbegründeten Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik fand. Hans Blumenberg, „Selbsterhaltung und Beharrung: Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität“ (1970), Subjektivität und Selbsterhaltung: Beiträge zur Diagnose der Moderne, hg. Hans Ebeling (Frankfurt/M: Suhrkamp 1976), 144– 207: 144. Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik (Bad Homburg: Gehlen 1968), 169 – 206. Es gibt Ausnahmen, deren beträchtliches Verdienst aber nie Quintilian als eigenständigen Theoretiker betrifft, sondern Quintilian als Quelle, so Freyr Roland Varwig, Der rhetorische Naturbegriff bei Quintilian (Heidelberg: Winter 1976); Jürgen Paul Schwindt, Prolegomena zu einer Phänomenologie der römischen Literaturgeschichtsschreibung: Von den Anfängen bis Quintilian (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000), wo zumindest die kanonbildende Rolle behandelt ist.
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siebziger Jahren ein Indikator ist.⁵ Die Monographie des Herausgebers der BellesLettres-Ausgabe, Jean Cousin, enthält einen kommentierten Katalog der Textüberlieferung (ein Desiderat bis 1975), aber ohne jede inhaltliche Komponente.⁶ Die andere Ausnahme ist in ihrer Art angesichts dieser Lage geradezu sensationell: Otto Seels (eines Cicero-Spezialisten und Blumenberg zweifellos bekannt) Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, posthum erschienen 1977, die erste nennenswerte Diagnose dieses Rezeptionsschicksals, freilich ohne die Lage zu verbessern, denn um Rehabilitation konnte es sich im Fall einer derart tiefgreifenden Verkennung nicht handeln: der Verkennung eines über Jahrhunderte Maßstäbe setzenden, im strengsten Sinne klassischen Werks der ‚silbernen‘ Latinität durch eine emphatisch selbstbehauptende, von der Renaissance des Genie-Gedankens besessene Ideologie von Moderne. Seel versucht das Odium des „subalternen Traditionalisten“ zu widerlegen, das Quintilian anhängt und das Seel treffsicher benennt.⁷ Quintilian war keines von beidem: nicht subaltern und alles andere als ein Traditionalist; seine Präferenz für Lucan und Persius, aber auch sein offenbarer Schüler Tacitus sprechen eine ganz andere Sprache. All das indessen, auch das menschliche Format des Redners, das Seel hervorhebt, trifft nicht den systematischen Kern der Verkennungsgeschichte, in die sich Blumenberg einigermaßen unschuldig einreiht. Seel würdigt als seltenen Vorgänger in dem Unterfangen, Quintilian zu rehabilitieren, Ernst Robert Curtius, dessen Traditionalismus in der Bewunderung von Joyce und Eliot als den aktuellen Helden einer europäischen Literatur aus dem Geiste des lateinischen Mittelalters in der Tat eine Art Analogon zu Quintilian bietet, und der für Blumenbergs Situationsverständnis eine Orientierung war. Bei Curtius kommt Quintilian ausgiebig vor, und der kurze Quintilian-Exkurs, in dem Curtius ihn als Exponenten der „spätantiken Literaturwissenschaft“ (eine heute noch mutige Wortwahl) nennt, tut das seine.⁸ Allerdings verharrt Curtius auf einem eher unentschiedenen Zwischenniveau, für das die durchgängige Rede „schon bei
Quintilian, Institutio oratoria (zweisprachig), hg. Helmut Rahn I–II (Darmstadt: WBG 1972– 75). Zuvor und gleichzeitig die textkritischen Ausgaben von Michael Winterbottom I–II (Oxford: Clarendon Press 1970), und Jean Cousin I–VII (Paris: Les Belles Lettres 1975 – 80), neben denen inzwischen die exzellent kommentierte Neuausgabe der Loeb Classical Library von Donald A. Russell I–V (Cambridge MA: Harvard University Press 2001), zu nennen ist. Jean Cousin, Études sur Quintilien (Paris: Les Belles Lettres 1975). Bei George A. Kennedys Büchlein Quintilian (New York NY: Twayne 1969), handelt es sich, anders als bei seinem Standardwerk The Art of Persuasion in Greece (Princeton NJ: Princeton University Press 1963), um eine anspruchslose College-Einführung. Otto Seel, Quintilian oder: Die Kunst des Redens und Schweigens (Stuttgart: Klett 1977/ München: dtv 1987), 137. Ernst R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern: Francke 1948), 436 ff.
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Quintilian“ kennzeichnend ist und auf dem sich auch Blumenberg, wenn es dazu kommt, bewegt. Curtius bringt zu diesem Zweck ein Zitat, das zu denken geben müsste, weil es Quintilians Reflexionsniveau anzeigt und auf diesem Niveau eine Nähe zu Blumenberg am andern Ende der selben immer noch rhetorischen Tradition beweist. Es ist die im Rückblick des letzten Buchs der Institutio oratoria stehende Besinnung Quintilians auf den Vorgänger, auf den er Wert legt, auf Cicero, hätte dieser doch nur für die Rhetorik zuende geführt, was er so grundlegend begonnen hatte, klagt Quintilian. Dessen „Spuren“ Quintilian nur folgen konnte, indem er sich einen eigenen Weg habe „bahnen“ müssen, schreibt Curtius. Soweit der Hinweis, der einschlägig ist für Blumenberg, da es ihm – ohne Quintilian vor Augen zu haben wie dieser seinen Cicero – nicht soviel anders erging, was die Bahnung des eigenen Weges, der Metaphorologie, betraf. Nehmen wir beides nicht zu leicht, Quintilians leichthändige Bemerkung und Curtius’ leichthinnige Anmerkung, die selbe rhetorische Geste. Sie bringt heraus, was die Tradition der Rhetorik nach Quintilian zunehmend charakterisiert: ein Auseinanderfallen von kollektiv geteilter Lehre und individueller Beherrschung des Lehrgebäudes. Unter dem Eindruck der objektiven Gegebenheit des über Jahrhunderte festliegenden Stoffes verschwindet der für die Disposition verantwortliche Autor Quintilian, aber er markiert, von seinem Adepten Curtius aufmerksam beobachtet, sein Zurücktreten in die – übrigens nachgerade allegorisch verfasste – Szene der Deckerinnerung an den Vorgänger Cicero, der vor eben diesem Schritt in die Lehre, die ihn mutmaßlich den Namen gekostet hätte, wohlweislich zurückschreckte – non hominis sed eloquentiae nomen, war Quintilians Schluss (Institutio oratoria 10.1.112).⁹ Die Konsequenzen für eine angemessenere Rekonstruktion Quintilians ziehe ich hier nicht; aber ich zitiere das kongeniale Fazit, das Richard Volkmann, als er sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts eher widerwillig der Anregung seines Lehrers Gottfried Bernhardy, eines Schülers von Friedrich August Wolf und August Boeckh, fügte und der seit Vossius’ Zeiten nicht mehr zusammenhängend behandelten Materie annahm. Nach umständlichem Lektüre-Pensum von Aristoteles bis Cicero, berichtet Volkmann, das für ihn „trotz ihrer grösseren Leichtigkeit für das Verständnis, vieles unklar“ ließ, kann er nur sagen: „Erst eine wiederholte Lectüre von Quintilians institutio oratoria gab mir einigermaßen Aufschluss darüber was Rhetorik im Sinne der Alten eigentlich sei.“¹⁰ Seither ist Volkmanns Rhetorik der Griechen und Römer die Darstellung, die es möglich macht, mehr als nur „schon Quintilian“ zu sagen. Vgl. Melanie Möller, Talis oratio, qualis vita: Zu Theorie und Praxis mimetischer Verfahren in der griechisch-römischen Literaturkritik (Heidelberg: Winter 2004), 165. Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht (Leipzig: Teubner 1885), vi.
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Darüber hinaus gibt es wenig nach Cicero und Seneca über Quintilian zu sagen (nach seinem Anreger Cicero und seinem Ärgernis Seneca), zu schweigen von Quintilians Stilinteressen an neueren Autoren wie Lucan, Juvenal und Petronius. Was war es „schon bei Quintilian“ (Curtius), das die „Rhetorik im Sinne der Alten eigentlich“ ausgemacht hätte (Volkmann)? Was war es in Ciceros Rhetorik, das bei Quintilian eine Werk hervorbrachte, in dem der Autor Quintilian außer der Spur Ciceros keine eigene, sondern Ciceros Spur als seine eigene hinterließ? Blumenbergs Cicero – unmissverständlich lesen wir das in der Einleitung zur Metaphorologie – war „ehestens Kant“ statt „schon Quintilian“.¹¹ Kant war es, der „dies Geschäft“, wie Blumenberg ihn für sein Vorhaben zitiert, „einer tieferen Untersuchung“ wert erachtet hätte (Paradigmen 15), diese aber – zugegebener Maßen aus anderen Gründen als Cicero – hintanstellte und nie dazu kam. Blumenbergs nahezu einzige, dafür gleich mehrfach wiederholte Erwähnung des Quintilian ist in vielerlei Hinsicht kurios und steht in der unmittelbaren Nachbarschaft Kants, „wie aus [dessen] Paradigmen klar hervorgeht, unter denen sich auch Quintilians pratum ridet wiederfindet“ (Paradigmen 15). Es ist das einzige Beispiel einer Metapher in der Einleitung zur Metaphorologie, einem der dichtesten, anspielungsreichsten Stücke, die Blumenberg verfasst hat. Er zitiert es dort offenbar über Curtius, verschätzt sich aber leichtsinnig in der Zuordnung des im Verweis auf Quintilians Behandlung der Metapher als eines „alten Schulbeispiels“ Angeführten, das Curtius – modern, wie er ist – als die Übertragungsleistung eines Anthropomorphismus erklärt: „Das Lachen des Menschen wird auf die ‚Natur‘ übertragen“, kommentiert er, als wäre das keine Frage (Europäische Literatur 138). Blumenberg nimmt die Schulweisheit, als könnte sie nichts anderes als „schon Quintilian“ sein, und er hat, von der Unrichtigkeit der Zuweisung abgesehen, einen Anlass, der seine Unaufmerksamkeit rechtfertigt, denn er handelt an dieser Stelle (der Einleitung zur Metaphorologie) von dem, was an Rhetorik bei Kant und unter seinen Ansprüchen übrig geblieben wäre.¹² Dessen ‚Symbol‘ fände als die Entdeckung der ‚absoluten Metapher‘ sein rhetorisches Urphänomen in „Quintilians pratum ridet“, das als Schulweisheit von nachgerade anthropologischer Evidenz wäre, und es wäre folglich keiner weiteren Rede wert, dass es bei Quintilian selbst nicht vorkommt. Es gehört in den Einzugsbereich der „Anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, die Blumenberg ein
Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), 138. Seitenzahlen mit der Abkürzung Paradigmen nach dieser Ausgabe. Der erwartbare und übliche Negativbefund der „Überflüssigkeit der Rhetorik“ ausführlich bei Tobia Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel (Tübingen: Niemeyer 1993), 37 ff. (ohne Sinn für Blumenbergs „Aktualität der Rhetorik“, 156).
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Jahrzehnt später versucht (1971) und die Anthropologie als die aktuellste Vorzugsgestalt der Rhetorik in der Moderne behandelt, die im pratum ridet einen kapitalen Kronzeugen hätte (durch wen auch immer es in das Arsenal der Schulbeispiele geraten wäre). Tatsächlich tritt pratum ridet in dieser Rolle nicht in der „Annäherung“ selbst wieder auf, sondern wenig später in der Vorlesung zur Theorie der Unbegrifflichkeit (1974), die in den Anthropologie-Komplex der Beschreibung des Menschen einmündet, wo das Beispiel pratum ridet prompt wiederkehrt. Das ist mein Thema erst in zweiter Linie, sofern der fortwährende Gebrauch des selben Beispiels ein Licht auf den Quintilian wirft, bei dem es nicht steht.
II. pratum ridet (illustratio) So ist kein Zufall, was uns die Paradigmen zu einer Metaphorologie als erstes Exempel in die Hände spielen; es bestätigt die Allgegenwart einer poetischen Tradition, in welcher der Satz pratum ridet nicht besser gewählt sein könnte und Blumenberg die im ‚Symbol‘ Kants identifizierte ‚absolute Metapher‘ illustriert findet, die dieser im § 59 der Kritik der Urteilskraft einer „tieferen Untersuchung“ zuführen will. Es steht zwar als Beispiel nicht bei Quintilian, sondern dieser diente schon Curtius nur als konventionelle Deckadresse für die rhetorische Tradition insgesamt. Zu diesem Beispiel kommt es dort viel später, im Mittelalter des für seinen Witz bekannten Abaelard, aber bei ihm steht es in der pluralen, metrisch ausgefeilten Form prata rident. ¹³ Die philologische Spurensuche gerät in eine Verlegenheit, die der figuralen Komplikation aufs Haar gleicht, denn prata rident verrät mit der metrischen Kontextur das lyrische Milieu Vergils, bei dem dieses Exempel zwar so wenig vorkommt wie bei Quintilian, nach dessen Muster es aber als Motiv parodiert werden konnte von einem gelehrten Liebhaber Vergils wie Abaelard. Mithin wäre pratum ridet das um die Vergilsche Signatur gekürzte Beispiel einer Metapher nach Quintilian – soweit hätten Curtius und Blumenberg nicht unrecht. Allerdings auch nicht viel mehr als das, denn der von Curtius freihändig erschlossene, von Blumenberg als phänomenologischer Beleg requirierte Anthropomorphismus ist weder Quintilian noch klassische Rhetorik nach ihm, sondern eine poetologische Zutat, deren rhetorische Potenz erst in Abaelards Antike-Rezeption zu situieren ist, und dessen anthropomorphe Qualität historisch dahinsteht.
Irène Rosier-Catach, „Prata rident“, Langages et philosophie (Hommage à Jean Jolivet), éd. Alain de Libera, Abdelali Elamrani-Jamal, Alain Galonnier (Paris: Vrin 1997), 155 – 176.
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Das wird klarer, wenn man das unterdrückte Paradigma hinzunimmt, das nicht das von Abaelard und seinen scholastischen Kollegen zu einiger Beliebtheit gebrachte Motiv der prata rident ist, sondern das zuerst in Ciceros De oratore überlieferte Exempel der laetae segetes (3.155), das Vergil eine gute Generation nach Cicero am Eingang der Georgica verewigt hat: Quid faciat laetas segetes (Georgica 1.1). „Was üppige Saaten erwirkt“, lautet eine übliche Übersetzung, deren bäuerlichen Hintergrund Quintilian zu Beginn seines Metaphern-Kapitels frei nach Cicero als ein Beispiel für eine hergebrachte, konventionsgebundene necessitas anführt: sitire segetes (8.6.6). Bei Pieter Burmann, der QuintilianAutorität, die Kant nahelag (Leiden 1720), ist dies durch eine Eselsbrücke, Et sit scire, erläutert (das „muss“ man wissen, denn trivialerweise heißt sitire „dürsten“).¹⁴ Darunter verschüttet liegen archaische, kultische Bezüge, die man über Tibulls Landleben erahnen kann, wie von D.O. Ross einfallsreich diskutiert ist.¹⁵ Sie zu erwähnen macht hier insofern Sinn, als es Texte sind, die Kant auswendig wusste und bei Gelegenheit lateinisch vorzutragen liebte, am liebsten Vergil. Der springende Punkt – hat Lausberg bemerkt und doch nicht verstanden – liegt in der gezielten Über-Interpretation eines offenbar alten Motivs durch Cicero, an der Lausberg beklagt, dass sie einer falschen Etymologie folge, weil Cicero „fröhlich“ statt „üppig“ lese (§ 562).¹⁶ Tatsächlich führt Cicero, dessen etymologische Strategie in derlei Fällen eine eigene längere Abhandung verdiente, mit laetae segetes eine idealtypische Modifikation der delectatio vor und präformiert so den Georgica-Eingang Vergils, mit dem Ergebnis, dass wir dort nicht nur von „üppigen Saaten“ lesen, wie uns eine literal gesonnene Philologenschaft einhellig vor-übersetzt, sondern – von Cicero ermuntert – „fröhliche Fluren“ mit zu lesen bekommen. Die von Cicero motivierte delectatio, die von Lausberg unnötig beschnitten wird, liegt in der Unterfütterung des wie eine Metapher auftretenden laetas durch das volksetymologisch gestützte pars pro toto einer Synekdoche (oder auch Metonymie), derzufolge „üppige Felder“ naheliegenderweise „fröhliche Fluren“ sind. Metonymien zielen auf Raumverhältnisse der convenientia: auf
M. Fabii Quintiliani de Institutione Oratoria libri, hg. Pieter Burmann I–II (Leiden: Isaac Severin 1720), I: 731.Vergleichbar zitiert Rosier-Catach als Eselsbrücke zu den laetae segetes Ciceros den Merksatz seges est leta („die Ernte ist lustig“) bei Alain de Lille („Prata rident“, 174). Den impliziten Bezug der Stelle auf Cicero macht erst Russells Kommentar III: 428, Anm. 1, kenntlich. Als Beispiel für den sermo rusticus ist die Stelle erwähnt bei Roman Müller, Sprachbewußtsein und Sprachvariation im lateinischen Schrifttum der Antike (München: Beck 2001), 46. David O. Ross, „Tibullus and the Country“, Atti del convegno internazionale di studi su Albi Tibullo (Roma 1986), 251– 265. Vgl. Denis Feeney, Literature and Religion in Rome: Cultures, Contexts, and Beliefs (Cambridge UK: Cambridge University Press 1988), 121 ff. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik I–II (München: Hueber 1960), I: 289.
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Naheliegendes, wie Foucault für die vorklassische Episteme unterstrichen hat.¹⁷ Wobei in der Folge wichtig wird, dass Quintilian den Gebrauch solch falscher Etymologien oder causae – Eselsbrücken wie der von Burmann exemplifizierten – als Metalepsen führt, was ihre mnemotechnische Eignung unterstreicht und dem durchgehend mnemotechnischen Zug der institutio zugutekommt. Der von Cicero als ländlich (rusticus) apostrophierte Ursprung der laetae segetes – die Fruchtbarkeit, die den Landmann fröhlich macht und zu uralten Kulten Anlass war – illustriert die Urszene des metaphorologischen Paradigmas prata rident, das Kant zur Illustration des ‚Symbols‘ alias der ‚absoluten Metapher‘ Blumenbergs im § 59 nutzt: „Wir nennen Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig, oder Gefilde lachend und fröhlich“ schreibt Kant – prata rident im Plural auch bei ihm, von dem wir wissen, daß er Vergil auswendig konnte. Der metrischen Kontextur Vergils ledig, bietet der Singular pratum ridet das abstrakte Modell eines ästhetisch aufgefassten Anthropomorphismus (‚ästhetisch‘ avant la lettre des Kant bekannten Baumgarten), der bereits eine scholastische Karriere hinter sich hatte bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin (beide Blumenberg naheliegend). Emanuele Tesauro bestätigte in seinem Cannocchiale Aristotelico (1654), dass prata rident ‚metaphorice‘ für prata amoena sunt zu gebrauchen sei.¹⁸ Der Anthropomorphismus, der aus dem Anreiz der ländlichen Urszene erwachsen ist und, wie Blumenberg in der Theorie der Unbegrifflichkeit 1974 sagte, im „schnellen Hinüberwechseln“ zum „menschlichen Gesicht“ motiviert ist, kann nun als der Anhalt zu einer historisch differenzierenden Phänomenologie dienen.¹⁹ Die Heideggersche Pointe des anthropomorphen Sich-Zeigens der Phänomene mag sogar Blumenberg mit bewogen haben, den ‚Ur-Grund‘ der ‚absoluten‘ Metaphorik als in seinem Sinne ‚anthropologisch‘ auszuzeichnen; er illustriert den metaphorologischen Grund als einen rhetorice sistierten, der eben deshalb nicht als die ontologische Voraus-Setzung aufzufassen ist, als die man sie jüngst apostrophieren wollte: „sprachlich eine Vermenschlichung und philosophisch ein Mythos“ ist sie gerade nicht.²⁰ Was dem sprachanalytisch um-alphabethi-
Michel Foucault, Les mots et les choses (Paris: Gallimard 1966), 33 ff.; dt. Die Ordnung der Dinge (Frankfurt/M: Suhrkamp 1971), 47 f. Nach Klaus-Peter Lange, Theoretiker des literarischen Manierismus (München: Fink 1968), 80 f. Entsprechend nimmt Tesauros accutezza als „archaisches“ ingenium den Ort der figura bei Quintilian ein, wie Ernesto Grassi angemerkt hat: Macht des Bildes: Ohnmacht der rationalen Sprache (München: Fink 1968, 2. Aufl. 1979), 186. Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit (1974), hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2007), 60. Lambert Wiesing, Sehen lassen: Die Praxis des Zeigens (Berlin: Suhrkamp 2013), 30, dessen Referat die positive Pointe Heideggers (Sein und Zeit, § 7) völlig verfehlt.
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sierten Gemeinsinn auf den ersten Blick entsprechen mag, trifft, Blumenberg erst gar nicht kennend, Heidegger sowenig wie die von ihm in Anspruch genommene Tradition, von Quintilians Schlüsselrolle zu schweigen. Das unpersönliche deutsche „Es lacht die Au“ bei Curtius (Wagners Parsifal 3.1) schreibt fest, was das aus prata rident gezogene Abstractum pratum ridet zur Formel eignet; es macht in der objektivierenden Form den ‚malenden‘ Charakter zur Regel, der Kants „Gegenstand der Anschauung“ – „Gefilde lachend und fröhlich“ – unter dem Regime der ut pictura poesis folgt und im Betrachter eine „Wende“ vollzieht, die Blumenberg in der Genesis der kopernikanischen Welt (1972) frei nach Kant ‚kopernikanisch‘ nennt.²¹ In ihr findet sich ‚Anschauung‘ buchstäblich gemacht wie in Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürchersee 1749 geschehen (von Blumenberg leider übersehen): „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,/ Auf die Fluhren zerstreut; schöner ein froh Gesichte/ Das den großen Gedanken/ Deiner Schöpfung noch einmal denkt“.²² Die der Absolutheit der Metapher innewohnende ‚erkenntnispragmatische‘ Funktion, auf die es Blumenberg in erster Linie ankommt, stellt die „Regel der Reflexion“ aus, die Klopstock in ihrer gemeinschaftsbildenden ‚Kraft‘ feiert.²³ Dessen Gedicht folgt wie Kant den Georgica Vergils, die das Vehikel verkörpern, über das die neue Ästhetik sich artikulieren lernt. Es umfasst den Komplex ‚Landschaft‘, den Joachim Ritter, Petrarcas Anknüpfung an Cicero unterschätzend, um die Vorprägung durch Vergil gekappt hat.²⁴ Im Jahrhundert vor Klopstock begann Martin Opitz mit dem von Cicero akkreditierten Faciat laetas segetes als maßsetzendem Beispiel sein fünftes, der „Deutschen Poesie“ gewidmetes Kapitel des Buches von der Deutschen Poeterey (1624). Opitz rief darin den in der deutschen Szene über die längste Zeit vergessenen, in der Renaissance aber mit Macht erneuerten Topos auf den Plan (er berief sich explizit auf Philip Sidneys Apology for Poetry von 1595), der als ein solcher in seiner poetischen Funktion erst zu begreifen ist, wenn man die darin
Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt (Frankfurt/M: Suhrkamp 1972), 698, der es in der Metaphorologie nicht versäumt hatte, auf Johann Jakob Bodmers und Breitingers für Kant wie für Baumgarten einflussreiche Werke über die „poetischen Gemählde der Dichter“ aus den frühen vierziger Jahren (1740, 1741) zu verweisen (Paradigmen 74, Kommentar 426). Friedrich G. Klopstock, „Fahrt auf der Zürcher See“ (1751), Klopstocks Oden und Elegien (1771), Kritische Ausgabe von Walter Bulst (Heidelberg: Winter 1948), 72. Anselm Haverkamp, „Fest/Schrift. Festschreibung unbeschreiblicher Feste: Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürcher See“, Poetik und Hermeneutik XIV (1989), 276 – 298. Zum philosophischen Kontext Christoph Menke, Kraft: Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (Frankfurt/ M: Suhrkamp 2008). Vgl. Joachim Ritters Münsteraner Rektoratsrede „Landschaft“ von 1962, Subjektivität (Frankfurt/M: Suhrkamp 1972), in deren auratischen Horizont der Ritter-Nachfolger Blumenberg 1970 eintrat.
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wirksame rhetorische Latenz in ihre Komplexion entschlüsseln will. Eine ästhetische Dimension gewinnt diese Komplexion erst, sofern sie dem metaphorologischen Syndrom entspricht, das bei Quintilian einen eigenen Namen hat und nicht translatio, sondern genauer transumptio heißt, also nicht den allgemeinen Namen der griechischen Metapher trägt, den Blumenberg allein kennt und als derzeit einzig zumutbares Paläonym einführt, sondern den sehr viel spezielleren Befund der Quintilian’schen Metalepsis.²⁵ Der im neueren Sinne ästhetische Effekt, der bei Quintilian noch nicht (oder nur von weither latent) mit theoretisiert ist, liegt in einer Verborgenheit, die keine Absenz ist, wie sie I.A. Richards’ Philosophy of Rhetoric (1936) als freie ‚Stelle‘ im Lexikon der an Quintilian anknüpfenden Rhetoriken unterstellt, sondern eine akute Latenz, in welcher die metaleptische Umbesetzbarkeit an die Stelle der alten Übertragbarkeit getreten ist und die versunkene Ordnung der Dinge zum Echoraum eines historisch provozierten, mehr oder minder historisch beglaubigten Ästhetizismus zu werden droht.²⁶ Richards’ Schüler William Empson hat in Seven Types of Ambiguity, einem Werk, das man im Lichte der Metaphorologie noch neu lesen lernen muss, schon 1930 auf diese prekäre Seite der von Paul de Man entlarvten ‚ästhetischen Ideologie‘ aufmerksam gemacht.²⁷ Empson tadelte Joyces virtuosen Umgang mit dem Schutt der ästhetischen Tradition, dem gegenüber T.S. Eliots berüchtigter, von Curtius und Blumenberg geschätzter „heap of broken images“ im Nachkriegs-Waste Land von 1922 einen harmloseren, vom Autor besser beherrschten und selbst kommentierten Fall bietet. Der Verweis auf Joyce passt hier, weil bei ihm pratum ridet – Blumenberg hätte es gefreut – ein indirektes, metaleptisch gebrochenes Echo gefunden hat, das Empsons Ambivalenz gegenüber Joyce bestätigt und seine Furcht vor der Unberechenbarkeit der Effekte illustriert. Joyce provoziert gemeinhin Motive der Latenz, indem er sie, wie Eliot, in den flüchtigen Sound eines allfällig Assoziierbaren zwingt. So steigt Vergils Faciat laetas segetes in Finnegans Wake (1939) aus dem Mischpult des letztmöglichen aller Epen: „he [Here Comes Everybody] is such a barefooted rubber with my supersocks pulled over his face [faciat] which I publicked [I, Publius Vergilius] in
Bei Cicero, auf den Quintilian wie immer gern zurückgeht, sind translatio und transumptio (noch) nicht klar getrennt, fand Benedetto Riposati in seinen umfassenden Studi su i Topica di Cicerone (Milano: Università Cattolica del S. Cuore 1947), 290. Hier und im folgenden übernehme ich Passagen des Kapitels „Empsons Typ IV: Avantgarde der Kritik und Vorgeschichte der Ästhetik“ aus den mit Rüdiger Campe und Christoph Menke verfassten Baumgarten-Studien: Zur Genealogie des Ästhetischen (Berlin: August Verlag 2014). Paul de Man, „The Dead-End of Formalist Criticism“ (1959), Blindness and Insight (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1983), 229 – 245: 243 f.
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my bestback garden [segetes] for the laetification [laetas] of sidero-mites [quo sidere terram in Vergils nächster Zeile] and to the irony of the stars […].You will say it is most unenglish“, fügt Joyce noch an.²⁸ ‚Ironically‘ kehrt ‚iron‘ – „the irony of the stars“ – den etymologischen Witz Ciceros um und führt ihn von der lachenden Landschaft Vergils in die härtere Materie der Geschichte zurück, der Vergils Epos sekundierte. Die ingeniöse Rekonstruktion, die Joe Schork der Archäologie von Joyces lateinischem Repertoire gewidmet hat, hat es in sich.²⁹ Ihr Witz liegt nicht zuletzt in dem meta-poetischen Mixup, in dem Joyce den ricorso der ‚four master tropes‘ in Vicos Reihenfolge aufführen und in der Ironie enden lässt (Vico folgte implizit Cicero, lernen wir dabei am Rande). Joyce führt eine typische Variante des ‚re-troping‘ vor, aus der Harold Blooms Map of Misreading die englische Vorromantik nach Milton herleitet (und der gegenüber die Wendung zur Härte der Geschichte „most unenglish“ ist).³⁰ Sie alle, hält Bloom fest, sind der von Quintilian als „überschüssig“ qualifizierten Doppel-Figur der transumptio geschuldet (super-est nennt Quintilian sie am Ende seiner Tropen-Serie), die das Netz der Mutationen zum Zerreissen überspannt. Mit dem Zerreissen des von der Metapher – und sei es der ins Absolute übersteigerten Metapher – Geleisteten nimmt Blumenberg es auf, um genauere rhetorische Begriffe noch verlegen, und pratum ridet, das für Kant keine Unbekannte war, bringt ihn auf die richtige Fährte, wenn er sie auch nicht – mangels Quintilians – als solche erkannt hat.
III. Metalepsis (Hauptstück) Ich bin dem Motiv des pratum ridet gefolgt als einem Syntagma, das von Vergil poetisch geprägt, nämlich metrisch ‚gestiftet‘ wurde, wie der alte Hölderlin gesagt hätte: ‚versteift‘ und verstetigt für Generationen von Dichtern und Denkern nach ihm. Die paradigmatische Seite, die Blumenbergs Paradigmen zur Aufgabe machen, steht relativ spät, seit Cicero und Quintilian unter dem von Aristoteles ins Spiel gebrachten Nenner der Metapher, den Ciceros translatio weiterführte als die Übersetzung von ‚Übersetzung‘ – was Quintilian explizit reflektiert und als terminologische Eigenheit mit einem Pfiff zeigt, auf den zurückzukommen ist, da Blumenberg dafür einen Sinn hat. Zunächst ist wichtig, dass Quintilian die Doppelsprachigkeit im Lexikon wahrt, festschreibt und, Cicero folgend, die lateinischen termini tendenziell nach dem Muster der aristotelischen Poetik als James Joyce, Finnegans Wake (London: Faber and Faber 1939), 160. R. J. Schork, Latin and Roman Culture in Joyce (Gainesville FL: University of Florida Press 1997), 124– 125. Harold Bloom, A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), Kap. III–V.
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Strukturen eines Übertragens übersetzt, welches das Feld der Tropen – der Tropen insgesamt – nach modi weiter auszudifferenzieren erlaubt. Mit dem auch im Fall der prata rident relevanten poetischen Haupteffekt der variatio, den Quintilian der Poetik des Horaz zugutehält, und der es bis Opitz, ja bis Baumgarten und Kant bleibt: variatio delectat (Ad Herennium 3.20.3). In einem sorgfältig austarierten Netz von Wendungen, in dem die Tropen als Ersetzungs- und DoppelungsStrukturen fungieren, benennt die Metapher den ersten Haupt-Tropus, von dem Vico, Quintilian nicht untreu, ihn aber hinterrücks mit Geschichtsphilosophie aufladend, drei weitere seit Ramus kursierende Kardinaltropen ableitet, deren Abfolge in der Ironie als zeitgemäßer Pointe endet; dafür hatte Kenneth Burke ein Auge, und Hayden White ist ihm gefolgt.³¹ Die radikal-moderne, vor-romantische Adaption Quintilians, die Vico vornimmt und die Joyce beeindruckt, offenbart in dem Fall, auf den Blumenberg in der ‚Sprengmetaphorik‘ des Nikolaus von Cues als Muster einer ‚absoluten Metapher‘ stößt (und die er sodann in der Radikalisierung ihrer Absolutheit vortrefflich analysiert), die entscheidenden Züge – entscheidend für das Tropen-Ensemble Quintilians und seine avant la lettre bereits metaphorologische Pointe (Paradigmen 176). Das erhellt sich am Theoriestand von Vico bis Joyce ex negativo, insofern Vico die von ihm privilegierte historische Ironie, an der Joyce Gefallen findet, an eine Stelle setzt, die bei Quintilian nicht nur philosophisch unbesetzt ist, sondern rein besetzungstechnisch, unabhängig von allfälligen Besetzungsinteressen, in „interesselosem Wohlgefallen“ funktioniert. Die letzte Stelle nimmt die Metalepsis bei Quintilian ein als letzte Trope, die systembedingt „übrig“ ist, superest, und zugleich einen Grenzwert darstellt, der über die gezogene Grenze schon hinaus ist.³² Das Argument, das Quintilian vorwegnimmt – richtiger: das er ansatzweise schon entwickelt hat – wird das der Aristoteles-Rezension von Jacques Derridas „Mythologie blanche“ sein, der wie sein Gegenspieler in dieser Sache, Paul Ricœur, Quintilian übersehen hat.³³
Kenneth Burke, „Four Master Tropes“ (1941), A Grammar of Motives (Berkeley CA: University of California Press 1969), 503 – 517, Schluss. Hayden White, Metahistory (Baltimore ML: The Johns Hopkins University Press 1973), 31 ff. Vf. „Auswendigkeit: Das Gedächtnis der Rhetorik“ (1991), Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), 121– 148: 129 ff. Jacques Derrida, „La mythologie blanche: La métaphore dans le texte philosophique“ (1971), Marges: de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247– 324: 299. Paul Ricœur, La métaphore vive (Paris: Seuil 1975), 362 ff. Letzterer beschränkte Quintilian in der einzigen Erwähnung seiner Métaphore vive auf eine konventionelle Vergleichstheorie im Rahmen einer in dem Punkt durchaus konventionellen Interpretation des Aristoteles (La métaphore vive 37).
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Blumenberg stößt auf den metaphorologischen ‚Grenzwert‘ (den er auch so nennt) der Metalepsis in der transumptio, die Cusanus’ Kreismetaphorik als transumptio circuli auszeichnet, was Blumenberg etwas übereilt als „vollkommene übertragene Darstellung“ übersetzt (Paradigmen 179). Das ist ebenso zutreffend wie irreführend, weil die Vollkommenheit die Absolutheit der Übertragung in der Sprengleistung betrifft und nicht die Vollkommenheit der ‚Darstellung‘ selbst (ein kantischer, ja klopstockischer Begriff, den Blumenberg imputiert), also deren, wie er anlässlich des Kreises adäquat sagen kann, ‚Sprengung‘. Dass die Übertragung aus sich heraus das Zeug hat zur selbst-überschreitenden Ersetzung des Übertragenen, macht die Differenz aus, die Quintilian vom aristotelischen Paradigma der translatio (der Metapher qua Übersetzung) zur transumptio führt, der Metalepsis. Diese ist schon für Quintilian der metaphorologisch vollkommene Fall (und das ganz ohne die illustrierende Hilfe der von Aristoteles und Plotin auf Cusanus führenden Kreismetapher und ihrer mathematischen Darstellung), sofern die Metalepsis die Tropen an den Rand des Übertragungsmöglichen führt, indem sie den Übertragungsmodus ohne Ansehung der in concreto anfallenden Darstellungsrücksichten mit zur Darstellung bringt; transumptio ex alio tropo in alium velut viam praestat (8.6.37). Sie bietet „von einem Tropus zu einem anderen [Tropus] gewissermaßen einen Übergang“ (Rahns Übersetzung II: 233) und ist tendenziell bereits als ‚Gedankenfigur‘ aufzufassen, ad mentem (9.1.20), weil sie in sich einen Übergang zwischen zwei Tropen anbahnt: in diesem konkreten Fall von der Übersteigung des Kreises als der Figur des plotinischen Nous zu der alles umfassenden Metapher der ‚Unendlichkeit‘ als einer Übertragung, welche die Analogie des Kreises sprengt, indem sie auch die metaphorologische Kapazität der Metapher qua Übertragung übersteigt – gegebenenfalls mit allegorischen Konsequenzen, vor denen Quintilian warnt. Für Blumenberg erledigt sich das Motiv der Sprengleistung wie auch die Warnung, soweit die als absolute Metapher erkannte Kreisfigur die „metaphysische Voraussetzung der universalen Homogenität des Seins“ nur rhetorisch, unter den mildernden Umständen von Entzugserscheinungen wie des prompt eintretenden horror vacui gelten lässt, denen die Absolutheit der Metapher als eines reinen Erkenntnismittels die erkenntnispragmatische Leistung im genaueren Verstande abgewinnt (Paradigmen 178). Sie trägt für Blumenberg Ciceros Handschrift. Nun ist einzuräumen und Blumenberg zuzugestehen, dass Quintilians finetuning im Felde der Tropen, das in der Metalepsis die höchste Raffinesse erreicht und die weitestreichende Latenz bis hin zu Baumgarten und Blumenberg aufweist, in der Wirkung von Quintilians Handbuch weitgehend strittig oder unverstanden geblieben und nur sehr untergründig und in Brechungen nachzuverfolgen ist. Irène Rosier-Catach, die versierteste Kennerin des mittelalterlichen
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Textmilieus, der wir auch die Aufdeckung des prata-rident-Komplexes verdanken, erklärt translatio und transumptio für de facto ununterscheidbar in dieser Zeit, und sie trifft damit den common sense der alten Autoren wie auch der modernen akademischen Kollegenschaft.³⁴ Sie trifft leider nicht Quintilians komplexe Vorgabe selbst, die sie rückwärts missversteht, und vermutlich trifft sie auch nicht die kenntnisreiche Rezeption von rhetorisch gewieften Fachleuten wie Abaelard.³⁵ Tatsächlich liegt die Sache bei prata rident strukturell ähnlich wie bei der transumptio circuli; Blumenbergs bestechende Intuition könnte sich in der Wahl dieser beiden tragenden Exempel der Metaphorologie glänzend bestätigt sehen. Der von Frau Rosier nachgezeichnete Weg der prata rident weist die zeittypische Kollusion von logischen und theologischen Darstellungsrücksichten auf, die Cusanus’ Sprengmetaphorik unmittelbar vorausgehen. Denn der in pratum ridet dingfest zu machende Sprung ist einer, den man wie Cusanus transumptio nennen kann, weil er die Erwartungen an Wiese und Weide nicht nur übertrifft (wie Ciceros segetes), sondern weil der Sprung vom gewohnten Syntagma zu einem neuen Syntagma ein „schnelles Hinüberwechseln“ von den Gefilden zum „menschlichen Gesicht“ auslöst, sagt Blumenberg, und damit einen Modus, den die kopernikanische Wende zur Ästhetik neu zu datieren verlangt. Das kann ich an diesem Beispiel nicht viel weiter vertiefen, so vortrefflich es für die spätere Entwicklung der Blumenbergschen Beschreibung des Menschen auch sein mag. Dabei ist die implizit an diesem einen Motiv aufblitzende Vorgeschichte der von Blumenberg in der kopernikanischen Wende mit gewärtigten Geschichte der Ästhetik nach Kant entscheidend, die Klopstocks Fahrt auf der Zürchersee in Szene gesetzt hat. Quintilian, sofern er nicht in der metaphorologischen Differenz von Metapher und Metalepsis Nachfolger hatte – zuvörderst in Beda, dem venerablen Verfasser der enzyklopädischen Etymologie des Mittelalters, aber auch in George Puttenhams Art of English Poesie (1689) – wurde vergessen, behielt aber gleichwohl recht.³⁶ Erasmus’ Entscheidung in De copia (1512), die Metalepsis zu meiden, wo sie sich nicht, wozu Quintilian selbst noch neigt, zur Metonymie entschärfen ließ, errichtete eine stilistische Barriere, die analytisch ad hoc, im je besonderen Fall zu überwinden war. Für Beda war das der heilsnötige Fortschritt vom Grund zur Folge, für Puttenham wurde daraus das subversive
Irène Rosier-Catach, La parole efficace: Signe, rituel, sacré (Paris: Seuil 2004), 230; „Prata rident“, 155, Anm. 1. Für Blumenberg wäre Paul Lehmann nachzutragen, „Die Institutio oratoria des Quintilianus im Mittelalter“, Philologus 89 (1934), 349 – 389. Auch hier sind immer nur grobe Umrisse verhandelt worden wie bei Carl J. Classen, „Quintilian and the Revival of Learning in Italy“, Humanistica Lovaniensia 43 (1994), 77– 98.
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Talent der neuzeitlichen Poesie, auf die das regelmäßig zutraf und für die das gattungsmotivierend wurde. „Was wir ‚Sprengmetaphorik‘ nennen wollen“ im Gleichnis der transumptio circuli des Cusaners, ist für Blumenberg das dramatisierende Symptom eines Prozesses eher denn ein feststehender Sachverhalt (Paradigmen 176). Nicht nur werde die affizierte Anschauung okkasionell überanstrengt, sondern werde sie prozessual an die Grenze geführt, an der sie scheitern muss. Dabei ist zweierlei zu unterscheiden: der theoretische Nachvollzug als „erlebbarer“ einerseits, und eine Transzendenz, die – wiewohl als „sprengend“ erlebt – doch nichts dergleichen tut, sondern in sich – immanent – ruht. Daß das eigentliche „Sprengmittel dieser Metaphorik der Unendlichkeitsbegriff“ ist, benennt das rhetorische Mittel bei seinem neuen Namen. Elizabeth Brient hat in The Immanence of the Infinite (2002), einer fundamentalen Blumenberg-Studie bemerkt, daß die Funktion der Unendlichkeit als Kennzeichen der absoluten Metapher „beides, Transzendenz und Immanenz“ zugleich umfasse.³⁷ Das ist „des Cusaners großes Thema“ für Blumenberg (Paradigmen 179). Die Einsicht in die Doppelfunktion, die Cusanus mit dem terminus technicus der transumptio belegt, erlaubt Blumenberg, die rhetorische Funktion des Mittels Metapher von der negativ-theologischen Anwendung zu unterscheiden (178): im ersten Fall die translatio im allgemeinen Verstande, im zweiten Fall in der spezielleren Bedeutung der transumptio. Im Cusanus-Teil der Legitimität der Neuzeit kommt er zu der im Blick auf Plotin geschärften Formulierung: „Jeder platonisierenden Mystik, die Gott als das ganz und gar Andere bestimmt, setzt der Cusaner seine Transmystik des Non aliud nicht so sehr entgegen als auf“ (Legitimität 562). Der Verweis auf latent negativ-theologische Aspekte bei Augustinus erinnert an dessen in nuce metaphorologischen Umgang mit dem Proto-Paradigma des „Lichts als Metapher der Wahrheit“ (1956), wo Augustinus „die Lichtmetaphysik auf die Lichtmetaphorik zurück[führe]“, was seine kardinale Rolle für die Metaphorologie zwischen Aristoteles und Kant, genauer zwischen Plotin und dem Cusaner begründet.³⁸ Der Unendlichkeitsbegriff ist als Sprengmittel nicht die Allegorie einer in die Transzendenz fortgesetzten und entgrenzten Metaphorik – keiner metaphorà continuata, vor deren Missbrauch Quintilian warnt – sondern die Metapher einer Selbsttranszendenz, transumptio, in der die „Koinzidenz von Immanenz und Transzendenz“ aufgehoben war (Paradigmen 179). Als Figur, die „aufhört, sie selbst zu sein“, erkennt Blumenberg (177), bezeichnet die transumptio einen Bruch in der Figur selbst, der Elizabeth Brient, The Immanence of the Infinite: Hans Blumenberg and the Threshold to Modernity (Washington DC: The Catholic University Press of America 2002), 149. Hans Blumenberg, „Licht als Metapher der Wahrheit“ (1957), Ästhetische und metaphorologische Schriften, 139 – 171: 156.
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ihren Ort, technisch gesprochen ihren status, am Rande der Tropen hat.³⁹ Er liegt im Übergang der Tropen zu den Figuren, auf den Blumenberg mit Hilfe von Cusanus kommt, der den rhetorischen Sachverhalt mit einem Gleichnis aus der platonisch inspirierten Mathematik absichert. Das mag en detail dahin gestellt bleiben; nur auf die Stelle, an der Unendlichkeit höchst paradox auftaucht und in der produzierten Paradoxie den metaphorologischen Ort der transumptio über die translatio hinaus markiert, kommt es hier an, denn es ist Quintilian, dessen Differenzbeschreibung (sei es Cusanus bewusst oder nur über den scholastischen Jargon vermittelt) zugrunde liegt. Richard Volkmann, der zugab, erst durch Quintilian den rechten Zugang zur Rhetorik gewonnen zu haben, kam ausgerechnet mit der Metalepis nicht zurecht, nannte sie einen „sehr unklaren und schwierigen Tropus“ (Rhetorik 427), und das passt zu der unklaren Verwendungsgeschichte der transumptio, die Irène Rosier im Umfeld von prata rident unentscheidbar findet (Prata 344). Volkmann kommt auf den springenden Punkt dessen, was ihm „äusserst unklar“ bleibt, zielsicher zu sprechen (Rhetorik 429). Er liegt in einer präzisen, dem Autor Quintilian nicht zugetrauten, einem Abaelard durchaus kongenialen Formulierung, mit der er die Bestimmung der Metalepsis – quae ex alio tropo in alium velut viam praestat – erläutert, indem er fortfährt: est enim haec in metalepsi natura, ut inter id, quod transferetur et in quod transferetur, sit medius gradus, nihil ipse significans, sed praebens transitum (Institutio oratoria 8.6.37).
„Äußerst unklar“ erschien Volkmann der mittlere, selbst wieder (oder noch, kurz vor dem Absprung) metaphorisch den Weg bahnende Schritt, sofern dieser selbst nichts als Nichts bezeichnen soll: nämlich nichts als die Bahnung selbst. Mit der ‚Bahnung‘ wird wenig später Freud die trivial erscheinende Metapher Quintilians aufgreifen, die den Weg der Übertragung amplifizierend fortführt. Man sieht, wie der Weg der rhetorisch-technischen Analyse, hodos, met-hodisch verfahren muss und metaphorologisch gar nicht anders kann als dem aristotelischen Verfahrenssinn zu folgen.⁴⁰ Aber anders als Aristoteles – dessen philosophisch-ontologischem Kompromiss zwar nicht abhold, aber indifferent gegenüber, ihm proto Eckart Zundel, Clavis Quintilianea: Quintilians ‚Institutio oratoria‘ aufgeschlüsselt nach rhetorischen Begriffen (Darmstadt: WBG 1989), 61. Vf. „Met-hodos, Setzung nicht durch Gewalt: Zur Metaphorologie von Verfahren in Literatur und Recht“, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts: Annäherungen zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft, hg. Ino Augsberg, Sophie-Charlotte Lenski (München: Fink 2012), 23 – 39: 26 f. Ich verdanke die Stelle der grundlegenden Arbeit von Rüdiger Campe, „Vor Augen Stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, Poststrukturalismus, hg. Gerhard Neumann (Stuttgart: Metzler 1997), 208 – 225: 214.
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grammatisch geradezu zuvor kommend – legt Quintilian die von Lausberg so genannten „Änderungskategorien“ (I: 250) tiefer. Die mutatio als der grundlegende Bewegungsbegriff der Tropen und ihrer Wendungen (8.6.1) entspricht der aristotelischen kinesis. Deshalb bekommt es Metaphorologie, nach dem witzigen Vorschlag des jungen Blumenberg, mit der Metakinese zu tun. Die minimale mutatio, die sich bei Cicero und in der ihm lange zugeschriebenen Rhetorica ad Herennium (die Quintilian nicht erwähnt oder nicht mehr der Rede wert findet) nach composita weiter differenzieren lässt und als generalisierte per-mutatio eine Alternative bietet, die vor der Einführung des Schemas der translatio – noch vor der von Cicero adaptierten Metapher des Aristoteles – liegt, transportiert selbst nichts.⁴¹ Als ausgeführte mutatio sprengt sie noch die „Funktionsüberkreuzung“, die Lausberg in der commutatio erkennt (§ 802). Die permutatio transferiert nicht etwas, wie es die translatio tut, aber das macht erkenntnispragmatisch nichts, weil im Hausgebrauch die lebensweltlichen Verhältnisse konventionell geregelt sind und okkasionelle Abweichungen ein allótria darstellen. So zitiert Aristoteles den common sense, dem er mit dem Metaphernbegriff die technische Fassung gibt. Die rhetorische Voraussetzungsgeschichte der mutatio – man mag sagen: das ‚historische Apriori‘ der Rhetorik – mitsamt der tropischen Ausdifferenzierung in der permutatio gibt nichts vor als den in seinem Stellenhaushalt historisch-mittelfristig festgeschriebenen StellenRahmen, in den Quintilian sein Netz ineinandergreifender Stellen-Übergänge einschreibt, vorführt und in der Vorführung erst recht „eigentlich“ (wie Volkmann erkennt) zu Sinn macht. Deshalb ist die Metalepsis für Quintilian Entsprechung und Fortsetzung der Metapher des Aristoteles zugleich – zwar ohne ontologische Begrenzung, aber entgrenzt im Stile römischer Translationstechniken, der translatio imperii und ihrer rechtsgeschichtlichen arcana. Die Sachlage wurde in der nach-heideggerschen Krisen-Umdisposition, deren erster Kernbegriff bei Blumenberg früh, in einem ersten Reflex auf Heideggers ‚Seinsgeschichte‘, die Rückbesinnung auf die metakinesis des Aristoteles wurde (Problemata 10.13.1), zur Grunddisposition einer Umbesetzungstheorie der europäischen Geistesgeschichte. Zurecht als anti-geschichtsphilosophisch empfunden, wurde sie zum Skandalon der Legitimität der Neuzeit, in ihrer Herkunft und ihrem Funktionieren aber kaum verstanden. Rüdiger Bubner kam der Sache am nächsten, als er von der „Minimalkonzeption“ sprach, die Blumenbergs Geschichtstheorie allenfalls darstelle.⁴² Weit berechtigter wäre es, Blumenbergs
Ausführlicher Vf. Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs (München: Fink 2007), 29 f. Rüdiger Bubner, Dialektik und Wissenschaft (Frankfurt/M: Suhrkamp 1973), 108 f.
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Umbesetzungstheorie als Ansatz zu einer ‚historischen Epistemologie‘ wie der von Ian Hacking, Evelyn Fox Keller oder Hans-Jörg Rheinberger aufzufassen: als eine rhetorische Proto-Grammatik von Lebenswelt-Geschichten und die Abfolge der ‚Wirklichkeitsbegriffe‘ als die der Phänomenologie nächstliegende, weil lebensweltlich umfassendste Relevanzstruktur der Variation, die bei Alfred Schütz bereits in eine „Philosophie der Leerstelle“ einmündete (von Blumenberg leider nicht einbezogen).⁴³ Blumenbergs minimaler Historismus ist ein transzendental radikalisierter Historismus, der weniger zu der ‚historischen Anthropologie‘ tendiert, die Wolfgang Iser aus der Konstanzer Rezeptionsästhetik entwickeln wollte, sondern auf den rhetorischen Historismus hinausläuft, den Paul de Man nach dem Muster des Saussure’schen Strukturalismus postuliert hat – ein dezidierter Post- und nicht nur Neo-strukturalismus, ein ‚New Historicism‘ ganz eigener Art.⁴⁴ Blumenberg hat auf seine Weise Quintilian wie das Rad neu erfunden. Indessen, daß Räder immer wieder verlernt werden über den Teleologien des durch sie ermöglichten Transports und neu erfunden werden müssen, ist weit erklärungsbedürftiger als der begrenzte Scharfsinn des Philosophen. Tatsächlich, so kann man bei Blumenberg lernen, muss das Rad immer neu erfunden werden, denn Räder rollen nicht ewig, sondern, unversehens antriebsschwach geworden, rollen sie aus, weshalb man der Rhetorik seit alters vorwirft, zu leerlaufenden Ornamenten geworden zu sein, in denen dann freilich – rhetorische List der Vernunft – ein Neues sich metaleptisch anbahnen kann.
IV. Anthropologie? (Supplement) Das mag der Weisheit letzter Schluss sein, obwohl Blumenberg uns an diesem Punkt im Stich lässt. Nicht so Quintilian, der die minimale Zeit-Stelle des Kategoriensprungs, den Beda Venerabilis sich und seiner Zeit zunutze machte, dem transumptiven Weiterschreiten über einen vermittelnden Schritt zuteilt, medius gradus, der bei Blumenberg einer Epochenschwelle entspricht und nach einem geistesgeschichtlichen Kompromiss verlangt, den er mit Quintilian nicht nötig gehabt hätte. Das Fragezeichen gilt einer Verlegenheit, die nicht das Gewicht der Quintilian gewidmeten Hauptteile verkleinern soll im Blick auf einen Joker, mit dem Blumenberg nicht ungern spielte. Die Rezeptionsschleife, wie man an Alfred Schütz, Das Problem der Relevanz (1951), hg. Thomas Luckmann (Frankfurt/M: Suhrkamp 1971), 227 ff. Vf. „Paradigma Metapher, Metapher Paradigma: Zur Metakinetik hermeneutischer Horizonte (Blumenberg/Derrida, Kuhn/Foucault, Black/White)“, Poetik und Hermeneutik XII (1986), 230 – 251, mit Nachtrag (1995), Die paradoxe Metapher (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 268 – 286.
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Quintilians Rezeptionsschicksal sieht, beschreibt die Figur der Metalepsis. Die Schwelle, die den Übergang der Epochen – nicht aller, aber dieser, die mit größerem Fug und Recht ‚Renaissance‘ heißen könnte – ist die transumptio, in der sich der Fortgang der Tradition mit einem Mal – auf ein Mal, für ein Mal? – der translatio studii (von der des imperium zu schweigen) entzieht: die sie überspannt und übersteigt. Der von Blumenberg angezielte Fehlschluss der Übersteigung, der die fatal übersteigerte Selbstermächtigung der Neuzeit zeitigt (fast zwanghaft – ‚neurotisch‘ sagte Freud vor Blumenberg), zieht die machtbesessene Rückkehr einer Selbstermächtigungsfigur nach sich, der die antike Erkenntnispragmatik eines Cicero oder Quintilian stoische epoché verordnet hatte. So in dem exemplarischen Fall der translatio imperii nach Carl Schmitt, die ich erwähne, weil er in der Überarbeitung der Legitimität der Neuzeit mit so viel Fleiß richtiggestellt worden ist, um doch wieder nur weiter mißverstanden zu werden.⁴⁵ Wie dem auch sei, die neue Figur der Selbstermächtigung lautete für Blumenberg ‚Anthropologie‘, und ihr Weltbild ist der ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘, vor dem die Arbeit am Mythos schier verzagt. Davor nimmt sich Blumenbergs eigenes Rezeptionsschicksal aus wie eine Fortsetzung der von Quintilian erlittenen Rezeption. ‚Renaissance‘ war ein Name für die Neuzeit als die Metalepsis genauer denn als die Metapher der neu belebten Antike: nicht als ihre translatio unter neuen Bedingungen, sondern als transumptio ihrer entleerten Form in einer „Form an sich“, für die Blumenberg Nietzsche als den Gewährsmann einer ersten – aber nicht viel mehr als einer ersten – „Anthropologischen Annäherung“ beizieht.⁴⁶ Über ihn, der Quintilian fachlich näherstand, kommt Blumenberg der Sache näher: Auch „Prädikate sind Institutionen“, wendet er gegen Arnold Gehlen und den „fatalen Rückfall“ in Hobbes’ Anthropologie ein. Immerhin habe Hobbes „die vermeintliche Wesens-Bestimmung des Menschen […] in eine funktionale Darstellung überführt“, die Blumenberg als Modellfall der „Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ gelten lässt: „Ich sehe keinen anderen wissenschaftlichen Weg für eine Anthropologie als das vermeintlich ‚Natürliche‘ auf analoge Weise zu destruieren und seiner ‚Künstlichkeit‘ im Funktionssystem der menschlichen Elementarleistung ‚Leben‘ zu überführen“ (Schriften 415). Sehen wir von dem ungebremsten Pathos des „Ich sehe“ in dieser Grundsatzerklärung zur „Aktualität der Rhetorik“ ab; achten wir stattdessen auf die „analoge Weise“ der unbedingten „Destruktion“ [sic!], den Modus des „metaphorischen Umwegs“, den der Grenz Hans Blumenberg, Säkularisation und Selbstbehauptung (1973), Neufassung der Legitimität der Neuzeit (1967), integrale Ausgabe (Frankfurt/M: Suhrkamp 1988), Teil I, Kap. VIII–IX. Vgl. Vf. „Säkularisation als Metapher“ (2003), in diesem Band das folgende Kap. 9. Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), Ästhetische und metaphorologische Schriften, 406 – 431: 408.
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wert Metapher qua Symbol bei Kant erforderte, sofern das „Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen“, sich von dem des ‚Urteils‘ (beim selben Kant), nämlich „etwas als etwas zu begreifen“, darin unterscheidet, daß das „ganz Andere“ dieses notwendig metaphorischen Begreifens „nichts hergibt als die pure Ersetzbarkeit des Unverfügbaren durch das Verfügbare“ (meine Collage 215 – 6). Mit dieser Koinzidenz wäre ich am Ende, aber bei Quintilians Metalepsis – super est – ist das nicht alles.⁴⁷ Foucaults „durchkreuzte Markierung“ bezeichnet das Verschwinden des Menschen aus einer Ordnung der Dinge, die im französischen Original Les mots et les choses Erasmus’ Quintilian-Adaption von De copia rerum et verborum im Titel trug.⁴⁸ Bei der Entschärfung, die Erasmus dort im Sinne hatte, wollte Quintilian es so wenig bewenden lassen wie Blumenbergs Cusanus-Lektüre. Ein Zitat der Metalepsis-Bestimmung – nihil ipse significans, sed praebens transitum – ist wohl nicht beabsichtigt in Blumenbergs Gehlen-Korrektur, aber seine Wortwahl steht nicht zufällig an dieser Stelle, die von der Ersetzbarkeit und folglich der Umbesetzbarkeit als einer grammatischen Errungenschaft des Begriffs von ‚Stellen‘ überhaupt handelt und diese antike Errungenschaft als eine frühe, quasi transzendentale Ergänzung des in Kants Urteil Versäumtem – im „etwas als etwas Begreifen“ – nachholt. Der nicht falsche, von Blumenberg in seiner Kant-Treue zu rettende, aber gleichwohl „fatal“ belastete Name des grundlegend Versäumten, der von Hobbes wie von Gehlen mit den fatalen Konsequenzen der funktionalen ‚Destruktion‘ belasteten Voraussetzungsschicht, welche die Metaphysik seit Aristoteles in dem Projekt der Metaphorologie bietet – ist ‚Anthropologie‘, und deren ‚Aktualität‘ ist Rhetorik. Das „ganz Andere“ metaphorischen Begreifens ist nicht die translatio der pseudo-morphotischen ‚Horizontverschmelzungen‘, die Hans Jonas der Kritik unterworfen und Blumenberg mit dem Komplex der Gnosis zugespielt hat. Das ganz Andere funktioniert in der Moderne als Metalepsis, als radikale transumptio des metaphorisch Intendierten. Puttenham übersetzte sie als „the far-fetched“, als weither Geholtes, das in Shakespeares imperialem England andrängte und nicht länger, wie es Erasmus’ De copia in den Bürgerkriegen der innereuropäischen Religionen verzweifelterweise ratsam schien, auf Metonymien der Nachbarschaft zurückzubringen war. Das ist ein weites Feld, auf dem Anthropologie die perfide Vorzugsgestalt einer schon im Ansatz verfehlten „Wesens-Bestimmung“ verkörpert, die Blumenberg zu destruieren nicht müde wurde, die aber doch, meinte er, eine andere Aktualität Ich kann hier auf Christopher Woods Beitrag „Metalepsis“ hinweisen, Denkfiguren/ Figures of Thought, hg. Eva Horn und Michèle Lowrie (Berlin: August Verlag 2013), 111– 113. Vgl. Dirk Quadflieg, Das Sein der Sprache: Foucaults Archäologie der Moderne (Berlin: Parodos 2006), 118.
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verdiente, als die der von Grund auf falschen Unterstellungshermeneutik Gadamers: eine neue institutio legendi der Philosophie. Oder – der Philologie wegen, die sich damit zu schaffen macht – einen Vico redivivus (Blumenbergs Idee), wie er ent-romantisiert wurde von Joyce und Beckett (Adornos Negativitätsästhetik ist eine Konsequenz).
PS: Linguistik (Varianten oder Alternative) Eine interessante Parallele verdeckter Quintilian-Rezeption, auf die hier nur kurz zu verweisen ist, weil sie das Thema zu weit überschreitet, bietet die linguistische Poetik des Lausberg-Schülers Harald Weinrich, der mit einiger Verspätung die einzig nennenswerte Rezension der Metaphorologie publizierte. Weinrich attestierte darin dem Autor durchaus ein linguistisches Talent, ließ aber für seinen Teil keinen Zweifel daran, daß das tatsächliche Desiderat „nur eine linguistische Metaphorologie sein“ könne.⁴⁹ Weinrich hatte eine Reihe Blumenberg-affiner Studien veröffentlicht, deren Feld- und Typenbegriff die als ‚Hintergrundmetaphorik‘ beschriebene Sachlage betreffen.⁵⁰ Die wichtigste Anknüpfung musste für Weinrich aber die der ‚absoluten Metapher‘ sein, unter deren unausrottbar „metaphysischer Prägung“ er nicht allein den linguistischen, sondern auch den rhetorischen Sachverhalt verstellt fand, dass „alle Metaphern absolute Metaphern“ seien, und in dem von Weinrich selbst mit vertretenen Sinne dieses Begriffs Blumenbergs Wortwahl nicht viel mehr bewirke, als die alte Problemstelle der Metapher in der Bedeutung eines Sachverhaltes zu unterstreichen, die Weinrich als „kühne Metapher“ in historisch-konkretem Bezug auf die frühmoderne Rhetorik verhandelt hatte, im Gegenzug zu den von Hugo Friedrich eben erschlossenen, von antiker Rhetorik rundum befreiten „negativen Kategorien“ der Struktur der modernen Lyrik. ⁵¹ Daraus eine – vor allem im Blick auf Friedrichs Moderne – relevante Alternative zu entwickeln, hat Weinrich leider nicht explizit
Harald Weinrich, Göttingische gelehrte Anzeigen 219 (1967), 169 – 174: 174. Eine weitere verspätete Rezension aus der Feder des Hamburger Kollegen Klaus Oehler, Gnomon 35 (1963), 225 – 232, hielt sich im Rahmen einer freundlichen Würdigung des in Angriff genommenen Desiderats und empfahl eine Stärkung der Bezüge zum Pragmatismus, dessen Implikationen in Blumenbergs Text in der Tat hervorgehoben gehörten. Harald Weinrich, „Münze und Wort: Untersuchung an einem Bildfeld“ (1958) und „Typen der Gedächtnismetaphorik“ (1964), Sprache in Texten (Stuttgart: Klett 1976), 276 – 290; 291– 294. Harald Weinrich, „Semantik der kühnen Metapher“ (1963), Sprache in Texten, 295 – 316. Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (Hamburg: Rowohlt 1956), historisch revidiert in der späteren Synthese Epochen der italienischen Lyrik (Frankfurt/M: Klostermann 1964).
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vermocht, was nicht zuletzt an dem auch von ihm selbst mit Lausberg umgangenen Quintilian liegen mag. Das Desiderat bleibt der selbstreflexive Umschwung von einer vergessenen, aber wirksamen antiken Rhetorik zu ihren modernen ästhetischen Variationen bei Vico oder Baumgarten, Richards oder Empson. Der kritische Fall der Lütticher Rhétorique générale und des französischen Strukturalismus von Roland Barthes bis hin zu Tzvetan Todorov steht auf einem weiteren Blatt, das ich hier nicht mehr aufschlage. Todorovs These von der Metapher als ‚doppelter Synekdoche‘ wies einen Weg, den keiner, leider auch er selbst nicht, weiter verfolgt hat in die projektierte „symbolisation qui est infinie“ – ein zu weites Feld, welches (das zeigte die Lütticher Rhétorique générale), Quintilians Metapher nach wie vor regiert.⁵²
Tzvetan Todorov, „Synecdoques“, Communications 16 (1970), 26 – 35: 34. Vgl. Jacques Dubois, Francis Edeline, Jean-Marie Klinkenberg, Philippe Minguet, François Pire, Hadelin Trinon (Groupe μ, Centre d’études poétiques, Université de Lièges), Rhétorique générale (Paris: Larousse 1970/ Seuil 1982), IV.1: 108 ff. M/μ steht für Quintilians Metapher. Eine vergleichbare Neuanlage der Tropen mit der Synekdoche an der zentralen Stelle bot Michele Prandi, Grammaire philosophique des tropes (Paris: Minuit 1992), 14– 16.
9 Säkularisation als Metapher Blumenberg vs. Carl Schmitt Was ist Säkularisation? Blumenbergs Kollege Hermann Lübbe, später Staatsekretär für Wissenschaft und Forschung, hat die Säkularisation scharfsinnig einen „ideenpolitischen Begriff“ genannt: Philosophie für die Zwecke von Politik, seit diese sich aufgemacht hat, den modernen Staat aus sich selbst zu begründen. Daß Säkularisation diese Entwicklung auf einen politischen Begriff bringt, ist selbst ein politischer Akt dessen, was dieser Begriff behauptet: ein Akt der Säkularisation. Säkularisation redet von sich selbst also in säkularisierender Absicht, ganz so wie jede rhetorische Figur den rhetorischen Akt, dem sie zugehört exemplarisch vertritt. Das gilt paradigmatisch von der Metapher, die nicht anders kann als sich immer neu metaphorisch zu behaupten, zu vertreten, zu erneuern. Säkularisierung ist ein rhetorisch-politischer Akt solch metaphorischer Setzung und als ein solcher „nichts anderes als die metaphorisch konsequente Einsetzung nichtreligiöser Gehalte in religiös präformierte Aussagen bzw. Aussagesysteme.“¹ Die
Die französische Erstfassung „La sécularisation comme métaphore. Blumenberg interprète de la modernité“ war Beitrag zu einer Debatte mit Marcel Gauchet am Institut catholique de Paris im Winter 2002 und erschien in einer Übersetzung von Jean Greisch in Transversalités 87 (2003), 15 – 28. Die ergänzte Version, übersetzt von Rose-Marie Eisenkolb, ist Teil des mit Jean Claude Monod verfaßten Bandes Philosophie de la métaphore: Penser avec Blumenberg (Paris: Herman 2017). Jean-Luc Nancy hat in Antwort auf die Diskussion von 2002 und aus Anlaß einer Sammlung eigener einschlägiger Arbeiten, darunter „La déconstruction du christianisme“, sein Auf- und Beiseiteschieben Blumenbergs explizit gemacht, wenn auch nicht weiter begründet, La Déclosion (Paris: Galilée 2005), 9. Hermann Lübbe, Säkularisierung: Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg/Breisgau: Alber 1965, 1975), 133, in der zweiten und der letzten Anmerkung des Buches mit Verweis auf die Paradigmen zu einer Metaphorologie, eben erschienen im Archiv für Begriffsgeschichte 6 (Bonn: Bouvier 1960), im Folgenden zitiert nach der kommentierten Ausgabe von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013). Lübbe hat später großen Wert darauf gelegt, „Politische Theologie als Theologie repolitisierter Religion“ auseinanderzuhalten vom begriffsgeschichtlichen „Forschungsprogramm“ einer „Politischen Theologie als Historie und Pragmatik säkularisierender Umprägung theologischer Konzepte in juristische Konzepte“, Der Fürst dieser Welt, hg. Jacob Taubes (München: Fink/ Schöningh 1983), 45−56: 48. Damit entfallen eine Reihe der polemischen Ausfälle der Schmitt-Varianten unter den Taubes-Schülern gegen Blumenberg, so von Wolfgang Hübener, „Carl Schmitt und Hans Blumenberg oder über Kette und Schuß in der historischen Textur der Moderne“, und Richard Faber, „Von der ‚Erledigung jeder Politischen Theologie‘ zur https://doi.org/10.1515/9783110486377-010
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Kritik der metaphorischen Ausführung der „Konsequenz der Einsetzung“ als des unsichtbar unterlegten Schemas der Selbstbegründung heißt bei Blumenberg ‚Metaphorologie‘. Sie sammelt und untersucht nicht so sehr die einzelnen Metaphernvorkommen als die Sphäre der Begriffsbildung, der sie begründenen Leitvorstellungen und Unterstellungen, die Heidegger als metaphysik-stabilisierend verstanden und folgerichtig als ‚seinsvergessen‘ abgetan hatte (exemplarisch im Satz vom Grund) und die Derrida zehn Jahre nach Blumenberg in ihrem rhetorischen Funktionieren für Metaphysik insgesamt beschrieben hat.² Säkularisierung ist für Blumenberg, den konsequentesten Heidegger-Kritiker – und das durchaus in dem doppeldeutigen Sinne des ‚contre-Heidegger‘ Derridas – der Spezialfall der radikalen Seinsvergessenheit der Moderne, der aus dem von Adorno benannten ideologischen ‚Verblendungszusammenhang‘ der Vergessenheit hinterrücks (und also illegitim) das Motiv der rhetorischen Selbstbehauptung zu gewinnen versteht. Dies nicht, ohne sich im Prozeß dieser Subjekt-Gewinnung grundlegend mißzuverstehen; sie ist ihre systematisch verzerrte ‚Rücksicht auf Darstellbarkeit‘ eher denn Intention.³ Zurecht referiert Kurt Flasch den von Blumenberg adressierten status quaestionis als „politisch enttäuschte, theologisch motivierte Neuzeitkritik“, die „nach 1945“ das alt-eingesessene „bürgerliche Fortschrittsbewußtsein und [den] Kulturprotestantismus“ ablöste, um sie im Mißverständnis nur zu vertiefen: als „Produkt der Säkularisierung, das sich selbst nicht [mehr] durchschaue.“ ⁴ Säkularisierung ist sowohl das Symptom, als auch das politische Instrument dieses Mißverständnisses. Sein Ort ist die Legitimität der Neuzeit Blumenbergs, und die ihr angemessene Methode ist die tiefere Analyse der das Maß der Verkennung registrierenden ‚implikativen Metaphorik‘, die im Hintergrund, in der ‚Hintergrundmetaphorik‘ des Säkularisierungsgeschehens am Werk ist.⁵
Konstitution Politischer Polytheologie: Eine Kritik Hans Blumenbergs“ am selben Ort, Der Fürst dieser Welt, 57−76 bzw. 85−99. Lübbes Pointierung der repolitisierten Religion entfällt dagegen nicht. Das ist Sache der mythischen Latenz, der Blumenbergs Metaphorologie auf die Schliche kommt. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen: Neske 1958); Le principe de raison (Paris: Gallimard 1962). Vgl. Jacques Derrida, „La mythologie blanche“ (1971), Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972). Martin Heidegger, „Der europäische Nihilismus“ (1940), Nietzsche I–II (Pfullingen: Neske 1961), II: 146. Kurt Flasch, „Epoche“, Philosophie hat Geschichte I–III (Frankfurt/M: Klostermann), I (2003), 131. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt/M: Suhrkamp 1966), Erweiterte Neuausgabe der Teile I−II: Säkularisierung und Selbstbehauptung (Frankfurt/M: Suhrkamp 1974),
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I. Blumenbergs Provokation Lassen Sie mich, bevor ich zum Komplex der Legitimität der Neuzeit komme, den Ort bestimmen, an dem Blumenbergs Bilanz zur Provokation wird – einer Provokation, die den akademischen Skandal, den das Buch 1965, ein gutes Jahr vor Foucaults Les mots et les choses und Derridas De la grammatologie hervorrief, bei weitem übertrifft, und das nicht nur, weil der Autor damals schon ein Zeitgenosse Foucaults und Derridas eher denn Gadamers und Löwiths war, die seinen ausdrücklichen Diskussionshorizont prägten.⁶ Um dies Stück deutsch-französischer Ungleichzeitigkeit, deren Dynamik die Philosophie von längerer Hand, seit Descartes und Kant, Heidegger und Merleau-Ponty untergründig bewegt wird, an einem seiner aktuellen Resultate aufzurollen und auf den Stand der gegenwärtigen Diskussion zu bringen, knüpfe ich an einen Aufsatz von Jean-Luc Nancy an, „La déconstruction du christianisme“ von 1998, der in expliziter Koinzidenz mit Michel Henrys „philosophie du christianisme“ den Topos Säkularisierung neu vermißt.⁷ Wie vor ihm Blumenberg, den er nicht zitiert (was er später bedauert hat), tut Nancy dies nicht allein der Geltung nach, sondern der Genealogie, die im Begriff der Säkularisierung die Hypothek der Säkularisate verleugnet: der Rückstände des durch den Begriff der Säkularisierung bestimmten Prozesses. Nancy scheut nicht zurück vor der härtest möglichen Formulierung des Befundes, deren Implikationen ich allerdings, was die Hypothekenbildung angeht, anders (wenn auch nicht völlig anders) als Nancy sehe und darstellen möchte: „comment“, fragt Nancy, „depuis qu’il y a un christianisme, toute notre tradition, y compris celle d’avant ce christianisme, s’est-elle trouvé reprise et relancée?“ (La déconstruction 503) Nancy stimmt mit Blumenberg überein und unterscheidet sich mit ihm darin von der Menge der Säkularisierungstheoretiker, daß das „d’avant“ all das einschließt – und damit die in diesem Einschluß gut hegelsch aufgehobene Vorgeschichte verantwortlich macht und mit tragen läßt – was er als konstitutiv ansieht in dem ‚Prozeß‘ (würde Blumenberg unterstreichen) der Traditionsbildung:
hier zitiert nach der integralen Neuausgabe Die Legitimität der Neuzeit (Frankfurt/M: Suhrkamp 1988), 31. La légitimité des Temps modernes (Paris: Gallimard 1999), 33. Vgl. deren Doppelrezension des Legitimitätsbuchs, die die Debatte nachhaltig präformiert hat, Philosophische Rundschau 15 (1968), 195−201 (Löwith), und 201−209 (Gadamer). Dazu Odo Marquard, „Aufgeklärter Polythesismus – auch eine politische Theologie?“ Der Fürst dieser Welt, 77−84: 78 ff. Jean-Luc Nancy, „La déconstruction du christianisme“, Études philosophiques 4 (1998), 503 −519. Mit Hinweis auf Michel Henry, C’est moi la verité: Pour une philosophie du christianisme (Paris: Seuil 1996).
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„quelque chose qui non seulement fait partie de notre tradition, mais dont on réellement dire que notre tradition est axialement constituée depuis qu’il y a un christianisme“ (La déconstruction 503). Die Diskontinuität, die im Begriff der Säkularisation aufgefangen ist, verdankt sich der untergründigen Schicht einer Konstruktion, die Nancy zufolge als „Achse“ eingezogen ist in die Konstitution von Tradition, Blumenberg zufolge aber zusätzlich mit einer Hypothek belastet ist, welche Nancy entgangen ist. Nancy wehrt sich gegen die von Heidegger mit Nietzsche geteilte Vorstellung des Christentums als einer Dekadenz des griechischen Erbes – „un abârtissement romain de l’héritage grec“ – die Nietzsches Dekadenz zur Degeneration werden läßt.⁸ Blumenberg spricht dagegen von der Säkularisation als „Kategorie des geschichtlichen Unrechts“, deren Herkunft er in der Analyse der „mißlungenen Abwehr der Gnosis“ als jenem „d’avant“ erkennt, dessen Wiederkehr als Verdrängtes die Achse wäre, um die sich, nach Blumenberg, die Säkularisierungsgeschichte des Christentums dreht. In Verfolgung dieses Motivs einer Freudschen Verkennung und in Ergänzung von Blumenbergs Unternehmen als einer Art „Psychotherapie des philosophischen Bewußtseins“ – so der Titel einer Rezension aus der Ritter-Schule, des sympathisierenden Ludger Oeing-Hanhof – hat Blumenbergs Freund und Kollege Odo Marquard, von Blumenberg gern zitiert, die Geschichtsphilosophie der Säkularisierung insgesamt „einen methodischen Atheismus ad majorem Dei gloriam“ genannt.⁹ Kurz, was Nancy feiert als primordiale „auto-déconstruction du christianisme“, nämlich als „constitution par autodépassement“ (La déconstruction 509), ist nach Blumenberg nur das höchst hartnäckige, nicht zu sagen neurotische Verharren in einer Verleugnungsstruktur gnostischer Herkunft: einer in der gnostisch-synkretistischen Konsolidierungsphase der alten Kirche erworbenen Abgrenzung, die in der allegorischen Überbietung des Alten durch das Neue Testament die nach Paulus wie nach Augustinus dogmatisch gemachte Ablösungsgestalt von figura und implementum festgeschrieben und auf die jüdische Vorgeschichte beschränkt hat. Es ist deshalb wohl der Erinnerung wert, daß Blumenbergs Vorbild in diesen Fragen, das Gnosisbuch von Hans Jonas (1934), die Rolle der Allegorie im Haushalt der gnostischen Horizontverschmelzungen untersucht hatte, was Hans-Georg Gadamer, Blumenbergs hermeneutischer Gegenspieler vom anderen Flügel der Heidegger-Schule, auf den Begriff der ‚Horizont-
Vgl. Dominique Janicaud, Entretien avec Jean-Luc Nancy, Heidegger en France I−II (Paris: Albin Michel 2001), II: 244−255: 251. Odo Marquard, „Idealismus und Theodizee“ (1965), Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (Frankfurt/M: Suhrkamp 1973), 177 (Legitimität 66 ff). Ludger Oeing-Hanhof, „Psychotherapie des philosophischen Bewußtseins“, Philosophisches Jahrbuch der Görrresgesellschaft 76 (1968/69), 428−439.
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verschmelzung‘ brachte, womit er den Verdacht, mit dem Derrida Gadamers Hermeneutik insgesamt kommentiert hat, vom „guten Willen zur Macht“, historisch erhärtet hat.¹⁰ Denn am historischen Durcharbeiten hängt bei Blumenberg alles, einschließlich der Formengeschichte, deren Entleerung Nancy dem fortgeschrittenen Christentum, Nietzsche folgend, zu Gute halten will. Nun will Nancy gewiß nicht die „déconstruction du christianisme“ auf den Nenner des von Derrida ironisierten „guten Willens zur Macht“ bringen. Im Gegenteil denkt er, in expliziter Tieferlegung der These von Marcel Gauchet von der „religion de la sortie de la religion“, an Nietzsche in anderer Funktion, denn „plus proches de Nietzsche“, behauptet Nancy, „le christianisme s’accomplit dans le nihilisme et comme nihilisme“ (La déconstruction 510/11).¹¹ Mit Blumenberg überdacht, stellt sich die Frage, ob das ein der gnostischen Verführung erlegener Nietzsche ist oder ein von der Gnosis erstandener neuer Christ sein soll. Nancy gibt sich ganz orthodox, sofern das, was er „certainement le dépassement, la relève“ (et cetera) nennt, fraglos „le départ juif hors du judaisme“ sei, „car l’idée de la revelation chrétienne [fährt er fort] est qu’au bout du compte rien n’est révélé, rien sinon la fin de la révélation elle-meme […]. Le sens se révéle et ne révéle rien, ou révéle sa propre infinité“ (511). Das Neue Testament Nietzsches höbe die Säkularisierung in der umgekehrten Richtung auf; sie wäre nachgerade das neue implementum ihrer figura. Diese Figur indessen, die von Luther reformierte figura der ecclesia, ist keine Leerform, und „l’extrémité ultime du christianisme“ kein „guter Wille zur Macht“. Sowenig Nancy Gadamer sein will, ist die Dekonstruktion eine Aufhebung der Hermeneutik, von der sie kein Aufhebens macht. Nancy zitiert nicht nur „que l’ombre de Bouddha reste mille ans devant la caverne oú Bouddha est mort“ (La déconstruction 506). Er fragt nicht nur, „si le ‚juif-grec‘ [de Derrida] n’est pas le chrétien“ (504). Er unterstellt vielmehr im ‚autodépassement‘ eine gelungene „intégration de tout l’héritage antérieur puisque le christianisme se conçoit lui-meme comme reprise et réléve du judaisme, de l’hellénisme et de la romanité“, die er als „trois étapes“ – wenn auch nicht ohne „tension interne“ – sieht, bei überwiegender „intégrité dogmatico-écclésiale“ (509). Dieser spannungsreiche, aber letztlich integrative Fortschritt finde in der Säkularisation der Gehalte, wie es scheint, eine bruchlose Fortsetzung, die im ‚autodépassement‘ ohne viel Spannungsreste in sich vernichtet, was immer der
Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1934), 43, 74, 86 ff.Vgl. Jacques Derrida, „Bonnes volontés de puissance: Une réponse à Hans-Georg Gadamer“, Revue internationale de philosophie 151 (1984), fasc. 4. Marcel Gauchet, Le désenchantement du monde: Une histoire politique de la religion (Paris: Gallimard 1985), 292. Jean-Claude Monod, La querelle de la sécularisation de Hegel à Blumenberg (Paris: Vrin 2002).
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Öffnung „d’une survenue absolue“ entgegenstehen mochte. Was das angeht, bliebe es in Nancys „survenue absolue“ bei einem ewigen „Noël“ (509). Und es bliebe abermals bei der Frage „Comment tracer á nouveaux frais une ouverture délimitée, une figure, donc, qui pourtant ne soit pas une captation figurative du sens (qui ne soit pas Dieu)?“ (519) Für Blumenberg ist die christliche Wende der ‚Seinsgeschichte‘, deren Überspringen er Heidegger bereits in seiner Dissertation vorgeworfen und als eine Rezeptionsgeschichte mit destruktiven Zügen nachgezeichnet hatte, nicht so einsinnig verlaufen.¹² Das Christentum der civitas permixta ist der Schauplatz eines ungelösten Urkonflikts geblieben, dessen Dynamik das Motiv der neuzeitlichen Selbstbehauptung zu entgehen sucht und der sie sich zu überheben anschickt. Daß es der Neuzeit nicht gelungen ist, über die Behauptung der Legitimität ihrer Selbstbehauptung hinauszugelangen; daß sie vielmehr der Versuchung der Säkularisierung erlegen sei, und nicht einmal die Philosophie dabei eine mehr als gelegentliche Ausnahme gemacht habe (bei Kant, bei Nietzsche), ist die ständige Beunruhigung Blumenbergs geblieben. Die Rezeptionsgeschichte des eigenen Buches, der Legitimität der Neuzeit selbst, schien der beste Beweis, und Blumenberg ist unter dem Eindruck der fehlgehenden eigenen Rezeption dazu gekommen, die Intention der Arbeit am Mythos an die Stelle der gescheiterten Aufklärung zu setzen. Das ist insofern nicht ohne eine feine Ironie, als die methodische Betonung der Arbeit, der reformierende Arbeitscharakter in der Arbeit am Mythos die Arbeit an der Säkularisierung konterkariert und um das Moment ergänzt, das sie verkennt und notwendig scheitern läßt. Der gnostische Impetus der mythischen Synkrisis, den es zu bearbeiten gilt mit der Emphase, die den säkularisierten Begriff der Arbeit, nicht zuletzt in Hegels „Arbeit des Begriffs“ auszeichnet, ist die Nancy’sche Achse, die, weder christlich noch nihilistisch, als Hypothek der Traditionsbildung fortwirkt und im Momentum ihres Funktionierens einer Technik der „Latenthaltung“ bedarf: des ökonomischen Umgangs mit unabsehbaren Latenzen, die alles andere als Offenbarungscharakter haben, sondern im Gegenteil der Offenbarung, und sei es nur die Öffnung ins Unbestimmte, in die Quere kommt.¹³
Hans Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie (Dissertation Kiel 1947), 5 ff. Pointiert Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ (1974), Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 327– 405: 330. Vgl. Vf. Figura cryptica: Theorie literarischer Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), Einleitung.
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II. Politik der Verkennung Blumenberg redet deshalb keiner Rückkehr zum Mythos das Wort, ganz im Gegenteil, er ist ein harter Aufklärer. In der Säkularisierung erkennt er das unbewältigte Weiterwirken einer Konstellation mythischer Art, ein mythisches Analogon, welches das Christentum (von dem er in derart generalisierender Weise selten spricht) zu Zeiten besser im Griff hatte als die Aufklärung, die sich die Säkularisierung als Maxime der Aneignung des Unbegriffenen auf die Fahne schrieb. Blumenbergs Methode ist in den Paradigmen zu einer Metaphorologie entwickelt, die er 1960 in der Form eines Projektentwurfs vorlegte. Für den vorliegenden Zweck genügt es anzudeuten, was es heißt, daß Säkularisierung ein derart grundlegendes metaphorologisches Paradigma ist, das in Funktion und Wirkung die Neuzeit in ihrer Legitimität diskreditieren kann. Es gehört zu einer neuartigen, quasi-mythischen Sphäre, für die Horkheimer und Adorno, auf die sich der späte Blumenberg zunehmend beziehen wird, den Namen der ‚Dialektik der Aufklärung‘ fanden, und die Blumenberg selbst unter den Obertitel eines ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ faßt.¹⁴ Der gesamte Komplex liegt am bündigsten in dem vor, was Blumenberg als „stärkste Form des Säkularisierungstheorems“ erkennt, und zwar „nicht nur der Tatsachenbehauptung nach, die es enthält, sondern auch den Folgerungen nach, die es inauguriert“ (Legitimität 102): die von Carl Schmitt propagierte These der Politischen Theologie von 1922. Deren erster Satz lautete bekanntlich: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“.¹⁵ Schmitts Formulierung ist zu salopp und eingängig, um auf den ersten Blick mehr als eine façon de parler zu inaugurieren. Allein der Begriff Theologie und die politischen Folgerungen Schmitts machen den Fall brisant, und Blumenbergs Fazit ist unverblümt: Die ‚Politische Theologie‘ ist eine metaphorische Theologie. Die quasi-göttliche Person des Souveräns hat Legitimität und muß sie haben, weil es für sie Legalität noch nicht oder nicht mehr gibt, denn sie soll diese erst oder wieder konstituieren. Die beneidenswerte Lage, in die sich der ‚politische Theologe‘ durch das Instrument der behaupteten Säkularisierung versetzt, besteht darin, daß er den Bestand seiner Figuren vorfindet und sich dadurch den Zynismus einer offen ‚theologischen Politik‘ erspart. (Legitimität 112)
Dazu Barbara Merker, „Bedürfnis nach Bedeutsamkeit: Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit“, Die Kunst des Überlebens: Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Frankfurt/M: Suhrkamp 1999), 68−98: 88 ff. Carl Schmitt, Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (Berlin: Duncker & Humblot 1922, 1934, 1979), 49 (Blumenberg, Legitimität, 102).
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Der Zynismus war längst eingetreten und belastete den Juristen Schmitt schwer, hatte in der Führerideologie, die Schmitt 1933 mitverantworten wollte, allerdings auch längst eine weitere historische Metamorphose vollzogen, die zurück vor die christliche Theologie in die faschistische Antike führte. Das gibt Schmitts erster Formulierung von 1922 eine Dimension, deren historische Belastung Blumenberg hinterrücks einträgt in Schmitts altes Projekt, das immerhin für eine Max Weber gewidmete Festschrift verfaßt und auf dessen Säkularisierungshorizont bezogen war. Schmitt kann sich gegen Blumenbergs historisches Argument, das er seinerseits als das einzig treffende gegen sich anerkennt, nur durch eine längere Aufdeckung seines Verhältnisses zu Erik Peterson und dessen Abhandlung „Der Monotheismus als politisches Problem“ von 1935 retten. Darin geht es um die von Blumenberg eingeklagte historische Hypothek, die politische Urszene der römischen Kirche, sowie, genauer nach Peterson, die Rolle des trinitarischen Monotheismus in diesem Moment des Aufgehens und der Aufhebung römischer Politik in die Gestalt der römischen Kirche. Blumenberg hat allerdings dadurch, daß er in der Neubearbeitung der Legitimität der Neuzeit die Gegendarstellung von Schmitts Politischer Theologie II eingearbeitet hat, den Diskussionsverlauf schwer nachvollziehbar gemacht. Die methodischen Züge der Metaphorologie, aus denen Blumenbergs Kritik stammt, sind hinter den historischen Umbesetzungsvorgängen so verblaßt, daß sich empfiehlt sie deutlicher nachzuzeichnen. Ich sagte schon, Säkularisierung sei ein politischer Akt metaphorischer Setzung, und ich habe Lübbe zitiert, der diese Setzung „nichts anderes [nennt] als die metaphorisch konsequente Einsetzung nicht-religiöser Gehalte in religiös präformierte Aussagen bzw. Aussagesysteme“ (Säkularisierung 48). Die metaphorologische Kritik Blumenbergs richtet sich auf die Konsequenz der Einsetzung als des unsichtbar unterlegten Schemas der Selbstbegründung moderner Politik, aber nicht, weil diese Begründung unberechtigt wäre – im Gegenteil will Blumenberg ihre Legitimität erweisen – sondern weil Säkularisierung der kategorisch falsche Schritt ist, der das Prinzip Selbsterhaltung, um das es Blumenberg geht, in das ideologische Gegenteil der immer selben quasi-religiösen, gnostischen Abhängigkeit zwingt.¹⁶ Man muß Schmitts Text im Hintergrund mit lesen, um die Pointe von Blumenbergs neu gefaßtem Kapitel voll zu verstehen. Das Fazit, daß diese staatstheoretische Position „einen Bedarf an Metaphorik“ hat, bedeutet, daß „aus der alten Theologie nur ein einziges Element“ benötigt wird, nämlich „das der absolut souveränen Gott-Person“
Das metaphorologische Paradigma, an dem Blumenberg die Sachlage durchgespielt hat, steht unter dem Titel „Selbsterhaltung und Beharrung“ (1970), Subjektivität und Selbsterhaltung: Beiträge zur Diagnose der Moderne, hg. Hans Ebeling (Frankfurt/M: Suhrkamp 1976), 144−207.
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(Legitimität 110). Dessen theologisch-politische Pointe, die „spiegelbildliche Entsprechung des politischen gegenüber dem theologischen Absolutismus“ (100), hat sowohl eine inner-theologische Genealogie, die Blumenberg dem Nominalismus zuschreibt (worauf es hier weniger ankommt), als auch eine außertheologische Konsequenz (an der hier alles liegt): „Faktisch wurde die Unerträglichkeit der innerstaatlichen Faktionierung absoluter [sc. religiöser] Positionen dadurch aufgefangen, daß die Kategorie des unbedingten FreundFeind-Verhältnisses auf die Konflikte der sich integrierenden Nationalstaaten übertragen wurde“ (Legitimität 100). Blumenberg historisiert in impliziter Gegenrede zu Schmitts Herleitung das Freund-Feind-Verhältnis – Schmitts berüchtigter Definition des Begriffs des Politischen von 1927 – und datiert es auf den theologischen Absolutismus und dessen Folge, die Religionskriege. Er nimmt kein Blatt vor den Mund: „Die Ausgangslage dieses Vorgangs war durch die Absurdität bestimmt gewesen, daß der absolute Anspruch des Christentums in seiner politisch faßbaren Realität zum ersten Mal auf engstem Raum im Plural seiner konfessionellen Ausprägung aufgetreten war“ (Legitimität 100). In einem Anfall jenes Optimismus, der die siebziger Jahre prägte und inzwischen verflogen ist, wagt Blumenberg gegen Schmitts Stimme aus dem Geisterreich der zwanziger und dreißiger Jahre eine hoffnungsvolle Prognose, die indessen den Vorzug hat, auch die neueste Rolle Schmitts zu profilieren, die Étienne Balibar in einer neueren Einleitung zu Schmitt zum Besten gegeben hat.¹⁷ Blumenberg konnte Schmitt noch eine Art atavistischer Überholtheit vorhalten: „Drei Jahrhunderte nachdem der Nationalstaat die pseudomorphen [Jonas’ Terminus für die Gnosis] Qualitäten der absoluten Instanz angenommen hatte, wird erkennbar, daß die Projektion der Feindschaftskategorie auf das Verhältnis der Staaten nicht mehr gelingen kann“ (Legitimität 101). Nun hatte Schmitt in seiner emphatischen Verteidigung, zumal dem Blumenberg gewidmeten Teil von Politische Theologie II, das Freund-Feind-Verhältnis zur Probe aufs Exempel des Prozesses der Säkularisierung gemacht und damit zur entscheidenden Errungenschaft politischer Theologie bei der ‚Umbesetzung‘ [nimmt Schmitt Blumenbergs metaphorologischen Grundbegriff auf] theologischer Begriffe in säkulare Politik: „den klassischen Fall einer Umbesetzung […], die sich innerhalb des systematischen Denkens der beiden geschichtlich höchstentwickelten und höchstformierten Stellengefüge des ‚occidentalen Rationalismus‘ ergeben haben, nämlich zwischen der katholischen Kirche mit ihrer
Étienne Balibar, „Le Hobbes de Schmitt, le Schmitt de Hobbes“, préface de Carl Schmitt, Le Léviathan dans la doctrine de l’État de Thomas Hobbes, übersetzt von Denis Trierweiler (Paris: Seuil 2002), 7.
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ganzen juridischen Rationalität und dem […] Staat des Jus publicum Europaeum.“¹⁸ Abermals zehrt, wie im Wiederholungszwang, die Betonung des Prozesses der Rationalisierung von der Tieferlegung der mythisch-gnostischen Schicht. Tatsächlich zeigt sich Schmitt in der Not des Rückzugs unter der Diagnose Blumenbergs als der ehedem zynische, nunmehr nur pathetische, theologische PolitTheoretiker eines globalen gnostischen Fundamentalismus. Das führt ihn nach der Beschwörung des Jus publicum Europeum – man sieht heute die Implikation der Umbesetzung besser und wüßte die europäische Versuchung genauer zu benennen – zurück an die gnostische Urszene. Hier macht er die Erfindung des Feindes als das „Kriterium des Politischen und der Politischen Theologie“ im Kern der Trinität selbst aus (Politische Theologie II, 90).¹⁹ Das „Verhältnis des hl. Augustinus zur Gnosis“, das Schmitt als Höhepunkt in Blumenbergs Darstellung anerkennt, wendet er zu seinen Gunsten und behauptet in einem geschickten Rollentausch, was dieser mit der Diagnose des „gnostischen Rezidivs“ ihm vorgeworfen hatte, als die eigene Intention. In der Tat, könnte man sagen und damit Schmitts aktuelle Bedeutung erhellen, ist Blumenbergs Optimismus der durch die Selbstbehauptung der Neuzeit überwundenen Gnosis einzig durch Schmitt selbst widerlegt worden, und zwar empirisch widerlegt worden – was Blumenbergs Analyse des philosophischen Prozesses nicht mit widerlegt, aber traurig bestätigt.²⁰ Erik Peterson hatte in der letzten Fußnote seines Monotheismus-Buches von 1935 als Absicht festgehalten, „an einem konkreten Beispiel die theologische Unmöglichkeit einer ‚politischen Theologie‘ zu erweisen“, eine Absicht, der Ernst Kantorowicz’ Studie The King’s Two Bodies 1957 folgen sollte.²¹ Schmitts Politische Theologie II wiederum folgt Peterson in einer Voraussetzung, die dieser in seinem berühmtesten Traktat, Die Kirche von 1929, verallgemeinert hatte, daß nämlich die Kirche erst als römische Kirche ‚Kirche‘ gewesen sei, und das heißt, wie Schmitt mit sichtlichem Vergnügen den neueren, ihm nicht unbekannten Theologen Jürgen Moltmann berichtigt: „die Idee einer ‚Kreuzigung im Namen der Pax Romana‘
Carl Schmitt, Politische Theologie II: Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie (Berlin: Duncker & Humblot 1970). 86. Siehe Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt: Zur politisch-theologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 168 ff. Vf. „The Enemy has No Future“ (Closing Statement), The Enemy (A Poetics and Theory Conference, New York University 2003), Cardozo Law Review 26 (2004– 2005), 1400 – 1412. Erik Peterson, „Der Monotheismus als politisches Problem“ (1935), Theologische Traktate (München: Kösel 1951), Ausgewählte Schriften, hg. Barbara Nichtweiß (Würzburg: Echter 1994), I: 81, Anm. 168. Ausführlicher Vf. „Richard II, Bracton, and the End of Political Theology“ (2004), Shakespearean Genealogies of Power (London: Routledge 2010), Kap. 3.
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scheint mir eine anachronistische Rückblendung oder Rejektion aus der modernen Pax Americana in die Zeit des Pilatus“ zu sein (Politische Theologie II, 91−2, Anm. 3). Kein Zweifel, Schmitt hat von Blumenberg und Peterson gelernt, aber er weiß ihre Rekonstruktion, in der alles am „hl. Augustinus“ hängt, zu seinen Gunsten zu wenden. Der Gekreuzigte ist kein politisches Ereignis, er ist ein trinitarisches: in ihm findet Schmitt die gnostische Spaltung repräsentiert, eingetragen und festgeschrieben in der Struktur des überlieferten Erlösungsgeschehens, das auf diese Weise eine halbe Sache bleibt, deren Folgelasten die Politik zu tragen hat, ja die sie zur Politik macht: „Das strukturelle Kernproblem des gnostischen Dualismus von Schöpfergott und Erlösergott“ bleibt in der Identität der Trinität virulent und gibt die Freund-Feind-Unterscheidung in Gestalt der göttlichen Kompromißbildung der Trinität für die Realpolitik der civitas permixta aus. Soweit hatte der junge Schmitt vermutlich (noch) nicht gedacht, aber der Einfluß des Marcion-Buchs von Adolf von Harnack, des preußischen Staatstheologen Wilhelms II. ist nicht zu unterschätzen. Für den Zweck der Politischen Theologie II hat Schmitt Harnacks These im Kapitel „Die mißlungene Abwendung der Gnosis als Vorbehalt ihrer Wiederkehr“ der Legitimität der Neuzeit nachlesen können und Blumenberg nachgeschrieben (berühmtes Harnack-Zitat), „daß der Katholizismus gegen Marcion erbaut worden ist“ (Politische Theologie II, 143).²² Das machte in Preußen genau den Sinn, den Schmitt ihm in zugespitzter Weise entnimmt: Der römische Katholizismus wäre von Anfang an auf die theologische Grundlegung eines Begriffs des Politischen aus gewesen, die in der Errungenschaft des Freund-Feind-Verhältnisses juristisch zum Ziele kam, und das Interesse Preußens wäre es gewesen, daraus politisch zu lernen. Wie man sieht und für den Fall Schmitt nicht genug unterstreichen kann, ist das kein naturwüchsig katholisches Interesse, sondern das seiner protestantischen Bewunderer. Weiter gefaßt [fährt Blumenberg fort], entspricht das der These, daß die Formation des Mittelalters nur als Versuch der endgültigen Absicherung gegen das gnostische Syndrom verstanden werden kann. Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ursprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche System hinüber zu retten, war die zentrale Anstrengung, die von Augustinus bis in die Hochscholastik reicht. Uns interessiert hier nicht die Geschichte dieser Anstrengung selbst, deren Scheitern eine zweite Überwindung der Gnosis anhängig macht, sondern der Preis, der für die Behebung des gnostischen Dualismus innerhalb des mittelalterlichen Systems aufzubringen war (Legitimität 143).
Adolf von Harnack, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche (Leipzig: J. C. Hinrichs 1923), 2.
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Schmitt, so wird Blumenberg in seiner Replik klar geworden sein, ist dieser Preis und meldet sich als dieser Preis zu Wort. Schmitt verschärft die Hypothek, die Blumenberg in der Selbstbehauptung der Moderne zu guten, und sei es auch lediglich philosophischen Teilen abgetragen wähnt. In der Darstellung des historischen Sachgehalts hat Schmitt damit so wenig Recht, wie seine metaphorische Theologie auf dieser Grundlage Legitimität beanspruchen kann.Was indessen die metaphorologische Umbesetzungslogik der Säkularisation beweist in der Manipulierbarkeit der Rechtfertigungen, ist ein anderes Moment als die generalisierte Latenz des Politischen in Schmitts Verstand: es ist die Virulenz des mythischen Horizontes, den Jonas’ Gnosis und spätantiker Geist, in der Ägide Heideggers als Anwendung von Sein und Zeit 1929 verfaßt und mit dem an Oswald Spengler angelehnten Begriff der ‚gnostischen Pseudomorphose‘ herauf beschworen hatte.²³ Die hermeneutische ‚Horizontverschmelzung‘ Gadamers, habe ich im Vorbeigehen angedeutet, ist für Blumenbergs Position in der Sache wichtig, denn sie ist die reformationshistorisch und folgerichtig politisch entschärfte phänomenologische Reduktion dieses Horizonts, gegen die das methodische Postulat seiner historischen Phänomenologie gerichtet ist.²⁴ So ist auch in der polemischen, zweideutigen Fassung von Schmitts Römischem Katholizismus und politischer Form von 1923 die ‚politische Form‘ weniger ein Prinzip von Darstellung als eine Art Flexibilität, die einer complexio oppositorum im alchemistischen, gnostischen Sinne verwandt ist und in gefährlicher Nähe zu dem von Schmitt verabscheuten ‚Liberalismus‘ der Moderne liegt.²⁵
III. Blumenberg vs. Gadamer/Nancy Das bringt mich zurück zu Nancys dekonstruktiver Reduktion des Christentums und dem Unterschied, den es macht, wenn man den fait accomplit der drei Etappen jüdisch – griechisch – römisch (Spannungen zugestanden) ersetzt durch den gnostisch-allegorischen Horizont der Pseudomorphose, den Blumenbergs Metaphorologie weiter ausarbeitet. Das beste Beispiel aus den Vorarbeiten der Metaphorologie und des Neuzeitbuchs findet sich in der bereits zitierten Rezen-
Zur metaphorologischen Genealogie und Prägnanz der Pseudomorphose verdanke ich inzwischen Eva Geulen und ihrem Artikel „Pseudomorphose“ Klärendes, Denkfiguren / Figures of Thought, hg. Eva Horn und Michèle Lowrie (Berlin: August Verlag 2013), 159 – 166: 162 ff. Hans Blumenberg, Einleitung, Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 6. Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (Stuttgart: Klett-Cotta 1984), 6, 11, 14. Dazu Samuel Weber, Targets of Opportunity: On the Militarization of Thinking (New York NY: Fordham University Press 2005), 28 ff.
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sion, die Blumenberg Jonas gewidmet hat. Gegen Jonas macht sich Blumenberg für einen antiken Skeptizismus stark, der in seiner „Gleichgültigkeit“ gegen den Kosmos, dem Augustinus’ Rettung galt, „gleichsam eine Form innerweltlicher Transzendenz“ eingeschlossen habe, „die sich jede eschatologische Lösung versagt.“²⁶ Der Gipfel der Pseudomorphose als der gewaltsamen Aneignung, in der die interpretatio christiana die Gnosis noch überbot, ist für Blumenberg die Weise, in der Ambrosius von Mailand, der Lehrer des Augustinus, die „skeptische epoché für die eschatologische Vorläufigkeit in Dienst“ nimmt: „nur so war überhaupt mit der skeptisch-stoischen Funktionseinheit bei Cicero fertig zu werden“ (Legitimität 118). Im Fertigwerden und Überwältigen der antiken Vorgaben zeigt sich das Christentum als rhetorisch überlegen, wo es in der Wahrheit überlegen zu sein behauptet (und sein wollte) – kurz: verrät sich die christliche Theologie als die wahre Erbin der römischen Rhetorik (was Schmitt gemerkt hat). Für den Grundriß der Legitimität der Neuzeit folgte daraus als Vorgabe: „Das frühe Christentum hat für sich nicht nur Legitimität seines Wahrheitsbesitzes kraft Offenbarung in Anspruch genommen, sondern zugleich der antiken Welt die Legitimität des Besitzes derjenigen Vorstellungen bestritten, die es mit ihr gemeinsam oder von ihr übernommen hatte“ (Legitimität 81). In den Phänomenen der Säkularisierung reißt nicht allein der Horizont des gnostischen Synkretismus wieder auf, auch die Hypothek der christlichen Pseudomorphose dieses Horizonts schlägt durch: Es rächt sich der gute Wille zur Macht, der Ambrosius statt des Heiligen Geistes ergriffen und mit Engelszungen hatte reden lassen. In einer höheren Form von historischer Gerechtigkeit, die der orthodoxen Heilsverwaltung nicht geheuer sein konnte, mag es passieren, daß Säkularisierung durch einen Pascalesken Zufall sogar Gnade vor Recht ergehen lassen kann; das zeigt Blumenberg am Beispiel des unglücklichen Giordano Bruno, der darob gleichwohl sein Leben lassen mußte. Die neue, neuzeitliche Unendlichkeit, die Bruno rückwirkend, wie nach ihm Newton und die Menge der Naturwissenschaftler, unter den Attributen Gottes vorgegeben findet, verliert im Lichte der Aufklärung nicht; sie gewinnt eine ungeahnte Wirkung hinzu: Wenn etwas Säkularisierung zu heißen verdiente [schließt Blumenberg], wäre es diese Weltwerdung eines göttlichen Attributs; zweifellos wäre dies der Absicht nach ein Akt des Entzuges, wenn nicht die tief im Schoß der christlichen Theologie entsprungenen Schwierigkeiten, zu unterscheiden zwischen dem innergöttlichen Hervorgang der zweiten Person und dem Akt der Schöpfung, der ‚Umbesetzung‘ der trinitarischen Stelle des Sohnes durch das Universum bis zur Unausweichlichkeit vorgearbeitet hätte (Legitimität 88/9).
Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, Philosophische Rundschau 6 (1958), 94 −119: 118; Paradigmen zu einer Metaphorologie, 16 (Kommentar 274 f.).
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9 Säkularisation als Metapher
Mutmaßlich kommt dieses Beispiel der Frage Nancys am nächsten. Es zeigt das Christentum zwar gerade nicht im „autodépassement“ einer „religion de la sortie de la religion“ begriffen, aber es zeigt es als geschichtsmächtige Umbesetzungsagentur, die im Fall der Unendlichkeit ein metaphysisches Prädikat seinem mythischen Heimathorizont entwenden und säkularer Naturforschung zuwenden konnte: eine institutionalisierte List der Vernunft. Kein christlicher Gehalt oder christliches Gottesattribut wird übernommen von der metaphorologischen Umbesetzungslogik, sondern eine antike Spekulationsmasse – „ein Element höchst weltlicher Metaphysik“ nennt Blumenberg die „Unendlichkeit“ Brunos deshalb (Legitimität 89) – wird im Prozeß der mittelalterlichen Rezeption, in der Unterwerfung durch die Theologie der Mensch- und Weltwerdung, um- und freigesetzt. „Rien n’est révélé“ kann deshalb nur der Nietzsche-Leser sagen, der Heideggers ‚Seinsgeschichte‘ als einer Seins-Entzugsgeschichte anhängt, statt sich den Tücken der Gesagt-Seinsgeschichte zu widmen, die sie ist und in der – Nancy sagt es selbst – „le christianisme est l’annonce comme Évangile, le schéme de ce qui est proclamé“ (La déconstruction 513). Also nicht ‚nichts‘ ist verkündet in der Ankündigung des Verkündigens, sondern die Freiheit des Abarbeitens an der Latenz der Überlieferung ist immer neu zu behaupten im verblassenden Horizont eines Mythos, von dessen Ur-Unterstellung in der Rezeptionsgestalt des Christentums nur die Möglichkeit der Geschichte in Geschichten, der Kunst der Inszenierung und eines rememorativ nach-denkenden Vollzugs geblieben ist. Literatur, Kunst, Philosophie: die Technik der Texte und der Bilder vollstreckt performativ, was das Christentum exemplarisch, in der Nachfolge des zäsurierenden, alles vorentscheidenden, real eingetretenen Erlösungsereignisses – der Erlösung als des Eintretens des Ereignisses – belegt und als Beleg zu tradieren wußte. Hegels „Ende der Kunst“ in der Philosophie ist das Ende der Religion in der Kunst: kein Ende, und am wenigsten eines der in ihr immer wieder neu – mehr oder weniger gut – ‚aufgehobenen‘ Religion.
Grenzwerte des Politischen
10 Arcanum translationis Das Fundament der lateinischen Tradition Dem Andenken an Cornelia Vismann latent fundamenta (Quintilian 1, pr. 4)
Tacitus bahnt den Begriff der arcana imperii, den er eher gelegentlich, aber höchst effektiv einführt (Annales 2.36.2), auf eine unnachahmliche, lakonische Weise an, die seine Art der Geschichtsschreibung wie keine andere prägt. Der ausführliche Titel der Annalen, ab excessu Divi Augusti, ist alles andere als ein pur annalistischer; er zeigt eine Epoche an, die des Prinzipats, in dem Moment, in dem sie zur Epoche wird durch die Machtübernahme des ersten Nachfolgers, Tiberius, der juristisch problematischen translatio imperii des in dem selben Prozeß vergöttlichten Augustus. Das arcanum der translatio, das primum facinus des neuen Prinzipats, mit dem die Darstellung des Tacitus ins Haus gefallen ist (Annales 1.6.1), wird explizit als arcanum domus des kaiserlichen Haushalts zur juristischen Ausnahme erklärt, und in dieser Ausnahmeerklärung des herrschenden Hauses, innerhalb dessen hauseigener oikonomia, wird es zur historischen Urszene und zum juridischen Paradigma der Arkansphäre imperialer Politik ab excessu Divi Augusti. ¹ Die Signifikanz der arcana als ein Zug des neuen imperium wird deutlicher im Kontrast zum Gegenbegriff der acta senatus, deren nicht-arkane staatsrechtliche Funktion – acta statt arcana – Augustus in seiner Reform der senatus consulta den neuen Bedingungen seines imperium angepaßt hatte.² Die Leichen in der Substruktur der translatio imperii sind vorzüglich und paradigmatisch die im Hause Divi Augusti höchstselbst. Die arcana imperii, die davon abgeleitet sind und also arcana der Ableitung werden, sind zuvörderst nicht nur, Schlußvortrag zu einer von Marie Theres Fögen und Cornelia Vismann veranstalteten Tagung des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, „Referenz Rom“, in Teilen veröffentlicht von Cornelia Vismann unter dem Titel „römisch“, Tumult 30 (2006), 19 – 30. P. Cornelius Tacitus, Annalium ab excessu Divi Augusti libri, hg. Henry Furnaux (Oxford: Clarendon Press, 2nd ed. 1896), I: 187 und 327. Furnaux’ Übersetzung von arcana imperii im Kommentar zu 2.36.2 ist „secret principles of autocracy“ (327). Vgl. Marianne Coudry, „Sénatus-consultes et acta senatus: redaction, conservation et archivage des documents émanant du sénat, de l’époque de César à celle des Sévères“, La mémoire perdue: A la recherche des archives oubliées, publique et privées, de la Rome antique, hg. Claude Nicolet (Paris: Publications de la Sorbonne 1994), 65 – 102: 76. https://doi.org/10.1515/9783110486377-011
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sondern zutiefst arcana translationis, und der Begriff, der aus diesem Begreifensprozeß heraus terminologisch faßbar geworden ist, verdeckt die für den Moment der taciteischen Aufklärung erhellte Szene für diesen selben Moment. Was er in diesem Moment greifbar macht – das ist die historische Leistung des Tacitus – ist die Genese nicht allein dieses Begriffs, sondern die Mechanik aller historischen Begriffsbildungen, der Tacitus im Drama ihrer Formatierung ein politisches Licht aufsetzt; das ist der grammatische Lauf der Welt. In der von Tacitus subtil registrierten, von den Anfängen bei Tiberius fortentwickelten Szenerie der Gewaltenübertragung des Imperiums ist es die doppelte, doppelseitige juristische Ausnahmeerklärung der arcana domus in ihrer Unabsehbarkeit, die den Ausschluß des falschen Prätendenten (des notorisch brutalen Agrippa, dessen sich Tiberius noch vor der ersten Amtshandlung entledigt hat) und die Unbelangbarkeit des richtigen Kandidaten (des unvermeidlichen Tiberius) nach Art eines gordischen Knotens verbunden zeigt und nicht zu trennen erlaubt. Nicht zuletzt entlastet sie die zwangsläufig involvierte Verwaltung und den Senat von den allfälligen Folgekosten. Das primum facinus der Durchtrennung trennt als primordiale Untat (die deutsche Un-tat bringt die Latenz des lateinischen facinus an den Tag) die Latenz des nie überwundenen Bürger- und Bruderkriegs, von der eben noch, kurz vor Tacitus, die Pharsalia Lucans gehandelt hatte (und mit der dieser sich den Selbstmord eingehandelt hatte), von der Sukzession des Imperiums. Das in Vergils Aeneis, dem augusteischen Epos par excellence, mit den Ruinen Trojas zurück gelassene griechische Gedächtnis der Bedrohung von außen hat im Innern des römischen arcanum der Latenz (als Bedrohung des im Verborgenen lauernden latere) einen kryptischen Raum gegriffen. Sie ist und bleibt Bedingung und Bedrohung der translatio lateinischer Herkunft.³ Stilistisch hat Tacitus den Raum der latenten Entscheidung im Umfeld des arcanum durch den völligen Stillstand der Ereignisse vor-präpariert; der dezisionistische Akt ist das mit Bedacht inszenierte „reine Produkt einer Leere“, in der das Arkanum einen „NichtOrt“ seiner Übertragungsleistung findet.⁴ Es ist die Unabsehbarkeit jeder Latenz, daß sie Referenzen innerhalb ihres Manifestationshorizontes kreiert, so daß alle Referenzen auf Latenzen verweisen, und das heißt naturgemäß – im genauen Sinne dessen, daß es sich um Latenzen handelt – daß sie fehlgehen im Modus der Referenz, dem Kleben am Gegenstand der Referentialisierung: sich vertun und verschätzen, ihn verkennen oder verleugnen. Referenz geht nie auf in der Latenz; sie ist kein Zufall, aber die Ermög-
John Henderson, Fighting for Rome: Poets and Caesars, History and Civil War (Cambridge UK: Cambridge University Press 1998), 257, 269 ff. Jacques Rancière, Les noms de l’histoire: Essais de poétique du savoir (Paris: Seuil 1992), 55.
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lichung des Zufalls, und ihre Göttin Fortuna. Das latere der Latenz ist das lateinische Verbum für Reichweite und Zugänglichkeit des Phänomens fortuna. Im Falle Roms entspricht dem der politisch prägende, notorische Sachverhalt einer Verklammerung von Überschätzung und Verkennung zum Zwecke der Verleugnung. Die exemplarische erste Diagnose dieses Pakets der römischen ReferenzFehl-Funktionen und Effekte steht in Augustinus’ Civitas Dei. Sie ist Teil des historischen Syndroms erfolgsträchtiger Fehleinschätzungen, die ein Krisenmanagment mittels begrenzter komplementärer Selbst- und Fremdtäuschungen betreiben, und über deren problematische, gebrochene Fortdauer wir hin- und hergerissen sind, schwanken zwischen Überschätzung und Verkennung, in einem Verkennungs- statt eines Erkenntnisinteresses allfälliger weit herkommender Selbstverstrickungen und anhaltender konstitutiver Verleugnungsbedürftigkeit. So kommt es, daß Pierre Legendre, das enfant terrible par excellence, die Romreferenz nach wie vor für „absolut intakt“ erklärt, um seinerseits die Verkennungsfigur vorzuführen und mit zu vollziehen, für die er sich als Schüler Lacans, des Entstellers der Psychoanalyse, qualifiziert hat.⁵ Der Referenz-Rahmen, in dem das Phänomen ‚Referenz’ zu rekonstruieren ist, zeigt das Konstrukt der Referenz, den Gegenstand ‚Rom‘ als das lateinische Paradigma der Tradition und Traditionsbildung.Was ich zu der darin eingegangenen Aufarbeitung der Referenzen, der Referenz-Prozesse und Bilanzen, beitragen möchte, sofern diese absehbar sind – und das sind sie als Effekte des quasi historischen Apriori, das sie im Akt der Referenz voraussetzen – ist das Fragezeichen der Quasi-Transzendentalität einer Setzungslogik, die im Laufe dieser Prozesse und Bilanzen zu einer Geschichtsmächtigkeit ohne Konkurrenz gediehen ist. Einer Übermacht von Geschichte, in welcher der Begriff von Geschichte wie der Gesetzmäßigkeit von Geschichte den Charakter einer unhintergehbaren Naturgegebenheit und Naturwüchsigkeit gewonnen hat, um sich als Gesetzmäßigkeit der Machbarkeit auf historisch unabsehbare Zeit, genannt ‚Zukunft‘, zu entziehen. Die allgemeinste Frage lautet deshalb, wieviel an dieser objektivierten SelbstNeutralisierung und Verschiebung von Geschichte aus der Geschichte heraus auf eine andere Zeit-Art, auf die der Zukünftigkeit, ein systematischer Effekt der Referenz Rom ist, das ist nicht: des Referenten Rom, der aus diesem Grunde untergegangen sein soll, und dessen Untergang in die Referenz die Bedingung seines globalen Fortlebens – urbi et orbi – darstellt (1). Damit will ich die genauere Frage verbinden, wie dieses Fortleben in der Fortschreibung der Referenz ein Modell der Gespräch mit Pierre Legendre, „Der Take Off des Westens ist ein Gerücht“, in dem von Cornelia Vismann herausgegebenen Legendre-Heft der Zeitschrift Tumult 26 (2001), 102– 118: 112. Ich beschränke mich in diesem Essay auf die Nachweise meiner Diskussionsanlässe, sowie einige pointen-relevante Hinweise im Strom der ins Globale ausufernden Rom-Referenz-Literatur.
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Latenthaltung impliziert und davon zehrt (2), und wie dabei die Technik und Ökonomie der Latenthaltung als ein kunstvolles Wirtschaften mit der Referenz ein arcanum von Politik kreiert und kultiviert, welches, in den Schichten von Geschichte eingelagert und darin unzugänglich, eine unwandelbare naturrechtsartige, schicksalshafte Hypothek bleibt oder doch scheint (3). Allerdings kann ich nicht alle drei Fragen in derselben, angemessenen Länge behandeln. Während die erste Frage der Latenz-Aspekte bei aller tentativen Behandlung die größere Ausführlichkeit verlangt, beschränke ich mich bei der zweiten auf einen kurzen Übergang zur Bilanz der Hypotheken, mit denen zu haushalten ist, und bei der dritten auf ein Beispiel, das die Struktur der politischen Hypothek angeht, die aus der Latenz ‚Latein‘ heraus die Resonanz ‚Rom‘ schafft und braucht, kurz: die Referenz ‚Rom‘ zur residualen Funktion eines puren Resonanzphänomens verdammt und in dieser Hölle mimetischer Verleugnungsbedürftigkeit schmoren läßt. Der Augustinus der Civitas Dei hat im Inferno Dantes die von Machiavelli zuerst gewärtigte Allegorie der Verblendungsverhältnisse gefunden, noch lange bevor Adorno sie mit Benjamins und Baudelaires Hilfe im Verblendungszusammenhang des 19. Jahrhunderts, des letzten römischen Jahrhunderts, mag man sagen, wiederfand.
I. Latenz Latein Als Horizontbeschreibung bietet sich die Version an, die Rémi Brague Anfang der neunziger Jahre vorgeschlagen hat, Europe, la voie romaine (1992), gleichzeitig mit einer Reihe aus gegebenen Anläßen der Zeit in die Diskussion gekommener Thesen, namentlich Jacques Derridas L’autre cap (1991) und Massimo Cacciaris Geofilosofia dell’Europa (1994). Bragues These entzündet sich an dem eigenartigen Ungleichgewicht der drei Standard-Quellen der europäisch-abendländischen Tradition, der griechischen, jüdischen und römischen Überlieferung, von denen die ersten beiden als substantielle Ursprünge gelten, über deren Gewichtung und Vermischung es viel zu streiten gab, die dritte aber für nichts als den sekundären Weitertransport zuständig gewesen sein soll, ohne originelle, eigenständige Zutat: „Les romains n’ont rien inventé“ bringt Brague den Mangel auf den Punkt, der im Konzert der alteuropäischen Zubringer aber langfristig zum logistischen Erfolg geworden sein soll.⁶ Es ist bemerkenswert, wie wenig das kulturkritische Publi-
Rémi Brague, Europe, la voie romaine (Paris: Folio 1992, 1999), 43. Kurz zuvor Jacques Derrida, L’autre cap (Paris: Galilée 1991) und mit Fortsetzung zu Curtius und Blanchot, La demeure (Paris: Galilée 1996). Vgl. Massimo Cacciari, Geofilosofia dell’Europa (Milano: Molinari 1994).
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kum im Moderneschub der beiden Jahrhunderte nach dem Doppelschlag von Aufklärung und Romantik (der Konjunktur der Geschichtsphilosophie) aus der Rolle Roms gemacht hat, außer dem Topos von Aufstieg und Niedergang, der immer noch, Ironie der Geschichte, der Titel des wichtigsten Handbuchs der Forschung geblieben ist. Bragues Vorschlag ist salomonisch: er rechnet der römischen Prägung des Christentums das Verdienst zu, Europa als kulturelle Form ermöglicht zu haben. Aber er läßt es nicht dabei bewenden – sonst wäre er hier nicht weiter der Rede wert – dem christlichen Talent zur Horizontverschmelzung die entscheidende Rolle zuzuspielen, sondern er rückt den von Origenes und Eusebius unterschiedlich herausgebrachten, von Augustinus vergeblich transzendentalisierten Sachverhalt ins Zentrum, daß es Rom war, das dieses Talent zur Wirkung gebracht hat. Bemerkenswerterweise gab es ja keine jüdische Urgemeinde, die der Rede wert geblieben wäre, seit es die römische ecclesia gab, die den Neuen Bund in seiner Ablösung vom Alten Testament, dem zum Alten Testament historisierten Alten Bund, in seiner katholischen Reichweite manifestierte. Nicht von ungefähr hat Hans-Georg Gadamer den Begriff der ‚Horizontverschmelzung‘ in Anklang an die ‚gnostische Pseudomorphose‘ von Hans Jonas entwickelt, aus deren Milieu die christliche Apologetik unter dem Namen Roms zu langfristigem Erfolg kam.⁷ Unter der Decke christlicher Unterstellungshermeneutiken lauerte der Verdacht der Dekadenz, mit dem Nietzsche der Renaissance Jacob Burckhardts entgegenkam, und den Hans Blumenberg in der Wiederkehr der Gnosis verdichtet fand. Brague bringt diesen Stand der Dinge von der Symptomatologie der Unterstellungshermeneutik und dem Verschmelzungstalent der christlichen Propaganda auf eine prägnante Hypothese: „Celui-ci n’est pas le contenu de la culture européenne, mais uniquement la forme de celle-ci“ (La voie romaine 242). Die römische Tradition, ihr katholisch um sich greifender Erfolg wie auch ihr europäisches Format, sei keine von politischen, republikanischen, imperialen oder juridischen Gehalten, sondern allein eine der Form. Bragues These, Europa sei in der Form christlich, gilt also ironischerweise nur, wenn man die Form des Christentums von seinem Gehalt trennt und als die langfristige Rezeptionsform einer anderen, vorchristlich-römischen Errungenschaft auffaßt: der Latinität als der Latenz, in die das Christentum eintrat und Form gewann. Denn was in der christlichen Verschmelzung über dem Erfolg unkenntlich sein muß, ist: daß Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1934), I: 38 und 74 (‚Pseudomorphose‘ dort frei nach Spengler). Vgl. die Rez. von Hans Blumenberg, „Epochenschwelle und Rezeption“, Philosophische Rundschau 6 (1958), 94– 120. In der prägnanten Zuspitzung, für die sie bekannt ist, Eva Geulen, „Pseudomorphose“, Denkfiguren / Figures of Thought, hg. Eva Horn und Michèle Lowrie (Berlin: August Verlag 2013), 159 – 166: 162 ff.
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Wahrheit mit Methode (Gadamers Titel) zum Erfolg komme. Die Form ist eine rhetorische, aber die keiner beliebigen Rhetorik, sondern der lateinischen in dem spezifischen, von keiner Hermeneutik beeinträchtigten, sie erst – umgekehrt – auf den christlichen Plan rufenden Sinne. Nicht zufällig zitiert Blumenbergs Annäherung von Anthropologie und Rhetorik ein Nietzsche-Aperçu: „die Griechen hätten mit der Rhetorik die ‚Form an sich‘ erfunden.“⁸ Die Griechen für Nietzsche, gewiß, aber deren römische Aneignung, hat Brague recht, hat erst die translatio der Form vom ‚an sich‘ der Katachrese in die Form permanenter Transformierbarkeit bewerkstelligt. Die Römerstraße Europa ist lateinische Rhetorik, Europa semper transformanda. Als eine solche Metaformation hatten Ovids Metamorphosen das unübertreffliche Muster der lateinischen Übernahme, Überführung und Aufhebung des griechischen Mythos ‚an sich‘ in den Rezeptionsprozeß einer anhaltenden Arbeit am Mythos geliefert: das poetische Paradigma der Latenz ‚Latein‘, das den Prozeß der Überführung nicht nur bis heute wirkungsmächtig illustriert, sondern im Modus der geleisteten Übertragung bestimmt: ihn regiert wie das grammatische Paradigma die Konjugation und Deklination der Zeiten und Fälle. Man denkt kaum daran, aber die Metamorphosen erschienen im Rom derselben Jahre, in denen das Neue Testament beginnt, ohne daß dieses von Ovid eine Ahnung gehabt hätte oder hätte haben wollen. Man kann aber sagen, sie stellen den denkbar vollständigsten religionshistorischen Erwartungshorizont dar, auf den das Neue Testament in Rom traf, und sie bringen auf den weitest reichenden poetologischen Begriff von Form – auf einen griechischen Begriff, denn Ovid übersetzt ‚Metamorphose‘ nicht ins Lateinische, sondern er beharrt auf der mythischen Überlieferungsgestalt als einer der Latenz, die auf Übertragung, translatio, gewartet hat – der dem katholischen Horizont der römischen ecclesia zur Transformation gereichen sollte und von Augustinus in subtiler Umbesetzung realisiert worden ist.⁹ Das ist nur das prägnanteste, nicht schon das in der Form aufschlußreichste Beispiel vorchristlichrömischer Vorgaben in der Rezeptionsform. Es thematisiert den Gestaltbedarf des Mythos als eine Form der Latenz, die in Gestaltwandel umwandelbar ist, und zwar ohne Ende und ohne Rest. Ovid transformiert den Mythos zur Latenz der Form: mutatas dicere formas am Beginn der Metamorphosen (1.1– 2). Das Christentum wußte daraus die Entgrenzung der Zukunft zu machen, die als Naherwartung zum Problem werden mußte, wobei in der Verzeitlichung das nicht ausbleibende, ausdrücklich prophezeite Ende auf einen radikalen Gestaltwechsel jenseits der Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Rhetorik“ (1971), Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 408. Vgl. Reinhart Herzog, „Vom Aufhören: Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende“, Poetik und Hermeneutik XVI (1996), 283 – 329 (dort die relevanten Ovid- und Augustinus-Zitate).
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Zeit, das Eintreten endgültiger Gerechtigkeit am Jüngsten Tag drängen mußte: ausdehnende Anspannung der „Zeit die bleibt“.¹⁰ Das war bei Ovid nicht vorgezeichnet, der mit der relativen Lösung, dem Ende des Bürgerkriegs in der augusteischen pax romana zufrieden zu sein versuchte in der Verbannung. Er unterwarf sich der Selbstbeschränkung einer sehr römischen Erkenntnispragmatik: er lastete die formalen rhetorischen Möglichkeiten nicht aus, die Augustinus ihm abgewann. Dieser konnte das aufgrund einer vertiefenden Perspektive tun, welche die rhetorische Praxis in der Übertragung von der griechischen ‚Form an sich‘ in die Struktur des Lateinischen erfahren hatte. Der Prozeß dieser Umschreibung ist bis heute dunkel, als so bekannt auch die Stadien der Aneignung von Cicero über Quintilian bis Augustinus gelten. Der Wandel ist in der grammatischen Anlage vertieft und zu höchster Effektivität gebracht. Ich beschränke mich in dieser Skizze auf die Vorleistungen, die Johannes Lohmanns vergleichender Sprachgeschichte zu danken sind und der Struktur des lateinischen Verbalsystems gelten; er nennt sie „vergleichbar den Glanzleistungen der Römer in der Gestaltung der Staatsform, des Rechts, wie für die Ewigkeit geschaffen.“¹¹ Die wichtigste, von dem römischen Linguisten Varro gewärtigte Errungenschaft, die Kohärenz der Temporalschemata – Präsens und Perfekt in perfekter Parallelbildung – erstreckt sich auf die konditionale und kausale Folge und Folgerichtigkeit, also nicht allein auf das Zeitbewußtseins der Temporalisierung, sondern auf die „interpretierten Zeit-Verhältnisse“ (darunter das Schema der Kausalität), worin sich die griechischen Ausdrucksmöglichkeiten im Lateinischen „aufgehoben“ finden – selten ist der Ausdruck Hegels so treffend – nämlich als Ganze in eine Vergangenheit rücken, die als solche grammatische Form geworden ist. Was der hellenistischen Logik als ein Sachverhalt geläufig und analysierbar war, ist – auf die vorerst noch ungeklärte Weise einer grammatologischen Mutation – zu der ‚inneren Form‘ des Lateinischen geworden, der die Logik nicht allein, sondern das Schema des Anwendungsbezugs eingebaut ist und damit auch das des Urteilens als einer grammatischen Kategorie. Ob das mehr als ein Analogon ist, womöglich die Grundlage der von Lohmann zitierten „Glanzleistungen der Römer“ auf dem Gebiete des Rechts und der Politik, steht dahin wie Hegels vernichtendes Urteil über diese auch von ihm nicht geleugneten Errungenschaften, denn „was äußerlich, d. h. gesinnungs- und gemütlos ist, (müsse) nicht als ein Letztes der Weisheit und Vernunft angesehen werden“, eher als ein „der Form Vgl. Giorgio Agamben, Il tempo che resta: Un commento alla Lettera ai Romani (Torino: Bollati Boringhieri 2000). Johannes Lohmann, „Gemeinitalisch und Uritalisch“, Lexis III.2 (1953), 169 – 217: 172 ff. Philosophie und Sprachwissenschaft (Berlin: Duncker & Humblot 1965), 88 ff. 94 ff.
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nach großes Geschenk“, in welchem, einen seiner genialen Ausdrücke für diese Art von Verlegenheit beizuziehen, die „List der Vernunft“ am Werk gewesen sei.¹² Die Latenz ‚Latein‘ ist damit, wenn nicht gemeint, so doch erfaßt. Was aber nicht erfaßt ist in der „Borniertheit“, die Hegel in deutscher Vorliebe für die Griechen den Römern anlastet, ist die Erkenntnispragmatik der ‚Endlichkeit‘, die ihm nicht paßt. Man sollte ihm eine solche undialektische Beschränktheit nicht zutrauen, denn was ihm entgeht im Schema der lateinischen Latenthaltung ist ein Modus der endlichen Aufhebung, der auf Erlösung nicht wartet, diese vielmehr gnadenlos („gemütlos“ sagt Hegel) vertagt sieht. So daß man von hierher leicht merkt, was das Christentum gegenläufig zu seinen römischen Voraussetzungen zur Dekadenz der inhärenten Kadenzen und der darauf bezogenen Kasus-Verwaltungstechniken macht.
II. Hypothek Rom Das schreit nach Ausarbeitung, was die Latenz in der Form angeht, etwa in der Entwicklung des Reziprozitäts-Schemas von Ursache und Wirkung, causa und effectus, das bei Kant Beachtung gefunden hat und Kant wie vor ihm Baumgarten zu römischen Philosophen macht. Als rhetorisches Schema – in der Moderne das rhetorische Prinzip par excellence – ist es unter den metaleptischen Formen bekannt und vergessen. Die nötige und übrigens mühsame archäologische Arbeit ist weitgehend noch zu machen. Es langt für den unmittelbaren Zweck, daß Reiner Schürmann in dem Befund, den Lohmann als grammatische „Konkretisierung der Gegenwart“ – nämlich des grammatischen Präsens – beschrieben hat (Lexis III, 183), eine „fonction archique, sous forme télique“ ausmacht, die er „ le fantasme hégémonique latin“ nennt, ein Paradigma der Hégémonies brisées, denen das postume Konvolut seines Nachlasses gewidmet ist.¹³ Der entscheidende Zusatz zum Stand der Dinge: „Que la forme – une forme – téléologique de pensée perdure“ (Des hégèmonies brisées 312), gilt dem normativen Impetus der Referenz: „Le referre indique une mensuration“ (305). Referenz ist eine Maßnahme, idealtypisch in der Unterscheidung der zwei civitates, „entre la Rome présente (Cicero), dégradée en ectypon, et la Jérusalem à venir (Augustinus), maximisée en archetypon“ (306). Die „rhetorische Investitur“ der Referenz (313) zerreißt in der „Konkretisierung des Präsens“ (Lohmann) die Politik: Auf der einen Seite stehen die Akte der
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. Georg Lasson (Hamburg: Meiner 1923, 1968), II–IV: 675. Reiner Schürmann, Des hégémonies brisées (Mauzevin: Transeurop 1996), 249 ff.: 312 f.
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verflossenen mythischen Referenz, die Vergils Aeneis mit der trojanischen Herkunft Roms beschworen hatte (in einem mit Ovid konkurrierenden Akt der Übertragung, einer in den Augen Augustins mit dem Christentum endgültig erledigten Referenz), auf der anderen Seite der Akt der performativen jüdisch-christlichen Referenz, die in das Erbe der antiken Arbeit am Mythos eintritt ohne Rücksicht auf Verluste, in einer gewaltsamen pseudomorphotischen Aneignung der Metamorphose: also in der Latenz dessen, was Peter Brown als „potent fragment(s) of encapsulated history“ zu beschreiben begonnen hat.¹⁴ Zwischen beiden Romreferenzen greift Unklarheit um sich, eine „neue Unübersichtlichkeit“ breitet sich aus, hätte Habermas gesagt, und nicht die geringste Unklarheit ist historisch gesehen die, ob die Zeitenwende der neuen Zwischenzeit, die zur Zwischenzeit geronnene Gegenwart, die Ciceros und Ovids war, oder ob sie die des Neuen Testaments ist. Seither erscheint jede Querelle des Anciens et des Modernes, von Klassik und Romantik, als Alternative zwischen endlicher Erkenntnispragmatik und Messianismen, deren Latenz Fortschritte generiert ohne Ende. Der Zerfall der Romreferenz ins heilsgeschichtliche Schema von Babylon und Jerusalem, zwischen denen Rom kein genuines, sondern das abgeleitete, vom Sündenfall überschattete Schicksal der neutestamentlichen Zwischenzeit zu verwalten hat, ist das Symptom eines politischen Phantasmas gebrochener, bereits im Ursprung gespaltener Hegemonie und Autorität. Der Sachverhalt ist kein primär ideologie- und phantasmen-kritischer Anlaß – das ist er sekundär im Sinne sekundärer Bearbeitung und Anwendung. Sondern er offenbart den dialektischen Untergrund, die untergründige ratio in der römischen Konstitution von Hegemonie und Autorität, auf die Heidegger hingewiesen hat.¹⁵ Der Widerstreit der Spaltung ist konstitutiv, nicht destruktiv, er nutzt die Latenz Latein, wenn auch aufkosten eines hegemonialen Phantasmas, dessen idée fixe die Referenz Rom ist: deren Ideologieanfälligkeit also weniger interessant ist als ihre Funktion für die Ökonomie hegemonialer Latenzverwaltung. Der Widerstreit ist selbst eine Form der Abarbeitung von Latenz, in diesem Fall der Latenz einer hegemonialen Praxis, deren Artikulation Ideologie als eine Art von Latenzschutz produziert. Im Schatten des ideologiebesetzten „Konflikts der Interpretationen“ – darin liegt die Differenz des Konfliktbegriffs von Ricoeur zu dem des „Widerstreits“ bei Deleuze – operiert die Latenz Latein mit der Referenz Rom. Ich verstehe Schürmann so, daß der Inbegriff der Latenz Latein, der in der Teleologie der Form das neue „fantasme directeur“ produziert, ‚Natur‘ heißt und als lex natura der vielfältige Grund von Rationalität wird. Es wäre der Witz lateinischer ratio, die Latenz des Mythos als
Peter Brown, Authority and the Sacred (Cambridge: Cambridge University Press 1995), 26. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen: Neske 1956), 166, 192.
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naturgesetzt aufzufassen, und der institutio oratoria der Rhetorik obläge seither die erkenntnispragmatische Verwaltung, Regulierung, Ausnutzung, Anwendung, kurz: die ‚Technisierung‘ des Naturgegebenen als des phänomenal Latenten, im Mythos phänomenal immer neu Bewältigten. Bis ins 18. Jahrhundert ist natura Latenz, Begriff für Latenz, welcher die ratio in immer neuen, apotropäischen Tropismen – sei es nómos oder téchne – gewachsen zu sein hat, bevor sie sie mit unvordenklichen Folgen überwältigt und bis zur Wiederkehr des Verdrängten verdrängt.¹⁶ Für Schürmann wie für Blumenberg wird der von Heidegger als ein Danaergeschenk erkannte Schicksalsbegriff der Technik zum hegemonialen Instrument, gehört ‚Durchtechnisierung‘ (sagt Blumenberg) zum einzig kongenialen Umgang mit der römischen Grunderfindung der naturwüchsigen Teleologie. Das corpus der Rhetorik verwaltet in der Art eines Luhmannschen ‚reflexiven Mechanismus‘ das Lernen von Lernen.¹⁷ Es ist die reflexiv-mechanische Doppelqualität, welche Durchtechnisierung garantiert und zum institutionellen Charakter umprägt, der in der Folge die Rhetorik zur exemplarischen Institution, zur Institution im doppelten Sinne des allen institutionellen Prozessen eingeschrieben Lernniveaus macht. Die Latenzverwaltung der Rhetorik, in der die lateinische Rhetorik nach der Übertragung aus der griechischen Form an sich ihr begriffliches Repertoire als ein technisches entwickelt hat, hat sich nicht geradewegs in ihren Begriffen niedergeschlagen, denn diese sind keine reinen theoretischen Begriffe im Sinne ihrer griechischen Herkunft, sondern sie bestreiten die Praxis von Theorie. Die Begriffsform rhetorischer termini technici geht deshalb nicht in der philosophischen Arbeit des Begriffs auf, sie leistet anderes. Ihr Paradigma ist an der Stelle der Begriffe – in ihrem unbegrifflichen Vorfeld – die Metapher. Diese operiert in einem Feld von Figuren, das prinzipiell, weil keinen Prinzipien, keiner Begründung und keinen Referenzen verpflichtet, unbegrenzt ist, de facto aber in immer neuen, aber endlichen Anordnungen rekonfiguriert ist. Was das für die Latenz des Lateinischen bedeutet, von den syntaktischen, proto- und anagrammatischen Voraussetzungen bis zum Repertoire der rhetorischen Änderungskategorien, ist längst nicht hinreichend erforscht. Ernst Robert Curtius’ Intuition der Toposforschung hatte den Sachverhalt richtig im Blick, aber er unterschätzte die untergründige Mobilität der Topik, die in den Topoi ablaufenden Prozesse der Umbesetzung, die Dynamik der metaphorologischen Modellierung.¹⁸ In der Begriffsgeschichte der Philosophie zeigen Robert Spaemann, „Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts“, Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 50 – 74: 59. Niklas Luhmann, „Reflexive Mechanismen“ (1966), Soziologische Aufklärung I (Opladen: Westdeutscher Verlag 1970), 92– 112: 99. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern: Francke 1948).
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sie deutlichere Profile, als sie in der Ambiguität literarischer Texte zu haben sind und in der ‚Unbegrifflichkeit‘ der lebensweltlichen Phänomenbestände, wechselnden Relevanzen in einer komplexen Sprachsituation alltäglicher Verstelltheiten. Charakteristisch für die im Wandel der Zeiten in epochalen Fugen mehrfach tiefergelegte Latenz des Lateinischen ist das von Curtius wie von Heidegger beobachtete Verfallsmoment der Topoi zu Klischées, das weniger ein Symptom der Erstarrung als auch eines der Virtualisierung ist.¹⁹ Aber in der Tieferlegung nehmen die Latenzen nicht ab, wenn die Referenzen auch schwinden oder neu belebt werden müssen. Das Problem der epochalen Um- und Überschreibungen, Transkripte, das die Latenthaltung zu immer neuen Hypotheken bringt, kann ich hier nicht weit genug verfolgen. Genug, daß es sie gibt, sie das grundsätzliche Latenzproblem systematisch verschärfen und die lateinische Übertragungsteleologie, deren bedeutendster rhetorischer Begriff die metaphora continua der Allegorie ist, zu systematischen Enkryptierungen, Verkapselungen, Verdeckungs- und Entstellungsverhältnissen bringen, mit denen bei der Identifizierung, Isolierung und Analyse topischer Syndrome zu rechnen ist.
III. Resonanz Rom Die Referenz Rom ist eine der religiösen Orte: Nullus locus non religionum deorumque est plenus schreibt Livius (5.52.2).²⁰ Diesen Befund des römischen Historikers hat das mittelalterliche Rom und das neuzeitliche nicht minder – aller pseudomorphotischen Gewaltanwendung und apologetischen Umbesetzungsfinten zum Trotz – bewahrheitet. Dabei ist der lateinische Begriff der religio zur Gänze opak geworden. Er bedeutet buchstäblich, in der juristischen Terminologie des mittelalterlichen Lateins noch greifbar, die doppelte Bindung, genauer die Widerbindung (wie in Widerstand und Widerlager): den Gegenhalt der Referenz.²¹ Der Latenz der Götter eingedenk, auf sie spezialisiert in Riten, magischen Praktiken und anagrammatischen Poetiken, ist die römische religio die mythisch getönte Vorgängerformation der civitas deorum, die sich in der Übertragungsanstrengung der Rhetorik rationalisiert findet und in Augustins Konzept der civitas
Vgl. Klaus Dockhorn, „Epoche, Fuge und Imitatio: Rhetorische Konsequenzen des Historismus“ (1966), Macht und Wirkung der Rhetorik (Bad Homburg: Gehlen 1968), 105. Ann Vasaly, Representations: Images of the World in Ciceronian Oratory (Berkeley CA: University of California Press 1993), 40, 196 ff. Lorenz Dieffenbach, Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis (Frankfurt/M: Joseph Baer 1857), 491.
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Dei aufgehoben sein soll.²² Wieder ist Cicero die Hauptquelle, aber charakteristischer für den Vorgang der Historisierung sind die sprachgeschichtlichen Unternehmen eines Varro und Festus, dem Giorgio Agamben die unübertreffliche, emblematische Figur des homo sacer entnommen hat.²³ Unübertrefflich effektiv, weil emblematisch, denn in ihr trifft es sich – Agamben wohl bewußt, aber listig verschwiegen und desto effektiver inszeniert – daß Festus die seinerzeit bereits archaische religio zum Modell der Dauerhaftigkeit der juridischen Fundamente gemacht hat. Latent fundamenta referiert Quintilian schon im Prooemium des ersten Buchs. Es ist ihre Seinsart, daß sie aus der Latenz heraus Wirkung entfalten; ganz ohne eine andere Grundlage, die der Rede oder der Verkündigung wert wäre, wirken sie dauerhaft fort. Agamben macht das Zusammenspiel der Doppelbindung der religio (der er untergeordneten Wert beimißt) und der Figur des einschließenden Ausschlusses (auf die es ihm ankommt) zum arcanum der europäischen Politik seit ihren römischen Grundlagen. Es benennt die kryptische Doppelfigur der Latenz, in die das Christentum mit der Erlöserfigur des Gekreuzigten eintritt. Der Begriff der arcana imperii, den Tacitus auf die Machtübernahme des Tiberius, der juristisch problematischen Aufdauerstellung des Prinzipats datiert, benennt also nicht nur einen politisch verwerflichen Trick, er bezeichnet eine Verdeckungs- und Ausnahmestruktur, die der Übertragungslogik eingeschrieben ist, als Hypothek fortgeschrieben wird und fortan als Latenzfigur den topisch etablierten Raum des Politischen mitdefiniert. Sie gehört zur Struktur des Widerstreits als eine nicht auszuschließende und deshalb eingeschlossene, in die Latenz versetzte, mit versiegelten Lippen wirksame Figur des Ausgeschlossenen. Es ist klar, daß diese Figur aus der Verdrängung auf Gestalten drängt, und es ist deutlich, warum Agamben sie in der Rechtszone des Lagers aus der kryptischen Inschrift der Verfemung ins Offene treten sieht, in die Lichtung eines Politischen, wo sie zum Himmel schreit – und sei es auch nur zu dem der Medien, die den Aufschrei der Bilder in die Normalität, die Ordnung der verordneten Diskurse, den ‚Nicht-Ort‘ einer Zone beschränkter Verantwortung zurückzwingt.²⁴ Das mag, könnte man cum grano salis vermuten, die lakonische Hoffnung des Tacitus gewesen sein, nach dessen Diagnose, spätestens, jede Romreferenz die Gegenbewegung contro Roma implizieren und als abstrakte Chiffre mitführen muß. Man
Derzeit bahnbrechend Joseph Ratzinger, „Herkunft und Sinn der Civitas-Lehre Augustins“, Augustinus Magister – Congrès International Augustinien I–II (Paris: Institut des Etudes Augustiniennes 1954), II: 965 – 979. Giorgio Agamben, Homo sacer: Il potere sovrano e la nuda vita (Torino: Einaudi 1995), 79 ff. Vgl. Marc Augé, Non-Lieux: Introduction à une anthropologie de la surmodernité (Paris: Gallimard 1992), 97 ff.
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sieht spätestens hier, wie unfair die interpretatio christiana die pagan-politischen Einsichten der römischen Historie für eigene Zwecke ursurpierte. Sie kann dies – ich komme auf Brague und Schürmann zurück – in einem eigenartigen Mimikry an das Prinzip der natur-teleologischen continuatio, in der die heidnisch-aufgeklärte Latinität zur mimetischen Resonanz, zur ‚Hintergrunderfüllung‘ gerät.²⁵ Kann man Agambens homo sacer als perfekte Allegorie, weil natur-teleologische continuatio unseres politischen Anteils an der Latenz Latein auffassen und ihr den Eintritt des Christentums in diese Latenz ablesen, so finden wir auf eine ähnlich glückliche Weise die zweite Hälfte dieses historischen Prozesses in Marie Theres Fögens römischer Archäologie des Carl Schmittschen Feind-Begriffs. Hatte schon Blumenberg scharfsinnig die von Schmitt mißbrauchte und verleugnete Urszene im Zeitalter der Religionskriege gesucht und diese als Wiederkehr der mit Augustinus nicht überwundenen, latent gebliebenen Gnosis erkannt, so bestätigt sich diese (an Hans Jonas anknüpfende) Hypothese am Schauplatz der ersten Gnosis. Daß die Christen den Spieß, zu dem sie den welthistorischen Anlaß lieferten – als Prätext im Kontext der konkurrierenden, synkretistisch-gnostischen Ansinnen – derart effektiv umdrehen konnten, machte sie zur römischen Kirche in einem unchristlichen, nicht mehr urchristlich-jüdischen Sinne: „Den irdischen, sozial und politisch unerwünschten Feinden des Menschengeschlechts, den Christen, setzten diese selbst (das ist die Pseudomorphose in actu) die exterritorialen und externalisierten Dämonen entgegen. […] Das schafft Ordnung. Auch und vor allem im Inneren der christlichen Gemeinschaft. Denn es gibt nur einen Gott […].“²⁶ Das Paket ist zu fest geschnürt, als daß es sich umstandslos aus der Latenz ins Licht ziehen und auspacken ließe. Denn die Ordnung, die so geschaffen wird, ist keine moderne wissenspolitische, sondern entspricht der geänderten „Rechtslage des göttlichen Wahrheitsvorbehalts“ (des arcanum Dei von Laktanz). Blumenberg hat das in der nötigen Trennschärfe formuliert, als er „den argumentativen Gehalt für die Befestigung der christlichen Lehre“ (der doctrina christiana) in der „hypostasierenden Auffassung der Unwahrheit“ erkennt, die „eine Gegenwelt eigener
Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (Frankfurt/ Bonn: Athenäum, 2. Aufl. 1964), 54 ff. Ich verwende den Begriff von Gehlen ohne alle anthropologischen Implikationen zu teilen, im Gegenteil, um ‚Anthropologie‘ als ein Symptom der Sachlage kenntlich zu machen. Vgl. Marc Augé, Génie du paganisme (Paris: Gallimard 1982), 107 ff. Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager: Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike (Frankfurt/M: Suhrkamp 1993), 249, der allerdings die Pointe des von ihr an anderer Stelle zitierten Blumenberg entgangen ist.
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Essentialität zur Wahrheit bildet.“²⁷ Die Konkurrenten als überholte Vertreter der zu überwindenen heidnischen Welt mit deren eigenen Mitteln zu emphatischen Feinden zu erklären: zu Feinden in einer neuen Qualität von Weltpolitik, Feinden der missionarisch in Auge gefaßten Menschheit, verurteilt die Referenz Rom zur bloßen Resonanz.²⁸ Als Muster der schlechten Mimesis, die Plotin verwarf, fiel Augustinus dafür nur der Name des Teufels ein. Erst Dante, mit und gegen Augustins Rom, wußte ihre entfesselte Teleologie, das Naturgesetz der falschen Mimesis dieses gnostischen Restes zu entledigen – um den Preis, freilich, der Hölle menschlicher Politik, der sein Schüler Machiavelli die Diagnose stellte: „In hell, Machiavelli’s advice makes perfect sense.“²⁹ Das Duplikat Rom, des neuen Troja, redupliziert sich, es wuchert. Es erneuert sich verkehrt – Roma amor – zu einem Umbesetzungsort ohne Originalitätsausweis, der indessen – alles andere als ein non-lieu – an seinen Religionsorten, double binds, hängt. So daß man immer noch sagen könnte, wir sind für Rom, sofern und solange wir gegen Rom sind. Denn wenn es richtig ist, daß die implizite Selbstüberschreitung der Translationslogik das ist, was dieser nicht nur passiert und sie bedroht, sondern was sie beflügelt, dann kann mit dieser Beflügelung gerechnet werden, wenn auch nur mit dem einseitigen Glück der Fortuna, der bekanntlich die Haare in die Stirn hängen, und die man deshalb nur von vorne zu greifen bekommt. Das arkane Wissen um die Zufälle des Glücks kann zwar der fortwährenden Rückfälle in die Barbarei desselben Roms nicht wehren, aber es liegt keinesfalls in der Logik der Sache, diese Rückfälle in einer Radikalisierung von Zukünftigkeit zu überspringen. Die Alternative zu Messias und Gottesstadt ist nicht der Faschismus; kein „Aufhalter“ der Schmittschen Art ist von Nöten. Die Unmachbarkeit der Welt, für die das Imperium Romanum samt seinem Untergang zur feststehenden Allegorie geworden ist, impliziert eine begrenzte Ökonomie der Latenthaltung, die dem main stream der christlichen translationes entgangen ist und der Aporie des Augustinus immer wieder nur das falsche, das eschatologische Recht gegeben hat: als Pseudomorphose römischer Natur.
Hans Blumenberg, „Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik“ (1959), Ästhetische und metaphorologische Schriften, 266 – 290: 274 (erstes Zitat); Paradigmen zu einer Metaphorologie, 55 (zweites Zitat). Vgl. Vf. „The Enemy Has No Future“, Cardozo Law Review 26 (2004– 5), 1400 – 1412. John Freccero, „Medusa and the Madonna of Forli: Political Sexuality in Machiavelli“, Machiavelli and the Discourse of Literature, hg. Albert Russell Ascoli und Victoria Kahn (Ithaca NY: Cornell University Press 1993), 161– 178: 168.
11 Religio Zur doppelzüngigen Wurzel institutioneller Bindung In einem der fundamentalen Einträge des Vocabulaire des institutions indoeuropéennes, Abt. Religion, geht Émile Benveniste der doppelten Wurzel des Wortes religio nach und entscheidet sich unter zwei Möglichkeiten für die Version des doppelten (oder Wieder‐) Lesens, re-legere, unter Abweisung der alternativen Lesart des doppelten Bindens, re-ligare, der festzurrenden Wider-Bindung (nicht schon zu sagen des double bind).¹ Die Möglichkeit, beide Lesarten zu verbinden und die zweite als das Ziel, die Bestimmung oder das Ergebnis, der ersten aufzufassen (Bindung als Ziel des Lesens), oder die erste als Mittel, Ort oder Implikation der zweiten zu verstehen (also die Art der religio im Lesen zu lokalisieren), ignoriert Benveniste, so nahe sie liegt, mit Fleiß. Sie würde womöglich die etymologische Methode selbst diskreditieren und der Wort-Herkunft von Anfang an unterstellen, was sich der nachträglichen Projektion verdanken könnte. Kurz, gegenläufig zum Ursprung der Worte in ihrer literalen Referenz brauchte man die Unterstellung einer Latenz, um eine uranfängliche Ambivalenz der Wortanklänge mit behaupten zu können. Die Intuition, der ich hier Raum geben will, ist die, daß Religion eine solche Ambivalenz in sich birgt, austrägt oder aufhebt oder aufzuheben bestrebt ist. Benveniste hielt sich im wesentlichen an Cicero, der freilich keine Etymologie im modernen Verstande aufmachte, aber – das ist ein weites Feld, das die CiceroForschung meidet – sie rhetorisch nutzte.² An der von Benveniste herangezogenen Stelle von De natura deorum, einem Spätwerk, das die routinierte Rafinesse des Autors in aller Abgründigkeit, die dem Gegenstand angemessen ist, zeigt, entwirft Cicero ein semantisches Feld, in dem es ihm nicht auf signifikante Ur-
Beitrag zu einer von Philipp Stoellger im Jahrbuch Rhetorik 33 (2015), 45 – 52, veröffentlichen Bilanz zum Thema „Religion und Rhetorik“. Émile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes I–II (Paris: Minuit 1969), II: 267– 272, „religio“, gefolgt von „superstitio“ (auch in dieser Unterscheidung folgt Benveniste Cicero). Die etymologischen Anregungen, die Cicero durch Varro erfahren hat, sind alles andere als befriedigend geklärt; sie stehen leider überwiegend im Schatten politischer Parteiungen wie bei T.P. Wiseman, „Cicero and Varro“, Remembering the Roman People (Oxford: Oxford University Press 2009), 107– 129, hier: 119 f. https://doi.org/10.1515/9783110486377-012
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sprungsreste ankommt, sondern einem erkenntnispragmatischen Interesse folgt, in dem etymologische Anklänge eine unterstreichende, pointierende Funktion haben und, als Ursprungsechos aufgefaßt, fast wie ironische Nebenffekte wirken. Worauf es ihm ankommt, ist keine ursprüngliche Bedeutung: inest vis legendi eadem quae in religioso, schließt er, und zwar zu dem Ende, daß es die Kraft sei, vis, die für ihn die Existenz der Götter fraglos macht: ac mihi videor satis et esse deos et quales essent ostendisse (2.72).³ Ciceros Gottesbeweis folgt aus einer Erkenntnispragmatik, worin der in der religio wirkenden Latenz eine persuasive Kraft zuwächst, sich durchsetzt und durchhält, deren Sammlungsmoment via legere und e-legere die unterscheidende Fähigkeit des di-legere gewinnt und ex intelligendo zum intelligens wird. Das et–et des et esse–et quales essent nimmt das ontologische Sein der Götter von Anfang an zurück auf die Durchsetzungskraft dieser qualitas, die er als vis legendi einer Metaphorologie des Lesens ab-liest. Es gibt kaum ein besseres Belegstück für die von Hans Blumenberg an Cicero gewonnene Erkenntnispragmatik, und es ist deshalb kein Wunder (wenn auch kein bei Blumenberg explizit gemachtes Wunder), daß der entscheidende Exponent der von Benveniste erwogenen gegenläufigen Lesart von religio, Laktanz, als der exemplarische Umkehrfall der christlichen Rhetorik fungiert.⁴ Die Gegenläufigkeit der etymologischen Befunde, die beiläufig auch unter den Retractiones des Augustinus steht (1.13), kommt bei Laktanz im expliziten Bezug auf Cicero zu einer bezeichnenden Einschätzung: adeo et ipse [Cicero] testatus est falsum quidem apparere, veritatem tamen latere. Daß es das Falsche ist, falsum, das offenkundig sei, apparere, daß die Wahrheit dagegen, veritas, aus dem Verborgenen komme, latere, bezeuge bei Cicero avant la lettre die vis legendi, die in der christlichen Offenbarung als eine verkehrte Rhetorik zur Geltung kommt. Derselbe Laktanz nun, der Ciceros vis legendi zum indirekten Beweis nimmt, sieht dies doch nur als Symptom einer anderen Kraft an, der von Benveniste verworfenen Bindung, die in Laktanz’ Divinae institutiones ein vincul[um] pietatis heißt, durch das wir obstricti et religati sumus (4.28).⁵ Was auf diese Weise in In der ausführlich kommentierten Tusculum-Ausgabe von Olof Gigon und Laila StraumeZimmermann, Vom Wesen der Götter (Zürich/ Düsseldorf: Artemis/ Winkler 1996), 150/152. Gigon bezeugt Ciceros Ironie unfreiwillig, indem er den Titel De natura verwirft und verwesentlichen will (Einführung 583, Kommentar 502 f. zur Stelle), an diesem Punkt aber das quales gleichwohl mit „welcher Natur sie sind“ übersetzt (153). Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), 36 und 59 (Kommentar 324 und 354). Benveniste konnte die Metaphorologie kaum kennen. Vgl. Robert Muth, „Vom Wesen römischer religio“, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 16/1, hg. Wolfgang Haase (Berlin: de Gruyter 1978), 291– 390, 348 zur Stelle; Muth bleibt ganz im Rahmen von Ciceros etymologischer fictio, verkennt deren rhetorisches Format und weiß deshalb
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geistreicher Anspielung auf Cicero – man könnte sagen: durch einen pun – auf ein anderes, ähnlich lautendes semantisches Feld überspielt wird, ist etymologisch in einem rhetorischen Sinn, der bei Cicero angelegt ist, Benveniste zufolge aber dem Milieu der Quellen zuwider läuft; Gigon nennt deshalb Ciceros und Laktanz’ Erklärung gleichermaßen „abenteuerlich“. In der Tat polemisiert Laktanz im selben Atemzug gegen Ciceros interpretatio, der er vorwirft inepta zu sein ex re ipsalicet noscere. Nicht aus der Etymologie des Wortes, sondern aus der Sache der religio selbst – ex re ipsalicet – soll seine Auffassung überzeugen. Das von Cicero mit größter Kunst gehandhabte Duo von res und verba ändert also nichts an der wesentlichen Modifikation, die Laktanz mit Ciceros eigenen Mitteln vornimmt, und die in einer Weiterführung eher denn in einer Gegenführung zur erkenntnispragmatischen Pointe Ciceros besteht.⁶ Nun war dessen spezifisch römische Verankerung der religio gebunden an heilige Orte, deren es, wie Livius ab urbe condita bezeugt, nirgends mehr gab als in Rom: nullus locus, der nicht religionum deorumque est plenus (5.52.2).⁷ Was bei Livius sich wie ein Pleonasmus ausnimmt, religionum deorumque, dokumentiert als natura deorum eine wie naturwüchsig an bestimmte Orte festgebundene Gleichursprünglichkeit, deren Inbegriff pietas, Frömmigkeit, das Pendant des an diese Orte geknüpften Glaubens, fides, ist. Religiöse Bindung ist in der Folge eine Implikation römischen Rechtsbewußtseins: iustitiae fides, id est dictorum conventorumque constantia et veritas, erläutert Cicero (De officiis 1.23). Das Schlüsselwort constantia zieht hier noch nicht – nicht solange fides bei der iustitia bleibt – griechische parrhesia nach sich. Dazu ist Anlaß erst seit Tertullian und Laktanz. Nach ihrem Vorbild wird die vor Gericht bewiesene Standhaftigkeit der freien Rede in der Neuzeit der Lipsius, Baumgarten und Foucault (im 16. 18. 20. Jahrhundert) immer neu Aktualität gewinnen, die vom römischen Gottvertrauen eines Cicero unüberbrückbar weit entfernt ist und sich folgerichtig seit ihrer apologetischen Karriere, der lateinischen Übersetzung als rhetorische licentia widersetzte.⁸ Die bei Cicero vertretene Bindung der römischen pietas an die iustitia – der pietas als naturwüchsiger Gerechtigkeit gegenüber den Göttern, iustitia adversum
auch die Replik des Laktanz in der Funktion ihrer tieferlegenden Umbesetzung nicht recht einzuschätzen. Vgl. J.H.W.G. Liebeschuetz, Continuity and Change in Roman Religion (Oxford: Clarendon Press 1979), 261 f. Ann Vasaly, Representations: Images of the World in Ciceronian Oratory (Berkeley CA: University of California Press 1993), 40, 196 ff. Vgl. Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp, Christoph Menke, Baumgarten-Studien: Zur Genealogie der Ästhetik (Berlin: August Verlag 2014), 45 f. 70 f. 142 ff. 242 ff. Die von Baumgarten markierte Wende der aesthetica hat eine Vorgeschichte in der römischen religio.
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deos (1.116) – befestigt die Trias von religio, pietas, sanctitas in caerimoniis fide iure iurando (1.14), deren erkenntnispragmatische Glaubwürdigkeit qua fides das resultierende ‚belief system‘ in mythische Zweitrangigkeit versetzt: ad recte credendum war die Faustregel, mit der Thomas von Aquin die allegorisierende Ausmalung der Glaubensinhalte zurückstufte und die constantia im Glauben als individuelle Tugend sich selbst überließ. In Cesare Ripas Iconologia (1593), aus der die pietas vollends herausgefallen und durch die der Giustizia kongeniale Prudenza ersetzt ist, steht als der letzte Zeuge der vollendeten Revision des Religionsbegriffs ein der Naturgeschichte des Plinius entlehnter stummer Elephant als Emblem einer unabsehbar gewordenen Hypothek.⁹ Der entscheidende, säkularisierende Schritt – die durchgängige Tendenz von Ripas Handbuch – liegt in der Befreiung von unbegriffenen Mächten der Bindung, die Cicero für Rom als ‚Staat‘ konstitutiv ansah – das ist dessen einziger nennenswerter status – und nicht missen wollte.¹⁰ Eine Gebundenheit, die Laktanz indessen, nicht von ungefähr ein „christlicher Cicero“ unter Constantin, als Kern des neuen Kults herauspräparierte und zur Grundlage der römischen Kirche erhob, von Thomas bestätigt, von Suárez zum Instrument der Gegenreformation diszipliniert.¹¹ Im Gegenzug zu Benveniste, der die unliebsame Lesart des Laktanz als einen bedauerlichen Rückfall hinter die aufgeklärtere etymologische Kompromißbildung Ciceros denunziert – als einen Rückfall, der erst mit der (damit umso plausibleren) Renaissance gut gemacht wird – hat Giorgio Agamben den institutionellen Aspekt der tiefer liegenden Umwidmung des Kults durch Laktanz stark gemacht und bis in die jüngste Liturgiereform hinein nachgezeichnet.¹² Das ist wichtig, weil es den nietzscheanischen Konsens, die christliche Religion als eine, und womöglich als die entscheidende Dekadenz römischer religio zu diagnostizieren, durcheinander bringt.
Cesare Ripa, Iconologia (1593/ 1603), hg. Sonia Maffei (Torino: Einaudi 2012), 508 ff. (Kommentar 804). Vgl. Ernst Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke (Zürich: Artemis 1948, 2. Aufl. 1961), Einleitung, in der das Wort religio nicht vorkommt, da es schlecht als ‚Staatsgedanke‘ aufzufassen ist; der Sachverhalt ‚Staat‘ wird in ihm aber unmißverständlich mit getragen. Das Übergewicht der Bindungsbedeutung, gegen das der aufgeklärte Benveniste anschreibt, ist in den Einträgen des Wörterbuchs von Du Cange manifest, das in vieler Hinsicht ein bedeutender Vorgänger von Benvenistes Unternehmen ist. Siehe die optimierte 2. Ausgabe, die der letzten Redaktion des spätereren 19. Jahrhunderts voranging: Carolus Dufresne Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis I–VII (Paris: Didot 1840 – 50), V (1845): 688 – 689, religare &c. Giorgio Agamben, Opus Dei: Archeologia dell’ufficio – Homo sacer II, 5 (Torino: Bollati Boringhieri 2011), 120 ff. Vgl. schon Gerhard Fittkau, Der Begriff des Mysteriums bei Johannes Chrysostomus: Eine Auseinandersetzungmit dem Begriff des ‚Kultmysteriums‘ in der Lehre Odo Casels (Bonn: Hanstein 1953).
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Die von Blumenberg Cicero zugeschriebene antike Erkenntnispragmatik wird zur christlichen Tugend, die römische religio zähmt die chiliastische, auf ein nahes Ende dringende Transzendenz. Die Traktate De sacramentis und De mysteriis des Ambrosius von Mailand sind dafür perfekt komplementäre Quellen. Im Zentrum der frühen kirche-begründenden Katechesen steht das mysterium, das als arcanum des Kults die Liturgie formt. Als ein Geheimnis werde die Eucharistiefeier erst den Getauften voll begreiflich, unterstreicht Ambrosius.¹³ Was selbst den modernen Fachleuten den arkanen Sinn, ipsam rationem sacramentorum (De mysteriis 1.2), vollends verdächtig macht. Deus in nobis sine nobis operatur referiert Agamben die Leistung des officium in Thomas von Aquins nüchterner Formel (Summa theologica I–II, 55). Die performative Kraft des Vollzugs, die Cicero in der religio als vis relegendi manifest findet, wird in der institutionellen Doppelbindung der Lektüre, die Laktanz entwirft, zum Sakrament in einer arkan verdoppelten Ontologie. In ihr springt die Rhetorik vom profanen Gebrauch der Worte über in das mysterium von deren Fleischwerdung: et verbum caro factum est – ein Satz, der, als liturgisches Zitat der narrativen Einbettung des Testaments entwendet, seiner rhetorischen Konstitution und, heißt das (wie zu zeigen ist), seiner lateinischen Kontextur umso weniger entgeht. Laktanz macht keinen Hehl daraus, und das ist ein entscheidender Schritt weiter als die ihm von Blumenberg attestierte „pure Mimikry im Milieu der alten Religionen“.¹⁴ Die eingängige Behandlung durch Ambrosius nimmt sich, nach der Abweisung aller profanen Einfühlung, zuerst des Augenscheins eines offenkundigen Widerstands an: Atqui similitudinem video, unterscheidet er, non video sanguinis veritatem (De sacramentis 6.2). Selbst wer den verwandelten Wein als analogon, als analoge Struktur – similitudo – erkennt, nehme mitnichten die Wahrheit des in diese Worte eingelagerten Sachverhalts wahr. Die similitudo ist als schlichte Ähnlichkeit ein grob irreführender Effekt, der zulasten der Substitutionsstruktur geht, die mit dem rhetorischen terminus technicus der similitudo konventionell bezeichnet wird. Der zitierten Performanz der Worte Christi – de sermone Christi, qui operatur – und also genauer dessen, was sie bewirken, sei so nicht annähernd entsprochen: nämlich nicht dem bindenden Sachverhalt des liturgischen Geschehens: ut possit mutare et convertere genera instituta naturae (6.3). Es ist unmöglich, in dieser technisch hoch spezifischen Wortwahl des Ambrosius nicht Quintilian und seine Schule mit zu hören, in der die mutatio die grundlegende Ambrosius von Mailand, De Sacramentis—De mysteriis (Fontes Christiani 3), hg. Josef Schmitz CSSR (Freiburg im Breisgau: Herder 1990), 206 (Einleitung 60 ff.), im folgenden 180. Hans Blumenberg, „Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik“ (1959), Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 266 – 290: 269.
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Disposition der verba bezeichnet, die verhindert, daß uns die Worte für die Sachen fehlen (Institutio oratoria 8.6.1). Als verba vitae aeternae zitiert Ambrosius die den erkenntnispragmatischen Nexus Quintilians und Ciceros überschießende, in Laktanz’ Sinne erst apostolische Bestimmung durch Petrus den Felsen, auf den die Kirche zu bauen war. Er restituiert die römische religio Ciceros, nicht mehr und nicht weniger, verpflanzt den Fels Petri mit den Mitteln lateinischer Rhetorik (und gibt so auch der orts-kontroversen Universalisierung des Paulus ihren substantiell neuen Ort). Die Doktrin gewordene Lehre ist hier nicht Thema und strikt zu unterscheiden von der rhetorischen Konstitution dessen, was als mysterium der doppelten Bindung dem Glauben anheimzugeben war, und deshalb als ein bloßes arcanum, stellt Ambrosius klar, nur zu „verraten“ – prodidisse potius quam edidisse – war (De mysteriis 1.2). Auch das nimmt eine seit Tacitus fast sprichwörtlich gewordene rhetorische Konstellation auf.¹⁵ Die ‚Ästhetisierung‘ der Liturgie, der das Zweite Vaticanum abhelfen sollte, ist – vergleichbar der von Benjamin und Brecht verworfenen ‚Ästhetisierung der Politik‘ – ein leichtfertiger Vorwurf. Gegen ‚Ende der Kunstperiode‘ war in Hegels Philosophie der Weltgeschichte das bindende Moment der religio von der ‚List der Vernunft‘ zu einem Moment der Vernunft selbst geworden: „Der wirkliche Geist dieses Bewußtseins“ [des „ausdrücklichen Bewußtseins der Einheit mit dem allgemeinen Geiste“], der Mittelpunkt dieses Wissens, ist die Religion“.¹⁶ Seither kommen Religion und Rhetorik als ein aufgeklärtes Paar daher, als der Inbegriff jedes Aufgeklärtseins: Religion mag gelungene Rhetorik gewesen sein, bevor sie zum Opium fürs Volk verkam. Sie überlebt als ein reflexiver Mechanismus so genannter ‚belief systems‘, denen man aufgeklärterweise zwar keinen Glauben mehr schenken kann, deren leerem Weiterlaufen man aber in der Leere des Funktionierens eine soziale Funktion zubilligen muß. Mehr als den doppelten Tod der Religion hat man so nicht beschrieben: ihre ur-anfängliche Täuschung bei verlegenheitshalber auf Dauer gestellter Nützlichkeit, kurz: eine gewisse, nicht länger zugelassene Naivität (mildernde Umstände nach Cicero) mit einer Prise von moralischem Zynismus (notgedrungener Toleranz nach Luhmann), den Extremwerten einer von Platon nicht von ungefähr verworfenen Rhetorik.¹⁷ Können die
Vgl. Vf. „Arcanum Translationis: Das Fundament der lateinischen Tradition“, Tumult 30 (2006), 19 – 30; wiederholt im voranstehenden Kapitel. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. Johannes Hoffmeister (Hamburg: Meiner, 5. Auflage 1955), 125 (Hegels Hervorhebung des Wortes Religion, seiner lateinischen Bedeutung). Vgl. Juliane Rebentisch, Die Freiheit der Kunst: Zur Dialektik demokatischer Existenz (Berlin: Suhrkamp 2012), 56 ff.
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Kulturwissenschaften, ehedem Geisteswissenschaften, damit auf die Dauer leben? Sie tun es nicht schlecht, seit sie es sich in der Säkularisierung bequem gemacht haben. Eine Spezialdisziplin, die Soziologie, hat die Sache in die Hand genommen und den objektivierenden Befund der ‚belief systems‘ als veritable Stütze der Gesellschaft ausgemacht. Nichts konnte irriger sein, und nichts ist dümmer gelaufen auf der Kehrseite der Legitimität der Neuzeit. Religion ist nicht allein oder zuförderst Sache des Glaubens, sie ist eine Sache der Bindung, deren Lösung mit der Säkularisation die tiefere Verlegenheit einer „Kategorie geschichtlichen Unrechts“ – den Bodensatz von Ideologie schlechthin – zurück auf den Plan rief. Blumenbergs Chiffre dafür war die „Wiederkehr der Gnosis“, die in der Neuzeit immer neu akut gewordene, vermeintlich verwundene Latenz einer gespaltenen religio, von der Cicero noch nicht viel ahnen mochte, deren Abwehr Laktanz indessen mit seinen, Ciceros Mitteln unternahm. Die Archäologie des aufgewirbelten gnostischen Bodensatzes, die Agamben in die Wege leitet, bringt in der Pragmatik Ciceros ein tiefer liegendes StrukturMoment der kirchenbegründenden Indienstnahme durch Laktanz heraus: die Befehls-Struktur der bindenden Gottesworte, die in der narrativ mythischen Einbettung der Offenbarung festgeschrieben ist und bis auf weiteres zu lesen steht. Die von Laktanz festgezurrte Bindungsfunktion der religio entsprach der Absolutheit eines sacrum, die Benveniste im semantischen Untergrund bestätigt fand: „Sacer est une qualité absolue“ (II: 192). Des Ambrosius Auffassung vom sacramentum entsprach dieser Qualität in der Festschreibung einer unauflöslichen Bindung paßgenau. Die schwierige Frage bleibt, ob oder inwieweit Laktanz die in der mythischen Überlieferung der Bibel dominante Befehlsform Gottes stützt, oder ob er sie auf Ciceros erkenntnispragmatisches Format der vis legendi zurücknimmt. Ciceros Gefallen an den (volks‐) etymologischen Anklängen der religio wird von Laktanz in der Wurzel vertieft, aber das opus Dei der Liturgie zielt bei Laktanz erst recht auf eine Form des Erkennens an der Stelle der entleerenden Vollzüge. Die re-memorative Rahmung des opus operatum in der Liturgie der Messe stützt dabei, zeigt Ambrosius im einzelnen, den Nachvollzug des im Kern dieser Liturgie immer neu zu Vollbringenden als eines autorisierten, bereits einmal (und zwar entscheidend) Vollbrachten. Die Befehlsstruktur gerät dabei in ein eigentümliches Hintertreffen: das eines wahrlich veralteten Testaments, das – wie Ciceros Analyse schon antizipiert hatte – nur mehr mythischen Charakter hat und bestenfalls von einem latenten, stets drohenden Leerlauf des Kults zeugt.¹⁸ Lak-
Vergleichbar Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (Frankfurt am Main: Athenäum, 2. Aufl. 1964), 250 ff., der Cicero nicht nennt, weil er den Komplex der ‚Naturreligion‘ nicht umstandslos auf Ciceros natura deorum beziehen kann, so genau er doch dessen Diagnose bestätigt.
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tanz setzt dazu an, die Vermutung Ciceros – eine zeitnahe Analyse, welche die historische natura deorum unterfängt – in einer strukturellen Revision des Kults als Liturgie fruchtbar zu machen, wobei es wenig verschlägt, daß er, seinerseits zeitbezogen, die Konsequenz als apologetischen Gegenzug zu Ciceros spätpaganer Diagnose in Szene setzt. Man könnte sagen, daß Ambrosius wie Laktanz in der performativen Verstärkung der vis legendi Ciceros zur Doppelbindung im Kult der Liturgie das biblisch gegebene, re-memorierte Narrativ von der mythischen Bürde des befehlenden Gottes der mosaischen Gesetze entlastet, um ihn in der Folge einer zutiefst ambivalenten Vater-Rolle auszuliefern, deren Sprachsituation, wenn irgend sonst, in der religio an den Sohn ihre Erfüllung finden soll. Die zwangsläufige Ambivalenz des Vatergottes, der seines verflossenen regnum kaum erst entwöhnt ist, war nur im flüchtigen Hier und Jetzt einer absoluten GegenSetzung: des ins Werk gesetzten sacramentum als eines opus operatum zu entkommen. Es liegt auf der Hand, deutete sich mehrfach an, daß man auf dem Feld real existierender Theologien nicht in Theorie dilettieren sollte, und es doch nicht vermeiden kann, sei es auch in aufgeklärtester Ungebundenheit. Historisierung ist ein begrenztes rhetorisches Mittel, wie ein Hinweis zeigt, der an den Anfang gehört hätte, hätte er die Abhandlung nicht übermäßig verkompliziert: der Hinweis auf eine historische Koinzidenz, die in der strukturellen Analogie liegt: das historisch gewachsene double bind von religio und Recht. Beider Kollusion beweist in der griechischen Tragödie eine irreduzible Differenz, die bei aller rhetorisch-technischen Durcharbeitung der Poetik von Anfang an eingeschrieben war.¹⁹ Die religionsphilosophische Reflexion überbaut nicht weniger als die dogmatische Entfaltung der religio ein archaisches Moment von überdauernder Latenz, das die epistemische Bindung des Glaubens, fides, unterfängt: eines Gottvertrauens unterhalb von, aber grundlegend für rhetorisch-technische opera, einschließlich des opus operatum, in dem ein vergänglicher Kult mit der Vergangenheit der Kunst konkurriert und in der Gegenwart der Tragödie überboten wird.
Ich erwähne nur das Werk von Jane Ellen Harrison, Themis (Cambridge: Cambridge University Press 1903), das der Geburt der neueren Literaturwissenschaft aus dem Geiste der neuen Anthropologie voranging und in dessen Folge das Frühwerk von Francis M. Cornford, Thukydides Mythistoricus (Oxford: Clarendon Press 1907), entstand, das die geschichtsbildende Kraft des Aischylos zum Paradigma der von Aristoteles ausformulierten Poetik erhob.
12 Allotria Das paläo-anthropologische Apriori der Gastfreundschaft Wer, wenn nicht Jacques Derrida, der vor zehn Jahren viel zu früh gestorben ist, hätte dem an Dringlichkeit nicht zu überbietenden Thema ‚Gastfreundschaft‘ die Anregungen geben können, die er vor zwanzig Jahren hinterlassen hat? Eine rhetorische Frage? Gewiß, aber keine gewöhnliche, bereits vorentschiedene, sondern eine grundlegende, in der Grundlegung unentschiedene Frage, auf die es keine Antwort gibt, von der sich absehbar sagen ließe, daß es, wiewohl es zwar jetzt noch keine Antwort gibt, bald eine geben sollte: die Frage einer Geduld, die unmöglich aufzubringen ist.¹ Dringlichkeit angesichts durchkreuzter Machbarkeit lautet der ultimative Skandal, der nach der Serie skandalöser Krisen – der kleingearbeiteten Kriege im Gefolge der weltumfassenden Kriege des Jahrhunderts und der Shoah im Auge des Orkans – das definitive Ende der Moderne bedeutet: den Rückfall hinter überwunden geglaubte vormoderne Verhältnisse. Die Rede ist von der überblickten ‚Geschichte‘ und der Flucht seit Beginn der Geschichte – von der Flucht als dem Ursprung dessen, was wir Geschichte nennen und mit dem Ins-Bewußtsein-Treten von Geschichte als historisches Bewußtsein ausbilden. Der Mensch – wir verdrängen es von alters, von der Urszene des ver-
Ich beginne mit einer historischen Fußnote: Unter dem Titel Die Gesetze der Gastfreundschaft hat Jacques Derrida am 20. Juni 1996 einen Vortrag zur Eröffnung des Heinrich-von-Kleist-Instituts der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder gehalten, mit dem er zugleich das erste Doktorandenkolleg der DFG in den (damals so genannten) „Neuen Ländern“ eröffnete. Die deutsche Kurzfassung dieses Vortrags, die als Vorlage für das anschließende Seminar diente, blieb unveröffentlicht, bis dieser Tage der Standort Europa in der damals bereits absehbaren, aber gescheuten Krise einem neuen Höhepunkt zutrieb. Derrida hat sein Seminar im folgenden Jahr in Paris fortgesetzt; die 4. und 5. Sitzung Anfang 1997 ist mit einem Begleittext von Anne Dufourmantelle erschienen (der Verbleib des Gesamttextes einschließlich des ersten Teils ist unsicher). Die von Barbara Vinken übersetzte, mit dem Autor redigierte Frankfurter Rede von 1996 ist zwanzig Jahre später, 2016, in dem Sammelband Perspektiven europäischer Gastlichkeit mit Texten von Kant, Arendt und Levinas gedruckt worden. Aufgrund der erneuerten Aktualität habe ich den Text der Rede im Herbst 2015 und im Frühjahr 2016 zum Ausgangspunkt von Vorträgen vor Doktoranden-Akademien in Berlin und Wien gemacht; ich danke Nora Weinelt in Berlin und Eva Horn in Wien für die Einladungen und Eva Horn für ihre treffende Zusammenfassung des Textes und der Diskussion auf der Wiener Homepage des Instituts. Vf. „Radical Patience: Deconstruction’s Fall into History“, Introduction, Derrida/America, hg. Peter Goodrich, Anselm Haverkamp, Cardozo Law Review 27 (2005), 547– 551. https://doi.org/10.1515/9783110486377-013
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lorenen Paradieses an – ist ein animal rationale auf der Flucht, er wird rational, und er bleibt rational auf der Flucht: Das ist das paläo-anthropologische Apriori seiner historisch begrenzten Vernunft.
I. Tragödie Geschichte im Rückblick auf die Vorzeit von Ur- und Vorgeschichten ist das Gattungs-Gesetz der Tragödie, deren Schrecken Derrida der Antigone des Sophokles vom Munde abliest: „etwas Schreckliches sagt sie da, die Antigone“ in Sophokles’ letzter Tragödie, dem Ödipus auf Kolonos: „elle dit une chose terrifiante, Antigone“.² Derrida fügt in den Befund das Stichwort ein, das in der Tragödie Antigone das berühmteste aller tragischen Chorlieder einleitet: pollà tà deinà – „ungeheuer ist viel, doch nichts/ Ungeheuerer als der Mensch“. So oder ähnlich – in der Prägnanz kaum übertroffen in Hölderlins Fassung – übersetzt man diesen Choreingang, in dem sich der tragische Dichter mit dem Chor der Stadt Athen für einmal einig zu sein scheint.³ Zu historisieren gab es immer schon viel an der Antigone: so in der Abkehr von den in ihrem mythischen Substrat bewahrten und mitthematisierten Rechts- und Lebensverhältnissen, deren tragische Disposition kathartisch zu verarbeiten, aber kaum je zu rationalisieren war: die zu distanzieren, aber kaum zu beherzigen war. So der kurze Abriß des besten Kenners der Materie, des Aristoteles, der noch einen großen Überblick über die Tragödienproduktion der klassischen Zeit besaß und mit dem seit Milton, dann Bernays und Nietzsche diskutierten Begriff der Katharsis, einer Metapher aus dem kultischtherapeutischen Bereich, die rätselhafte Funktionsweise der Tragödie benannte: die Lösung und Abfuhr der in der Darstellung der unbewältigten Vorzeit erregten Affekte. Daß dies simplistische Erklärungsmodell nicht mehr als eine ungeklärte black box beschrieb, liegt auf der Hand. Das in der Poetik des Aristoteles zum ersten Mal theoretisierte poetologisch-technische Konstrukt der Tragödie ist damit nicht erfaßt. Bei Aristoteles lernen wir nicht nur (und teilen diese Voraussetzung mit Derrida), was die Tragödie politisch leistete (also was Antigone politisch bedeutet haben mag), sondern wir lernen bei ihm das technische Vokabular, das die soziale Situiertheit der literarischen Sphäre in ihrer proto-politischen, öffentlichen Funktion erfaßt und auf Jahrhunderte, von Aristoteles bis Hannah Arendt und Anne Dufourmantelle invite Jacques Derrida à répondre De l’hospitalité (Paris: Calman-Lévy 1997), 103. Vgl. Wolfgang Binder, „Hölderlin und Sophokles“ (1969), Friedrich Hölderlin: Studien (Frankfurt/M: Suhrkamp 1987), 178 – 200: 186 ff.
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Jürgen Habermas beschreibar gemacht hat. Nicht ohne gravierende Mißverständnisse, denn der Text der Poetik, der dabei nur eine kleinere Rolle als Supplement zur Rhetorik und den Ethiken gespielt hat, ist schwierig: er ist schlecht überliefert und gründlich unterschätzt worden. Tatsächlich enthält die Poetik mit der historischen Signifikanz der Tragödie – der Latenz des Schreckens der Mythen – die Spuren einer kapitalen Theorie der Grenzen von Politik (der athenischen Demokratie), und diese Spuren werden lesbar, bleiben lesbar, stehen zu lesen in der Tragödie.⁴ Das heißt, in und nach Aristoteles’ Poetik hat die Literatur nicht nur eine irgendwie soziale, etwa therapeutische Funktion der Affektbeherrschung, sondern sie bietet Aufschluß über die tragische Konstitution der Politik der Polis und ähnlich verfaßter Gemeinwesen. Damit nähern wir uns in einem ersten Schritt dem, was Antigone an Schrecklichem sagt für Derrida. Zusammen mit dem Aufschluß über das mit Schrecken besetzte Konstitutionsschicksal der Polis selbst in ihrer aufgeklärtesten Form, der Demokratie, bietet Aristoteles das Inventar zur Beschreibung des irredizibel tragischen Moments in dieser Konstitution an, welches die Dichtung, paradigmatisch die Tragödie, überliefert und in ihren Termini parat hält. Unter diesen Termini ist der un-technische, metaphorische der Katharsis, der die Effekte auf einen mehr oder minder plausiblen Nenner bringt, vergleichsweise unwichtig im Verhältnis zu dem der Mimesis, einem Begriff, der fast in einem offenen Widerspruch steht zur kathartischen Wirkung, denn die gelungene Anpassungsleistung der Mimesis, die mimetische Akkomodation der Darstellung, sowie von Fall zu Fall die nötige Feinabstimmung der Assimilation an den Erwartungshorizont des Publikums, wird in dieser Passung gerade keinen Schrecken, sondern dessen bewährte Bannung aufrufen, produzieren und reproduzieren – so daß unmittelbar klar ist, wie unterkomplex das Verständnis der Mimesis als bloßer Nachahmung ist. Nicht das bereits angepasste oder anpassungsfähige Moment, sondern die Adaptionsleistung als solche ist Gegenstand bei Aristoteles und sofern sie tragischerweise verfehlt wird, danebengeht oder verstellt bleibt. Dies wird an den nicht und nie bewältigten Krisenmomenten erfaßt, welche der Mythos in der Form von Erzählungen, paradigmatisch in den Epen Homers, bereitstellt und in ihrer rätselhaften Ungelöstheit aufbewahrt. So geht die Mimesis der Tragödie bei Aristoteles von der Idealitätsvermutung der platonischen Mimesis zwar aus, bezieht er diese aber pragmatisch zurück auf das oikeion, das im Haus und in der Stadt Gebräuchliche: den Brauch, in dem die tragisch hervorgeholte und thematisierte Krisenlatenz zwar schlummert, aber selbst im Zustand der heimischen Gebanntheit unheimlich fortdroht. Was lauert
Vgl. Vf. Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles (Berlin: Kadmos 2015), Kap. 1 und 4.
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im oikeion des Haus-Gebrauchs, der als der Haupt-Gebrauch im kyrion onoma definiert ist und in der homoiosis von Haus und Staat ausbalanciert wird, verlangt nach Übersetzung und Einfügung in diesen, soll die Balance nicht gefährdet, die tragische Disposition nicht virulent werden. Aristoteles führt zu diesem Zweck – im Unterschied zu der ganz untechnischen Benennung der Katharsis – einen eminent technischen Terminus ein, den der Metapher, in dem die Überführung des Uneigentlichen in die gesicherte Eigentlichkeit des Eigenen vollzogen wird. Der Generalbegriff für das, was es da allfällig zu adaptieren gibt, passend zu machen und einzubürgern ist, sind die allótria. ⁵ Das, was nicht, noch nicht und womöglich nie ganz einzubürgern, nie heimisch, nie eigentlich zu machen war und deshalb den unruhigen, nie beruhigten, immer nur mythisch gebannten Untergrund ausmacht, der in der Sprache des oikeion als ein unheimlicher Resonanzraum fortbesteht und die literarische Sphäre des Tragischen und der Dichtung prägt, ist das Allotria der wilden Andersheit, von der die Fremden und die in der Fremde sich umtreibenden Handelsleute und Migranten zeugen, die aus ihr herkommen und sie vom heimischen Brauch des Eigenen – dessen, was heute verzweifelt ‚Leitkultur‘ heißt – abweichen läßt: die Destruktion verheißen, Krankheiten und paradoxe Verschreibungen mitbringen oder in unerträgliche double binds verstricken wie die riskant eingeheiratete fremdländische Zauberin Medea, die am schrecklichen Ende Familie und Staat ruiniert und in namenlosem Entsetzen zurückläßt (nach der Ermordung der eigenen Kinder, die ihres Mannes fremde Kinder sind). Soweit das von Antigone gewärtigte Andere, das für Derrida, und nicht erst für ihn, für ihn aber in der größtmöglichen Aktualität zu benennen ist als das von Sophokles in Szene gesetzte Schrecklichste, das in den allótria der fremden Sprache sein unverständliches Un-Wesen treibt. Allotria ist also der sprachlich vorartikulierte Stoff für das, was der mimetische Anpassungsprozess der metaphorá zu verwandeln bekommt und woran er – der Sprachstand der allótria ist Zeuge – womöglich tragisch zu Schanden wird oder immer neu scheitert, denn es ist ein technischer Befund, von dem die Tragödie sprachlich zeugt, den sie beweist – mit dem Erfolg der Erschütterung oder auch Empörung auf Seiten der kompetenten städtischen Sprachteilnehmer. Man könnte dann vielleicht sagen, daß die Tragödie die symbolische Form, welche der Mythos als narrative Schein-Lösung auf staatserhaltende Dauer gestellt hat, unterläuft und erschüttert, indem sie das Allotria der unheimischen Welt der Anderen, die es in Gestalt der Fremden ganz
Vgl. die grundlegende Skizze von Barbara Cassin, „Paien“, L’archipel des idées de Barbara Cassin (Paris: Éditions de la maison des sciences de l’homme 2014), 83 – 96: 88 f.
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manifest zu erfahren gibt, ins Spiel und auf ‚prägnante‘ Symptome bringt.⁶ Die allótria stellen in der Dichtung nicht nur einen unvollendeten, fremdkulturellen Sprachzustand dar, sondern bieten das Symptomfeld auf, zu dem die Sprachverfassung wird in dem Moment, in dem die Anpassung auf der Kippe steht und womöglich scheitert. So wird in der Medea für Euripides das Gewalt-Potential der allótria zum entscheidenden Moment: „la virtuosité, avec laquelle l’étrangère parle les mots de Grecs, pour tuer.“⁷ Es ist der sprachliche Plot und keine umständliche Kontingenz, die für die tragische Verwicklung entscheidend ist. Für Aristoteles ist die Tragödie Paradigma für eine akute, sprachlich verfaßte kognitive Dissonanz, und die Poetik ist das Theoriestück dazu und bleibt es bis in Hegels Phänomenologie hinein, wo sie in der Institution ‚Theater‘ die tragische Situation verkörpert und als Verkörperung rezipierbar wird.⁸ Sprache wird in der Tragödie – auf tragische Weise – institutionell tragend. Mit der Erinnerung an die Rolle der allótria in der Poetik des Aristoteles kann ich einen ersten Teil meiner These, die zugrundeliegende Hypothese, genauer formulieren. Die radikalere Dringlichkeit der Gastfreundschaft, deren Aktualität Derridas Parcours, beginnend mit der Antigone der griechischen Ur-Tragödie, einer unmöglichen Lösung zutreibt, einer ihrer neuen Radikalität angemessenen Lösung, die sich als ein gesteigertes Nicht-Mögliches, eine unüberbrückbare Kluft des Eigenen zum Anderen, der Metapher zu den Allotria herausstellt, verlangt (sagte ich) „radikale Geduld“. Was das angesichts der ostentativ bloß gestellten Unmöglichkeit pragmatisch heißt – denn diese Geduld ist zuvörderst eine pragmatische Tugend – wird die nächste Frage sein. Sie im Blick haltend, fehlt jetzt noch der historisch komplizierende Zwischenschritt einer meta-historischen, proto- oder prä-historischen Reflexion. Im griechischen Mythos wurde sie als Differenz zu einer abgründigen Vorzeit vorgestellt, die in die historisch entlastete Gegenwart der aktuellen Lebenswelt hineinreichte. Methodisch bedeutet das Thema ‚Gastfreundschaft‘ deshalb eine radikalere Historisierung der Bedingung der Möglichkeit hochkultureller Institutionen, deren Genese in „mythischen Novellen“ nachphantasiert und ausgemalt wurde.⁹ Die von Derrida durchgesehene Reihe von Beispielen wird zusammengehalten von dem paläo-anthropologischen Apriori des frühen Austauschs und der Migration, das unvordenklich wiederkehrt wie das von Freud damit verglichene Verdrängte. Die Allotria sind der rhetorisch
Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III (Berlin: Bruno Cassirer 1929), 222 ff. Résumé des Medea-Projekts von Avignon 2000 bei Myrto Gondicas et Pierre Judet de la Combe, Introduction, Euripide, Médée (Paris: Les Belles Lettres 2012), xxi (Zitat nach dem Klappentext). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), hg. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont (Hamburg: Meiner 1988), 478 f. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (Frankfurt/M: Athenäum 1956, 2. Aufl. 1964), 224.
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rationalisierte Reflex bei Aristoteles; Freud schloß an den aristotelischen Befund an. „Le langage est hospitalité“, bringt Derrida, Lévinas zitierend, Aristoteles’ Auffassung auf den Punkt (De l’hospitalité 119). Schon im Grundriß der aristotelischen Politik war es der allgemeine Sprachgebrauch (‚langage‘), der im oikeion, im Hausgebrauch, den allótria der Fremden Gast-Recht einzuräumen befahl – was die indo-europäische Etymologie der Institutionen bei Émile Benveniste bestätigt, indem sie den Fremden mit der selben Wort-Genealogie vom präsumptiven, befürchteten hostis zum geschützten hospes machte.¹⁰ Was verrät, daß die Latenz der Fremde qua Gegend den Fremden als Feind erscheinen läßt, ihn drohen sieht, wiewohl er in derselben Eigenschaft, die er im Namen trägt, zum Freund werden kann, nämlich durch eine in der Benennung vor-gebahnte Möglichkeit des Umschwungs im Sprachverhalten, dem eine latent gehaltene Ambiguität in der Semantik entspricht. Der in der Eigentlichkeit des Hausgebrauchs, dem proprium der lateinischen Rhetorik, selbst ermöglichte Umschwung von der Drohung des hostis zum hospes der Hospitalität und der Hospitäler impliziert in ein und derselben sprachtheoretischen Situierung die sprach-politische Um-wertung eines in sich ambivalenten Sachverhalts: Das kyrion onoma, das Haupt- oder, eigentlicher, das Königs- und Hausherren-Wort, wird metaphorisch gebeugt, seine Eigentlichkeit der Fremdheit der Allotria mimetisch angenähert, ja – latent – unterworfen: die Gastlichkeit verlangt – meta-phorisch, qua ‚Übertragung‘ – Herren-Rechte. Der Gast hingegen, in Allotria befangen, steht in der Gefahr, diese ihm zugesprochenen Rechte ‚eigentlich‘ zu nehmen und verkörpert so recht eigentlich, was der Feind als Be-drohung be-deutet: die Übernahme des Hauses und Staates. Im Fall des Königs Theseus auf Kolonos, des Gastgebers auf Kolonos, dem die Tochter des Ödipus Antigone in ihrer trostlosen Trauer gegenüber tritt, ist die Gefahr auf unheimlich verkomplizierte, womöglich in die Tagespolitik des Jahres 401 verstrickte Weise (die Rache Thebens an Athen nach dem Peloponesischen Krieg) gebannt, die das Ausmaß der im Tragischen mit transportierten Verwicklungen einer politisch sublimen Lösung zuführt in dieser letzten Tragödie des Sophokles.¹¹ Der Trost, den der Chor von Kolonos der in die Tragödie ihrer aussichtslosen familiären Mission verstrickten Tochter spendet, dementiert die kathartische Erwartung an diese Tragödie mit dem ausweglosen Ausgang der ihr
Émile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes I–II (Paris: Minuit 1969), I: 87. Die selbe Doppeldeutigkeit bestimmt das vor-aristotelische (vorsokratische) allótrios im Unterschied zum ídios, wobei die Fremdheit des xénos wohl die Oberhand gehabt hat, Lexicon of Presocratic Philosophy (Athenai: Academy of Athens 1988), 23. Vgl. Karl Reinhardt, Sophokles (Frankfurt am Main: Klostermann 1933, 1941, 1947, 1976), 222 ff.
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folgenden, unter ihrem Namen bekannten.¹² Das macht die Inversion, den Rückgriff auf den Ausgang der Antigone so wichtig. Sie deutet für spätere Zeiten an, wie mythische Artikulation und politische Sprache in einer nicht nur dialektischen Logik, sondern tragischen Vertracktheit aneinander gebunden sind.
II. Die absolute Väter-Macht des demo-logischen Phallo-logos Wir kennen das dialogische double bind ansatzweise, entfernt, aus harmlosen, bürgerlich beschützten Situationen: „Fühl Dich ganz zuhaus“, sagt der Gastgeber, aber wir denken nicht im Traume daran, das zu tun. Wir fühlen uns im Gegenteil nur wie zuhaus in der fremden Wohnung, solange sich die Metaphorik in den erwartbaren, bekannten Grenzen hält und als Abwechslung im Verhaltenslexikon genießen läßt. Derrida erörtert die domestizierte Schrumpfform, die von der harmlosen bis zur hyperbolischen Ironisierung reicht, an der re-dramatisierten Verunheimlichung des darob berühmt-berüchtigten Pierre Klossowski, einem Experiment der literarischen Thematisierung in der Romantrilogie Die Gesetze der Gastfreundschaft, um den Preis einer ganz ungewissen Ästhetisierung.¹³ Für Derrida illustriert der Roman die „Gesetze des Gebens und Nehmens“, deren dialektische Logik die ödipale, als Übertragung wörtlich genommene Hypothek der bürgerlichen Ehe explizit macht und „zu einer Umkehrung führt, in der der Hausherr, der Gastgeber, seine Aufgabe als Gastgeber, also die Gastfreundschaft, nur erfüllen kann, indem er zuhause [in seinem eigenen Haus] der Gast des andern wird: indem er von dem empfangen wird, den er doch selbst empfangen hat, indem er also die Gastfreundschaft, die er gibt, bekommt.“¹⁴ Es ist das von René Girard für den bürgerlichen Roman in der vollen Bandbreite generalisierte „triangulierte Begehren“, das als Hypothek der grund-mythischen Latenz der ödipalen Disposition ansichtig wird – einer Geschichte (das war Derridas Punkt schon bei der Antigone), die ihrer ödipalen Genealogie zu überführen ist.¹⁵ Sie Vgl. den Kommentar von R.C. Jebb in seiner unübertroffenen Ausgabe des Oedipus Coloneus (Cambridge: Cambridge University Press 1886, 1890, 1900), 270 ff. (wo übrigens zuerst, in der Einleitung, xliii, der späte Shakespeare und The Winter’s Tale zum Vergleich herangezogen wird). Pierre Klossowski, Les lois de l’hospitalité (Paris: Gallimard 1965), Trilogie, bestehend aus den Teilen Roberte, ce soir (1953), La Révocation de l’Édit de Nantes (1959), Le Soufleur (1960); dt. in einem Band: Die Gesetze der Gastfreundschaft (Berlin: Kadmos 2002). Jacques Derrida, „Die Gesetze der Gastfreundschaft“, übersetzt von Barbara Vinken (Vortrag vom 20. Juni 1996), Perspektiven europäischer Gastlichkeit, hg. Burkhardt Liebsch, Michael Staudigl, Philipp Stoellger (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2016), 125 – 142: 133. René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque (Paris: Grasset 1961). Allgemeiner: Des choses cachées depuis la fondation du monde (Paris: Grasset 1978).
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exponiert den entlastenden, sublimierenden Rollentausch, der seine Funktion findet in der Bindungs-Angewiesenheit auf einen fremden Dritten als Außenhalt der politisch-familialen, nun klein-familialen Mimesis an die tödliche Konstitution, die Antigone ‚das Schrecklichste‘ sagen läßt: angesichts des Vaterschicksals, das die Tochter gnadenlos zu einem Tod verurteilt, der einem Selbstmord gleichkommt, ihn zu vollziehen heißt.¹⁶ Das ist der meta-tragische Schlußpunkt des Sophokles, der, in der Konsequenz der Heldin Antigone weithin verkannt, keine Katharsis mehr erlaubt. Ödipus auf Kolonos überschreitet das kathartische Modell in einer ‚bestimmten Negation‘ wie der Hegels, nicht dagegen die aristotelische Rekonstruktion der Tragödie, welche dieses Überschreiten der Wirkungsabsicht im Interesse einer tieferen Darstellungsabsicht mit dem sprachtheoretischen Modell von Metapher und Allotria geradezu vorsieht.¹⁷ Das von Derrida aus Sophokles’ letzter Tragödie heraus vergrößerte tragische Syndrom der Gastfreundschaft ist dafür das einzigartige Paradigma, das Aristoteles zwar selbst nicht explizit einbezogen, aber implizit als latent mit behandelt hat im Entwurf der Poetik. Damit sind wir bei dem paläo-anthropologischen Apriori der patrilinearen Gesellschaft, das durch den Fremden bedroht und durch den Gast befestigt wird. Derrida läßt keinen der Fäden aus, die wir in der Hand behalten und deren Verwirrungen wir gerecht werden müssen, ohne ihrer Entwirrung so schnell näher zu kommen. Die neuzeitliche Wieder-Aufnahme der Konstellation könnten wir an Shakespeares Winter’s Tale studieren, das Heinrich Heine (mit Karl Marx als Nachbarn) in Paris zur trostlosen Diagnose Deutschlands als eines Wintermärchens brachte, wo also die Genealogie einer nationalen Misere kaum verdeckt liegt. Ich unterstreiche die Art der Trostlosigkeit als den neuen Stand des Tragischen jenseits aller kathartischen Lösungen bei Sophokles schon und füge den schier unglaublichen Trost des alten Shakespeare hinzu (die Parallele steht nach R.C. Jebb auch bei Karl Reinhardt zu Beginn des Kapitels „Ödipus auf Kolonos“), weil Derridas Ratlosigkeit uns in dieser Sache nichts als eine ungewisse Überspannung der Geduld (analog in etwa Benjamins „Überspannung der Transzen-
So klarer Weise gegen die gängige Verkennung des Ausgangs der Tragödie und ihrer Heldin Harald Patzer, Hauptperson und tragischer Held in Sophokles’ Antigone. Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main XV.2 (Wiesbaden: Steiner 1978), 101 ff. Vgl. William Marx, Le tombeau d’Oedipe: Pour une tragédie sans tragique (Paris: Minuit 2012), 42 ff., dessen archaisierender Postmodernisierungstendenz ich nicht in alle Hinsichten folge, die hier aber paßt.
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denz“) übrig läßt.¹⁸ Die Aufhebung des tragisch gefallenen Weltverhaltens läßt bei aller Trostlosigkeit, die bleibt als „die Zeit, die bleibt“ (Agambens Eschatologie), nichts als die Not und Nötigkeit der Geduld übrig im Umgang mit der Latenz der in der Latenthaltung allfällig neu zu leistenden Arbeit an den mythischen Restaufkommen einer auf Dauer unvollendeten Kultur. Ein zu schneller, ein Kurz-Schluß? Die Tränen der Katharsis können wir uns sparen, können wir uns nur leisten, sofern sie im Zitat von Pathosformeln die Geduld bestätigen, welche die Angst bannt.¹⁹ Doch das wäre nicht mehr als eine Modifikation des von Aristoteles mit guten Gründen heruntergespielen kathartischen Wirkungsmusters. Dessen Vordergründigkeit lag wohl immer auf der Hand und wurde sogar geschätzt. Sie änderte nichts und nie etwas an der Konstellation der paläo-anthropologischen, prä-historisch befestigten Wiederkehr dessen, was man, seit Europa die Völkerwanderung in den Knochen saß (seit den Galliern vor Rom), als Migration abgewehrt hat und doch (so das kleinfamiliale Ausagieren der übernationalen Bedrohungen in aller symptomatischen Prägnanz), als kathartischen Prätext brauchte.²⁰ Derrida knüpft hier an die strukturale Anthropologie von Claude Lévi-Strauss an und spricht vom „modèle conjugal, paternel, et phallo-logocentrique“ (De l’hospitalité 131), das die Latenthaltung nach den institutionen-bildenden Stationen benennt, und zwar in aufsteigender Linie von der sozialen Institution der Ehe über deren kyrion onoma, den Namen des Vaters, zu dessen, dem Phallo-logos unterliegenden, um ihn zentrierten Prinzip der Hausund Staats-Erhaltung. Die nicht erst Freudschen antiken, genauer besehen hellenistischen Phantasmagorien einschließlich der daran partizipierenden christlichen Para-Mythen (von dort nehmen sie ihre mythen-ähnliche Form) schreiben die aristotelischen Begriffe weiter, deren Funktionsweise nirgendwo klarer als in der Poetik formuliert sind, und die formulierbar waren, weil es die literarische Sphäre ist, exemplarisch die des Tragischen, in der die Sachlage offen gelegt, erkennbar und exemplifizierbar ist (was heißt, daß sie der narrativen Ausmalung und kommunikative Ausnutzung offen steht). Was poetologisch interessiert, sind aber nicht primär die Arten der Funktionalisierung, sondern die Bindungsfähigkeit oder, in der Sprache Ciceros, ihre religio (De natura deorum, wirkungsmächtig
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), Gesammelte Schriften I (Frankfurt/M: Suhrkamp 1974), letzte Seiten. Giorgio Agamben, Il tempo que resta (Torino: Bollati Boringhieri 2000). Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts (Berlin: Suhrkamp 2010), 293 „Pathosformel als Distanzmacht“. Arnold Gehlen, „Asyle“ (1962), Studien zur Anthropologie und Soziologie (Neuwied: Luchterhand 1962, 2. Aufl. 1971), 313 – 335, Abschnitt „Schutzgewalt der Fremde“ 322– 330.
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bis Benveniste).²¹ Der Religionsfaktor ist seither keiner des Glaubens, sondern der in der Instabilität der Bevölkerungsbewegungen um so entscheidendere Faktor der altvorderen, hausväterlich repräsentierten Bindungen. Dieser Faktor ist aus den allótria herauszupräparieren. Das ist doppelt problembehaftet, sofern die römische religio in dem Prozess der von Derrida als „Mundial-latinisierung“ beschriebenen Entwicklung ein post-christlicher Faktor geblieben ist.²² So daß sich in der Verkürzung, die eine Problemskizze wie diese verlangt im Blick auf die Vielfalt der Fäden, die Derrida so virtuos in der Hand hält, ein Problemknoten als theoretische Herausforderung herausstellt, den die Poetik des Aristoteles zwar schürzt, aber meidet, um in der Konstellierung durch Derrida in einen quasi-transzendentalen Begriff konzentriert zu werden, der wie eine Korrektur oder eine Operationalisierung des ‚kategorischen Imperativs‘ aussieht. Tatsächlich geht Derrida in seinem Seminar ausdrücklich von Kants Ewigen Frieden aus.²³ Es ist ein kategorischer Imperativ ex negativo der krassen, abnormsten Ausprägung des im und am Alten Testament herausgestellten, transzendierenden Postulats der „unbedingten Gabe“, welche die „absolute Gastfreundschaft“ verlangt und nicht scheut: „le don sans réserve“ (De l’hospitalité 119). Derrida tut alles, um das in der Krassheit der unbedingten Erfüllung abgewehrte Schlimmste hervortreten zu lassen, darin den vaterzentrierten Phallologos am Werk zu zeigen und die paradoxale Logik im Umgang mit der Latenz herauszupräparieren, die als unbedingtes prähistorisches Gebot der OpferBereitschaft des homo necans entspricht.²⁴ Sie soll im Schlimmsten die Bedrohung nicht nur rituell bannen, sondern in der radikalen Bannungsnotwendigkeit institutionenförmig machen und auf Dauer stellen. Der Imperativ der Gabe wird ‚kategorisch‘ (daseinsbestimmend) ohne Rücksicht auf Verluste oder Risiken; die „mythischen Novellen“, die diese Texte bieten, könnten krasser nicht sein. Aber anders als Kant mit dem „moralischen Gesetz in mir“ orientiert Derrida sich nicht an dem ihm mit gegebenen Kosmos, dem „gestirnten Himmel über mir“ (am Ende
Vf. „Religio: Zur doppelzüngigen Wurzel institutioneller Bindung“, Rhetorik 33 (2015), 45 – 51; in diesem Band vorstehendes Kap. 11. Jacques Derrida, Foi et Savoir, suivi de Le Sciècle et le pardon (Paris: Galilée 2001), 47– 49; in der dt. Übersetzung von Alexander Garcia Düttmann mit der Kant-Referenz „Glauben und Wissen: Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft“, Die Religion (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 50 – 52. Vgl. die Übersicht von Daniel Hoffman-Schwartz, „Inklination (Jacques Derrida)“, Rom rückwärts: Europäische Übertragungsschicksale, hg. Judith Kasper, Cornelia Wild (Paderborn: Fink 2015), 163 – 168. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf (Königsberg: Nicolovius 1795), „Dritter Definitionsartikel.“ Siehe Walter Burkert, Homo Necans: Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen (Berlin: de Gruyter 1972, 2. Aufl. 1996).
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der Kritik der praktischen Vernunft), sondern an der als traumatisch erinnerten, mit dem Begriff der Geschichte gleichursprünglich in die Welt getretenen, unbedingten Existenz des Gastes und des aus ihr folgenden Postulats der bedingungslosen „Wirthbarkeit“ bei Kant. Als ein geradezu utopisches Postulat, das für Kant der ästhetische Vorschein des ewigen Friedens wird, motiviert es Derridas Utopie einer Politik der Freundschaft. Indessen – das ist das unvermeidliche Implikat der Historisierung – anders als die alten Utopien ist diese keine, ist sie nicht ort-los u-topisch, sondern in tiefer Verwurzelung radikal-topisch, traditional ortsgebunden durch das double bind, das die re-ligio als unbedingte Aufgabe bis zur Selbst-Aufgabe in sich trägt und als Hingabe bewahrt in apotropäischen, abwendenden Riten. „Zum ersten Mal in der Menscheitsgeschichte“, zitiert Derrida einen Brief Sandor Ferenzis an Freud, der die historische Wende, die Kants „moralisches Gesetz“ darstellt, hervorhebt.²⁵ Er setzt damit auf einen Historismus, dessen anthropogenetische Natur jene „radikale“ (sagt Kant) Geduld vorschreibt, die ich als eine metaphorologisch einschneidende Übertragung der kategorischen Intention von Kants Imperativ auffasse.²⁶ Derridas implizite Historisierung Kants und des Projekts der Aufklärung aus den „unbegriffenen Mächten“ der Vorzeit als eines immer neu zu gewärtigenden meta-historischen Aprioris neigt in der ethisch-ästhetischen Parallele vom gestirnten Himmel über uns zu literarästhetischen Konsequenzen, wie wir sie bereits in der aristotelischen Poetik anlegt finden. „Worum es sich auch handeln mag“, setzt Derrida in der Einleitung zu diesem Kapitel seiner Politik der Freundschaft fort, das ich in Stichworten Revue passieren lasse: es tritt auf als radikal Neues, obwohl es das Älteste ist, die Wiederkehr des ältest Verdrängten: Worum es sich auch handeln mag […] neue Formen des Krieges […] des ‚Religiösen‘, des Nationalismus, des Ethnozentrismus […]; um Umwälzungen der Zahl, des demographischen Kalküls an sich oder in seiner Beziehung zur Demokratie […]; um neuartige Erscheinungen
Jacques Derrida, Politiques de l’amitié (Paris: Galilée 1994), (letztes) Kap. 10 (ohne HeideggerAnhang). Eine historische Implikation des ‚kategorische Imperativs‘, auf die wohl schon Hegels Kritik zielte und die in der Radikalität leicht übersehen wird, ist die, daß Kant, wenn nicht eine minimale ethische Qualität, so doch die Existenz von Institutionen voraussetzt, die im Fall der Gastfreundschaft tief in den Prozeß der Institutionalisierung verwickelt sind, auf ihn drängen und ihn mitgeformt haben. Thomas Khuranas Fazit, Das Leben der Freiheit: Form und Wirklichkeit der Autonomie (Berlin: Suhrkamp 2017), ist für diesen Fall besonders treffend: „Es ist kein Weg erkennbar, wie sich aus der bloßen Form […] immanent so etwas wie die Idee des Versprechens etc. [hier exemplarisch der Gastfreundschaft] entwickeln ließe“ (333).
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dessen, was man nicht einmal mehr unbekümmert ‚Immigration‘ nennen kann, und aller nur denkbaren Formen der Völkerwanderung […].²⁷
Der Katalog ist lang und läuft auf folgende „begriffliche und praktische Neubestimmung“ hinaus, mit der Derrida das Kapitel (vorläufig) schließt: Diese [begriffliche und praktische Neubestimmung] ist nicht zu leisten ohne eine systematische – und [zwar] dekonstruktive – Auseinandersetzung mit der [europäischen] Tradition, von der wir hier sprechen.
Er nennt Kant, er nennt dessen Anknüpfung an Aristoteles und faßt das Resumée dieser Tradition in Worte, wie sie sein nordafrikanischer Vorläufer in dieser Sache (auf den er immer wieder einen untergründigen Wert legt), gebraucht hätte, Augustinus von Hippo.²⁸ Kategorischer Imperativ also [Kant]: Die Humanität, die Menschheit und Menschlichkeit nicht verraten. Der ‚an der Menschheit verübte Hochverrat‘ [Hannah Arendts Formel für den Mord an den Juden], das ist der höchste Meineid, das Verbrechen der Verbrechen, die Sünde wider den ursprünglichen Schwur […]. Anders gesagt [nun Augustinus]: Verraten kann man einzig seinen Bruder. Der Brudermord ist die allgemeine Form der Versuchung, die Möglichkeit des radikal Bösen, das Böse des Bösen.
Man könnte leicht die in dieses Ausgangsresumée des 1996 Sagbaren, das 2015 an der Zeit ist, eingebaute Problemzone übersehen, die durch das kursiv hervorgehobene Wort ‚dekonstruktiv‘ markiert ist: die Notwendigkeit einer „systematischen – dekonstruktiven – Auseinandersetzung mit der Tradition“ (Politik 364). Derrida hatte ein paar Sätze zuvor diese kritische Schwelle in einer Parenthese erläutert, die wichtig ist, will man seine Sätze nicht mit einer Festrede oder wohlfeilem Medien-Jargon verwechseln (was er als „Blauhelm-Rhetorik“ verachtete). Der Einschub qualifiziert an der zitierten Stelle die „Beziehung zur Demokratie“ als „demokratischem ‚Modell‘, das der Kultur oder der Religion einer unabsehbar wachsenden Mehrheit der menschlichen Bevölkerung nie einbeschrieben sein wird“ (Politik 363). Das Futur Zwei dessen, was „nie […] sein wird“ (seine Hervorhebung), indiziert einen Stand der Allotria, an den Aristoteles nicht gedacht
Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übersetzt von Stefan Lorenzer (Frankfurt/M: Suhrkamp 2000), 363 ff. Die deutsche Übersetzung verstärkt die mimetisch-routinierte Geste der Schlußpassagen. Vgl. den autobiographischen Subtext zu der von Geoffrey Bennington verfaßten Bilanz mit Augustinus im Titel: Circonfession / Derridabase (Paris: Seuil 1991); dt. in Beschneidung der Anspielung Ein Portrait (Frankfurt/M: Suhrkamp 1994).
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hat und kaum denken konnte: eine nachgerade untragische Geschichte ohne die in-kommensurablen Momente von Vorgeschichte, die als mythische Latenzen in die Gegenwart der Polis hineinragten und Gegenstand der Tragödie waren. Sie werden – im Futur Eins – in der generalisierten Form der de-personalisierten, medial an-ästhetisierten Traumatisierung zur verlorenen Geschichte einer Omnilatenz, wie sie Kafka früh ausformuliert hat; man denke nur an den LandstreicherLandvermesser ‚K‘ in Kafkas Schloß. ²⁹ Was folgt ist eine neue Art von Ambiguität, der mit der Übertragungs-Metaphorik nicht beizukommen ist. Längst sind die von Aristoteles empfohlenen Metaphern-Typen kontraindiziert; sie unterstellen in einem mehr oder minder angesagten „guten Willen zur Macht“, den Derrida in Gadamers Hermeneutik erkannt hat, die Kommensurabilität der Leitkultur, während das, was bei Aristoteles selbst ein mythischer Rest blieb, zu einem technischen Problem wird, vor dem alle allótria gleichgültig sind, als wären sie gleichursprünglich. Was in ihnen an Bindungskraft, religio, verbindlich geblieben ist, ist zu einer undurchschaubaren Maske, unbefragbarer Herkunft denaturiert. Vor der absoluten Väter-Macht des demo-logischen Phallo-logos (wir nennen ihn ‚demo-kratisch‘) könnte sich die Bindung zurückziehen in unverbindliche Freundschaft, der die Verbindlichkeit der Sprache – ihre Hospitalität nach Lévinas – nicht aufzuhelfen wüßte und nicht mehr aufhelfen könnte. Wie die zunehmende Virulenz, eine ersatzweise, längst nicht authentische Virulenz des von Derrida in Anführung gesetzten ‚Religiösen‘ vermuten läßt, ist die „unabsehbar wachsende Mehrheit“ im zweiten Futur von dem in der Tradition von Aristoteles bis Hannah Arendt gewachsenen Modell der Demokratie unbeleckt. Aber bleibt sie auch unbeschreibbar, lautet die nach-aristotelische, radikal-poetologische Frage. Daß diese Grundfrage weiter besteht, heißt nicht, daß man sich ihrer praktischen Dimension (wie wohlwollende Kommentare beteuern) mit einer ‚liberaleren‘ Politik (so an der Zeit diese auch sein mag) entledigen könnte; der Begriff des Politischen und mit ihm der Begriff der Demokratie – „a new sense of the political“ sagte Derrida versuchsweise seit Beginn der 90er Jahre – steht in Frage.³⁰
Vf. „Onmilatenz: Landstreicher vor Kafkas Schloß“, Marginales zur Metapher (Berlin: Kadmos 2015), 165 – 174: 169. Vgl. Vf. Deconstruction Is / In America: A New Sense of the Political, hg. Anselm Haverkamp (New York NY: New York University Press 1995), Introduction.
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III. Politik der Freundschaft in Hochfluten der Flucht Hannah Arendt, die 1943 unter dem damals wie heute wieder alarmierenden Titel „Wir Flüchtlinge“ allen Grund hatte, über die Dimension der „unabsehbar wachsenden Mehrheit“ nachzudenken, ergriff die Gelegenheit, an der derzeit unbedeutenden (nicht-repräsentativen) Kategorie der Flüchtlinge eine neue Theorie des politischen Handelns, und im Phänomen der ortlos gewordenen Parias eine neue, produktive Perspektive der Demokratie zu entwerfen, die aus der Ausgrenzung heraus zustande zu bringen ist und nicht aus der Überanpassung der Parvenus resultiert: „The Pariah as Rebel“ war das probate, aber auch irreführende Stichwort.³¹ Denn eine Rebellion, die nur die Bedrohung des Fremden fort-schriebe, sie von außen nach innen trüge, trügt. Ich zitiere die scharfsinnige Darstellung, die Francesca Raimondi unter den treffenden Titel Die Zeit der Demokratie gestellt hat: Die Freiheit [des mit der „unabsehbar wachsenden Mehrheit“ der Flüchtlinge neu in den Blick gekommenen Begriffs] der Politik resultiert für Arendt nicht aus dem (realen oder ideellen) Konsens, sondern sie [diese Freiheit, erwächst für Arendt] umgekehrt aus dem agonalen Charakter der Politik. […] Die Folgen eines solchen agonalen Wettstreits sind nicht die einer rationalen Einigung, auf die der Habermas’sche Diskurs von vorneherein ausgerichtet ist, sondern sie sind unabsehbar. Sie sind es, weil der Bezugsrahmen, in dem sie stattfinden […], durch das Handeln gerade nicht so transformiert wird, wie ein Diskurs es tut, in dem Argumente für oder wider eine bestimmte Entscheidung ausgetauscht werden.³²
Sie hören durch Arendt, Habermas und Raimondi die aristotelische Crux hindurch, die unverrückt im Raume steht. Da steh’n wir nun, wir armen Toren, mit Habermas in der Hand, und entdecken in Arendts Revolte die aristotelische Provokation neu, die Derrida an der kruden, krassen Materie der historisch überlieferten Latenz-Aufkommen zurück ins Gedächtnis zu rufen begonnen hat – es wie Hannah Arendt wenig mehr als begonnen hat. Denn die Zeit der Demokratie, die Francesca Raimondi frei nach Derrida ausruft, ist eine, in der die von Arendt als unabsehbar, aber alternativenlos gezeichnete Öffnung der heimischen, im rationalisierten oikeion bewährten Diskurse (die Platons Sokrates noch aufzubrechen verstand: um einen hohen Preis, die Hinrichtung des Philosophen) mit dem Latenz-Management der von Aristoteles im Spiel gehaltenen allótria über-
Hannah Arendt, „We Refugees“ (1943) und „The Jew as Pariah: A Hidden Tradition“ (1944), The Jew as Pariah, hg. Ron H. Feldman (New York NY: Grove Press 1978), 55 – 66, 67– 90. Francesca Raimondi, Die Zeit der Demokratie: Politische Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt (Konstanz: Konstanz University Press 2014), 78 (meine Hervorhebung und Ergänzungen in Klammern).
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einzubringen ist.³³ Die Politik der Freundschaft, die in der Gretchenfrage der Gastfreundschaft – wie halten wir es mit der Religion? – ihr ewiges Skandalon hat, wird es in dem zweiten Futur, das längst begonnen hat, mit der wachsenden Ambiguisierung nicht allein, sondern mit deren Sekundär-Formationen zu tun bekommen. Das macht im Verhältnis von Metapher und Allotria eine Revision der metaphorologischen Grundlagen nötig, die an der Stelle einer simplen Differenz die tieferen Verwerfungen analysierbar macht. So ist das kyrion onoma des Phallologos, des Vater-Phallus als Logos der Söhne, von einer fraglosen zu einer schwankenden, womöglich einer schwindenden Voraussetzung des Politischen geworden. Entsprechend bringt die literaturpolitische Brisanz der Übersetzungskulturen – als wichtigstes Nachkriegs-Legat der englische Kafka – die Priorität der Muttersprache ins Wanken und eine Bastardierung der Idiome, die an die Stelle der längst verdorbenen national-literarischen Reinheiten tritt. Was wäre das Literarische je anderes gewesen, was hätte es je anderes gewesen sein sollen, als ein durch und durch prekäres, von Mischung bedrohtes, widerspenstiges Allotria? Was ist dem entsprechend vonnöten? Ich beschränke mich auf fachspezifische Stichworte. Eine neue Sprachpolitik: weg von der Fiktion der ‚native speaker‘.³⁴ Eine andere Kulturpolitik: weg von der leitkulturellen Diskurshoheit und den sie stützenden Nationalliteraturen, auch keiner kleinen Fiktion, die seit langem überfällig ist, aber so gut wie keine Alternative gefunden hat. Eine Menge vernachläßigter Arbeit wartet, und das nicht nur am Recht, dem ungleich wichtigsten Sektor, sondern an einem Begriff von Literatur, dessen weltweite, kolonialpolitisch gezeichnete Nobelpreisträger-Logik die Verlegenheit der Vereinten Nationen oder Olympischen Spiele abbildet. Tatsächlich – das macht die Sache professionell reizvoll – sollte es eine literatursprachliche, eine poetische Logik sein, für die noch vor allen Folge-Strukturalismen Aristoteles das seltene Modell
Hier ist noch eine präzisierende Fußnote zur historischen Beschränktheit der funktionalen Skizze am Platz, die Aristoteles in der Poetik gibt. Sie ist nicht universalistisch, sondern wie selbstverständlich auf die koiné beschränkt, so daß Aristoteles’ Beschränktheit in der Sache seine Analyse überdeckt und es zwangsläufig mußte. Hannah Arendt hat an dem „postklassischen Mißverständnis“ der Rezeption immer wieder Anstoß genommen hat, so in den Nachlaß-Fragmenten aus den 50er Jahren Was ist Politik? hg. Ursula Ludz (München: Piper 1993), 37 ff. Dazu gehört die Sphäre des Rechts, die nur berührt ist, an der sich aber alles entscheiden wird, wie Derridas Erwähnung des „an der Menschheit verübten Hochverrats“ zeigt, die in Arendts Formel für Eichmann als hostis humani generis in eine neue, nicht mehr aristotelische Entscheidungslage führt, die Christoph Menke an diesem exemplarischen Fall aufweist, „Auf der Grenze des Rechts: Hannah Arendts Revision des Eichmann Prozesses“, Merkur 67 (2013), 573 – 588: 581. Vf. Einleitung, Die Sprache der Anderen: Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen (Frankfurt/M: Fischer 1997).
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geliefert hat. Im Konkreten, soviel zeigt Derrida auch hier, entscheidet sich, was über wohlmeinende Festreden hinausgeht. Es ist ja nicht so, daß die auf ihre heimischen Spät-Nationalismen (oder Regionalismen) regredierenden Philologien und sonstwie mit dem kulturellen Kapital befaßten Disziplinen sich nur öffnen müßten im bestmöglichen Willen zur Macht, den Derrida der alt-europäischen Horizontverschmelzung bescheinigt hat.³⁵ Was in der ursprünglichen Konstellation der nun endgültig historischen Debatte zwischen Gadamer und Derrida als ein harmloses inner-europäisches Gerangel erschien, entpuppt sich an den Tücken der Gastfreundschaft als ein tiefer gehender Konflikt, als ihn eine absichtsvolle und absehbare Verschmelzung bewältigen kann. Nicht die liberale, multikultuelle Erweiterung des komparatistischen Dilemmas steht an, sondern eine Revision im politisch Eigenen und der auf eine unklare Dauer verdrängten Dilemmata. Wohl bietet die Geschichte der Poetik (und, nach Baumgartens Umwidmung, der Ästhetik) eine mehr oder minder reflekierte Begleitgeschichte von Kunst und Literatur, die sich ab und an in der Lage zeigte, Widerstand aufzubringen gegen die Ansinnen der nationalen Entwicklungslogiken von Kunst und Literatur, Vorstellungen, die nach wie vor den Kanon der Gegenstände und das Dispositiv ihrer Anordnung – so etwa im heilsgeschichtlichen Surrogat des Deutschen Idealismus – beherrschen. In der multikulturellen Erweiterung dagegen, so liberal sie sich geben mag, ontologisiert sich ein chauvinistisches Wissen, das seine Antriebe hypokrit verleugnet. Daß Literatur und Kunst je etwas anderes als die Hypokrisie der heimischen Innenausstattung gewesen sein könnte – nennen wir sie Mentalitäten, Nationalcharaktere oder kulturelles Kapital – liegt dagegen verdrängt in einem politisch korrekten Betrieb, in dem wir uns finden wie unter Linden. Derridas Lektüre des Sophokles – des Phallo-Logos in der tragischen Bearbeitung des Sophokles, die in dem kanonischen Tandem, das nach Revision nur so schreit schreit, der hellenisch-jüdischen Tradition im christlichen Gestell des globalisierten Europa – beginnt die „systematisch dekonstruktive Auseinandersetzung mit der Tradition“, die es mit jener „Logik des Produziertseins“ der Kunst aufnehmen muß, auf der Adorno, mit Valéry auf den Lippen, Peter Szondi und die reformierte Literaturwissenschaft der
Jacques Derrida, „Guter Wille zur Macht“ (Antwort auf einen Vortrag von Hans-Georg Gadamer), übersetzt von Friedrich Kittler, Text und Interpretation: deutsch-französische Debatte, hg. Philippe Forget (München: Fink 1984), 56 – 58 und 62– 77, mit Gadamers Replik „Und dennoch: Macht des guten Willens“, dort 59 – 61. Kommentiert von Martin Gessmann, der die Verkennung der Sachlage zwar naturgetreu reproduziert, aber in dem (durchaus nötigen) dichtungstheoretischen Kontext relativiert: „Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer“, Der ununterbrochene Dialog (Frankfurt/M: Suhrkamp 2004), Nachwort 97– 110: 101– 104.
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letzten fünfzig Jahre im Gefolge, bestand – ohne einen nennenswerten Erfolg.³⁶ Ohne Erfolg, weil ganz unzulänglich dekonstruiert, die phallo-logozentrische Diagnose Derridas eingeschlossen, von der brutalen Konsequenz Girards zu schweigen. Nach Derrida gibt es viel zu tun; nach Girard ist es der als anthropologisch hypostasierte Haushalt der Latenzen, der nichts zu ändern läßt. Ist die prähistorische Vorentschiedenheit, die den kategorischen Imperativ der absoluten Gastfreundschaft gegen das anthropologische Gesetz der im PhalloLogos befangenen Verhältnisse in hoffnungslosem Nachteil sieht, historisch auflösbar? Literatur und Kunst handeln nach Aristoteles – Platons Idealismus der Mimesis in Gottes Ohr – von nichts anderem. Die akademisch befaßten Disziplinen, Philologien und Philosophie, haben sich von ihren Abnehmern, die sie ins Brot setzen, lange kompromittieren lassen. Das, was an literarischer Freiheit, an der von Baumgarten und Foucault als ‚Parrhesie‘ erinnerten Standfestigkeit gefährlich war und selbst in leidlich liberalen Verfassungen – etwa der Freiheit der Kunst nach GG Art. 5 – umstritten ist, verkörpert ein evolutionäres Potential, das Aristoteles in den Allotria erkannt hat, im performativen Kraftaufwand der Metapher – ‚performative force‘ bei Austin – aber unterschätzen mußte. „Wo aber Gefahr ist [las der Dichter Hölderlin dem Seher auf Patmos vom Munde ab], wächst/ Das Rettende auch“. Die Allotria der Fremden kreieren im ‚més-entente‘ des Eigenen einen sprachlichen Spiel-Raum, der indessen kein ‚Unvermögen‘ ist (wie eine fatalistische Rancière-Übersetzung suggeriert), sondern ein aus dem Fehl-Verstehen erwachsendes Neu-Vermögen, das für die klassische Sprachsituation zutreffender ist als die von dem Aristoteles-Leser, der Rancière ja auch ist, vorgezogene Eigentumsordnung des oikeion. Sie sieht den metaphern-logischen Untergrund des Haus-Eigenen in der Verflechtung von Sprachsituationen und Arbeitsverhältnissen, die zu den Stoßzeiten der Migration in eine kritische Phase unabsehbarer Verwicklungen eintritt.³⁷ Das Rettende, das aus dem Chiasmus der Verflechtung von Arbeit und Sprachverhalten für Derrida und Arendt wie für Hölderlin und Marx erwächst (von „Arbeit und Interaktion“ in Habermas’ früher Hegel-Lektüre), steht dahin.³⁸ Es
Theodor W. Adorno, „Valérys Abweichungen“ (1961), Noten zur Literatur II (Frankfurt/M: Suhrkamp 1961), S. 42−94: 43. Peter Szondi, „Über philologische Erkenntnis“ (1962), HölderlinStudien (Frankfurt/ M: Insel 1967), S. 9−30: 30. Jacques Rançière, La Mésentente: politique et philosophie (Paris: Galilée 1995). Le Partage du sensible: esthétique et politique (Paris: La Fabrique 2000); dt. Das Unvermögen (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002). Ich erinnere zum guten Schluß an Jürgen Habermas, „Arbeit und Interaktion: Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes“ (1967), Technik und Wissenschaft als Ideologie (Frankfurt/M: Suhrkamp 1969), 9 – 47.
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verlangt eine passionierte, an die Wurzeln gehende Geduld in der dekonstruktiven Analyse der Vorgaben einer Tradition, die sich so leicht nicht abschütteln läßt, wie es eine sei es regressive, sei es progressive Reaktion gerne hätte: sie ist in beiden Fällen angsterfüllt, aber/also latenzflüchtig. Da hilft ‚eigentlich‘ – in dem von alters Eigenen in Haus und Staat – nur Literatur. In Literatur werden wir der vorentscheidenden, aber alles andere als schicksalshaften Momente von alters her habhaft und, heißt das (bei Aristoteles), eines Alltags-Sprach-Vermögens fähig, das – nein, nicht im politischen Unvermögen, sondern – in den andrängenden allótria liegt: in deren Anlage und Talent als einer durch und durch politischen, Politik hervorbringenden, im sprachlichen Weltverhältnis liegenden Potenz. Diese auf die wirksamen Begriffe zu bringen, bevor ‚Integration‘ intuitiv greifen kann, ist die anhand von Literatur und Kunst – am Chiasmus von Literatur und Kunst – zu artikulierende Aufgabe. Folgt man dem alten Aristoteles, so spielt sie sich ab zwischen Allotria und Metapher und muß von der Tiefengrammatik des in den allótria statthabenden Auf- und Abbau-Geschehens (Derrida nennt es ‚dekonstuktiv‘) zur Oikonomie der heimischen Sprachspielgrammatiken und metaphernlogischen Kategorien führen – was nur heißen kann, deren Bewegtheit weiterzubewegen, zu erweitern. Die metapherntheoretische Weiterdifferenzierung der rhetorischen Tradition Quintilians bis hin zur Ästhetik Baumgartens hat ein breites Repertoire an metaphern-überschreitenden Figuren hinterlassen, an das Literaturwissenschaft und Philosophie anknüpfen können, wollen sie nicht in der Einfühlung ins Eigene ersticken. Weiter, das heißt hier (nicht mehr, aber auch nicht weniger): wie das Leben, das so oder so, besser oder schlechter, weitergeht, sei es in Freundschaft, sei es auch, bei aller Mühe, in Feindschaft.
Weiterungen im Poetischen
13 Humor – Die Latenz der Form Wolfgang Preisendanz’ Provokation „Die Unausgesprochenheit des Positiven, die Latenz des Gegenbildlichen …“¹
In der terminologischen Gemengelage, die Literaturgeschichte der Literaturwissenschaft in epochalen Schichten hinterläßt, ist der literarische Humor eine eigentümliche, aber nicht untypische Halbheit geblieben. Vergleichbar der Melancholie, bevor sie durch Freud und Benjamin in ihren lebensweltlichen und formgeschichtlichen Anteilen unterscheidbar wurde, geht durch den Humor ein Riß, über den formale Aspekte nur in einem höchst künstlichen Absehen vom Realismus der anderen Hälfte isolierbar sind. Das ist beim Witz noch schlimmer, obwohl, wenn nicht sogar weil, dort der Lacheffekt nicht weg zu denken ist, eine Bestätigung kathartischer Art, deren Unsicherheit oder endgültiges Ausbleiben jede unmittelbare Funktion und Rolle der Kunst zur illusorischen, bestenfalls vergangenen, spätestens in der voraufliegenden Schicht verlorenen macht. Das Problem ist tatsächlich nicht neu, kein unglücklicher Einzelfall, sondern reicht als ein maßgebendes, grundlegendes bis in die zweite, die lateinische Schicht der Traditionsbildung hinunter. Quintilians Ironie, dem griechischen Sokrates auf den Leib geschrieben, ist das Muster, und wiewohl dieses Muster rhetorischer Katachrese von den Seiten des Quintilianschen Handbuchs immer wieder, zuletzt höchst radikal in Kierkegaards Dissertation wiederbelebt worden ist, hat die terminologische Prägung und formale Qualität der Ironie diese Wiederbelebungen überstanden, ja sich als deren allfällige Voraussetzung nachgerade bewährt. Nach der endgültigen Überspannung der Allegorie, vor der
Einleitung in die mit Hermann Kinder, von diesem mit einem Nachwort versehene Festschrift für Wolfgang Preisendanz, die unter dem Titel Form und Geschichte als Heft 2 der DVjs 76 (2002) erschienen ist. Die resumierenden Hinweise auf Eva Geulen, Eckhard Lobsien, Bettine Menke, Christoph Menke, Barbara Vinken beziehen sich auf deren Beiträge zur Festschrift in diesem Heft. Preisendanz’ Schüler Heinz-Dieter Weber war bereits Jahre zuvor verstorben; seiner ist in diesem Unternehmen implizit mit gedacht. Wolfgang Preisendanz, „Negativität und Positivität im Satirischen“, Poetik und Hermeneutik VII: „Das Komische“, hg. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (München: Fink 1976), 413 – 416: 415. https://doi.org/10.1515/9783110486377-014
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13 Humor – Die Latenz der Form
Quintilian selbst schon ausführlich gewarnt hatte, war der Melancholiker, wie er bei Dürer verewigt ist, zur katachrestischen Erstarrung verurteilt, von der ihn Freud nur um den Preis unendlicher Trauerarbeit, und Benjamin nur um den der endlichen Apokatastasis erlösen wollte. Diese längerfristige Festschreibung der christlichen Katachrese, scheint es, ist selbst die ironische Wiederholung der von Quintilian am griechischen Sokrates praktizierten. Der englische Witz – in Donne’s „I’m done“ unübertroffen und zum selbstreflexiven Monument greaten – macht die Melancholie Dürers und vollends die Anatomie Burtons gegenstandslos. Anders als die englische Krankheit Melancholie, deren weltweite Karriere nicht aufzuhalten war, scheint der Witz eine, man möchte sagen unglücklicherweise, ebenso epochale wie regionale Katachrese geblieben, wären nicht seine untergründigen Pointen im unvergleichlichen Erfolg Shakespeares, und noch zum wenigsten seiner Komödien, allgegenwärtig. Sie sind angewandter Humor, das sieht jeder, aber ein theatralisch angewandter, und das ist eine formale Qualifikation, wie sie in der anhaltenden melancholischen Fixierung keinen schert. Goethes Meister, der Autor mehr denn Wilhelm, wußte davon eine Ahnung zu vermitteln und in der romantischen Meister-Rezeption trug das Früchte. Dabei ist der Wechsel in der Gattung entscheidend, dem Wechsel der Töne Hölderlins im Kern durchaus verwandt, ihn verlängernd in die Ausformung der Gattung des Romans. Schon Tristram Shandy hatte den Roman dadurch neu formatiert, und Šklovskijs Theorie der Prosa gab ihm recht, daß er höchst effektiv die in Burtons Anatomy of Melancholy unternommene melancholische Revision des gesamten klassischen Kanons, die diesem heute als revolutionäre Leistung angerechnet wird, unter dem erleichterten Gelächter seiner Generation ins Humoristische zog. Goethes Lehrjahre selbst unversehens humoristisch zu lesen, mag für den Moment dahin stehen, aber Wielands Romane, der schließlich den ganzen Shakespeare übersetzte, dessen Übersetzung von Goethe und Hegel zugrunde gelegt wurde, sind der rechte Anknüpfungspunkt. So hat beim ersten Kolloquium der Poetik und Hermeneutik Wolfgang Preisendanz das eben vollendete Humorbuch an Wieland in eine historische Perspektive gebracht. Er konnte dabei als exemplarischen Rahmen, den Paul Böckmanns Formgeschichte vorgegeben hatte, den „dramatischen Perspektivismus der deutschen Shakespearedeutung“ voraussetzen. Als Inbegriff der Wirklichkeit im Roman oder, mit Preisendanz’ Kollegen Hans Blumenberg zu reden, als zentrales Relais seines „Wirklichkeitsbegriffs“, ist die perspektivische Eingebundenheit des Subjekts in seine Wirklichkeit die prägende Rücksicht auf Darstellbarkeit des Romans, seine subjektbedingte Wahrscheinlichkeit: „daß er die verschiedensten Weisen, in denen Wirklichkeit erfahren und vermittelt werden kann, nicht nur zu thematisieren
Wolfgang Preisendanz’ Provokation
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vermag, sondern sogar zu seiner eigenen Natur machen kann“.² Humor als „eigene Natur“ der Darstellung, ihre Relativität und Entstellung, ist die neue Formfrage, die aus der Endlosigkeit der Melancholie in das Ende der Kunst Hegels hineinragt. In dem historischen Kompromiß der Theorieformationen, die Hans Robert Jauß’ Konstanzer Antrittsvorlesung in ein Programm brachte, ist Hegel der geschichtsphilosophische Nenner, über den sich die hermeneutische Provokation der Literaturgeschichte erschließt. Für sie schien Dieter Henrichs Maßstäbe setzende These vom „partialen Charakter der neuesten Kunst“ in Heines Schmäh vom „Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird“, nur aufs Schönste bestätigt.³ Tatsächlich war Heine, der das Stichwort vom „Ende der Kunstperiode“ als Titel zu dem von Jauß, Preisendanz und Striedter an den Konstanzer Anfang gestellten (Vorlesungs‐) Kurs beitrug, in der Datierung auf Goethe so wenig abtuend und erledigend, wie es Hegels Satz vom Ende der Kunst war. Im Gegenteil hatte Preisendanz im zentralen HegelKapitel seines Humorbuchs das „Formprinzip des Humors“ als eines, in Hegels
Wolfgang Preisendanz, „Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands“, Poetik und Hermeneutik I: „Nachahmung und Illusion“, hg. Hans Robert Jauß (München: Eidos/ Fink 1964), 72– 95, Zusammenfassung des Referats, 197. Die „eigene Natur“ gewordene „Form“ der Wirklichkeit antwortet auf die Titelfrage des Kolloquiums. Blumenberg stimmt der Zuordnung Wielands und Breitingers zu dem von ihm zuvor eingeführten „Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit“ zu und spricht von der „ästhetische[n] Thematisierung der Realität als Form“ (200). Als eine Art ‚reflexiver Mechanismus‘ (die Rede ist von ‚feed back‘) ermöglicht der im Roman unterlegte dramatische Perspektivismus die „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“, einschließlich dessen vielfältiger Durchbrechungen (Blumenbergs „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ 9 – 27: 12). Was in Böckmanns Formgeschichte der deutschen Dichtung (Hamburg: Hoffmann und Campe 1949), als „darstellende[s] Entfalten des Lebensverständnisses“ (62) den historischen Horizont von Formgeschichte ausmachte, war dieser selbst noch ein äußerlich Erfaßtes. Erwin Panofskys „Perspektive als symbolische Form“ (1927) kam dem Wirklichkeitsbegriff Blumenbergs zwar nahe, ist aber in dem naturwüchsigen Hegelianismus der Anwendung seiner neokantianischen Vorlage Cassirer, wie Hubert Damisch, L’origine de la perspective (Paris: Flammarion 1987) zeigte, vom späteren Humor, gerade auch seiner Hegelschen Ausarbeitung unberührt; sie verharrt, möchte man sagen, wie das Gros der Ästhetik in Kantischer Melancholie. Hans Robert Jauß, „Das Ende der Kunstperiode: Aspekte der literarischen Revolution bei Heine, Hugo und Stendhal“, Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt/M: Suhrkamp 1970), 111– 114. Jauß schließt in seinem Ergebnisprotokoll Preisendanz Vorlage „Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine“, Poetik und Hermeneutik III: „Die nicht mehr schönen Künste“, hg. Hans Robert Jauß (München: Fink 1968), 343 – 374, und Dieter Henrich, „Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)“, Poetik und Hermeneutik II: „Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion“, hg.Wolfgang Iser (München; Fink 1966), 11– 32, zusammen.
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eigenen Worten, „Hinausgehen[s] der Kunst über sich selbst, doch innerhalb ihres eigenen Gebiets und in der Form der Kunst selber“ gerühmt und der Prognose vom Ende der Kunst eine andere Wendung gegeben: „mit unseren nachträglichen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht“, sei Hegels Diagnose eine ungeahnte „Bedeutung und Reichweite“ zugewachsen, berge sie „die erregendsten Perspektiven“ für die Zukunft der Kunst in einem unverkürzten, durch keine Partialität getrübten Sinne.“⁴ Diese läge, wird Preisendanz nicht müde zu unterstreichen, „in der Form der Kunst selber“, nämlich so, daß eben die Weise, in welcher der modernen Kunst „das Wesen der Kunst zur Schranke“ geworden sei, zum „Ursprung der fernerhin noch möglichen wahren Kunst“ werde. Die Schranke in der Form ist der Ursprung einer ungeahnten Zukunft, Zukünftigkeit von Form: bei Goethe zum Beispiel, und weniger zum Beispiel als zur exemplarischen Schranke, die als Ursprung nicht partiell, partialisierend, sondern virtuell, virtualisierend wirkt: wie bei Heine zum Beispiel. Preisendanz’ Paradigmawechsel von Goethe zu Heine folgt der von Heine selbst begriffenen, im „Ende der Kunstperiode“ zum Thema gemachten epochalen Intuition des Formenwandels als eines in Goethe verkörperten Wandels in Begriff und Funktion der Form selbst. Goethes paradigmatische, paradigma-bildende Rolle in derart weitreichender Hinsicht hat die Dissertation über die Spruchdichtung des alten Goethes dargelegt. Schon hier tritt der Humor als das insgeheime formgeschichtliche Telos auf den Plan, das den Dichter Goethe vollendet, um in der radikalen Übersteigerung der Form, ihres selbst-bezüglichen „replikhaften Grundzugs“, diese radikal aufzulösen und zum Verlöschen zu bringen.⁵ Der Humor des alten Goethe, Tugend in der Not des „Unmuts“ – das Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft: Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus [Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, hg. Max Imdahl. Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Wolfgang Preisendanz, Jurij Striedter, Bd. 1] (München: Fink 1963, 2. Aufl. 1976), 123. Preisendanz zitiert Hegel nach der Ausgabe der Ästhetik von Friedrich Bassenge (Berlin: Aufbau 1955), Einleitung, 117 (vom Humor ist an dieser Stelle noch nicht die Rede), sowie im Detail „Der subjektive Humor“ (Humor 564 ff.) Wolfgang Preisendanz, Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe und ihre Vorgeschichte seit Opitz [Heidelberger Forschungen, hg. Paul Böckmann, Heinrich Bornkamm Hans-Georg Gadamer, Bd. I] (Heidelberg: Winter 1952), 187. Die an Max Kommerells Gedanken über Gedichte (1943) erkannte, ermessene „Grundstruktur“ (Spruchform 116 ff.) des „Sprechend-Bezogenseins“ (119) und der „replikhaften Bezogenheit“ (120), führt die probate Teleologie von Böckmanns Untertitel „Von der Sinnbildsprache zur Ausdrucksprache“, deren Gipfel nur Goethe sein kann, ad absurdum. Denn daß alle Dichtung mit Goethe dieser „Ausdruckshaltung“ verpflichtet und auf „Selbstauslegung, Selbstdarstellung, Konfession“ festgelegt sei (Spruchform 187), diskreditiert im Nachhinein, „mit unseren nachträglichen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht“, in eben dem Maße die des Ausdrucks nicht fähigen Formen vor Goethe, wie sie als deren Geschichte nach Goethe unmöglich, nicht zu sagen (Preisedanz sagt es) „ins Gegenteil gekehrt wird“. Auf Kom-
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trennt ihn von den Ungeheuerlichkeiten in Wanderers Sturmlied – radikalisiert ein Moment des Humors ins Formale, das diesen Begriff als Formprinzip eher belastet als beflügelt: die lebensweltliche Färbung, die seine formale Bestimmtheit in der anthropomorphen Konkretion des von Hegel sogenannten „Humanum“ verbirgt, das Melancholie und Ironie als den Maß gebenden rhetorischen Anthropomorphismen von alters, in den epochalen Charakteren der klassischen Antike und der barock-romantischen Moderne, auf die Stirn geschrieben steht. Der alte Goethe vollendet den Master-Tropus, der im „jungen Goethe“ entworfen war und im Triebschicksal Werthers wie der theatralischen Sendung Meisters seinen Lauf genommen hatte. „Dieses Alter als menschliche Größenform“, nimmt der junge Preisendanz als erster wahr, sei in der Spruchform des alten Goethe „zum ersten Mal Thema des Dichtens geworden“ (Spruchform 188). Als rhetorisches Karrieremerkmal des Humors zeigt es diesen als eine die sokratische, Quintilian- bis Kierkegaardische Ironie und die Burton- bis Benjaminsche Melancholie hinter sich lassende Schlüsselfigur: „in Sprache gegossenes Bild der vita senis“ (189). Die eigentümliche Komplettierung der rhetorischen Schemata, die Preisendanz an Goethe entdeckt, liquidiert nicht nur den biographischen Goethe, sie erledigt oder, vorsichtiger, dekonstruiert das Syndrom von Erlebnis und Dichtung, dessen geschichtsphilosophische Entfaltung und Umbesetzung in Lukács’ Theorie des Romans der eigentliche ‚precursor‘, der zu überwindende Vorläufer des Humorbuchs ist: Lukács „fälscht“, nimmt Preisendanz kein Blatt vor den Mund, „bei engster, oft zu prolongierender Interpretation führender Anlehnung den Gedanken Hegels ab“ (Humor 124). Wenn für Lukács „die moderne Epik nur mehr zu bloß partikularer Totalität zu kommen, wenn die dichterische Welt eine Welt reflexiver Formen zu sein scheint, so leitet er dies doch von außerkünstlerischen, weltanschaulichen Determinanten, von der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ ab“, während Hegel „seine Resultate aus der Erfahrung eines der Kunst immanenten Prozesses“ gewinnt und sich folglich des kompensatorischen Bedarfs von links bis rechts, Lukács bis Ritter, entschlagen kann. Nun mag man Glanz und Elend aller ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ in der generalisierenden Vereinnahmung der Anthropomorphismen von Ironie, Melancholie und Humor sehen, mitsamt ihrer Unterwerfung unter einen Prozeß, der als ein historischer in ihnen durchaus kommentiert wäre, während er nach Preisendanz’ Hegel und Goethe unter diesen „Masken“, sagt Hegel pointiert, nur literarisch erzeugt wäre, und die Obdachlosigkeit folglich, die Phänomenologie
merells alternatives Fazit zum Faust bezogen: Form wird im radikalsten Sinne „Krisis der Form“ (Eva Geulen), eine Konsequenz, in der, nachträglich besehen, der alte Goethe des jungen Goethes Wanderers Sturmlied treu blieb.
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beizuziehen, eine der Musenferne, beileibe nicht Gottferne wäre. Sollte die Historik der Formen ein selbstproduziertes Profil sein, käme es in ihrer Karriere – Vico hatte dazu das Nötige gesagt – ganz auf die Abfolge an, in welcher in der Tat der Humor spät, im Greisenalter der Formen, die Ironie der frühen Jahre wiederholte und notwendig verfehlen müßte: ihrer nur entsagen und sie nicht, sei es in Sprüchen, auf Dauer stellen könnte. Der Humor der späten Sprüche ist dieses Entsagen im Versagen. In ihm nimmt sich die Karriere der Vorgängersyndrome von Ironie und Melancholie anders aus. Was in der Sinnbildsprache von Ironie durchkreuzbar war, ohne in Melancholie aufgegeben und ad acta gelegt zu sein, und was in Sehen, Satire und Ironie auf tiefere Bedeutung getrimmt, dem Wiederholungszwang der romantischen Poesie unterworfen blieb, um sich, was Hegel zuwider war, in unendlicher romantischer Ironie aufzuspreizen, wird im Humor der verflossenen Kräfte gewahr, ohne sie in der Ökonomie des Witzes über die Latenz hinaus noch mobilisieren zu können. Die Kunst der Moderne muß, wo sie poetisch produktiv sein will, Alterskunst sein, dem Alten (Goethe) abgeschaut, im Topos vom puer senilis vorhergesagt, in iuvene prudentia beschworen, vom Goethe-Leser Curtius auf Joyce’s Artist as a Young Man als moderne Erfüllungsgestalt bezogen. Hier ist vor Hegel Solger zu preisen, dessen Ironiebegriff Hegel eben noch zu respektieren wußte, dessen Humorbegriff dagegen in der Übersteigung der Ironie erst von Preisendanz in seiner Tragweite erkannt und Hegels Diagnose imputiert, als Voraussetzung supplementiert wird (Humor 137).⁶ Selbst der von Hegel kategorisch abgelehnte Friedrich Schlegel gibt im 305. Athenäumsfragment einen Vorgeschmack: „Humor hat es mit Sein und Nichtsein zu tun, und sein eigentliches Wesen ist Reflexion“. Das in der Übersetzung August Wilhelms zitierte Markenzeichen vom „Sein und Nichtsein“ verweist vor auf die „Humoristische Totalität“ in Jean Pauls Vorschule, die Hamlets „Welt-Verlachung“ die „höchste“ findet. Schlegel findet in Yoricks „unendlichem Humor“ eine „Verwandtschaft mit der Elegie“ und gibt damit die korrekte lyrische Gattung an für den Übergang von der Melancholie, konventionellerweise der „wahnsinnigen Maske“ Hamlets, in ein „Schweben“, das nun die Elegie zum „Höchsten“ macht und der romantischen
In Hegels ausführlicher Solger-Rezension, Ueber Solger’s nachgelassene Schriften und Briefwechsel (1828), Berliner Schriften 1818 – 1831, hg. Johannes Hoffmeister (Hamburg: Meiner 1956), 155 – 220, einer Würdigung von dessen Werdegang und Interessen von seinem Extraordinariat in Frankfurt an der Oder an, findet sich anläßlich der „Krisen in der deutschen Literatur“ das entscheidende Urteil Wilhelm Meisters über Shakespeare, in dessen Folge der Satz vom Ende der Kunst in seiner vollständigen Bedeutung, der der Vollendung aufscheint, „und dieß ist ein großes Wort, das Goethe hinzusetzt: ‚der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst“ (Berliner Schriften 162; Hegels Hervorhebungen).
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Arabeske annähert.⁷ Solger verzichtet auf die Entzugsgestalt der Arabeske und benennt stattdessen ungeniert, in Worten, deren „mystische Tendenz“ Hegels Solger-Rezension bedauert und von Preisendanz entschieden ihres „Raunens“ beraubt wird (Humor 42), die Quelle der „gestaltverlangenden Phantasie“ in all ihrem Bilden und Sinnen: „das Göttliche“‘, das im Humor als nicht mehr und nicht weniger (Preisendanz sagt „allein“) „als das Innere und Wesen der gestaltverlangenden Phantasie […] erkannt“ wird. Denn „das wirkliche Leben des göttlichen Geistes offenbart sich“ im Humor, und zwar tut es das, „zuspitzend formuliert, nicht mehr für die Phantasie, sondern als Phantasie“ (Humor 42). „Es offenbart sich“, fährt Preisendanz fort, als deren „Kraft“, während umgekehrt „die Tätigkeit der Phantasie […] dieser selbst zugleich die Offenbarung des Göttlichen, welches nicht mehr außer ihr hervortritt“, wird. Der Humor realisiert, nicht zu sagen manifestiert in der Phantasie, was nurmehr in ihr, und nicht mehr außer ihr hervortritt. Was im „Bilden der Phantasie“ symbolisch handgreiflich war und im Gegenzug dazu, dem rückwärtigen „Sinnen der Phantasie“ allegorisch reflexiv wurde, findet sich im Humor als das in der eigenen Bewegtheit befangene Moment der sinnenden Tätigkeit „mit vergegenwärtigt“ (Humor 44). Manifestierte das Symbol, faltete das Sinnen der Phantasie sich auf die Latenz im Ursprung zurück, so realisiert der Humor in der Gebrochenheit des Reflexionsmediums, in der Defizienz der subjektiven Brechungen, die Kontingenz der Formbildungen: „selbst durch das Medium des Individuellen und Eigentümlichen gegangen“ (Humor 43), ist das, was im Beobachtersyndrom der Systemtheorie die „Paradoxie des unbeobachteten Mediums“ heißt, an nichts als der Kontingenz der Formbildungen zu fassen. Was an ihr indirekt, allein in der Form zu fassen ist, Solgers „Göttliches“, ist deshalb ein ironisch Offenbartes. Es autorisiert in und mit der Offenbarungsironie keine willkürliche Auflösung der Formen, kein „Verabsolutieren abstrakter Momente“ (Humor 126), sondern bewirkt, im Gegenteil, das humoristische Innewerden deren kontingenter Konstitution. In den personalen Masken Ironie, Melancholie und Humor stecken Wirklichkeitsbegriffe subjektiver Defizienz, deren perspektive-gebundene Modifikationen Wahrscheinlichkeit als gesteigerten Schein des Wahren und dessen vernichtende Nichtigkeit zugleich autorisieren.
Heinz-Dieter Weber, Friedrich Schlegels Transzendentalpoesie: Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 18. Jahrhundert (München: Fink 1973), hat diesen Punkt mit der äußersten Präzision herausgearbeitet (215 – 217). Die Arabeske, die er mit Preisendanz als einen „defizienten Modus“, „ja gewissermaßen als Scheitern aller angewandten Phantasie“ erkennt (Humor 24), ist „ein Scheitern deshalb, weil ihr ‚defizienter Modus‘ der Modus der Subjektivität ist“ (Weber 217). Das ist ist total; es bringt die Ironie aus dem allegorischen Zurücksinnen der Phantasie statt der Melancholie in eine schwebende Annäherung an den Humor.
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Damit ist Solgers Leistung nicht erschöpft, Hegels Bedarf an Weiterführung nicht gedeckt. Die Umwendung selbst bedarf der Form, nicht des äußeren Anlasses, den sie in Form bringt. Die „Umkehrung“, durch die, wie Erwin bemerkt, „im Humor das Allerzeitlichste und Sinnlichste oft die ganze Kraft und Bedeutung des Göttlichen erhält“, ruft keine geringere als die Autorität der Confessiones des Augustinus auf den Plan, deren conversio von der unentrinnbaren Neugierde dieser Welt eben diese „ganze Kraft und Bedeutung“ erfordert, um sie der Tradition als auctoritas einer forma vivendi, „Form der Autorität“ vorzuschreiben (Barbara Vinken). „[S]o wie bei den Alten“, erinnert und wiederholt Solger diese Figur, „in der sinnlichen Ausführung der Gestalten, das Göttliche nichts anderes ist, als der Begriff des einzelnen Dinges“, erschienen „grade umgekehrt“ im Humor „alle Wahrnehmungen und Empfindungen als das mannigfaltige wirkliche Leben desselben göttlichen Geistes“.⁸ Es ist des jungen Goethes Werther (Erwin 224), der die Aporie der verbauten conversio (nach dem Muster der Nouvelle Héloise) eindrücklich gemacht hat, aber schon der Elisabethaner Ben Johnson, findet Solger, hatte von der Conversions-Fähigkeit des Humors eine Ahnung: keiner „äußere[n], einzelne[n] Sonderbarkeit, die sich der Mensch aus Schlaffheit oder theilweiser Narrheit angewöhnt“ hätte (Erwin 226). Sie erwächst aus dem durchkreuzten „Sinnen der Phantasie“, nämlich dann und darin, „wenn ihm alles, was göttlich ist, nur in dem Reiche der Wahrnehmung und Empfindung erscheint, so daß ihm das Wesen der Phantasie beständig zerstückt wird, und sich in tausendfältigen Richtungen in die sinnlichen Triebe und Gefühle zerspaltet, dagegen aber auch alles Wahrgenommene und Empfundene für ihn nur etwas ist, durch seine Bedeutsamkeit auf das in demselben erscheinende göttliche Wesen“ (Erwin 225/226). Erwin selbst, der sich mit dem nachträglichen Humor Goethes, der humoristischen Verarbeitung des Werthers nicht so leicht tut, läßt sich am ehesten mit dem „umgekehrten Erhabenen“ Jean Pauls trösten (Erwin 228), während sich Solgers Absicht darauf richtet, der Conversion in Humor ihr ästhetisches Fundament in Wahrnehmung und Empfindung zu sichern, das Preisendanz in der inneren Gebrochenheit der humoristischen Phantasie aufsucht, in „dem Ungenügen der poetischen Innerlichkeit“, das „in die Sinnlichkeit der Phantasie übergegangen ist“ (Humor 43). Goethes Unmut, Heines Leichtfertigkeit, Kellers Ernst sind Figuren eines Humors, dem das „Sinnen der Phantasie“ vergangen ist mit der durchkreuzten conversio, der passio adolescentis Werthers, der eben darin der Neuen Héloise nicht nur, sondern dem alten Abaelard nachgefolgt ist: sei es
Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Erwin: Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst (Berlin: Realschulbuchhandlung 1815), Zweiter Theil, 227– 28 (Preisendanz, Humor 43).
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im „Vexierbild“ Witz stillgestellt (Bettine Menke), sei es in der „reflexionslogischen Eleganz“ der Ironie „verinnerlicht“ (Eckhard Lobsien). Was Hegel anlangt, erhält „hiermit“, apodiktisch, „der Künstler seinen Inhalt an ihm selbst“ (Ästhetik 570). „Was trennt“ dann, repliziert Preisendanz nicht ohne die notwendig und allgegenwärtig einschießende Ironie, „das Hinabsteigen in die eigene Brust, das den Humanus als neuen Heiligen entdeckt [Hegels eigene Worte], von der abstrakten, unversöhnten Ironie oder des (bloßen) subjektiven Humors?“ (Humor 125). Was als Vexierbild vor jeder, oder reflexionslogische Eleganz ohne jede Versöhnung „Auflösungsformen“ romantischer Kunst sind (Humor 126), birgt in dem, was Hegel als „Verinnigung in dem Gegenstand“ in der „religiösen Liebe“ entdeckt hat (Ästhetik 513 – 15) und in der Vorstellung eines „gleichsam objektiven Humors“ zu projektieren unternimmt (Ästhetik 511), ein produktives Moment, das in der bloßgelegten Figur die Latenz der „archaischen Form“, und wäre sie im Symbol nie manifest gewesen, weiterzuschreiben weiß (Humor 128). Wieder ist es einzig der alte Goethe, der die Entsagung des Versagens in der Bruchstelle alter Symbolik zu offenbaren, in lyrische Form zu bringen weiß: die Schattenspiele der Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten, „Schlanker Weiden Haargezweige“ bezeugen in der Katachrese „alter Goethe“ nicht so sehr oder auch nur interessanterweise die Konfession; sie erzeugen, mit der nötigen Anschubsironie versehen, eine erneute conversio, „die Art des erneuten Weltbezugs“.⁹ Mag die Dialektik im objektiven Humor vor der Kunst versagen oder als negative aus diesem Versagen nur ein schwaches Nachbild von Kunst beschwören können: das im Humor als Latenz der Form gewärtigte, in der Verinnigung nicht still zu stellende, nur im Kippeffekt zu fassende Moment des Umschlags, conversio der Form, hebt in sich immer anders und notwendig immer falsch auf, was sich richtig nicht aufheben, geglückt nicht erinnern, in Ironie nur dissimulieren, in Melancholie nur verdrängen, im Humor allenfalls ertragen läßt. Kellers glückliche Hand in der Behandlung einer nicht so glücklichen, „gleich einem Zeiger andächtig zur Erde weisenden Nase“ (Humor 208) ist als „die positive und produktive Möglichkeit eines Gestaltens“ (209) der geringere Trost als das ironische Spiel, zu dem es Ausflucht bietet. Die „Unerfüllbarkeit der Märchen“ (Christoph Menke), eine vom späten Shakespeare nach dem Perspektivismus der Trauerspiele gespielte Karte, mag davon die reinste Aussicht geben. Sie kann indessen die zeitgemäße Kehrseite nicht verbergen, die das Bild verkehrt, den Spiegel immer neu verzerrt. „Ein schockierender, zynischer, makabrer Humor überlagert die ironische Tiefenstruktur, indem er das von ihm Verdeckte und
Wolfgang Preisendanz, „Goethes Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten“ (Münsteraner Antrittsvorlesung 1963), Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), 137– 152: 143/144.
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Verdrängte spüren und das ausgegrenzte Schlimme in der ausgrenzenden Komik selbst durchscheinen läßt. Es ist ein dekonstruktiver Humor, der ein Selbstgericht der vis comica bedeutet.“¹⁰ Der Humor umarmt die unversöhnliche Gegenfigur, das Theater der Grausamkeit nackter Latenz. Stellt er im Selbstgericht, fehlgehender Mimesis, das Weltgericht nach, dem vorzugreifen der Conversion daneben ging, hilft nur wieder die Ironie, von der er, vis comica, dann doch erstehen kann, um das Fehlgehen als einzig zutreffendes Verhältnis durchzustehen.
Wolfgang Preisendanz, Artikel „Humor“, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Berlin: de Gruyter 2000), II, 100 – 103: 102.
14 Et–Et – Die Wahrheit der Kunst in einer Nuss Ein Nachtrag zu Carlo Barcks Wörterbuch Die minimalste syntaktische Verbindung des aufzählenden „und“ – das selbst so gut wie nie oder nur sehr verlegenheitshalber in der kapitalen Position aufritt – bietet zugleich die suggestivste Form des philosophischen Titels: von Sein und Zeit über Wahrheit und Methode bis hin zu Erkenntnis und Interesse oder Wahnsinn und Gesellschaft. Das „und“ eröffnet einen Raum, der von der simplen Copula – „das eine ist das andere“ – bis zu der schwierigeren Teleologie reicht – „das eine führt zum anderen“ oder „braucht dieses andere“, ist „beherrscht oder definiert von dem anderen“ und wird folglich „erhellt von diesem zweiten“ und das womöglich so „wie von keinem anderen“. Tatsächlich stellt die Unterwanderung und Aufbrechung der syntaktischen Folgeverhältnisse mit ihrer narrativ aufzählenden Interpretation des „und“ eine Ellipse dar, die sich der langen scholastischen Raffinierung erfreut hat und trotz eines gewissen hyperbolischen Sprengpotentials zwei Brennpunkte aufweist, die sich in deutlicher Latenz aufeinander beziehen und aus der Logik dieser Latenz heraus, ihre Sprengwirkung optimierend, die Tendenz, mindestens, zu einer Höher- oder Weiterentwicklung andeuten. Das ist nicht zu verwechseln mit Umberto Ecos Listen und ihren ins Taumeln verfallenden Orgien des Aufzählens von „und“ zu „und, und, und“. Sie stehen auf einem anderen Blatt, denn sie erreichen die Hyperbel, die sie repetitiv zu erzwingen suchen, letzten Endes nie.¹ Foucaults Les mots et les choses zitierte das rhetorische Paradigma, das die grundlegende, kategoriale Differenz, die rhetorische Duplizität der Wörter und Sachen erfasst: Erasmus’ Programmschrift De duplici copia verborum et rerum von 1512 war das von alters, von Quintilian selbst herrührende Modell. Die latente Hyperbolik eher den eine ausgesprochene Dialektik hatte prototypische Form angenommen im scholastischen et–et als einer Formel, die in der verkürzten Form, dem in dieser seiner Herkunft verkannten einfachen et – „das eine wie auch
Beitrag zu einem Berliner Kolloquium zu Ehren von Karlheinz Barck, des verdienstvollen Initiators und Mediators des Historischen Wörterbuchs der Ästhetischen Grundbegriffe, über die Grenzen des inzwischen abgeschlossenen Projekts unter dem Titel Ränder der Enzyklopädie, hg. Christine Blättler, Eric Porath (Berlin: Merve 2011), 31 – 37. Hier um einige Hinweise ergänzt. Umberto Eco, La vertigine della lista (Milano: Bompiani 2009); dt. Barbara Kleiner Die unendliche Liste (München: dtv 2011). https://doi.org/10.1515/9783110486377-015
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das andere“ – in die ausgleichende Gerechtigkeit des grammatisch gebräuchlicheren „sowohl als auch“ entschärfte. Die Herkunft des Ausgleichs, der das insgeheime Paradigma aller Äquivalenzen ist, verweist auf keine vielfältige Quelle, sie führt an eine einzige Urszene, wie sie grundlegender kaum zu denken ist. In ihrer Freudschen Verdecktheit und Anfälligkeit für Verdrängung hat sie, und entfaltet sie, ein quasi-ästhetisches Talent. Es ist die, scheint es, einfältige Definition der Wahrheit als einer adaequatio (et) rei et intellectus, deren verborgene Sprengkraft in Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie kurz aufblitzt, um dann für zu gering befunden und beiseite gelegt zu werden: „nur in einem, dem kleinsten ihrer Elemente“ findet Blumenberg „einen Spielraum für Modifikationen, in der Neutralität des et“ – und das ist ihm zuwenig.² Blumenberg unterschätzt das implizite et–et, welches – et rei et intellectus – die aristotelische adaequatio intellectus ad rem mit ihrem theologischen mittelalterlichen Gegenstück, der umgekehrten adaequatio rei ad intellectum versöhnt – zu einem noch unausdenkbaren Preis. Tatsächlich ist die von Blumenberg der trockenen Formelwirtschaft entgegen gehaltene Lichtmetapher alles andere als ein Gegenentwurf, sondern der Untergrund der im et–et ausbalancierten Rollen des intellectus: sie öffnet den grammatischen Spielraum und steht deshalb von alters an der Stelle der Grammatik, in der die metaphorologische Erfüllung des Wahrheitshorizontes ihre dia-grammatische Entfaltung und Ausfaltung zeitigt. Sie enthält und erhellt – enthält, indem sie erhellt – die proto-syntaktische Stelle, an der die von Derrida dem Dunkel kosmischen Funktionierens entrissene „mythologie blanche“ ihre heliotropen Gewächse zur Blüte brachte.³ Doch ist das nicht alles. Denn was da als Formel einen ungemein harten, unfruchtbaren Untergrund suggeriert, hat nicht nur eine ungemein blumige mythische Vergangenheit, in der bereits der Heliotrope als edler Versteinerungen mitgedacht ist. Das „kleinste der Elemente“ birgt in der verborgenen Einfalt der Verdoppelung des et–et auch die minimale, auf eine paradoxe Weise elementare Keimzelle des grammatischen Spielraums allen Sagens in der Geschichte auf die lange Dauer der Gesagtseinsgeschichte der Sachen in Wörtern. Es ist eine Keimzelle, die darin paradox bleibt, daß in ihr gegen die Doxa der Unteilbarkeit der elementaren Prädikation des Wahren die hartnäckig behauptete, blutig verteidigte Stelle des Demiurgen oder Schöpfers aufgegeben ist zugunsten der Virtualität eines offen ZuschreibungsMöglichen, und das geht genauer, weil mythisch immer schon mitgedacht und erinnert, zulasten einer Latenz des in der Zeit und in Gestalt des Faktors Zeit los Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp, Dirk Mende, Mariele Nientied (Berlin: Suhrkamp 2013), 18. Jacques Derrida, „La mythologie blanche“ (1971), Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247– 324: 292 ff.
Ein Nachtrag zu Carlo Barcks Wörterbuch
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gelösten, verselbständigten, mythisch androhenden, nur mit Glück zu bewältigenden, unabsehbar Erfahrenen.⁴ Selbst die Flucht aus schlechten Vergangenheiten in eine alles richtende, einrenkende Zukunft tat es nicht, tut es nicht wieder, tut es immer weniger. Nun sind die von Blumenberg gegen die dogmatisch verhärtete Wahrheitsformel zurückgewonnenen, von Derrida aus dem Schatten der Ontologien gezogenen Licht- und Darstellungsrücksichten allen Begreifens in Begriffen in der begreifensgeschichtlichen Metakinetik der hermeneutischen Horizonte langfristig unabsehbar und bleiben es auch – müssen sie es schon aus Gründen der historischen Pietät statt des allfälligen, chronischen Besserwissens der Spätergeborenen bleiben. Aber sie zeigen einen Hauch unverhofften Fortschritts im Untergrund der mythologischen, in einem mythischen Sinne religiösen Konstellationen und der in sie eingesenkten, mythisch oder dogmatisch gestützten Bindungsmuster; re-ligio brachte diesen Typ der Bindung auf den historisch adäquaten DoppelBegriff. Während Ästhetik – ein kapitales „Und“ als ein gesteigertes et–et, alles andere als aufzählend, sondern ex-plizierend, aus der Einfalt des „pli“ heraus entfaltend – auf der Bühne einer gründlich theatralisierten Welt auftritt als die dem Bindungstyp der römischen, dann katholischen religio entsprechenden Bindungsverhältnisse. Die doppel-bindende Kraft dieses et–et hat Giorgio Agamben im monastischen Syntagma vita vel regula, das der Formel (et) regula et vita entspricht, vorgeformt gefunden.⁵ Sucht man danach, stellt sich das et–et der konstitutiven Doppelbindungen als unverzichtbar heraus. Ich zitiere ein Beispiel, das in einem einschlägigen Shakespeare-Stück, dem King Lear steht, und zwar in einem Zusatz der Umarbeitung der Folio-Ausgabe von 1623 (1.1.49 – 50).⁶ Man kennt die gemeinhin als ein familiales Melodrama miss-
Thomas Khurana, „Latenzzeit: Unvordenkliche Nachwirkung“, Latenz: 40 Annäherungen an einen Begriff, hg. Stephanie Dieckmann und Thomas Khurana (Berlin: Kadmos 2007), 142– 147. Giorgio Agamben, De la très haute pauvreté: Régles et forme de vie (Paris: Payot & Rivages 2011), 8. William Shakespeare, King Lear (Arden, 2nd Series), ed. Kenneth Muir, based on the (1st Arden) edition of W.J. Craig 1901 (Cambridge MA: Harvard University Press 1952), 6. Muir’s Kommentar beschränkt sich auf: ‚Interest‘] „possession, the present legal sense.“ Die Kapitalisierung der übrigen Begriffe nach The First Folio of Shakespeare, ed. Charlton Hinman, 2nd edition Peter W.M. Blayney (New York NY: Norton 1996), 791. Die letzte Ausgabe des King Lear (Arden, 3rd Series), ed. R.A. Foakes (Walton-on-Thames: Nelson 1997), 161, verzichtet ohne Kommentar auf die Hervorhebung der in Klammern aufgezählten Rechtsbegriffe „Rule, Interest of Territory, Cares of State“, obwohl diese klarerweise terminologischen Charakter haben. Ich habe diese Stelle in der Festschrift für Bettine Menke, Satzzeichen, Szenen der Schrift, hg. Helga Lutz, Nils Plath, Dietmar Schmidt (Berlin: Kulturverlag Kadmos 2017), 148 – 151, weiter behandelt.
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verstandene Ausgangsfrage des abdankenden Königs, in der, im Zusatz verdeutlicht, eine staatstheoretische Präzisierung vorgenommen wird: […] Tell me, my daughters (Since now we shall diuest vs both of Rule, Interest of Territory, Cares of State) Which of you shall we say doth love vs most […]
Die Klärung der Klammer hebt nicht nur den politischen Akt hervor, er bringt im et–et des „both of rule“ – et „interest of territory“ et „cares of state“ – den konstitutionellen Konflikt heraus und auf die Begriffe, um die es der Umarbeitung 1623 verstärkt geht: die Entstehung des Territorialstaates, der den neuen Staatsbegriff über ein et–et definiert. Shakespeares In-Szene-Setzung überführt die rhetorische Macht der Wahrheit der Selbst-Fehleinschätzung überalterter Souveränität. Die Herkunft des entschärfenden Ausgleichs, Gemeinplatz seit Erasmus’ De duplici copia, führt an eine Urszene, die in King Lear als ein auswegloser, tragischer Grund aller Souveränitätskonflikte dramatisiert ist. Aus ihrer Verdecktheit und Anfälligkeit für Verdrängung entfaltet sie ein literarisches Talent, das im Definitions-Doppel der adaequatio rei et intellectus die problematische Herrscher-Bindung des Souveräns („care of state“) an seinen Besitz („interest of territory“) zum tragischen Thema macht. Es war keine klar und deutlich erfahrene Schärfung der aufgeklärten Wahrheitsverhältnisse, an der es in der Ästhetik gelegen hätte; die hatte in der Folge nur oder immerhin den enormen Anstieg der ethischen Begründungslasten zu verantworten. Es war ein Wandel der metaphorologischen Ordnung der Dinge, eine Krise im grammatologischen Untergrund, die in der Ästhetik zu Buche schlug. Die Archäologie Foucaults registrierte fürs erste nur die Entzugserscheinungen, welche die Avantgardebewegungen ausweglos geprägt haben, sie in radikalisierter Trauer fixiert und in den Bildersälen der Melancholie – notorisch Warburgs Mnemosyne-Atlas – zur Ausstellung gebracht haben. Ebenso verharrt die historisierende Doppelbewegung, mit der Blumenberg den metaphysischen Raum der Metaphorologie bei Kant schließt und Derrida den Raum der Avantgarde nach Nietzsche unabsehbar öffnet, auf der Schwelle, die seit der Renaissance die Bühne ist und in der Installationskunst seit dem Barock – als Barock – das Terrain der Kunst ästhetisch vermißt und auslotet als eine Echokammer. Das et–et der adäquatio ist zur Schwelle erstarrt, deren Bindungsfreiheit als Autonomie der Kunst ein neues, nun erst rechtes ästhetisches Analogon produziert. Was die aristotelische Mimesis in der Tragödie einmal als einen politischen Kompromiß anbot für die platonischen Verächter, war ein poetisches Analogon nur zur momentanen Evidenz der Ideen. Das ergeht sich, und kann sich ergehen,
Ein Nachtrag zu Carlo Barcks Wörterbuch
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wie Christian Morgenstern kommentierte, „fröhlich ledig der Blamage steter Souteränität“. Ein sarkastischer Begleitton des 19. Jahrhunderts der Ästhetik nach Hegel, unter dem Morgenstern routinierte Lyrik vorturnt und der verhinderte Balduin Bählamm Wilhelm Buschs die Verlegenheit im Namen trägt.⁷ Sie illustrieren Hegels Intuition des ‚objektiven Humors‘ als einer prekären, von Latenz gefährdeten, von historischer Ironie geschüttelten Sprachsituation der Moderne, ihrer so bindungs- wie kenntnisfreien, von keinem Genius mehr beglückten – Goethe sollte der letzte gewesen sein – Situiertheit. Die ut pictura poesis, deren adäquatio bei Lessing noch als ein salomonisches, medienspezifisches et–et an Ort und Stelle des ästhetischen Urteils auftrat, war als ein handliches „Phänomen der metaphorischen Sichtlenkung“ zu Blumenbergs Befriedigung bereits bei Baumgarten „durchschaut“. Doch steht sie als Epiphänomen wie auf des Messers medientheoretischer Schneide. Denn Lessing durchkreuzt nicht so sehr die ältere Wahrheitsökonomie in ihrer Erkenntnispragmatik, er befördert sie von der vermeintlichen Quellenwahrheit der althergebrachten auctoritas-Figuren (des Demiurgen, Schöpfergotts, Genies) in die mediale Unbegrifflichkeit des theatralen Modells der situationsbezogenen und – falls geglückt – situationsgerechten Installation.⁸ Der Raum des et–et umschreibt den Ort der Kunst. Und die Wahrheit der Kunst kann nicht anders, als die historische Wahrheit des Wahrheitsbegriffs – die Verlegenheit seiner unvordenklichen, gemutmaßten Ursprungsbindungen – aufzunehmen als den durchkreuzten Ursprung undurchschauter Hypotheken. Im metaphorologischen Andererseits des Wahrheitsbegriffs liegt die Kunst nicht als eine vorentschieden zu Lernende, aber als eine des lernenden Auslesens zwischen et und et. Das ist die Moral von der Geschicht, die sich in Derridas Lektüre von Heideggers „Ursprung des Kunstwerks“ abzeichnet – auch hier am Rande, aber in einem Buch, das mit dem Parergon die Randlage wesentlich macht. Dabei ist die diagrammatische Qualifikation am Beispiel der Schuhe Van Goghs zu einer allegorischen Konsistenz gediehen, die Derrida im Nachhinein der letzten veritablen Latenzzeit aus der rezeptionsästhetisch signifikanten Konstellation von Heidegger und Meyer Schapiro gewinnt.⁹ Van Gogh ist nur sehr bedeutungsschwer aus der ideologischen Verklammerung des zeitgebunden belasteten Einerseits/Anderserseits der Rezeption herauszulösen. Roland Barthes konnte in
Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft (München: Fink 1963, 2. Aufl. 1976), 143 – 150. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation (Frankfurt/M: Suhrkamp 2003), 262 ff. Vf. „Art is Messianicity: Radical Illustration in the Face of God“ (2012), Oxford Literary Review 36 (2014), 37– 47; Productive Digression: Theorizing Practice (Berlin/ Boston: De Gruyter 2017), 68 – 80.
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der Intuition des ‚Obtusen‘ direkter zu Werke gehen, denn die etymologische Eignung des Obtusen unterläuft leichter die nicht weniger drohenden ideologischen Rahmenbedingungen.¹⁰ Tatsächlich ist es deren musikalische Verfassung und nicht die von Barthes bevorzugte etymologische Tiefe, die dem Sachverhalt im fälligen et–et die Tiefenschärfe verleiht: So unterschied Quintilian in der Stimme (vox) neben dem Kriterium der Lautstärke (quantitas) weiter zwischen vox et clara et obtusa (Institutio oratoria 11.3.15). Die Stimme ist sowohl klar, als auch dicht, woraus sich Descartes’ (et) clare et distincte erst in seiner an-ästhetischen Pointierung erhellt. Während die Dichter im Obtusen das dem et–et der Rhetorik geschuldete Medium fanden, dem selbst ein Lacan die psychoanalytische Akkreditierung nicht verweigerte.
Roland Barthes, „Le troisième sens“ (1970), und „Le grain de la voix“ (1972), in den nachgelassenen Essais critique III: L’obvie et l’obtus (Paris: Seuil 1982), 43 – 58, 236 – 245.
15 Die Spur des Genitivs im Nichts Dieter Henrich, Beckett und Hölderlin Literatur und Philosophie unterhalten, seit es sie gibt, eine ebenso unausgewogene wie stetige Beziehung; ohne sie gäbe es beide nicht, und tatsächlich gibt es Dichter und Philosophen, bei denen Philosophie und Literatur ineinander übergehen. In dem Verwissenschaftlichungstempo, das die analytische Philosophie weltweit an den Tag legt, sind solche Verwischungen von Quasi-Gattungsgrenzen historisch geworden – ein höflicher Ausdruck dafür, daß sie systematisch überholt seien.¹ Die Höflichkeit ist freilich ihrerseits der überholte Ausdruck dafür, daß das, was im Austausch beider als ein historisches Moment der je eigenen Konstitution quasi gattungshaft mit reflektiert worden war, nun endlich abgeworfen sei und als ungeschieden, ununterscheidbar, der Unterscheidung nicht länger wert, auf sich beruhen könne. Nun scheint es weniger Sache der Literaturwissenschaft, mit dem Zugewinn zu hadern, als Sache der Philosophie, sich über den Verlust eines Feldes, das einmal ein bedeutender Nebenschauplatz war, klar zu werden. Die Umverteilung der Gewichte ist in den öffentlichen mehr noch als in den disziplinären Belangen unabsehbar. Der Begriff der Philosophie, so könnte es scheinen, entgleite der Philosophie.
Rez. von Dieter Henrich, Sein oder Nichts: Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin (München: Beck 2016), Philosophische Rundschau 63 (2016), 317 – 334. Ich danke Dieter Henrich für eine sorgfältige Antwort, die mich bedauern läßt, seine kritischen Beiträge zur analytischen Philosophie nicht ausführlicher mitbehandelt zu haben. Jürgen Habermas, „Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur“, Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt/M: Suhrkamp 1985), 246, war ein Vorschlag zur Güte, der in der nach-metaphysischen Wende die Ökonomie der Fächer als historischen Kompromiß verteidigt. Tatsächlich scheint es ein spät-metaphysischer Bedarf, der Dieter Henrich den Unterschied vernachlässigen läßt, als wäre es Metaphysik, die in Literatur ihr Auskommen gefunden hätte und Becketts Nichts stünde dafür. Vgl. Christoph Menke in seiner Rezension „Sein oder Nichts, das bleibt die Frage“, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 221 (21. September 2016), 12. https://doi.org/10.1515/9783110486377-016
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I. Als Dieter Henrich 1964 seine Eröffnung zum zweiten Kolloquium der damals jungen (inzwischen verblichenen) Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik schrieb, war die deutsche Provinz noch ganz mit Hegels Prognose vom „Ende der Kunst“ beschäftigt.² Henrich reformulierte ad hoc: „Die Kunst ist nicht nur hinter andere Bewußtseinsweisen zurückgetreten, mit denen sie sich in Übereinstimmung setzen muß. Sie ist auch ihrem Gehalte nach partial geworden“ (P&H II, 15). Er entschloß sich, aus der Not eine Tugend zu machen und Hegel positiv zu wenden: „Sich von Hegels Konzept, aber nicht von dem der Darstellungsästhetik zu lösen, bedeutet also, gegenwärtige Kunst als Manifestation ausgezeichneter Wirklichkeit zu deuten“ (17). Der Inbegriff der Kunst, der sich anbot und im Umkreis von Poetik und Hermeneutik eine lang anhaltende Konjunktur erlebte, hieß „ästhetische Erfahrung“.³ Er läßt die Kunst eine mit der reflektierenden Selbstbeziehung des philosophischen Subjekts (des Subjekts der Neuzeit im emphatischen Sinne) virulent gewordene Einsicht austragen, die Henrich von der „Doppelnatur des reflektierten Selbstseins“ sprechen läßt (19): „So hat die Erfahrung, daß Selbstsein kraft inneren Prinzipes auf sich und nur auf sich bezogen ist, zu ihrem Komplement nicht nur die Gewißheit, dennoch aus unverfügbarem Grund zu sein, sondern auch das Wissen, daß dieser Grund ihm unzugänglich bleibt“ (18). Die über Hegels Sichtbegrenzung hinaus „verschärfte“ Konsequenz kann keine literarische sein, sie muß eine philosophische sein und bedeutet deshalb umgekehrt, „die Lage der Künste aus der Philosophie interpretieren heißt ebenso sehr, sich über deren eigene Situation verständigen“ (19). Henrichs Prognose, die nicht mehr Hegels Prognose ist, ist im Unterschied zu dieser von außerordentlicher Verallgemeinerungsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Kaum ein Kunstprodukt, kaum eine künstlerische Tätigkeit, die auf einem rapide expandierenden Kunstmarkt noch ohne ‚Philosophie‘ der ihr eigenen „ausgezeichneten Wirklichkeit“ (17) daherkäme, keine Philosophie, die sich nicht in der
Dieter Henrich, „Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)“, Poetik und Hermeneutik II: Immanente Ästhetik–Ästhetische Reflexion: Lyrik als Paradigma der Moderne, hg. Wolfgang Iser (München: Fink 1966), 11– 32; im folgenden abgekürzt P&H II, Hervorhebungen von Henrich. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985), ein Titel, der unter dieser Prämisse die Zusammenstellung von Poetik und Hermeneutik rezeptionsästhetisch neu faßte. Henrichs Postulat, „Darstellung kann partialen Charakters sein und sich gerade darin mit Offenheit, Reflexivität und historischer Bildung vereinigen“ (P&H II, 17), hat Rüdiger Bubner weiterentwickelt, Ästhetische Erfahrung (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989).
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Auszeichnung der in ihr reflektierten Wirklichkeit zu beweisen hätte. An der Kunst zeigt, ja entscheidet sich, Henrich zufolge, eine Diskrepanz zwischen der akademischen analytischen Einstellung von Philosophie und jenem Begriff von Philosophie, den sie dieser Wirklichkeit als die ihre hinterlassen, ihr überantwortet hat. Henrichs eigene Philosophie ist von einer Konsequenz wie dieser weniger weit entfernt, als es seine Konzentration auf die Motive des Übergangs, den die klassische Moderne Samuel Becketts darstellt, ahnen läßt. Der umständliche Untertitel, den seine Wiederaufnahme Hölderlins im Lichte Hegels – das Programm der Logik ist im Titel Sein oder Nichts mit angezeigt – von ‚Erkundungen‘ reden läßt, amplifiziert Hegels ‚Kunstperiode‘ um ein neues, allein der Kunst verdanktes Maß an Reflexivität, das keines der Reflexion eines (einzelnen) Subjekts, und sei es des dichterischen, mehr sein kann. Henrich entgeht diese Konsequenz nicht, aber er meidet sie, als enthielte sie einen Fehlschluß, dem er mit Entschiedenheit entgegentritt. So hängt hier alles am Begriff der Reflexion, den Henrich philosophisch begrenzt und in diesen Grenzen festhält. An ihnen wird klar, daß deren Ursprung in der Literatur zur poetologischen Reflexivität eines zu Werken geronnenen Sprachstands geworden ist – um den Preis, ihrer philosophischen Quelle entfremdet zu sein. Ästhetisch wurde die ästhetische Erfahrung für den frühen Henrich durch ein Innewerden und Gewärtigen der „Unverfügbarkeit eines Grundes“, der sich jeder Reflexion in dem Maße entzieht, in dem er sie erst ermöglicht. Ist die ‚Partialität‘ der Kunst zwar der Unverfügbarkeit dieses Grundes geschuldet, so kommt ihr darin doch eine besondere Art von ‚Wahrheit‘ zu, welche das qua Reflexion erreichte und gestützte „Wissen, daß dieser Grund unzugänglich“ sei (P&H II, 18), sowohl übertrifft, als auch unterfängt. Damit sprengt sie den Begriff der zur Reflexion gewordenen Erfahrung oder versiegelt sie ihn in Sprachlosigkeit. Sie tut dies aber, ohne in der Unmittelbarkeit einer Empirie aufzugehen oder unterzugehen. Allerdings ist die Unmittelbarkeit des „kraft“ der Kunst Gewärtigten als ein unverfügbar, nie je verfügbar Erfahrenes nur ein Analogon von Erfahrung, nur die absolute, von aller Erfahrung gelöste Metapher für das Als-ob einer wie unmittelbar gegebenen Seinsweise, für ein Nichts an der Gebenheit, das in deren Seinsweise immer (nur) mit gegeben ist: nichts als ein für das Gewahren des Gewärtigten wahrnehmungs-konstitutives Nichts an jedem Sein. Es ist dieses Nichts, das Beckett an Hölderlin gewahren lehrt und das Henrich in Becketts Zitat Hölderlins mit zu lesen lehrt als einen im späten Hölderlin antizipierten, impliziten Beckett. Der rezeptionsästhetische Sachverhalt, den Henrich im Widerspiel von Sein oder Nichts aufzeigt und an der Rezeptionsachse Hölderlin–Beckett illustriert, könnte deshalb nicht exemplarischer sein, das Problem der ästhetischen Erfahrung nicht deutlicher hervortreten:
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„Ohne Anleitung durch die Wahrnehmungskraft des Dichters Beckett hätte man diese Züge in Hölderlins Werk in solcher Prägnanz und Zuordnung zueinander wohl gar nicht wahrgenommen […]. So hat Beckett Hölderlin in seinem eigenen, dem zwanzigsten Jahrhundert zu einer Gegenwart verholfen, die der Bewußtseinslage dieser Zeit weit mehr entspricht als die zunächst um so vieles nachhaltigere Vergegenwärtigung Hölderlins in der Nachfolge von Stefan George und dann von Heidegger“ (Sein oder Nichts, 49). Mit anderen Worten: die „Möglichkeit einer ganz anderen Wahrnehmung des Dichters [Hölderlin]“ sei „mehr als angezeigt“ durch Beckett: „Durch einen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts wird uns ein Hölderlin sichtbar gemacht, der durch anderes herausragt als dadurch, dass er Künder, Seher und Wegbahner des kommenden Lebens ist“ (Sein oder Nichts 289).
Henrichs Rücksicht auf die Hölderlin-Philologie bleibt in der Unterstellung einer naturwüchsigen Koinzidenz der „Wahrnehmungskraft des Dichters“ mit der „Bewußtseinslage dieser Zeit“ einigermaßen konventionell. Der Einsicht des Philosophen verdankt ist dagegen, was die Wahrnehmungskraft Becketts betrifft, die eine gleiche oder gar selbe Wahrnehmung des Dichters Hölderlin zu einer neuen Gegenwart in der des Dichters Beckett erwecken soll, einer Gegenwart zu den historischen Bedingungen Becketts. Ästhetisch wäre die vom Philosophen, Henrich, erkundete Erfahrung also durch die Wahrnehmungsidentität und Konstanz der im Werk des Späteren, Becketts, aktualisierten und in einer neuen Gegenwart aufgehobenen Erfahrung Hölderlins, durch welche die (für Hölderlin viel behauptete) Ursprünglichkeit der Erfahrung sich ästhetisch bestätigt sähe und als ästhetische Qualität erkennbar geworden wäre. Tatsächlich sieht es so aus, als gewönne hier Hegel gegen Hölderlin zurück, was ihm Henrich einmal als das Defizit einer grundlegenden Differenz vorgehalten hatte: des erinnernden „Verwandelns“ Hegels gegenüber einem „tieferen Bewahren“ Hölderlins.⁴ Die Tiefe des Bewahrens Hölderlins erführe in Beckett eine (nachgerade hegelsche) Aufhebung in die historisch verwandelte Erfüllungsgestalt einer Moderne, in der nur die gegenwärtige Kunst (dem Postulat) der „Manifestation ausgezeichneter Wirklichkeit“ entspräche (P&H II, 17). Beckett, das versteht man mit Henrich (weiß man seit Adorno, auf den Henrich nicht zu sprechen kommt), überschreite Hegels Reflexionsbegriff, aber die Frage bleibt, wie er das als literarische Leistung dem durch Hölderlin markierten Defizit verdanken mag.⁵ Es ist die Frage einer Genealogie, die sich für
Dieter Henrich, „Hegel und Hölderlin“ (1970), Hegel im Kontext (Frankfurt/M: Suhrkamp 1970), 9 – 40: 34. Adornos berüchtigter „Versuch das Endspiel zu verstehen“ (1961), Noten zur Literatur II (1961), jetzt Gesammelte Schriften 11 (Frankfurt/M: Suhrkamp 1974), 283, nämlich: „konkret den Sinnzusammenhang dessen nachzukonstruieren, daß es keinen hat“, steht im Verstehens-Interesse Henrich nahe; allerdings indiziert die Rede vom „ästhetischen Zerfall“ bei Adorno zugleich die
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Henrich nicht aus der Hölderlinforschung erschließt, auf die aber Beckett eine Antwort parat hat. Sie entgeht Henrich, weil sie im Unterschied zu der philosophischen Antwort, an der ihm liegt, einem anderen Reflexionsmodus als dem des unverblümten Zitats unterliegt. Sie kann Henrich nicht in den Sinn kommen, so sehr die philosophische Reflexion sie in immer neuen, um Hölderlins Erbe bemühten Wendungen umspielt. Das indessen, weiß auch Henrich, war nicht, oder nur sehr vage, Becketts Anknüpfung. Für Henrich ergibt sich der Bezug nicht aus Becketts wie auch immer gearteter Reflexion auf Hölderlin, sondern aus einem (dem selben) Erfahrungsursprung, dessen Wahrnehmungsidentität für ihn Ästhetik begründet und als Wahrnehmungskraft Hölderlins tieferem Modus des Erinnerns entspricht. Wo Hölderlin tiefer erinnerte, erfüllt Beckett Hegels erinnerndes Verwandeln. „Einzig der Dichter“, hatte Benjamin über die Erfahrung Baudelaires gesagt, wäre dieser Erfahrung in der Moderne gewachsen.⁶ Einzig der Philosoph, so könnte Henrich anläßlich Hölderlins mit Beckett ergänzen, wäre im Stande, sie als eine ästhetische zu erkennen. Indessen, die sehr flüchtige Konvergenz mit Benjamin ist bezeichnend nur für die Emphase des Dichtens, aber irreführend in der Sache, der Dichtung wie auch der Philosophie, die ihr die ästhetische Diagnose stellt. Die Rezeptionsfigur Beckett soll für Henrich die aktuelle Situation der Philosophie aus der „Lage der Künste“ erhellen (P&H II, 19). So mag Beckett ein Stück Philosophie, das in der Differenz des späten Hölderlin zu Hegel liegen geblieben war, aufhellen, aber soviel daran für die immens gewachsene Aktualität Hölderlins hängen mag, kann das doch kaum mehr als ein Nebenaspekt sein gegenüber dem in Literatur und Philosophie wechselseitig aufgehobenen Gehalt dessen, was in der „Wahrnehmungskraft“ der Kunst für die Philosophie liegt, um sich in der „Wirklichkeit des Lebens“ je neu zu bestimmen. Nur an der Kunst, kann man Henrichs Beckett über Hölderlin hinausführen und im Blick auf Hegel weiter zuspitzen, erkenne die Philosophie, was sie tut und unbeschadet dessen (oder sogar über das hinaus), was die Kunst tut. Was ist es, das die Kunst – womöglich hinter ihrem Rücken – der Philosophie vermittelt, in einer ihr eigenen Weise der Reflexion parat hält und als solche in die Reflexion der Philosophie immer neu einbringt?
metaphysische Krise, die nach Henrichs Hegel-Bereinigung eine unnötige Assoziation darstellt. Dazu Christoph Menke, „Der Stand des Streits“ (1986), Die Gegenwart der Tragödie: Versuch über Urteil und Spiel (Frankfurt/M: Suhrkamp 2005), 188 – 202. Walter Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1936), Gesammelte Schriften I (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974), 605 – 653: 609.
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II. Die „Verschärfung“, die Hölderlins Spätwerk für Hegels Entwurf bedeuten mußte und ihn für die literarische Moderne veralten ließ (P&H II, 19), ist für Henrich nicht länger zu Ungunsten genuiner Kunst auszulegen. Er nutzt sie – die Lektüre der Verschärfung in Hölderlins Dichtung – zu einer doppelten Strategie, in der er die historische Sachlage der Rezeption Hölderlins durch Beckett abtrennt von der philosophischen Reflexion dieses Bezugs, um in pointiertem Wechsel den über beiden angestrengten längeren, die rein philologische Materie um ein Vielfaches an Komplexion übersteigenden Prozeß der philosophischen Beschreibung zu einer „gegenläufigen Vertiefung“ zu bringen (Teil III). Es ist ein methodisches Angebot, das sich aus der Verlegenheit der philosophischen Reflexion einstellt. Im Wechsel der Aufmerksamkeit erfahren die Sphären jede für sich eine Erhellung, die dem Philosophen erlaubt, was die Hölderlin-Philologie von sich aus nicht hergibt. Daß der Philosoph, Henrich, deren Grenzen respektiert, bringt für seine Reflexionen ein signifikantes Maß an poetologischen Problemen, die als philosophische Hypotheken, soll es nicht bei einer bloßen Illustration der Gehalte bleiben, auf Analyse drängen – eine Analyse, deren methodische Dimension im Zusammenspiel von Hölderlin und Beckett auf kritische Entfaltung warten. Henrich eröffnet auf diese Weise, ohne es explizit zu machen (und ohne sich weiter dafür zu interessieren), den Raum für eine philosophisch angeleitete literarische Analyse, die nur ästhetisch sein kann, sofern sie der hermeneutischen Reflexion des Philosophen die poetologische Struktur der von Hölderlin an Beckett bezeugten Wirkung einzuzeichnen erlaubt.⁷ In der Diskussion seiner Vorlage von 1964, fünfzig Jahre zuvor, hatte Henrich eine Unterscheidung erwogen, die ihn implizit noch in seiner Einschätzung von Becketts Hölderlin-Rezeption anleiten konnte (es explizit aber nicht mehr tut): „Form von bloßer Struktur zu unterscheiden“.⁸ Unbeschadet der Termini, die ihn in den Strukturalismus geführt hätten, hält er sich an ein bewährtes StrukturModell, die Grammatik, und unterstellt ihr ein „Gedankenprogramm“, in dem „sprachlicher Ausdruck“ zur „grammatischen Form“ von Denken überhaupt komme (Sein oder Nichts 65). So werde die Redeweise „das Nichts“ in ihrer grammatischen Prägung zum „Anhalt in einem Nachdenken […], das sich auf das Ganze des Wirklichen […] eingelassen hat“, weil es „diesem Denken in der Wolfgang Iser, Henrichs Freund aus der Poetik und Hermeneutik und wichtiger Bezugspunkt für Henrichs Beckett, sprach in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung programmatisch von der Appellstruktur der Texte (Konstanz: Universitätsverlag 1967). Diskussion Henrich, „Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart“ (Vorsitz Hans Blumenberg), P&H II (1966), 524– 531: 531 (Henrich auf Frage von Jauß).
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Sprache selbst vorgegeben worden ist“ (63). Was mithin die Wahrnehmungsidentität von Hölderlin zu Beckett garantiert und literarisch macht, ist strukturell, grammatisch, vorgeformt, und selbst das Nichts, das doch nicht mehr ist als ein in jeder Gegebenheit Mit-Gegebenes, hat einen sprachgeschichtlich vorgegebenen Anteil daran: „[V]on dem, was durch Absenz von allem definiert ist“, kann Henrich an Grimms Wörterbuch anknüpfen, war einmal „als von dem ‚nichtens nicht‘ die Rede“ (64). Die „Spur dieses Genitivs“ im ‚Nichts‘ (der Genitivform ‚Nichtens‘) birgt im Bezug auf das, was Henrich das „Ganze des Wirklichen“ nennt, den Übergang von der „bloßen“ grammatischen Struktur zur (dichterischen) Form: „So gelangt die Sprache, über die Verbindung mit dem bestimmten Artikel dahin, das ‚nichts‘ als einen Quasizustand zu verselbständigen“ (64 – 65). Die Emphase des Nichts bei Beckett entspringt keineswegs einer existentiellen Unmittelbarkeit, sie folgt der grammatischen Spur, in welcher der Moderne eine neue Sprachsituation das „Ganze“ (und nicht nur, wie leichter einzusehen wäre, Teile) der ihr eigenen „Wirklichkeit“ zu erfassen erlaubt. In diesem Punkt (wenn auch nicht im Begriff) kommt Henrich mit seinem ewigen Konkurrenten in der Sache (und schon bei dieser Gelegenheit), Hans Blumenberg, überein – allerdings mit einem gewichtigen Unterschied.⁹ Wo Blumenberg, ganz auf der Linie der Avantgarden von Valéry bis Tel Quel, eine Tendenz zur semantischen Ent-grenzung erkennt und als ‚Vieldeutigkeit‘ ausmacht, besteht Henrich auf der (in sich) „komplexen Beziehung“, die in die grammatische Form eingegangen ist und dort parat liegt (Sein oder Nichts 63). Im Insistieren auf der unhintergehbar (immer schon) vorgegebenen Komplexion der Bezüge, die in der grammatischen Formung als Horizont des ästhetisch Erfahrbaren verborgen liegt, beruht das spezifische Gewicht von Henrichs ‚Erkundungen‘ des Ästhetischen in der von Beckett verkörperten modernen Ausprägung. So scheint es etwas unglücklich, daß Henrich bei all seiner reflexionsphilosophischen Ausführlichkeit aus dieser Sachlage nicht mehr macht.¹⁰ Immerhin kann man schließen: in der Komplexion, nicht erst in der Reflexion, die ihr folgt, sich auf sie richtet und Hans Blumenberg, „Sprachsituation und immanente Poetik“, Poetik und Hermeneutik II (1966), 145 – 155; Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001), 120 – 135: 129. Von diesem Kolloquium, in dem Blumenbergs Vorlage auf Henrichs Entwurf antwortete, rührt eine untergründige Gegenläufigkeit beider zur Literatur, die in Henrichs Beckett-Lektüre letzte Ausläufer zeitigt. Der Beckett-Kenner Iser hätte Henrich am ehesten mit William Empson, The Structure of Complex Words (London: Chatto and Windus 1952), bekannt machen können, ein Werk, das Iser leider selbst nie recht zu würdigen kam, das aber bemerkenswerte Aspekte bietet, die Henrichs Beckett-Lektüre ergänzen könnten. Man vgl. den frühen Stanley Cavell, „Ending the Waiting Game“ (1958), den Henrich kennt, aber nicht beizieht, Must We Mean What We Say? (Cambridge UK: Cambridge University Press 1958), 107– 150.
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an ihr artikuliert, wird Ästhetik zum nach-hegelschen Paradigma der Moderne bei Henrich. Becketts Rezeption Hölderlins ist der Fall, an dem er dies zu Bedingungen der Literatur erkundet und der Philologie zu bewahrheiten gibt. Er selbst widmet sich dieser Aufgabe nicht weiter; im Gegenteil gibt er nur zu bedenken, läßt er dahinstehen, was sich als Aufgabe für die Ästhetik ergibt. Das „Ganze des Wirklichen“, auf das er es in der Literatur abgesehen hat und das er ihr als ein nach-metaphysisches Desiderat (nach Hegel) zugute hält, mag Anlaß sein, der Selbstbeschränkung dieses groß geratenen Buches, das nichts weniger als eine Bilanz von Henrichs Spätwerk enthält, ein Stück weit nachzugehen. Die gewichtigen Kapitel des Teils II „Grenzgedanken“ über „Komplexionen um Sein und Nichts“ (Kapitel 5) und „Das Nichts als sprachlicher Ausdruck und Gedankenprogramm“ (Kapitel 6) sind ergänzt durch Exkurse (Kapitel 9), in denen auch die Rede vom „Ganzen des Wirklichen“ die dringend nötige Erläuterung findet. Die, wie es scheint, unbefragbare, wie transzendental gesetzte Koinzidenz von „grammatischer Form“ und „Gedankenprogramm“ lokalisiert Henrich jenseits seiner Erkundungen, auf dem Gebiet einer Logik im weitesten Sinne, so daß sich für ihn das hermeneutische Problem auf das transzendental-psychologische Apriori eines „Denkens als solchen“ verengt (Sein oder Nichts 176). Nun genügte es kaum, bei der Erfahrung der Dichtung analog von der „Sprache als solcher“ zu sprechen, wenn bereits spezifischer von grammatischer Form zu handeln ist. Alles Denken ist auf Grund seiner sprachlichen Genese vorgeformt und in dieser Form (mindestens, latent) proto-literarisch. Daß Henrich diese Trivialität in Kauf nimmt, die für ihn auf keinen Fall eine transzendental-pragmatische sein soll, sondern eine transzendental-poetische heißen müßte, tut dem Gefüge seiner Abhandlung solange keinen Abbruch, wie sie dazu gedacht ist, den wechselseitigen Überschuß von Philosophie und Literatur zu begrenzen. Eine Grundannahme wie die der Grammatik als gedanklicher Form – das ist die entscheidende Unterstellung, die er vornimmt – würde das „Ganze des Wirklichen“ als des reflektiert Erfahrbaren in jedem Fall umfassen – auch ohne spezifisch literarische Leistung, ja sogar vor jeder denkerischen Ausprägung. Nun ist der Komplex eines ‚Ganzen‘, das einen gemeinsamen metaphysischen ‚Grund‘ von Literatur und Philosophie suggeriert, bereits bei Hölderlin wie bei Beckett nicht nur als unverfügbar durchschaut, er ist bei beiden vorab in der Möglichkeit seiner ‚Wahrnehmung‘ durchkreuzt. Eine erhellende Definition hatte Henrich einmal aus Anlaß der Theorien der Kunst gegeben, die er zusammen mit Iser Anfang der achtziger Jahre herausgegeben hatte: „Metaphysisch ist eine Kunsttheorie, die letzte Grundtatsachen des Ästhetischen nicht im bewußten Leben, sondern in Grundverhältnissen alles Wirklichen lokalisiert und die das Kunstwerk als Medium bestimmt, in dem Menschen zu diesen Grundtatsachen in
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ein ausdrückliches Verhältnis kommen.“¹¹ Die Frage, die als vorentschieden auftritt – daß Literatur aufgrund der sprachlichen Genese Ausdruck eines erfahrbaren Ganzen von Wirklichkeit, und sei es unverfügbaren Grundes sei – läßt Henrich über die mannigfaltigen gebrochenen Weisen der grammatischen Formung hinwegsehen, so genau er auch die Struktur der „komplexen Beziehung“ erkannt hat (Sein oder Nichts 63). So können zwar die bis zum Äußersten getriebene Reflexionen des Teils IV über „Selbstsein, Ambivalenz und Vergewisserung“ ein „Lebensresümee unter dem Vorzeichen ‚des Nichts‘ (Nihil)“ bei Beckett plausibel reformulieren (411) und dessen berühmtes, orakelhaftes „und dann – das Nichts“ (Teil I) erläutern, aber zwischen der sprachhistorisch manifesten Spur dieses Nichtses und seiner dramatischen Inszenierung in Krapp’s Last Tape liegt nicht allein die phänomenale Äquivalenz der (womöglich selben) „Wahrnehmungskraft“ beider Dichter, die im Genitiv des Nichtses Wurzeln geschlagen hat, sondern eine hochkomplexe, zur sprachlichen Werk-Gestalt geronnene Dichte der Bezüge, die es allererst in der Kontextur der Worte aufzusuchen gilt und als in ihr befestigte Form – Hölderlins „vester Buchstab“ – genauer zu beschreiben ist. War die in Hölderlins „Stiften“ Gestalt gewordene Form (Hölderlins „Was bleibet stiften die Dichter“) eine Leerformel des Seins, so findet sich in Becketts „und dann – das Nichts“ ein thematisierter, in der Thematisierung dramatisierter Anteil des im Partitivus des Genitivs positivierten Nichtses. Was bedeutet diese von Henrich herausgehobene sprachgeschichtliche Errungenschaft literarisch, bleibt die von ihm kaum mehr berührte Frage.
III. Die ‚sprachsituativ‘ gefestigte grammatische Prägung der Wahrnehmungskraft kommt bei Henrich rein intuitiv, dem Talent des Dichters gemäß, zum Tragen. Krapp’s Last Tape inszeniert dieses intuitive Moment mnemotechnisch, im Abspielen von Erinnertem, und ist derart konform mit der These von Hölderlins Bewahren: einem „Bewahren, das unter der Forderung der Treue steht, also das Vergangene in seinem eigenen sucht und hält“ (Hegel im Kontext 34). Das letzte von Krapps Bändern, in dem ein Zitat aus der Hymne Mnemosyne mehrfach wiederkehrt und die entscheidende, abschließende Rolle spielt, zeigt die Sackgasse gerade auch der Treue des Bewahrens; die Tonspur bewahrt, die Wahr-
Einleitung, Theorien der Kunst, hg. Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Frankfurt/M: Suhrkamp 1982), 21. Es folgt der Verweis auf Platon und im Band steht dafür Henrichs Vorgänger in München Helmut Kuhn.
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nehmung ist auf ihr – Krapp lauscht ihr nach – verloren. Ein mnemotechnischer Apparat, der zugleich eine Allegorie der poetischen Leistung ist, hält die Tonspur der verlorenen Wahrnehmung als andauernde Kraft fest, die im wiederholten Abspielen das einmal erfahrene Sein über das daran unmerklich klebende Nichts mit wahrnehmbar hält: als Metapher einer Unmittelbarkeit, die nur mittelbar (und als solche gerade nicht zur Gänze) bewahrt ist. Hegels Antwort des Anverwandelns statt tieferen Bewahrens (darauf legte Henrich Wert) greift nicht schlicht zu kurz; sie ergänzt Hölderlin, wie Henrich jetzt Hölderlin mit Beckett zu vollenden sucht: Hegel sei daraufhin „zum Philosophen seiner Epoche geworden“ hatte Henrich gefunden (Hegel im Kontext 39). Mit Beckett wäre die neue Epoche vollendet. Ähnlich Adorno, der Beckett die Ästhetische Theorie widmete (die Henrich so wenig erwähnt wie Heideggers kongenialen Hölderlin). Was für eine Art von literarisch-philosophischer Epoche wäre es, die sich der Ästhetik verdankte und also ästhetisch zu Buche schlüge? Alles hängt nun an der Mnemosyne-Stelle, die Krapp’s Last Tape zitiert, einer in der Tat für Beckett wie für Hölderlin in ihren jeweiligen Kontexten prägnanten Passage, bei der es allerdings mit der vagen Ähnlichkeit vergleichbarer Wichtigkeit nicht getan sein kann. Auch ohne auf Beckett vorzugreifen oder auf Hölderlin zurückzugreifen, ist der Sinn der Stelle jeweils klar; er stellt nicht etwa im Bezug erst ein Neues her, hat allenfalls bestärkende Wirkung. Die „komplexe Beziehung“ ist von anderer Art, die Tiefe des verwandelnden Bewahrens (Hegel mit Hölderlin zusammenzunehmen) ist keine der bloßen rhetorischen Bestärkung, sie soll Ausdruck der epochalen Zäsur sein. Henrichs Lektüre bleibt hier hinter der von ihm selbst erschlossenen Erwartung zurück. Doch hat er intuitiv Recht, wenn er (wie Adorno) in Beckett eine Epoche erkennt und diese (wie Heidegger) auf ein im späten Hölderlin angelegtes Motiv oder Movens zurückführt. Ein Blick auf Hölderlins Einbettung des Zitatausschnitts zeigt die Ausgangslage deutlicher: […] Und immer Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist Zu behalten. Und not [Not!] die Treue. Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See. (Mnemosyne, 3. Fassung nach Beißner, letztes Drittel)
Beckett paraphrasiert (zitiert im weitesten Sinne, unmarkiert), was im vorletzten Vers auf den Satzschluß „Nicht sehn“ (Zeilenanfang) folgt:
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But under us all moved, and moved us, gently, up and down, and from side to side.¹²
Hölderlins Kahn (offenbar eine Allegorie) bleibt bei Beckett implizit: er ist eingegangen in die Erinnerungsszene, die Krapp’s Tape aufruft. In dem buchstäblichen Kahn, der in der Wiederholung auf Krapp’s Tape metaphorisch fortgeführt wird (offen allegorisch wird) und auf den Erlebniskern von Krapps ErinnerungsOperation führt, ist Hölderlins Sehnsuchtsmotiv „ins Ungebundene“ vergessen – oder aber ersetzt. Die Vergeblichkeit der wiederholten Liebesszene, die Krapp auf „schwankem Kahne“ durcharbeitet und die „der See“ verdankt ist, steht nicht mehr für sich allein; sie ist der mit wiederholte Teil eines größeren Erinnerungskomplexes, den das Band restituiert, bevor es dreimal in der selben Hölderlin-Reminiszenz endet und mit ihr abbricht. Die Beruhigung, die ihr Inhalt ist, ist zugleich die Beruhigung der Dramatik des in Anläufen und Unterbrechungen gesuchten, vermiedenen, aufgeschobenen, aber unvermeidlichen Endes: I lay across her with my face in her breasts […] But under us all moved […] (17 und 19)
Die Anbahnung der Varianten – zunächst nur angedeutet: „my face in her breasts“ (16) – aus denen sich die Textur des Erinnerten Schritt für Schritt zusammenfindet und auf ein Grund-legendes Motiv zu bewegt – „Lie down across her“ (19) – findet im Schwanken des impliziten Kahns keine, nur die Andeutung einer Ruhe, die – wie „dann das Nichts“ – ein reines Sein andeutet. Es ist das glatte Gegenteil der „noch leibhafteren Gegenwart“, die Henrich für das Andenken im Gedicht Andenken behauptet hatte: einer im Andenken gesteigerten, dem Komparativ verhafteten Gegenwart.¹³ Und doch, wie in der Lektüre von Hölderlins Andenken, besteht Henrich in Becketts paraphrastischem Zitat auf der gesteiger-
Samuel Beckett, Krapp’s Last Tape (1958) and Embers (1959) (London: Faber & Faber 1959), 16, 17 und 20.Wie im Original steht in den folgenden Zitaten die Bühnenanweisung, die integraler Teil des Textes ist, kursiv. Dieter Henrich, Der Gang des Andenkens: Beobachtungen zu Hölderlins Gedicht (Stuttgart: Klett-Cotta 1986), 92. Vgl. Vf. Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie (München: Fink 1991), 71– 92: 82. Ich komme hier auf eine Kontroverse mit Henrich in Yale zurück, die in der amerikanischen Ausgabe des Buches dokumentiert ist, Leaves of Mourning: Hölderlin’s Late Work, übersetzt von Vernon Chadwick (Albany NY: SUNY Press 1996), 73 – 77. Den Henrich mit Hölderlin verbindenden Ausgang von der Philosophie Fichtes, der in der Verlängerung auf Beckett keine explizite Behandlung mehr erfährt, aber terminologisch weiterwirkt, hatte Henrich unter einschlägigem Titel behandelt: Der Grund im Bewußtsein: Untersuchungen zu Hölderlins Denken 1794– 1795 (Stuttgart: Klett-Cotta 1992), 642 mit der ergänzenden Erläuterung einer ‚Form‘, zu der, „was ihre Genesis erklärt, auch gegenwärtig sein“ muß (seine Hervorhebung).
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ten Wahrnehmungskraft der dichterisch vermittelten Evidenz, die das poetische Resultat und die Quintessenz der Bezüge in ihrer Komplexität ausmachen soll. Die Unzugänglichkeit eben dieser, für Henrich von Hölderlin verheißenen (auch bei ihm schon verstellten) Wahrnehmungsidentität ist Becketts Gegenstand. Wolfgang Isers Beckett-Lektüre, die bei Henrich immer mitspielt (wenn auch auf eine nicht immer durchsichtige Weise), hat in Becketts spätem Monolog Imagination Dead Imagine (1965) die komplexe phänomenologische Dialektik aufgewiesen, in der Krapp’s Last Tape die Unterstellung von Henrichs Wahrnehmung längst durchkreuzt hatte: „Deshalb gilt es sich die Einbildungskraft als tot vorzustellen, weil sie sonst immer nur in ihren Auswirkungen gegenwärtig ist.“¹⁴ Interessanterweise beeinträchtigt der von Beckett aus-theoretisierte Befund nicht die von Henrich herausgestellte Rezeptionsachse Hölderlin–Beckett; aber er wirkt zurück, und das durchaus in Henrichs Sinne, freilich gegen die eigene explizite Interpretation. Bei Beckett wird manifest, was als dichterische Einsicht in Hölderlins Spätwerk aus der Latenz (einer epochalen Latenz im Sinne Hegels) tritt, einschließlich des von Henrich im Gefolge Heideggers fehlgelesenen Andenkens. Was die epochale Qualität von Becketts Werk in Hölderlins Gefolge interessant macht oder, umgekehrt, wie von Henrich angedeutet, Hölderlin in einer anderen historischen Reihe lokalisiert als „in der Nachfolge von Stefan George und dann von Heidegger“ (Sein oder Nichts 49), ist nicht kontextfrei zu beantworten; es bedarf einer literarhistorischen Reorientierung, die der Hölderlinforschung, auf die Henrich vertraut, zutiefst fremd ist und zuwiderläuft.
IV. /Coda Dazu eine Andeutung, die einem frühen literarhistorischen Essay Becketts zu entnehmen ist: „Dante… Bruno. Vico.. Joyce“ lautet die Reihe, in die Krapp’s Last Tape Hölderlin als die ultimative Pointe einfügt.¹⁵ Das läßt im Blick auf Finnegans Wake, dessen Genealogie auf diese Weise salopp erhellt werden sollte (noch vor Abschluß des Werkes 1939) einige Schlüsse zu, die von Henrich im Leeren gelassene Lage der „komplexen Beziehungen“ betreffend. Deren grammatische Grundlage hat selbst eine unvordenkliche Geschichte nach sich gezogen, eine
Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991), 416 – 417. Samuel Beckett, „Dante… Bruno. Vico.. Joyce“, Eingangsessay, Our Exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress (London: Faber & Faber 1929), 1– 22. Die Punkte im Titel stehen bekannterweise für die Jahrhunderte, die durch die Reihe der Namen verbunden werden.
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epochale Zwischenlage namens ‚Geschichte‘ geschaffen, welche in der ‚Ästhetik‘ genannten Epoche einer eigentümlichen Versagung unterworfen ist. Die Spur des Genitivs in Becketts Nichts (der schon auf den ersten Blick ein Partitivus ist) bleibt in Hölderlins Anteil an der Geschichte, die in Beckett ihre epochale Aufklärung als Ästhetik im philosophischen Sinne findet, das Desiderat einer tiefergehenden Analyse. Beckett folgt einer Fährte, die das krönende Zitat aus Hölderlins Mnemosyne im Gefolge von Dante und Joyce zeigt, Zitaten in Becketts Text, die Henrich entgangen sind, so wie sie auch vom Gros der Beckett-Kenner unterschätzt werden (die Henrich eh nicht heranzieht).¹⁶ Zum Tod der Mutter – „where mother lay a-dying, in the late autumn, after her long viduity“ (Krapp’s Last Tape 14), einer Stelle von zum Äußersten getriebener Komplexität der Bezüge – schaltet Krapp das Band ab, um lautlos ein Wort zu repetieren: „His lips move in the syllables of ‚viduity‘. No sound.“ Die Leere ist die der vidua/vedova Dantes, die der Romanist Beckett aus Baudelaires Passante kennt.¹⁷ Ihr folgt – Krapp schaut es im Wörterbuch nach (welchem?) und findet: „([…] With relish.) The vidua-bird!“ Der Vogel ist aber kein anderer als Joyces „seabird“ am Ende des Portrait of the Artist as a Young Man, eines Musters Joyce’scher ‚epiphanies‘, das den von Beckett in Endgame benutzten ‚pun‘ sea/see kreiert hat und Hölderlins Genitiv vom „schwanken Kahne der See“ mit umfaßt – einer Konstruktion, über die Henrich ausgiebig, aber unschlüssig räsonniert (Sein oder Nichts 32– 34). Sie unterfängt das schwankende Nichts, das seiner genitivischen Natur nach mitschwingt in der Leere der von Krapp meditierten ‚viduity‘. Die Mutter, die Danteske Szene zu komplettieren, ist natürlich die der Muttersprache in De Vulgari Eloquentia (Our Exagmination 18). Beckett sortiert Hölderlin anders ein, nicht auf dem Sonderweg der deutschen Dichter und Denker, sondern in einem Purgatorio, dessen moderner Agent Joyce ist (Our Exagmination 22). Die Hölderlin zugemutete Rolle ist so kaum erst schattenhaft erfaßt. Eine weiterführende Frage, die diese Rolle präzisieren könnte, wäre die, wie der späte Hölderlin in Becketts Genealogie Vico ergänzen,
Ich sehe ab von Henrichs Präferenz und Verstrickung in die Hölderlin-Forschung (Sein oder Nichts, Teil I und III), die seit Beißners Stuttgarter Ausgabe über die Zugehörigkeit der zitierten Strophe zu den Bruchstücken der Mnemosyne-Hymne (nach Beißner der zu rekonstruierenden 3. Fassung) mutmaßt. Für Beckett stand diese Zugehörigkeit außer Frage; das Titelstichwort Mnemosyne war Anlaß genug, auf den Becketts eigene literarhistorische Einordnung Hölderlins antwortet. Ich verzichte auf die Nachweise, die ich anderswo gegeben habe: Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002), Kap. 2 für Dante und Baudelaire; Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg (Berlin: Kadmos 2004), Kap. 7 für Joyce im Blick auch auf dessen Bezug Flaubert.
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illustrieren oder ersetzen kann, der seit Benedetto Croce (Beckett wohl bekannt) als ein Vorläufer oder eine Alternative zu Hegel gehandelt wird.¹⁸ Der ‚ricorso‘, der Finnegans Wake als (ironischerweise sogenanntes) „Work in Progress“ von der letzten auf die erste Seite führt und von der ersten Seite an als wiederkehrendes Ende voraussetzt, ist ein Zirkel von Sprachfiguren, in den Hölderlin bei Beckett, Joyces Schüler, einspringt mit einem Nichts, dessen figurale Qualifikation nicht, wie bei Joyce, die ewig proliferierende Metonymie ist, und auch nicht Vicos der Romantik vorgreifende, von Hegel bekämpfte Ironie, sondern die Permanenz einer Synekdoche, in der ein jedes Sein metaphorisch partizipiert an dem ihm gleich-ursprünglichen Nichts. Nun ist dieses nicht das Nichts, erkennt Henrich, des Nihilismus; es ist (nichts als) der schwankende ‚Grund‘, der den ‚Kahn‘ des unergründlichen Lebens als Metapher in Vicos Zirkel zur univoken Allegorie aufrundet, deren synekdochische Verdoppelung bei allem Schwanken eine eigentümliche, unendliche Stabilität aufweist: die Stabilität einer (wie den Avantgarden schien) „symbolisation qui est infinie“.¹⁹ Statt der in einem romantisch ungewissen Ungefähren verharrenden Ironie verlangt Beckett einen dezidiert „objektiven Humor“ am Grunde der dichterischen Einbildungskraft.²⁰ Wie Imagination Dead Imagine zeigt und theoretisch vorführt, ist es nicht die von Henrich gemutmaßte (vermeintlich ursprüngliche) Wahrnehmungskraft von Hölderlins Andenken, die Beckett an Hölderlin anknüpfen läßt (Sein oder Nichts 44). Es ist die durch und durch (im Sinne von Vicos Tropenfolge) metaphorische Erfahrung des grammatisch-lautlos Gegebenen, das (nach-muttersprachlich, von Ursprüngen getrennt: „syllables of ‚viduity‘. No sound“) ästhetisch wird und im erinnernden Fehlgehen – „dem gleich fehlet die Trauer“ in der Mnemosyne – einen objektiven, individuell uneinholbaren Humor (statt der immer wieder gern angeführten Benjaminschen Melancholie) verlangt. Iser hatte in einer Heidelberger Akademie-Abhandlung die Uneinholbarkeit von Becketts Humor (Henrichs ‚Unverfügbarkeit‘) am Phänomen des „erstickten
Ein durchgängiges Motiv der Vico-Aufsätze von Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie (Bern: Francke 1962), hier 223, 232, 242. Siehe Tzvetan Todorovs Theorie der doppelten „Synecdoques“, Communications 16 (1970), 26 – 35: 34. In Vicos Zirkel der vier Haupttropen, von der Metapher über Metonymie und Synekdoche zur Ironie, bezeichnet die Synekdoche das re-totalisierende Moment, das in der wiederholten Metapher zum Zuge kommt und in der Ironie zum ‚ricorso‘ führt. Ferdinand Fellmann hat den metaphorologischen Grundzug dieser Tropenkarriere auf den Nenner der ‚äquivoken Allegorie‘ gebracht, Das Vico-Axiom (Freiburg: Alber 1976), 39. Die dichtungstheoretische Dimension von Hegels objektivem Humor ist bei Henrichs Gesprächspartner in dieser Sache, Wolfgang Preisendanz nachzulesen, Humor als dichterische Einbildungskraft (München: Fink 1963), 29 – 133.Vgl.Vf. „Humor: Latenz der Form“, DVjs 76 (2002), 171– 180; auch in diesem Band.
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Lachens“ im Theater Becketts erläutert, einer eigentümlichen Reaktionsweise des Publikums, an der sich die von Henrich imputierte Wahrnehmungskraft der Dichter auf der Seite der Rezeption erhellt, wo es „verschüttetes Leben“ aufdecke, „Bewußtseinszustände selbst explorierbar mache“ (letzteres in explizitem Bezug auf Henrich).²¹ Die Sachlage des ‚erstickten Lachens‘ erlaubt es, Henrichs BeckettLektüre ein Stück weiter zu profilieren. Die im erstickten Lachen abgebrochene Evidenz, ist wie ein letztes Residuum der von Blumenberg in seinem Leitartikel zu Poetik und Hermeneutik I (1964) postulierten ‚momentanen Evidenz‘, der Henrich bereits in der Diskussion vorgeworfen hatte, eher ein phänomenologisches Phantom als ein historisch-solider ‚Wirklichkeitsbegriff‘ zu sein.²² Ein Residuum, von dem nach Imagination Dead klar wäre, daß nie je mehr war und sein konnte. Weshalb „die Einbildungskraft als tot vorzustellen“ für Beckett so wenig wie für Iser heißt, alles wäre aus und „finished“; das wäre nur der gewöhnliche existentielle Kurzschluß, durch den es in der Beckett-Rezeption zum erstickten Lachen kommt. Die spontane Wirkung wie der unerklärliche, aber offenbar reflexive Abbruch im Verlauf der Reaktionsbildung, der bedingte Reflex und die Selbstkorrektur im Ansatz der Reflexion, bewiesen deshalb eine Ahnung von dem, was die Wahrnehmung des Dichters in Wahrheit sei. Die gebrochene, in der Brechung verdoppelte Reflexion repetierte Henrichs „Doppelnatur des reflektierten Selbstseins“ (PH II, 19) naturgetreu, und der dramatische Effekt der Selbstthematisierung wäre Beweis der Naturtreue. Becketts objektiver Humor ist nicht darauf angwiesen, daß man ihn selber hat. Aber der Dichter hatte ihn offenbar, sei es in kompentatorischem Übersprung, sei es in lakonischer – ästhetischer? – Einsicht in den Verlust des versperrten Ursprungs der Wahrnehmung: „no question now of ever finding again that white speck lost in whiteness.“²³ „Diese Spur (schließt Iser, und schließt sich der Kreis zu Henrich) ist nur noch dynamische Leere, die auch die Sprache in sich hineinreißt“ (425) – wenn man sich denn darüber klar ist, daß
Wolfgang Iser, Artistik des Mißlingens: Ersticktes Lachen im Theater Becketts (1977). Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Nr. 3 (Heidelberg: Winter 1979), 36, 44. Iser hat die rezeptionsästhetische Crux unter dem (kultur‐) anthropologisch gedachten Begriff der Emergenz weiter verfolgt und dabei Becketts nothingness eine zentrale Rolle zugedacht, Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays (Konstanz: Konstanz University Press 2013), 274. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, Poetik und Hermeneutik I: Nachahmung und Illusion, hg. Hans Robert Jauß (München: Fink 1964), 9 – 27. Diskussion der Vorlagen Blumenberg und Henrich (Vorsitz Wolfgang Iser), 219 – 227: 225 – 227. Samuel Beckett, Imagination Dead Imagine (London: Faber & Faber 1965), 14; Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, 421, dessen Interpretation, „auf behutsame Weise Imaginäres im Zustand seiner Erweckung vorzustellen“, ich für diese Stelle nicht zustimme. Man sieht aber an (der Versuchung) der verfehlten Konkretion, wie nah Iser Henrich ist, und woran das liegt.
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die Leere der Spur im Nichts das grammatische Gerüst ‚Sprache‘ ist, welches die Erfahrungsbesetzungen in sich aufnimmt, um sie (als ‚Imaginäres‘ bei Iser) „zu verschriftlichen“ (des Philologen Iser letzter Satz dazu).
Halbzeug/Skizzen
16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma Zur Metakinetik hermeneutischer Horizonte (Blumenberg/Derrida, Kuhn/Foucault, Black/White) „Man hätte dann eher eine Rhetorik der Geschichte als eine Geschichte der Rhetorik zu entwickeln“ (Paul de Man)¹
„Als ‚Epoche‘ gilt erst für uns, was die rhetorische Hyperbel vom Epochemachenden aufgebracht hat“, eröffnete Hans Blumenberg seine Neueinschätzung der Legitimität der Neuzeit. ² Die juristische Hintergrundmetaphorik von ‚Legitimität‘ und ‚Prozeß‘, so wäre zu ergänzen, hat das Moment der gerichtsüblichen Rhetorik mit zu reflektieren, an dem sie teilhat. Daß es „keine Zeugen von Epochenumbrüchen“ gibt (Blumenberg), heißt gewiß nicht, „die Erfahrbarkeit des Neuen in der Geschichte“ in Zweifel zu ziehen (Jauß).³ Doch hat diese Erfahrbarkeit des Neuen mit der Rhetorik zu tun, die den Prozeß der Neuzeit und die Legitimität seines Ausgangs in der „Asymmetrie von Erwartung und Erfahrung“
Erster Konstanzer Versuch einer begrifflichen Bilanzierung, der an meine „Einleitung in die Theorie der Metapher“, Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: WBG 1983), anknüpfte und in der ersten englischen Fassung auf Einladung von Göran Hermerén unter dem Titel „Of Metaphorology“ auf dem IV. Skandinavischen Philosophenkongreß 1983 in Lund vorgetragen wurde. Ich verdanke der dortigen Diskussion mit Arthur Danto und den Gesprächen mit Mats Furberg mehr, als in diese Skizze nachträglich eingehen konnte. Die dt. Fassung wurde zur Fortführung der geschichtstheoretischen Debatte in Poetik und Hermeneutik XII (1986), 230 – 251, gedruckt und für den Sammelband Die paradoxe Metapher (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 268 – 286, mit einem Nachwort versehen, das den in diesem Band über die Theorie der Metapher (1983) hinausführenden Stand der Diskussion betrifft und dem Nachwort zu dessen Neuauflage, „Nach der Metapher“ entspricht (Theorie der Metapher, Studienausgabe 1996, 499 – 505). Paul de Man, „Epistemologie der Metapher“ (1978), übers. von Werner Hamacher, Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983), 414– 437: 436; engl. Original in dem Nachlaßband Aesthetic Ideology, hg. Andrzej Warminski (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1996), 34– 50: 50. Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle. Die Legitimität der Neuzeit, Neuausgabe Teil IV, (Frankfurt/M: Suhrkamp 1976), 7 (Kap. I: „Die Epochen des Epochenbegriffs). Hans Robert Jauß, „Il faut commencer par le commencement“, Poetik und Hermeneutik XI (1986), 563 (Statement zur Diskussion). https://doi.org/10.1515/9783110486377-017
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
begründet (Koselleck).⁴ Das hermeneutische Interesse, „die Schwelle vom Alten zum Neuen aus der Diskrepanz von geschlossenem Erfahrungsraum und offenem Erwartungshorizont [zu] erschließen“, muß sich auf Zeugen verlassen, die der Prozeßrhetorik des epochalen Umbruchs, so sie ihr überhaupt zugänglich sind und ein entsprechendes historisches Bewußtsein ausgebildet haben, auch schon erliegen. Die Topik der geschlossenen Räume und die Hyperbolik der offenen Horizonte verstellen eine Erfahrung und bekräftigen eine Erwartung, deren Asymmetrie so leicht nicht zu bewältigen ist. Was er davon hält, erläutert Blumenberg, als er auf den Begriff der ‚Umbesetzung‘ zurückkommt; als er ihn eingeführt habe, gibt er lakonisch zu, habe er „noch nicht gesehen, daß er einen theoretischen Vorgang impliziert“: Denn wer das handelnde Subjekt der Geschichte ist, wird nicht entdeckt oder bewiesen; das Subjekt der Geschichte wird ‚ernannt‘. Im System der Wirklichkeitserklärung unserer Tradition gibt es eine ‚Stelle‘ für dieses Geschichtssubjekt, auf die Vakanz und Besetzung sich beziehen. Durchsetzung und Bestätigung der Umbesetzung sind rhetorische Akte; ‚Geschichtsphilosophie‘ thematisiert nur die Struktur dieses Vorgangs, sie trägt ihn nicht.⁵
Die nachträgliche Rationalisierung von Umbesetzungsvorgängen macht die Struktur rhetorischer Akte thematisch, die jenes „Minimum an Identität“ garantieren sollen, „das noch in der bewegtesten Bewegung der Geschichte muß aufgefunden“ oder zumindest vorausgesetzt und gesucht werden können (Aspekte 17). Rhetorik – so Blumenbergs „anthropologische Annäherung“ – reguliert den hermeneutischen Bedarf an Geschichte: Wie dies zu denken sei, läßt sich der Probe entnehmen, die Blumenberg auf’s Exempel der kopernikanischen Revolution macht: den ‚kopernikanischen Komparativ‘ Kants, der die Hyperbel des Epochemachenden in ihrem rhetorischen Funktionieren beschreibt. Blumenbergs Pointe liegt darin, daß die Kritik der reinen Vernunft „eine Theorie des Irrtums genauso wie […] eine Theorie der Erkenntnis ist“.⁶ In einer Anmerkung seiner Vorrede zur zweiten Auflage von 1787 stellt Kant die eigene „Umänderung der Denkart“ als eine der kopernikanischen „analogische“ dar, nämlich „auch nur als Hypothese“, deren Beweis er sowenig wie seinerzeit Ko-
Vgl. Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt/M: Suhrkamp 1979), 355 ff. Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Rhetorik“ (1971), Wirklichkeiten in denen wir leben (Stuttgart: Reclam 1981), 104– 136: 129, und Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 406 – 431: 426. Die Genesis der kopernikanischen Welt (Frankfurt/M: Suhrkamp 1975), 693 (Teil V, Kap.V „Was ist an Kants Wendung das Kopernikanische“). Vgl. Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt/M: Suhrkamp 1981), 194 ff. (Kap. XIII: „Das Hamburger Buch der Natur und sein Königsberger Reflex“).
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pernikus antreten oder auch nur absehen könne.⁷ Die Präfiguration der transzendentalen Wendung durch Kopernikus bestehe in dieser Unabsehbarkeit, die „die Dimension der Geschichte der neuzeitlichen Physik erforderte“; für Kant gehört dieser Geschichte nicht schon Kopernikus selbst, sondern erst Newton an. Das Paradigma des Kopernikus fungiert als Metapher, deren ‚Terminologisierung‘ durch die Wissenschaftsgeschichte vollzogen, und deren Potential erst nachträglich (nach Newton) erkennbar wird: „Im Text der Vorrede ist er derjenige, der eine Metapher erzeugt für die Art von Veränderungen, die von den Revolutionen der Wissenschaftsgeschichte realisiert werden, in denen die Gesetzmäßigkeit der Gegebenheiten im Einfluß des erkennenden Subjekts ihren Ursprung hat“ (Genesis 696/7). Die behutsame Verwendung rhetorischer Termini in Blumenbergs Text (von Hyperbel und Metapher, Präfiguration und Typik) reflektiert den rhetorischen Akt der Einsetzung des erkennenden Subjekts, der die kopernikanische Revolution zu dem macht, was sie ist: zur Revolution, deren Komparativ Blumenberg Kant zuschreibt, und deren Superlativ Lacan Freud attestiert. Kants transzendentale Wendung macht eine Umkehrung zum Paradigma (daß Kopernikus „den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ“), deren exemplarische Bedeutung erst als Nachgedanke zur Kritik der reinen Vernunft einleuchtet (KrV, B XVI). Erst dem Komparativ der Transzendentalphilosophie wird die Dezentrierung des alten Weltbildes zur Präfiguration, erst im rückblickenden Vergleich einer Steigerung entfaltet die Metapher ihr Potential, erst dies metaphorische Potential macht das Paradigma zum Paradigma. In der Rhetorik mindestens dieses Paradigmas gehen Synkrisis und Dezentrierung Hand in Hand; es ist die Metaphorik der Dezentrierung, die Komparativ und Superlativ provoziert. Freud sieht die Psychoanalyse als Höhepunkt der seit Kopernikus und Darwin erlittenen „Kränkungen“ des Subjekts, aber erst Lacans ‚Entstellung‘ der Psychoanalyse hat die Perspektive der ‚dezentrierten Subjektivität‘ thematisch gemacht, die der Tradition der Bewußtseinsphilosophie wie auch der Praxis der Ichpsychologie zuwiderläuft.⁸ Es fragt sich freilich, wie sich diese Rhetorik mehr als reflektieren (Kant im Blick auf Kopernikus, Freud im Blick auf Darwin) und historisch beglaubigen läßt (Blumenberg im Blick auf Kant, Lacan im Blick auf Freud); ob sie sich in die eigene Hand nehmen läßt (Derrida im Blick auf Saussure).
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. Raymund Schmidt (Hamburg: Meiner 1926, 1930, 1956), 23, Anm. Jacques Lacan, Écrits (Paris: Seuil 1966), 516, 797. Vgl. Samuel Weber, Rückkehr zu Freud: Jacques Lacans Entstellung der Psychoanalyse (Berlin/ Frankfurt/ Wien: Ullstein 1978), 74 ff.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
I. Blumenberg/Derrida, Kuhn/Foucault Den jüngsten Fall einer Paradigmawahl stellt Jacques Derridas Projekt einer Grammatogie dar. Derrida führt den neuen Begriff der ‚Grammatologie‘ ein, indem er in Saussures Programm einer ‚Semiologie‘ Semiologie durch Grammatologie ersetzt: „Durch eine Substitution, die keineswegs bloß verbal wäre, müßte man im Programm des Cours linguistique générale das Wort Semiologie durch Grammatologie ersetzen“, so daß sich Derridas Projekt in Saussures Programm wie folgt liest: Wir werden sie [diese „neue Wissenschaft“] /Grammatologie/ nennen […] Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat Anspruch darauf, zu bestehen; ihre Stellung ist von vornherein bestimmt. Die Linguistik ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft; die Gesetze, welche die /Grammatologie/ entdecken wird, werden auf die Linguistik anwendbar sein.⁹
Derrida schreibt sein Projekt ein in den Text des Programms, das er „befreien“ will vom Modell der Linguistik: die Wahl des neuen Paradigmas setzt die ‚syntaktische Stelle‘ des alten Paradigmas voraus, deren Kontext Derrida in all seiner Apodiktik zitiert.¹⁰ „Das sprachliche Zeichen [betont er] blieb beispielgebend für die Semiologie“ und beschränkte so ihre mögliche Reichweite, die sie nach Saussure hätte haben können und nach Derrida gewinnen soll. Die Metaphorik der „Beherrschung“ und „Befreiung“, die er durchgehend benutzt, läßt keinen Zweifel an dem, was er meint, wenn er die Ersetzung der Semiologie durch Grammatologie „keineswegs bloß verbal“ nennt. Das sprachliche Zeichen „beherrsche“ die Semiologie „als das Haupt-Zeichen und generative Modell: als patron“. Die Herrschaftsmetapher wie auch das Projekt der Befreiung widersetzen sich dem „bloß verbalen“ Programm der Linguistik und seinem ebenso bloß verbalen Scheitern. Wie Nelson Goodman so schön sagt: the „metaphorical application of a label to an object defies an explicit or tacit prior denial of that label to that object“.¹¹ Um der Beherrschung der Semiologie durch das „Herrschafts-Zeichen“ der Sprache Widerstand leisten zu können, müßte es sich bei der Grammatogie um alles andere
Jacques Derrida, De la grammatologie (Paris: Minuit 1967), 74; dt. Grammatologie, übersetzt von Hans Jörg Rheinberger und Hanns Zischler (Frankfurt/M: Suhrkamp 1974), 88 – 89, in in gelegentlicher Abweichung von der dt. Übersetzung. Jacques Derrida, La dissémination (Paris: Minuit 1972), 220 ff.; in Anlehnung an die amerikanische Ausgabe von Barbara Johnson, Dissemination (Chicago IL: University of Chicago Press 1981), 220 ff. Nelson Goodman, Languages of Art (Indianapolis IA: 1968/ London: 1969), 69; dt. Übersetzung von Jürgen Schläger, Sprachen der Kunst (Frankfurt/M: Suhrkamp 1973), 78.
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als eine „bloß verbale“ Veranstaltung handeln – was nichts daran ändert, daß die Ersetzung von Semiologie durch Grammatologie zunächst nichts als eine solche verbale Veranstaltung bleibt. Die syntaktische Struktur, die der Begriff der Grammatologie meint und in der Ersetzung der Semiologie nutzt, markiert nichts als verbale Stellen, deren semantische Besetzung offen ist; bei deren Besetzung eine Strategie am Werke ist, für die Grammatologie (nur) die neueste Metapher liefen. Als Metapher für Rhetorik bezeichnet Grammatologie eine Strategie, deren Rhetorik selbst wieder zweifelhaft bleibt; bleibt Grammatologie einer (‚logozentrischen‘) Strategie verhaftet, über die sie (‚metaphorisch‘) hinausweist.¹² Grammatologie, mit andern Worten, impliziert als Projekt eine ‚Figuralität‘, die Gegenstand einer Metaphorologie ist. Derrida selbst kommt diesem Problem am nächsten, wo er einige Seiten später die „Problematik der Spur“ erörtert. Ihr „Ort“ müsse – entsprechend der Metaphorik der „Verschiebungen“ und „Ersetzungen“ – in „unaufhörlicher Bewegung“ gedacht werden: Wenn die Wörter und die Begriffe nur in differentiellen Verkettungen sinnvoll werden, so kann man seine Sprache und die Wahl der Ausdrücke nur innerhalb einer Topik und im Rahmen einer historischen Strategie rechtfertigen. (De la grammatologie 122/102)
Eine derartige Topik, die Wörter in der Dynamik der Verschiebungen und Ersetzungen räumlich repräsentiert, ist seit alters Gegenstand der Rhetorik, wenngleich dort der dynamische Aspekt nur eindimensional entwickelt ist und von historischer Strategie nur eingeschränkt die Rede sein kann.¹³ Bei Saussure erläutert die Metapher der ‚Projektion‘ das Verhältnis von Diachronie und Synchronie; sie löst – eine andere Metapher zu gebrauchen – Diachronie in Synchronie auf, ist mithin Metapher der Katachrese, deren Resultat sie beschreibt. Für Derrida handelt es sich beidemal, in der alten Rhetorik wie in der neuen Linguistik, um Reduktionen, die er durch Tieferlegen der „Verräumlichung“ in eine „Urschrift“ als den Ort aller „Differenz“ zu vermeiden sucht. Er postuliert seinen „Gedanken der Spur“ jenseits jeder „Phänomenologie der Schrift“ – einschließlich der Sprache, sofern Sprache (Saussure selbst zu zitieren) „nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts“ ist.¹⁴ Der Titel seiner Grammatologie motiviert dieses Anselm Haverkamp, „Beyond Rhetoric: Theories of Metaphor“, übersetzt von Cathy Caruth, Texte: Revue de Critique et de Théorie littéraire 3 (Toronto 1984), 241– 260: 259. Vgl. Klaus Dockhorn, „Epoche, Fuge und Imitatio“ (1966), Macht und Wirkung der Rhetorik (Bad Homburg: Gehlen 1968), 105 – 124. Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale (1916), dt. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von Herman Lommel (1931), hg. Peter von Pohlenz (Berlin: de Gruyter 1967) 16; zit. De la grammatologie 99 – 100/ Grammatologie 119.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
Postulat in einer Strategie der historischen Anknüpfung, in der Hintergehung der rhetorischen Topik durch eine ‚grammatische‘ Metaphorik avant la lettre, deren ‚logische‘ Assoziation eine tiefgreifende Umgewichtung im alten Trivium von Logik, Grammatik, Rhetorik suggeriert.¹⁵ Die in Derridas Projekt der Grammatologie postulierte Strategie ist Gegenstand von Blumenbergs Metaphorologie; sie reflektiert die rhetorische Vergangenheit des topischen Modells und macht im Vorhaben „einer metaphorologischen Paradigmatik“ die historische Dynamik thematisch, der Derridas Titel – eingestandenermaßen – erliegt.¹⁶ Der Titel Paradigmen zu einer Metaphorologie, könnte man sagen, interpretiert das rhetorische Modell quasi grammatologisch, indem er es am grammatischen Modell mißt. Der Paradigmabegriff terminologisiert die grammatologische Metapher; er ist Metapher der Katachrese, die sie intendiert (Kap. VIII: „Terminologisierung einer Metapher: Wahrscheinlichkeit“). Wie Thomas Kuhn, mit dem er gleichzeitig über den Modellfall aller Paradigmawechsel schrieb, nutzt Blumenberg die Analogie zum grammatischen Paradigma, die zu aller erst Lichtenberg auf Kopernikus angewandt hatte. Kuhn übernahm den Paradigmabegriff aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, in denen Lichtenberg eine untergründige Rolle spielt.¹⁷ In der ‚Grammatik‘ von Sprachspielen fungiert ein Paradigma als exemplarische Instanz für einen Wortgebrauch, der an ihm gelernt wird. Derart hat nach Lichtenberg die moderne Wissenschaft von der kopernikanischen Revolution gelernt: „das kopernikanische System“, heißt es in seinen Vorlesungen, sei „gleichsam das Paradigma, nach welchem man alle übrigen Entdeckungen deklinieren sollte“. Blumenbergs Kommentar läßt keinen Zweifel, wie weit Lichtenberg hier Wittgenstein vorgearbeitet hat: Dem wissenschaftlichen Paradigma vom Typus des kopernikanischen geht voraus das Paradigma, das die Sprache für alles Denken liefert. Von diesem Gedanken ist Lichtenberg beherrscht, und er hat gesagt, daß unsere ganze Philosophie Berichtigung des Sprachge-
Paul de Man, „Semiology and Rhetoric“ (1973), Allegories of Reading (New Haven CT: Yale University Press 1979), 3 – 19: 8; The Resistance to Theory (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1986), 5 f. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), Einleitung (Kommentar 246– 249). Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago IL: University of Chicago Press 1962, 2nd ed. 1970), 44 (Kap. V: „The Priority of Paradigms“). Stephen Toulmin, Human Understanding I (Oxford: Oxford University Press 1972), 106.
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brauchs und damit Berichtigung der allgemeinsten immer schon vorhandenen Philosophie sei.¹⁸
In der philosophischen Sprachanalyse gewinnt der Paradigmabegriff seine Bedeutung, wo der Sprachgebrauch von den Gebrauchsbestimmungen einer exemplarischen Einführungssituation abhängig gemacht wird: „In calling my exemplary situation a paradigm“, erläutert Max Black, „I am therefore claiming that it is used as a standard for the correctness or application or the expression in question“.¹⁹ Als exemplarisches Beispiel (‚exemplary instance‘) für die korrekte Anwendung von Regeln liefert das grammatische Paradigma den paradigmatischen Fall (‚paradigm case‘) für Lernprozesse. Die paradigmatische Funktion des grammatischen Schulbeispiels beim Lernen einer Deklination wird selbst paradigmatisch dafür, „daß die umgangssprachliche Redepraxis jeder anderen sprachlichen Praxis eine gemeinsame Lehr- und Lernsituation voraus hat“, die Kuhns Anwendung des Pandigmabegriffs die Ausgangsbedeutung des gemeinsamen Beispiels (‚shared example‘) verleiht.²⁰ Was exemplarisch sei an Beispielen, erfährt im Paradigmabegriff sowohl eine konkrete Eingrenzung hinsichtlich der Struktur, als auch eine metaphorische Ausweitung hinsichtlich der Funktion, in der die Paradigmen „Instrumente“ sind, wie Wittgenstein sagt, die einem Sprachspiel als „Muster“ dienen: „nicht Dargestelltes, sondern Mittel der Darstellung“ (Philosophische Untersuchungen, § 50).²¹ Kuhns Paradigmen beschreiben nicht („not quite“, sagt er) grammatische Strukturen, sie benutzen Grammatik als Hintergrundmetapher eines rhetorisch sekundär strukturierten Lernprozesses, für den Grammatik als Modell postuliert wird. Blumenbergs Gebrauch der Paradigmametapher kehrt hervor, was die Übernahme dieses Begriffs bei Kuhn motiviert: das stille Wissen (‚tacit knowledge‘), das die Praxis jeder Theorie voraussetzt und als implizite Metaphorik fungiert, auf die sich die theoretische Praxis stillschweigend verläßt. Das pragmatische Funktionieren impliziter Metaphern beruht nicht auf methodischer Reflexion, sie erspart sie dort, wo Methode zu aufwendig wird. Black hat unter dem Titel Models
Hans Blumenberg, „Beobachtungen an Metaphern“, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161– 214: 198, auszugsweise unter dem Titel „Paradigma grammatisch“, Wirklichkeiten in denen wir leben 157– 161: 159, und Ästhetische und metaphorologische Schriften 172– 176: 174. Max Black, „Making Things Happen“ (1958), Models and Metaphors (Ithaca NY: Cornell University Press 1962), 153– 169: 158. Jürgen Mittelstrass, Die Möglichkeit von Wissenschaft (Frankfurt/M: Suhrkamp 1984), 202. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Oxford: Blackwell 1953), Schriften I (Frankfurt/M: Suhrkamp 1963), 316 (§ 50). Vgl. Gunter Gebauer, Wortgebrauch, Sprachbedeutung (München: Fink 1971), 27.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
and Metaphors die kognitive Leistung von Metaphern beschrieben und die ökonomische Funktion der Modelle herausgearbeitet, die aus ihnen abgeleitet sind. Blumenberg spricht im selben Sinne von ‚Hintergrundmetaphern‘, die als Modelle Implikationsmuster darstellen und Rahmenbedingungen indizieren, nicht definieren. Für Kuhn wie für Blumenberg sind Paradigmen in dieser Funktion inkommensurabel, wenngleich für beide diese Inkommensurabilität auch problematisch bleibt. Nicht von ungefähr hat Karl Popper gegen Kuhn die linguistische Analogie der Übersetzung ins Feld geführt, und Kuhn diesen Einwand mit dem Hinweis auf die mangelhafte Wortwörtlichkeit (‚literalness‘) möglicher Übersetzungen abgewiesen.²² Es fehlt, mit Derrida zu reden. die „historische Strategie“, mit Wittgenstein zu reden, das „Mittel der Darstellung“, wodurch das historisch Inkommensurable kommensurabel zu machen wäre. Die allenfalls metaphorische Kohärenz der Paradigmen schlägt im Fall eines Paradigmenwechsels als irreduzible Hypothek zu Buche. Es ist insbesondere Black, der sehr genau den Umfang und die Ausarbeitung eines Paradigmas als einen Prozeß der metaphorischen Applikation beschrieben und bei dieser Gelegenheit die rhetorische Macht (‚power‘) eines Paradigmas illustriert hat: The exemplary instance […] functions as a prototype for the derivative uses. We continue to model descriptions of cases remote from the prototypes upon the simpler primitive cases, often by using metaphors literally applicable only to these clear cases. (Making Things Happen 158).
Der Prozeß der Wucherung (‚proliferation‘) den Paul Feyerabend unter der Maxime „Anything goes“ verkauft, zielt auf die Erschöpfung der metaphorischen (Applikations‐) Möglichkeiten eines Paradigmas. Black wie wiederum Blumenberg bestätigen Kuhns Verdacht, daß Wortwörtlichkeit nicht das Kriterium sein kann, denn es ist die Metapher, die letzten Endes die Flexibilität eines Paradigmas ausmacht – und nicht einmal die Metapher führt über seinen Rand hinaus.²³ Michel Foucaults Ordnung der Dinge schließlich, deren Rekonstruktion seiner eigenen Vorzugsmetaphorik zufolge eine „Archäologie des Wissens“ sein soll,
Karl Popper, „Normal Science and its Dangers“, und Thomas Kuhn, „Reflections on my Critics“, beide in Criticism and the Growth of Knowledge, hg. Imre Lakatos und Alan Musgrave (Cambridge UK: Cambridge University Press 1970), 51– 58 bzw. 231– 278: 56 und 267. Vgl. meine Präzisierung in diesem Punkt „Paradigma, Metapher, Äquivalenz: Poetik nach Aristoteles“ (2014), Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles (Berlin: Kadmos 2015), 19 – 39; engl. „Equivalence unbalanced: Metaphor, case, and example from Aristotle to Derrida“ (2015), Productive Digression: Theorizing Practice (Berlin/ Boston: De Gruyter 2017), 1– 13.
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geht Derridas Projekt unmittelbar voraus: er charakterisiert die Kohärenz der ‚Epistemen‘, wie die Paradigmen (und Paradigma-Konstellationen) bei ihm heißen, nach der ihnen zugrundeliegenden rhetorischen Strategie, ihrer figuralen Konstruktion. Davon ist bei ihm freilich nicht ausdrücklich die Rede. Da diese Archäologie ihrerseits phänomenologisch fundiert ist, stellt sie sie als eine Archäologie der Darstellung (‚representation‘) heraus, deren Modalitäten für die diskursive Praxis jeder Episteme konstitutiv sind.²⁴ Die Reihe der Epistemen, die sie vom 16. bis zum 20. Jahrhundert durchgeht, erscheint als eine Reihe inkommensurabler Paradigmen und als Verfallsgeschichte der Repräsentation in einem – einer Verfallsgeschichte, die als historischer Horizont fungiert, vor dem der Wandel diskursiver Praxis stattfindet. Es ist diese Horizontfunktion der Phänomenologie für die Sprachanalyse, die Derrida in der Metapher der Spur zu fassen sucht, und Blumenberg in der Metaphorologie zum methodischen Gegenstand macht. Für Foucault wie für Kuhn und Blumenberg steht die Inkommensurabilität der Paradigmen (ihre Unübersetzbarkeit) außer Zweifel. Im Unterschied zu Blumenberg aber, für den sich in den Paradigmenwechseln der Neuzeit der „Prozeß der theoretischen Neugierde“ abspielt (mit der zugehörigen Rhetorik der Aufklärung), setzt sich für Foucault in der Ablösung der Epistemen (in Gestalt von ‚Transkriptionen‘) eine reduktive Tendenz durch, deren fortschreitender Verlust an kognitivem Gehalt dem Verfall repräsentativer Kohärenz anzulasten ist. Ohne die phänomenologischen Prämissen der Repräsentation, so lautet das methodische Fazit, kein archäologischer Zugang zur Geschichte. Nur über einen sprachanalytischen Zugang, wäre die Alternative, historischer Aufschluß über die Weisen der Repräsentation. Soweit die einschlägigen Modelle der metaphorischen Organisation von Paradigmen, die in dieser ihrer diskursiven Ordnung Kohärenz gewinnen. Die Differenz zeitgenössischer Strömungen, von Phänomenologie (Blumenberg, Foucault) und analytischer Philosophie (Black, Kuhn), scheint überbrückbar angesichts jener gemeinsamen historischen Hypothek, die Paradigmawechsel heißt. Blacks und Blumenbergs Bewußtsein von den rhetorischen Einflüssen, die untergründig wirksam geblieben sind, wird konterkariert von Kuhns und Foucaults Bewußtsein der historischen Brüche, die in unüberbrückbarer Inkommensurabilität resultieren – selbst wieder paradigmaspezifische Varianten einer gemeinsamen historischen Alternative, wie es scheint. Jean Piaget der als einer der ersten die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeiten zwischen Kuhn und Fou-
Michel Foucault, Les mots et les choses (Paris: Gallimard 1966); dt. Die Ordnung der Dinge (Frankfurt/M: Suhrkamp 1971). Francois Wahl, „La philosophe entre l’avant et l’apres du structuralisme“, Qu’est-ce que le structuralisme? (Paris: Seuil 1968), 329 – 441: 343 ff.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
cault gelenkt hat, vermißt bei beiden das transformative Moment, ohne das die Konzeption von Paradigmen und Epistemen epistemologisch zu Mustern ohne Wert führe. In seinem Strukturalismus-Referat stehen beider Theorien unter der Überschrift eines „Strukturalismus ohne Strukturen“; über Foucault insbesondere heißt es dort, seine Systeme seien nur „figurative Schemata“: Die aufeinanderfolgenden Epistemen lassen sich nicht, weder formal noch auch nur dialektisch auseinander ableiten, weil sie durch keinerlei Stammreihe, weder eine genetisehe noch eine historische, auseinander hervorgehen. Mit anderen Worten., das letzte Wort einer Archäologie der Vernunft ist, daß sich die Vernunft grundlos transformiert und daß ihre Strukturen durch zufällige Mutationen oder augenblickshafte Emergenzen auftreten und verschwinden, etwa nach Art des biologischen Denkens vor dem kybernetischen Strukturalismus.²⁵
Ich will hier nicht die Familienähnlichkeit in der Metaphorik der biologischen Mutation und der politischen Herrschaft untersuchen, die beide gleichermaßen zu einer Rhetorik der Naturwüchsigkeit historischer Prozesse gehören.Wesentlich ist allerdings die Verlegenheit, die durch diese Naturwüchsigkeit behoben wird. Blumenberg hat den entscheidenden Punkt in seiner Differenz zu Kuhn wie folgt festgehalten: „Mein Zweifel bezieht sich auf die Vernachlässigung der Kontinuität als Voraussetzung jeder möglichen Diskontinuität“ (Genesis 596). Das mag irreführend formuliert sein: als gehe es zwischen Konservativen und Fortschrittlichen um die Erhaltung von Kontinuität vs. das Risiko des Bruchs. Tatsächlich betont Foucaults Metapher der ‚Transkription‘ die Identität der umgeschriebenen Kontexte, Derridas Metapher der ‚Syntax‘ die Identität der in diesen Kontexten umbesetzten Stellen. Die Arbitrarität der Brüche wie die Unentscheidbarkeit der Bruchstellen stellt einen allzu schlichten Begriff von Kontinuität in Frage, nicht aber die Voraussetzung möglicher Diskontinuität. Die Identität eines Stellenrahmens von Umbesetzungen, den Derridas Rede von quasi ‚syntaktischen Funktionen‘ meint, und den Foucaults Insistieren auf Umschreibungsprozessen voraussetzt, garantiert Übertragungsmöglichkeiten, wo Diskontinuität Kontinuität unterbricht. Die phänomenologische Seite des Problems, wie es sich in Foucaults Behauptung „historischer Aprioris“ darstellt und später im „historischen Kalkül“ Derridas von der Spur auftaucht, wird in Blumenbergs Metaphorologie unter dem Titel einer ‚Metakinetik‘ der Umbesetzungsvorgänge abgehandelt, die im Prozeß der Traditionsbildung zur Schaffung von Kontinuität quasi rhetorisch wirksam
Jean Piaget, Le structuralisme (Paris: PUF 1968), 114; dt. Der Strukturalismus (Olten: Walter 1973), 129, in Abwandlung der dt. Übersetzung.
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sei. Zwar hält sich Blumenberg weitgehend an eine phänomenologische Hintergrundmetaphorik und postuliert in der Tat eine „Phänomenologie der Geschichte“ (Wirklichkeiten 6), wenn er von der „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ spricht (Paradigmen 16). Aber indem er die Metakinetik in Termini einer Metaphorologie faßt, gewinnt er dem rhetorischen Vokabular mehr ab als nur ein Beschreibungsinventar historischer Abläufe. Seine „anthropologische Annäherung“ zielt auf eine Meta-Rhetorik, die Derridas Kritik einer logozentrischen Auffassung von Geschichte vorwegnimmt. Es scheint mir eine bloße Frage des Explizierens von etwas, das implizit längst auf dem Tisch liegt: Die Differenz der Schrift und die in ihr konstituierte Spur, die in Derridas Grammatologie für Bewegung sorgt in der Geschichte (De la grammatologie 99/ 119), ist in Blumenbergs Metaphorologie eine eher ‚triviale‘ Voraussetzung.²⁶ Denn noch nicht das ‚Urphänomen‘ Schrift, sondern erst Textualität als ein historischer Tatbestand: erst die Spur als ‚institutionalisierte‘ ermöglicht jene Metakinetik hermeneutischer Horizonte, in der sich Paradigmen wie Epistemen voneinander abheben und absetzen, und die Organisation historischer Diskursformationen variiert. Über die Muster der Variation, die Mechanismen der Transformation etwa, eine Logik der Entwicklung womöglich, herrschen nichts als Spekulationen. Symptomatisch, daß Hayden Whites Metahistory von der Rhetorik nicht der Geschichte handelt. sondern sich auf die Stilistik der Geschichtsschreibung beschränkt: der Geschichtsbücher, die paradigmatische Geltung gewonnen haben für die Geschichtswissenschaft.²⁷
II. Foucault/White, Burke/Black Was die Paradigmatik der Metaphorologie offenläßt, das Problem der Inkommensurabilität der Paradigmen. verlangt im Projekt der Metakinetik Meta-Rhetorik: eine Typologie der Figuralität, in der die implizite Metaphorik der Paradigmen und Epistemen unterschieden ist als je inkommensurable Rhetorik einer historisch-diskursiven Praxis (der „Rhetorik der Aufklärung“ etwa, der die „Dialektik der Aufklärung“ in „bestimmter Negation“ begegnet). Das reduktive Moment der Verfallsgeschichten wäre als figurales Moment der Metakinetik selbst zu bestimmen. Doch damit greife ich vor. Vorab sind Einschränkungen am Platze. Soweit habe ich sorglos die Praxis der Theorie, wie sie Gegenstand bei Kuhn und
Ich sehe hier noch ab von „La Mythologie blanche“ (1971), Marges—De la philosophie (Paris: Minuit 1972), 247– 324: 272 f. und „Ousia et Grammè“ (1968), Marges 31– 78: 69, 77. Hayden White, Metahistory (Baltimore MD: The Johns Hopkins University Press 1973), 31 ff.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
Foucault ist, analog behandelt zur Praxis der Diskurse im allgemeinen; sie ist soweit selbst paradigmatisch zu nehmen, und es fragt sich, wie weit dies Paradigma reicht. Die Modellqualitäten, deren Transfer derart in Frage steht, liegen im Umfeld von Textualität, von der bloße Diskursivität zu unterscheiden wäre. Diese Textualität indessen reflektiert eine, wie Blumenberg mit Popper übereinstimmt, ‚logische Situation‘ mit samt ihren historisch bestimmten ‚Aporien‘.²⁸ Gleichwohl ist das, was theoretische Praxis so exemplarisch macht, so daß sich „fast wie im Präparat, mit größerer Deutlichkeit“ beobachten läßt, „was in diffuseren Formen der Manifestation den geschichtlichen Prozeß überhaupt in Gang hält“, das Zeugnis insbesondere theoretischer Texte im Verhältnis zu einer Praxis, das als Modell für Textualität steht (Aspekte 16). Da literarisch besehen ein solches Verhältnis mindestens fraglich erscheint (als Stein des Anstoßes oder Stein der Weisen), wäre dies Präparat literaturwissenschaftlich besonders problematisch. Da es sich hier um die jeder Textualität implizite Historizität handeln soll, mag ein solcher Schein auch trügen. Ich lasse es bei derartigen Vermutungen, die im Vorgriff auf das operieren, was erst zu klären ist, und wende mich einem Beispiel zu. In einer eigentümlich grob geschnittenen, aber wirkungsvollen Kritik an Foucaults Ordnung der Dinge operationalisiert White einen solchen Vorgriff, der sich auf Kenneth Burkes „Four Master Tropes“ beruft und bis auf Vico zurückverfolgt wird.²⁹ Für White ist es eine ausgemachte Sache, daß es in Foucaults Folge der Epistemen ein „transformationelles System“ gibt, „even though Foucault appears not to know that it is there“: The human sciences as they unfold between die sixteenth and twentieth century, can be characterized in terms of their failure to recognize the extent to which they are each captive of language itself, their failure to see language as a problem.³⁰
Offenbar ist White darauf aus, die phänomenologische Schwäche Foucaults auszugleichen und greift zu diesem Zweck zu den Mitteln der Rhetorik. An der Stelle historisch gegebener Darstellungsweisen (Foucault) sieht er rhetorische Muster der Figuralität am Werk (Vico). Was bei Foucault qua ‚Repräsentation‘
Vgl. Karl Popper, Objective Knowledge (Oxford: Oxford University Press 1972), Kap. IV. Kenneth Burke, „Four Master Tropes“ (1941), A Grammar of Motives (Berkeley CA: University of California Press 1945, 1962), 503 – 517.Vgl. Hans Kellner, „The Inflatable Trope as Narrative Theory: Structure or Allegory?“ Diacritics 11 (1981), 14– 28. Hayden White, „Foucault Decoded“ (1976), The Tropics of Discourse (Baltimore MD: The Johns Hopkins University Press 1980), 230 – 260: 251.
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einer kontingenten Verfallsgeschichte unterliegt, zeigt nach White die Merkmale rhetorischer Variation. Es mag sein, daß White Foucaults Pointe verfehlt; das Problem verfehlt er darum nicht. Die rhetorische Vielfalt von How to do things with words (Austin vorausgesetzt) deren Muster er (treffend) in Les mots et les choses identifiziert, und deren Abfolge er (irrtümlich) in der „Ordnung der Dinge“ angelegt findet, läßt sich sowenig Vico in die Schuhe schieben wie Foucault selbst. (Eine Rekonstruktion Vicos im Problemhorizont der zeitgenössischen Rhetorikdiskussion wenigstens seit Vossius bleibt ein Desiderat.) White hegelianisieriert Vico, um sich desto sicherer Hegels entledigen zu können, und er leitet aus dieser Reduktion ein handliches Instrument her, das der Analyse nach-hegelscher Geschichtsschreibung dienen soll. So will er die seit Ramus notorischen und spätestens seit Vossius kanonischen „Four Master Tropes“ von Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie (Vicos Version) in Abfolge der von Foucault behandelten Epistemen identifizieren, ohne damit mehr zu erreichen als eine Illustration des reduktiven Trends, den Foucault interpretiert als Niedergang der Repräsentation. Der sattsam bekannte Fortschritt „vom Mythos zum Logos“ erwiese sich als eine Figur der ‚Wiederkehr des Gleichen‘. Es handelte sich bei White nur um den Gemeinplatz ‚Vico‘, den Begründer der histori(sti)schen Mythenkritik. Nun verhält es sich allerdings so, daß in Vicos Kritik der Rhetorik der Mythos eine „univoke Allegorie“ ist.³¹ Das ist eine in sich unmetaphorische Welt, die erst nachträglich (und in Termini der Rhetorik) eine metaphorische Erklärung erfährt und in Analogie zu einer späteren Eigentlichkeit (‚literalness‘) erst interpretativ erschlossen wird. Die Interpretation des Mythos mithin verfährt metaphorisch, während der Mythos selbst (bevor er zum Mythos wurde) nie etwas anderes als eigentlich (‚literal‘) gewesen wäre. Bei Goodman sehen wir dieses Argument auf den neuesten Stand gebracht: Is a metaphor, then, simply a juvenile fact, and a fact simply a senile metaphor? (…) Metaphorical possession is indeed not literal possession; but possession is actual whether metaphorical or literal. The metaphorical and the literal have to be distinguished within the actual. Beispiel: „Calling a picture sad and calling it gray are simply different ways of classifying it.“ Anmerkung: „Of course, where sad applies metaphorically, metaphorically sad applies literally“ (Languages of Art, 68 und 70/78 und 79, mit Anm. 20).
Die Austauschbarkeit der Prädikate, die Virtualisierung ihrer Zuschreibungen, zuletzt die Reversibilität des metaphorischen Prozesses zeigt eine neue Stufe der
So die schlüssige Diagnose von Ferdinand Fellmann, Das Vico-Axiom (Freiburg/Brsg: Alber 1976), 39.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
Nachträglichkeit, eine neue Qualität der Arbeit am Mythos an. Rhetorische Spezifikationen sind obsolet geworden und vom neuen Niveau der Analyse her nur mehr als ‚disseminativ‘ aufzufassen: als Sinnzerstäubungen, die Zwischenstufen, denen Foucaults Archäologie auf der Spur ist, unkenntlich machen. Metonymie kam ins Spiel, als das, was zuvor metaphorisch gelesen wurde, der bloßen Willkür überführt und als kontingent denunziert wurde. Erst in dieser Reduktion ersetzte die metaphorische Interpretation des Mythos den Mythos als ‚symbolische Form‘ und überlagerte eine scheinbar arbiträre Kontiguität, die tatsächlich erst als Konsequenz der metonymischen Reduktion zustande kam, ‚projiziert‘ war. Das strukturalistisch bewährte Paar Metapher und Metonymie entstammt dieser frühen Entgegensetzung eines späteren Symbolismus vs. Realismus. Einen Schritt komplizierter wird es, als die Synekdoche das ehedem Metaphorische in der nachträglichen Reduktion des Metonymischen entdeckt und im pars pro toto als ‚symbolisch‘ erkennnt.³² Die Überlagerung (‚superimposition‘) von Kontiguität durch Similarität als im genaueren Sinne symbolische Operation ist denn auch die Quintessenz Jakobsons: „Similarity superimposed on contiguity imparts to poetry its throughgoing symbolic, multiplex, polysemantic essence“.³³ Jakobson zitiert nicht von ungefähr Goethe, „Alles Vergangene ist nur ein Gleichnis“; man kann sein Theorem als die genaueste Interpretation dieses Satzes lesen. Obwohl seine Definition historisch höchst einseitig ist, macht sie doch klar, von welcher Art das kognitive Potential der poetischen Sprache ist. Am klassischen Paradigma (wiewohl mit klassizistischen Implikationen) begründet sie einen veritablen Paradigmawechsel von der Praxis vor-poetischer (hier etwa auch theoretischer Diskurse) zu einer eigenen Praxis poetischer Sprache. Auf Grund ihres Mehrwerts an ‚Textualität‘ qua Überlagerung (‚Intertextualität‘) ist das Paradigma der poetischen Praxis dem der theoretischen Praxis überlegen (oder auch: unterlegen). Dies in eben dem Sinne, daß der poetische Text eine ‚Lage‘ Interpretation mehr (oder: zuviel) hat, und seit er sie mehr (bzw. zuviel) hat; während der theoretische Text der metonymischen Reduktion unterworfen bleibt und der ‚contiguity illusion‘ verfällt (der Rhetorik der Aufklärung erliegt).³⁴
Vgl. Paul de Man, „The Rhetoric of Temporality“ (1969), Blindness and Insight (Minneapolis MN: University of Minnesota Press, 2nd ed. 1983), 187– 228: 191. Roman Jakobson, Closing Statement „Linguistics and Poetics“, Style in Language, hg. Thomas Sebeok (Cambridge MA: MIT Press 1960), 350 – 377: 370. Decio Pignatari, „The Contiguity Illusion“, Sight, Sound, and Sense, hg. Thomas Sebeok (Bloomington IA: University of Indiana Press 1978), 84– 97.
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Die Ironie schließlich verdiente als Gegenbewegung zur Allegorie von Vossius bis Vico besondere Aufmerksamkeit.³⁵ Sie reflektiert die verschiedenen Phasen der figuralen Konstruktion und verhält sich in der Nachträglichkeit dieser Reflexion ‚romantisch‘. Es liegt auf der Hand, weshalb die Ironie – als Einstellung zum Leben wie auch als Einstellung eines Schreibens, das sich supplementär verhält zum Leben – zum vorherrschenden Begriff der Ästhetik wird wie auch zum vorherrschenden Modus der Fiktion. Die ehemals allegorische Konstruktion des Mythos findet in der Ironie ihr dekonstruktives Prinzip.³⁶ Es wird spätestens im metonymischen Gegenzug zur allegorischen Lektüre wirksam und findet als ‚heimliche Ironie‘ (Baumgartens figura cryptica) seine vor-romantische Ausprägung. Innerhalb der Ironie blieben dann freilich Unterscheidungen zu diskutieren, insbesondere ihre universelle Einschlägigkeit für den nach-romantischen literarischen Diskurs, die einer vergleichbaren Rolle der Metapher im theoretischen Diskurs nahekommt. Als intertextuelles Modell stellt sie die Umkehrung des Jakobsonschen Überlagerungsprinzips dar: nicht mehr Similarität über Kontiguität, sondern Kontiguität über Similarität, ‚metonymische (nicht mehr ‚metaphorische‘) Intertextualität‘ löst ein ehedem Symbolisches in der Willkür (oder Freiheit) historischer Ironie auf.³⁷ Die alte rhetorische Terminologie ist allerdings von zweifelhaftem Wert bei der Beschreibung derartiger Überlagerungen. Harold Bloom hat deshalb unter dem glücklichen Sammeltitel des ‚re-troping‘ neue Namen eingeführt, die ihrerseits als Ablösungs- und Anknüpfungsfiguren ein ‚retroping‘ des gesamten Ensembles der rhetorischen Figuren darstellen.³⁸ Wieweit das Paradigma der Überlagerung reicht und wie groß die Variationsbreite des ‚retroping‘ anzusetzen wäre, steht dahin. Ich zitiere diese Versuche als durchaus ungewisse Beispiele eines metaphorologischen Experimentierens, das über das Feld der poetologischen Praxis hinaus wenig Plausibilität beanspruchen kann. Ich glaube ohnehin nicht, daß die rhetorische Terminologie – sei es auch in der fortgeschrittenen Raffinesse linguistischer Reformulierungen einer „Neuen Rhetorik“ (oder Rhétorique generale) – mehr als ein heuristisches Hilfsmittel sein kann, das für die Sachlage der Textualität allererst eingerichtet werden muß. Die analytische Raffinesse andererseits, die etwa in Blacks Differenzierung von Modellen und Metaphern, von Paradigmen, Prototypen und Archetypen an-
Vgl.Vossius, „Rhétorique de l’ironie“, hg. Catherine Magnien-Simonin, Poétique 9 (1978), 495 – 508. Northrop Frye, Anatomy of Criticism (Princeton NJ: Princeton University Press 1957), 90 f. Vgl. Paul de Man, zuletzt in einem Interview, The Yale Review 73 (1984), 576 – 602: 581 ff. Vgl. Renate Lachmann, „Metonymische Intertextualität“, Poetik und Hermeneutik XI (1984), 517– 523. Vf. „Lauras Metamorphosen“, DVjs 58 (1984), 317– 346, Teil II. Harold Bloom, A Map of Misreading (New York NY: Oxford University Press 1975), Kap. V.
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zutreffen ist, bietet durchaus heuristische Ansätze zur (Neu‐) Beschreibung der Mehrdimensionalität von Überlagerungen samt der in diesem Überlagerungsprozeß freigesetzten ‚Interaktionen‘ (‚Abdeckungen‘, ‚Filter‘ usw.).³⁹ Derridas ‚Dissemination‘ wäre an Blacks Interaktionstheorie zu instrumentalisieren … Bereits die ältere Hoffnung einer Philosophie des Als ob, die Hans Vaihinger seinerzeit geweckt und genährt hatte, war vom dem heuristischen Wert alter, überholter Theorien für die Konstruktion neuer Theorien ausgegangen. Nicht deren propositionaler Gehalt und hypothetischer Ertrag sei wichtig, aber die Funktionen, die sie erfüllten und weiterhin darstellen.⁴⁰ Indem sie lesbar bleiben, gewinnen sie ein neues Potential. Jenseits des Interesses an historischen Problemsituationen, die Popper den paradigmatischen Fall in die Ewigkeit (von ihm sogenannter) „dritter Welt Probleme“ erheben helfen (‚symbolisch‘), sind Vaihingers „heuristische Fiktionen“ als „tropische Fiktionen“ Teile einer historischen Strategie, wie sie auch Derrida im Auge hat. Heuristische Fiktionen ermöglichen eine produktive Aneignung dessen, was nachträglich erschöpft und aporetisch scheint. Sie sind deshalb mehr als nur forschungspsychologische ‚pretexte‘ einer Logik der Forschung. Die Flexibilität in der metaphorischen Anwendung (im Sinne von Black), durch die sich ein Paradigma in seinen Möglichkeiten erschöpft (‚proliferation‘), ist gewiß nützlicher (fruchtbarer in der Rhetorik der Naturwüchsigkeit), als es das Bewußtsein von nachträglicher Willkür zugeben kann (‚contiguity illusion‘). Doch die Sache so darstellen, heißt wieder lediglich ironisch die Mechanismen der Reduktion bloßlegen, die eine weithin unreflektierte Logik der Forschung umsetzen: als ‚reflexive Mechanismen‘ sind sie in ‚reduktive Mechanismen‘ abgesunken, um durch die Ironie der Systemtheorie ihrer ehemaligen Reflexivität allenfalls erinnert zu werden. Die aufgeklärte Zuflucht der ‚contiguity illusion‘ zu Stimulus-response-Geschichten kann das Problem der Inkommensurabilität der Paradigmen nicht kommensurabler machen; sie fällt in eine narrative Problematik zurück, die ihre figurale Dimension verkennt und als ‚structural allegory‘ wieder auftaucht.⁴¹ Mit anderen Worten ist Metonymie eine andere, keine bessere Figur, die – indem sie zur Metapher reduziert – diese nicht aus der Welt schafft. Sofern sie die Synekdoche prompt provoziert, produziert sie – pars pro toto – das
Max Black, „Metaphor“ (1954), Models and Metaphors, 25 – 47; „More about Metaphor“, Dialectica 31 (1977), 431– 457; dt. beides in Theorie der Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Darmstadt: WBG 1983). Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob (Berlin: Reuther und Reichhardt 1911, 5. und 6. Aufl. Leipzig: Meiner 1920), 39 ff. und 54 ff. John Fekete (Hg.), The Structural Allegory (Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1984), Introduction XVIII f.
Zur Metakinetik hermeneutischer Horizonte
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Paradigma. Kuhns wissenschaftstheoretische Bedeutung wie auch sein Erfolg läge im Figurenwechsel von der Metonymie zur Synekdoche – ein ‚gestalt-switch‘.
Doppelter Nachtrag: Metaphorologie, Grammatologie, Latenz Am Ort ihrer Erstpublikation (anders als am Ort ihres allgemeineren ersten Anlasses), einer geschichtstheoretischen Diskussion der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, hatte die vorstehende Skizze eine begrenzte Aufgabe in ihren Grenzen zu halten, und das war zuvörderst, die vakante Stelle der Blumenbergschen Metaphorologie parat zu halten (1986). Dabei ist der konkurrierende, weiterführende Ansatz Derridas in unangemessene Reserve gerückt. Das betrifft nicht nur und nicht so sehr das raffiniertere Design der ‚mythologie blanche‘, das sich vergleichsweise leicht abtrennen ließ, sofern es den Paradigmen der Metaphorologie das mythenähnliche Phantom ihrer selbst nur hinzugefügt, vor- oder eingezeichnet hätte. Es betrifft mehr und entscheidender, das in der superben metaphysik-kritischen Pointe der ‚Quasi-Metaphorizität‘ verborgene Prinzip der ‚Infrastrukturen‘, die zur selben Zeit von Rodolphe Gasché ausgearbeitet worden sind. So kann meine quicke Unterstellung, das Projekt der Grammatologie impliziere „eine ‚grammatische‘ Metaphorik avant la lettre“, das heißt einen (Vor‐) Begriff von Grammatik, der vor das ‚gramma‘ zurückgeht, und also auch eine andere Logik als die, welche das Trivium trivialer Weise zusammenhält, zwar „das ‚Urphänomen‘ Schrift“ mit einigem Recht als die ebenso triviale (nämlich dem Trivium zuzurechnende) flip-side der selben Münze abtun. Aber sie vertut und unterschätzt damit (jedenfalls für den Moment) die infrastrukturelle Ausarbeitung, die vor und unter jeder „phenomenology of meaning“ („that is“, präzisiert Gasché, „in short, phenomenology“) die in dieser bewältigte vor-logische (vorkategorematische, vor-syntaktische, vor-semantische) Differenzialität zum Gegenstand hat und deren Verleugnung (nicht sie selbst) der quasi-triviale Anteil von Phänomenologie ist. Immerhin riskiert Gasché es, ganz metaphorisch (und durchaus nicht ‚quasi-metaphorisch‘) von der „syntax of an infinity of ‚last‘, syntactically over-determined syntactical objectivities“ zu sprechen, das wäre also: „a radicalized, no longer phenomenologizable notion of syntax“.⁴² Damit wird jede weitere Syntax zu einer „re-markierten Syntax“, die in der Iteration die Rodolphe Gasché, The Tain of the Mirror: Derrida and the Philosophy of Reflection (Cambridge MA: Harvard University Press 1986), 249. Ich verdanke Rodolphe Gasché viele Einladungen zur Kontroverse, zu denen, last but not least, seine metaphorologische Kehre in der Fortführung Derridas zählt, „The Eve of Philosophy: On ‚Tropic‘ Movements and Syntactic Resistance in Derrida’s ‚White Mythology‘“, International Yearbook for Hermeneutics 13 (2014), 1– 22.
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16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma
differierende Markierung fortträgt: ein Nicht-Prinzip von Geschichte, das nicht (nur oder so sehr) Geschichtsformationen ausprägt, aber deren Transskriptionen antreibt. Gaschés Rückfall in die grammatische Metaphorik ist systemischer Art, bestätigt sie als Projekt ihrer selbst. Es ist nämlich das tiefergelegte, proto-syntaktische Paradigma latenter Metaphorizität, das die Metapher Paradigma manifest macht, zugleich aber auch metaphorisch transformierbar hält, nicht zu sagen: dekonstruierbar. Ich ziehe deshalb vor (Zusatz 2017), seine Latenz als das vorstrukturelle Moment einer Proto-Grammatik aufzufassen. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß an die Stelle, an der sich bei Husserl selbst die originäre Wahrnehmung durchhält, eine alles andere als originäre Syntax tritt, welche die unvordenkliche sprachlich-leibliche Verschränkung, die Gasché mit dem Chiasmus Merleau-Pontys im Blick hat, koordiniert und in folglich nicht weiter hintergehbaren proto-grammatischen Formen (als „no longer phenomenologizable notion of syntax“) parat hält. Das Parat-Halten der Phänomenologie beruht auf historischer Latenz. Die proto-syntaktische Vor-Struktur der Latenz, die eine jede in der Synchronie manifeste Syntax im differentiellen Prozeß der Iteration als remarkierte fortgeschrieben findet, macht aber nicht etwa eine ‚infinity‘ von grammatischen Überdeterminierungen unausweichlich; sie bestimmt nur – for better or worse – eine eigentümliche, historisch wechselnde, begrenzte Ökonomie der metaphorologischen Latenthaltung.
17 riverrun Quintilian… Vico‥ Joyce riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs ¹
Finnegans Wake, berüchtigt dafür, Alles zu enthalten, bietet eine ‚Theory of Everything‘ frei nach Vico, dessen ricorso als „commodious“ im ersten Satz eingeführt wird: „by a commodious vicus [Vico] of recirculation [ricorso]“ – eine Lesart, die Samuel Beckett vor der ersten und seither kanonischen Ausgabe des Werks in der Genealogie „Dante… Bruno. Vico.. Joyce“ bekannt gemacht hat.² Die Genealogie ist Joyces, nicht schon Vicos. Der modifier „commodious“ ist ein erster Indikator; im rhetorischen Lexikon heißt er convenientia und bezeichnet bei Joyce den modus des Übergangs der letzten Seite von Finnegans Wake zurück zur ersten Seite, die den letzten Satz im ersten zuende bringt und also als einen immer schon zuende gebrachten beweist. Bequem, convenienter, ist er im vorgeführten Fall, weil er – darin erfüllt er die Rolle des Autors – im bloßen Umblättern vom Ende zum Anfang desselben Buches besteht und in dessen Form den ricorso Vicos syntaktisch abbildet und mit vollzieht. Die Pointe, von der Beckett handelt, liefert ein pun: Finnegans Wake bietet das unausgesetzte Fließen – „riverrun“ – des „sintalk“, in dessen Syntax nach dem Sünden-Fall „past Eve and Adam“ alle Geschichte zu deklinieren ist. Die convenientia entspricht dem ungeschiedenen Nebeneinander im Fluß der Geschichte, der in metonymen Bahnen verläuft. Er ist tropen-generiert bei Joyce wie bei Vico: Der ricorso folgt einer „poetischen Logik“ von geschichtsbildener Kraft.³ Die poiesis unterliegt einem intrikaten Wechsel der
Beitrag zu dem von Judith Kasper und Cornelia Wild herausgegebenen Rezeptions-Projekt Rom rückwärts (München: Fink 2015), 103 – 106, das mir Gelegenheit gab, einen Überblick zu riskieren, der hier ergänzt ist um einige bibliographische Hinweise. James Joyce, Finnegans Wake (London: Faber and Faber 1939), Seite 1, erster Satz. Samuel Beckett, „Dante… Bruno. Vico.. Joyce“, Our Exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress (Paris: Shakespeare and Company 1929), 3 – 22. Die Punkte im Titel stehen für die zwischen den Namen stehenden Jahrhunderte (sagt man). Finnegans Wake erschien 1939, die Vorabdrucke unter dem Titel „Work in Progress“ 1926 und 1927. Giambattista Vico, La scienza nuova, terza impressione (1744), hg. Fausto Nicolini (Roma-Bari: Laterza 1952, 1974), I: 191– 196 (2.2.2); dt. Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur https://doi.org/10.1515/9783110486377-018
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Tropen und Töne, der seine eigene Logik hat. „Quintilian, Ramus, Vico, Joyce“ müßte der dieser Logik gewidmete Titel des zur Rezirkulation ausgereiften „Work in Progress“ lauten. In ihr prägt die Metonymie ein ebenso bequemes wie eintöniges Milieu, bei dem es in Finnegans Wake allerdings nicht bleibt, und bei dem es auch bei Vico nicht bleiben sollte. Vicos Umlauf der Tropen folgt einer Logik, die Quintilian in Kraft gesetzt hatte, im Akt dieser In-Kraft-Setzung aber keineswegs begründet hat. Der Kraftakt antwortete auf einen sehr spezifischen, römischen Bedarf an rhetorisch gewonnener Exemplarität, den Livius erkannt und ab urbe condita als erster bearbeitet hatte, bevor ihn Tacitus, Quintilians Schüler, in das Format brachte, an das Joyce anknüpft wie vor ihm höchst maßgeblich Machiavellis Livius-Lektüre. Eine dritte Genealogie müßte deshalb „Livius, Tacitus, Machiavelli, Joyce“ lauten. Die von Joyce präferierte Genealogie des ricorso, in dem alle diese Namen ihren Ort finden, setzt die Proto-Syntax voraus, in der Quintilians Rhetorik die Ökonomie der Stellen entworfen hat, die indessen selbst keine historische Ökonomie war: Ohne Präferenz oder Präjudiz für einen Geschichtsverlaufs, sei er nun teleologisch oder zirkulär, unterstellt sie eine Geschichte sine fine (Aeneis 1.279), wie es die römische nach Livius sein sollte, nachdem (wie nach Livius ironischer Weise, die christliche Zeitrechnung) das augusteische Zeitalter als ein ricorso der zu restituierenden res publica aufs Gleis gesetzt war, und der prompte Verfall, mit dem Tacitus’ Annalen ab excessu Divi Augusti einsetzen, nicht vorauszusehen war und gewiß nicht erwartet werden sollte. Quintilian bestimmte die Gesetze des Haushaltens in Formeln, in denen die seither gültigen termini technici ihre Festlegung erfahren haben: Tropos est verbi vel sermonis a propria significatione in aliam cum virtute mutatio […] ne ulli rei nomen deesse videatur (Institutio oratoria 8.6.1 und 8.6.5).
Daß keiner Sache der Name in Gestalt des grammatischen nomen fehle, macht den Sinn und unhintergehbaren Zweck der mutatio aus, die in Tropen und Figuren ermöglicht ist. Die Tropen- und Figurenkapitel Quintilians sind auf keinen ricorso angelegt, sondern auf schlichte, steigerungsfreie Erschöpfung, ein Abschreiten des Möglichen nicht ohne die modi der Verknüpfung, deren proto-syntaktische Ausprägung in der Unterscheidung der Tropen und ihrem Übergang zu den Figuren liegt.⁴ Denn darin nimmt Geschichte das von Livius und Tacitus erarbeitete
der Völker, übersetzt von Erich Auerbach (1924), hg. Eginhard Hora (Hamburg: Rowohlt 1966), 78 – 82. Vgl. Vf. „Metaphora dis/continua: Allegorie als Vorgeschichte der Ästhetik“ (1994), Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), Kap. 4, hier: 81– 85.
Quintilian… Vico‥ Joyce
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exemplarische Format an: indem sich das Repertoire der Tropen erweitert auf die Figuren. Die „innere Verbindung der Wörter“, die von den Tropen zu den Figuren stattfindet, idealtypisch von der Metapher zur Allegorie und der historischen Typologie (von figura und implementum), ändert die Bedeutung der in diese Erweiterung eingegangenen Wörter nicht, sondern das Änderungsmoment der permutatio geht proto-syntaktisch mit in die Verbindung ein, wo sie verstärkend oder konflikthaft weiterwirkt.⁵ Das ist die Faustregel und insgeheime Formel, in der Quintilian unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle weiterwirkte, um in der figura cryptica von Baumgartens Aesthetica auf einen allgemeinen Begriff zu kommen (Aesthetica § 784). Baumgarten macht Roms arcanum translationis quasi „rückwärts“ lesbar: in der Nachträglichkeit der ästhetischen Theoriebildung. Was in Quintilians Rhetorik ein strikt zu begrenzendes Mittel war, das Figuren-Doppel von Allegorie und Ironie, wird zur entscheidenden ästhetischen Möglichkeitsform, zum Spielfeld ästhetischer Erfahrung. Nach Petrus Ramus sprach Milton, Ramus’ harsch vorgetragene QuintilianKritik zum Besseren wendend, von der crypsis of method, durch die das Geschäft der Tropen in den Figuren zum Prinzip der Poetik tauge.⁶ Wie dieses am besten zu nutzen sei, hing seither an der Folge der vier von Ramus aus Quintilians Repertoire herausgeschnittenen Tropen als dem bis heute zu enträtselnden arcanum der römischen Rhetorik. Was bei Quintilian lediglich ein Netzwerk der reinsten variatio darstellte, die erfreut – variatio delectat als poetischer Faustregel – ist seit Ramus einer zielstrebigen Entwicklungslogik unterworfen, die in der Reihenfolge der vier Haupt-Tropen (und damit ihrer Ausbaufähigkeit zu Figuren) variiert.Vicos Reihenfolge des ricorso wurde, von der Teleologie teilentlastet, von Kenneth Burke neu entdeckt und in Gestalt der „Four Master Tropes“ dem New Criticism zugeführt, in der sie Hayden White als Meta-History des nach-romantischen Historismus – Präferenz der Ironie Vicos – erkannt hat.⁷ In Joyces Anwendung, die Miltons epische crypsis fortführte, hat sie eine radikale Konsequenz gefunden, in der Joyce das postlapsare Erlösungs-Epos überholte und Miltons glückliches Resultat Paradise Regained mit der Ironie des ricorso Vicos versöhnte. Die gestei-
Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen in systematischer Übersicht (2. Aufl. Leipzig: Teubner 1885), 480. Volkmann gibt die einzige klare Darstellung dieser komplexen Sachlage. John Milton, „The Art of Logic“ (1672), hg. Walter J. Ong, The Complete Prose Works of John Milton I–VIII (New Haven CT: Yale University Press), VIII: 139−395: 395; nach Petrus Ramus, Rhetoricae Distinctiones in Quintilianum (1549), hg. Carole Newlands (Dekalb IL: Northern Illinois University Press 1986), 211. Kenneth Burke, „Four Master Tropes“ (1941), A Grammar of Motives (Berkeley CA: University of California Press 1947, 1969), 503 – 517. Hayden White, Metahistory (Baltimore ML: Johns Hopkins University Press 1973), 31 ff.
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gerte, in Platons und Plotins Kreisbewegung wiedererinnerte Antike der Vico, Joyce, Nietzsche (dessen ‚Wiederkehr des Gleichen‘ nicht zu vergessen) führt nicht zu Quintilian zurück, so endlos sie doch in dessen weitem Netz der Figuren weiterwirkt. Bereits das Netz Quintilians kennt eine Überschreitungsfigur, die zwischen Tropus und Figur schwankt und bei ihm als überschüssig und ‚zuviel‘ geführt wird: superest (Institutio oratoria 8.6.37). Griechisch Metalepsis, lateinisch transumptio, widerlegt sie für Quintilian, der vor der unkontrollierbaren Allegorie als abgründigem Inbegriff der Figuren warnt und ihr das begriffliche Gegenbild, die Ironie, unterlegt, das letzte Wort, das Vico ihr vor dem Umschlag des ricorso einräumt. Zwar wird für Nikolaus Cusanus, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, die ins Unendliche gestreckte transumptio des Kreises zur „Sprengmetapher“ einer die Transzendenz in der Immanenz verkörpernden kosmischen Kugel.⁸ Aber diese springt um und zurück, zeigte Walter Benjamin am barocken Trauerspiel, in die schnöde Immanenz; Leibnizens unendliche Fältelungen waren die schöne, ästhetisch so fruchtbare wie metaphysisch furchtbare Konsequenz.⁹ Vicos ingeniöser Ausweg, der ricorso, führt davor zurück in das allegorische Zeitalter der primordialen, ersten Metaphorik, die sich zur Allegorie verhielt wie die Metalepsis zur Ironie. So hat George Puttenham, sprichwörtlich „the Elisabethan subversive“, die Metalepse als revolutionäre Figur der Selbst-Überschreitung weltlicher Immanenz verstanden; im pointierten Gegensatz zur metonymischen convenientia des Beieinanderliegenden sei sie von weither geholt, „the Far-fet“.¹⁰ Bei Quintilian, der von Puttenham auf eigene Faust ‚perspektiviert‘ wird – die Perspektive ist das neue Modell der Darstellung, an dem er sich orientiert – war der von Puttenham hoffnungsfroh literalisierte offene Horizont nur eine syntaktische Leerstelle: nihil ipse significans, sed praebens transitum (8.6.37).¹¹ Die dadurch markierte, nun propagierte Besetzbarkeit im Fluß der semantischen Ambiguitäten begründet die Aesthetica Baumgartens. Die stärkste These zu „Rom rückwärts“ wäre dann diese: es brauchte Baumgartens Ästhetik, um das evolutionäre Potential der Rhetorik, das mit Quintilians Namen im Untergrund der Bildungsge-
Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp (Berlin: Suhrkamp 2013), 176 – 180 (Kommentar 457– 461). Gilles Deleuze, Le pli: Leibniz et le Baroque (Paris: Minuit 1988), 47 ff. George Puttenham, The Arte of English Poesie (1589), Elizabethan Critical Essays I–II, hg. Gregory Smith (Oxford: Oxford University Press 1904, 1937, 1950), II: 169. Vf. „Ein knebbes Ding in einem Wort: Ungedachte Natur in postlapsaren Welten und Zeiten“, Theatrum mundi: Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, hg. Björn Quiring (Berlin: August 2012), 167– 189. Milton / Klopstock: Teleskopie der Moderne (Stuttgart: Metzler 2018), 248 ff.
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schichte versunken war, zu ungeahnten Möglichkeiten zu führen. Joyce und die von ihm beflügelte Avantgarde hat hier ihre Quelle.
Nachweise Es ist offensichtlich, daß einige der über die Jahre veralteten Interessen und Interessenahmen zu revidieren, einander zu adaptieren oder neu zu fassen wären. Darauf ist bis auf einige klärende Reformulierungen verzichtet. Es handelt sich um Lektüren und Relektüren, deren Revision – von sachlichen Korrekturen abgesehen – nicht unbedingt zu Besserungen führen würde. Nicht mit berücksichtigt sind die in größeren Buch-Kontexten verankerten, Blumenberg-bezogenen Kapitel in Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz (Frankfurt/M: Suhrkamp 2002); Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik (München: Fink 2007); Begreifen im Bild (Berlin: August 2009); Marginales zur Metapher (Berlin: Kadmos 2015); sowie in den mit Rüdiger Campe und Christoph Menke verfaßten Baumgarten-Studien: Zur Genealogie der Ästhetik (Berlin: August 2014). Französische Versionen der Kapitel 2, 5, 8 und 9 sind als Teile eines zur anderen Hälfte von Jean-Claude Monod verfaßten Buches erschienen, Philosophie de la métaphore: Penser avec Blumenberg (Paris: Herman 2017). Die Kapitel 2 und 6 sind in englischer Fassung in den Band Productive Digression: Theorizing Practice (Berlin/Boston: de Gruyter 2017) eingegangen. Querverweise sind vermieden worden, sachliche Wiederholungen nach Möglichkeit beschränkt; die Zitierweisen sind angeglichen unter Wahrung der jeweiligen Nachweisfunktion. Vieles an Motiven und Details ist in meinen ausführlichen Kommentar zur Metaphorologie eingegangen (Berlin: Suhrkamp 2013), ohne hier zusätzlich kenntlich gemacht zu sein.
1 Die Technik der Rhetorik: Blumenbergs Projekt (2001) Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 2001), 435 – 454. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. 2 Das Skandalon der Metaphorologie: Blumenbergs philosophischer Einsatz (2008) Das Skandalon der Metaphorologie. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied (Berlin: Suhrkamp 2013), 195 – 240. © Suhrkamp Verlag Berlin 2013. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Das Skandalon der Metaphorologie: Hans Blumenbergs philosophische Initiative. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 187 – 205. Das Skandalon der Metaphorologie: Prolegomena zu einem Kommentar. Metaphorologie: Zur Praxis von Theorie, hg. Anselm Haverkamp und Dirk Mende (Frankfurt/M: Suhrkamp 2009), 33 – 61. The Scandal of Metaphorology. Telos 158 (2012), 37 – 58 (gestraffte Fassung). 3 Metapher und Politik: Aristoteles (Quine), Merleau-Ponty (2015) Politik der Metapher, hg. Andreas Hölzl, Matthias Klumm, Mara Maticevic, Thomas Scharinger, Johannes Ungelenk, Nora Zapf (Würzburg: Königshausen & Neumann 2015), 25 – 39. Hier um Quine verdeutlicht. https://doi.org/10.1515/9783110486377-019
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Nachweise
4 Metaphorologie zweiten Grades: Unbegrifflichkeit, Vorformen der Idee (2004) Metaphorologie: Zur Praxis der Theorie, hg. Anselm Haverkamp, Dirk Mende (Frankfurt/M: Suhrkamp 2009), 237 – 255. 5 Die Unbegrifflichkeit des Seins: Der philosophische Ort der Metapher (2004) L’inconcéptualité de l’être, übersetzt von Jean Greisch, Archives de Philosophie 67 (2004), 269 – 278. Unbegrifflichkeit: Die Aufgabe von Seinsgeschichte. Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg (Berlin : Kadmos 2004), 73 – 82. 6 Blumenberg in Davos: Kant und das Problem der Metakinetik (2016) Blumenberg in Davos: The Cassirer—Heidegger Controversy Reconsidered. MLN [Modern Language Notes] 131 (2016), 738 – 753. Hier weitgehend reformuliert und ergänzt. 7 Lernen am Ausgang der Höhle: Platon für Unbelehrbare (2012) Lernen am Ausgang von Platons Höhle: Blumenberg für Unbelehrbare. Mit einem Postskript zu Platon selbst. Prometheus gibt nicht auf: Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie, hg. Melanie Möller (München: Fink 2015), 47 – 59. 8 Epochenschwelle, Anachronie: Der umgangene Quintilian (2013) Epochenschwelle, Anachronie: Der umgangene Quintilian. Prometheus gibt nicht auf: Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie, hg. Melanie Möller (München: Fink 2015), 239 – 258. 9 Säkularisation als Metapher: Blumenberg vs. Carl Schmitt (2002) La sécularisation comme métaphore : Hans Blumenberg interprète de la modernité, übersetzt von Jean Greisch. Transversalités 87 (2003), 15 – 28. Säkularisation als Metapher: Hans Blumenbergs Modernekritik. Diesseits der Oder: Frankfurter Vorlesungen (Berlin: Kadmos 2008), 53 – 64. 10 Arcanum translationis: Das Fundament der lateinischen Tradition (2006) Arcanum Translationis: Das Fundament der lateinischen Tradition. Tumult 30 (2006), 19 – 30. 11 Religio: Zur doppelzüngigen Wurzel institutioneller Bindung (2015) Religio: Zur doppelzüngigen Wurzel institutioneller Bindung. Rhetorik 33 (2015), 45 – 52.
Nachweise
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12 Allotria: Das anthropologische Apriori der Gastfreundschaft (2015) Allotria. Das anthropologische Apriori der Gastfreundschaft: Derrida, Aristoteles, Arendt. Metaphora. Journal for Literary Theory and Media 3 (Wien 2018), II.1. 13 Humor: Die Latenz der Form. Die Provokation Preisendanz (2002) Humor: Die Latenz der Form. Form und Geschichte (Festschrift für Wolfgang Preisendanz), hg. Anselm Haverkamp und Hermann Kinder. DVjs 76 (2002), 171 – 180. 14 et-et: Die Wahrheit der Kunst in einer Nuß. Zu Carlo Barcks Wörterbuch (2011) Et—et: Die Wahrheit der Kunst in einer Nuss. Ränder der Enzyklopädie (Festschrift für Karlheinz Barck), hg. Christine Blättler, Eric Porath (Berlin: Merve 2011), 31 – 37. 15 Die Spur des Genitivs im Nichts: Dieter Henrich, Beckett und Hölderlin (2016) Die Spur des Genitivs im Nichts: Dieter Henrich, Beckett und Hölderlin. Ein Nachspiel zu Poetik und Hermeneutik. Philosophische Rundschau 63 (2016), 317 – 334. 16 Paradigma Metapher, Metapher Paradigma (1986) Paradigma Metapher, Metapher Paradigma: Zur Metakinetik hermeneutischer Horizonte – Blumenberg/Derrida, Kuhn/Foucault, Black/White. Poetik und Hermeneutik XII (1986), 230 – 251. Paradigma Metapher/ Metapher Paradigma. Mit einem Nachtrag, Die paradoxe Metapher, hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/M: Suhrkamp 1998), 268 – 286. 17 riverrun: Quintilian… Vico.. Joyce (2015) riverrun (Quintilian, Vico, Joyce), Rom rückwärts, hg. Judith Kasper und Cornelia Wild (München: Fink 2015), 103 – 106.
Namenregister Abaelard, Pierre 148, 149, 156, 158, 230 Adorno, Theodor W. 1, 4, 23, 29, 30, 32, 33, 35, 37 – 41, 48, 49, 59, 82, 98 – 100, 103, 107, 110, 128, 135, 163, 166, 171, 184, 218, 219, 242, 248 Agamben, Giorgio 50, 102, 187, 192, 193, 198, 199, 201, 211, 235 Agrippa 182 Aischylos 202 Ambrosius von Mailand 25, 177, 199 – 201 André Kertész V Apel, Karl-Otto 34 Aquin, Thomas von 150, 198, 199 Arendt, Hannah 203, 204, 214 – 217, 219 Aristoteles 2 – 5, 17, 18, 21, 26, 29, 30, 32, 33, 36, 40, 41, 46, 47, 50 – 52, 54, 55, 61 – 68, 70, 71, 73 – 75, 79, 80, 84, 85, 97, 99, 102, 112, 113, 116, 117, 122, 129, 135, 141, 144, 146, 150, 153 – 155, 157 – 159, 162, 202, 204 – 208, 210 – 217, 219, 220, 234, 236, 264 Aubenque, Pierre 21 Auerbach, Erich 252, 274 Augé, Marc 192, 193 Augustinus von Hippo 18, 20, 21, 55, 86, 97, 98, 157, 168, 174, 175, 177, 183 – 188, 192, 193, 194, 196, 214, 230 Austin, J. L. 219, 269 Balibar, Étienne 173 Barbaras, Renaud 74 Barck, Karlheinz 5, 233 Barnes, Djuna V Barthes, Roland 164, 237, 238 Bateson, Gregory 73 Baudelaire, Charles V, 184, 243, 152 Baumgarten, Alexander Gottlieb 2, 4 – 6, 15, 61, 64 – 66, 68, 71, 72, 113, 118 – 120, 122, 150 – 152, 154, 155, 164, 188, 197, 218 – 220, 237, 271, 277, 278 Beaufret, Jean 43, 58, 100 Beckett, Samuel 3, 5, 69, 163, 239, 241 – 253, 275, 278 https://doi.org/10.1515/9783110486377-020
Beda Venerabilis 156, 160 Beierwaltes, Werner 55, 97, 101 Benardete, Seth 133 Benjamin, Walter V, 72, 75, 184, 200, 210, 211, 223, 224, 227, 243, 252, 278 Bennington, Geoffrey 214 Benveniste, Émile 195 – 198, 201, 208, 212 Bernays, Jacob 62, 204 Bernhardy, Gottfried 146 Bezzola, Tobia 147 Binder, Wolfgang 204 Black, Max 79, 80, 93, 96, 97, 160, 257, 263 – 265, 267, 271, 272 Blanchot, Maurice 184 Bloom, Harold 4, 153, 271 Böckmann, Paul 224 – 226 Bodmer, Johann Jakob 151 Boeckh, August 146 Bollnow, Otto Friedrich 51, 52, 107 Brague, Rémi 184 – 186, 193 Brandt, Reinhard 120 Brecht, Bertolt 200 Bredekamp, Horst 211 Breitinger, Johann Jakob 151, 225 Brentano, Franz 112 Brient, Elizabeth 157 Bröcker, Walter 4, 12, 30, 38, 47, 81, 84, 101, 129 – 137, 141 Brogan, Walter A. 113 Brown, Peter 189 Bruno, Giordano 177, 178, 250, 275 Bubner, Rüdiger 57, 159, 240 Burckhardt, Jacob 96, 185 Burke, Kenneth 3, 154, 267, 268, 277 Burkert, Walter 212 Burmann, Pieter 149, 150 Burton, Robert 224, 227 Busch, Wilhelm 237 Cacciari, Massimo 184 Campe, Rüdiger 5, 6, 22, 53, 72, 90, 99, 102, 105, 119, 152, 158, 197 Canguilhem, Georges 89, 90
286
Namenregister
Caruth, Cathy 261 Cassin, Barbara 1, 54, 69, 206 Cassirer, Ernst 12, 20, 38, 48, 51 – 53, 59, 80, 86, 88, 89, 105 – 112, 114, 115, 117 – 123, 207, 225 Cave, Terence 122 Cavell, Stanley 5, 73, 104, 245 Chadwick, Vernon 249 Cicero 4, 25, 55, 64, 145 – 147, 149 – 153, 155, 156, 159, 161, 177, 187 – 189, 191, 192, 195 – 202, 211 Classen, Carl J. 156 Cohen, Ted 5 Collingwood, R. G. 106 Constantin 198 Cornford, Francis Macdonald 128, 202 Coudry, Marianne 181 Courtine, Jean-Francois 131 Cousin, Jean 145 Crary, Jonathan 70 Croce, Benedetto 252 Crusius, Christian August 119 Curtius, Ernst Robert 34, 145 – 148, 151, 152, 184, 190, 191, 228 Cues, Nikolaus von (Cusanus) 26, 55, 104, 154 – 158, 162, 278 Damisch, Hubert 225 Dante Alighieri 184, 194, 250, 251, 275 Danto, Arthur 257 Darmstetter, Arsène 90 Darwin, Charles 141, 259 Davidson, Donald 96, 97 Deleuze, Gilles 189, 278 DeLillo, Don V Derrida, Jacques 1, 18, 21, 31, 32, 37, 38, 54, 57, 58, 60, 67, 68, 71, 75, 82, 85, 89, 90, 93, 94, 96 – 99, 101, 116, 122, 154, 160, 166, 167, 169, 184, 203 – 220, 234 – 237, 257, 259 – 262, 264 – 267, 272, 273 Descartes, René 85, 92, 167, 238 Dieffenbach, Lorenz 191 Dockhorn, Klaus 39, 144, 191, 261 Donne, John 224 Donoghue, Denis 2, 3 Du Cange, Carolus Dufresne 198 Du Marsais, César Chesneau 98
Dubois, Jacques 3, 164 Dufourmantelle, Anne 203, 204 Duhem, Pierre 106 Dürer, Albrecht 224 Düttmann, Alexander Garcia 212 Ebbinghaus, Julius 108, 109 Eco, Umberto 233 Edeline, Francis 3, 164 Eichmann, Adolf 217 Einstein, Albert 20, 117 Eisenkolb, Rose-Marie 165 Eley, Lothar 102 Eliot, T. S. 145, 152 Empson, William 3, 20, 66, 68, 71, 72, 93, 152, 164, 245 Engels, Friedrich 142 Erasmus von Rotterdam 122, 156, 162, 233, 236 Erdmann, Benno 118 Eusebius 185 Evans, Gareth 66 Faber, Richard 165 Feeney, Denis 149 Fellmann, Ferdinand 30, 252, 269 Ferenzi, Sandor 213 Festus 192 Feyerabend, Paul 264 Fichte, Johann Gottlieb 147, 249 Figal, Günter 119 Fittkau, Gerhard 198 Flasch, Kurt 6, 166 Flaubert, Gustave 251 Fögen, Marie Theres 181, 193 Fontanier, Pierre 98 Foucault, Michel 59, 64, 66, 68, 89, 150, 160, 162, 167, 197, 219, 233, 236, 257, 260, 264 – 270 Fox Keller, Evelyn 65, 160 Freccero, John 194 Frede, Dorothea 119 Freud, Sigmund 12, 23, 48, 49, 59, 91, 135, 158, 161, 168, 207, 208, 211, 213, 223, 224, 234, 259 Friedman, Michael 120, 121 Friedrich, Hugo 20, 163
Namenregister
Frye, Northrop 271 Fuchs, Florian 51 Fuchs, Peter 2 Furberg, Mats 257 Furnaux, Henry 181 Gabriel, Gottfried 35, 95 Gadamer, Hans-Georg 24, 29, 32, 34 – 37, 39, 40, 42, 43, 45, 46, 51, 57, 81, 106, 121, 129, 140, 141, 144, 163, 167 – 169, 176, 185, 186, 215, 218 Galilei, Galileo 18, 47, 49 Gasché, Rodolphe 54, 75, 97, 116, 122, 273, 274 Gauchet, Marcel 165, 169 Gawlik, Günter 51 Gebauer, Gunter 263 Gehlen, Arnold 24, 25, 46, 59, 110, 128, 133 – 137, 161, 162, 193, 201, 207, 211 George, Stefan 242, 250 Geroulanos, Stephanos 115 Gessmann, Martin 218 Geulen, Eva 176, 185, 223, 227 Gigon, Olof 196, 197 Girard, René 209, 219 Goethe, Johann Wolfgang von 224 – 228, 230, 231, 237, 270 Goldschmidt, Victor 50 Goldstein, Kurt 115 Gondicas, Myrto 207 Goodman, Nelson 260, 269 Grassi, Ernesto 150 Greisch, Jean 31, 95, 121, 165 Groh, Ruth 103, 174 Grotz, Stephan 121 Gründer, Karlfried 110 Gurwitch, Aron 115 Habermas, Jürgen 29, 30, 35, 37, 55, 81, 113, 189, 205, 216, 219, 239 Hacking, Ian 72, 160 Hamacher, Werner 257 Harnack, Adolf von 175 Harrison, Jane Ellen 202 Harvey, Irene E. 94 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 5, 57, 59, 70, 79, 95, 102, 103, 119, 134, 137, 147,
287
167, 169, 170, 178, 187, 188, 200, 207, 210, 213, 219, 224 – 231, 237, 240 – 244, 246 – 248, 250, 252, 269 Heidegger, Martin 2, 4, 12, 13, 15, 17 – 19, 21, 22, 24, 25, 29, 30, 33, 35 – 39, 41 – 44, 47 – 56, 58, 60, 70, 74, 80 – 82, 84 – 87, 89, 91, 93, 98 – 105, 107 – 122, 129, 131 – 136, 138 – 141, 150, 151, 159, 166 – 168, 170, 176, 178, 189 – 191, 213, 237, 242, 248, 250 Heine, Heinrich 210, 225, 226, 230 Heinemann, Fritz 114 Heitsch, Ernst 67 Henderson, John 182 Henrich, Dieter 5, 16, 30, 102, 119, 225, 239 – 253 Henry, Michel 167 Hermerén, Göran 257 Herzog, Reinhart 186 Hesse, Mary 58 Hitler, Adolf 12 Hobbes, Thomas 161, 162, 173 Hoffmann, Ernst 132, 137 Hoffmann, Thomas 115 Hoffman-Schwartz, Daniel 212 Hölderlin, Friedrich 5, 153, 204, 219, 224, 239, 241 – 253 Holenstein, Elmar 121 Homer 205 Horaz 122, 154 Horkheimer, Max 37, 107, 128, 171 Horn, Eva 203 Houdebine, Jean-Louis 32 Hübener, Wolfgang 165 Husserl, Edmund 4, 12, 17, 18, 37 – 52, 55 – 58, 60, 73, 74, 80 – 82, 84, 85, 87, 91, 93, 99, 100, 107 – 110, 112, 113, 115, 118, 119, 121 – 123, 136, 137, 139, 140, 274 Irwin, Terence H. 67 Iser, Wolfgang 72, 136, 144, 160, 244 – 246, 250, 252 – 254 Jaeger, Werner 127, 134, 139, 142 Jakobson, Roman 96, 121, 270, 271 James, Henry V
288
Namenregister
Janicaud, Dominique 38, 82, 168 Jaspers, Karl 37, 107 Jauß, Hans Robert 16, 19, 144, 225, 226, 240, 244, 257 Jean Paul 228, 230 Jebb, R. C. 209, 210 Johnson, Barbara 260 Johnson, Ben 230 Johnson, Mark 2, 75 Jonas, Hans 24, 25, 106, 162, 168, 169, 173, 176, 177, 185, 193 Joyce, James 3, 145, 152 – 154, 163, 228, 250 – 252, 275 – 278 Judet de la Combe, Pierre 207 Juvenal 147 Kaegi, Dominic 109 Kafka, Franz 215, 217 Kant, Immanuel 2 – 6, 11, 14 – 16, 18, 20 – 21, 26 – 27, 33, 46, 51, 52, 55, 58, 70, 86, 87, 97 – 100, 105, 108 – 122, 127, 130 – 133, 137, 141, 147, 149 – 151, 153 – 157, 162, 167, 170, 188, 203, 212 – 214, 225, 236, 258, 259 Kantorowicz, Ernst 174 Keller, Gottfried 230, 231 Kellner, Hans 268 Kennedy, George A. 145 Khurana, Thomas 5, 213, 235 Kierkegaard, Søren 94, 223, 227 Kinder, Hermann 223 Kisiel, Theodore 115 Kittler, Friedrich 218 Kittsteiner, Heinz-Dieter 43 Kleiner, Barbara 233 Kleist, Heinrich von 22, 90, 102 Klibansky, Raymond 109 Klinkenberg, Jean-Marie 3, 164 Klopstock, Friedrich Gottlieb 151, 155, 156, 278 Klossowski, Pierre 209 Kommerell, Max 226, 227 Konersmann, Ralf 45 Kopernikus, Nikolaus 13 – 16, 21, 26, 33, 82, 98, 106, 151, 156, 258, 259, 262 Koselleck, Reinhard 258 Koyré, Alexandre 106
Kranz, Margarita 34, 81 Kristeva, Julia 32 Kuhn, Helmut 247 Kuhn, Thomas S. 14, 23, 80, 106, 160, 257, 260, 262 – 267, 273 Lacan, Jacques 183, 238, 259 Lachmann, Renate 271 Lakoff, George 2, 75 Laktanz 193, 196 – 202 Landgrebe, Ludwig 42, 44, 47, 81 Lange, Klaus-Peter 150 Lasks, Emil 114 Lausberg, Heinrich 3, 39, 144, 149, 159, 163, 164 Lawler, Leonard 46, 122 Legendre, Pierre 183 Lehmann, Paul 156 Leibniz, Gottfried Wilhelm 278 Lepenies, Philipp 142 Lessing, Gotthold Ephraim 237 Levinas, Emmanuel 42, 51, 203, 208, 215 Lévi-Strauss, Claude 106, 211 Lewis, C. S. 93 Lichtenberg, Georg Christoph 262 Liebeschuetz, J. H. W. G. 197 Lille, Alain de 149 Lipps, Hans 5 Lipsius, Justus 197 Livius 191, 197, 276 Lobsien, Eckhard 223, 231 Lohmann, Johannes 101, 187, 188 Lommel, Herman 261 Longinus 69 Lorenzer, Stefan 214 Löwith, Karl 40, 167 Lübbe, Hermann 165, 166, 172 Lucan 145, 147, 182 Lucas, D. W. 40 Lugowski, Clemens 16, 99 Luhmann, Niklas 3, 30, 44 – 45, 73, 96, 128, 190, 200 Lukács, George 227 Lukrez 40 Luther, Martin 51, 111, 169 Machiavelli, Niccolò
184, 194, 276
Namenregister
Magnus, Albertus 150 Maier, Anneliese 106 Malter, Rudolf 114 Man, Paul de 6, 20, 64, 66, 71, 72, 75, 93, 96 – 98, 100, 136, 152, 160, 257, 262, 270, 271 Marcion 175 Marion, Jean-Luc 85, 91 Marquard, Odo 59, 81, 167, 168 Marx, Karl 43, 57, 142, 210, 219 Marx, William 210 McLuhan, Marshall 130 Mende, Dirk 29, 79, 234 Menke, Bettine 93, 223, 231, 235 Menke, Christoph 5, 72, 120, 151, 152, 197, 217, 231, 239, 243 Merker, Barbara 58, 84 – 87, 96, 136, 171 Merleau-Ponty, Maurice 29, 31, 46, 61, 72, 74, 122, 137, 167, 274 Merton, Robert 99 Meyer, Ernst 198 Meyers, Todd 115 Milton, John 153, 204, 277 Minguet, Philippe 3, 164 Mirbach, Dagmar 122 Mittelstrass, Jürgen 263 Möller, Melanie 146 Moltmann, Jürgen 174 Monod, Jean-Claude 1, 82, 95, 165, 169 Morgenstern, Christian 237 Müller, Roman 149 Muth, Robert 196 Nagel, Thomas 141, 142 Nancy, Jean-Luc 165, 167 – 170, 176, 178 Narcy, Michel 54 Nestle, Wilhelm 83 Newton, Isaac 5, 20, 54, 86, 177, 259 Nicholls, Angus 107 Niehues-Pröbsting, Heinrich 136, 137, 139, 140 Nientied, Mariele 29, 79, 234 Nietzsche, Friedrich 15, 18, 21, 23, 25, 26, 33, 40, 49, 52, 54, 55, 79, 96 – 100, 161, 166, 168 – 170, 178, 185, 186, 198, 204, 236
289
Oehler, Klaus 163 Oeing-Hanhof, Ludger 168 Ong, Walter J. 92 Opitz, Martin 151, 154, 226 Origenes 185 Ovid 186 – 189 Panofsky, Erwin 225 Pascal, Blaise 22, 71, 90, 102, 177 Patzer, Harald 210 Paulus 168, 200 Pavesich, Vida 110 Perpeet, Wilhelm 34 Persius 145 Peterson, Erik 172, 174, 175 Petrarca, Francesco 151 Petronius 147 Petty, William 142 Piaget, Jean 265, 266 Pignatari, Decio 270 Pire, François 3, 164 Platon 5, 12, 18, 20, 21 – 24, 26, 27, 41, 50, 52, 55, 62 – 64, 68, 70, 71, 73, 75, 86, 87, 97, 100, 101, 127, 129 – 141, 157, 158, 200, 205, 216, 219, 236, 247, 278 Plinius 198 Plotin 21, 22, 27, 55, 97, 98, 114, 155, 157, 194, 278 Popper, Karl 80, 264, 268, 272 Prandi, Michele 3, 164 Preisendanz, Wolfgang 5, 223 – 232, 237, 252 Proust, Marcel 3 Pustejovsky, James 93 Puttenham, George 3, 69, 156, 162, 278 Quadflieg, Dirk 162 Quine, Willard van Orman 61, 66, 67, 281 Quintilian 3 – 6, 55, 61, 64, 66, 69, 143 – 156, 158 – 164, 181, 187, 192, 199, 200, 220, 223, 224, 227, 233, 238, 275 – 278 Rahn, Helmut 144, 155 Raimondi, Francesca 141, 216 Ramus, Petrus 92, 122, 154, 269, 276, 277 Rancière, Jacques 182, 219 Ratzinger, Joseph 192
290
Namenregister
Rebentisch, Juliane 141, 200, 237 Recki, Birgit 110 Reinhardt, Karl 208, 210 Rheinberger, Hans-Jörg 65, 160, 260 Richards, I. A. 3, 20, 152, 164 Rickert, Heinrich 114 Ricœur, Paul 70, 71, 89, 97, 154, 189 Rigotti, Francesca 103 Ripa, Cesare 198 Riposati, Benedetto 152 Ritter, Joachim 14, 29, 34 – 36, 39, 40, 44, 51, 52, 55, 59, 80 – 82, 93, 151, 168, 227 Ronse, Henri 32 Rosier-Catach, Irène 148, 149, 155, 156, 158 Ross, David O. 149 Rothacker, Erich 4, 29, 34, 35, 40, 81, 82, 95 Russell, Donald A. 149 Sacks, Oliver 115 Safranski, Rüdiger 109 Sartre, Jean-Paul 37 Saussure, Ferdinand de 90, 96, 121, 160, 259 – 261 Schapiro, Meyer 237 Scheler, Max 15 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 101 Schläger, Jürgen 260 Schlegel, August Wilhelm 228 Schlegel, Friedrich 228, 229 Schmitt, Carl 5, 35, 56, 103, 139, 161, 165, 171 – 177, 193, 194, 216 Schnädelbach, Herbert 58, 110 Schork, R. J. 153 Schubach, Arno 120 Schürmann, Reiner 188 – 190, 193 Schütz, Alfred 160 Schwindt, Jürgen Paul 144 Seel, Otto 145 Seneca 147 Shakespeare, William 69, 73, 162, 174, 209, 210, 224, 228, 231, 235, 236, 278 Sidney, Philip 151 Simmel, Georg 26, 27, 36, 37, 59, 83, 85, 89, 104 Šklovskij, Viktor Borisovič 224 Snell, Bruno 2, 50, 51, 60, 63
Sokrates 30, 40, 52, 130, 133, 134, 140, 142, 208, 216, 223, 224, 227 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 228 – 230 Sommerhäuser, Hanspeter 114 Sophokles 204, 206, 208, 210, 218 Spaemann, Robert 90, 190 Spengler, Oswald 24, 46, 176, 185 Stahnisch, Frank W. 115 Stengers, Isabelle 1, 7 Stierlin, Helm 73 Stoellger, Philipp 96, 195 Straume-Zimmermann, Laila 196 Striedter, Jurij 225 Suárez, Francisco 198 Szondi, Peter 218, 219 Tacitus, P. Cornelius 145, 181, 182, 192, 200, 276 Taft, Richard 111 Taubes, Jacob 30, 101, 165 Tertullian 197 Tesauro, Emanuele 150 Tiberius 181, 182, 192 Todorov, Tzvetan 164, 252 Tomasello, Michael 44, 128, 137 Trierweiler, Denis 173 Trinon, Hadelin 3, 164 Tugendhat, Ernst 33, 47, 50, 101 – 103, 117, 122 Ulmer, Karl 18, 47, 87 Ungelenk, Johannes 61 Vaihinger, Hans 272 Valéry, Paul 19, 40, 41, 64, 218, 219, 245 Van Gogh, Vincent 237 Varro 187, 192, 195 Varwig, Freyr Roland 144 Vasaly, Ann 191, 197 Vergil 148 – 153, 182, 189 Vico, Giambattista 3, 97, 153, 154, 163, 164, 228, 250 – 252, 268, 269, 271, 275 – 278 Vinken, Barbara 203, 209, 223, 230 Vismann, Cornelia 181, 183 Volkmann, Richard 146, 147, 158, 159, 277 Vossius, Gerhard Johannes 146, 269, 271
Namenregister
Wagner, Richard 151 Wahl, Francois 265 Warburg, Aby M. 236 Ward, Julie K. 67 Warning, Rainer 43 Weber, Heinz-Dieter 223, 229 Weber, Max 172 Weber, Samuel 176, 259 Weinelt, Nora 203 Weinrich, Harald 69, 163 Weitzman, Erica 105 Wetz, Franz Josef 39 Wharton, Edith V White, Hayden 154, 160, 257, 267 – 269, 277 Whitman, Walt V Wieland, Christoph Martin 224, 225 Wieland, Wolfgang 137
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Wiesing, Lambert 150 Wilhelm II., Kaiser 175 Winterbottom, Michael 144, 145 Wiseman, T. P. 195 Wittgenstein, Ludwig 12 – 14, 27, 79, 80, 82, 93, 99, 104, 131 – 135, 137, 138, 141, 262 – 264 Witzel, Michael 128, 137 Wolf, Friedrich August 146 Wolff, Christian 119 Wolff, Michael 121 Wood, Christopher 3, 162 Zischler, Hanns 260 Zundel, Eckart 158 Zwingli, Huldrych 111