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German Pages [274] Year 2013
Religion and Transformation in Contemporary European Society
Band 5
Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Richard Potz, Sieglinde Rosenberger und Angelika Walser
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Jakob Helmut Deibl
Menschwerdung und Schwächung Annäherung an ein Gespräch mit Gianni Vattimo
Mit einem Vorwort von Gianni Vattimo
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0126-0 ISBN 978-3-8470-0126-3 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Benediktinerstifts Melk. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Anarchie der Freundschaft … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorweg … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I – Religion als Wiederkehr? Apokalypse und Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apokalyptische Gestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruch und Neueinsatz mit dem Ende der Belle Êpoque . . . . . . . . Schwächung eines apokalyptischen Tons – Übermensch und Ereignis Apokalyptik und die Erzählung vom Ende der Erzählungen . . . . .
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31 32 40 43 52
Herkunft und Zukunft . . . . . . . . . . Hermeneutik und biblische Erzählung Herkunft und Beheimatung . . . . . . Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . .
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57 57 64 73
Offenheit und »schwaches Denken« Schwachheit und Parusie . . . . . Offenheit und Freundschaft . . . . Echo und Schwächung . . . . . . .
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83 84 90 100
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6
Inhalt
Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Denken der pietas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
Universalismus und Gastfreundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
»zu glauben glauben« – Apologie des Halbgläubigen . . . . . . . . . . .
133
Wiedergefundener Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachträge und Anfragen: Gottesfrage und Spätmoderne . . . . . . . . .
155
Teil 2 – Die Spur der Spur? Hegels Wort vom Tod Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Exodus und Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
Gestalten der Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . Marxistische Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche: rückläufige Bewegung und Gedächtnisfest Heidegger : Andenken und Verwindung . . . . . . . Hegel: Rekapitulation und Versammlung . . . . . . . Psychoanalyse und Schwächung des Subjektes . . . . Die verwehte Spur – Levinas und Derrida . . . . . .
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201 203 208 213 223 226 233
Gedoppelte Erfahrung der Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Von der Positivität der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Ursprung und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
Ausgänge und Übergänge: Jenseits der Interpretation? . . . . . . . . . .
257
Nach-Wort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gianni Vattimo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weißt nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. (Jo 15, 15) Er war Gott gleich, hielt es aber nicht für einen Raub, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. (Phil 2, 6 f) Auf viele Arten und auf vielen Wegen hat Gott von einst her zu den Alten gesprochen durch die Propheten, am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er als Erben eingesetzt hat über alles, durch den er auch die Weltalter geschaffen hat … (Hebr 1, 1 f)
Begnadet, Du, hast einst du dein Land, hast für Jaakob die Wiederkehr kehren lassen, hast den Fehl deines Volkes getragen, hast all ihre Sünde verhüllt. Empor! Du hast dein Aufwallen all eingerafft, dich abgekehrt von der Flamme deines Zorns. Lass es uns wiederkehren, Gott du unserer Freiheit! Deinen Unmut über uns brich! Willst du in Weltzeit uns zürnen, deinen Zorn hinziehn für Geschlecht um Geschlecht? Willst nicht du, wiederkehrend du uns beleben, dass dein Volk an dir sich erfreue? Lass uns, Du, sehn deine Huld, deine Freiheit gib uns! (aus Psalm 85, Übersetzung Martin Buber)
Anarchie der Freundschaft …
Brief von Gianni Vattimo Lieber Herr Deibl! Zunächst vielen Dank dafür, dass Sie mich – nachdem Sie mich schon zu Ihrem »Studienobjekt« gemacht haben – nun auch als Leser und Gesprächspartner für würdig befinden, ein Vorwort zu Ihrem Buch zu schreiben. Dies ist für mich deshalb wichtig, weil Ihre Stimme eine der wenigen aus dem katholischen Lager ist, die bereit sind, in einen nicht bloß »apotropäischen« Dialog mit meiner Arbeit zu treten. Ich möchte keineswegs denjenigen Theologen, die sich schon bisher gründlich mit dem »pensiero debole« (»schwaches Denken«) beschäftigt haben, Unrecht tun (ich denke da vor allem an Giovanni Giorgio und Carmelo Dotolo), aber ich muss gestehen, dass mich vor allem Ihr Versuch, viele Aspekte meiner Überlegungen mit wichtigen Positionen zeitgenössischer katholischer, vornehmlich deutschsprachiger Theologen in Verbindung zu bringen, beeindruckt und angeregt hat. Während mir im Falle anderer Studien vor allem der Nachweis einer gewissen Übereinstimmung zwischen meiner Lesart der kenosis und der Theologie bedeutsam erschien – und zwar auf eine Art, die innerhalb der biblischen Tradition glaubhaft erschien (wenn auch nicht immer oder fast nie im orthodoxen katholischen Fahrwasser) – so lieferten mir Ihre Ausführungen viele Anregungen, hier fortzufahren und nicht nur philosophische, sondern auch religiöse und theologische Implikationen meines Diskurses weiterzuentwickeln. Bisher fühlte ich mich (lediglich) von Theologenfreunden gelesen, die mir vor allem halfen, mich nicht außerhalb der biblischen Tradition zu begeben, und die auf diese Weise auch sich selbst einen Weg eröffneten, in dieser Tradition zu bleiben, sich aber gleichzeitig den Blick auf die Modernität, die Säkularisierung und den essenziellen Zusammenhang zwischen Offenbarung und Geschichte zu bewahren. Beim Lesen Ihrer leidenschaftlichen Arbeit habe ich einen starken Anreiz verspürt, mich aktiv mit den Werken der vielen zeitgenössischen Theologen, die Sie in Ihren Ausführungen zitieren, zu beschäftigen. Auch für mich persönlich ist die »Religion als Wiederkehr«, die Sie zum zentralen Thema Ihrer Untersuchung machen, eine brennend
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Anarchie der Freundschaft …
aktuelle und die Existenz bestimmende Angelegenheit. Ich glaube nicht, dass es sich dabei bloß um eine sentimentale Nostalgie/Sehnsucht nach Überzeugungen meiner Jugend handelt, die ich im Übrigen weniger als ein Festhalten an einer bestimmten metaphysischen Wahrheit empfinde denn als eine Treue/Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – von Lehrern, von Freunden, von (auch politisch) Gleichdenkenden und von Weggenossen, denen auch ich zum Lehrer wurde. Ich halte diese Nostalgie/Sehnsucht auch für ein konstitutives Element der post-modernen religiösen Erfahrung, die es hier und jetzt zu leben gilt. Die Geschichtlichkeit der Offenbarung, von der Sie sprechen, ist auch die Verwicklung/Verstrickung ihrer selbst mit den Angelegenheiten ihrer Wirkung*1 auf die Adressaten ihrer Botschaft, auch auf ihre Empfindungen (Heidegger würde sagen auf ihre Befindlichkeit*). Damit meine ich, dass sehr häufig diejenigen, die die religiösen Kehrseiten des »pensiero debole« behandeln, ihm die exzessive Nachgiebigkeit gegenüber dem Gefühl vorwerfen und die Neigung, sich einen »Gott la carte« auszusuchen, der allzu freundlich und zu wenig strenger Richter ist. Wie Sie in Ihrem Buch gut ausgeführt haben, sollte auch dieser Vorwurf in Zusammenhang mit der Forderung nach einer Religion als Festhalten an/Zustimmung zu einer objektiven metaphysischen Wahrheit gesehen werden, die notwendigerweise im Gegensatz zu Vorlieben, Neigungen und Gefühlen stehen müsste. Das, was ich als Philosoph machen sollte und wozu mich Ihr Buch ermuntert, ist – theoretisch, aber auch in der täglichen Praxis – eine Form der christlichen Religiosität zu entwickeln, oder wenn Sie wollen, einen Weg, den Glauben zu leben, der radikal dieser Ablehnung der metaphysischen Objektivität entspricht, der seinerseits aber nicht eine andere letzte Wahrheit anerkennt, sondern nur eine Art darstellt, unsere historische Situation als Berufung zu verstehen, die mir durch die Forderung nach der Schwächung aller starken Kategorien gekennzeichnet scheint: im persönlichen Lebensentwurf ebenso wie in der Vision einer Gesellschaft, der Politik und der Geschichte in ihrem Fortgang. Ihr Konzept der »subversive[n] Kontinuität der Schwächung« gefällt mir sehr, ich halte es für eine der besten Definitionen des »pensiero debole«. Ihre Verweise auf die Befreiungstheologie fügen sich nahtlos in die Vorstellung der »Subversivität«, von der es mir scheint, dass man sie immer mehr beim Wort nehmen soll, auch im Widerspruch zur Orthodoxie der römischen Kirche. Hier ist ein Punkt erreicht, der mir in Bezug auf den »pensiero debole« persönlich immer zentraler erscheint. Viel von dem lässt sich, wenn Sie wollen, unter Berufung auf die Wichtigkeit Diltheys in der Bildung der Heideggerschen Idee der Geschichte der Metaphysik zusammenfassen. Tatsächlich ist es Dilthey, der (in der »Einleitung in die Geisteswissenschaften«*) das Auftreten des Christentums als Anfang des Endes der antiken Metaphysik und ihres 1 * im Original Deutsch
Brief von Gianni Vattimo
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Objektivismus nachgewiesen hat; eines Anfangs allerdings, der – zumindest bis Kant – lange Zeit ohne nennenswerte Folgen blieb. Und das auf Grund der Tatsache, dass die christliche Kirche durch die historischen Zwänge im Zusammenhang mit dem Fall des Römischen Reiches ihrerseits auch eine weltliche Macht wurde, die für die Erhaltung der gesellschaftlichen Strukturen und die Aufrechterhaltung eines geregelten Zusammenlebens Verantwortung übernahm. Wir in Italien haben uns daran gewöhnt, in diesem Zusammenhang von der »Konstantinischen Kirche« zu sprechen, und zwar deshalb, weil sie hier noch sehr lebendig und aktiv ist. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht nur um die ständige – und immer unerträglichere – Einmischung der Kirche in die italienische Politik, sondern vor allem um die grundsätzliche Tendenz der Kirche (der Syllabus ist nicht nur eine italienische Angelegenheit), sich als Säule der »Stabilität« der Institutionen, also der Aufrechterhaltung der Ordnung und der bestehenden Mächte zu betrachten. Natürlich wurde ich oft danach gefragt, wie sich die Kirche meiner Meinung nach in der gegenwärtigen Situation der Welt verhalten sollte, wenn nicht als Schutzwall gegen die Unordnung und die »Anomie«, die uns von allen Seiten bedrohen? Aber wen bedrohen diese Unordnung und Anomie? Walter Benjamin würde sagen, dass es vor allem die Sieger sind, die diese Bedrohung verspüren, diejenigen, die auf Grund ihrer Position in der Welt die gegenwärtige Ordnung als vernünftig und gerecht empfinden. Aber die Besiegten/Verlierer? Der Frieden als »tranquillitatis ordinis«, den die Kirche aus guten Gründen immer aufrecht zu erhalten suchte, indem sie sich, wo immer es ging, mit den staatlichen Mächten verbündete, ist nämlich in Wirklichkeit genau die Ruhe einer Ordnung, die den Verlierern nur als Unterdrückung und ungerechtfertigte Herrschaft erscheint. All das hängt wesentlich mit dem metaphysischen Objektivismus zusammen, der die kenosis nicht ernst nehmen will. Aber noch einmal: Was für eine Kirche möchte der post-moderne Christ? Wird es nicht genau eine Kirche sein, die nur die Züge eines Mythos hat, auch in ihrer Vagheit und ihrer unersetzlich/ unwiederbringlich/ notwendigerweise utopischen Natur? Ich glaube, dass Sie gut daran tun, meinen Begriff der »eterotopia« zu erwähnen. Für die katholische, d. h. universale Kirche könnte dies eine sehr konkrete Richtungsweisung ergeben. In der post-modernen Situation geschieht das Heil höchstwahrscheinlich über die Verbreitung/Ausstreuung, die Beseitigung des Zentralismus, die Öffnung gegenüber der Vielfalt und die Förderung der Verschiedenartigkeit der Kulturen. Vielleicht sollte man die Subversivität der christlichen Botschaft von nun an »Anarchie der Freundschaft« nennen. Aber wie Sie zutreffend am Ende Ihres Buches sagen: »Wir haben bisher nur die ersten Schritte auf dem Weg … umrissen«.2 Gianni Vattimo 2 Übersetzung: Johannes Kammerer.
Einleitung
Dem Motiv der Wiederkehr der Religion, wie es in den Schriften des italienischen Philosophen Gianni Vattimo begegnet, sind die Überlegungen dieses Buches gewidmet. Schillernd bleibt die Verwendung jenes Terminus, wo er gegenwärtig auftritt. Fraglich ist, ob er unsere Zeit zu charakterisieren vermag oder aber bloß »von den Trendforschern selbst erzeugte heiße Luft«3 ist: Unverbindliche Esoterik und freiheitsraubender Fundamentalismus, Wellness und Selbstaufopferung, fernöstlich inspirierte Spiritualität und westlich orientierte Ersatzreligionen, das Erforschen religiöser Megatrends und das Beschwören der kleinen Herde, die romzentrierte Weltreligion und das weltweite Wachsen dezentraler pentekostaler Bewegungen, schrittweise Auflösung der gesellschaftlichen Vorbehalte zwischen Sozialismus und Kirche auf der einen Seite und unpolitischer Heilsegoismus ohne gesellschaftliche Vision auf der anderen Seite begegnen heute als ein weites Feld religiöser Ausdrucksform. Allenfalls mag mit Wiederkehr ein diffuses Klima bezeichnet sein. Diese Vagheit ist als geschichtliche Gestalt ernst zu nehmen und nicht vorschnell durch klare und eindeutige Bestimmungen zu überspielen. In dieser Vagheit die Frage zu artikulieren, ob es eine Brücke zwischen jener wie auch immer zerstreuten Wiederkehr und dem Logos biblischen Gottesgedächtnisses gibt, mag ein erster Weg auf diesem unsicheren Terrain und eine fundamentale Aufgabe heutiger Theologie sein. Die »philosophische Intention« von Vattimos Denken liegt im »Vorschlag einer ontologischen und nicht nur soziologischen, psychologischen, historischkulturellen Lektüre des menschlichen Daseins im Rahmen seiner spätmodernen, postmodernen, technologischen Bedingungen«4. Wollen die folgenden Überlegungen in ein Gespräch mit Vattimo treten, gilt es dementsprechend zu fragen, was Wiederkehr der Religion bedeuten kann, wenn sie noch anderes meint als eine empirisch allenfalls zu konstatierende Größe. Begegnet im Bedenken der Wiederkehr eine Kategorie, die heute – geschichtlich, in unserer 3 Körtner, Religion ohne Gott, Art., in: Die Furche 46, 11. 4 Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 12 f.
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Einleitung
Situation der Spätmoderne – in den Geist des Christentums selbst zu weisen vermag? Ein Übergang könnte vernehmbar werden von der Wiederkehr der Religion (als Gegenstand aktueller Diskussion) zur Religion als Wiederkehr (im Sinne einer theologischen Bestimmung). 1) Die Gestalt der Wiederkehr begegnet vor allem in Vattimos Text Die Spur der Spur : »Wir wollen also dieser Spur der Spur folgen, als konstitutiv für eine erneuerte Reflexion über die Religion das Faktum selbst von ihrer Wiederkehr, ihrer Vergegenwärtigung, ihres Rufes nach uns mit einer Stimme, von der wir sicher sind, sie schon einmal gehört zu haben, aufnehmen.«5
Wie kann dieser eröffnende Einstieg gehört werden? Womit können wir diese Passage in Verbindung bringen? In welche Stimmung finden wir uns versetzt? In ihrem Gestus des Aufbruchs ins Offene des Denkens kann sie als ferne Antwort an den Ruf des »Zeitgenossen« Hölderlin gelesen werden, der in der dritten Strophe seiner Elegie Brot und Wein die Aufforderung dem Freund gegenüber ausspricht: »Aufzubrechen. So komm! Dass wir das Offene schauen« (V 41). In der neunten Strophe dieser Elegie findet sich dann die »Spur der entflohenen Götter«, die – ist es Dionysos oder Christus? – er den »Götterlosen hinab unter das Finstere bringt« (V 147 f). Lautet Hölderlins bange, von Heidegger aufgenommene Frage, ob es noch »Genossen« des Dichters in dürftiger Zeit, das heißt in der Zeit der entflohenen Götter, gäbe (V 119 – 122), so reiht Vattimo sich nun als Freund Hölderlins in die Gemeinschaft mit dem Dichter ein: Die Frage nach »Hesperien« (V 150), dem Abendland, und seiner Erinnerung an den Gott ist es, die darin als Echo anklingt. Wiederkehrend vereint sie Hölderlin und Vattimo im Horizont der Moderne, in dem sie beide stehen, und – trennt sie, im Wandel der Zeit, der nach einem neuen Einsatz ruft. 2) Vattimo spricht von der Notwendigkeit eines Neueinsatzes in der Thematisierung der Religion, der nicht bloß einem individuellen, zufälligen Interesse geschuldet ist, sondern einem allgemeinen Erfordernis entspricht, was sich im Subjekt wir (»wir wollen also …«) und im Bild einer vorausliegenden Spur, der man nachgehen müsse, zum Ausdruck bringt. Als Vattimo und Derrida im Jahr 1992 damit beauftragt wurden, einen Diskussionsgegenstand für ein Europäisches Jahrbuch der Philosophie vorzuschlagen, plädierten beide ohne Absprache für das Thema Religion. Deren Thematisierung könne Vattimo zufolge nicht an beliebiger Stelle bei diesem oder jenem Inhalt ansetzen: Ihr Ausgangspunkt (ihre Grundlage) ist uns darin vorgegeben, dass Religion als wiederkehrende, als sich vergegenwärtigende und als Ruf nach uns mit einer Stimme, 5 Vattimo, Die Spur der Spur, 108 (Die Übersetzung dieses Textes wurde an manchen Stellen leicht geändert).
Einleitung
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von der wir sicher sind, sie schon einmal gehört zu haben, erfahren wird. Wiederkehr verweist zunächst darauf, dass die Frage nach der Religion erneut herandrängt. Es liegt ihr bereits eine Geschichte der Auseinandersetzung voraus, die Frage nach der Religion stellt sich nicht in der Unmittelbarkeit eines spontanen neuen Einfalls, einer genialen Eingebung, Erweckung oder Stiftung. Was herandrängt, ist ein Sich-Vergegenwärtigen einer (mag sie vergessen oder überhört sein) Stimme der Tradition, in der wir stehen und aus der wir nicht heraustreten können. Stimme aber verweist auf ein Hörbar-Werden im Verklingen, nicht auf eine unmittelbare Präsenz, die wir bloß aufzugreifen hätten. Es erreicht uns ein Ruf, dem eine Antwort zu geben ist. Das Denken Vattimos, so die These dieser Arbeit, versteht sich zunehmend als Eröffnung eines Sprachraumes, in welchem die Frage nach der Religion Resonanz finden kann – und zwar jenseits der Zuschreibungen »Theismus« und »Atheismus«. 3) Das Denken Vattimos, apostrophiert als pensiero debole (schwaches Denken), sieht sich selbst in einer Tradition mit vielen Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart, denen es Antwort geben möchte in achtungsvoller Zuwendung (pietas). Nicht unter enzyklopädischem, philologischem oder apologetischem Anspruch, sondern in ihren subversiven Momenten sucht es diese Botschaften aufzugreifen, weshalb ich von einer schwachen Kontinuität, die dieses Denken mit der Tradition verbindet, sprechen möchte. Mein Versuch, mich auf die Philosophie Vattimos zu beziehen, möchte sich in der Akzentuierung einer Linie halten, die Vattimo mit Hegel, Nietzsche, Heidegger und der biblischen Botschaft in engen Zusammenhang bringt. 4) Dieses Bemühen, gleichsam dem Vor-Wort Vattimos eine Antwort zu geben, hat im Laufe der Beschäftigung in einem Brief Vattimos eine freundschaftliche Entgegnung erhalten, welche ich unter dem Titel »Anarchie der Freundschaft …« den eigenen Überlegungen vorangestellt habe. Die als »Antwort an …« intendierte Arbeit durfte so ansatzweise den Charakter eines »Gespräches mit …« annehmen und möchte diesen nicht mehr verlieren, indem sie sich etwa zu einem »Urteil über …« drängen ließe oder als »Einführung in …« darstellte.6 Sie versucht in ein Gespräch zu treten mit einem Freund oder Bruder. Diese Annäherung an ein Gespräch nahm ihren Ausgang bei Vattimos Aufsatz 6 Unter den zahlreichen einführenden Texten zu Vattimo seien neben dem Buch von Martin Weiß (Weiß, Gianni Vattimo) vor allem folgende zu einer theologischen Auseinandersetzung hinführenden Texte hervorgehoben: Klun, Metaphysikkritik und biblisches Erbe; Engel, Philosophie (im Lichte) der Inkarnation. Zu Gianni Vattimos Religionsdiskurs im Zeitalter der Interpretation (in: Vattimo/Eggensperger/Engel/Schröder, Christentum im Zeitalter der Interpretation); Bauer, Säkularisierung als Verwindung des Todes Gottes?; Dotolo, La teologia fondamentale davanti alle sfide del »pensiero debole« di G. Vattimo; Quintanas, La ontologia de la actualidad de G. Vattimo: Una filosofia entre la religiûn y la politica; Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue.
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Einleitung
Die Spur der Spur, in dem das Wort von der Wiederkehr der Religion seine grundlegendste Reflexion erhält. Geschrieben für die Gesprächssituation eines Seminars, das der Publikation des genannten Europäischen Jahrbuches für Philosophie vorausgehen sollte, durften auch wir diesen Text in der Vorbereitung für ein Seminar meines Lehrers Johann Reikerstorfer zum ersten Mal gemeinsam lesen; in einem Wiener Gastgarten versuchten wir der drückenden Hitze zu widerstehen und waren erstmals in einer Konstellation versammelt, in der wir noch heute – Jahre später – zusammenarbeiten. Der zweite Teil dieser Arbeit ist einer durchgängigen Lektüre dieses Textes gewidmet und versucht damit, ein wenig den dialogischen Charakter, der diesen Text begleitet, einzufangen. Davor kommen im ersten Teil vor allem Vattimos Sammelbände Das Ende der Moderne, Jenseits des Subjekts, Jenseits der Interpretation, Die transparente Gesellschaft, Abschied und Jenseits des Christentums sowie die kleine Schrift Glauben – Philosophieren zu Wort. 5) Am verwegensten aber scheint mir Vattimos Replik auf Paulus zu sein, die unter dem Titel Os m¦. Zur Haltung des ›als ob nicht‹ bei Paulus und Heidegger veröffentlicht ist. Vattimo findet dort zu einer Deutung des Christentums, die sich als Verlust jeglicher Fundamente und sicheren Standpunkte, die eine Bemächtigung der Welt zu gewährleisten imaginierten, verstehen lässt. Diese Bewegung eines Abschieds gilt es zu erzählen, und sie hat Vattimo zufolge einen Widerhall in Motiven postmodernen Denkens. In der Verschränkung dieser beiden Linien, des biblischen Gottesgedächtnisses (kenosis des logos) und der Kritik an einer Metaphysik der Präsenz, öffnet sich für ihn eine Möglichkeit der Erzählbarkeit unseres Geschicks in der Geschichte des Abendlandes. Allen Versuchen gegenüber, Religion im Rahmen eines Bedenkens ihrer möglichen Wiederkehr als Konstruktion von Sinn zu verstehen, muss sich aus dieser Perspektive beständig die Frage erneuern, ob uns das biblische Gottesgedächtnis nicht eine Subversivität zumutet, welche Religion in der Schwächung sich immer wieder aufbauender starker Strukturen, seien sie nun Sinn- oder Geschichtskonstrukte, denken lässt. Christliche Religion wäre demnach ein je neuer Abschied vom Versuch der Usurpation des Ersten und des Letzten, des absoluten Anfangs und des letzten Grundes, der Unmittelbarkeit des Ursprungsmythos und der Endgültigkeit des Endes aller Erzählungen. Nicht Ursprünglichkeit und Letztgültigkeit wären das Signum, unter dem uns Religion begegnet, sondern ihre Wiederkehr. Dies provoziert aber sofort eine Anfrage: Wenn Religion nicht als letztes Fundament angesehen wird, ist damit unweigerlich der Weg in Relativismus und Nihilismus gewiesen? Oder aber vermag sich darin auch eine eröffnende Dimension zu offenbaren, die sich als Antwort auf die Auflösung jeglicher Fundamente, wie sie in gegenwärtiger nihilistischer Gestimmtheit statthat, einbringen könnte? Die Frage nach eröffnenden Momenten, nach Motiven der Offenheit und Eröffnung, reicht in den Geist des Christentums selbst
Einleitung
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hinein. Wir finden uns erneut verwiesen auf Paulus, der dies zum Ausdruck bringt, wenn er im zweiten Brief an die Gemeinde von Korinth schreibt: »Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2 Kor 3, 17). 6) Vattimos Motiv der Religion als Wiederkehr geht nicht von einem wesenhaften Bestand der Offenbarung und der akzidentellen Erfordernis der Interpretation aus, sondern sieht Offenbarung und Interpretation zuinnerst aufeinander bezogen: Die Offenbarung der Inkarnation in kenosis bedeutet die Schwächung jeglicher starrer Fundamente und setzt eine Geschichte der Interpretation und Säkularisierung frei, die selbst wiederum dazu führt, Offenbarung vom Charakter der Freiheit und Eröffnung neu zu verstehen. In diesen Zirkel und in diese Geschichte der Interpretation treten wir als gleichsam Zu-spätKommende ein. Ihre eröffnende Vor-Gabe, die uns als geistiger Zusammenhang vorausliegt, lässt sich selbst nicht festhalten, sondern kann nur in unserem Antwort-Geben aufleuchten. Jede Antwort muss dabei ihrerseits das Geltungsbedürfnis aufgeben, das letzte Wort und die abschließende Interpretation zu sein. Vielmehr muss sie selbst zum eröffnenden Vor-Wort für neue antwortende Erzählungen werden; zum eröffnenden Vor-Wort auch für jene ihr vorausgehenden Erzählungen, denen sie selbst Antwort zu geben suchte und die aus dieser Begegnung gewandelt und sogar angereichert hervorzugehen vermögen. Vattimo nennt dies die Produktivität des interpretatorischen Aktes und sieht sie in Verbindung mit der Dimension des Geistes. Interpretation ragt zuinnerst in den Geist des Christentums hinein und lässt den Begriff der Offenbarung nicht mehr ohne sie denken.7 7) Wo Botschaften einander interpretieren, wo Erzählungen einander wechselseitig Gastfreundschaft gewähren und Antwort geben, ereignet sich ein Raum der Offenheit. Die Kategorie der vollständigen Beerbung (der undialektischen Aufhebung) einer Erzählung durch eine fortschrittlichere vermag die schöpferisch anarchische Kraft dieser freundschaftlichen Begegnung ebenso wenig zum Ausdruck zu bringen wie der Rekurs auf einen ereignishaften, gleichsam apokalyptischen Einbruch absoluter Diskontinuität, der den Zusammenhang der Erzählungen sprengt. Diesen beiden Modellen (dem evolutiven der Fortschrittslogik und dem apokalyptischen des Abbruchs) tritt Vattimo entgegen, indem er (nicht zuletzt im Motiv der Wiederkehr) nach einem geschichtlichen Zusammenhang, nach einer Tradition eröffnender Erzählungen und antwortender Interpretationen fragt. 8) Mit dem Titel eines Buches von Umberto Eco – die Rede ist von »Apokalyptiker und Integrierte« – lassen sich noch einmal anders zwei Pole bezeichnen, deren vereinnahmender Kraft die freundschaftliche Begegnung von Vattimos Andenken der Überlieferung zu widerstehen sucht: Apokalyptik meint den 7 Vgl. Deibl, Offenbarung – Interpretation – Geschichte.
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Einleitung
Zugriff einer Macht, welche jeglichen geschichtlichen Zusammenhang negiert, Integration den Sog, welcher alles in der Plausibilität der Kontexte und tradierten Zusammenhänge aufgehen lässt. Eco schreibt in der Einleitung seines Buches: »Im Grunde genommen tröstet der Apokalyptiker den Leser ; er lässt ihn, vor dem Hintergrund der drohenden Katastrophe, die Existenz einer Gemeinschaft von ›Übermenschen‹ erahnen, die sich über die Banalität und den ›Durchschnitt‹ zu erheben vermögen (und sei es auch nur durch Ablehnung) – im Extremfall die reduzierfeste und auserwählte community des Schreibenden und des Lesenden, ›wir beide, du und ich – die einzigen, die verstanden haben und gerettet sind; die einzigen, die nicht Masse sind‹.«8
Was an religiösem Erbe gegenwärtig in verschiedenen Kontexten wiederzukehren scheint, sind nicht zuletzt apokalyptische Motive – Vattimos Anliegen, Wiederkehr im Kontext der Religion zu bedenken, meint, dieser apokalyptischen Gestimmtheit in einer Differenzierung des religiösen Feldes, die im öffentlichen Diskurs vielleicht zu wenig erfolgt, zu antworten. Dies kann aber nicht allein in einer isolierten Studie zur Religiosität erfolgen, sondern muss, zumal die apokalyptische Gestimmtheit mit gesellschaftlichen Um- und Abbrüchen zusammenhängt, auch mit einer gesellschaftlich-politischen Vision verbunden sein, welche die Frage nach der Gestaltung von Zukunft stellt. Es geht nicht um ein elitäres Durchschauen der Wirklichkeit, sondern um ihre gemeinsame Gestaltung. Es geht darum, gegen den Sog einer Integration aller Wirklichkeit in die Tradition eine subversiv-emanzipatorische Perspektive, die sich einer Kontinuität des Freiheitsgedankens verpflichtet fühlt, zu artikulieren. 9) Von der Erzählung der Menschwerdung in kenosis her ein apokalyptisches Bewusstsein unserer Gesellschaft zu bedenken und eine subversiv-kritische Lesart in sämtliche Diskurse einzutragen, ist nicht bloß eine erneute Thematisierung der Religion als eines objektiv bestimmbaren oder historisch ausweisbaren Gegenstandes des Interesses. Wir müssen an dieser Stelle fragen, was die Thematisierung der Religion überhaupt bedeuten kann. Was in den postmodernen Diskursen zu einer Wiederkehr der Religion ins Auge springt, ist Carmelo Dotolo zufolge »eine Form meist gänzlich disparater Intentionalitäten, die mehr von der Sehnsucht einer Wiederentdeckung des Ichs ausgebreitet werden, als von der Möglichkeit, in die Räume einer Alterität zu treten, die an eine tatsächliche Dezentrierung appelliert, oder wenigstens auf ein der Hermeneutik verpflichtetes Zuhören, das zur Sache selbst führt.«9 8 Eco, Apokalyptiker und Integrierte, 16 f. 9 Dotolo, The Hermeneutics of Christianity an Philosophical Responsibility, in: Zabala, Weakening Philosophy, 353 (im Original Englisch).
Einleitung
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Kann der Versuch, heute die Religion jenseits eines historischen Interesses zum Thema zu machen, über eine bloße Egozentrik und Spiegelung der Egoität hinausgehen? Wiederkehren müsste, um diesem Verdacht zu entgehen, die Frage nach dem – Menschlichen. Könnte sich in einer erneuerten Thematisierung der Religion auch ein Blick dafür öffnen, was das Menschliche sein kann? Ein Blick, der das Menschliche hervortreten lässt? Was meint Paulus, wenn er an die Gemeinde von Kolossä schreibt: »und ich werde das Fehlende an den Drangsalen (thlipseon) Christi an meinem Fleisch ergänzen« (Kol 1, 24)? Es kann nicht bedeuten, dass am Leid Christi etwas fehlt, als ließe sich Leid noch in quantifizierbare Kategorien bringen. Die Rede ist nicht von Leid, sondern von Drangsalen (thlipsis), was ein wichtiges Wort in den Paulinischen Briefen ist; es spricht die Situation aus, in der es keine letzten Sicherheiten mehr gibt. Was Paulus in dieser Situation eines Fehlens jeder Sicherheit und jedes unerschütterlichen Fundamentes in seinem Fleisch und in seinem Leib ergänzen muss, ist die unvertretbare Antwort des Menschen, die zur Offenbarung gehört. Er selbst wird zur Antwort, wie die Gemeinde von Korinth selbst zum Brief, geschrieben vom lebendigen Geist, wird (2 Kor 3, 3). Was fehlt, ist die menschliche Antwort, welche die Offenbarung erst zur Offenbarung werden lässt. Diese Antwort, die Paulus in seinem Fleisch, d. h. in seiner Menschlichkeit geben muss, vermag selbst nur in der Eröffnung eines neuen Blicks, was das Menschliche bedeuten kann, zu erfolgen.
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Und ich sah neuen Himmel und neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sah ich aus dem Himmel herabkommend – von Gott her, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her sagen: Siehe, das Zelt Gottes inmitten der Menschen. Und er wird inmitten von ihnen zelten, und sie werden seine Völker sein, und er, Gott, wird inmitten von ihnen sein als ihr Gott, und er wird jede Träne aus ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Klage, noch Geschrei, noch Mühsal wird mehr sein, weil das erste vergangen ist. Und es sagte der auf dem Thron Sitzende: Siehe, neu mache ich alles, und er sagt: Schreibe, weil diese Worte zuverlässig und wahr sind. Und er sagte mir : Sie sind zum Dasein gelangt. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Ich werde dem Dürstenden aus der Quelle des Wassers des Lebens unverdientermaßen geben. Der Überwindende wird dies erben, und ich werde ihm Gott sein, und er wird mir Sohn sein. […] Und die Völker werden durch ihr Licht wandeln, und die Könige bringen ihre Herrlichkeit in sie, und ihre Tore werden wirklich nicht geschlossen tagsüber, Nacht nämlich wird dort nicht mehr sein, und sie werden die Herrlichkeit und die Ehre der Völker in sie bringen. (Offb 21, 1 – 7. 24 – 26)
Wiederkehr, Vergegenwärtigung, Ruf und Gehör sind die ersten Bestimmungen, welche Vattimo einem Nachdenken über die Religion zugrunde legt: »das Faktum selbst von ihrer Wiederkehr, ihrer Vergegenwärtigung, ihres Rufes nach uns mit einer Stimme, von der wir sicher sind, sie schon einmal gehört zu haben«10. Dies scheinen zunächst gänzlich formale Begriffe zu sein, die lediglich eine gewisse Struktur zum Ausdruck bringen, inhaltlich aber leer sind. Doch handelt es sich dabei nicht um Strukturen, die man antrifft, sobald man sich der biblischen Erzählung zuwendet? Die folgenden Überlegungen wollen zum einen zeigen, dass diese Motive biblischem Denken nicht fremd sind, und zum anderen auf hermeneutische Strukturen hinweisen, welche die biblische Textur selbst 10 Vattimo, Die Spur der Spur, 108.
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hervorbringt. Der Blick wird dabei besonders auf die Johannes-Apokalypse als das letzte Buch im biblischen Kanon gelenkt.11 1) In den letzten beiden Kapiteln der Johannes-Apokalypse – und damit am Ende der Bibel überhaupt – findet sich eine Vision der Neuschöpfung, welche die Erzählung vom schöpferischen Ursprung am Beginn des Buches Genesis erneut aufnimmt und in vielfältigen Bezügen vergegenwärtigt. Dies zeigt schon der erste Satz, der in Bezug auf den Beginn der Bibel (»Als Anfang hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen«, Gen 1, 1) von neuem Himmel und neuer Erde spricht. Zwei Motive sollen bezüglich dieses Endens der Bibel hervorgehoben werden. Zum einen bedeutet es eine Form der Wiederkehr, die den Anfang aufnimmt, aber nicht bloße Wiederholung oder Rückkehr zu einem bereitliegenden Ursprung ist. Zum anderen ist, welchen Charakter dieses Enden der Bibel hat, an der Schöpfungserzählung zu lernen, denn jedes Enden, das biblisch erzählt wird, erhält sein Maß vom siebenten Tag, der vom Ende der Schöpfung spricht. »Und Gott vollendete am siebenten Tage seine Arbeit, die er gemacht hatte, indem er aufhörte mit all seiner Arbeit, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag, indem er ihn heiligte: denn an ihm hörte er auf mit all seiner Arbeit, die Gott geschaffen hat, um zu machen.« (Gen 2, 2 – 4)
Segen und Heiligung des Aufhörens am siebenten Tag drücken dessen Transzendenz und damit Öffnung aus. Die Folge der als Woche wiederkehrenden Tage fällt nicht in die ewige Repetition oder die unendlich zerdehnte Sukzession. Vielmehr erhält die Zeit selbst einen abschließend-eröffnenden Charakter, der ihr Zukunft gibt.12 Von daher muss auch das Ende der Bibel gelesen werden. Beschlossen wird sie von einer Erzählung der Offenheit: »neuer Himmel« und »neue Erde« nehmen den Anfang der Bibel wieder auf, der darin wiederkehrt. Darin überschreitet sich das Ende der Bibel in eine offene Zukunft hin. Sich in den von biblischen Texten aufgespannten Zeit-Raum zu begeben, heißt mithin, sich in einer Dialektik aus Geschlossenheit und Offenheit wiederzufinden und dabei einer Struktur der Wiederkehr zu begegnen. 2) Die Erzählung der Bibel, die sich nicht allein zwischen Genesis und Apokalypse, sondern auch zwischen den Polen Geschlossenheit und Offenheit zeitigt, läuft nicht vornehmlich an Argumenten entlang, sondern zeigt sich eher als Ruf und als Einladung, Gehör zu schenken. Gleich einem Refrain wiederholt die letzte Schrift der Bibel immer wieder das Wort: »Wer Ohren hat, der höre …« – Was es zu hören gibt, sind zunächst die anderen biblischen Erzählungen, die in Anspielung und (freiem) Zitat in der Johannes-Apokalypse wiederkehren. Wir werden eingeladen, zu Gästen und zu Gastgebern von Erzählungen zu werden: 11 Vgl. Ebach, Apokalypse und Apokalyptik; Roloff, Die Offenbarung des Johannes; BilderMacht. Die Johannesapokalypse, BiKi 67 (2/2012); Wengst, »Wie lange noch?«. 12 Vgl. Appel, Zeit und Gott, 37 f.
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Wir werden zu Gastgebern früherer Erzählungen, die erneut präsent werden und denen wir Gehör schenken, sich noch einmal auszusprechen. Wir werden in einer Umkehrung dessen aber auch selbst zu Gästen jener Erzählungen, die uns etwas zu sagen haben und die noch einmal von sich reden machen. Damit ist eine grundlegende Erkenntnis berührt: Es liegt uns nicht bloß ein abstrakter Sprachhaushalt voraus, der uns zur Verfügung steht und den wir in unserem Sprechen aktualisieren, sondern es sind Erzählungen, welche uns Welt und Sprache zu eröffnen vermögen.13 Sie zeigen sich als jene Vor-Gabe, der wir antwortend zu entsprechen haben und die in unserer Antwort wiederzukehren vermag. Diesen gastlichen Charakter, der Erzählungen eignet, bringt die Johannes-Apokalypse – verfasst in ungastlichem Umfeld14 aus dem Geist der Gastfreundschaft gleichsam als Einladung – in besonderer Weise ans Licht. Dies soll anhand eines neuralgischen Übergangs (3) und an der Textgestalt der Johannes-Apokalypse (4) verdeutlicht werden. 3) Gehör und Gastfreundschaf finden sich an einem entscheidenden Wendepunkt der Apokalypse, am Übergang ihres ersten großen Abschnitts zum zweiten15, in einem Wort Christi zusammen, das von Umkehr spricht. Sie werden gleichsam zum Angelpunkt, um den sich die letzte Schrift der Bibel dreht und der eine Tür zu ihrer Textur zu öffnen vermag: »Mach also ernst und kehr um. Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an, ob einer meine Stimme hört und die Tür öffnet. Ich werde eintreten und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir. … Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Danach sah ich: Eine Tür war geöffnet …« (Offb 3, 19 – 20.22; 4,1)
Betrachtet man den Ort dieser Passage genauer, geht es um den Übergang vom ersten Teil, der sieben Briefe an sieben Gemeinden Kleinasiens enthält, zum zweiten Teil, in dem sich die apokalyptischen Visionen finden. Vernehmbar wird innerhalb eines Textes ein Gleiten von einer Gestalt (Brief) zu einer gänzlich anderen (den metaphorisch hoch aufgeladenen Visionen), ein Vorgang des Übersetzens von einem Ufer zum anderen. Der Übergang lässt Kontinuität und Bruch in gleicher Weise hervortreten. Doch wie ist dieser teilend-zusammenfügende Übergang gestaltet? Er ist situiert in einer kurzen Begebenheit, in der gleichsam um die Gastfreundschaft gewürfelt wird: Christus selbst ist es, der hier um Einlass bittet und eingelassen selbst zum Gastgeber wird. Auf dem Spiel steht mit der Gastfreundschaft auch die weitere Erzählbarkeit der Apokalypse, also die Eröffnung 13 Vgl. Bahr, Die Sprache des Gastes. 14 Vgl. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, 25 – 30. 15 Der erste Teil reicht von 1,9 – 3,22, ab 4,1 folgt der zweite (vgl. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 23).
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der Apokalypse selbst: Jenes kleine Bild ist der Übergang zur Öffnung einer Tür, die erst die weitere Erzählung zugänglich macht und sie vor der Verschließung bewahrt.16 Von Frage und Gehör, Einladung und Gastfreundschaft, Umkehr und Eröffnung und nicht von unüberwindlichem, verschlingendem, todbringendem Abgrund ist diese Szene des Übergangs geprägt. Es ist der vom Kommen Christi als Gast bestimmte Ernst des kairos, der Umkehr und Übergang ermöglicht. Mit dieser einladend-eröffnenden Bedeutung des Überganges ist ein Hinweis zur Deutung des gesamten Buches und darüber hinaus der biblischen Erzählung überhaupt gegeben. Als abschließendes Buch ist die Johannes-Apokalypse die Bekräftigung einer Interpretationslinie der Bibel, welche die vielen Übergänge, die sich in ihr zwischen den einzelnen Büchern und innerhalb dieser zwischen verschiedenen Zeiten und Orten, Textsorten und Traditionen finden, als Eröffnung ansieht. 4) Was an jenem Übergang der Johannes-Apokalypse deutlich wird, zeigt auch die Textgestalt des Buches als ganze, ist dieses doch selbst als eine »Zitatmontage und -collage« älterer biblischer Texte und außerbiblischer Apokalypsen zuinnerst von einer Verweisungsstruktur geprägt, d. h. es bringt aus sich einen interpretativen Charakter hervor, der ihr nicht bloß äußerlich anhängt. Die Johannes-Apokalypse »nimmt zitierend und anspielend zentrale Motive und Traditionen«17 auf, lässt sie ineinander übergehen und führt zu ihren Rekonfigurationen. Sie ist rekapitulierende Versammlung all der überlieferten Gestalten der Hoffnung und Verheißung, verleiht diesen Gegenwart und lässt sie in einem neuen Licht erscheinen. Indem Anklänge und Zitate einander deuten, interpretieren und antworten, gewähren Botschaften, Verkündigungen und Rufe einander Gastfreundschaft. Überlieferung tritt damit in einen Raum der Aktualität, der sich in einem Hinweis auf das Drängen der Zeit – Anfang und Ende des Buches rahmend – zum Ausdruck bringt: »die Zeit, der Kairos, ist nahe« (Offb 1, 3) und »ich komme bald« (Offb 22, 20). 5) Die Johannes-Apokalypse entgrenzt schließlich in ihrem Schlussbild der gastfreundlichen Stadt (Offb 21 f) jenen Gedanken des Übergangs über ihre 16 Vgl. Wengst, »Wie lange noch?«, 16 f. Wengst betont gegenüber der Immanenz und Verschlossenheit der Geschichte das Moment der Öffnung in der Johannes-Apokalypse, so auch in Hinblick auf die Buchrolle in Kapitel 5: »Denn wenn die Rolle nicht geöffnet wird, bleibt alles beim Alten und läuft die Weltgeschichte weiter wie bisher. Ihm [dem Schreiber Johannes] gilt der Weltlauf nicht als großartige Fortschrittsgeschichte, an der man voller Optimismus teilhat. Im Gegenteil, so wie es läuft, ist es zum Heulen. Der Weltlauf ist zum Heulen, wenn er aus der Perspektive der Opfer betrachtet wird. Er ist es erst recht, wenn sich seine Geschlossenheit aufdrängt, wenn keine Öffnung möglich erscheint, keine ›Gegenlektüre‹. Die Lektüre der Rolle könnte ihn aufbrechen.« Wengst, Enthüllung der Macht, in: Bilder-Macht. Die Johannesapokalypse, 65. 17 Ebach, Apokalypse und Apokalyptik, 228; siehe besonders 225 – 229.
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eigene (abgeschlossene) Gestalt hinaus, wenn sie die Einladung an die (andersgläubigen) Völker ausspricht, in die offene Stadt, welche keiner Tore mehr bedarf, zu pilgern und ihre Herrlichkeit in sie zu bringen. (Offb 21, 24 – 26) Jene Geschenke, die der aus Gold, Edelsteinen, Perlen und Glas gebauten Stadt in ihrer vollendeten Form (Offb 21, 15 – 21) einzig noch etwas hinzuzufügen vermögen, sind wohl die Erzählungen, welche die Völker in ihrer Identität und ihrem Gedächtnis konstituieren und welche sich in der offenen Stadt in ihrer herausfordernden Neuheit, Fremdheit, Befremdlichkeit, Ambiguität und Mehrdeutigkeit zu begegnen vermögen. Können im Sinne jener Entgrenzung auch spätere Zeiten und Generationen, die bereits ein breiter Graben von den biblischen Erzählungen trennt, ihre Geschichten in die offene Stadt bringen? Lässt jene Vision auch an die gastliche Begegnung von Erzählungen unterschiedlicher Epochen denken? Dann wären auch die Gestorbenen mit ihren Erzählungen Teil jener Vision. Lässt sich mit der Johannes-Apokalypse, die davon spricht, dass das neue Jerusalem keinen Tempel (Offb 21, 22) mehr habe, schließlich auch ein Übergang biblischen Textes hin zu säkularen, nicht mehr religiös konnotierten Erzählungen denken? 6) Die Johannes-Apokalypse ist Wiederkehr des schöpferischen Anfangs.18 Die Vision des neuen Jerusalem nimmt viele Motive der biblischen Urgeschichte auf, bildet aber nicht bloß deren symmetrisches Gegenstück. Sie schildert paradiesische Zustände, ohne dabei von einer Rückkehr in den Paradiesesgarten zu sprechen: Das Holz (der Baum) des Lebens wird nicht mehr in Bezug auf den Garten lokalisiert, sondern in der Stadt.19 Der Fluss des Wassers des Lebens entspringt nicht im Garten von Eden, sondern geht vom Thron Gottes und des Lammes aus, also vom neuen Jerusalem, wie dies bereits die Propheten erwarten.20 Die Wiederkehr zentraler Motive zeigt eine interpretative Verschiebung, eine Transkription, welche in einer bloßen Rückkehr, gleichsam als endzeitlicher Wiederherstellung einer »hohe[n], feste[n], ideale[n] Struktur, von der die Geschichte ›abgefallen‹ wäre«21, nicht aufgeht. Als Wiederkehr des schöpferischen Anfangs endet die Johannes-Apokalypse mit einer Vision neuschaffender Begegnung und nicht mit der Schilderung der größtmöglichen Katastrophe, wie der heutige Sprachgebrauch des Terminus »apokalyptisch« insinuiert. »Kaum ein größerer Bedeutungsunterschied ist zu denken als der zwischen diesem gegenwärtigen Gebrauch des Wortes ›Apokalypse‹ und seiner ursprünglichen Bedeutung.«22 Inwiefern sich ein Verständnis 18 Wengst spricht von einer »Integration des paradiesischen Anfangs«, vgl. Wengst, Enthüllung der Macht, in: Bilder-Macht. Die Johannesapokalypse, 69. 19 Offb 22, 2; Gen 2, 9; 3, 22. 24. 20 Offb 22, 1; Gen 2, 10 – 14; Ez 47, 1 – 12, Sach 14, 8. 21 Vattimo, Abschied, 125. 22 Ebach, Apokalypse und Apokalyptik, 214.
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der »Gattung der Apokalypsen«23 als geeignet für eine Interpretation der Johannes-Apokalypse erweist, ist aufgrund hermeneutischer Vorentscheidungen in der Forschung schwer auszumachen.24 Bezüglich der Johannes-Apokalypse ist jedenfalls auf eine Transkription apokalyptischer Motivik in Richtung brieflichem Charakter (ähnlich den paulinischen Briefen) hinzuweisen.25 Nicht nur, dass sich im ersten Hauptteil sieben Briefe an Gemeinden Kleinasiens finden, auch Eingang und Schluss des Buches sind in der Weise eines Briefes gestaltet. Auf den Ruf »Amen. Komm, Herr Jesus« (Offb 22, 20) folgt als Schlusswort und Unterschrift der Johannes-Apokalypse und damit der Bibel ein Segenswunsch, wie er Briefen eigen ist: »Die Gnade des Herrn Jesus sei mit euch allen!« Beschlossen wird die christliche Bibel weder von der Rückkehr in den unverdorbenen Zustand des Ursprungs noch vom apokalyptisch monologisch diskontinuierlichen Einbruch des Gotteswortes als der richtend-rettenden Katastrophe, sondern von Anspruch und »Dialog«26 mit den Gemeinden. 7) Auch die Wahl der »apokalyptischen« Bilder im zweiten Teil der Offenbarung des Johannes kann als Verschiebung und Transkription gelesen werden. Es handelt sich nicht um rätselhaft neue Bilder, sondern um weithin vorgegebene Traditionen, die wohl jeder »mit apokalyptischer Tradition auch nur annähernd vertraute Christ des ausgehenden 1. Jahrhunderts […] auf Anhieb verstanden haben«27 dürfte. Was aber kann dann die Bedeutung dieser Bilder sein? Sie sind nicht selbst Offenbarung irgendwelcher Inhalte endzeitlichen Geschehens, sondern Darstellung ungastlicher Mächte der Welt, denen die Offenbarung Jesu Christi (Offb 1, 1) als Gastes und Gastgebers der offenen Stadt gegenübergestellt wird. Die apokalyptischen Bilder sind situiert zwischen jenem zuvor genannten Übergang, der vom Kommen Jesu als Gast und Gastgeber erzählt, und dem Bild des gastfreundlichen Jerusalem. Sie erscheinen eingerahmt von einer Vision der Gastfreundschaft, die tiefer reicht selbst als das kosmische Geschehen einer umfassenden Verwirrung himmlischer und irdischer Ordnungen, wie sie etwa im Rahmen der Öffnung der sieben Siegel geschildert wird. (Offb 6, 12 – 17) Das Herabstürzen der Sterne in ihrer orientierenden Kraft, das Verschwinden des Horizontes des Himmels, das Verrücken der Berge – jene kosmischen und terrestrischen Horizonte einer umfassenden Veränderung der Welt sind nicht der entscheidende Augenblick. Jenes Geschehen ist nicht mehr Movens der Geschichte. Die Sterne und Himmelskörper als göttliche Mächte von alters her verlieren den Charakter letzter Fundierung der Wirklichkeit. Wird auch das 23 Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 13. 24 Vgl. Müller, Die jüdische Apokalyptik. Anfänge und Merkmale, Art. 202 – 205 und Roloff, Offenbarung des Johannes, 13 – 15. 25 Vgl. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 15 f. 26 Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 15. 27 Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 14.
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himmlisch-kosmische Geschehen zum Schirm, auf den das irdische Unrecht und Chaos projiziert erscheint, so ist doch aus biblischer Sicht die Rettung nicht aus irgendwelchen kosmischen Veränderungen und epochalen Umwälzungen, einem Wandel der Äonen oder dergleichen zu erwarten. Vielmehr klopft Christus leise als Gast an die Tür und wird schließlich zum Gastgeber, worin sich der entscheidende Übergang anzeigt. (Offb 3, 19 – 22) 8) Die Originalität der Johannes-Apokalypse liegt nicht in der Offenbarung neuer Inhalte (eines neuen Was?), sondern in der Transkription apokalyptischer Bilder und dem gastfreundlichen Gestus der Aufnahme anderer Texte und damit in einem Vollzug. Darin ist ein wichtiges Moment christlicher Erfahrung angesprochen: Auf den Vollzugscharakter als deren konstitutives Moment weisen Heidegger und Vattimo eindrücklich hin. In Heideggers frühen Vorlesungen zu den Thessalonicher-Briefen heißt es dazu: »Die Umwendung zur christlichen Lebenserfahrung betrifft den Vollzug.«28 9) Jener Übergang von den apokalyptischen Bildern, umgeben von einer »Aura des Geheimnisvollen«29 und des bevorstehenden katastrophischen Abbruchs aller Geschichte, zum Brief von universal einladendem Charakter, der sich auch auf die Erzählungen der Anderen hin öffnet, zeigt sich besonders deutlich an der Zurückweisung des Motivs der Geheimhaltung. Heißt es im 10. Kapitel noch »Halte geheim …!« (Offb 10, 4), so steht am Ende die eindringliche Aufforderung: »Verschließe die Worte dieses prophetischen Buches nicht, denn die Zeit, der kairos, ist nahe.« (Offb 22, 10) Der kairos, jene entscheidende Zeit, deren Nahen sich ankündigt, drängt zu einer Transkription im Sinne einer Öffnung: Die Apokalypse des wiederkehrenden Christus als dieser kairos erfolgt nicht in dunkler Rätselhaftigkeit verhüllter Inhalte, welche in einem Finale schlagartig richtend-rettend enthüllt würden, sondern entsprechend dem Motiv der Gastfreundschaft (als dem Vollzug eines neuen Wie?). In Anlehnung an Hegel versuche ich diesen Übergang und diese Transkription, von der die Johannes-Apokalypse erzählt, eine Umkehr des apokalyptischen Bewusstseins zu nennen.30 28 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), 121; vgl. Vattimo, Os m¦. 29 Roloff, Die Offenbarung des Johannes, 14. 30 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 79. Karin Peter führt in Rückgriff auf Raymund Schwager eine großangelegte Interpretation der Johannes-Apokalypse durch, in welcher der Schwerpunkt ebenfalls auf einer »Transformation der Apokalypse« (Peter, Apokalyptische Schrifttexte, 15) liegt. Ihr Anliegen ist dabei eine Lektüre biblischer Texte vor dem Hintergrund apokalyptisch drohender Gewaltszenarien (Vgl. 191 – 200): »Für die christliche Welt stellt sich […] die Herausforderung einer Auslegung biblischer Schriften – gerade auch der Offenbarung des Johannes –, die eine Antwort, eine Entgegnung hinsichtlich der Frage der Gewaltforcierung vermag« (60). Es geht dabei nicht bloß um den Versuch einer gewaltlosen Interpretation von Texten, sondern gerade um die Entwicklung einer »gewalttransformierenden« (76) Hermeneutik. Die Deutung der Johannes-Apokalypse wird dabei zum Aus-
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Als das letzte biblische Buch markiert die Johannes-Apokalypse den definitiven, abschließenden Charakter, welcher die Offenbarung Jesu Christi als des Amens und Anfangs der Schöpfung (Offb 3, 14) ausmacht. Wenn diese Anordnung nicht zufällig ist oder von rein äußerlichen Kriterien (wie etwa der Entstehungszeit) abhängig gemacht wird, kommt der Johannes-Apokalypse aufgrund ihrer Situierung an äußerster Stelle der Bibel unweigerlich auch die Funktion eines hermeneutischen Schlüssels zu. Ist das Ende der Bibel, wie die Überlegungen gezeigt haben, gleich einem Doppelpunkt als Öffnung auf neue Erzählungen, Antworten, Fortschreibungen, Interpretationen, Rekonfigurationen und Übergänge hin zu sehen, so ist damit ein Zug, welcher der Bibel als ganzer zukommt, ausgedrückt. Die Johannes-Apokalypse schreibt den interpretativen Charakter, den sie generiert, der Bibel ein (oder bestätigt diesen auch sonst aufweisbaren Charakter definitiv), sodass er ihr fortan nicht akzidentell ist, sondern zu ihrem Wesen gehört.
gangspunkt und »Prüfstein« (71) des Vorhabens. Die Option für diese bestimmte Lektüre ist nicht von außen an die Johannes-Apokalypse herangetragen, sondern hat ihren Angelpunkt in der Christologie, d. h. in der Gestalt des geschlachteten Lammes, das zur Schlüsselkategorie der Deutung wird.
Teil I – Religion als Wiederkehr?
Apokalypse und Transkription
Zwei unterschiedliche Beobachtungen veranlassen Vattimo in Die Spur der Spur zu einer erneuerten Reflexion über die Religion – eine Präsenz der Religion in der Alltagskultur, die mit einem Ensemble von Motiven verbunden ist, die Vattimo mit dem Terminus »apokalyptisch« zusammenfasst, und ein »Wegfall der gegen die Religion gerichteten philosophischen Denkverbote«. Vattimos Überlegungen stellen sich unter den Anspruch, jenen beiden Formen der Wiederkehr, »die sich nicht unmittelbar vereinbaren lassen«, einen allgemeinen Ausdruck zu geben, der über die Disparität beider Phänomene hinausgeht. Wenn Vattimo im ersten Absatz seines Textes von »Endzeitstimmung der Jahrhundertwende mit ihrer Angst vor der Drohung unerhörter apokalyptischer Risiken« und von »den in unserer Gesellschaft verbreiteten apokalyptischen Ängsten« spricht, bezieht er sich auf das zu Ende gehende zwanzigste Jahrhundert, in welchem mit zwei Weltkriegen einerseits und der fortschreitenden technischen Entwicklung andererseits ein Unbehagen ob einer neuen globalen Dimension von Bedrohung eingetreten ist. Erstmals in der Geschichte wurden Kriege nicht über ihre Dauer, ihren Gegenstand oder die involvierten Konfliktpartner beschrieben, sondern über ihren allumfassenden Charakter. Erstmals ist eine Vernichtung der gesamten Zivilisation mit technischen Mitteln denkbar geworden (und bereits präfiguriert im Atommüll, der seinen drohenden Schatten jahrtausendelang vorauswirft). Eine ökologische Krise weltweiten Ausmaßes und eine aktive Veränderung der genetischen Disposition des Menschen rücken ins Bewusstsein. Der Horizont der Bedrohung ist kein partieller, sondern betrifft die »Existenz der Gattung und ihres ›Wesens‹«31 sowie unsere Lebenswelt als ganze, was im Wort »apokalyptisch« einen Ausdruck findet. Vattimos Auseinandersetzung mit der Religion, so eine These dieses Buches, vollzieht sich vor dem Hintergrund apokalyptischer Gestimmtheit und stellt die Frage nach dem Umgang damit. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Vattimo nach Umwendungen und Transkriptionen apokalyptischer Gestimmtheit im 31 Vattimo, Die Spur der Spur, 107 – 109.
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Apokalypse und Transkription
gesellschaftlichen Bewusstsein frägt und darin die kritische Rolle der Philosophie heute verortet. Dies bedeutet auch eine Revision philosophischer Kategorien, wo diese selbst in einer allzu großen Nähe zu apokalyptischer Motivik stehen. In der Auseinandersetzung um die Apokalypse, d. h. um eine Kategorie, die der theologischen Tradition entstammt, zeigt sich somit ein Ort an, wo allgemeines gesellschaftliches Bewusstsein und Philosophie aufeinandertreffen. Dies ermöglicht einen Einstieg in Vattimos Überlegungen zur Religion.
Apokalyptische Gestimmtheit Die am Beginn von Die Spur der Spur angedeutete apokalyptische Gestimmtheit soll nun über die knappe Charakterisierung hinaus, die Vattimo ihr gibt, in einigen Momenten dargestellt werden. Vielleicht sind wir in diesem Bemühen aber noch kaum über die ersten Sätze von Günther Anders Abhandlung Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit hinausgekommen: »Wer an eine terra incognita verschlagen wird, der kann nicht sogleich mit deren Vermessung und kartographischer Aufzeichnung beginnen. Erst einmal wird er sich dem Zufall überlassen, sich treiben lassen, sich herumtreiben müssen.«32 Später heißt es bei Anders hinsichtlich der Bedrohung atomarer Gesamtvernichtung, »dass es Kompetente hier nicht gibt; und dass die Verfügung über die Apokalypse [über die atomaren Waffen] grundsätzlich in den Händen von Inkompetenten liegt.«33 Der erste Schritt, sich in jener terra incognita zu orientieren, müsste darin bestehen, vom Gedanken der Verfügung darüber Abstand zu nehmen, d. h. auch den Anspruch der intellektuellen Bewältigung der Frage aufzugeben, vor die uns eine apokalyptische Gestimmtheit bringt. Denn gerade der Wahn, über jenes Ausmaß an Bedrohung noch verfügen zu wollen, es noch für irgendwie handhabbar zu halten und in das taktische Kalkül einzubeziehen, ist die unglaubliche Blindheit der Apokalypse gegenüber. Ohne Kompetenz vorspielen zu wollen, möchte ich einigen schon begangenen Spuren folgen, um jene terra incognita vage zu beschreiben. Ein vollständiges Bild wird sich dabei nicht einstellen. 1) Im Aufsatz Zeitalter der Weltfremdheit? sieht Odo Marquard die Kategorie der Apokalypse als zur Deutung unserer Zeit unverzichtbar an. Das Auftreten apokalyptisch gestimmter Erzählungen verortet er dabei in einer Bewegung des Wechsels mit Utopien: »Was immer unsere Zeit sein mag: sie ist jedenfalls auch das Zeitalter der Wechselwirtschaft zwischen Utopien und Apokalypsen …«34 32 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen 1, 235. 33 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen 1, 270. 34 Marquard, Apologie des Zufälligen, 76.
Apokalyptische Gestimmtheit
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Im Augenblick, so Marquard später, sei »wieder einmal die Apokalypse dran: der Alptraum«35. Ob die Gestalt eines sich wiederholenden Wechsels von Utopien und Apokalypsen die Radikalität der geschichtlich einzigartigen Bedrohung zum Ausdruck bringen kann, die uns heute angeht und die Vattimo als Bedrohung der Existenz der menschlichen »Gattung« und ihres Wesens anspricht, scheint mir fraglich. Günther Anders hat 1957 in seinen Geboten für das Atomzeitalter die Irreversibilität der apokalyptischen Gestimmtheit, die in keinen Wechsel mehr mit anderen Befindlichkeiten zu treten vermag, herausgearbeitet: »Dein erster Gedanke nach dem Erwachen heiße Atom. Denn du sollst deinen Tag nicht mit der Illusion beginnen, was dich umgebe, sei eine stabile Welt. Was dich umgibt, ist vielmehr etwas, was morgen schon ein Gewesenes sein kann, ein Nur-Gewesenes; und wir, du und ich und unsere Mitmenschen, sind vergänglicher als alle, die bis gestern als vergänglich gegolten hatten. Denn unsere Vergänglichkeit bedeutet nicht nur, dass wir sterblich wären; auch nicht nur, dass wir tötbar wären, jeder von uns. Das war auch früher Brauch. Sondern, dass wir im ganzen tötbar sind, als Menschheit. Und ›Menschheit‹ bedeutet nicht nur die heutige Menschheit, nicht nur diejenige, die sich über die Provinzen unserer Erde verteilt; sondern auch diejenige, die sich über die Provinzen der Zeit verteilt: Ist nämlich die heutige Menschheit tötbar, so erlischt mit ihr auch die gewesene; und die künftige gleichfalls. Das Tor, vor dem wir stehen, trägt daher die Aufschrift ›Nichts wird gewesen sein‹; und von innen die Worte: ›Die Zeit war ein Zwischenfall.‹ Aber zum Zwischenfall wird sie werden nicht zwischen zwei Ewigkeiten, wie es unsere Ahnen erhofft hatten, sondern zwischen zwei Nichtsen: zwischen dem Nichts dessen, was, von niemandem erinnert, so gewesen sein wird, als wäre es nie gewesen; und dem Nichts dessen, was nie sein wird. Und da es niemanden geben wird, die zwei Nichtse zu unterscheiden, werden sie zusammenwachsen zu einem einzigen Nichts. Dies also ist die völlig neue, die apokalyptische Art von Vergänglichkeit, unsere Vergänglichkeit, neben der alles, was bis heute ›Vergänglichkeit‹ geheißen hatte, zur Bagatelle geworden ist. – Damit dir dies nicht entgehe, heiße der erste Gedanke nach deinem Erwachen: ›Atom‹.«36
Mit Gegenwart und Zukunft steht für Günther Anders auch die Vergangenheit auf dem Spiel – die Erzählbarkeit von Geschichte überhaupt ist zum ersten Mal in der Geschichte vor dem Abgrund ihres Endes angelangt. Diese Situation ist in der Geschichte noch nie dagewesen. Hat die Zukunft bislang in irgendeiner Weise als das Unverfügbare gegolten, erscheint sie gewendet in das Moment umfassender und irreversibler Verschließung, so dass das Tor, vor dem wir stehen, die Aufschrift trägt: Nichts wird gewesen sein. Diese Inversion der Zeit in die völlige Immanenz des Nichts löscht jede Erzählung und jegliche Erzählbarkeit aus. Ohne Bezug auf Günther Anders findet sich dieser Gedanke auch in 35 Marquard, Apologie des Zufälligen, 87 f. 36 Anders, Hiroshima ist überall, 218.
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Apokalypse und Transkription
Jacques Derridas Aufsatz No Apokalypse, not now. Die atomare Gesamtvernichtung kann Derrida zufolge kein reales Ereignis sein, zumal es danach keine Möglichkeit von dessen Erzählung mehr geben kann. Es bedeutet die gänzliche Vernichtung des literarischen Archives wie der Möglichkeit von Autorschaft und damit von Verantwortlichkeit und Zuschreibbarkeit, für Derrida zwei der wesentlichen Kennzeichen von Literatur und Kritik. Literatur steht in einer Zeit, die auf ihre restlose Zerstörung verweist: »Das einzige ›Sujet‹ aller möglichen Literatur, aller möglichen Kritik, ihr einziger allerletzter und a-symbolischer nicht symbolisierbarer, ja sogar nicht zu bezeichnender Referent, das ist, wenn nicht das Atomzeitalter oder die Atomkatastrophe, so doch zumindest das, worauf der atomare Diskurs und die atomare Symbolik noch verweisen: die restlose und a-symbolische Zerstörung der Literatur. Die Literatur und die Literaturkritik können von nichts anderem sprechen, sie können keinen anderen allerletzten Referenten haben, sie können allein die strategischen Manöver vervielfältigen, das nicht assimilierbare ganz Andere zu assimilieren.«37
Von ihrer drohenden Vernichtung geprägt, sieht Derrida in den Diskursen der Literatur offensichtlich ein Moment des Aufschubs als Hoffnungsgedanken: »Obgleich sie nur davon sprechen kann, vermag Literatur dennoch nur von etwas anderem zu sprechen und Strategeme zu erfinden, um von etwas anderem zu sprechen und die Begegnung mit dem ganz Anderen aufzuschieben«38. Auf drei Motive jener beiden Zitate sei an dieser Stelle hingewiesen: 1) In Derridas Schrift zeigt sich deutlich ein Zusammenhang von Apokalyptik und Narration: Es geht um einen Aufschub durch Erzählungen vor dem drohenden Abbruch der Erzählbarkeit. 2) In diesem Horizont stehen heute alle Erzählungen, ohne ihn jedoch unmittelbar beschreiben oder aussprechen zu können (»vermag Literatur dennoch nur von etwas anderem zu sprechen«). Er ist ihr letzter Bezugspunkt. 3) Derrida verortet einen Hoffnungsgedanken offensichtlich in einem messianischen Bild bzw. dessen Umkehrung. Er spricht vom paradoxen Eintreten eines »allerletzten Referenten«, dessen Kommen gerade kein Advent mehr wäre, sondern die alles zerstörende Distanzlosigkeit, die keine Form der Symbolisierung und Verweisung mehr zulassen könnte. Das messianische Motiv der Erwartung des Ereignisses in der Erzählung und durch Erzählung erscheint gewendet in den Aufschub der Katastrophe durch Erzählen. Vattimo wird an diesem Punkt einen anderen Weg wählen, indem sein Denken vom Begriff der Wiederkehr ausgeht. Die Menschwerdung in kenosis ist für ihn das alles entscheidende Movens der Geschichte, und dieses hat sich ereignet. Es offenbart eine Bewegung der Schwächung jeglichen absoluten Fundamentes, d. h. eines »allerletzten Referenten«. Diese Figur der Schwächung gilt es in der Geschichte 37 Derrida, Apokalypse, 122. 38 Derrida, Apokalypse, 122.
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zu wiederholen, mithin ist Geschichte fortan unter deren Tendenz zu erzählen und zu gestalten. Alle apokalyptischen Fantasien und Szenarien sind dieser Schwächung auszusetzen. Ein Zusammenhang von Apokalyptik und Narration scheint sich auch von literarkritischer Seite zu bestätigen. Gunter Grimm, Werner Faulstich und Peter Kuon haben Mitte der achtziger Jahre eine großangelegte Studie zur Interpretation apokalyptischer Motive in der deutschsprachigen, angelsächsischen und romanischen Gegenwartsliteratur angestellt. Das »Paradigma der ›Apokalypse‹«, so schreiben sie einleitend, habe zu allen Zeiten dazu gedient, »drängende Gegenwartsprobleme und globale Zukunftsängste gedanklich zu bewältigen«39 und werde in der gegenwärtigen Literatur wieder aufgegriffen und refunktionalisiert. Zwei Motive dieser Beobachtung scheinen für den Zusammenhang der Überlegungen dieses Kapitels bedeutsam: Zum einen wird Apokalypse hier nicht mit Katastrophe gleichgesetzt, sondern zeugt, ähnlich wie bei Derrida, von irgendeiner Gestalt literarischen Umgangs damit und d. h. von einer Eröffnung bzw. dem Offenhalten einer Distanz zur Katastrophe. Zum anderen handelt es sich offensichtlich um ein Schema, das mit Refunktionalisierungen zu tun hat, d. h. mit Verschiebungen und Transkriptionen bestehender literarischer Muster. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was im heutigen Rückgriff auf den antik-biblischen Narrativ der Apokalypse mitschwingt und wo es zu neuen Konfigurationen des Motives kommt. Zu vermuten ist, dass es sich hierbei letztlich um eine geschichtsphilosophische Fragestellung handelt und die Apokalyptik als geschichtsphilosophische Kategorie angesehen werden muss. Sie bringt vor einem Horizont der Bedrohung, wo bislang leitende Erzählungen ihre motivierende und welterschließende Kraft verloren haben, die Gesamtheit der Welt noch einmal in den Blick und entreißt sie, auch wenn sie im schlimmsten Fall nur mehr deren Untergang zu erzählen vermag, der bloß stummen Sprachlosigkeit. Sie verhindert die Auflösung jeglichen substantialen Bandes (und d. h. der Erzählbarkeit), sei es in eine richtungslose Unbezüglichkeit der vielen Stimmen, die nichts mehr vernehmbar werden ließe, sei es in den Rückzug in die Selbstgenügsamkeit bloß lokaler, begrenzter Perspektiven. Über den Begriff der Apokalyptik wird – in seinen unterschiedlichen Weisen der Verwendung – ein wenigstens implizites Bewusstsein für eine Verbindung von universalem Horizont und Erzählbarkeit bewahrt. Die Apokalypse als Vorrat von Erzählungen, die diesen universalen Horizont in den Blick bringen, ist vielleicht gerade deshalb so aktuell, weil »sich heute niemand diesem weltweiten Vorgang entziehen kann – weder durch
39 Grimm/Faulstich/Kuon (Hg.), Apokalypse, 9.
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Emigration in andere Erdregionen noch durch Flucht in die privatistische Idylle«40. 2) Ein erster Gedankengang hat Apokalyptik als eine Form der Erzählung gedeutet, die angesichts drohender Katastrophe vor einer gänzlichen Sprachlosigkeit bewahrt. Ich habe den Eindruck, dass dieses Motiv bis in die alltagssprachliche Verwendung apokalyptischer Bilder reicht (auch dort, wo es zu keiner Ausbildung einer Erzählung mehr kommt). Diese Erzählungen und Motive sind jedoch höchst ambivalent und so möchte ich in einem weiteren Schritt die Frage stellen, welchen Charakter der Universalismus, der sich darin angedeutet hat, annimmt. Führt er auch zu einer Ausweitung der Verantwortung, d. h. prägen jene Erzählungen und Motive, die irgendwie das Gesamte der Welt in den Blick rücken, den Gedanken einer universalen Verantwortung aus? Oder aber tritt der Universalismus zunächst in ganz anderen Gestalten auf und bedarf es je neu der (Wieder-)Gewinnung eines Horizontes der Verantwortung? In Bildern ziehen in den apokalyptischen Erzählungen die umstürzenden Ereignisse, die epochalen Veränderungen und Katastrophen, die An- und Vorzeichen, die einander ablösenden Weltreiche, die Weltgeschichte und der Wechsel der Äonen, Abbruch und Neuschöpfung vorüber. Dieser Bildcharakter tritt in gegenwärtiger Verwendung apokalyptischer Motivik kaum mehr in großen Erzählungen über Sinn und Ziel der Geschichte auf, sondern in Gestalt einer sich immer umfassender manifestierenden Beobachterperspektive, in welcher sich uns Welt heute erschließt. Immer deutlicher enthüllt sich der universale Anspruch dieser Perspektive, die Welt wird zur umfassenden Bühne, auf der sich ihre Tragödie/Komödie vollzieht und anschaubar wird. Den Anschlägen vom 11. September 2001 diente die ganze Welt als Bühne, auf der ihr ästhetisierend-schauriges Geschehen inszeniert und abertausende Male gespielt wurde. Die Kriege der USA und der gegen sie gerichtete Terror werden nicht zuletzt als weltumspannende, apokalyptisch konnotierte Medienereignisse geführt. Den Zusammenhang von apokalyptischer Diktion und Transformation der Welt in ihrer Gesamtheit in eine Bühne zeigt eine Notiz, die im Internet anlässlich der Inbetriebnahme des Large Hardron Colliders am Cern im September 2008 zu lesen war : »Zum ersten Mal wird es möglich sein, die Verhältnisse der Frühzeit unseres Universums zu simulieren. Eigentlich sollten wir alle zum CERN pilgern, wenn’s losgeht – und eine ›Fan-Meile der Erkenntnis‹ bilden. Und das erste Experiment sollte rund um die Welt auf Grossbildschirmen übertragen werden. Für den Fall, dass es doch kracht, könnten wir die Apokalypse dann wenigstens live verfolgen.«
40 Grimm/Faulstich/Kuon (Hg.), Apokalypse, 10.
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Dieses Bild führt zurück in einen universalen Horizont der Frühzeit unseres Universums, der allen bisherigen Beobachtungen gleichsam vorausliegt, sich nun aber enthüllt. Ähnlich der endzeitlich-messianischen Völkerwallfahrt zum Berg Zion sollten wir zum Cern pilgern. In Aussicht gestellt ist dort jedoch nicht Erlösung im Sinne endzeitlicher Gerechtigkeit und gemeinsamen Festmahls, sondern Beobachtung, Erkenntnis und Durchschauen des Zusammenhaltes der Welt. Es zeigt sich das (gnosisnahe) Motiv umfassender Erkenntnis, der sich – vermittelt über Großbildschirme – die Welt entschlüsselt. Zu beachten ist, dass dabei sogar das Motiv eines möglichen Untergangs von dem der Beobachtung umfangen wird. Die Faszination, welche den Gedanken umfassender Beobachtung begleitet, kann zu einer Blindheit gegenüber jeder Herausforderung, die sich geschichtlich in unaufschiebbarer Dringlichkeit ergäbe, führen. Auf diesen Umstand hat Karl Kraus bereits 1908 in seinem Text Apokalypse hingewiesen, und er bringt ihn in Zusammenhang mit den Möglichkeiten einer bis dahin unbekannten Beobachterperspektive, nämlich dem Kino: »Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen.«41 Alles wird zum Gegenstand einer umfassenden Beobachtung, die auch ihren eigenen Untergang zu überleben vermeint. Was sich darin zeigt ist eine völlige Unberührbarkeit, der auch das Unbegreifliche nicht bang macht. Ihr kann sich nichts entziehen, sie insinuiert die völlige Geschlossenheit einer Welt, die keinen Ausgang bietet. Das Motiv umfassender Beobachtung lebt davon, sich von allem distanzieren zu können und letztlich in nichts involviert zu sein. Diese Distanzierung von jeglicher geschichtlichen Herausforderung korrespondiert mit dem apokalyptischen Gedanken einer ultimativen Entscheidung, die unterschiedslos und in völliger Diskontinuität über alle und alles hereinbricht, ohne die Möglichkeit einer Umkehr, eines Aufschubes, einer Schwächung, einer Hinwegarbeitung zu bieten. Weniger spektakulär, aber in ungeheurer Wirkmächtigkeit entfaltet sich das Bemühen, die Totalität der Welt ins Bild zu bringen und anschaubar zu machen, in den heutigen Einrichtungen elektronischer Systeme immer lückenloserer Überwachung, Ortung und Archivierung jeglichen Geschehens. Ins Gegenteil gewendet tritt hier ein Motiv aus der Johannes-Apokalypse wieder auf, das geheimnisvolle Buch, welches den Lauf der Weltreiche, die Weltgeschichte, enthält. Dass dieses Buch versiegelt und den vereinnahmenden Blicken entzogen bleibt, meint kein arkanes Wissen Weniger, sondern bringt seine Unverfügbarkeit zum Ausdruck, die seinen geistvollen Charakter ausmacht:
41 Kraus, Apokalypse, 2 f; vgl. auch die Bezüge auf das Kino in Die letzten Tage der Menschheit.
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»Und ich sah auf der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, eine Buchrolle, die war innen und auf der Rückseite beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit lauter Stimme rief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? Und niemand im Himmel und auf der Erde und unter der Erde konnte das Buch öffnen und es einsehen.« (Offb 5, 1 – 4)42
Die Tiefendimension der Welt, wie sie das erwähnte Buch erzählt, entzieht sich, wird sie an die platte Oberfläche gebracht. Nur das »Lamm«, das Chiffre für Christus ist, erweist sich als würdig, »das Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen« (Offb 5, 9). Christus enthüllt sich in der Johannes-Apokalypse als Gastgeber der offenen Stadt, in welche die Völker eingeladen sind, mit ihren je eigenen Erzählungen einzutreten. Das versiegelte Buch vermag durch ihn zum Gästebuch zu werden, in welches die Geschichten der Völker gastlich nebeneinander eingetragen sind. Freigekauft sind von Christus Menschen »aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation« (Offb 5, 10). Was sich in Christus als Tiefendimension der Welt offenbart, ist gerade nicht die Folge einander kriegerisch ablösender Weltreiche oder die Transparenz der Weltgeschichte, sondern eine Vision der Gastfreundschaft und eine neue Freiheit der Erzählung von Geschichte. Die Absage eines Durchschauens der Weltgeschichte, sei es als evolutiver Folge, sei es als Enthüllung in einem Moment ihrer Zusammenfassung, bedeutet einerseits einen Versetzungsschritt in die Geschichte, die uns eine nicht distanzierbare Verantwortung für eine unverfügbare Zukunft überträgt. Vattimo paraphrasierend kann diese Umkehrung des apokalyptischen Bewusstseins näher bestimmt werden als Übergang von einem Universalismus der Beobachtung zur Gastfreundschaft.43 Wo ein Durchschauen der Geschichte auf ihre Vollendung oder aber ihre Auflösung ins Nichts hin versagt bleibt, bedarf es andererseits je neuer Konfigurationen ihrer Erzählung. Diese stehen für Vattimo unter dem Zeichen der Schwächung. Statt des apokalyptischen Abbruches von Geschichte sucht Vattimo ihren langsamen Abschied zu erzählen. 3) Apokalyptik bringt im Angesicht einer drohenden Katastrophe einen universalen Horizont zum Ausdruck und widersetzt sich einem Verlust der Sprache. Ambivalent ist, ob sie zu einer bloßen Beobachtung des Untergangs führt, der die gesamte Welt zur Bühne wird (sei es in völliger Unberührbarkeit oder einem Sich-Berauschen daran), oder ob es zu einer Übersetzung des Apokalyptischen, zu einer Umwendung und Umkehrung der Apokalypse in einen neuen Verantwortungssinn kommen kann. Einer Verwandlung des Apokalyptischen, die mit einem »Ruf in die Verant-
42 Übersetzung Jürgen Roloff. 43 Vgl. Vattimo, Jenseits des Christentums, 138.
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wortung«44 verbunden ist, spürt Raymund Schwager nach, der bei Jesus eine »geringe, insgesamt aber eine entscheidende Transformation apokalyptischer Denkweise«45 findet. Dieses verändernde Motiv präge davon ausgehend überhaupt die neutestamentlichen apokalyptischen Passagen, die »›gebrochene apokalyptische Texte‹«46 seien. Eine Schlüsselaufgabe von Judentum, Christentum und Islam sieht Schwager gerade in der Fortsetzung dieser Transformationsprozesse: »Es geht nicht mehr bloß um individuelle Bekehrungen. In Frage steht vielmehr, ob Gläubige der drei Religionen das zerstörerische, apokalyptische Potential neutralisieren können, das fundamentalistische und fanatische Anhänger der gleichen Religionen zur Aufheizung von Konflikten benützen. Lässt sich die Apokalyptik […] in ein Potenzial des Friedens verwandeln?«47
Darin verhandeln die Religionen, »aus deren Umfeld und Tradition die Denkfigur des Apokalyptischen überhaupt entstanden ist«48, nicht allein ein internes Problem (Wie mit unseren apokalyptischen Texten umgehen?), sondern könnten einen Beitrag zum Umgang mit einem apokalyptischen Bewusstsein in der Gegenwart leisten. Angesichts der Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit, die unsere Welt selber habe apokalyptisch werden lassen49, bedürfe es einer aufgeklärten Apokalyptik50, die im Bewusstsein der bevorstehenden Katastrophe zu einer radikalen Übernahme der Verantwortung hinsichtlich möglicher, die Vernichtung verhindernder Änderungen führe. Wenn sich der Zusammenhang von Apokalyptik und Narration als entscheidend für die Argumentation dieses Kapitels herausgestellt hat, muss (über jene für die Religionen bezeichnete Aufgabe hinaus) wenigstens auf die Frage hingewiesen werden, ob sich auch in der gegenwärtigen Literatur derartige Übersetzungen finden könnten. Einen Versuch literarischer Verarbeitung des Motives umfassender Präsentation der Welt auf einer Bühne findet man nicht zuletzt im Werk Thomas Bernhards, dessen apokalyptische Gestimmtheit Georg Jansen eindringlich herausstreicht: »In Thomas Bernhards Literatur ist die Endzeit zum permanenten Zustand gemacht. Jeder seiner Romane kann als ein Endspiel der Natur, des Intellektuellen, der Zivilisation oder aber des Romans Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 183. Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 182. Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 189. Zitiert nach: Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 190. 48 Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 190; vgl. 179 – 200. 49 Vgl. Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 192 f. 50 Vgl. Peter, Apokalyptische Schrifttexte: Gewalt schürend oder transformierend?, 194, 469 – 479. 44 45 46 47
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selber gelesen werden.«51 In Bernhards späten Veröffentlichungen tritt nicht bloß eine apokalyptische Prägung auf, sondern erfährt diese selbst noch einmal eine Thematisierung. Der Versuch, die Totalität der Welt ins Bild zu bannen und auf einer Bühne anschaubar zu machen, zeigt sich in seinen Dramen ironisiert, gebrochen und ins Groteske gewendet. Im Theatermacher schreibt er über das »Rad der Geschichte« als einer »sogenannte[n] Weltkomödie«52, »Schöpfungskomödie«53, »Menschheitskomödie«54, die der Staatsschauspieler Bruscon verfasst und die an kleinen Dorfbühnen (in Gasthäusern) vorgeführt werden soll: »Die Idee war ja / eine Komödie zu schreiben / in der alle Komödien enthalten sind / die jemals geschrieben worden sind / Eine absurde Idee zweifellos«55. Diese absurde Idee versammelt alle Erzählungen in einen apokalyptischen Moment und wird zur Abbreviatur der Geschichte in einer Komödie – in einem Bild: (Bruscon zu seiner Frau) »Atomzeitalter meine Liebe / das ganze Atomzeitalter / muss in diesem Gesicht sein / es donnert fürchterlich / Mehr oder weniger / das Ende der Welt / in deinem Gesicht«56. Die groteske Rekapitulation der Weltgeschichte in einen Moment der ultimativen Entscheidung spiegelt sich in einem Gesicht, das gleichsam seine Epoche auf die Bühne bringt. In dieser Selbstironisierung führt die Bühne des Theaters eine Distanz zum apokalyptischen Gedanken umfassender Beobachtung (der Weltgeschichte) auf einer Bühne ein. Wir stehen vor der Frage nach Erzählungen, die eine Übersetzung gegenwärtiger apokalyptischer Gestimmtheit versuchen. Im weithin säkularisierten Europa begegnet damit eine Thematik, die an eine theologische Kategorie anknüpft. In der Gestalt der Johannes-Apokalypse blicken wir auf eine Erzählung zurück, welche die Vision einer derartigen Umkehr des Bewusstseins entwirft. Kann es über Religion und Kunst (Literatur) hinaus auch in der Philosophie zu Versuchen der Übersetzung und Transkription apokalyptischer Gestimmtheit kommen? Kann auch Philosophie den Charakter einer Erzählung, die sich einem zersetzenden apokalyptischen Bewusstsein entgegenstellt, annehmen?
Bruch und Neueinsatz mit dem Ende der Belle Époque In einen größeren Zusammenhang gestellt, mag der Eindruck entstehen, als knüpfe jenes in aller Kürze gezeichnete Bild einer aktuellen apokalyptischen Gestimmtheit an die stark von apokalyptischen Motiven geprägte Kulturkritik 51 52 53 54 55 56
Jansen, Prinzip und Prozess Auslöschung, 10. Bernhard, Der Theatermacher, 49. Bernhard, Der Theatermacher, 18. Bernhard, Der Theatermacher, 15. Bernhard, Der Theatermacher, 99. Bernhard, Der Theatermacher, 109.
Bruch und Neueinsatz mit dem Ende der Belle Époque
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an, wie sie mit dem Ende der Belle Êpoque, d. h. mit der Zäsur des ersten Weltkriegs auftritt. Vattimo zufolge gibt es in der Tat eine enge Verbindung unseres Denkens heute mit jenem Einschnitt. Das erste Kapitel von Vattimos Una mappa filosofica del Novecento, eines Lageplans oder einer Wegbeschreibung durch die Philosophie des 20. Jahrhunderts, beginnt mit einer Reflexion auf jenes Unbehagen und jenen Umbruch57, die mit dem Ende der Belle Êpoque verbunden sind, und endet mit einem Kapitel zum Thema Philosophie – Religion58. Folgt man Eric Hobswams Rede vom kurzen zwanzigsten Jahrhundert, könnte man dann von einer apokalyptischen Gestimmtheit sprechen, die sowohl den Beginn (Erster Weltkrieg) als auch das Ende dieses Jahrhunderts (Zusammenbruch des Kommunismus 1989 bzw. Ende der Sowjetunion 1991) begleitet? Vattimo nimmt die Rede über die Religion genau in dieser Zeit nach dem Ende des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts auf, als auch die letzte große Erzählung, die des Kommunismus, zerfallen ist. Mit dem Ende der Belle Êpoque wird eine umfassende »Krise des Humanismus«59 in Verbindung gebracht und dem Europa des 20. Jahrhunderts in vielfältiger Weise bescheinigt. Radikaler Ausdruck des damit einhergehenden Unbehagens sei der »Geist der (künstlerischen und überhaupt kulturellen) Avantgarde der Jahrhundertwende«60, der Vattimo zufolge seine allgemeine Bedeutung darin habe, Darstellung des Verlangens eines Neueinsatzes zu sein: Das Ende der Belle Êpoque »ist charakterisiert durch ein beginnendes Bewusstsein davon, dass die abendländische Zivilisation im Untergang begriffen ist und dass man sie, folgt man der Avantgarde, radikal verändern muss.«61 In Nietzsches Wort vom Tod Gottes präfiguriert, erhalte jene Krise in Heideggers Ankündigung des Endes der Metaphysik ihren tiefgehendsten systematischen Ausdruck.62 Nicht mit dem »Ruf in die Eigentlichkeit« könne auf jene Krise geantwortet werden, als könnte man aus dem Bild apokalyptischer Gestimmtheit aussteigen, um resignativ-restaurativ nach einem wahren, unversehrten Humanismus eigentlicher Menschlichkeit zu suchen. Vattimo sieht dieses Bemühen in sämtlichen »Projekt[en] der ›Wiederaneignung‹«63 authentischer Eigentlichkeit wirksam, seien sie existenzialistischer oder marxistisch-sozialistischer Herkunft, seien sie in Verteidigung der Geisteswissenschaften gegenüber dem umfassenden Anspruch der Naturwissenschaften oder in Anschluss an
57 58 59 60 61 62 63
Vgl. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 15 – 20. Vgl. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 142 – 154. Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 36. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 12. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 16. Vgl. etwa Heideggers Brief über den »Humanismus«, in: Heidegger, Wegmarken. Vattimo, Das Ende der Moderne, 28.
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Wittgensteins »Mystisches« vollzogen.64 Vielmehr handle es sich um eine Grundlagenkrise65, welche die Philosophie vor die Frage ihrer eigenen (Un-) Möglichkeit stelle. Der Bedeutung jener fundamentalen Krise stellt sich Heidegger besonders in einem Aufsatz mit dem schillernden Titel Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. Entgegen der Rede von einem Abbruch der Philosophie möchte er dort die Notwendigkeit einer vertieften Betrachtung der Aufgabe des Denkens eröffnen. Aufgabe steht hierbei nicht bloß für das Unerledigte, dem man noch nachkommen müsse, oder gar das Aufhören des Denkens, sondern auch für das, was das Denken aufgeben müsse. Dies aber ist die Sicherheit eines Standpunktes, der bereits um die zu beschreitende Bahn des Denkens wüsste.66 Als Antwort auf diesen Verlust der Souveränität interpretiert Vattimo den Neueinsatz des Denkens mit dem Ende der Belle Êpoque, der ein Auftreten vielfältiger, divergenter philosophischer Strömungen – man denke etwa an Existentialismus, Phänomenologie, (Neo-)Marxismus, kritische Theorie, die Wiederaufnahme idealistischer Philosophie, Pragmatismus und analytische Philosophie – zeigt. Diese werden in ihrem geschichtlichen Charakter nicht ernst genommen, betrachtet man sie als bloß unverbunden nebeneinander stehende »Richtungen«. Vielmehr müssen sie auf jene Krise rückbezogen und in ihrer Divergenz als Repräsentationen des Bruches gelesen werden, der mit dem Ende der Belle Êpoque, d. h. mit dem Ersten Weltkrieg, auftritt. Vattimo unternimmt den Versuch, die Geschichte der Philosophie vor einem völligen Auseinanderfallen zu bewahren und sie für unser Bewusstsein »lesbar« zu machen, ihr eine Bedeutung zu geben – freilich nicht mehr als lineare Fortschrittsgeschichte, sondern als Repräsentanz eines Verlustes.67 Vattimos Rekonstruktion zufolge kann diesem Neueinsatz in seiner Heterogenität zumindest die Bestimmung gegeben werden, dass er die Frage nach dem (latenten) Gewaltpotential metaphysischer Konzepte nicht umgehen kann. In dieser Aufgabe sieht er ein Erbe von Nietzsches Philosophie, der damit für ihn nicht den Endpunkt abendländischer Philosophie markiert, sondern ihr eine neue Perspektive, welche der weiteren Entwicklung bedarf, zu geben vermag. »Mit seiner Konzeption des Endes der Metaphysik durch die Entlarvung ihrer Gewalt – eine entscheidende Intuition, die eine vielfältige Entwicklung/Entfaltung/Ausarbeitung eröffnet – nimmt Nietzsche die komplexe Bedeutung vieler, wenn nicht aller Diskurse
64 65 66 67
Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 26 – 29. Vgl. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 5 – 22. Vgl. Heidegger, Zur Sache des Denkens (GA 14), 61 – 80. Vgl. Vattimo, Conclusion. Metaphysics and Violence, in: Zabala (Hg.), Weakening Philosophy, 400 – 421.
Schwächung eines apokalyptischen Tons – Übermensch und Ereignis
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vorweg, die seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis heute im Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit stehen.«68
Diese »entscheidende Intuition« der Entlarvung latenter Gewaltstrukturen ist ein Gesichtspunkt, unter welchem Vattimo die gegenwärtige Philosophie versammelt sieht und der ihr eine klare Option gibt. Die Zusammenschau der weit gefächerten philosophischen Landschaft in einem Motiv wirkt, wie Vattimo selbst einräumt, freilich sehr riskant, »bedenkt man den ›apokalyptischen‹ Ton, der sie zu charakterisieren scheint«. An dieser Stelle lässt sich nun meines Erachtens ein Hauptanliegen von Vattimos philosophischer Arbeit zeigen: Dieser apokalyptische Ton, so schreibt er weiter, könne »nur aufgebraucht werden durch seine weitere Ausarbeitung (die zu einem Schluss führt, der jeder apokalyptischen Versuchung entgegensteht).«69 Es geht um die Hinwegarbeitung einer apokalyptischen Versuchung, wie sie nicht bloß im alltäglichen Bewusstsein, sondern auch in den Konzepten der Philosophie auftritt. Der erste Versuch, sich dem Denken Vattimos anzunähern, hat seinen Ausgangspunkt bei einer vagen apokalyptischen Gestimmtheit genommen und zu zwei wesentlichen Motiven geführt: Zum einen möchte Vattimos Denken die Geschichte zeitgenössischer Philosophie vor dem Auseinanderfallen bewahren und gleichsam als eine Erzählung unserer Epoche lesbar erhalten. Er interpretiert sie als Repräsentation jenes Bruches und Neueinsatzes, der sich mit dem Beginn des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts ereignet hat, worin sich ein erster Versuch einer Rekonfiguration von Geschichte jenseits ihres Durchschauens auf ihre Vollendung oder ihre Auflösung ins Nichts zeigt. Zum anderen geht es um die Hinwegarbeitung eines apokalyptisch-zersetzenden Tons im alltäglichen Bewusstsein wie in der Philosophie.
Schwächung eines apokalyptischen Tons – Übermensch und Ereignis Mag die Emblematisierung der Zeit nun postmoderne Kondition, apokalyptische Gestimmtheit, Nihilismus, Krise des Humanismus, Ende der Moderne oder Grundlagenkrise lauten, weder können wir durch übermenschliche Anstrengung – wie ein bestimmte divinisierende Auslegung von Nietzsches Übermensch glauben machen könnte – aus diesem geschichtlichen Prozess heraus68 Vattimo, Conclusion. Metaphysics and Violence, in: Zabala (Hg.), Weakening Philosophy, 405 (im Original Englisch). 69 Vattimo, Conclusion. Metaphysics and Violence, in: Zabala (Hg.), Weakening Philosophy, 405 (im Original Englisch). Vattimos schreibt dieses programmatische Wort in einem Essay, der den Beiträgern zur Festschrift anlässlich seines 75. Geburtstags antwortet.
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treten noch auf das apokalyptisch entscheidende Einbrechen einer absoluten Diskontinuität in ihrer richtend-rettenden Dimension – wie es etwa eine Deutungsmöglichkeit von Heideggers Ereignis-Begriff nahe legen könnte – warten, sondern müssen (marxistisch) »allen Aussichten auf Emanzipation«70 nachgehen. Philosophie hat dabei für Vattimo (idealistisch) die Bedeutung einer »Einübung in die Freiheit«71. Eine auf Erneuerung und Emanzipation ausgerichtete Interpretationslinie des Neuanfangs zeitgenössischer Philosophie könne dabei im Werk Ernst Blochs ihren Einsatz nehmen, dessen erste große Arbeit, Geist der Utopie, während des ersten Weltkriegs verfasst wurde und 1918 erschien. Vattimo stellt jenen Denker der Utopie und Avantgarde paradigmatisch den apokalyptischen Propheten des Untergangs des Abendlandes gegenüber, wie sie mit dem Ende der Belle Êpoque auftreten: »Geist der Utopie (1918 und 1923) ist sicherlich eines der philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts, das die Erforschung der ›positiven‹ Möglichkeiten, welche mit jenen scheinbar enthumanisierenden Aspekten der neuen Existenzbedingungen der technischen Welt verbunden sind, am weitesten vorangetrieben hat.«72
In diesem Sinn spricht Vattimo davon, dass es darum zu tun sei, »die späte Moderne [auch] als den Ort, in dem sich vielleicht eine andere Möglichkeit der menschlichen Existenz ankündigt«, zu sehen: »Auf diese Möglichkeit deuten in der Auslegung, die wir hier vertreten, philosophische, mit ›prophetischen‹ Tönen beladene Doktrinen, wie die Nietzsches und Heideggers, hin, welche in diesem Licht weniger apokalyptisch, sondern vielmehr auf unsere Erfahrung zurückführbar erscheinen.«73
Vattimo sieht in der Philosophie Nietzsches und Heideggers Motive angelegt, die nicht auf eine apokalyptische Interpretation unserer Zeit hinauslaufen, sondern in der Interpretation unserer Erfahrung zukunftsweisende Möglichkeiten in den Blick zu rücken vermögen. In diesen Motiven gilt es jene Philosophien weiterzuentwickeln. Nietzsche und Heidegger werden für Vattimo immer wieder zum Ausgangspunkt74der Überlegungen, und zwar nicht zuletzt wegen der »von ihnen gebotenen Möglichkeit, von einer bloßen kritisch-negativen Beschreibung der postmodernen Kondition, die typisch für die Kulturkritik* des frühen 20. Jahrhunderts und deren Nachkommen in der neueren Kultur ist, […] zu einer Betrach70 Vattimo/Welsch (Hg.), Medien – Welten, Wirklichkeiten, 26. 71 Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 14. 72 Vattimo, Das Ende der Moderne, 44 f; vgl. dazu auch das erste Kapitel von Vattimos Kurzer Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert mit dem Titel »Das Ende der Belle Êpoque. Untergang des Abendlandes und Geist der Avantgarde, 15 – 20. 73 Vattimo, Das Ende der Moderne, 16. 74 Vgl. Vattimo, Conclusion. Metaphysics and Violence, in: Zabala (Hg.), Weakening Philosophy, 400.
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tungsweise dieser Kondition im Sinne einer Möglichkeit und einer positiven Chance zu kommen«75.
Wesentlich ist, dass Vattimo hier von »einer von ihnen gebotenen Möglichkeit«, nicht jedoch von einem Faktum spricht – Nietzsche und Heidegger bleiben in dieser Hinsicht selbst ambivalent. Was sich als Möglichkeit gibt, bedarf der Aufnahme und Entwicklung. Für Vattimo gibt es mithin keine gültige Heideggerund Nietzschedeutung, sondern die Aufgabe, dieses Denken in dem, was es als Möglichkeit zur Verfügung stellt, auf Zukunft hin zu öffnen. Vattimos Interpretation stellt dabei eine bewusst eklektische Lesart dar, die das Anliegen verfolgt, in der Interpretation Nietzsches und Heideggers einen Übergang von apokalyptisch-katastrophischen Tendenzen, die es in ihrer Philosophie auch gibt, zur Eröffnung positiver Chancen zu vollziehen. In der Art und Weise des Umgangs mit ihrer Philosophie muss sich die Hinwegarbeitung der apokalyptischen Tendenzen zeigen. Anhand zweier Begriffe, welche bei Nietzsche und Heidegger Chiffre für ein künftiges Denken sind, das erwartet wird und als Kommendes einen Zukunftsaspekt hat, nämlich der Gestalt des Übermenschen und des Ereignisses, wollen die folgenden Überlegungen die Hinwegarbeitung apokalyptischer Aufgeladenheit hin zu einer Öffnung auf Zukunft aufzeigen. (1) Zurückgewiesen wird von Vattimo eine Interpretation des Übermenschen als Gestalt, die in ultimativer apokalyptischer Enthüllung an die Stelle Gottes träte, um dessen einstmaligen Ort zu besetzen. Der Übermensch ist aber auch nicht die Verkörperung eines neuen Menschen von gesteigerter Vitalität im Angesicht apokalyptischer Umwälzung und keineswegs der elitär herrschende (oder gar völkisch identifizierte76) Gewaltmensch. Er ist überhaupt keine Gestalt des Ersatzes, die Gott oder den Menschen ersetzen würde, sondern »Brücke«, die in gleicher Weise Kontinuität wie Diskontinuität zum Ausdruck bringt. Vattimo interpretiert den Übermenschen als »Mensch des über«77, d. h. als eine Gestalt des Über-gangs, des Über-schreitens. Diese Deutung verweist auf Heideggers Vortrag Wer ist Nietzsches Zarathustra?, den Vattimo ins Italienische übersetzt hat.78 Die Frage nach Zarathustra und dem Übermenschen wird dort vor einem apokalyptischen Hintergrund gestellt: Nietzsches Suche nach dem Übermenschen sei »Notruf«, zumal er den geschichtlichen Augenblick erkenne, in dem sich der Mensch nach der »Herrschaft über die Erde im Ganzen« ausstrecke, was in neuer (und vielleicht erstmaliger) Weise vor den Gedanken einer »Weltgeschichte«
75 76 77 78
Vattimo, Das Ende der Moderne, 16; * im Original Deutsch. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 357. Vgl. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 49. Vgl. Heidegger, Saggi e discorsi, 66 – 82.
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stellt.79 Zarathustra habe die Aufgabe der Vermittlung, er »blickt in das Wesen des Über-menschen voraus und bringt es in eine sichtbare Gestalt«80. Nicht Nietzsche selbst vermag den Übermenschen zu beschreiben, er vermag lediglich eine Figur der Vermittlung zu denken. Mit Zarathustra sei eine Gestalt präfiguriert, welche zu einem Übergang hin öffnet, der noch nicht anwesend und in Nietzsches Denken nicht mehr gedacht ist. Etwas komme darin aber zum Vorschein, erhalte eine Gestalt, ehe es gedacht werden könne. Gedichtet werde darin die Wesensgestalt des in jener Zeit zu Denkenden, noch ehe es zum Begriff geworden ist, worin Heidegger einen herausragenden Moment der Geschichte abendländischer Metaphysik sieht.81 Damit ist die Frage angesprochen, welches Denken und welche Sicht des Menschen überhaupt heutiger (d. h. technischer) Welterfahrung entsprechen können. Einige Schritte sucht Heidegger mit Nietzsche in der Darstellung jenes Übergangs noch zu gehen, wenn er von einer Erlösung vom Geist der Rache spricht, der im abendländischen Denken valent sei als ein Nein zur Zeit, zum Vergehen, d. h. zu einer bisher waltenden (metaphysischen) Verstellung der Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen.82 Das Bewusstsein von einem Neuanfang, der sich in der Suche nach dem Übermenschen als Gestalt des Übergangs ausdrückt, und die Suche nach einem Denken, das nicht unter dem Geist der Rache steht, übernimmt Vattimo und gibt diesen Elementen eine weitere Ausarbeitung. Er charakterisiert den Übermenschen als »Mensch von gutem Temperament«83 und sieht in dieser Deutung die »größten Entwicklungsmöglichkeiten«84 jener Gestalt. Vom guten Temperament spricht Nietzsche explizit in Menschliches, Allzumenschliches im Aphorismus 34 des ersten Buches: »Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Äußerungen nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge – jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben.«85
Worin liegen nun die Entwicklungsmöglichkeiten dieser »Einstellung, die über eine Widerlegung und Ablehnung hinaus ist«86 ? Zunächst scheint es Vattimo nicht um bestimmte Inhalte, sondern entgegen apokalyptischer Gestimmtheit 79 Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 102. 80 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 103. 81 Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 119; vgl. dazu auch: ders., Was heißt Denken? oder den in den Wegmarken veröffentlichen Aufsatz »Zur Seinsfrage«. 82 Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 113; 118. 83 Vattimo, Abschied, 31. 84 Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 62. 85 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 34. 86 Vattimo, Nietzsche, 54; siehe auch Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 346.
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um die Frage eines freien, »geistigen Klimas«87 zu gehen, welches von einem »hermeneutischen Sinn«88 geprägt ist, worauf gerade die Deutung des über verweise.89 Nietzsches Gestus der Kritik und Entlarvung, besonders in den Schriften seiner mittleren Schaffensperiode, sei nicht von einem wahren Grund der Dinge motiviert, sondern von der »Tätigkeit der Interpretation selbst«90 her zu verstehen und in seinem interpretativen Vollzug aufzunehmen. Der Mensch des über lebt nicht mehr aus der Repräsentation einer schöpferischen arche oder aus dem Gedanken einer umfassenden Beheimatung in einem telos oder dem novum des Fortschritts, das sich als wahrer denn das Vergangene herausstellt, sondern aus der schöpferischen Kraft, welche jedem interpretierenden Akt, d. h. jedem Übergang zu neuen Bedeutungen, innewohnt. Das über meint somit einen Vorgang des Überschreitens fixierter Grenzen der »Dinge«. Vattimo ist überzeugt, dass diese Deutung des Menschen des über als hermeneutische Gestalt Chancen bietet, ihn auf ein Verstehen spätmoderner Erfahrung hin zu entwickeln. (2) Als wechselseitig einander interpretierend betrachtet Vattimo Nietzsche und Heidegger, sodass nicht nur Heidegger Interpret Nietzsches ist, sondern Heidegger auch aus einem von Nietzsche geprägten Blickwinkel gelesen werden müsse.91 Aus dem bisher zu Nietzsche Gesagten wird damit bereits die Tendenz, welche der »eher hermeneutischen oder sogar nihilistischen Seite von Heideggers Denken«92 den Vorzug gibt, deutlich. Die Akzentuierung einer hermeneutischen Lektüre, die den »häufig apokalyptischen Ton Heideggers«93 vermeidet und einer »weniger tragischen und apokalyptischen Gesamteinstellung«94 geschuldet ist, sieht Vattimo etwa auch bei Gadamer gegeben. Die folgenden Überlegungen wollen zeigen, wie Vattimo in der Philosophie Heideggers einen apokalyptisch-aufdeckenden Gestus gegenüber einem apokalyptisch-katastrophischen herausstreicht und im Begriff des Ereignisses eine hermeneutische Tiefenstruktur hervorkehrt. Im kleinen Aufsatz Girard und Heidegger : K¦nosis und Ende der Metaphysik bringt Vattimo Ren¦ Girards religionswissenschaftliche Anthropologie mit Heideggers Verwindung der Metaphysik in Zusammenhang.95 Für Girard firmieren die Logik des (religiösen) Opfers und dessen konstituierende Bedeutung 87 88 89 90 91 92 93 94 95
Vattimo, Nietzsche, 55. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 50. Vgl. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 47 – 55. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 54. Vattimo, Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers, 141 – 153. Vattimo, Das Ende der Moderne, 193. Vattimo, Gadamer zum Hundertsten, 82. Vattimo, Gadamer zum Hundertsten, 84. Vgl. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 77 – 85.
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für eine Gesellschaft sowie das Verhältnis von Heiligem und Gewalt als Grundkategorien des Denkens. In biblischer Tradition komme es zu einer schrittweisen Enthüllung der mit Opfer und Heiligem einhergehenden gewalttätigen Mechanismen sowie zu einer Neuinterpretation jener Motive im Sinne sukzessiver Reduktion der Gewalt.96 Die Moderne schließlich bringe diesen Prozess, so Vattimos Interpretation Girards, noch einmal in einer neuen Dringlichkeit zusammengefasst ans Licht, indem sie vor die radikale Alternative »entweder der vollständigen Selbstzerstörung der Menschheit oder der vollständigen Verwirklichung der Predigt der Nächstenliebe Jesu«97 stellt. Heideggers »Zurückweisung der Metaphysik« sei in einer gewissen Entsprechung zu Girard von der Idee der Reduktion metaphysischer Gewalt motiviert. Überdies gebe es eine »Analogie zwischen der apokalyptischen Vision der Moderne, die uns Girard […] gibt«, und der »Vollendung der Metaphysik, wie sie Heidegger in seinen letzten Schriften beschreibt. Sowohl für Girard als auch für Heidegger ist das entscheidende und apokalyptische, das heißt offenbarende Element in der gegenwärtigen Lage der Ausbruch der Gewalt, der der Tatsache geschuldet ist, dass in unserer Zeit der Wille zur Macht [Nietzsche] – oder die mimetische Rivalität [Girard] – ausdrücklich und grenzenlos wurde.«98
Vattimos Bezug auf ein offenbarendes Element zeigt einen Übergang zu einem anderen, umfassenderen Verständnis von Apokalypse als »Enthüllung«, »AnsLicht-Bringen«, was Vattimo später auch explizit betont, wenn er in Bezug auf Girard von der »Offenbarung einer apokalyptischen Alternative zwischen totaler Gewalt und perfekter Nächstenliebe«99 und in Bezug auf Heidegger von einer »Enthüllung des Vergessens der Metaphysik«100 spricht. Vattimo vermag beide Denker in ihrem Bezug zur Spätmoderne als apokalyptisch im Sinne eines aufdeckend enthüllenden Momentes zu verstehen. Er wendet sich aber klar gegen Girard, wo dessen Position auf eine apokalyptische Entscheidung als radikale Alternative zwischen Vernichtung und Nächstenliebe hinauszulaufen scheint. Was Heidegger betrifft, sieht Vattimo ebenfalls eine gewisse Tendenz hin zum Gedanken einer Substitution geschichtlicher Kontinuität durch einen Augenblick der Entscheidung, möchte aber diese Lesart vermeiden. In der Bevorzugung einer »linken Heideggerlektüre«101 weist er sowohl eine apokalyptischkatastrophische als auch eine nostalgisch-restaurative Interpretation zurück, um nach einem Denken geschichtlicher Kontinuität zu fragen. Das Motiv der 96 97 98 99 100 101
Vgl. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 148 – 151. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 78. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 79. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 85. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 80. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 30.
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Rettung veranschlagt er nicht in einer letzten unerlässlichen Wahl, sondern in der Ankündigung und im Ruf in einen weitergehenden Prozess, »der zugleich eine Offenbarung und eine fortschreitende Verminderung der ursprünglichen Gewalt des Heiligen ist«. Er ist Aufruf, »die Gewalt zu entheiligen und die definitive und endgültige Forderung nach metaphysischer Objektivität aufzulösen. Dieser Prozess hat kein Ende, sicher hat er kein Ende mit der Offenbarung einer apokalyptischen Alternative zwischen totaler Gewalt und perfekter Nächstenliebe.«102
Festgehalten sei, dass Vattimo hier von einer fortschreitenden Verminderung und einem Prozess, dessen Ende sich nicht angeben lässt, spricht. Hervorgehoben werden muss überdies, dass in den letzten Zeilen von Vattimos Text das eigentliche Motiv des kleinen Aufsatzes schließlich als Einladung, ein Denken mit einem andren in Zusammenhang zu bringen, deutlich wird: Die Arbeit Girards vermochte Vattimos Heidegger-Verständnis zu verändern, wie er nun selbst – sensibilisiert durch Heidegger – einen gewandelt-verfremdenden Blick auf die Thesen Girards wirft, um sie von ihrer Aufgeladenheit mit apokalyptischer Diskontinuität zu erleichtern. Die apokalyptisch-monologische Entscheidung erfährt im Text selbst eine Transkription in Begegnung und Dialog. Offen bleiben muss hier zum einen noch die Frage, woraus sich jene kühne Verbindung Heideggers und Girards (und vorher schon Nietzsches und Heideggers) rechtfertigt, läuft sie doch Gefahr, den einzelnen Denkern nicht ganz gerecht zu werden. Offen bleiben muss andererseits auch die Frage, wie Vattimo die Rede vom Ausbruch der Gewalt und der Ausdrücklichkeit und Grenzenlosigkeit des Willens zur Macht interpretiert, die er in obigem Zitat durchaus noch in Analogie zu Girard gesehen hat, wenn er Geschichte nicht in einen Augenblick apokalyptischer Entscheidung münden lassen möchte. Dazu bedarf es einer Reflexion auf den Begriff des Ereignisses. Vattimos Interpretation des Denkens Heideggers im Sinne eines weitergehenden Prozesses der Schwächung richtet sich gegen den Gedanken eines apokalyptisch-katastrophischen Einbruchs. Wie aber lässt sich dies mit dem Gedanken des Ereignisses des Seins verbinden? Der grenzenlos werdende Wille zur Macht, wie ihn Heidegger unserer Zeit attestierte, sei Kennzeichen der Vollendung und Krise der Metaphysik und zeige sich als »Seinsvergessenheit«, als »Identifizierung des Seins mit der Totalität des Seienden, der Objektivität«103, das heißt als Weltumgang umfassender Weltbemächtigung. Dem entspricht eine Identifizierung von Sein und Grund, wie sie die Metaphysik durchziehe und sich schließlich in den positiven Wissenschaften und der modernen Technik als 102 Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 84 f; vgl. auch 74 f. 103 Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 79.
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Walten eines lückenlosen Begründungszusammenhangs bzw. Zusammenhangs des Nutzens und der Funktionalität offenbare.104 »Die Technik […] stellt, entsprechend ihrem umfassenden Anspruch, alle Seienden in ursächlichen, vorhersehbaren und beherrschenden Verhältnissen tendenziell miteinander zu verbinden, die höchste Entfaltung der Metaphysik dar.«105 Vattimo beschreibt dies jenseits einer Dämonisierung der Technik in apokalyptischen Begriffen im Sinne ihrer offenbarenden Bedeutung, nicht jedoch der größtmöglichen Katastrophe. Er konstatiert mit Heidegger, dass im sich immer umfassender manifestierenden Wesen der Technik »Züge zum Vorschein kommen, die zwar der Metaphysik und dem Humanismus eigen sind, von diesen aber immer im Verborgenen gehalten werden. Diese enthüllende Entfaltung ist für die Metaphysik und für den Humanismus zugleich Schlussmoment, Höhepunkt und Beginn der Krise.«106
In der umfassenden Entfaltung der Technik komme eine Wahrheit über das Denken der Metaphysik und des Humanismus zum Vorschein, die bislang so nicht (oder kaum) gesehen werden konnte. Dabei handelt es sich um das bemächtigende Gewaltpotential dieses Weltumgangs, das in der technischen Naturbeherrschung im zwanzigsten Jahrhundert eine Massivität erlangt, die nicht mehr umgangen werden kann. Vattimo nähert sich, um diese enthüllende Funktion zum Ausdruck zu bringen, prophetisch-apokalyptischer Diktion an und spricht von »›Gabe‹* – sich gebende Gabe des Seins, das nur ein Geschick als Schicken, Sendung, Ankündigung hat«107. Indem Vattimo »Gabe«, »Geschick« und wenige Sätze später auch »Ereignis« als Schlüsselbegriffe zeitgenössischer Philosophie mit »Schicken, Sendung, Ankündigung« und danach mit »Appell, worin der Mensch […] gerufen wird«108, erläutert, deutet er sie in sprachlichen Kategorien als Ruf und Vor-Gabe (Schicken, Sendung, Ankündigung), die auf Antwort und Interpretation warten. Gabe, Geschick und Ereignis bezeichnen damit die Eröffnung eines hermeneutischen Horizontes, in dem wir stehen und der nicht von uns gemacht ist, sondern sich uns gibt. Sein versteht Vattimo als die Kontinuität dieser Öffnungen des Weltzugangs: »Das Sein ist nichts anderes als die Überlieferung der geschichtlich-schicksalhaften Öffnungen, die für jede einzelne geschichtliche Menschheit, ›je und je‹, ihre ureigenste Möglichkeit des Weltzugangs konstituieren. Die Erfahrung des Seins – als Erfahrung
104 105 106 107 108
Vgl. Heidegger, Zur Sache des Denkens, 61 – 65. Vattimo, Das Ende der Moderne, 46. Vattimo, Das Ende der Moderne, 47. Vattimo, Das Ende der Moderne, 47. Vattimo, Das Ende der Moderne, 47.
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von Empfang und Antwort dieser Überlieferungen – ist immer Andenken und Verwindung.«109
Festgehalten muss hier werden, dass Vattimo nicht bloß an einen all unseren Erfahrungen vorgelagerten Horizont der Deutung denkt. Die Erfahrung des Seins stellt auch einen Anspruch dar, der an uns ergeht und zu dem unsere Antwort konstitutiv dazugehört. Dieses Zusammengehören von »Empfang und Antwort« ist wesentlich, es macht den Charakter des Seins als Sich-Ereignens aus. Vattimo bezieht sich hier auf Heideggers Aufsatz Der Satz der Identität aus der Schrift Identität und Differenz und nimmt dessen Motiv vom Zusammengehören von Mensch und Sein, die niemals als unabhängig voneinander fixierbare Größen zu denken sind, auf: »Im Menschen waltet ein Gehören zum Sein, welches Gehören auf das Sein hört, weil es diesem übereignet ist. […] Sein west und währt nur, indem es durch seinen Anspruch den Menschen an-geht.«110 Dieses einander Übereignet-Sein, welches Heidegger das Ereignis nennt, deutet Vattimo als eine hermeneutische Struktur : Es ist ein Wechselgeschehen aus Anspruch und Entsprechung (der »Mensch ist eigentlich dieser Bezug der Entsprechung«111) und rückt mithin in die Verantwortung des Menschen: Ausgesetzt der Gefahr des Scheiterns, soll ein Blick eröffnet werden für die Chancen der Gestaltung, die sich uns zuschicken und ankündigen. In biblisch-apokalyptischer Diktion könnten wir sagen, dass es um ein Lesen der Zeichen der Zeit (Lk 12, 54 – 57) und die Frage nach sich eröffnenden Möglichkeiten zu tun ist. Der Satz der Identität erfährt nach seinem ersten Teil, welcher jenes Zusammengehören von Mensch und Sein expliziert, einen Neueinsatz mit dem Wort »Heute«. Nicht mehr könnten, so scheint es, die bisherigen Konstellationen der Metaphysik jenes einander Übereignet-Sein in adäquater Weise sicherstellen und zum Ausdruck bringen. Ab diesem Punkt bleiben die Überlegungen Heideggers auf die moderne Technik bezogen, in deren Wesen der Anspruch des Seins, seine Herausforderung an den Menschen heute ergehe. Es ist das Wesen der Technik, an dem heute das Zusammengehören von Mensch und Sein im technischen Zeitalter erfragt werden müsse. Heidegger apostrophiert dieses Wesen der Technik als »Ge-Stell«112, d. h. benennt es, um es überhaupt als solches in das Blickfeld der Überlegungen zu rücken. Wenn Heidegger von einem ersten, bedrängenden Aufblitzen des Ereignisses im Ge-Stell spricht, sieht er offensichtlich die Erfahrung der Technik, die in einer bisher unbekannten Weise planetarische Auswirkungen hat, als so massiv, dass die bisherigen Bestimmungen von Mensch und Sein darin fraglich werden. Das Aufblitzen bedeutet, 109 110 111 112
Vattimo, Das Ende der Moderne, 192. Vgl. Heidegger, Identität und Differenz, 14 – 30; hier : 18 f. Heidegger, Identität und Differenz, 18. Heidegger, Identität und Differenz, 23.
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dass wir jene Änderungen noch in keiner Weise zu denken vermögen, sie sind das uns zu denken Vorausliegende. In einem von Vattimo immer wieder aufgenommenen Wort sagt Heidegger : »Das Er-eignis ist der in sich schwingende Bereich, durch den Mensch und Sein einander in ihrem Wesen erreichen, ihr Wesendes gewinnen, indem sie jene Bestimmungen verlieren, die ihnen die Metaphysik geliehen hat.«113 Als diese sich auflösenden Bestimmungen interpretiert Vattimo das Subjekt/Objekt-Schema, welches bislang für unser Wirklichkeitsverständnis leitend gewesen sei und dem Bewusstsein eine Welt fixierter Gegenstände entgegenstellte. Die Auflösung jenes Wirklichkeitsverständnisses ist heute längst im Gang und in vielen Bereichen erlebbar. Philosophie müsste mit Vattimo die Frage stellen, ob diese Auflösung lediglich der Weg in eine umfassende Virtualisierung der Welt ist oder ob es Möglichkeiten gibt, sie auch im Sinne einer interpretativen Welterfahrung, die um den sprachlich-unverfügbaren Charakter der Welt weiß, zu entwickeln.
Apokalyptik und die Erzählung vom Ende der Erzählungen An zwei wirkmächtigen Bildern zeitgenössischer Philosophie, Nietzsches Übermensch und Heideggers Ereignis, die beide für ein zu kommendes Denken der Zukunft stehen, zeigte sich Vattimos Versuch, apokalyptisch-katastrophische Momente hinwegzuarbeiten und sie in apokalyptisch-offenbarende umzuwandeln. Dabei sollte ihr sprachlich-interpretativer Gehalt und das Moment geschichtlicher Kontinuität entwickelt werden. Den Versuch, einige Schritte in die Richtung der Herausarbeitung einer hermeneutisch-sprachlichen Welterfahrung zu gehen, ist für Vattimo mit der Ausbildung des so genannten schwachen Denkens und einer hermeneutischen Ontologie verbunden. Es geht darin nicht um eine Überwindung eines bestimmten Denkens des wahren Seins hin zu einer noch tieferen Wahrheit oder um eine apokalyptische Offenbarung des Seins im Sinne einer neuen Epoche, es geht nicht um das Durchschauen einer Logik der Geschichte hinsichtlich ihres Ziels oder aber ihrer Ziellosigkeit. Das Denken macht, worin eine erste Bedeutung des Terminus schwach ausgesprochen ist, vielmehr die Erfahrung, dass es der Geschichte gegenüber »nicht mehr die Position der Souveränität wird beanspruchen können«114. Was aber kann diese Wandlung vor dem Hintergrund einer apokalyptischen Gestimmtheit bedeuten? Auffallend ist, dass Vattimo explizit von der Ausarbeitung einer Ontologie 113 Heidegger, Identität und Differenz, 26; vgl. Vattimo, Abschied, 43 f und ders., Das Ende der Moderne, 31. 114 Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 95.
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spricht, freilich von einer schwachen Ontologie. Die Seinsfrage in dieser Weise wieder aufzunehmen, möchte dem Rückfall in eine objektivistische Ontologie entgegentreten, der unversehens dort statthaben kann, wo keine Verständigung über das Seinsverständnis mehr erfolgt. Schon die Deutung des Übermenschen und des Sich-Ereignens von Sein als hermeneutisches Geschehen weisen in die Richtung einer »interpretativen Seinsstruktur«115 des schwachen Denkens. »Das Sein ereignet sich – von mal zu mal, in den historisch geschickhaften Öffnungen – allein als ontologische Differenz, das heißt als Bruch mit den Ansprüchen, den Forderungen des Seins nach Begrenztheit, Stabilität und Finalität …«116 Was kann damit gemeint sein? Zunächst spricht Vattimo vom Sich-Ereignen des Seins, d. h. die Kategorie des Ereignisses bietet einen Zugang, um nach der Kritik an einer Metaphysik der Präsenz noch vom Sein zu sprechen. Innerhalb der Gedankenstriche (von mal zu mal, in den historisch geschickhaften Öffnungen) greift Vattimo sein hermeneutisches Verständnis des Ereignisses auf und deutet es als Eröffnung eines Weltzugangs (historisch geschickhaft), aus dem sich uns die Überlieferung zuschickt, ein Verstehen in der Gegenwart möglich wird und eine Zukunft sich eröffnet. »Sein« ist (oder besser : ereignet sich, west, gibt sich als) der sprachlich-kulturelle geistige Horizont, aus dem wir immer schon leben, der uns vorausliegt. Darauf kann es keinen unmittelbaren Zugriff geben, davon keine unmittelbare Vergegenwärtigung und keine gänzliche Objektivierung; das Sein ereignet sich in der Weise der Differenz. Vattimo nimmt dazu Heideggers Wort von der ontologischen Differenz auf. Man könnte fragen, ob Vattimo nicht auch auf Hegels Verständnis vom Unterschied, der sich auf sich selbst bezieht, mithin nicht mehr als der Unterschied fixierter Bestimmungen gefasst werden kann, rekurriert, wenn er vom Sich-Ereignen des Seins in der seinsmäßigen, d. h. ontologischen Differenz spricht. Es kann nicht mehr um die Differenz zweier Sphären gehen, die sich gegeneinander fixieren ließen. Diesen Unterschied erklärt Vattimo als Bruch – mithin evoziert der Gedanke des Seins nicht mehr den Fluss, in dem sich alles bewegt, aus dem alles hervorgeht und in den alles zurückkehrt, sondern eine letzte Nicht-Verortbarkeit. Drei Gestalten des Bruches nennt Vattimo, den Bruch mit der Forderung und dem Anspruch der Begrenztheit, der Stabilität und der Finalität. Die Forderung der Begrenztheit des Seins ist die seiner Handhabbarkeit und Bemächtigung. Die Forderung der Stabilität sieht das Sein als übersinnliche Welt, die einer dem geschichtlichen Wandel und Schwanken unterworfenen instabilen Welt gegenüberstünde. Die Forderung der Finalität richtet sich auf die Vorstellung einer logischen Notwendigkeit der Geschichte und auf einen Zielpunkt, der dem Endlichen und
115 Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 49. 116 Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 83.
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Geschichtlichen enthoben wäre. Was aber kann ein Aufgeben dieser Anmaßung bedeuten? Dieser Bruch darf selbst nicht statisch verstanden werden, als käme man durch eine luzide Analyse des Seinsbegriffs, wie sie frühere Philosophien nicht geleistet hätten, zum Gedanken des Ereignisses mit all den erwähnten Implikationen. Vielmehr muss damit eine Veränderung unseres Blickes einhergehen, andernfalls wir doch nicht dem Versuch entkämen, das Sein wieder als etwas zu fassen und es auf einen Bestand zu reduzieren. Wir würden dadurch den Ereignis-Charakter sogleich verlieren. Vattimo kehrt den Charakter einer Bewegung hervor, wenn er weiters von der Bereitschaft, »das Ereignis des Seins als eine Art Substraktion, eine Schwächung, eine Entfernung oder einen langen Abschied«117 verstehen zu lernen, spricht. Das Ereignis des Seins hat nichts von einem Umsturz des Äons oder der übermenschlichen Tat des heroischen Anfangens an sich, sondern ist Bewegung einer Substraktion, d. h. einer Verminderung und Schwächung starker Strukturen. Wenn Vattimo vom Ereignis des Seins als einer Entfernung und einem langen Abschied spricht, ist damit eine Bewegung angedeutet, die nicht durch die Analyse ihrer Strukturen (ruhend) dargestellt werden kann, sondern erzählt werden muss. Vattimos schwache Ontologie drängt in eine Erzählung. Wenn sich im letzten Kapitel schon eine Bestimmung des Seins als Kontinuität der Öffnungen des Weltzuganges ergeben hat, so lässt sich dies nun dahingehend präzisieren, dass diese Kontinuität nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern selbst einer Erzählung bedarf. Freilich kann sich diese nicht mehr als Erzählung einer ungebrochenen Fortschrittsgeschichte, als Erzählung einer Entfaltung ewiger Anlagen in der Geschichte, als Mythos des unveränderlichen Seins oder als genealogischer Rückgang zu einer arche darstellen, sondern als Geschichte einer Schwächung, als Erzählung eines Abschiedes. Sie wäre dann die Erzählung vom Enden dieser Erzählungen, Erzählung vom Ende der Metaerzählungen. »Das Ende der ›Metaerzählungen‹, gedacht im Horizont der Geschichte der Metaphysik und ihrer Auflösung (also innerhalb einer paradoxen ›Metaerzählung‹), ist das SichEreignen des Seins in Form der Auflösung, der Schwächung, der Sterblichkeit; nicht aber des Niedergangs/Verfalls, denn es gibt keine hohe, feste, ideale Struktur, von der die Geschichte ›abgefallen‹ wäre.«118
Das Sich-Ereignen des Seins wird hier gefasst als die paradoxe ›Metaerzählung‹ vom Ende der Metaerzählungen. Darin sind sowohl die Momente des Bruchs und der Schwächung als auch eine innere Differenz, die sich im Begriff selbst 117 Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 82. 118 Vattimo, Abschied, 125.
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auftut (wie beim Sein als der seinsmäßigen Differenz) und die ein gänzliches Zusammenfallen mit sich verhindert, bewahrt, sie erscheinen aber im Horizont einer Erzählung. Diese erhält auch eine erste Charakterisierung, wenn von Auflösung, Schwächung und Sterblichkeit die Rede ist, der Gedanke einer Erzählung des Niedergangs der Geschichte, die den Abfall von einem goldenen Zeitalter imaginiert und darin immer noch den Traum unverdorbener Anfänge weiterträgt, aber zurückgewiesen wird. Als Erzählung der Auflösung ist sie emanzipatorische Erzählung von der Schwächung starker Strukturen. Wenn Vattimo von dem Sich-Ereignen des Seins in Form der Sterblichkeit spricht, wirft dies die Frage nach der Art und Weise unserer Zuwendung zu den Überlieferungen der Vergangenheit, dem Verstehen der Gegenwart und dem Sich-Eröffnen von Zukunft auf. Ein Denken der pietas ist, wie später gezeigt wird, Vattimos Versuch, dieser Frage zu antworten. Die schwache Ontologie läuft auf ein Denken von Geschichte, ja sogar auf eine paradoxe Geschichtsphilosophie hinaus. Sie erzählt »die Geschichte des Seins als Geschichte eines ›langen Abschieds‹, einer endlosen Schwächung des Seins«119. Das schwache Denken setzt dem apokalyptischen Abbruch eine paradoxe Geschichtsphilosophie als Erzählung des Abschieds entgegen und dem Umsturz der Äonen die Suche nach der »Chance eines neuen, geschwächt-neuen Anfangs«120. Doch klingt diese Opposition selbst noch sehr apokalyptisch – eher müssten wir vom Versuch einer Transkription sprechen; das schwache Denken versucht eine Transkription apokalyptischer Gestimmtheit in ein Klima interpretativer Welterfahrung. Dieser Vorschlag hat nichts mehr von einer Souveränität des Denkens, die meint, die Wirklichkeit intellektuell bewältigen zu können, an sich, er kann aber vielleicht als Kontrastprogramm mit den gesellschaftlichen Realitäten in Verbindung gebracht werden. Wie aber können jene Schwächung und jener Abschied noch zu einer Erzählung werden, wenn sie nicht die Souveränität des neuen Entwurfes haben? Bedürfen sie selbst einer VorGabe, einer Erzählung, die ihnen vorausliegt? Wir fragen nach dem Verhältnis von Hermeneutik und biblischer Erzählung.
119 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 30. 120 Vattimo, Abschied, 44.
Herkunft und Zukunft Jerusalem wird eine offene Stadt sein wegen der vielen Menschen und Tiere, die darin wohnen. (Sach 2, 8)
Das erste Kapitel führte vor einige lose miteinander verbundene Motive, deren Zusammenhang nun im Folgenden einen bestimmteren Ausdruck erhalten soll: den Rückbezug zeitgenössischer philosophischer Strömungen auf einen Bruch, der sich mit dem Ende der Belle Êpoque, d. h. dem ersten Weltkrieg, ereignete, den Übergang von apokalyptisch kulturpessimistischen Motiven zur Frage nach sich eröffnenden Chancen, eine Bewegung der Schwächung, die einen emanzipatorischen Impuls zum Ausdruck bringt, eine Philosophie der Interpretation, welche sich besonders auf Nietzsches und Heideggers Einspruch gegen eine Metaphysik der Präsenz bezieht, sowie eine noch nicht näher ausgeführte Aufnahme biblischer Erzählung. Der Versuch, den Zusammenhang dieser Motive weiter aufzuklären, kann von der abschließenden Passage eines Textes mit dem programmatischen Titel Die nihilistische Berufung der Hermeneutik seinen Ausgangspunkt nehmen. Dort spricht Vattimo von einem »Übergang von der Metaphysik der Präsenz zur Ontologie der Herkunft« und nennt diesen Übergang ein »Ereignis des Seins«121. Welcher Übergang ist gemeint und wie steht er in Zusammenhang mit jener nihilistischen Berufung der Hermeneutik, von welcher der Titel des Textes erzählt?
Hermeneutik und biblische Erzählung Der genannte Text Vattimos eröffnet eine Reihe von 1994 gehaltenen Vorträgen, welche im Band Jenseits der Interpretation erschienen sind und dem Bestreben entspringen, »noch einmal über den ›ursprünglichen‹ Sinn der Hermeneutik nachzudenken«122. In ganz ähnlicher Weise formuliert Vattimo im selben Jahr im Vortrag Die Spur der Spur das Anliegen einer »erneuerten Reflexion über die 121 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 31. 122 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 9.
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Religion«123. In beiden Fällen geht es um den Versuch einer Klärung von etwas, das sich eher in einem diffusen Klima anzeigt denn als klar umrissene Position auftritt. Gibt es einen Zusammenhang jenes Neueinsatzes der Reflexion über Hermeneutik einerseits und Religion andererseits? Bezüglich der Hermeneutik geht es Vattimo um die These, dass die Hermeneutik »zu einer Art koine, einer gemeinsamen Sprache nicht nur der philosophischen, sondern der abendländischen Kultur insgesamt geworden«124 sei, ob dieses »ökumenischen«125 Charakters aber in Gefahr geraten sei, an Aussagekraft zu verlieren. Dabei nimmt er eine bereits im Aufsatz Hermeneutik als koin¦ im Jahr 1987 geäußerte These wieder auf. Auf eine Verschiebung in dieser neuerlichen Thematisierung wird im Laufe der folgenden Überlegungen zu achten sein. Zunächst ist aber die Frage zu stellen, was mit dem vieldeutigen Begriff einer gemeinsamen Sprache gemeint sein kann. Bedeutet er die gänzliche Vereinheitlichung (Babel), die widerstandslose Übersetzbarkeit oder die Nivellierung aller in den verschiedenen Sprachen sich manifestierenden Unterschiede? Oder aber ist die Rede von einer gemeinsamen Sprache der philosophischen Kultur der Versuch, entgegen dem Phantasma unmittelbarer Übersetzbarkeit einerseits und gänzlicher Disparität andererseits die gegenwärtige Philosophie als Antwort auf eine gesellschaftliche Vorgängigkeit zu lesen? Diese Vermutung legt sich nahe, wenn man bedenkt, dass Vattimo schon die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts vor einem gänzlichen Auseinanderfallen in Richtungen bewahren möchte, indem er sie als Antwort auf die Zäsur des Endes der Belle Êpoque sieht. In ähnlicher Weise, wenn auch in einem sozusagen kleineren Rahmen, möchte er nun auch das diffuse Klima der Philosophie seit den achtziger Jahren noch als Gestalt, die einer gesellschaftlichen Erfordernis antwortet, deuten. Worin aber könnte diese bestehen? Vattimo reklamiert explizit den Bezug so unterschiedlicher Denker wie Gadamer, Ricoeur und Pareyson, Habermas und Apel, Rorty und Taylor, Derrida und Levinas auf einen gemeinsamen geistig-kulturellen Horizont (auf »eine gemeinsame Atmosphäre«). War in den fünfziger und sechziger Jahren der philosophische Diskurs marxistisch und in den siebziger Jahren strukturalistisch geprägt, so sucht Vattimo mit dem Begriff der Hermeneutik das in den achtziger Jahren aufkommende Klima zu charakterisieren. Hermeneutik wird zum Bezugspunkt, der in Kritik und Affirmation viele Richtungen der Philosophie und allgemeiner noch der geisteswissenschaftlichen Diskurse aufeinandertreffen lässt.126 Welcher gesellschaftlich-kulturellen Vorgängigkeit entspricht 123 Vattimo, Die Spur der Spur, 108. 124 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 13; vgl. ders., Hermeneutik als koin¦, in: Abschied, 61 – 75. 125 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 9. 126 Vgl. Vattimo, Abschied, 61.
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dieser »›Übergang‹ zur Hermeneutik«127 als gemeinsamer Sprache? Vattimo ist der Ansicht, dass die Vorherrschaft strukturalistischer Diskurse mit ihrem Ideal neutraler Beobachtung zu wenig auf ein »historistisches Bedürfnis«128 zu antworten vermochte, das sich im allgemeinen Bewusstsein manifestierte. Die Zentrumslosigkeit strukturalistischer Diskurse war aus seiner Sicht ein radikaler Versuch, nach dem Zusammenbruch des Kolonialismus auch in den Geisteswissenschaften aus hegemonial tingierten Diskursen herauszukommen. Die strukturalistischen Diskurse konnten allerdings die geschichtsphilosophischen Herausforderungen, vor die Europa nach dem Ende der letzten großen Geschichtsvision mit universalem Anspruch, dem Marxismus, gestellt war (und ist), nicht ausreichend thematisieren und ließen den Ort, den ehemals die großen Erzählungen innehatten, unbesetzt.129 Man könne aber, so ist Vattimo überzeugt, den »Platz, den früher die ›Metaerzählungen‹ und Geschichtsphilosophien einnahmen«130, nicht einfach leer lassen, ohne diesen Abschied weiter zu behandeln. Der Frage, inwiefern Hermeneutik diesem »historistischen Bedürfnis« entsprechen könne und jenen Abschied zu thematisieren vermag, sind Vattimos Versuche einer Konturierung ihres Begriffes gewidmet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Reflexionen Vattimos um 1989, rund um das Ende des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts, einsetzen. Die beiden genannten Wendungen einer nihilistischen Berufung der Hermeneutik und eines Übergangs zu einer Ontologie der Herkunft können bei der Rekonstruktion dieser Überlegungen helfen. Die Akzentuierung einer nihilistischen Berufung der Hermeneutik sieht diese in einer Verbindung zum Nihilismus als der Auflösung einer Metaphysik der Präsenz und der Rückbindung an letzte positivierbare Ursprünge. Ein über unsere geschichtliche und sprachliche Situiertheit erhobener Standpunkt der Beobachtung, von dem aus sich die Welt in einem einheitlichen Entwurf bemächtigen ließe, ist nicht mehr erschwinglich. Anzeichen dafür seien etwa die Dechiffrierung eines Eurozentrismus, die Ideologiekritik, die »Anfechtung der Selbstgewissheit des Bewusstseins durch die Psychoanalyse«, »die explizite Pluralisierung der Informationsagenturen und die Massenmedien«131 – oder zusammenfassend: die Rede vom Ende der Metaerzählungen. Der Nihilismus sei das Geschick unserer Zeit, aus dem wir uns nicht zurückziehen können und das es zu übernehmen gilt, ohne dass wir Bilanz über ihn zu ziehen und ihn intellektuell zu bewältigen vermögen: »Wir fangen an, vollkommene Nihilisten zu werden (werden zu können).« Leise bringt Vattimo mit der Parenthese »(werden 127 128 129 130 131
Vattimo, Abschied, 66. Vattimo, Abschied, 63. Vgl. Appel, Il ritorno filosofico di Paolo: una sfide per l’unversalismo cristiano. Vattimo, Abschied, 126. Vattimo, Das Zeitalter der Interpretation, 52.
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zu können)«, die jenen Satz beschließt, die Perspektive einer Möglichkeit und Freiheit zum Ausdruck, welche den Übergang zum Nihilismus nicht in einem Fatalismus enden lässt. Angesprochen ist ein Verstehen der Notwendigkeit, den Nihilismus zu übernehmen und darin nach »Wahlmöglichkeiten und Verhaltensweisen«132 zu fragen, zu denen diese Notwendigkeit uns aufruft. Es geht also nicht um ein Zurück hinter die Grundlagenkrise, die mit dem Nihilismus bezeichnet ist, sondern um Weisen menschlichen Umgangs mit ihr ; letztlich darum, »wie ein neues Bild vom Menschen im Verhältnis zur gegenwärtigen Lebenswelt zu gewinnen wäre«133. In gewisser Weise ist Hermeneutik schon eine erste Antwort, sie ist Philosophie, die den auflösenden Tendenzen des Nihilismus zu entsprechen sucht. Sie steht selbst in der Bewegung der Auflösung der Welt »in ein Spiel von Interpretationen« und hat darin eine »Verantwortung als historisches Projekt«134 anzunehmen. Sie als Antwort zu verstehen, ist mit der Option verbunden, jenen Nihilismus in Richtung interpretativer Welterfahrung weiterzudenken, nicht jedoch im Sinne einer alles zersetzenden »Metaphysik des Nichts«135 (die das Nichts als eine »objektiv entfaltete Präsenz«136 ansieht) enden zu lassen. Diese Entscheidung ist für das Denken Vattimos von größter Bedeutung, sie versucht, in den Prozessen nihilistischer Auflösung von Sicherheiten entgegen dem Ideal eines Rücksprungs in »Identitäten und Zugehörigkeiten […], den Nihilismus als Chance zur Emanzipation zu begreifen«137. Vattimo bringt mithin in den Begriff des Nihilismus selbst eine Differenzierung ein, wobei er sich dabei schon auf Nietzsche berufen kann, der zwischen einem aktiven und reaktiven Nihilismus unterscheidet.138 In den Worten Vattimos ist Nihilismus zum einen das Geschick unserer Zeit, dem wir uns nicht zu entziehen vermögen. Andererseits ist mit Nihilismus eine Aufgabe bezeichnet, die gleichermaßen in einer Radikalisierung des Nihilismus besteht. Seine Auflösung jeglicher Fundamente ist auf ihn selbst zurückzuwenden, sodass Nihilismus nicht zu einer versteckten Inthronisation des nihil als eines letzten metaphysischen Prinzips wird. Die Hoffnung Vattimos ist, dass sich in diesem vollendeten Nihilismus auch neue Formen einer Verantwortlichkeit zeigen könnten. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das Begreifen oder das Entwickeln des Zusammenhangs von nihilistischer Auflösung und Sprache. Die nihilistische »Berufung des Seins« dürfe eben nicht in die Positivierung des nihil münden, sondern müsse in ein Verständnis des sprachlichen Charakters des Seins um132 133 134 135 136 137 138
Vattimo, Das Ende der Moderne, 23. Eco, Apokalyptiker und Integrierte, 23. Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, 60. Vattimo, Die Spur der Spur, 124. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 67. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 65 f. Vgl. Vattimo, Dialogo con Nietzsche, 195 – 204.
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schlagen. Damit möchte Vattimo nicht sofort auf die antike wie christliche Einsicht in den logos-Charakter des Seins zurückgreifen (und damit das Problem als gelöst ausgeben, bevor es überhaupt ans Licht treten kann), wiewohl es hier wohl eine schwache Kontinuität gibt. Er setzt nicht einfachhin die Sprache an die Stelle des nihil, um den Ort jenes letzten Prinzips erneut zu besetzen, sondern spricht stattdessen von der Wahrheit humaner Sprache: »Nimmt sie sich in ihrer Verantwortung als historisches Projekt ernst, kommt die Hermeneutik aktiv jener Berufung des Seins nach, das mehr und mehr als die Wahrheit humaner Sprache erscheinen will anstatt als Ding und bloße Gegebenheit, als Gegenständigkeit.«139
Wenn Vattimo von der (nihilistischen) Berufung des Seins zur Schwächung spricht, sieht er darin nicht bloß eine zufällige Gegebenheit, die sich als Tendenz konstatieren lässt, sondern eine Richtung angezeigt, die dem Sein selbst innerlich ist. Es handelt sich dabei weder um eine Teleologie, die in einem Endpunkt kulminiert, noch um den stets vor uns liegenden Horizont des novums, der die Entwicklung vorantreibt, sondern eher – mit Hegel – um die Negativität des Seins, die alle Prozesse einer Entwicklung daran hindert, mit sich selbst zusammenzufallen, d. h. sich in sich selbst zu schließen. In Transkription des hegelschen Gedankens handelt es sich dabei um eine Schwächung aller sich manifestierender Gehalte, aller dinglicher Gegebenheit und Gegenständigkeit. Die Richtung jener Auflösung gibt Vattimo hier mit der Wahrheit humaner Sprache an. An Vattimos Insistieren auf einer Berufung des Seins könnten sich viele Fragen und Kritikpunkte erheben. Zunächst einmal ist zu sagen, dass dieses Konzept nicht bloß den Status einer Behauptung hat, sondern auf eine Verantwortung verweist, an der auch seine Wahrheit hängt. Vattimo spricht davon, dass die Hermeneutik aktiv jener Berufung nachkommen müsse. Damit ist wohl die Aufgabe einer Suche nach einer Sprache, die in der Situation der Auflösung der Metaerzählungen das Menschliche (die Wahrheit des Humanen) entsprechend jener gewandelten Situation hervortreten lassen kann, gemeint. An dieser Stelle muss erneut die Frage nach der Religion aufgenommen werden. Inwiefern kann die Suche nach einer humanen Sprache etwas mit Vattimos Zuwendung zur Religion zu tun haben? Inwiefern kann die Religion auch eine Weise sein, jene Negativität des Seins, d. h. jene nihilistische Berufung zum Ausdruck zu bringen? Diese Frage muss hier zunächst offen bleiben, es kann jedoch schon darauf hingewiesen werden, dass Vattimo in seiner Charakterisierung des Nihilismus nicht bloß auf Nietzsche und Heidegger zurückgreift, sondern in Anlehnung an prophetische Diktion von nihilistischer Beru139 Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, 60.
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fung und Aufruf (und nicht etwa bloß von »Tendenzen«) spricht. Mithin ist dieser Blick auf den Nihilismus mit einer Option verbunden und hat nicht bloß den Charakter neutral-deskriptiver Beschreibung. Es geht darum, einen immer neuen Übergang von den gewaltsamen (metaphysischen) Zügen, welche auch in einer alles zernichtenden Metaphysik des Nichts noch einmal wiederkehren, hin zu einem schwachen Denken zu vollziehen. Was aber ist im Rahmen der Versuche, der Hermeneutik eine genauere Konturierung zu geben, mit Vattimos Wort vom Übergang von einer Metaphysik der Präsenz zu einer Ontologie der Herkunft gemeint? Die Frage der Herkunft betreffend spricht Vattimo in der zitierten Schlusspassage des Textes über Nihilismus und Hermeneutik lediglich von »ererbten Erschlossenheiten […], in die das Dasein, der Mensch, immer schon als in seine Herkunft geworfen ist«140. Jedem Verstehen liegt ein Raum geschichtlich-kultureller-sprachlicher Erschlossenheit voraus, den wir nie zu völliger Präsenz bringen und mithin gänzlich durchschauen können. Die Hermeneutik sucht dieser Herkunft Rechnung zu tragen, indem sie Verstehen aus jenen Zugehörigkeiten zu rekonstruieren versucht. Der Terminus Herkunft verweist jedoch im Zusammenhang mit Hermeneutik für Vattimo noch einmal auf etwas anderes. Es geht dabei um jene geschichtlich-geschicklichen Voraussetzungen, aus denen Hermeneutik selbst lebt. In der Einleitung zu Jenseits der Interpretation gibt er dazu einen genaueren Hinweis, wenn er dort von einem Weg spricht, dessen Richtung »vielleicht skandalös erscheinen mag, denn Schwäche und Nihilismus werden hier ganz anders als sonst üblich ›gewendet‹; und vor allem endet er in einem gewissen Sinn bei der Theologie, läuft dabei aber auf keinerlei Übereinstimmung mit irgendeiner ›Orthodoxie‹ hinaus«141.
Jenes Zitat deutet eine Nähe von Vattimos Bezug auf den Terminus Schwäche, seiner Umwendung des Nihilismus und der Theologie an, was gegenüber dem einige Jahre älteren Aufsatz Hermeneutik als koin¦ neu ist. Am Aufbau des Sammelbandes Jenseits der Interpretation wird eine besondere Bedeutung der Verbindung von Hermeneutik und Theologie jedoch noch nicht deutlich, scheint dieser doch (nach dem einleitenden Aufsatz zu Nihilismus und Hermeneutik) mit Wissenschaft, Ethik, Religion und Kunst (sowie einen Anhang über Wahrheit und Rationalität der Hermeneutik) eher vom Vorhaben geleitet, die klassischen Gebiete der Philosophie anzusprechen. Sichtbar wird jedoch, dass für Vattimo die Frage nach der Hermeneutik nicht primär die nach einer philosophischen Richtung ist oder bloß regionalen Charakter hat, sondern die Philosophie in ihrer Gesamtheit betrifft. 140 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 31. 141 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 10.
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An diesem Punkt setzt etwa zehn Jahre später der Aufsatz Das Zeitalter der Interpretation (2003) an, der erneut die Frage nach der Bedeutung der Hermeneutik aufnimmt. Dort heißt es, die Hermeneutik sei »Darlegung des geschichtlichen Daseins als solchen im Zeitalter des Endes der Metaphysik«142. Vattimos Analysen zum Ende der Metaphysik und zur Hermeneutik beziehen sich vorrangig auf Nietzsche und Heidegger, in deren Philosophie er den konsequentesten Ausdruck einer hermeneutischen Philosophie findet. Diese sprächen jedoch nicht nur aus dem »modernen Prozess der Auflösung der Metaerzählungen, sondern vor allem aus der biblischen Tradition heraus«143. Das Verhältnis von Hermeneutik und biblischer Erzählung kennzeichnet Vattimo hier nun auf folgende Weise: »Das Christentum führt das Prinzip der Innerlichkeit in die Welt ein, auf dessen Grundlage die ›objektive‹ Realität Stück für Stück ihr entscheidendes Gewicht verliert. Nietzsches Feststellung ›Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen‹ und Heideggers hermeneutische Ontologie ziehen die äußersten Konsequenzen aus diesem Prinzip, nichts anderes. Das Verhältnis zwischen der modernen Hermeneutik und der Geschichte des Christentums ist somit nicht, wie immer angenommen, auf die essentielle Verknüpfung beschränkt, die das Nachdenken über Interpretation seit jeher mit der Lektüre biblischer Texte verbunden hat. Vielmehr möchte ich behaupten, dass die Hermeneutik in ihrem radikalsten Sinn, wie er in Nietzsches Feststellung und Heideggers Ontologie zum Ausdruck kommt, die Entwicklung und Ausreifung der christlichen Botschaft ist.«144
Die hermeneutische Philosophie ist Vattimo zufolge nicht allein durch die große Bedeutung, welche der Exegese biblischer Texte in der abendländischen Kultur zukam, auf die biblische Botschaft bezogen, sondern steht mit dieser in einer tieferen geschichtlichen Verbindung, wie die Begriffe »Entwicklung« und »Ausreifung« nahelegen. Sie wird aus ihrer Herkunft von der christlichen Botschaft verstanden. Ihr Verhältnis ist nicht im Sinne einer vollständigen Beerbung zu sehen, als wäre die Hermeneutik die säkulare Überwindung der christlichen Botschaft. Gleichwohl ist das Christentum nicht der unveränderliche tragende Grund, als dessen akzidentelle Folge neben anderem auch die Hermeneutik hervorginge, wobei die Herkunft ihren späteren Ausgestaltungen unendlich überlegen bliebe. Im kursiv gesetzten »ist«, welches jenes Zitat abschließt, drückt sich auch nicht bloß die Identifizierung von Hermeneutik und christlicher Botschaft, sondern die Spannung einer geschichtlichen Verwiesenheit aus, welche sich der Auflösung einer der beiden Seiten widersetzt und immer wieder
142 Vattimo, Das Zeitalter der Interpretation, 52. 143 Vattimo, Das Zeitalter der Interpretation, 52. 144 Vattimo, Das Zeitalter der Interpretation, 53.
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neu konfiguriert werden muss. Diesen Zusammenhang gilt es festzuhalten und in seiner Bedeutung für Hermeneutik und Christentum zu bedenken. Vattimo entdeckt bei Nietzsche und Heidegger als den Denkern, welche ihm zufolge die spätmoderne Auflösung am konsequentesten reflektieren, eine andere Tradition, die auflösenden Charakter hat, nämlich die Herkunft aus der christlichen Erzählung. Die hermeneutische Ontologie (und damit auch das schwache Denken), die selbst nicht die Souveränität eines neuen philosophischen Entwurfes hat, sieht sich dadurch in einer geschichtlichen Kontinuität verortet. Wenn die Besinnung über die Hermeneutik irgendwie bei der Theologie ende, so handelt es sich dabei aber, wie sich nun sagen lässt, in keiner Weise um einen Abschluss, sondern gerade um die Eröffnung eines neuen Feldes der Betrachtung. Kann die Besinnung auf jenen geschichtlichen Zusammenhang Möglichkeiten eröffnen, in den Prozessen der Auflösung eine Sprache zu bewahren, zu finden, zu entwickeln?
Nachtrag Hermeneutik als koine ist nicht von ihrer biblischen Herkunft zu lösen. In jener wechselseitigen Verwiesenheit ist eine Form der Wiederkehr biblischer Erzählung angezeigt, die nichts zu tun hat mit einem Kampf um »christliche Wurzeln« oder Formen religiöser Identitätsgebung. Vattimo möchte den Begriff einer »christlichen Herkunft« gerade vor jeder Inanspruchnahme im Sinne eines ideologischen Rückbezugs auf starke Fundamente schützen. Politisch bringt er dies zum Ausdruck, wenn er sagt: »Gerade als Christ glaube ich, dass man aus der Frage der ›christlichen Wurzeln‹ der europäischen Union kein Element des Streits, kein Thema des Konflikts machen sollte. Wenn es so ist, wäre es besser, nicht davon zu sprechen.«145 Was aber lässt sich sagen von jenem Zusammenhang, das nicht sofort in eine Verklärung religiöser Ursprünge fiele?
Herkunft und Beheimatung Im Zusammenhang mit der schillernden Formulierung einer Auflösung der Welt in ein Spiel von Interpretationen, der vagen Ausweitung der Hermeneutik zur koine zeitgenössischer Philosophie und dem Aufweis ihrer Herkunft aus der christlichen Erzählung ist die Frage zu stellen, ob biblische Erzählung und Hermeneutik zwei Figuren sind, die jeweils aus den Gedanken primordialer Geborgenheit und absoluter Beheimatung leben. 145 Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 40 f.
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Zum einen: Legt die Bibel selbst den Gedanken primordialer Geborgenheit nahe und wird folglich eine Hermeneutik, welche ihre Verwiesenheit auf die biblische Erzählung annimmt, unweigerlich an jenes Motiv zurückgebunden? Hermeneutik würde dann in ihrer eigenen Herkunft gefangen bleiben und könnte letztlich keinen eigenständigen, emanzipatorischen und zukunftseröffnenden Blick ausprägen. Sie wäre dann nicht geschichtliche Philosophie oder Philosophie der Geschichte, sondern (versteckte) Erneuerung eines UrsprungsDenkens. Jeder Ausgang aus dem biblischen Denken, der diese Herkunft anerkennt, bliebe letztlich immer schon in jene umfassende Beheimatung eingeborgen, könnte nichts Substanzielles bedeuten und stellte keine Veränderung für den Ort seines Ausgangs, welcher auch der seiner Rückkehr wäre, dar. Zum anderen: Bläht sich das Konzept einer Philosophie der Interpretation zu einem Metadiskurs auf, d. h. zu einer Sprache aller Sprachen, die jeder bestimmten Sprache vorausginge? Wir wären damit im Begriff, den alten Mythos einer Ursprache zu erneuern, der gegenüber die je konkreten Sprachen schon als nachgeordnet und als Verfall zu denken wären. Im Zusammenhang der Überlegungen zu einer Wiederkehr der Religion müsste dies bedeuten, dass nicht die Religion der Menschwerdung des Wortes in kenosis wiederkehrt, sondern das Phantasma von Babel, die Vielfalt der Sprachen (Gen 10) in einem Projekt der Vereinheitlichung in einen Metadiskurs zurückzunehmen (Gen 11).146 Fallen dort, wo sich alles in das Spiel frei fließender Interpretationen und Übergänge auflöst, Anfang und Ende, Ursprung und Ziel unterschiedslos zusammen und erneuern den Mythos ewiger Beheimatung, die kein Befremden mehr kennt? Taucht so am Ende dort, wo wir die Auflösung starker Fundamente wahrzunehmen meinten, das Phantasma primordialer Geborgenheit auf ? Das Phantasma primordialer Geborgenheit im Sinne umfassenden, nicht durch irgendwelche Grenzen gehinderten, paradiesischen Verstehens? Lebt Vattimos Konzept von der Sehnsucht nach einer Rückkehr in den Paradiesesgarten? Die folgenden Überlegungen wollen die Frage, ob Bibel in den Gedanken einer primordialen Geborgenheit einmündet, in einem Exkurs aufgreifen und beziehen sich dabei auf jenen Ort, den Habermas in seiner Beschreibung des Übergangs von Heideggers seynsgeschichtlichem zu Gadamers hermeneutischem Denken evoziert, wenn er von einer Urbanisierung der heideggerschen Provinz spricht – die Stadt.147 Ist diese nicht – vor jeder Theorie und philosophischen Thematisierung – hermeneutischer Ort schlechthin, weil sie aus sich beständig die Notwendigkeit von Übersetzung und Interpretation generiert?148 146 Vgl. Ebach, »Wir sind ein Volk«. Die Erzählung vom »Turmbau zu Babel«. Eine biblische Geschichte in aktuellem Kontext, 20 – 43. 147 Vgl. Vattimo, Gadamer zum Hundertsten, 81 – 86. 148 Vgl. Bahr, Die Sprache des Gastes, 305 – 322.
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Exkurs Biblisch legt sich der Gedanke primordialer Geborgenheit zunächst in der Chiffre des Paradiesesgartens, die ein Leben ohne Widerständigkeit zu imaginieren scheint, nahe. Am Ende der Johannes-Apokalypse kehren zahlreiche Bilder dieses Gartens wieder, dennoch wird nicht von einer Rückkehr dorthin erzählt. Vielmehr vollzieht sich ein Übergang zum Bild der Stadt. Dieser Übergang, der so viele Verweise auf den Garten des Anfangs zeigt, evoziert einen Diskurs, der mit dem Traum einer Rückkehr an den Ursprungs-Ort als Ort völliger Aufgehobenheit gebrochen hat. Mehr noch – gibt nicht das Ende, die Erzählung von der Stadt, zu verstehen, dass auch der Anfang, der Garten, nie im Sinne einer primordialen Geborgenheit gedeutet werden durfte? Tatsächlich beginnt die biblische Urgeschichte gerade nicht mit der monologischen Bestimmung eines Urprinzips, einer arch¦, sondern mit der Erzählung einer Doppelung des Anfangs, welcher sich in zwei Geschichten (dem Sieben-TageSchöpfungsgedicht und der Paradieseserzählung) ausspricht und damit Anfangen auf eine Vielfalt, nicht zuletzt der unterschiedlichen Diskurse, wie sie Lied (Gen 1) und Erzählung (Gen 2) darstellen, verpflichtet weiß. Auch das Ende biblischer Erzählung mündet nicht in eine letzte, vereinigende, monologische Erzählung, das heißt in den Gedanken umfassender Beheimatung, lückenloser Integration und vollständiger Transparenz, sondern spricht sich als einladende Eröffnung auch den fremden Völkern gegenüber aus, mit ihren Erzählungen und Erfahrungen zu Gästen der offenen Stadt zu werden. Damit entspricht das Ende der unaufgebbaren Dignität des Anfangs als Vielfalt. Stadt haftet im Kontext der biblischen Schriften eine Ambivalenz an. Von ihrer ersten Erwähnung an lässt sie die Eindeutigkeit einer Interpretation vermissen. Als Adam und Eva den Garten des Paradieses verlassen müssen, wird ihr erstgeborener Sohn Kain nach einer ersten Eskalation der Gewalt zum Gründer einer Stadt (Gen 4, 17), das mordende, den Anderen zur Gänze usurpierende Bewusstsein gleichsam zum Urbild der Städtegründer. Die Stadt wird Verkörperung von Fortschritt (Kain und seine Nachkommen werden zu den Erfindern sämtlicher Kulturtechniken, Gen 4, 17 – 24) wie von Barbarei. Dieser Ambivalenz bleibt die biblische Erzählung eingedenk. Noch in der Johannes-Apokalypse, die mit der Vision der offenen Stadt endet, taucht die Erinnerung an die Metropolen Ninive, Babel und Rom, die als Machtzentren Chiffre der Unterdrückung Israels sind, auf. Die Stadt Rom erscheint, gleichsam in Zitat und Anspielung, als neues Babel und das himmlische Jerusalem als dessen städtischer Gegenentwurf. (Offb 4 – 5 und 13 – 14) Auch der Erzählung der Vertreibung aus dem Paradies in die Geschichte haftet eine derartige Ambivalenz an. Einerseits mündet sie in eine Gewaltgeschichte, die zur Brutalität Lameches führt (Gen 4, 23 f), andererseits kann sie,
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einer Interpretation Peter Strassers folgend, als Kritik an Vereinigungsmythen fragloser Beheimatung gelesen werden. Die Vertreibung ermöglicht, nachdem Eva die Liebe durch übergroße Nähe, »Bedürfnis nach Identität«149 und Angleichung (Seinwollen wie Gott als Bild der Tilgung jeglichen befremdlichen Unterschiedes) getötet hat, erst jene Fremdheit, »durch welche die Liebe zu sich selbst kommen kann: Fortan ist der eine liebende Teil befähigt, die Transzendenz [und damit Fremdheit] des anderen zu achten«150. Nach der Errettung aus den überhand nehmenden losgetretenen schöpfungswidrigen Chaosmächten in der Flutgeschichte schildert das Buch Genesis die Ausdifferenzierung der Sprachen und Völker. (Gen 6 – 10) Bestätigt wird jene Vielfalt, auf die hin Schöpfung angelegt ist und die vor dem Versuch Adams und Evas, sie auf eine fundamentalere Einheit (Versuch des Seinwollens wie Gott) zurückzuführen, geschützt wird. Künstlich soll jene Einheit erwirkt werden in einem Projekt, das sich in der Errichtung einer Stadt und eines bis zum Himmel ragenden Turmes zeigt151. Dieses bauliche Vorhaben ist Ausdruck einer geistlosen Totalität (statt geistgewirkten Einheit) und des Bemühens, die in der Vertreibung aus dem Paradies gewährte Fremdheit durch Angleichung, was in der Normierung einer Sprache mit fixierten Bedeutungen gipfelt (»einerlei Rede und einerlei Wörter«, Gen 11, 1), zurückzunehmen. Dieses Bemühen wird von Gott durch die Zerstreuung in die vielen Sprachen vereitelt. Was meist als Strafe gesehen wird, ist Rettung der Vielfalt und leitet über zur Vision einer freien Sammlung des Volkes, welche durch viele folgende Erzählungen hörbar bleibt, um schließlich in die Begegnung der Völker in der offenen und gastfreundlichen Stadt entgrenzt zu werden. Was jedoch zugrunde geht, ist das nach Sicherheit strebende Vorhaben, sich »einen erhabenen, umfassenden Standpunkt«152, wie ihn der bis in die Unendlichkeit des Himmels reichende Turm zu bieten verspricht, zu erstellen; einen Standpunkt lückenlosen Überblicks, welcher es erlaubt, »Geschichte als einheitlichen Ablauf zu denken«153 und davor bewahrt, in die Zerstreuung einer nicht mehr eindeutigen Welt zu fallen. (Gen 11, 4) Der Stadtentwurf des neuen Jerusalem hat kein Wahrzeichen, keinen Turm und keinen Tempel mehr. Diese Leere und dieser Verlust einer Mitte erscheinen jedoch nicht als Zerfall in Richtungslosigkeit, denn der Gestus der Gastfreundschaft wird zur neuen Mitte; eine Gastfreundschaft, die Gott den fremden Völkern gewährt. (Offb 21, 22 – 26) Von einer Vereinheitlichung der Sprachen ist hier nicht mehr die Rede. Die Geburt des Erlösers, Menschwerdung des göttlichen Logos, ereignet sich 149 150 151 152 153
Vattimo, Jenseits des Christentums, 119. Strasser, Journal der letzten Dinge, 243 f. Gen 11, 1 – 9. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 14. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 16.
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nicht, wie die Magier als Vertreter der fernen Völker anfänglich vermuteten, innerhalb der Mauern der großen und traditionsreichen Stadt Jerusalem, die besungen wird als Mutter aller Völker und von der gesagt wird: »Mann für Mann [jeder!] ist in ihr geboren« (Ps 87, 5). Schon bei der Geburt wird dem Erlöser jener Ursprungs-Ort verweigert, der nicht durch einen anderen substituierbar ist: Betlehem ist Asyl, aber nicht Ersatz für Ursprung und Heimat. Somit lebt der Erlöser in einer eigentümlichen Ortlosigkeit und Versetzung vom Ursprung – »der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann« (Lk 9, 58). Die kenosis des göttlichen Logos führt nicht in neue Ursprungserzählungen, sondern verweist auf eine Ortlosigkeit, die sich in der Vielfalt der Orte und Wege ausdrückt, die zu gehen sind. Menschwerdung ist Offenbarung des subversiven Gottes der Zeit und der Geschichte, der Wege und Fahrten (und damit der Interpretation), nicht eines mythologischen »Bereichsgottes«, eines Gottes, dessen Zuständigkeit und Präsenz sich räumlich angeben und fixieren lässt; nicht eines Gottes, der Zeit, Geschichte und Interpretation außer sich hat, weil er in der ewigen Wiederkehr der Naturzyklen und in den ihm zu Ehren erbauten Städten seinen umgrenzten Ort hat. Die Stadt Jerusalem als ganze erschrickt angesichts der befremdlichen Kunde der Weisen aus dem Osten, wenn sie von der Geburt des neuen Königs erzählen, und nimmt sie mit ihrer Erzählung nicht auf. Der Thron ist von König Herodes besetzt. Wo sollte da ein Ort für den neuen König sein? Die biblische Gegenerzählung dazu findet sich im Buch Jona, welches von der Bekehrung Ninives, literarischer Topos der unermesslich großen, feindlichen, heidnischen Stadt, berichtet. Im Bild Ninives, der schon früh von Nimrod, dem ersten Helden, gegründeten Stadt (Gen 10, 8 – 12), versammeln sich im Gegensatz zu Jerusalem als Friedenssymbol Erinnerungen an assyrische, babylonische und persische Herrschaft, konzentrieren sich gleichsam die Negativerfahrungen Israels mit den beherrschenden Großmächten. Umso erstaunlicher ist die gastliche Aufnahme Jonas und seiner Erzählung, welche eine umfassende, die gesamte lebendige Schöpfung einschließende Bekehrung der Stadt bedeutet. Die Überwindung hierarchischer Trennung, wenn Volk und König sich in gleicher Weise Gott zuwenden, wie auch die Tilgung der Rivalität von Mensch und Tier sind paradiesische Züge, welche in der Stadt präsent werden. All diese Erfahrungen und Erinnerungen schwingen mit, wenn Stadt in einer Verkehrung abschließender Logik und in einer Umkehr ihres umfassenden Geltungsanspruchs zum Heilszeichen wird. Als eine auf Verheißung gegründete, nicht einem mythologischen Geschehen oder einem menschlichen Gründungsakt verpflichtete (was vielleicht nur die beiden Seiten einer Vorstellung der starken Gründung sind), vermag sie in den großen prophetischen Visionen immer wieder zu Tage zu treten. (vgl. etwa Jes 54, 11 – 17) Verheißen als »herabkommend aus dem Himmel von Gott her« (Offb 21, 2.10) ist sie menschlicher
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Verfügung entzogen und wird Zeichen von Gottes Treue und Erwählung. Jerusalem wird so zur Erinnerung, dass die eigenständige Gründung der Stadt als einer auf menschlichen Fundamenten ruhenden (mit all den mythologischen Anklängen, der Welt einen Mittelpunkt und Ursprung zu geben) nicht erschwinglich ist. Stadt ist in all der angedeuteten Ambivalenz etwas sprachlich, geschichtlich, kulturell hoch Vermitteltes, sie trägt der menschlichen Geschichte mit ihren Entfremdungen, Gefährdungen, Entwicklungen, Errungenschaften und Erwartungen Rechnung: Tatsächlich kann nur das Gestalt der Hoffnung sein, was auch Geschichte in sich aufnehmen kann – sonst vermag es doch nur Ver-tröstung zu sein. Es gibt biblisch keinen mythologisch vor der Zeit in der Ferne des Jenseits (der Vergangenheit) gegebenen Idealzustand, welcher nach einer langen Phase schuldhafter Entfremdung (Sündenfall, Geschichte, Reflexion, Interpretation) als ein Fernes der Zukunft wieder wird aufgegriffen werden können, indem sich am Ende die Erzählung wieder hin zu ihrem unverdorbenen Anfang wendet und bündig schließt. Die Schriften des Neuen Testaments stehen in ihrer Kritik der Ursprungserzählungen (Ortlosigkeit Jesu, himmlisches Jerusalem ohne mythologischen Gründungsakt) in der Kontinuität mit Israel als dem Volk des Exodus und der Leidenserinnerung, welches gerade, wie Johann Reikerstorfer betont, in der Abhebung vom »polymythisch gestimmten Umfeld … im Kontakt mit der ernüchternden Wirklichkeit, im Aufbruch trostloser Nichtidentität, vor allem in den leidvollen Geschichten der Unterdrückung, der Fremdheit, des Exils« seine verheißungsvollen »Gottesperspektiven« gewann, nicht aber vom Gedanken primordialer Geborgenheit oder der Versicherung in der Konstanz wiederkehrender kosmischer Abläufe getragen war.154 Die biblischen Visionen sind nicht von der Vorstellung primordialer Geborgenheit getragen. All die Mühen und Entfremdungen, durch welche der Mensch geht, Endlichkeit, Verletzlichkeit und Nicht-Identität, wären bloß beiherspielendes Moment in einem großen mythischen Prozess. Geschichte und menschliche Gestaltung von Welt entbehrten jeglichen substanziellen Sinnes und fielen in den fixierten Gegensatz eines Endlichen (Zeit, Geschichte, Interpretation) gegen ein schlechtes, bloß das Endliche ergänzendes Unendliches (Ewigkeit, Paradies, Original), welches schließlich das Endliche in sich aufsaugte. Hinter diesem Gedanken absoluter Beheimatung steht das gnosisnahe Motiv einer heillosen Geschichte, der das geschichtslose Heil gegenübergestellt wird. Die Verwiesenheit von Hermeneutik und biblischer Erzählung aufzuzeigen, bedeutet mithin nicht die Rückbindung der Hermeneutik an einen Ur154 Reikerstorfer, Die »intelligible« Gottesspur, 3. Vergleiche zu dieser Frage nach Vereinigungsmythos und der Dialektik von Entfremdung und Verheißung in Auseinadersetzung mit biblischen Gestalten auch: Appel, Entsprechung im Wider-Spruch, besonders 80 f.
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sprungsmythos oder den Mythos primordialer Geborgenheit, der kein befremdliches Moment zulassen kann. Nun gilt es die Frage zu stellen, ob nicht die Hermeneutik selbst jenes Motiv mit sich bringt. Muss sie zur alle Welt integrierenden Theorie werden oder können sich in ihr auch Momente des Nicht-Integrierbaren zum Vorschein bringen? Ist ein Konzept, welches Übergang, Übersetzung und Transkription in ihrer Offenheit und Unabschließbarkeit so sehr in den Mittelpunkt rückt, die Härte von Grenzen155 und Tatsachen aber vermissen lässt, letztlich vom Gedanken einer Erlösung aus der Realität der Geschichte hin zum Spiel frei fließender Interpretationen einer idealen Verstehensgemeinschaft getragen? Geht mit dem Gedanken nicht begrenzbarer Interpretation auch die völlige Transparenz des Interpretationsprozesses einher, die jedes dunkle, hemmende Moment auflösen muss? Wurde das Konzept der Interpretation oben gegenüber einem Einbruch apokalyptischer Diskontinuität als ein Bekenntnis zur Geschichte gedeutet, muss diese nun gegenüber dem Ideal primordialer Geborgenheit aufgewiesen werden. Vattimo stellt in seinem Aufsatz zu Ethik und Hermeneutik in Jenseits der Interpretation die Frage, »ob die Philosophie der Interpretation tatsächlich das Ideal einer vollkommen transparenten Kommunikation mit sich bringt«156 und letztlich an die hegelsche Bestimmung der Sittlichkeit anknüpfe, welche von einer umfassenden Integration des Einzelnen in den allgemeinen Horizont einer gemeinsam geteilten Welt ausgeht. In aller Kürze sei nun aufgezeigt, wie sich an einigen Stellen seiner Darstellung der hermeneutischen Ontologie ein Moment des Sich-nicht-Schließens anzeigt. 1) Mit Philosophie der Interpretation meint Vattimo eine »Treue gegenüber denen, die vor mir kamen und nach mir kommen werden«157. Der Zusammenhalt der Generationen in der Zeit erschöpft sich nicht in genealogischen Verhältnissen, sondern kennt darüber hinaus einen Anspruch früherer und kommender Generationen an die jeweilige Gegenwart. Dieser Anspruch sieht sich einer unendlichen Masse des Vergessens gegenüber. Nur ein höchst fragiles Band verbindet die Generationen miteinander. Treue gegenüber den Generationen vor uns und nach uns hat zu tun mit der Anerkennung von Endlichkeit, Gebrochenheit und Sterblichkeit und ist das Gegenbild zum Ideal umfassenden Verstehens im Sinne völliger Transparenz des Interpretationsprozesses. Im Wissen um die Endlichkeit und Verletzlichkeit zeigt sich ein nicht integrierbares 155 Vgl. Eco, Weak Thought and the Limits of Interpretation, in: Zabala, Weakening Philosophy, 37 – 56. 156 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 57. 157 Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 41.
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Moment, an dem jeder Prozess des Verstehens scheitern kann. Weil jenes Moment der Unverfügbarkeit durch Einordnung und Umgrenzung nicht bewältigt werden kann, wird es zur sich ständig erneuernden Frage an uns. 2) Wir können einer Botschaft lediglich eine kontingente Antwort geben, d. h. wir sind zu einem Dialog aufgerufen. Dialog bedeutet nicht die Aneignung oder das Übersetzen des fremden, nicht integrierbaren Momentes, sondern ist das Geschehen eines Gespräches, welches keine gegeneinander fixierbaren Pole (Sender – Empfänger etc.) bestehen lässt, wie Vattimo in Anlehnung an Hölderlin sagt: »Seit ein Gespräch wir sind«.158 Hermeneutik ist nicht »Theorie des Dialogs«, weil sie als solche bloß ein alles umfassendes Netz dialogischer Verwiesenheit zum Ausdruck brächte, sondern muss sich selbst »als Dialog«159 artikulieren, mithin sich konkret auf ihre eigene Herkunft und die sie aus der Vergangenheit und Gegenwart erreichenden Botschaften einlassen. Der Dialog richte sich, wie Vattimo anführt, demnach nicht »nach einem Transparenzideal […], das ihn letztlich unwesentlich machen würde«160, sondern ist tatsächlich zu führen. Er verweist damit immer auf Offenheit und Unsicherheit. 3) Die Endlichkeit als jene Konstitution, in der wir stehen, die aber selbst nicht in klar umrissenen Grenzen fixiert werden kann, prägt den Interpretationsprozess, der sich nie zu völliger Präsenz bringen lässt. Um das vorstellig zu machen, bezieht sich Vattimo auf die heideggersche Unterscheidung von »Eröffnung einer Welt« und »Herstellung der Erde«, den beiden Aspekten des »InsWerk-Setzens der Wahrheit«161. »Während die Welt das System von Bedeutungen ist, die sich in entfalteter Form im Werk auffinden lassen, ist die Erde jenes Element […], das als Immer-wieder-Sichverschließen, als eine Art niemals durch die Interpretationen aufgebrauchter, niemals in den Bedeutungen erschöpfter Kern hervortritt.«162
Der Versuch, den Interpretationsprozess als Welt von Bedeutungen zu entfalten und zu völliger Transparenz und Präsenz zu bringen, findet eine Grenze am Moment der Erde. »Die Erde ist ganz gewiss das hic et nunc des Werkes [des Wortes, der Aussage, der Botschaft], wohin jede neue Interpretation immer zurückkehrt, welche immer neue Lesearten, und somit neue mögliche ›Welten‹, hervorruft.«163 Jede Interpretation hat ein Heute, eine Aktualität, die sie als endliche und verschwindende ausweist, wie Heidegger im Moment der Erde, Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 167; Vgl. Hölderlin, Friedensfeier. Vattimo, Abschied, 71. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 61. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege; Vattimo, Das Ende der Moderne, 55 – 85. 162 Vattimo, Das Ende der Moderne, 77. 163 Vattimo, Das Ende der Moderne, 68.
158 159 160 161
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welches die Konnotation der Endlichkeit und Sterblichkeit an sich hat, zeigt164 und Hegel bereits in der ersten Dialektik der sinnlichen Gewissheit165 am Beginn der Phänomenologie des Geistes entfaltet. Nicht objektive Regeln und Beschränkungen sind der Widerstand, welcher ein unendliches, freies Fließen der Interpretationen hemmt, sondern die Negativität des Hier und Jetzt, die seinen inhaltlichen Füllungen immer wieder die Bedeutung entzieht und sie nicht festhalten lässt. Mit Erde ist ein Sich-Verschließen und mit sinnlicher Gewissheit ein Sich-Entziehen der Welt uns gegenüber benannt; ein Sich-Entziehen der Welt, die sich nicht in einer Kontinuität fließender Interpretationen gibt, sondern unseren Versuch interpretativer Bewältigung der Welt scheitern lässt. Jeder Artikulation der Welt der Bedeutungen (Heidegger) und der Dinge (Hegel) liegt immer schon das Scheitern eines frei fließenden discursus und gänzlicher Transparenz der Interpretationen zugrunde. 4) Die Hermeneutik Vattimos hat sich, wie oben angedeutet, auch der Ausbildung einer schwachen Ontologie gewidmet, die ihren ontologischen Status bestimmen soll. Dabei streicht Vattimo im Seinsverständnis besonders das Moment der Differenz heraus und gibt diesem immer wieder neue Artikulationen. Er spricht von Bruch, Auflösung, Schwächung, Substraktion, Entfernung, Sterblichkeit und Abschied im Begriff des Sich-Ereignens von Sein. Interpretation ist damit immer schon einem Zerbrechen des Versuches der Bemächtigung des Seins geschuldet. 5) Betrachtet man Interpretation als Vorgang »einer unendlichen Wiederherstellung von Kontinuität«, das heißt einer »vollkommenen Integration in eine Ganzheit […], die, als solche, das Gute wäre«166, unterliegt man dem Phantasma der Wiederkehr eines sittlichen Weltumgangs, ähnlich wie ihn Hegel in der Phänomenologie des Geistes als Gestalt, welche die Singularität des Einzelnen aufgrund seiner umfassenden Integration in den allgemeinen Horizont einer gemeinsam geteilten Welt nicht adäquat zu würdigen versteht, beschrieben hat.167 Das Einzelne kann darin nur in der harmonischen Integriertheit im Ganzen in den Blick kommen, welches den Rang eines metaphysischen Prinzips, das in jedem Vorgang der Integration seine Präsenz zur Darstellung bringt, annimmt. Vattimo weist jenes hermeneutische Kontinuitätsideal der völligen Integration als selbst historisch bedingtes (mithin nicht transzendentales) aus, das »mit dem Klassizismus des 17. und 18. Jahrhunderts« verknüpft sei. Jenes Ideal ist nicht Letzthorizont, sondern selbst in einer Geschichte stehend und muss als geschichtlich-geschickliche Eröffnung einer Epoche angesehen werden. 164 165 166 167
Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 76 – 79. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 84 – 86. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 63 Vgl. Phänomenologie des Geistes, 327 – 354.
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Es bleibt an die Geschichte der Moderne und ihre Tendenz nihilistischer Auflösung gebunden und kann sich deshalb nie als gänzlich geschlossene Kontinuität interpretieren. Die Tendenz der Schwächung und des Abschiedes durchzieht auch jenes Ideal. Tatsächlich war der Klassizismus ja auch nicht bloß harmloses Kopieren früherer Stile, sondern Darstellung einer entschwundenen Vergangenheit und damit Verweis auf die Vergänglichkeit. An verschiedenen Orten tritt in der hermeneutischen Ontologie ein Moment des Sich-nicht-Schließens auf, das weder von einem Ideal frei fließender, transparenter Interpretationen noch vom Bild der Hermeneutik als (inhaltsleerem) Metadiskurs, der sich über alle Diskurse ausbreitet (»alles ist hermeneutisch«), zur Darstellung gebracht werden kann. Was ist jene Offenheit, die darin zum Vorschein kommt?
Zukunft Der Versuch, die Herkunft der Hermeneutik von der biblischen Erzählung zu klären, hat vor die Frage geführt, ob wir im Begriff sind, eine Ursprungsgeschichte zu rekonstruieren, die letztlich beim Gedanken einer primordialen Geborgenheit ihren Ausgangspunkt nimmt und dort auch ihren Abschluss findet. Hermeneutik wäre dann selbst nur die repetitive Wiederkehr jenes Ursprungs. Demgegenüber zeigte sich in einer Betrachtung des biblischen Topos der Stadt ein Widerstand gegenüber Mythen primordialer Geborgenheit und in der Konzeption einer hermeneutischen Ontologie ein Moment des Sich-nichtSchließens, des Nicht-Integrierbaren, das zum Verweis auf Offenheit wird. Spiegelt sich darin nur die Ziellosigkeit unserer Zeit, die ihren Ursprung verloren hat, oder kann diese Offenheit auch als Unableitbarkeit der Zukunft gelesen werden? Die Frage nach Zukunft greifen die folgenden Überlegungen auf und stellen sie in die Spannung von biblischer Erzählung und hermeneutischer Ontologie. Als Ausgangspunkt fungieren dabei zwei unterschiedliche Einsprüche, welche in Vattimos Konzept einen Ausfall der Zukunftsdimension sehen. 1) Frederiek Depoorteres wirft in seinem Buch Christ in Postmodern Philosophy Vattimos philosophischer Annäherung an die Religion die gänzliche Auflösung einer transzendenten Dimension vor, was zu einem Verlust jeglicher Zukunftserwartung führe. Die Dimension des Glaubens, die mit der Zukunft verbunden sei, werde von der des Wissens, die eine lediglich rückwärtsgewandte Figur darstelle, sistiert, wobei sich Wissen hier auf das (retrospektive) Durchschauen des Zusammenhanges von biblischer Erzählung und den auflösenden, säkularisierenden Tendenzen moderner Philosophie bezieht. »In dieser Situa-
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tion gibt es einfach keinen Raum mehr für den Glauben, nur mehr für ein Wissen darüber, wie sich jener Übergang ereignet hat.«168 Festzuhalten ist an dieser Stelle nicht der Vorwurf eines Rationalismus, noch kann Depoorteres Darstellung Vattimos weiter ausgeführt werden. Ernst zu nehmen ist jedoch der Verdacht, dass Vattimos Konzept eine ausschließlich auf die Vergangenheit bezogene Figur sei, die keine Zukunft kennt. Auf diese Struktur rekurriert mit ganz anderer Motivation auch Rorty, doch sieht er darin nicht bloß ein Defizit Vattimos, sondern der Religion überhaupt. In seinen Bemerkungen anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhard-Preises sowie seinem Artikel Antiklerikalismus und Atheismus169 bekennt sich Rorty in Auseinandersetzung mit dem religiösen Denken Vattimos zu einer atheistischen Position und reklamiert dabei als unterscheidendes Merkmal einen Primat der Zukunft in seinem Denken gegenüber einem Primat der Vergangenheit bei Vattimo. Wenn der Gedanke der Heiligkeit, also dessen was Substanz des Glaubens ist, in eine ethisch sensible pragmatistische Position transformiert werden soll, manifestiere sich dieser, wie Rorty meint, im Gegensatz zu religiösen Positionen nicht in einem Ereignis konkreter Geschichtlichkeit, das heißt in einem Ereignis der Vergangenheit, sondern bleibt ein in die Offenheit und Unableitbarkeit der Zukunft ausgelagertes Moment. »Unter dem Strich läuft der Unterschied zwischen Vattimo und mir darauf hinaus, dass er in der Lage ist, ein vergangenes Ereignis als heilig anzusehen, während ich das Gefühl habe, dass Heiligkeit allein einer idealen Zukunft innewohnt. […] Mein Gefühl für das Heilige, soweit ich eines habe, ist an die Hoffnung geknüpft, dass eines Tages, vielleicht schon in diesem oder im nächsten Jahrtausend, meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisation leben werden, in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist.«
Mit anderen Worten könne man vom Unterschied »zwischen einer nicht zu rechtfertigenden Dankbarkeit und einer nicht zu rechtfertigenden Hoffnung«170 sprechen. Vattimo stimmt Rorty zu, dass für ihn die Existenz Jesu als ein Ereignis konkreter Geschichtlichkeit zum Angelpunkt der Geschichte wird, das uns von »vorher« und »nachher« sprechen lässt.171 Handelt es sich dabei aber um einen Bezug auf eine historische Begebenheit im Sinne bloßer Vergangenheit oder weist diese Herkunft von einem Ereignis auch einen unhintergehbaren Zukunftsaspekt auf ? Dies ist eine Frage, welche nicht in formalen, von jedem inhaltlichen Moment gelösten strukturellen Analysen religiösen Bewusstseins 168 Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 147 (im Original Englisch). 169 Vgl. Rorty, Bemerkungen anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises. Vortrag am 3. Dezember 2001 in Berlin gehalten und Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion. 170 Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 46 f. 171 Vgl. Vattimo/Rorty/Zabala, die Zukunft der Religion, 72 – 76.
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einer Klärung zugeführt werden kann, sondern auf die Interpretation einer bestimmten Erzählung, der Geschichte Jesu, bezogen bleibt. Diese erscheint biblisch nicht bloß als vergangen-historisch, sondern unlösbar mit der Zukunftserwartung der Wiederkunft im Geist, der Parusie, verbunden. Der Rückbezug auf die Menschwerdung Christi eröffnet eine Zukunftsperspektive. Diese gilt es nun in Zusammenhang mit einem Primat der Zukunft zu bringen, wie er sich in vielen Positionen gegenwärtiger Philosophie anzeigt. 2) Dass Vattimo von einem Neueinsatz der Philosophie mit dem Ende der Belle Êpoque spricht, ist nicht dadurch motiviert, dass die Philosophie jener Zeit die Unwahrheit früherer Philosophie erkannt hätte oder aber ein »Fortschritt« in der Philosophie zu verzeichnen wäre. Vielmehr ist dieser Neueinsatz Antwort auf den gesellschaftlich-politischen Abbruch von Kontinuität und Zugehörigkeit zu einer Tradition, wie er sich in dieser Zeit ereignet hat. Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg erscheinen Spenglers Untergang des Abendlandes und Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Zur selben Zeit veröffentlicht Bloch die erste Ausgabe von Geist der Utopie und sucht Wittgenstein nach einem Verleger für den Tractatus. In einem Atemzug ist von Untergang und Neuschöpfung die Rede. Bloch beginnt sein Werk mit den Worten: »Wie nun? Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.« Bloch schließt die Einleitung mit den Worten: »incipit vita nova«.172 Wittgenstein beginnt den Tractatus mit einer Bestimmung dessen, was die Welt sei: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.«173 Wenig später wird Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein neu wieder aufnehmen: »Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort ›seiend‹ eigentlich meinen? Keineswegs. Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen.«174 Bloch, Wittgenstein und Heidegger können als wichtige Impulsgeber für viele der nachfolgenden philosophischen Strömungen gelten. Ihnen ist das Bewusstsein für den kairos eines neuen Anfangs gegeben. Vattimo macht in seiner Kurzen Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert den Vorschlag, »den Geist der Avantgarde als ein Thema zu nehmen, das für die gesamte künstlerische und intellektuelle Kultur des frühen 20. Jahrhunderts typisch ist«175. In diesem Klima seien die wichtigsten Philosophien jener Zeit herangereift. Die Akzentuierung des Neuen meint kein Überbordwerfen bisheriger Tradition, um eine ganz andere Philosophie zu erfinden. Bloch geht in Geist der Utopie in seiner Rekapitulation der 172 173 174 175
Bloch, Geist der Utopie, 9. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1. Heidegger, Sein und Zeit, 1. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 21.
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Geschichte der Musik bis in die Antike zurück, Wittgenstein greift mit dem Schema der sieben Sätze des Tractatus ein für die gesamte von der Bibel geprägte Tradition charakteristisches Ordnungsprinzip (das des Sieben-Tage-Schöpfungsgedichtes) auf, Heidegger übernimmt den ersten Anstoß seiner Überlegungen von Platons Sophistes. Jener Neueinsatz meint nicht die Entwertung der Tradition, sondern das Ende jeder genealogischen, unmittelbaren Rückbindung an diese. Es gibt keine Selbstverständlichkeit genealogischer Herkunft und keine ungebrochene Kontinuität mehr. Der Bezug auf die Tradition sieht diese als Überlieferung, die es zu übernehmen gilt, deren Übernahme aber nun explizit unter dem Aspekt des Neubeginns und mithin der Zukunft steht. Heidegger hat dem in seiner Interpretation des Daseins hinsichtlich der Zeitlichkeit und des darin zur Darstellung gebrachten Primats der Zukunft einen theoretischen Ausdruck gegeben. Dasein ist konstituiert als Sich-vorweg-Sein und damit niemals als geschlossenes Ganzes, das sich als verfügbarer Besitz einer Vergangenheit oder ungebrochene Herkunft aus einer Geschichte verorten kann176 : »Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.« Jener »Vorrang der Zukunft«177 zeigt sich auch noch in den alltäglichen Formen der abkünftigen Zeit. Zumal Heideggers Verständnis zufolge das Dasein immer schon Sein zum Tode als Sich-vorweg-Sein ist, wird die Gegenwart des Daseins nie als Präsenz verfügbar, sondern erst durch jene Zukunft geweckt. Zukunft erschöpft sich freilich nicht darin, bloß die Verlängerung einer Gegenwart zu sein, sondern ist aus dieser gerade unableitbar. Das Sich-vorweg-Sein als Sein zum Tode überholt vielmehr jegliche Beheimatung im Bestand gegenwärtiger Deutungen und deren Extrapolationen und ermöglicht von daher erst eine Deutung der Gegenwart. Nicht die Gegenwart wird zur Interpretin der Zukunft, sondern die Zukunft zur Interpretin der Gegenwart. Dasein lässt sich nie gänzlich in seine Präsenz überführen, sondern ist durch eine Unbehaustheit gekennzeichnet und wird von einer irreduziblen Spannung, die sich zwischen seiner Zukunft und Gegenwart eröffnet, gehalten. Es gibt kein Zurück hinter den Einspruch gegen die unvermittelte Selbstgegebenheit und Geschlossenheit des Subjekts und gegen dessen Beheimatung in einer spannungslosen Präsenz, wie ihn Heidegger bereits in seiner Einleitung in die Phänomenologie der Religion und dann in Sein und Zeit und Bloch in seiner »Ontologie des Noch-Nicht-Seins« formuliert haben. Die Kritik an einer Metaphysik der Präsenz geht in der zeitgenössischen, ein Motiv des Ethischen ausprägenden Philosophie – wenigstens was ihren Neueinsatz mit Bloch und Heidegger sowie die ihnen nachfolgenden Traditionen betrifft – mit einem Primat der Zukunft einher. 176 Vgl. Appel, Zeit und Gott, 121 f. 177 Heidegger, Sein und Zeit, § 65, 329.
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Jenen Primat der Zukunft mit einer gesellschaftlichen Option verbunden zu entwickeln, ist Anliegen Vattimos, wenn er davon spricht, dass Philosophie nicht bloß »passives Registrieren des Vergehens der Zeit«, sondern »Ausdeutung der Zeichen der Zeit« sein müsse. Das Motiv der Zukunft erscheint hier in der klaren Absage an eine Passivität des bloßen Registrierens mit einer aktiv emanzipatorischen Perspektive verbunden. Diese Bestimmung hätte sich Vattimo zufolge erst im »Lichte der Lehre von der Menschwerdung«178 entwickeln können, was einen ersten Hinweis darauf gibt, dass für Vattimo jenes geschichtliche Ereignis nicht bloß in der Vergangenheit situiert ist, sondern fundamental auf Zukunft verweist. Dies ist nun genauer zu erfragen. 3) Vattimos Lektüre von Heideggers frühem Kommentar zu den Thessalonicher-Briefen179, die sich im Aufsatz Os m¦. Zur Haltung des »als ob nicht« bei Paulus und Heidegger findet, sieht eine wesensmäßige Verbindung des Gedankens der Parusie zu den wesentlichen philosophischen Motiven Heideggers, mithin zum Primat der Offenheit und Unableitbarkeit der Zukunft. Die grundlegenden Begriffe von Sein und Zeit scheinen, betrachtet man ihre Genese, »undenkbar … ohne den Verweis auf das christliche Ereignis«180, wenngleich diese Herkunft in Sein und Zeit keine Erwähnung findet. Wir können »die Philosophie nicht nicht in diesen christlichen Termini denken, wir können es nur im expliziten Wissen darum, dass das christliche Ereignis ein Ereignis ist – indem wir unsere konkrete Geschichtlichkeit übernehmen, ohne sie stillschweigend zugunsten des Fortschreitens zur Wesensschau zu übergehen, und indem wir stattdessen diese faktische Lebenserfahrung bis zur Kritik der Metaphysik und viel später zum Thema der ›Geschichte des Seins‹ weiterentwickeln«181.
Vattimo zeichnet hier eine Interpretationslinie der Philosophie Heideggers vor, die vom Terminus der faktischen Lebenserfahrung (aus dem Pauluskommentar) über die Kritik der Metaphysik zur Erzählung der Seynsgeschichte reicht. Das Motiv der faktischen Lebenserfahrung, das mit den christlichen Termini (besonders der Parusie) in Verbindung zu bringen ist, bleibe dabei in Heideggers Philosophie untergründig präsent. Wie können wir diesem Umstand einer Kontinuität entsprechen? Vattimo gibt eine dreifache Antwort und sagt zunächst, dass das christliche Ereignis als Ereignis zu denken sei. Damit ist nicht sein diskontinuierlicher Einbruch gemeint, sondern – entsprechend Vattimos Interpretation des Ereignisses – die Aufmerksamkeit auf eine hermeneutische Dimension gelenkt. Das Ereignis ist die Eröffnung einer neuen Perspektive, eines neuen Blicks. Mit dem christlichen Ereignis eröffnet sich – hier beginnt der 178 179 180 181
Vattimo, Die Spur der Spur, 122. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60). Vattimo, Os m¦, 169. Vattimo, Os m¦, 172.
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zweite, präzisierende Teil seiner Antwort – eine neue Möglichkeit der Übernahme unserer konkreten Geschichtlichkeit. Aus einem Fatalismus herausgelöst, kann Geschichte als Geschichte in den Blick kommen, d. h. erzählbar werden. Diese Übernahme bedeutet zunächst auch, dass man jenes Ereignis nicht gänzlich in der Analyse seiner Struktur, in der Analyse von Ähnlichkeiten und Entsprechungen aufgehen lassen kann, um es schließlich in seiner Historizität und Positivität zu vergessen. Dies würde heißen, über die Analyse des christlichen Ereignisses (allem voran der Menschwerdung) zu allgemeinen Komponenten religiöser Erfahrung zu gelangen und diese schließlich gänzlich in einen philosophischen Gehalt zu übertragen. Der christliche Vollzug würde dabei bloß als eine Eigenart religiösen Vollzugs und schließlich als eine Daseinsweise des Menschen unter anderen verstanden. Eine derartige Betrachtungsweise, welche dem christlichen Vollzug äußerlich bliebe und dem Gegenstand einen neutralen Beobachter gegenüberstellte, möchte Heidegger in seiner Phänomenologie des religiösen Lebens jedoch gerade überwinden. Mit »stattdessen« kündigt Vattimo im dritten Teil seiner Antwort einen anderen Weg als den der äußerlichen Betrachtungsweise an. Ausgedrückt ist dieser zunächst im Wort von der faktischen Lebenserfahrung. Damit ist eine NichtDistanzierbarkeit angesprochen, die Heidegger in der Erfahrung, welche Paulus und die Thessalonicher und das christliche Ereignis verbindet, entdeckt. Es ist die Erfahrung der Not und Unsicherheit, der Drangsal (thlipsis) in der Erwartung der Parusie, die keinen äußerlichen Standpunkt der Beobachtung zulässt, auch nicht den jenseitigen Heils, welcher der Geschichte eine von ihr nicht tangierte Ewigkeit gegenüberstellte. Heidegger sieht darin eine »Erfahrung authentischer Zeitlichkeit«. Jenen Blick der Nicht-Distanzierbarkeit, wie er sich in der faktischen Lebenserfahrung zeigt, gälte es nun über die Kritik der Metaphysik, die mithin nicht verlassen oder überwunden werden kann, um sie gleichsam von außen zu kritisieren, bis zum Gedanken der Zugehörigkeit zur Geschichte des Seins, in der die Kritik der Metaphysik in eine Erzählung unserer Herkunft umschlägt, zu entwickeln. Wie kann dieser Blick gedacht werden, wenn er verwiesen bleibt auf das christliche Ereignis und die Erfahrung der Thessalonicher? Unsere Geschichtlichkeit zu übernehmen heißt im Sinne Vattimos, dem christlichen Ereignis zu antworten, indem wir die Geschichte der Metaphysik (bzw. des Abendlandes), welche damit in wesensmäßiger Verbindung steht, nicht in neutralen historischen Begriffen, sondern vom Gedanken der Schwächung, wie er im Ereignis der Menschwerdung und der Parusie erscheint, rekonstruieren. Es geht also nicht darum, die authentische religiöse Erfahrung der Thessalonicher zu wiederholen (wodurch sie selbst wieder zu etwas Verallgemeinerbarem würde), sondern um einen Blick auf Herkunft und Geschichte, der nicht mehr in einer beurteilenden Souveränität verbleibt (wie die Erfahrung der
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Bedrängnis der Thessalonicher lehrt), sondern sich als Zugehörigkeit interpretiert. Vattimos Analysen der Genese von Heideggers Denken lassen vermuten, dass auch die Frage nach der Erfahrung authentischer Zeitlichkeit, um die es in Sein und Zeit wesentlich zu tun ist und die dort mit einem Primat der Zukunft einhergeht, uns als in einer bestimmten Überlieferung stehend begegnet, welche sich vom Ereignis der Menschwerdung des Wortes und der Erwartung der Parusie herschreibt. Wie ist nun aber jene Zeiterfahrung in Heideggers Kommentar zu den Paulusbriefen beschrieben? Zitiert sei eine Stelle, an der sich Vattimo auf die Positivität des schon eingetretenen Heilsereignisses bezieht: »Das ›egheneto‹, das ›schon‹, welches den Boden ausmacht, auf dem die Predigt des Paulus in seinen Briefen sich verortet, ist das mit dem Tod und der Auferstehung Christi bereits eingetretene Heil, das dennoch sowenig ein ›vergangenes‹ Ereignis im horizontal-objektiven Sinn des Wortes darstellt, wie es noch nicht wirklich vollendet ist und als eschatologisches Ereignis der Parusie erwartet werden muss.«182
Das »schon« spricht den Zeit-Raum aus, in dem die Thessalonicher leben. Er ist geprägt vom christlichen Ereignis, das eingetreten ist, aber keine Vergangenheit bildet, sondern als ein Ereignis der Zukunft erwartet werden muss. Diese Zeitstruktur der Erwartung der Parusie macht die neue Erfahrung der Thessalonicher aus. Es ist ein »Sich-Wiedererkennen in dem, was man schon ist«183, d. h. in dem durch Tod und Auferstehung Christi eröffneten Heil. Jedes Fortschreiten ist immer auch ein Rückkehren, eine Wiederkehr dessen, was man schon ist. Rückkehr zur Herkunft erfolgt aber nur dann in Authentizität, wenn sie diese auf Zukunft hin öffnet. Dies ist auch die Struktur, welche Vattimos Rede von einer Wiederkehr der Religion und einer Verwiesenheit der Hermeneutik auf ihre biblische Herkunft eingeschrieben ist. Was schon ist, muss als in der Parusie auf uns zukommend erwartet werden, sonst wird es zum bloß historisch konstatierbaren Faktum. Was wir erwarten, ist nicht ein neues Etwas, ein Was? inhaltlichen Charakters, sondern besteht im Wie? einer geschichtlichen Existenz, welche nicht mehr in der Konstitution einer geschlossenen, mit sich zusammenfallenden Identität bestehen kann. In sie wird durch die zeitliche Erwartung eine Lücke eingeschrieben, d. h. sie wird durch eine nicht zu umgrenzende Zukunft geöffnet. Diese geschichtliche Existenz entzieht sich jeder Festschreibung im Sinne der Realisierung eines bestimmten Wesens. Die Vergangenheit – also das, was den Menschen in seiner Geschichte ausmacht – hat nicht den Charakter eines Bestandes, sondern ist das, was erst wird, was noch eine Zukunft hat. Zukunft realisiert sich damit nicht als die 182 Vattimo, Os m¦, 174. 183 Vattimo, Os m¦, 173.
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Aneinanderreihung von immer neuem Diesem und Jenem, sondern als das, was der Mensch je schon ist. Dies ist er aber nicht im Sinne genealogischer Herkunft oder eines registrierbaren Bestandes, sondern nur aus seinem Auf-Zukunft-ausSein. Dieser Zirkel zeigt den Menschen als Wesen der Offenheit und Eröffnung. Offenheit und Eröffnung sind nicht bloß Modi der Zukunft, sondern auch der Gegenwart und Vergangenheit, also der Zeit schlechthin. In der Bedrängnis eines Lebens in der Erwartung der Parusie sieht der frühe Heidegger eine authentische Erfahrung von Zeitlichkeit, welche er später in Sein und Zeit ohne Bezug auf das christliche Ereignis der Menschwerdung und der Wiederkehr in einer starken Akzentuierung des Primats der Zukunft als Vorlaufen auf den je eigenen Tod erfragen wird. An der Stelle, wo bei Heidegger (in Sein und Zeit) das Sein zum Tode steht, ist christlich die Erwartung der Parusie. Der Primat der Zukunft muss in dieser Perspektive auch auf die Endlichkeit bezogen, das heißt auf die Toten hin ausgeweitet werden. Sie begegnen nicht bloß in einer Struktur namenloser Sterblichkeit, worin sie den Charakter der Begegnung schon eingebüßt hätten. Die biblische Erzählung bringt auch eine Zukunft für die Toten ins Wort. Der Tod verliert seinen Rang als letzter schlechthin unbezüglicher Angelpunkt184 ; auch er erfährt in der Erwartung der Parusie als Antwort auf Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu eine Verkehrung auf Zukunft hin – Vattimo zitiert in diesem Zusammenhang die paulinische Frage: Tod, wo ist dein Stachel?185 (1 Kor 15, 55) und hält sowohl das gänzliche Verlöschen des Einzelnen wie auch des Geistigen einer Kultur für unvernünftig, ja undenkbar.186 Wenn wir sagen, an die Stelle des Seins-zum-Tode tritt aus christlicher Sicht die Erwartung der Parusie als einer unableitbaren Zukunft, kann dies niemals eine Behauptung im Indikativ sein, sondern verweist unabdingbar auf eine Antwort, die wir im Treffen einer ethischen Option und in der Nachfolge zu geben haben und bleibt vom Scheitern bedroht. Diese Interpretation, die wir zu geben haben, ist nichts Akzidentelles, an ihr hängt die Wahrheit jener Aussage. Aber – in ihr ereignet sich auch deren produktive Bereicherung: »Wahr ist, dass die Verkündigung des Heils ein für allemal gegeben ist – bei den Propheten, bei Jesus –, aber wahr ist auch, dass ihr Sich-Ereignen der Interpretationen bedarf, die es empfangen, aktualisieren, bereichern.«187 Die Positivität des Heilsereignisses, in welchem die christliche Gottesrede (und in gewisser Weise auch die abendländische Kultur) ihre Herkunft hat, ist niemals bloß vergangenes Gut, sondern produktive Eröffnung auf Zukunft hin. 184 185 186 187
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, 263 f. Vgl. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 34. Vgl. Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 35 – 37. Vattimo, Jenseits des Christentums, 87.
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Vattimos kühner Versuch, hermeneutische Philosophie als koin¦ unserer Zeit mit ihrer biblischen Herkunft zu verbinden, hängt daran, dass biblische Botschaft selbst nicht in einem Mythos der Rückkehr in eine primordiale Geschlossenheit aufgeht und dass die Positivität des Heilsereignisses eine produktive Öffnung auf Zukunft freisetzen kann. Das Konzept Vattimos ist vom Vertrauen getragen, dass die biblische Erzählung in ihrer (religiösen und kulturellen) Präsenz und ihren Aktualisierungen diese Öffnung und diesen Zukunftsaspekt auch heute noch freisetzen kann. Sonst bliebe nur noch die äußerliche Bewahrung und Verwaltung eines historischen Geschehens.
Offenheit und »schwaches Denken« Der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann. (Mt 8, 20, Lk 9, 58)
Die immer neuen Anläufe, Spannweite und Bedeutungsgehalt der Hermeneutik zu klären (Hermeneutik als koin¦, Jenseits der Interpretation und Zeitalter der Interpretation) sind eine Konstante des Denkens Vattimos in den vergangenen drei Jahrzehnten. Zwei Felder tun sich darin auf: die »Betrachtung der Beziehung zwischen Hermeneutik und Moderne«188 und die Verwiesenheit von Hermeneutik und biblischer Erzählung aufeinander. Wenn Vattimo diese Beziehung als Herkunft der Hermeneutik von der biblischen Erzählung bestimmt und angibt, die Klärung der nihilistischen Berufung der Hermeneutik ende letztlich irgendwie bei der Theologie, muss das Missverständnis abgewehrt werden, es könne ungebrochene Figuren der Rückkehr in eine vormoderne Religiosität oder der Wiederaneignung eines (verlorenen) Ursprungs geben. Diese Ankunft bei der Theologie muss vielmehr, will sie nicht in die Rekonstruktion einer Mythologie religiöser Ursprünge zurückfallen, als eine Eröffnung eines neuen Nachdenkens, d. h. eines neuen Blickes, angesehen werden, wie Vattimo am Beginn von Die Spur der Spur schreibt.189 Als Eröffnung endet die biblische Erzählung mit dem Bild der gastfreundlichen Stadt und weist damit jeden unmittelbar (apokalyptisch) vom Ende in Bann gezogenen Blick zurück auf Geschichte in ihrer Offenheit. Weder Ursprung noch Ende können biblisch positiviert und in Verfügbarkeit gebracht werden. Die Herkunft der Hermeneutik von der biblischen Erzählung zu betonen, heißt demzufolge nicht, einer sich ins Endlose zu verlieren drohenden Kontinuität fortgesetzter Interpretationen die Sicherheit eines Anfangs und eines Ziels, mithin ein Fundament und eine letzte Aufgehobenheit zu geben. Stattdessen gilt es zu fragen, welchen Geschichtsblick die biblische Erzählung ausgeprägt hat und wie dieser in die hermeneutische Tradition weiterwirkt. Wir stellen diese Frage nicht vor einem voraussetzungslosen Hintergrund, sondern mit dem Interesse, Vattimos Versuch zu verstehen, einen wesensmä188 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 141; vgl. 141 – 158. 189 Vgl. Vattimo, Die Spur der Spur, 108.
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ßigen Zusammenhang von Hermeneutik als koin¦ und biblischer Erzählung zu denken, d. h. von jenen beiden Motiven, die Vattimo zufolge, unsere geschichtlich-geschickliche Situation prägen. Sie in ihrer Verwiesenheit aufeinander zu denken, bedeutet, dass wir keinen unmittelbaren, neutralen Blick auf die biblische Botschaft richten können, der nicht von unserer Zugehörigkeit zum Zeitalter der Interpretation geprägt wäre. Andererseits lässt sich dieses nicht ohne den Bezug auf seine Herkunft aus der biblischen Erzählung deuten. Die Konstitution unseres geschichtlichen Daseins, d. h. unser nicht zuletzt durch die biblische Botschaft geprägtes Gewordensein und unsere Zugehörigkeit zur Moderne, nicht verlassen zu können, hat jedoch nicht den Charakter eines Fatums – in jener Geschichte, die wir nicht verlassen können, ist eine emanzipatorische Perspektive zu akzentuieren, d. h. die nihilistische Berufung, die sich in ihr anzeigt, aufzunehmen. Wir stellen die Frage nach einer subversiven Tendenz, die sich in der biblischen Erzählung eröffnet. Zu dieser Interpretationslinie leitet uns die nihilistisch emanzipatorische Tendenz der Hermeneutik an, welche selbst nicht ewige Struktur des Seins, sondern Antwort auf die biblische Botschaft ist. Dieser Zirkel bedarf nun einer inhaltlichen Konkretisierung.
Schwachheit und Parusie Wo können die folgenden Überlegungen beginnen, wenn sie nach gemeinsamen Linien eines biblischen Geschichtsblicks und der Hermeneutik fragen wollen und sich mittlerweile immer deutlicher angezeigt hat, dass biblische Erzählung und Hermeneutik nicht mehr getrennt zu betrachten sind? Gibt es einen Einsatzpunkt, der uns von Anfang an beide Stränge im Blick behalten lässt? Vattimo weist darauf hin, dass eine Reflexion über die Religion heute beim Gedanken der Wiederkehr einsetzen müsse. Biblisch ist das Motiv der Wiederkehr schlechthin der Gedanke der Parusie. Sie ist eine Kategorie, die in die Mitte biblischer Tradition weist und auch für Heidegger, dessen Denken eine der wichtigsten Anregungen Vattimos zur Entwicklung einer hermeneutischen Ontologie ist, eine wesentliche Rolle spielt. Sie ist die zentrale Kategorie in den Vorlesungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens und taucht in den Holzwegen, im Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung wieder auf. Heidegger kommentiert in diesem Text die Einleitung zu Hegels Phänomenologie des Geistes, wobei die Kategorie der Parusie einen Schlüssel der Kommentierung darstellt, ohne dass dieser Terminus in Hegels Text selbst auftauchte. Welcher Blick auf Geschichte ist mit dem Gedanken der Parusie verbunden? Der christliche Vollzug des Daseins hat nichts mit einem Aufgehobensein zu tun, das Friede und Sicherheit böte. Un-sicherheit charakterisiert die christliche
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Existenz und ist nicht als bloß vorläufige immer schon überholt und in Sinnkonstrukte eingeborgen. Faktische Lebenserfahrung, die auf eine Nicht-Distanzierbarkeit verweist und sich mithin intellektuell nicht bewältigen lässt, geht in Sinnkonstrukten nicht auf: »Für das christliche Leben gibt es keine Sicherheit; die ständige Unsicherheit ist auch das Charakteristische für die Grundbedeutendheiten des faktischen Lebens. Das Unsichere ist nicht zufällig, sondern notwendig. […] Die, welche ›Friede und Sicherheit‹ sagen [1 Thess 5, 3], sind aufgefangen von dem, was das Leben bietet; sie sind im Dunkel, angesehen auf das Wissen um sich selbst.«190
Demgegenüber akzentuieren Heidegger und Vattimo in ihrer Paulusinterpretation die Bedrängnis (thlipsis) des Wartens auf die Parusie des Messias, der wie ein Dieb in der Nacht kommt, »wenn wir ihn am wenigsten erwarten«191. Paulus fragt nicht, ob das Kommen des Messias erkennbar sei oder nicht. Die Frage nach dessen Kriterien und seinem Wann? stellt sich für den christlichen Lebensvollzug nicht: »Über Zeit und Stunde brauche ich euch nicht zu schreiben. Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.« (1 Thess 5, 1 f) Welche Struktur hat jenes Wissen, an das Paulus die Thessalonicher erinnert, wo es doch keine Sicherheit darstellen kann? Es besteht in der Umwendung der identifizierenden Frage nach dem Wann? zum christlichen Lebensvollzug, der in der Wachsamkeit besteht: »Ihr aber lebt nicht im Finstern, sodass euch der Tag nicht wie ein Dieb in der Nacht überraschen kann … Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein.« (1 Thess 5, 4 – 8) Im Zentrum der Wachsamkeit steht die Parusie, die »nicht als ein ›objektiv‹ verkündigtes Faktum begriffen wird«, sei es ein Geschehen der Vergangenheit, ein »gegenwärtiges Datum einer mystischen Erfahrung«192 oder ein zukünftiges Faktum. Wachsamkeit ist Ausdruck der Armut, über keine letztgültige Sicherheit zu verfügen, zwischen dem Antichrist und dem wiederkehrenden Christus zu unterscheiden. Die Frage nach den Manifestationen des Antichrists in Abhebung von denen geistvoller Wiederkehr Christi lässt sich nicht theoretisch entscheiden, sondern stellt in die Not geschichtlicher Bewährung und Interpretation und bleibt damit auf Zukunft hin geöffnet. Was Zukunft eröffnet, wird Ausdruck des wiederkehrenden Christus gewesen sein. Was zukunftslose Sicherung des Bestandes ist und auf Verfügbarkeit und Positivierung zielt, wird Zeichen des Antichrists gewesen sein. Die Wachsamkeit zeigt sich nicht in den Versuchen, die Parusie zu ergreifen und ihrer habhaft zu werden, sondern in der Treue zur Wiederkunft Christi als einem Sich-Entziehen. Menschliche Existenz 190 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), 105; Vgl. Vattimo, Os m¦, 176. 191 Vattimo, Os m¦, 175. 192 Vattimo, Os m¦, 175.
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Offenheit und »schwaches Denken«
steht in der Not und Un-sicherheit, die keinen Halt kennt. Heidegger schreibt, man könne »den Begriff des ›Halts‹ … nicht auf die christliche Lebenserfahrung anwenden. Der Christ findet nicht in Gott seinen ›Halt‹ […]. Gott ist nie ein ›Halt‹.«193 Christliche Existenz meint das Erharren der Wiederkunft im Geist im Sinne einer nicht identifizierbaren Unverfügbarkeit. So kann Vattimo mit Heidegger sagen, dass es »um die christliche Pflicht geht, die Parusie zu erwarten, ohne den Messias gegen den Antichrist in seinen verschiedenen Formen einzutauschen – die allesamt rückführbar sind auf die Forderung, ersteren mit einem ›objektiven‹ und als Faktum zu einem bestimmbaren Moment der Zeit verortbaren geschichtlichen Ereignis zu identifizieren«194.
Von diesem Aushalten einer Un-sicherheit sprechen auch die Passagen der Evangelien, welche vor der Gefahr einer unkritischen Identifikation, zeitlichen Bestimmung, örtlichen Lokalisierung und inhaltlichen Fixierung eschatologischer und apokalyptischer Motive warnen: »Sie aber fragten ihn sagend: Lehrer, wann wird das denn sein und welches ist das Zeichen, wenn das geschehen soll? Er aber sagte: Seht, dass ihr nicht irregeführt werdet: denn viele werden kommen und in meinem Namen sagen: Ich bin es, und: der Augenblick ist nahegekommen. Geht ihnen nicht hinterher.« (Lk 21, 7 f)
Zwar sagen jene Irreführer nichts anderes als Jesus selbst, denn auch er verkündet die Nähe des kairos und dessen Bewährung in der Nachfolge. Diese Ankündigung bedeutet bei Jesus jedoch einen sich der Unsicherheit und Gefährdetheit der Geschichte aussetzenden Weg195 – jene zitierte Passage aus dem Lukasevangelium geht unmittelbar der letzten Zuspitzung der Ereignisse rund um Jesu Tod in Jerusalem voraus. Die Verkünder hingegen, vor denen Jesus warnt, bieten die Sicherheit einer Identitätsgebung, Identifizierung (Ich bin es) und maßen sich einen apokalyptischen Blick der Zusammenschau der Geschichte in einen erfüllten Augenblick an (der Augenblick ist nahegekommen). Wenn dem modernen Menschen unmittelbare Identifikationen religiöser Manifestation verdächtig geworden sind, spricht sich in dieser Entwicklung nicht allein die Glaubenslosigkeit der Moderne, sondern gleichfalls auch der Nachhall jenes Wissens um ein Sich-Entziehen aus, von dem Paulus zu den Thessalonichern spricht, das ebenso in den Evangelien und schon in der Tempelkritik der Propheten, dem Bilderverbot und der negativen Theologie des Alten Testamentes auftaucht und letztlich im subversiven Gottesgedächtnis des Exodus wurzelt. 193 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), 122. 194 Vattimo, Os m¦, 177. 195 Mk 1, 14 f.
Schwachheit und Parusie
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Vattimo stellt dem »antichristhaften«196, »objektivierenden«197 Denken unmittelbarer Identifikation religiöser Manifestationen, welches sich in einem Objekt (einem Was?) verliert, die thlipsis, die Not und »›Schwäche‹ der Existenz« gegenüber (mithin den Vollzug eines Wie?), die keine Identität mehr auszuprägen vermag und so gerade »die einzige authentische Weise ist, die Parusie zu erwarten«198. »Konstitutiv für das christliche Leben (oder auch … für die authentische Erfahrung der Zeitlichkeit) ist es, den Tag und die Stunde der Parusie nicht zu kennen (oder nicht den Anspruch zu erheben, sie zu kennen)«199, und damit in die radikale Offenheit der Dialektik aus ergangenem Heil und je neu sich eröffnender Not des Heute gestellt zu sein. »Es gibt kein ›Modell‹ des christlichen Lebens alternativ zu jenem, das die geschichtlichen und stets kontingenten Verpflichtungen jedem Gläubigen auferlegen«200. Die Existenz des Glaubenden ist nicht mittels »inhaltlicher« Unterschiede (Was?) gegenüber der des Nichtglaubenden zu definieren, sie bestimmt sich auch nicht durch ein »arkanes Wissen der Mysterien […], die den Nichtgläubigen verborgen wären«, sondern ist »radikal geschichtlich«201 – das heißt, sie ereignet sich im Vollzug des Glaubens (Wie?) und lässt sich nur mehr negativ angeben, wie dies der griechische Ausdruck »os m¦« (als ob nicht) aus dem ersten Korintherbrief (7, 29ff) nahe legt: Der kairos, so schreibt Paulus der Gemeinde von Korinth, ist versammelt, darum wissen die Glaubenden, und dies versetzt sie in einen anderen Vollzugszusammenhang zu den »Dingen«: Er/sie habe, tue und handle, als habe, tue und handle er/sie nicht. Was sich ändert, sind nicht die Objekte des Handelns, es wird auch nicht eine Identität des Subjekts durch eine andere ersetzt. Alles wird aus dem Kontext der weltlichen, vermeintlich natürlichen und unmittelbaren Sinnzusammenhänge in den Horizont des Geistes, der Wiederkunft in der Parusie, versetzt. Der Vollzugssinn des Glaubens (das Wie?), der allein das christliche Bekenntnis ausmache, weiß um die Dialektik aus ergangenem Heil und der stets uns aufgetragenen antwortenden Interpretation, und darin um eine fundamentale Offenheit, welche die angemaßte Letztheit sämtlicher Geltungsansprüche schwächt. Was mit dem Vollzugssinn als Signum christlichen Glaubens gemeint ist, vermögen die Seligpreisungen (Lk 6, 20 – 22) zu zeigen. Beurteilt nach ihren deskriptiven Inhalten (dem Was?) sind sie Zynismus und Verherrlichung eines nicht zu duldenden Leidens. Gelesen betreffend den Vollzugszusammenhang sehen sie gerade nicht die Sicherheiten und Absicherungen, die wir uns beständig geben, als 196 197 198 199 200 201
Vattimo, Os m¦, 179. Vattimo, Os m¦, 178. Vattimo, Os m¦, 179. Vattimo, Os m¦, 176. Vattimo, Os m¦, 181. Vattimo, Os m¦, 181.
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Offenheit und »schwaches Denken«
Ort und Ausdruck der Manifestation des Göttlichen, sondern Not und Schwäche des Heute werden zum Ort, die erlösende Offenbarung des lebendigen Gottes zu vernehmen. Sehr schön drückt Heidegger dies im letzten Abschnitt des Pauluskommentars aus: »Es besteht ein tiefer Gegensatz zwischen dem Mysten und dem Christen. Der Myste wird durch Manipulation aus dem Lebenszusammenhang herausgenommen; in einem entrückten Zustand wird Gott und das All gegenwärtig gehabt. Der Christ kennt keinen solchen ›Enthusiasmus‹, sondern er sagt: ›Lasst uns wach sein und nüchtern.‹ Hier zeigt sich ihm gerade die ungeheure Schwierigkeit des christlichen Lebens.«202
Das Christentum ist kein Versuch, Gott und das All gegenwärtig zu haben, d. h. ein Aufgehobensein und Aufgehen in einem als Sicherheitsnetz fungierenden sinnvollen Ganzen, sondern radikaler Vollzug einer Unsicherheit. Die Existenz ist als »Mangel und Drangsal charakterisiert, als beständige Verweigerung, sich für ›gesinnt‹ (soll heißen: sinnvoll*) zu halten, eben als in Erwartung der Parusie erduldete Schwachheit«203. Zweierlei scheint hierbei bedenkenswert: Zum einen stellt Vattimo die Frage, ob diese den Gedanken der Parusie ins Zentrum der Wachsamkeit stellende Konzeption des frühen Heidegger noch über jene des Sich-vorweg-Seins als Seins zum Tode aus Sein und Zeit hinausgeht, welche zwar jede Geschlossenheit und verfügbare Ganzheit des Daseins zurückweist, aber im entschlossenen Vorlaufen auf den Tod noch eine Form authentischer Eigentlichkeit sieht. Auf jeden Fall ist für Vattimo mit dem radikalen Konzept des Frühwerks Heideggers eine Interpretationslinie für Sein und Zeit und die folgenden Schriften abgewehrt, welche ein letztlich humanistisch-restauratives Ideal einer »authentischen Existenz«204 den Entfremdungen der Moderne, allem voran der wissenschaftlich-technischen Welt, gegenüberstellen möchte. Dieser reaktiven Tendenz, die sich im Werk Heideggers immer wieder latent findet, man denke nur an seine Kritik am Verlust der Bodenständigkeit und Heimat in Gelassenheit, möchte Vattimo vielmehr mit dem Vorschlag einer »linken« Heidegger-Lektüre entgegentreten, womit er sich klar von jedem Gedanken eines Rücksprungs in eine der Entfremdung enthobene Eigentlichkeit distanziert. Vielmehr gilt es, die eigene Geschichtlichkeit, das Eingelassen-Sein ins Heute zu übernehmen und die Schwäche zu leben, keine Sicherheitsnetze in irgendwelchen Sinn- und Geschichtskonzepten oder in einem Ideal primordialer Geborgenheit zu haben. Zum anderen erhebt sich die Frage, ob es die Wahrheit des Christentums ist, dass es »in gewissem Sinn keine Religion«205 mehr ist, sondern in der Offenba202 203 204 205
Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), 124. Vattimo, Os m¦, 180. Vattimo, Os m¦, 180. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 51.
Schwachheit und Parusie
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rung gewährte Ortlosigkeit, die sich jedes positivierbaren Fundamentes (wie es in der Onto-Theologie vorausgesetzt wird) und jeder Integration in eine sinnvolle Ganzheit (wie etwa in Entwürfen einer Teleologie der Geschichte) enthalten muss. Eine in dieser Ganzheit angezeigte Totalität, so könnten wir mit Hegel sagen, umfasst als Verkleidung der Wirklichkeit alle Wirklichkeit, lässt diese aber nicht freie Wirklichkeit, selbstständiges freies Dasein sein.206 Das Christentum ist »Religion« dieser Ortlosigkeit, gleichfalls aber steht es in der Not des beständigen Rückfalls in Manifestationen der Stärke, d. h. es bleibt vom Antichrist bedroht. Fundamentaler noch als die Repräsentation einer bestimmten Gestalt der Eigentlichkeit als Ideal ist je neu seine Verpflichtung auf eine Umkehr seines Bewusstseins. Darin ist es Vollzug schwachen Denkens. Es ist »Religion« der Schwäche, der Not und Unsicherheit, die eben in kein Modell authentischen, eigentlichen Lebensvollzugs mündet. Christentum als »Religion« der Parusie (der Wiederkehr) ist von einem konstruktiven Gestus als Erstellung von Sinn ebenso weit entfernt wie von einer apokalyptisch zersetzenden Weltverachtung. Beide Haltungen leben ein »als ob« – ersterer geht es um ein Handeln im Rahmen bestimmter (religiöser) Sinnstrukturen, als ob jede Handlung aufgehoben wäre in einem Sicherheitsnetz, welches eine lückenlose Rückbindung an eine arch¦, ein herrschendes System oder prospektiv an eine Utopie als Manifestation von Sinn gewährt – als ob jede Handlung nicht sich selbst vollzöge, sondern eine ausgelagerte (religiöse) Bedeutung hätte. Zweitere handelt, als ob jede Handlung bedeutungslos wäre angesichts einer alles umstürzenden Singularität. Erstere bringt Geschichte in den Zwang einer Genealogie oder Teleologie, zweitere führt vor den Abbruch von Geschichte. Christliche Existenz als Erfahrung des »als ob nicht« bleibt hingegen »völlig in die jeweiligen Inhalte [ihrer] geschichtlichen Lage«207 eingelassen und artikuliert darin eine Verantwortung und Treue. Gleichwohl wird jede Handlung von der Last, bestimmte Sinnzusammenhänge repräsentieren zu müssen und als deren Chiffre zu fungieren, erleichtert. Jene Sinnzusammenhänge, in denen all unsere Handlungen stehen und die sich immer neu manifestieren, werden angesichts der Erwartung der Parusie in ihrer angemaßten Letztgültigkeit geschwächt, nicht jedoch zerstört – »wer handelt, handle weiter, als ob nicht«. Sie werden nicht in einem Gestus apokalyptischer Destruktion über Bord geworfen, aber die ihnen latent innewohnende Gewalt wird zurückgenommen und ihre Eindeutigkeit einer Fraglichkeit ausgesetzt. Unsere Antworten werden nicht beliebig – sie stehen in jener kurzen, zusammengedrängten, apokalyptischen Zeit; sie werden aber vielleicht – von der Last der Repräsentation bestimmter
206 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 497 – 498. 207 Vattimo, Os m¦, 181.
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Offenheit und »schwaches Denken«
Sinnzusammenhänge und der Last der Eindeutigkeit erleichtert – ein wenig freier. Was aber bedeutet dies nun hinsichtlich der Frage nach dem Geschichtsblick? Offenbarung ist nicht zuletzt Offenbarung einer Erleichterung von jener Gewalt, wie sie Sinn- und Geschichtskonzepten latent innewohnt. Sie werden nicht in einem Akt apokalyptisch anmutender Destruktion zerstört, sondern vielmehr einem Prozess der Schwächung ausgesetzt und vermögen keine Garanten einer letzten Sicherheit mehr zu sein. Erzählt wird ihr Abschied. Dieses Motiv hat sich bereits im Versuch, Vattimos Umgang mit einem apokalyptischen Bewusstsein herauszuarbeiten, angedeutet. Trägt man der Zusammengehörigkeit von hermeneutischer Ontologie und biblischer Botschaft Rechnung, lässt es sich nun genauer verorten und in seiner Herkunft angeben. Nun gilt es in den beiden folgenden Abschnitten die Frage zu stellen, wie sich dieses Verständnis auf die »christliche Erzählung« selbst auswirkt. Welche Weise ihrer Erzählbarkeit sucht Vattimo zu entwickeln?
Offenheit und Freundschaft Wenn Offenbarung mit Schwächung und Unsicherheit in Verbindung gebracht wird, wie sich im Begriff der Parusie angezeigt hat, wie sieht dann das Verhältnis von Wahrheit und Offenbarung aus? Meint Wahrheit nicht gerade das Feste und Sichere, das Fundament, das jenseits kontingenter Interpretationen liegt? Lässt sich ein Offenbarungsverständnis, wie es sich hier anzudeuten beginnt, noch mit der Frage nach Wahrheit verbinden? Wenn nicht, droht dann aber nicht die Gefahr, dass sich die Verbindung von Hermeneutik und biblischer Tradition, welche diese Arbeit nicht mehr verlassen wollte, als ein Irrweg herausstellt? Die folgenden Überlegungen nehmen diesen Einspruch vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Hermeneutik und biblischer Offenbarung auf und fragen nach der Offenheit in einem hermeneutischen Wahrheitsverständnis (1), nach dessen Zusammenhang mit den biblischen Motiven caritas und Freundschaft (2) und schließlich nach dem Wahrheitsverständnis im Zusammenhang von Heilsgeschichte und Geschichte der Interpretation (3). 1) Der Ansicht, »die Hermeneutik sei eine relativistische, antiintellektualistische, irrationalistische, bestenfalls noch traditionalistische philosophische Position«208 entgegenzutreten, ist Absicht von Vattimos Aufsatz Die Wahrheit der Hermeneutik, der sich ebenfalls im Sammelband Jenseits der Interpretation findet. Im letzten Satz des Textes wird deutlich, dass es sich dabei um eine 208 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 111; vgl. zu Vattimos Wahrheitsverständnis und dessen Beziehung zur Theologie: Irrgang, Wahrheit und Begründung.
Offenheit und Freundschaft
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relecture von Heideggers Vortrag Vom Wesen der Wahrheit handelt, den Vattimo als Explikation des Satzes: »Das Wesen der Wahrheit ist Freiheit«209 ansieht. Freiheit meint hier für Heidegger das »Freisein zum Offenbaren eines Offenen«210. Das Dasein ist in seiner Ek-sistenz eingelassen in ein Geschehen der Entbergung, ist der Offenheit einer Lichtung von Seiendem ausgesetzt. Darin ist ihm Welt erschlossen, begegnen ihm die Dinge und Zusammenhänge der Welt. Vattimo nimmt den Gedanken von Wahrheit als Erschlossenheit von Welt auf und deutet sie als »Geschehen der geschichtlich-sprachlichen Öffnungen«211 und als »interpretative Zugehörigkeit«, was in der »Metapher des Wohnens« zum Ausdruck komme.212 Wir bewohnen einen nie abzuschließenden Verweisungszusammenhang, dem wir angehören und der nicht durch den Rückbezug auf eine arch¦, sondern durch die »vielfältigen Stimmen der Über-lieferung* zustande kommt, welche in der Sprache erklingen«213. Diese Vielfalt der Stimmen lässt sich nicht mehr zurückführen auf einen ihnen vorgängigen Ursprung im Gedanken der Einheit eines Prinzips, sondern ist als »Herkunft« und »Ruf eines Ge-schicks*«214 zu fassen, in welches wir gestellt sind. Unsere »Zeitlichkeit und Sterblichkeit«215 erlaubt es nicht, einen außergeschichtlichen Standpunkt, der unserer Geworfenheit in jene Überlieferung enthoben sei und ein erstes Prinzip oder eine umfassende Perspektive zu fassen gewährte, zu usurpieren. Der Aufgang der Entbergung von Seiendem als Sich-Ereignen von Wahrheit ist mithin nicht als ein (unerkennbares) erstes Moment hinter all den sprachlichen Äußerungen, die uns erreichen, zu sehen, sondern gibt sich nur in diesen. Er gibt sich gleichwohl, indem er sich in diesem Geben entzieht: Er ist nicht das festgehaltene Netz des Verweisungszusammenhangs in seiner umfassenden Relationalität, sondern dessen Offenheit, die erst ermöglicht, sich darin in Freiheit zu bewegen. Dieser Gedanke hat auflösenden und entgründenden Charakter, weil Herkunft nicht Zurückführung auf einen letzten Grund bedeutet. Gleichwohl gibt uns die geschichtlich konkrete Überlieferung, die uns erreicht und die wir nicht verlassen können, nicht der Beliebigkeit preis. Für ein Verständnis der Metapher des Wohnens in jener Überlieferung bedeutet jene Entsicherung, dass sie niemals als umfassende Beheimatung darin verstanden werden darf. Sie ruft zu einer Suche auf, natürliche Evidenzen und sich einstellende Gewissheiten, die wir als Wahrheit ansehen, auf ihre geschichtliche Kontingenz und die sie er209 210 211 212 213 214 215
Heidegger, Wegmarken, 192. Heidegger, Wegmarken, 186. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 34. Vgl. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 117 – 122. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 132. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 134 f. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 134.
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möglichende Erschlossenheit von Welt zu befragen, was bedeutet, dass dem hermeneutischen Wahrheitsverständnis eine kritische Funktion zukommt. Die Frage nach der historisch-kulturellen Erschlossenheit führt vor ein »Wahrheitsproblem«, ohne dessen Artikulation die jeweilige Erschlossenheit zum Letzthorizont und einer unhinterfragbaren Struktur unseres Daseins verklärt würde.216 In Bezug auf andere Wahrheitskonzepte könnte man anmerken, ein hermeneutisches Wahrheitsverständnis legt den Akzent nicht darauf, »die (objektiven, metaphysischen) Strukturen des Daseins«217 besser als sie zu verstehen, sondern die Frage zu stellen, aus welcher Erschlossenheit von Welt diese Konzepte selbst sprechen. Für Vattimo hat dieses hermeneutische Verständnis von Wahrheit selbst einen geschichtlichen Ort, von dem es nicht gelöst werden kann, nämlich die postmoderne Erfahrung des Entschwindens eines letzten Grundes und einer umfassenden Begründung. Das hermeneutische Wahrheitsverständnis bedeutet eine Antwort darauf und hat darin seinen inneren Leitfaden. In der nihilistischen Tendenz (oder auch Berufung) zur Schwächung, d. h. der Minderung der Gewalt, der Überwindung von Grenzen, des Abbaus von Machtstrukturen etc. hat es seine Richtung, wohingegen es keine äußerlichen (absoluten) Maßstäbe der Beurteilung mehr geben kann. Wenn dieses hermeneutische Wahrheitsverständnis aber nicht selbst der Ungeschichtlichkeit verfallen möchte, muss es den Weg der Reflexion auf die Eröffnung von Welt, wie sie uns heute erreicht, aufnehmen und sich in deren Artikulation zum Ausdruck bringen. Das bedeutet für Vattimo zunächst, es als »korrespondierend zu einer historischen Situation« zu erkennen, »die ganz wesentlich durch die experimentellen Naturwissenschaften bestimmt ist«218. Plausibilität in der Welterschließung haben in unserer Zeit vorrangig die Naturwissenschaften, auch wenn sich ihre Ergebnisse vielfach jeglicher Vorstellbarkeit entziehen. Wenn Vattimo Wissenschaft und Technik als vorrangiges Kennzeichen der Art und Weise, wie sich uns heute Welt eröffnet, ansieht, bezieht er sich dabei immer auch auf Heideggers Aufsatz Zeit des Weltbildes219. In diesem Feld muss Hermeneutik sich halten, die nihilistische Berufung der Schwächung (als innerer Leitfaden) würde unterlaufen, wenn Hermeneutik noch einem Ideal humanistischer Überlegenheit über die wesentlich von Wissenschaft und Technik geprägte Kondition postmoderner Welt anhängt. Wissenschaft und Technik spielten darin keine konstitutive Rolle, Hermeneutik wäre nicht Philosophie des Zeitalters des Nihilismus, sondern selbst eine ungeschichtliche Theorie der Interpretation, gleichsam nach dem 216 217 218 219
Vattimo, Jenseits der Interpretation, 124. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 44. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 42 f. Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege.
Offenheit und Freundschaft
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Motto, alles sei Interpretation, alles habe eine geschichtliche Herkunft. Damit aber wäre sie ihrer kritischen Bedeutung entleert. Vattimo begreift Wissenschaft und Technik als Vollendung und damit auch Krise eines metaphysischen Denkens als eines geschlossenen Netzes aufeinander bezogener Ursachen und Wirkungen, oder allgemeiner noch als eines geschlossenen Verweisungszusammenhanges, der alle Welt integriert. Dieser zeigt sich als »Bild« einer tendenziell vollständigen Verfügung, die auf das Subjekt selbst zurückschlägt.220 Wie hängt nun aber die Rolle von Wissenschaft und Technik als leitenden Auslegungen unseres Daseins und allen Seins mit der Wahrheitsfrage näher zusammen? Vattimo gibt an dieser Stelle eine interessante Deutung der Weise, wie uns heute Welt erschlossen ist. Es gälte zu bedenken, dass die modernen Wissenschaften eine Welt der Fakten umwandeln in eine Welt, in der es nur mehr Interpretationen gibt, weil die Ergebnisse der Forschung keine unmittelbare Anschaulichkeit mehr bieten und dass es unentscheidbar geworden ist, ob die Technik menschlichen Bedürfnissen entspricht oder diese den möglichen Artikulationen der Technik: »Die Wissenschaft spricht von Objekten, die immer weniger mit denen der Alltagserfahrung in Beziehung gesetzt werden können, weshalb ich nicht recht weiß, was ich ›Wirklichkeit‹ nennen soll – das, was ich sehe und fühle, oder das, was ich in den Büchern über Physik und Astrophysik beschrieben finde; die Technik und die Warenproduktion formen meine Welt immer mehr als eine künstliche Welt, in der auch die ›natürlichen‹, die wesentlichen Bedürfnisse sich nicht von den durch die Werbung ausgelösten und manipulierten Bedürfnissen unterscheiden, so dass ich auch hier kein Kriterium zur Unterscheidung des Wirklichen vom ›Erfundenen‹ mehr habe; auch die Geschichte hat nach dem Ende des Kolonialismus und nach der Auflösung der eurozentrischen Vorurteile keinen einheitlichen Sinn mehr, sie ist in eine Vielzahl von Geschichten zerfallen, die kein einheitlicher roter Faden mehr zusammenhält.«221
Jedes gleichsam natürliche Auffassen des Realen löst sich auf gegenüber einem »Wahren«, das keine Möglichkeit der unmittelbaren Aneignung zu bieten scheint. Diese Erfahrung der Entgründung und Fiktionalität, welche mit Wissenschaft und Technik als radikal interpretativer Welterschließung einhergeht, gilt es aufzunehmen, im Zusammenhang mit der Geschichte der Metaphysik zu bedenken und auf Möglichkeiten der Emanzipation hin zu befragen. 2) Vattimo sieht, wie die Postmoderne mit einer Auflösung bisher gültiger Fundamente einhergeht, und wie sich besonders durch die Wissenschaften und die Technik eine Auflösung des Realitätsprinzips zuträgt. Der dabei drohenden Tendenz eines zernichtenden Nihilismus oder dem nach dem Verlust einer 220 Vgl. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 45 f. 221 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 23; vgl. auch ders., Jenseits der Interpretation, 47 f, 135 f.
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einheitlichen Perspektive auftretenden Kampf vieler Bilder der Welt lasse sich kein Insistieren auf Wahrheiten entgegenstellen.222 Vielmehr gälte es, den von Heidegger explizierten Zusammenhang von Wahrheit als Entbergung, Offenheit als Lichtung eines Horizontes und Freiheit als Ausgesetztheit des Daseins in jene Eröffnung festzuhalten. Mit diesem heideggerschen Verständnis, das stark am griechischen physis-Gedanken (und an Hegels Darstellung der Kunstreligion in der Phänomenologie des Geistes) orientiert ist, aktualisiert Vattimo ein tradiertes Konzept abendländischen Denkens für unsere heutige geschichtliche Situation. Darüber hinaus entdeckt Vattimo jedoch auch, wie Klaus Müller betont, eine »fundamentale Schicht des Spirituellen im Begriff der Virtualität«223 und akzentuiert – in der Frage nach einem hermeneutischen Wahrheitsverständnis vor dem Hintergrund der Virtualisierung – die Motive der Freundschaft und der caritas, indem er explizit auf die biblische Tradition verweist. Vattimo geht damit in dieser Frage auch in die zweite große abendländische Tradition zurück. Indem Vattimo sich in der Spannung dieser beiden Konzepte hält, nimmt er dieselbe Struktur auf, die Heidegger selbst in der kunstvollen Anlage der Aufsatzsammlung Holzwege vorgebildet hat: Der für Vattimos Bezug auf Wissenschaft und Technik so wichtige Aufsatz Die Zeit des Weltbildes wird dort eingerahmt von zwei Texten, die jeweils ein Offenbarungsverständnis, eine Weise des Sich-Zeigens von Wahrheit zur Darstellung bringen. Der Ursprung des Kunstwerkes bringt das griechische Konzept der Lichtung und geht dem Aufsatz Die Zeit des Weltbildes voraus, Hegels Begriff der Erfahrung bezieht sich auf den christlichen Begriff der Offenbarung des Absoluten in der Parusie und folgt jenem Aufsatz nach. Der Ausgangspunkt, die biblische Tradition an dieser Stelle aufzunehmen, ist erneut das Motiv der Auflösung des Realitätsprinzips, wie der Aufsatz zu Religion und Hermeneutik in Jenseits der Interpretation zeigt. Vattimo insistiert darauf, dass die Religion das »Prinzip« der Nächstenliebe in den Mittelpunkt rückt. Dies bedeutet für ihn nicht nur, eine (reaktive) Antwort auf die Tendenzen der Auflösung zu finden (die Liebe ist fähig, deren Folgen einzudämmen), sondern auch einen Akt der konkreten Übernahme der Auflösung und sogar deren Radikalisierung. Liebe meint ja gerade ein Sich-Aussetzen, das sich nicht mehr auf Fundamente verlassen kann und diesen Verlust ohne Nostalgie annimmt. Klaus Müller spricht von einer »Radikalisierung der Hermeneutik« durch die Aufnahme des Prinzips der Liebe und explizit deren logische Struktur genau in diesem auflösenden Sinn, dass sie etwas Letztes sei, »das seinem Wesen gemäß sozusagen nicht-letzt ist«224. Das Letzte erweist sich, etwas Nicht-Letztes 222 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 46 – 48. 223 Müller, Glauben – Fragen – Denken, Bd. 2, 224; vgl. 224 – 227. 224 Müller, Glauben – Fragen – Denken, Bd.1, 157; vgl. 157 f.
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zu sein, hinter dem es aber kein Letzteres mehr geben kann. Das Wiederfinden der Religion in diesem Zusammenhang ist für Vattimo nicht ein Versuch, aus der Moderne auszusteigen, sondern eine »andere, vielleicht radikalere Art, der eigenen Geschichtlichkeit, der Zugehörigkeit zur Moderne zu begegnen«225. Doch wie den Begriff der Liebe in den Diskurs um Wahrheit einführen, ohne in eine bloße Sentimentalität zu fallen? Wir sind »Erben und also Verwandte, Kinder, Geschwister und Freunde all derer, von denen uns Rufe erreichen, denen wir ent-sprechen wollen. Das Denken, das sich nicht mehr als Anerkennung und Annahme eines endgültigen, objektiven Fundaments begreift, wird einen neuen Verantwortungssinn entwickeln, eine Bereitschaft und buchstäblich eine Fähigkeit, den anderen zu antworten, denen es sich, da ihm keine ewige Seinsstruktur zugrunde liegt, durch seine ›Herkunft‹ verbunden weiß. […] Wahrscheinlicher ist, dass wir […] nur ein Wort wiederfinden, das zur nihilistischen Tradition selbst gehört, ein Wort, das innerhalb dieser Tradition mit Autorität ausgesprochen wurde und das vielleicht das entscheidendste unter den Wörtern ist, die sich die Philosophie eben aus Treue zur eigenen Herkunft wieder zu eigen machen müsste.«226
Zwei Motive jenes Zitates sollen hervorgehoben werden. Vattimo nimmt am Beginn verschiedene verwandtschaftliche Beziehungen in den Blick, deutet sie aber nicht mehr biologisch-genealogisch, sondern als sprachlich verstandenen Zusammenhang: Uns erreichen Rufe, denen wir ent-sprechen wollen. Dieser Blickwechsel ist bereits der Auflösung sämtlicher Weisen der Fundamentierung, als deren vielleicht älteste die Verortung in genealogischen Zusammenhängen angesehen werden kann, geschuldet. Tatsächlich vollzieht sich in der Bibel von Anfang an eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Genealogie, was bereits in der Erzählung von Kain und Abel sichtbar wird. Die Bibel erzählt nicht die Genealogie Kains weiter (Gen 4, 17 – 24), die sie lediglich in acht Verse andeutet, zumal sie sich als Erfolgsgeschichte ohnehin von selbst fortschreibt, sondern die Treue zur abgebrochenen Genealogie Abels, der gewissermaßen das restliche Buch gilt, bedenkt man den hermeneutischen Schlüssel, den schon die Gestalt Sets (Gen 4, 25 f) darstellt und den der Evangelist Lukas (Lk 3, 23 – 38) aufnimmt. Werden Genealogien geschildert (wie in Mt 1,1 – 17, d. h. am Beginn des Neuen Testaments), so scheinbar gerade deshalb, um ihre Lückenhaftigkeit und Gebrochenheit zur Darstellung zu bringen. Als fundamentaler erweist sich der sprachliche Zusammenhang, der sich in einem Wechselspiel von Frage und Antwort, Ruf und Entsprechung zum Ausdruck bringt. Dabei handelt es sich aber um einen höchst fragilen Zusammenhalt, der ob seiner Ausgesetztheit zu einem ganz neuen Verantwortungssinn aufruft. Dies verlangt nach der Kulti225 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 67. 226 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 66.
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vierung einer neuen Bereitschaft, den anderen zu antworten. Dieses Verständnis ist wohl nicht zuletzt an Hölderlins Wort »seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander« (Friedensfeier V 439) gebildet, welches zum Ausdruck bringt, dass es keine Subjektivität vorgängig zum Gespräch als AngesprochenWerden und Antwort-Geben gibt. Jenes Wort, von dessen Wiederfinden Vattimo spricht, so der zweite Aspekt, ist die Liebe (caritas), welche von Christus in der »nihilistischen Tradition« der Auflösung letzter Fundierungen mit Autorität ausgesprochen wurde. Die christliche Erzählung wäre dann die gewagte Interpretation, in die zersetzenden Prozesse der Auflösung die Liebe als Movens einzuschreiben und jene Prozesse damit selbst zu wandeln. Jeder nihilistischen Tendenz wäre damit auch eine innere, d. h. nicht von außen diktierte Grenze gesetzt.227 Niemals im Urteil (»Liebe ist …«) auszusprechen, muss jenes Wort der Liebe als Movens und Grenze der nihilistischen Tendenz zum Aufruf einer neuen Form von Menschlichkeit werden. Das Christentum könne, wie sich über den Begriff der Liebe anzeigt, als die bis »zur Auflösung gehende fortschreitende Aufzehrung der Gültigkeit des berühmten Mottos amicus Plato sed magis amica veritas«228 gelesen werden, welches Wahrheit über Freundschaft stellt und in einer von dieser unabhängigen Objektivität betrachtet. Mit dem Tod Christi als des inkarnierten göttlichen Logos sei die Auflösung jeglicher objektiver Fundamentierung von Wahrheit in einer arche oder einem telos angezeigt. Nietzsches Wort vom Tod Gottes und Heideggers Rede vom Ende der Metaphysik stehen Vattimo zufolge in dieser Tradition. Vattimo bezieht sich auch auf den paulinischen Satz »Tod, wo ist dein Stachel?« (1 Kor 15, 55), um eine »extreme Leugnung des ›Wirklichkeitsprinzips‹«229 im Christentum zum Ausdruck zu bringen. Er sieht es als bedeutenden (»schönen«) Gedanken des Christentums an, »die ganze Macht des ›Wahren‹ ein wenig entleert zu haben«230, um gleich darauf Bonhoeffers bekanntes Wort: »Einen Gott, den ›es gibt‹, gibt es nicht«, zu zitieren. Dieser Gott, den es nicht gibt, ist nicht mehr letztes Prinzip, sondern verweist in seinem Tod auf den Abschied von jeglichem letzten unerschütterlichen Fundament. Wahrheit lässt sich nicht mehr in direkten Fundamentierungen (re)präsentieren, sondern verweist fortan christlich auf eine Bewegung substantieller Entäußerung. Ihr könne nur in Freundschaft, d. h. der Zuwendung einer gesteigerten Treue, die keinen letzten Rückhalt hat, entsprochen werden. Der innere Leitfaden der nihilistischen Tendenz, und d. h. ihre Berufung kann nun genauerhin qualifiziert 227 228 229 230
Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 65 – 69. Vattimo, Jenseits des Christentums, 142. Vattimo, Wirklichkeit, wo ist deine Wahrheit? Art. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 53.
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werden als Bewegung einer Entäußerung, der schon die Entäußerung des göttlichen Logos vorausliegt, womit sich Vattimo als Erbe des hegelschen Religionsverständnisses erweist, wie es in der Phänomenologie des Geistes entfaltet ist. Wenn es entgegen dem Vorwurf eines Relativismus auch unter spätmodernen Bedingungen möglich sein muss, »von Wahrheit zu sprechen«, bleibt diese Rede an »caritas«231 und Freundschaft gebunden. Diese werden aber nicht ihrerseits zu neuen ungeschichtlichen Prinzipien, sondern vermögen ihre Bedeutung in der Frage nach der Wahrheit erst im Rahmen der Auflösung der Metaphysik zu entfalten, die nicht konstatiert werden kann, sondern deren Geschichte (je neu) rekonstruiert und erzählt werden muss, wobei Vattimo dieses Vorhaben bei Nietzsche und Heidegger am deutlichsten ausgedrückt findet. Nietzsches Darstellung Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde und Heideggers seynsgeschichtliches Denken sind nicht Philosophiegeschichte, sondern geschichtsphilosophische Rekonstruktion jener Entleerung, die Vattimo in Kontinuität zum christlichen Ereignis sieht.232 Um ihrem antimetaphysischen Impuls treu zu bleiben, müsse die Hermeneutik als koin¦ (die eben keine Theorie der allgemeinen Geschichtlichkeit und konstitutiven Endlichkeit des Daseins darstellt, sondern Entsprechung zur geschichtlichen Situation der Postmoderne ist) über ihren Zusammenhang mit der modernen Wissenschaft und Technik hinaus und über Nietzsches und Heideggers Darstellung der Geschichte der Auflösung der Metaphysik hinaus ihre eigene Geschichtlichkeit und das heißt ihre Zugehörigkeit zur religiösen Tradition anerkennen.233 Vattimo spricht davon, dass »die Hermeneutik ihre authentische Bedeutung einer nihilistischen Ontologie nur wiederfinden kann, wenn sie den wesenhaften, herkunftsbedingten Zusammenhang wiederherstellt, der sie mit der für das Abendland konstitutiven jüdisch-christlichen Religionstradition verbindet. Noch einmal anders gesagt: Die moderne philosophische Hermeneutik entsteht in Europa nicht nur, weil es hier eine Buchreligion gibt, die die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Interpretation lenkt, sondern weil dieser Religion die Vorstellung von der Fleischwerdung Gottes zugrunde liegt, die sie als kenosis fasst, als Erniedrigung und, wie wir übersetzen würden, Schwächung.«234
Neben der caritas, der Freundschaft, dem Tod und der Auferstehung Christi nennt Vattimo schließlich auch die Inkarnation als auflösendes Moment im Rahmen der christlichen Erzählung. Der christliche Vollzug ist aufgrund des Gedankens der Inkarnation als kenosis ganz in die Not der Geschichte gestellt und kennt keine vollständige Beheimatung in Sinnkonzepten und Teleologien. 231 232 233 234
Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 50. Vgl. Vattimo, Jenseits des Christentums, 152 f. Vgl. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 43 f, 77. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 75.
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Die religiöse Überlieferung ist ein Erbe, in das wir eingelassen sind, welches aber gerade keine Geschlossenheit ausbildet und somit eine vollkommene »Integration in eine Ganzheit«235 abwehrt. Es handelt sich um eine Tradition der Schwächung, und als diese ist sie jene geschichtliche Herkunft, die in ihrer nihilistischen Tendenz die Hermeneutik als schwaches Denken ermöglicht. Wahrheit als Erschlossenheit und damit Zugehörigkeit zu Überlieferungen, nicht jedoch primär als Überseinstimmung mit einer objektiven Realität, einer übersinnlichen Welt der Ideen oder ewigen Fundamenten zu denken, bleibe eingelassen in die Erzählung von der Inkarnation als kenosis, der Geschichte Jesu, der Kreuzigung, der Auferstehung, der »Ankunft des Heiligen Geistes und der Interpretation der Offenbarung durch die Gemeinschaft der Gläubigen«236. Heilsgeschichte und Geschichte der Interpretation sind ineinander verwoben. Ihr Zusammenhang hinsichtlich des Wahrheitsverständnisses ist im Folgenden kurz zu betrachten. 3) Die Offenbarung der Heilsgeschichte imaginiert nicht den Gedanken eines unveränderlichen Plans oder fixierbaren Depositums. Vattimos »Vorwurf des objektivistisch-metaphysischen Missverständnisses der Offenbarung trifft«, wie auch Emmanuel Bauer konstatiert, »einen neuralgischen Punkt«. Heilsgeschichte ist nicht unveränderliches Depositum, an welches äußerlich eine Hermeneutik herangetragen werde, sondern ist aus sich selbst heraus als auf Zukunft und Interpretation geöffnet anzusehen: »Die Heilsgeschichte ist nicht allein eine Geschichte derjenigen, welche die Botschaft empfangen, sie ist auch und vor allem Geschichte der Botschaft, für welche die Rezeption ein konstitutives und nicht nur akzidentelles Moment darstellt.«237 Vattimo wendet sich damit gegen ein Verständnis, welches voraussetzt, »dass es eine Geschichte der Wahrheit gäbe …, die für ihren ›Inhalt‹ nicht so wesentlich ist«238, zumal dieser unberührt von der Geschichte, die nur unsere Geschichte seiner Entdeckung ist, und außerhalb ihrer ewig und unbewegt als Depositum feststünde. Dem tritt er im Aufsatz Storia della salvezza, storia dell’interpretazione (1992) entgegen, wo er ausführt, dass jener Genitiv, der im Titel die Termini Geschichte und Heil sowie Geschichte und Interpretation verbindet, nicht allein in subjektivem Sinn verstanden werden dürfe, wonach Interpretation lediglich für die Leser der Schrift, deren Sinn »ein- für allemal gegeben ist«239, Bedeutung habe. Diese Positivierung einer Wahrheit, der man sich schrittweise annähern könne oder aber deren apokalyptisch ereignishaften Einbruch man zu registrieren gezwungen sei, schneidet die Heilsbotschaft von der Dimension der Geschichte 235 236 237 238 239
Vattimo, Jenseits der Interpretation, 63. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 77 f. Vattimo, Jenseits des Christentums, 42. Vattimo, Die Spur der Spur, 107. Vattimo, Abschied, 157.
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und damit auch der Offenheit, Freiheit, Zukünftigkeit und produktiven Interpretation ab. Konstitutiv für das Christentum sei jedoch eine Lesart des Genetivs als Genetivus subjektivus und objektivus, die anzeigt, dass das Heil eine Geschichte hat, »die kein bloß zufälliges Geschehnis ist, das [seinen] Kern unberührt lässt, sondern ihn in seinem Innersten berührt …: Das Heil gestaltet, ereignet und bildet sich in seiner Geschichte«240, wodurch Geschichte in unabdingbarer Bedeutung in die religiöse Rede einrückt. Vattimos Anliegen der Überwindung eines schlechten Platonismus, welcher dem unsteten und letztlich unwesentlichen Spiel der Interpretationen ein beständiges Fundament gegenüberstellt, trifft sich mit dem Votum der Neuen Politischen Theologie (Metz, Reikerstorfer), das Gottesgedächtnis nicht von seiner Ausgesetztheit in die Geschichte zu trennen: »Jüdisch-christlicher Glaube exponiert sich in die Geschichte hinein. Sein Gottesgedächtnis ist in dieser Ausgesetztheit selbst ein geschichtliches Gedächtnis, das in der Verantwortung für Andere seinen Preis verlangt. Theologisch jedenfalls ist dieser Religion ein Rückzug aus der Geschichte, aus dem Bereich des Nicht-Identischen, also des welthaften Ringens und Lernens für ihr eigenes Gottesverständnis verwehrt.«241
Es kann keinen der geschichtlichen Bewährung enthobenen Wahrheitsanspruch (mehr) geben. »Der Gotteszeuge Jesus Christus hat«, wie Reikerstorfer ausführt, »in die Geschichte eine ›Spur‹ gezogen, die es fortan nicht mehr erlaubt, Heilswahrheit und Geschichte voneinander zu trennen und das Heil in einer ungeschichtlichen ›Heilsmetaphysik‹ zu tradieren«242. Wird Wahrheit bloß als »Gehorsam gegenüber dem ›Offenbarungsgut‹« losgelöst von der Suche nach Gerechtigkeit (»Weg«) und geschichtlicher Bewährung (»Leben«) gedacht, verfällt sie nicht nur neuzeitlicher Ideologiekritik, sondern unterläuft vielmehr auch den »Weltgehalt«, die Verpflichtetheit auf den Anderen und die Treue zur Erde, wie sie biblischer Verheißung unaufgebbar eingeschrieben sind. Reikerstorfer formuliert weiter : »Der ›Wahrheit‹ – und speziell der Offenbarungswahrheit – kann nur standgehalten werden, wenn auch ihre Veränderungskraft gesucht und angenommen wird«243, was auf das Wagnis einer Antwort, zu der wir herausgerufen sind, hinweist. Erlösende Offenbarung Gottes und antwortende Interpretation müssen als sich dem Menschen je neu eröffnende Zukunft aufeinander bezogen werden, ohne eine der beiden Seiten und somit beide zu nivellieren. Es ist innerstes Moment christlichen Glaubens, dass sich »die Wahrheit des Christentums« – wie wir mit Vattimo weiterführen können – nur 240 Vattimo, Abschied, 158. 241 Reikerstorfer, Jüdisch-christliches Erbe in vernunfttheoretischer Bedeutung bei J. Habermas und J. B. Metz, 34. 242 Reikerstorfer, Zum Orthodoxieproblem von Dominus Iesus, 105. 243 Reikerstorfer, Zum Orthodoxieproblem von Dominus Iesus, 109.
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»durch die sich im Dialog mit der Geschichte ereignenden ›Beglaubigungen‹« einstellt und gerade dabei in der Dimension und »unter dem Beistand des Heiligen Geistes«244 steht. In der Verbindung von Wahrheit und Geschichte kommt ein geistiges Moment zum Ausdruck, welches jegliche unmittelbare Berufung auf Wahrheit in die Spannung geschichtlicher Wahrheitssuche versetzt: »In der Geschichte ereignet und zeigt sich Wahrheit doch wohl nur so, dass die Spannung von geschichtlicher Wahrheitssuche und Wahrheit selber auch zu einem Indiz des Wahrheitsanspruchs werden muss. Es kann nicht darum gehen, einfach undialektisch in ein Wahrheitsverständnis auszuweichen, das die für die Geschichte konstitutionelle Spannung im Wahrheitsverständnis […] eliminiert.«245
Die christliche Botschaft ist für Vattimo das Aufbrechen der Entgegensetzung von Wahrheit als unveränderlichem Sein und Geschichte als dem veränderlichen Nicht-Sein. Geschichte soll davor bewahrt werden, zum bloß beiherspielenden Moment herabzusinken, Wahrheit soll vor ihrer Vergegenständlichung bewahrt werden. Wenn sie in ihrer Veränderungskraft in der Zeit erfragt werden muss und in die Spannung ihrer geschichtlichen Suche drängt, wird sie in ihrer Unverfügbarkeit zum Verweis auf Zukunft, Offenheit und Interpretation. Die Rede von der Wahrheit führt dann aus den sich beständig manifestierenden Beheimatungen, aus dem Schwergewicht sich fixierender Sinn- und Geschichtskonstruktionen vor sich im Dialog mit der jeweiligen Epoche ereignende Beglaubigungen und Begegnungen. Eine hermeneutische Perspektive versucht Wahrheit als Zugehörigkeit und Erschlossenheit zu verstehen; die Verbindung mit der biblischen Tradition vermag darin die Momente der caritas und der Freundschaft, der Zukunft und der Offenheit, der Veränderung und Begegnung zu akzentuieren.
Echo und Schwächung 1) In der Gestalt des Übermenschen und dem Begriff des Ereignisses, im Verständnis des Seins und der Wahrheit, im Gedanken der Offenbarung und der Heilsgeschichte, d. h. an entscheidenden Begriffen der Tradition wie der zeitgenössischen Reflexion, und zwar philosophischer wie theologischer Provenienz, zeigte sich in den bisherigen Überlegungen eine Tendenz der Schwächung an. Mit dieser Beobachtung ist ein entscheidender Punkt im Denken Vattimos erreicht. Das Konzept des schwachen Denkens (pensiero debole) wurde von 244 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 61 f. 245 Reikerstorfer, Zum Orthodoxieproblem von Dominus Iesus, 109.
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Vattimo als Antwort auf die Frage, was Denken nach Nietzsche und Heidegger, d. h. in der Zeit des Nihilismus, bedeuten kann, in die Diskussion eingebracht. Doch wie die Originalität eines Denkens zu Gehör bringen, das sich selbst als »eines authentischen, eigenen Entwurfs«246 entbehrend bezeichnet? Vattimo verweist in der Charakterisierung des schwachen Denkens (entgegen einer Emphase der Originalität) immer wieder auf eine Struktur der Wiederholung bzw. Wiederkehr : Das schwache Denken versteht sich ganz aus der Kontinuität einer Geschichte und Sprache, welche weit über es hinausgeht und zu der es »leise«247 in Dialog zu treten sucht. Es ist »der reine, parasitäre Wiederdurchgang dessen, was schon gedacht wurde«. Denken des Seins ist »nichts anderes als das Andenken dessen, was gesagt und gedacht worden ist«248 : »Was wir über das Sein sagen können ist an diesem Punkt nur, dass es Überlieferung und Geschick ist. Die Welt wird in Horizonten erfahren, die von einer Reihe von Echos, von Resonanzen der Sprache, von Botschaften konstruiert werden, die aus der Vergangenheit und von anderen stammen […]. Das Apriori, das unsere Erfahrung von Welt möglich macht, heißt Geschick oder Überlieferung.«249
In diesem Zitat zeigen sich erneut Motive, die schon in den Überlegungen zu einem hermeneutischen Wahrheitsverständnis begegnet sind. Interessant ist, dass Vattimo nicht abstrakt von einer Geworfenheit in einen Horizont spricht, sondern von Echos, Resonanzen und Botschaften, welche uns erreichen, d. h. sprachliche Kategorien verwendet. Hier wird Vattimos Versuch sichtbar, die postmoderne Auflösung der Fundamente nicht in eine Metaphysik des nihil münden zu lassen, sondern im Sinne einer sprachlichen Welterfahrung zu entwickeln. Überdies streicht er heraus, dass die Botschaften, die sich uns zusprechen, immer andere für uns geöffnet haben, was den menschlichen Charakter des Überlieferungsprozesses deutlich macht. Die Erläuterung des schwachen Denkens muss aufgrund des Vorranges, den es der Überlieferung gegenüber einem eigenen Entwurf einräumt, zunächst die Frage stellen, welche Überlieferungen es selbst in wiederholendem Gestus erinnert. Naheliegend ist es, Vattimos Denken vorrangig in seiner Bezugnahme auf Nietzsche und Heidegger herauszustellen (wie dies in der Rezeption meist geschieht), schreibt er doch selbst, er habe »einer bestimmten und spezifischen Interpretation des Denkens von Nietzsche und Heidegger gegenüber anderen philosophischen Ansätzen«, mit denen er in Berührung gekommen sei, den Vorzug gegeben. Er habe sich eine »von Nietzsche und Heidegger inspirierte Philosophie aufgebaut« und mache von daher den Versuch, seine Erfahrungen in 246 247 248 249
Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 92. Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 97. Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 92. Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 87.
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der Welt der Gegenwart zu interpretieren.250 Allerdings darf auch eine große Nähe zum Denken des deutschen Idealismus, insbesondere dem Hegels, nicht unbeachtet bleiben: Bereits der Titel des für das schwache Denken programmatischen Aufsatzes Dialektik, Differenz, schwaches Denken (Dialettica, differenza, pensiero debole) lässt erahnen, dass Letzteres »mit der Dialektik und der Differenz in einer Beziehung« steht – »sie sind Bezugspunkte, die wir immer wieder antreffen, wenn wir hier und jetzt anfangen zu denken«251. Doch welchen Charakter hat dieser Anfang? Es ist kein Akt der Willkür und keine theoretische Entscheidung, die sich erschöpfend begründen ließe, irgendwo »einen Anfang in der Philosophie zu finden«252, vielmehr finden wir uns immer schon in einem geistigen Umfeld vor, welches uns vorausliegt und das wir als Erbe aufzunehmen haben. In der Philosophie Italiens sieht Vattimo die Spur einer kritischen, anarchischen, »verwässerten« Hegellektüre.253 Vielleicht darf dabei an die Einschätzung des für Italien so bedeutenden Benedetto Croce – für Vattimo gleichsam ein Bruder, den zu treffen ihm nicht mehr möglich war – erinnert werden, wenn dieser in seinem Buch Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie (1909) über die im deutschen Sprachraum so dürftige Rezeption Hegels in Erstaunen gerät, wo doch, wie Croce schreibt, »wir es nie fertig gebracht haben, ihn [Hegel] ganz zu vergessen, und ihn in gewisser Art zu dem Unsrigen gemacht haben, indem wir ihm seinen Platz als Bruder neben dem Nolaner Bruno und dem parthenopeischen Vico eingeräumt haben«254. Vattimo tritt mit Croce und seinem Lehrer Gadamer in eine ambivalente Beziehung zur hegelschen Philosophie und deren Fortschreibungen – von ihr geprägt, lehnt er doch die Vorstellung von einem »Kulminationspunkt«, einem »Gipfel«, an dem der absolute Geist seine Geschichte »in einer Cartesischen Selbstgewissheit«255 beschließe, ab. Er trifft mit diesem Einwand eine wirkmächtige Interpretationslinie Hegels, nicht jedoch den spekulativen Gehalt der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik. Ein im ehernen Prozess des Fortschreitens sich zur höchsten Stufe der Selbsttransparenz brin250 251 252 253
Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 25 f. Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 79. Hegel, Wissenschaft der Logik, V, 65. Vgl. Weiß, Gianni Vattimo, 173. Auch Michael Hofer streicht in seiner freundlich-kritischen Lektüre von Vattimos Wiederaufnahme der Religion die Nähe zum Deutschen Idealismus heraus: »Kenosis ist zu verstehen als Schwächung Gottes. Diese Schwächung Gottes wird im Christentum vollzogen durch die Erzählung von der Menschwerdung Gottes. Vattimo knüpft dadurch an die Tradition der philosophischen Christologie an, wie sie besonders im Deutschen Idealismus Thema war.« Hofer bringt daraufhin Vattimos Deutung der kenosis in ein Gespräch mit Hegel und Schelling. (Hofer, Jenseits von Gnosis und Nihilismus, 178; vgl. 182 – 188) 254 Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, 174. 255 Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 95; vgl. auch Vattimo, Berlusconis Babel.
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gender Kulminationspunkt als absoluter Ort, als absolute Position im Sinne der Gottesbestimmung der klassischen Metaphysik, müsste mit Hegel selbst abgelehnt werden. Wie die Einschätzung Vattimos hier auch sei, er räumt ein, dass vom Denken der Dialektik eine »auflösende«, eine »dissolutive«256, anarchische Tendenz ausgehe. Diese Tendenz zu erkennen und für ihre jeweilige historische Situation in Abarbeitung am deutschen Idealismus zu entwickeln, sei die eigentliche große Leistung von Denkern wie Marx, Benjamin, Adorno, Bloch, Lukcs, Marcuse und Sartre. Die dissolutive Tendenz widerstrebt einer Wiederaneignung und Totalität im Sinne absoluter Beheimatung und Versicherung »alle[r] Wirklichkeit«257 und wird von Vattimo als »Denken der Differenz« bezeichnet, welches »in seiner radikalsten Form seinen Ausdruck bei Heidegger«258 findet. Wie auch immer Vattimo das Verhältnis von Dialektik und Differenz näher bestimmt, er akzentuiert darin einen auflösenden Gestus und eine Interpretationslinie der Schwächung, die er auch kenntlich macht, wenn er von der »Epoche des Endes der Metaphysik, so wie Hegel sie vorhersagt, Nietzsche sie lebt und Heidegger sie registriert«259, spricht. Vattimo erhebt nicht den Anspruch, den genannten Philosophien in enzyklopädischer Vollständigkeit gerecht zu werden, sondern nimmt sie »im Zeichen eines Interesses an Elementen des ›Verfalls‹, die sich dort finden lassen«, auf und versucht seinem hermeneutischen Verständnis entsprechend, »die Philosophie […] neu zu denken im Lichte einer Konzeption von Sein, die sich nicht mehr durch ihre ›starken‹, von der Metaphysik stets bevorzugten Merkmale (artikulierte Präsenz, Ewigkeit, Evidenz, in einem Wort: Autorität und Herrschaft) in Bann halten lässt.«260
Das aber heißt, die Philosophie neu zu denken als eine Rekonfiguration der subversiven Momente, der Momente des Verfalls, mithin als eine Kontinuität der Schwächung. 2) Im Rahmen der folgenden Überlegungen soll nun der »schwache Hegelianismus« Vattimos näher charakterisiert werden. In einem Interview mit Martin Weiß kommt Vattimo, als es um die zentrale Thematik der Interpretation geht, auf den Begriff eines »verwässerten Hegelianismus«261 zu sprechen. Worin 256 257 258 259 260 261
Vgl. Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 84 f. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 496. Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 85. Vattimo, Das Ende der Moderne, 56. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 12. Weiß, Gianni Vattimo, 171 – 182; hier : 172 f. Wenn Vattimo den Ausdruck eines »verwässerten Hegelianismus« prägt, scheint er durchaus ein hegelsches Motiv aufzunehmen – das der Verflüssigung: Insistieren auf einen dogmatischen (also nicht verwässerten, starken, authentischen) Rückgang wäre wohl gerade bei Hegel fragwürdig und würde seine Methode nicht als Weg beschreiten, sondern zum bloßen Instrumentarium stillstellen.
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könnte dabei die Nähe zu Hegel bestehen? Die Grundlage von Vattimos hermeneutischem Konzept der Interpretation ist, so denke ich, der hegelsche Begriff der Erfahrung, wie er in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes dargelegt wird. Auf diesem Weg ergäbe sich auch eine Verbindungslinie von einem Denken der Dialektik (Hegel) und einem der Differenz (Heidegger), wie sie Vattimo für das schwache Denken veranschlagt, hat doch Heidegger in den Holzwegen den gesamten Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung der Kommentierung der Einleitung der Phänomenologie gewidmet. Dort heißt es: »Diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.«262 Diese Bewegung ist nicht allein eine Veränderung unseres Wissens vom Gegenstand, sondern vollzieht sich am Wissen wie am Gegenstand, die beide aus der Erfahrung verändert hervorgehen. Es handelt sich um eine Veränderung des Wissenshorizonts, des Weltumgangs, der Maßstäbe der Deutung, durch die hindurch sich weder ein Subjekt noch ein Objekt als unbewegter, fixierter Bestand durchhalten lassen. Interpretation weist sie eine dazu analoge Struktur auf. Auch sie lässt beide, Subjekt und Objekt, in einen Prozess eintreten und setzt sie darin der Veränderung aus. Interpretation ist weder als subjektive Leistung der Deutung irgendwelcher unbezüglicher Tatsachen oder Fakten, als Formung bloß stummer Objekte zu verstehen noch als die fortgesetzte Anpassung des Subjekts an einen objektiv unveränderlichen Kern, dem man sich interpretativ annähern könnte. Der Gegenstand der Interpretation ist nicht etwas, das wir »zufälligerweise und äußerlich etwa finden, so dass überhaupt nur das reine Auffassen dessen, was an und für sich ist, in uns falle«263. Noch eignet der Wirklichkeit der Charakter einer virtuellen Welt, welche das Subjekt im Sinne eines Konstruktivismus erstellt, so als ob »es nur das Subjekt gebe«264. Einem verobjektivierenden S/O-Schema, in dem einer der beiden Pole, Subjekt oder Objekt, das im Vorgang der Interpretation beharrende Moment wäre, hält Vattimo entgegen, »dass es nur die Geschichte des Geistes gibt«265, was ein weiterer Bezug auf Hegel ist. »Es ist vielmehr der Prozess des Geistes, worin das Bewusstsein in allen seinen >Wissens-Veränderungen< ebenso sehr den Gegenstand verändert. Denn das, was dem Bewusstsein gegenständlich ist, ist stets ein Gewordenes, das sich aus der Beziehung des Wissens auf einen ansichseienden Gegenstand generiert …«266.
262 263 264 265 266
Hegel, Phänomenologie des Geistes, III, 78. Hegel, Phänomenologie des Geistes, III, 79. Weiß, Gianni Vattimo, 173. Weiß, Gianni Vattimo, 173. Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung, 16.
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Oder in den Worten Vattimos: »Was sich mir zu interpretieren gibt, ist immer schon das Ergebnis vorausgegangener Gestaltungsprozesse, die immer auch interpretativ sind. Es gibt also nie die Interpretation einer Tatsache, es gibt immer nur Interpretationen anderer Interpretationen.«267 Der Versuch, die Welt mittels Prädikationen, die ein Subjekt einem Objekt zuerteilt, d. h. vermittels des Urteils, in den Griff zu bekommen, erfährt daran eine Schwächung hin zu einem interpretativen Weltumgang. Dieses Verständnis der Interpretation findet Vattimo auch bei Nietzsche. Das vielleicht bekannteste Wort Vattimos – zusammengesetzt aus zwei NietzscheZitaten und gleichsam eine Zusammenfassung seiner Interpretationsthese – macht die Verbindung zum vorher mit Hegel Angedeuteten deutlich: Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen. Aber auch dies ist eine Interpretation. Vattimo zitiert hier einen Aphorismus aus den Nachgelassenen Fragmenten und ein Wort aus Jenseits von Gut und Böse. »Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ›es giebt nur Thatsachen‹, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein factum ›an sich‹ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ›Es ist alles subjektiv‹ sagt ihr : aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.«268
Auch das erweist sich, wie Vattimo dieses Zitat weiterführt, Interpretation zu sein: »Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist […] nun, um so besser.«269 Es erweist sich, Interpretation zu sein und nicht die Entdeckung eines neuen, »wahreren« metaphysischen Grundprinzips, welches die metaphysische Verfasstheit der Wirklichkeit aufdeckte und in einem Satz schlechter Metaphysik ausspräche: »Es ist alles Interpretation.« Die These von der Geschichtlichkeit und Schwächung von Subjekt und Objekt, von Tatsache und Wissen stellt selbst keine starke Struktur dar, sondern eine »teilnehmende, engagierte, nicht neutrale Erkenntnis«, welche »nicht an einem idealen Punkt außerhalb des Prozesses angesiedelt ist«270, sondern Entsprechung zu unserer Zeit ist. Sie ist zutiefst geschichtlich – geworden in einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung und nicht vermeintlich überzeitlich theoretischer Begründung mit ihrem Anspruch der Neutralität entwachsen. Es fällt von hier aus auch ein neues Licht auf den Vorwurf, Vattimos Interpretationsthese legitimiere eine verantwortungslose Beliebigkeit, in der alles 267 268 269 270
Weiß, Gianni Vattimo, 173. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 – Herbst 1887, 7 [60]. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1. Hauptstück, Aph 22. Vattimo, Jenseits des Christentums, 26.
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»nur mehr Interpretation« sei. Interpretation ist nicht eine Tätigkeit, welche ein Subjekt an einem stummen Objekt verübt, dem es immer neue, beliebige Interpretationen entreißen möchte. Vielmehr gibt es eine »Geschichte des Geistes«, welche Vattimo als Geschichte der Interpretation konkretisiert, hinter die noch einen Interpreten, ein interpretierendes, starkes Subjekt zu setzen, Vattimo mit Nietzsche (und wohl auch dem deutschen Idealismus und Heidegger) problematisch erscheint.271 Nicht wir machen die Geschichte der Interpretation, sondern sie liegt uns immer schon voraus, ja sie ist es, die uns immer schon konstituiert, spricht. Freilich bleibt der Einzelne Interpret, er steht aber dabei immer schon in einer Geschichte des Geistes, der Interpretation, die sich uns eröffnet und der gegenüber es keinen absoluten Ort, kein Außerhalb, keinen initialen Punkt gibt. Der Zusammenhang der Interpretation kontinuiert sich in unseren je konkreten Interpretationen. Keineswegs ist Interpretation beliebig, jedoch kann es keine äußeren Maßstäbe ihrer Authentizität geben, sondern lediglich Kriterien, welche sich im fortschreitenden Prozess der Interpretation selbst ausbilden (der innere Leitfaden der Schwächung, caritas). Die Maßstäbe der Beurteilung ändern sich, wie Hegel in der Einleitung der Phänomenologie ausführt, mit den Erfahrungen. 3) Vattimos schwacher Hegelianismus, der explizit in der Bestimmung des pensiero debole auftaucht und sich wohl auch, vermittelt über den Begriff der Erfahrung, in seinem Interpretationsbegriff findet, lässt darüber hinaus eine Brücke zur Wiederkehr der Religion und Vattimos geschichtsphilosophischer Konzeption schlagen. Die nihilistische Tendenz einer »Geschichte des Seins als Geschick der Schwächung«, welche sich, wie verwunden auch immer, von Hegel über Nietzsche bis Heidegger verfolgen lässt, ist Vattimos Deutung zufolge Transkription und interpretative Antwort auf die subversive biblische Gottesbotschaft: Sie ist Erbin einer Tradition, welche sich auf eine Erzählung gründet, »in deren Mittelpunkt die bereits alttestamentliche Lehre der Erlösung und die Idee der Fleischwerdung oder, wie der hl. Paulus sie nennt, der kenosis Gottes«272 steht. Jenes transkriptive und interpretative Echo biblischer Botschaft, welches das schwache Denken ausmacht, bringt Vattimo in folgenden Worten zum Ausdruck: »Einen Gang der Geschichte als auf dem Wege über die Aufzehrung der starken Strukturen […] auf die Emanzipation gerichtet denken, wird das nämlich nicht eine Art und Weise sein, von der Geschichtsphilosophie her die christliche Botschaft von der Fleischwerdung Gottes, die beim hl. Paulus auch kenosis, also Erniedrigung, De-
271 Vattimo, Nietzsche, 84. 272 Vattimo, Jenseits des Christentums, 37.
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mütigung, Schwächung Gottes heißt, zu übersetzen? Das ist kein so neuer Gedanke, ihn hat mehr oder weniger in diesen Begriffen schon Hegel formuliert …«273
Die nihilistisch-emanzipative Tendenz in Vattimos schwachem geschichtsphilosophischen Denken stellt sich als Übersetzung des Gedankens der kenosis in die Kontinuität der Geschichte dar. Die Menschwerdung als kenosis eröffnet einen Blick, welcher Geschichte als subversive Kontinuität der Schwächung denken lässt. Ihr Gang lässt sich nur noch als eine Geschichte des Abschiedes erzählen; dies aber ist der Versuch, die Geschichte des Abendlandes nicht einer gänzlichen Auflösung ihrer Erzählbarkeit zu überlassen. In der Schwächung starker (mit Gewalt verbundener) Strukturen wird sie als Emanzipationsgeschichte lesbar, ohne einem Fortschrittsmythos oder einem Gedanken europäischer Hegemonie zu verfallen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Siegergeschichte, sondern um eine Kontinuität der subversiven, unterbrechenden Momente der Geschichte. Die Geschichte jener Unterbrechungen und Brüche zu erzählen, bedeutet von einer Geschichte zu reden, in der vielleicht der Mensch in seiner Fragilität selbst leben kann. Diese schwache Erzählung von Geschichte kann in den Texten Vattimos selbst noch ein wenig genauer akzentuiert werden. Ich möchte mich dazu auf einen Text beziehen, der dem schwachen Denken eine explizite Wendung hin zu den Schwachen geben möchte und den Titel trägt Pensiero debole pensiero dei deboli, was sich vielleicht übersetzen lässt mit Schwaches Denken, Denken der Schwachen.274 Vattimo frägt darin, ob sich Heideggers Insistieren auf einem Hören der Stille, wie es sich besonders in seinen späteren Schriften zeigt, verbinden lässt mit Benjamins Gedanke der Stille der zum Schweigen gebrachten Besiegten. Das Hören, von dem Heidegger spricht, hat selbst kein direktes Objekt mehr, sondern wendet sich jenen Botschaften zu, die selbst nicht unmittelbar sprechen und sich einem glatten Verstehen-Wollen zunächst entziehen. Er verweist dabei vor allem auf die Dichtung und die Worte der Vorsokratiker, den von Vattimo vorgeschlagenen Weg des Hörens auf die Stimme derer, die zum Schweigen gebracht wurden, hat er jedoch nie beschritten. Im Sinne der Vermeidung eines Mystizismus oder einer Mythisierung Heideggers schlägt Vattimo die kühne Relektüre über Benjamin vor und wendet jenes Hören, das in Heideggers Texten auftritt, auf das Schweigen der Besiegten um, deren Ungesagtes niemals in den Prozess der Interpretation eingeht, wobei er zu zeigen versucht, wie diese Intuition dem Werk Heideggers selbst treu bleibe. Er streicht heraus, dass es bei diesem Versuch nicht um die Vervollständigung eines historischen Bildes gehe, das nun auch diejenigen, die zum Schweigen gebracht wurden, beinhalten solle, sondern – mit Benjamin gesprochen – um ein Aufbrechen der Kontinuität der 273 Vattimo, Jenseits des Christentums, 126 f. 274 Vgl. Vattimo, Della Realt, 208 – 216.
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Geschichte, das einem Moment der Vergangenheit jene Dichte eschatologischer Präsenz verleihe, die Heidegger in seinen Analysen zur authentischen Zeitlichkeit gesucht habe (Vorlaufen auf den je eigenen Tod, Ereignis). Interessant ist, dass sich in Vattimos Versuch, so konträre Denker wie Heidegger und Benjamin in ein Gespräch gegenseitiger Interpretation zu bringen, selbst jenes Aufbrechen des Kontinuums der Geschichte zeigt. Vattimo riskiert hier einen Versuch, Geschichte in einer unerwarteten, neuen Weise lesbar zu machen, wobei dieser Versuch dem Geschick unserer Zeit geschuldet ist, jedoch keine philosophiegeschichtlich verbürgte dauerhafte Gültigkeit beanspruchen kann. In den Arbeiten Vattimos zeigen sich noch andere ähnliche Versuche: Am Anfang seines philosophischen Denkens stand das Wagnis, Nietzsche und Marx zusammenzustellen, später Nietzsche und Heidegger, Heidegger und Girard, Heidegger und Paulus. Auch wenn Vattimo dies so nicht explizit ausführt, meine ich, der »Sinn« von Geschichte zeigt sich gerade im Finden, ja in der »Konstruktion« solcher Übergänge. Dieser freie Umgang mit Geschichte ist möglich geworden durch die Auflösung des zwingenden Charakters ihrer Genealogien und Teleologien und somit Ausdruck des schwachen Denkens, das selbst keine zwingenden Kontinuitäten mehr hat, sondern vielmehr vor der Aufgabe ihrer freien, jedoch dem Geschick einer Zeit geschuldeten »Konstruktion« oder besser Refiguration steht. Vattimo spricht von der Aufgabe, in einem durch keinerlei Begründungen und Gewissheiten gesicherten Heute »den Sinn des Seins in unserer spezifischen historischen Situation [zu] rekonstruieren/dekonstruieren« und nennt dies eine »Ontologie der Aktualität«275. Von hier fällt auch ein neues Licht auf die religiöse Erzählung. Der von Vattimo als postmetaphysisch bezeichnete »Leitfaden der Schwächung« stehe nicht nur »in ununterbrochener Kontinuität zur christlichen Tradition«, sondern wirke umgekehrt auf diese zurück, als er sie aufruft, sich auch selbst »von ihren metaphysischen und, was dasselbe ist, kirchlichen und disziplinären Verkleidungen«276, somit von ihren starken Strukturen, zu befreien. Dies bedeutet, dass nicht allein das schwache Denken seine Herkunft wiederfindet, sondern sich dadurch auch die christliche Erzählung in rekonfigurierter Weise zum Ausdruck bringen kann. Das schwache Denken ist keine Figur der Übernahme oder Ablösung der christlichen Erzählung, sondern die Frage nach ihrer neuen Erzählbarkeit aus dem Horizont von Nihilismus und Postmoderne heraus. Gegenwärtig treten an den freigewordenen Platz der Metaerzählungen und Geschichtsphilosophien, der Genealogien und Teleologien, die evolutionsbiologische und die kosmologische Erzählung, wobei erstere, die noch ein gewisses Fortschrittsmotiv kennt, in letzterer zu fundieren ist, die gleichsam nihilistisch 275 Vattimo, Berlusconis Babel. 276 Vattimo, Jenseits des Christentums, 126 f.
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auf ein Verlöschen jeglicher Erinnerung zielt (Kältetod des Universums, Entropie, Protonenzerfall als Auslöschung jeglicher Strukturen).277 Die Frage, die Vattimos Denken aufwirft, ist, ob jener Anti-Utopie noch eine substantielle Erzählung gegenübergestellt werden kann, die auch eine Zukunftsperspektive auszuprägen vermag. Werden wir in Hinkunft die Hoffnungslosigkeit und Sprachlosigkeit unseres Daseins bloß im Gegenüber zum Verlöschen des Universums interpretieren oder aber kann es Erzählungen geben, welche unserem Dasein auch eine Sprache zu geben vermögen? Vattimos schwaches Denken möchte mit seinem Verweis auf die Erzählung der kenosis (als substantieller Erzählung) und der Freiheit der Suche nach Erzählungen der Übergänge und Refigurationen einen bescheidenen Vorschlag einbringen, der jedoch um die Größe der Herausforderung weiß, dass an der Erzählbarkeit seiner Geschichte auch das Schicksal Europas, selbst mythologische Gestalt einer Erzählung, hängt. Haben sich an dieser Stelle die verschiedenen Stränge einer Schwächung des Seins, einer Kontinuität der Geschichte gegenüber ihrer gänzlichen Auflösung, ihrem Einmünden in das nihil oder ihrem apokalyptischem Abbruch und der Verweis auf die biblische Überlieferung der kenosis gebündelt, so kann von hier aus auch das Programm der weiteren Überlegungen des ersten Teils dieser Arbeit angegeben werden. Zunächst fällt eine gewisse Nähe des schwachen Denkens mit dem meist als gegen die Religion gerichtet verstandenen Motiv der Säkularisierung auf. Es ist zu prüfen, ob wir aufgrund dieser Verbindung den Bezug zur Religion sofort wieder zu verlieren drohen oder ob der Begriff der Säkularisierung den schwachen geschichtlichen, geschichtsphilosophischen Zusammenhang von Moderne und biblischer Tradition, wie er sich bisher angezeigt hat, noch deutlicher zum Ausdruck bringen kann. (1) Sodann ist die Frage zu stellen, welche Haltung gegenüber der Vergangenheit dem schwachen Denken korrespondiert. Bedeuten Schwächung und Säkularisierung die Auflösung jeglichen Traditionszusammenhangs, weil alles in einen Prozess auflösender Schwächung eingeht? Hat das schwache Denken letztlich einen destruktiven Charakter? Vattimo rekurriert hierbei auf den Begriff der pietas. (2) Entgegen einem unbezüglichen Nebeneinander kleiner Perspektiven bedarf es, wo sich die Frage nach einer Erzählung des Abendlandes stellt, eines universalen Horizontes und allgemeinen Gedankens, der gleichwohl nicht in den vereinnahmenden Gestus der Totalität zurückfallen darf. Wäre das Motiv der Gastfreundschaft eine Weise, jenen (schwachen) Universalismus zu denken? (3) Dass dort, wo gewissermaßen um die Erzählbarkeit abendländischer Geschichte gewürfelt wird, Zuschreibungen wie theistisch/atheistisch, gläubig/ungläubig, religiös/nicht religiös nicht mehr aussagekräftig sind, liegt auf der Hand. Vat277 Vgl. Appel, Theologie im Zeichen des Nihilismus.
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Offenheit und »schwaches Denken«
timo versucht diesem Umstand in der Reflexion auf die Gestalt des Halbgläubigen, der nicht mehr in jenen Alternativen zu verorten ist, zu entsprechen. (4) Wenn Vattimo gegenüber einer Auflösung jeglicher Erzählbarkeit nach einer Geschichte des Abendlandes frägt, kann diese Suche nicht mehr in die Vereinheitlichung einer großen Erzählung münden. Im Spannungsfeld von Kunst und Religion stellt er die Frage nach einer möglichen Gestalt moderner Erzählungen und sucht im Gedanken eines wiedergefundenen Mythos die Heterotopie einer Vielfalt von Erzählungen herauszuarbeiten. (5)
Säkularisierung
Als Vattimo an einer wichtigen Stelle seines Buches Glauben – Philosophieren das Verhältnis seiner Wiederentdeckung des Christentums zur modernen Kultur darstellt, streicht er in prägnanter Weise die Bedeutung des Begriffs der Säkularisierung heraus: »Der Grundpfeiler dieses ganzen Diskurses ist der Begriff ›Säkularisierung‹. Damit wird der Prozess des ›Abdriftens‹ bezeichnet, der die moderne weltliche Kultur von ihren sakralen Ursprüngen ablöst.«278 Was ist gemeint? Der Terminus Säkularisierung spricht von einer geschichtlichen Verhältnisbestimmung von religiösem und säkularem Bewusstsein, welche die Lösung religiöser Gehalte aus ihrem ursprünglichen Umfeld und ihre Transkription in andere Sprachformen in den Blick nimmt. Zumeist wird dieses Verhältnis als Entgegensetzung oder Kampf dargestellt, der mit der Niederlage der Religion endet. Die Vorstellung gänzlicher Überwindung und des Wegfalls der Religion angesichts wirtschaftlichen und technischen Fortschritts sowie zunehmender Aufklärung des Bewusstseins gilt jedoch im zeitgenössischen Diskurs nicht mehr ungefragt. Das eigentlich bemerkenswerte Faktum, hebt Reikerstorfer (mit Rekurs auf Habermas) hervor, muss doch »das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung« sein; dass Religion eben nicht verschwunden ist, dass sie (in mitunter sehr fragwürdiger Form) wiederkehrt, dass es Orte ihrer Kontinuität und »auch eine neue Aufmerksamkeit und Offenheit für neue Formen des ›Religiösen‹«279 gibt. Es scheint, als sei das Verhältnis von Religion und Säkularisierung durch einen Antagonismus nicht ausreichend bestimmt. Vattimo nimmt diese Fraglichkeit im Begriff der Säkularisierung auf und gibt ihm eine eigentümliche Wendung, was Emmanuel Bauer sogar von einer eigenen Position in der Säkularisierungsdebatte sprechen lässt.280 Zwei Motive sollen mit 278 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 36. 279 Reikerstorfer, Weltfähiger Glaube, 81. 280 Vgl. Bauer, Säkularisierung als Verwindung des Todes Gottes?, 70.
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Säkularisierung
dieser Wendung ausgesagt werden. Zum einen bringt Säkularisierung einen Prozess der Schwächung religiöser Ansprüche, der eine Interpretation der Moderne ermöglicht, zum Ausdruck: Moderne lässt sich nicht zuletzt als Zeitalter der Säkularisierung verstehen. Zum anderen möchte Vattimo damit aber gleichzeitig eine Tendenz benannt wissen, die im Christentum selbst angelegt sei. Säkularisierung hat dabei eine ähnliche Bedeutung wie das allgemeinere Motiv der Schwächung, mache jedoch die Verbindung zur Religion deutlicher und hebe vor allem – gleichsam paradox – »die religiöse Bedeutung des Gesamtprozesses«281 hervor. Auf diese Weise kann Vattimo den geschichtlichen Zusammenhang von Moderne und biblischer Tradition herausstreichen: Eine Tendenz, welche geeignet ist, die Moderne zu charakterisieren und lesbar zu machen, erweist sich als bereits in der biblischen Erzählung angelegt. Um dieser These Plausibilität zu verleihen, muss Vattimo einerseits zeigen, dass die Moderne nicht unabhängig von religiösen Wurzeln zu denken und andererseits die Säkularisierung tatsächlich mit der christlichen Erzählung verbunden ist. In vielen Anläufen legt Vattimo dar, dass die Moderne als die Zeit der Entfremdung von jedem religiösen Gehalt dennoch eine Tochter der religiösen Tradition ist, »vor allem als Säkularisierung dieser Tradition.«282 Sogar die Philosophie Nietzsches sei nicht unabhängig von der christlichen Tradition zu denken, sie könne »auf eine kaum paradoxe Weise als ein letztes Echo der christlichen Dreieinigkeitstheologie verstanden werden«283. In aller Deutlichkeit fasst dies Ulrich Engel zusammen, wenn er vermerkt: »Vattimo sucht das Gesamt der okzidentalen Kultur von der Bibel als Basistext her zu begreifen.«284 Die innere (d. h. theologische) Verbindung von Säkularisierung und biblischer Botschaft besteht über die Begriffe kenosis und Inkarnation. Der paulinische Gedanke der kenosis ist für Vattimo Leitmotiv der Menschwerdung des göttlichen Wortes (kenosis des Logos) und als solches Interpretationsschlüssel der gesamten Bibel, zurückreichend bis zur Schöpfungstheologie: Schöpfung im Wort (d. h. im Sohn) als kenosis ist Verwindung eines starken metaphysischen Anfangs hin zum Sein als vom göttlichen Wort initiierten.285 Dieser christologische Schwerpunkt bedeutet nicht nur den Blick in unsere ewige Vergangenheit (Schöpfungstheologie), sondern auch in eine offene Zukunft: Die Inkarnation als kenosis, d. h. als die Entäußerung des Absoluten, welche von diesem selbst ereignet ist, eröffnet eine Geschichte nicht mehr aufzuhaltender Fahrten und Wege der Säkularisierung, Schwächung und Transkription. Vattimo ist der Ansicht, 281 282 283 284 285
Vattimo, Glauben – Philosophieren, 38. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 67. Vattimo, Die Spur der Spur, 120. Vattimo/Eggensperger/Engel/Schröder, Christentum im Zeitalter der Interpretation, 49. Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 87.
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»dass die Säkularisierung kein Begriff ist, der mit dem Wesen der [biblischen] Botschaft unvereinbar ist, sondern seinerseits ein wesentlicher Aspekt davon: als heilbringendes und hermeneutisches Ereignis ist die Inkarnation Jesu (die kenosis, das Herniederkommen Gottes) selbst ein archetypischer Fall von Säkulari sierung«286.
Interessant ist, dass Vattimo Inkarnation nicht allein als heilbringendes, sondern auch als hermeneutisches Ereignis bezeichnet; sie eröffnet einen gewandelten Blick auf die Geschichte, der mit Schwächung bzw. Säkularisierung umschrieben werden kann. In aller Kürze seien einige Punkte dieser Konzeption Vattimos benannt: 1) Wenn Inkarnation als kenosis die Auflösung jeglicher absoluter Fundamente bedeutet, hat Säkularisierung nichts mit Beliebigkeit oder einem bloß subjektiven Akt zu tun, sondern ist Nachvollzug der Entäußerung des Absoluten, die in Jesus zum Dasein gelangt ist. Sie ist damit selbst als ein substanzvolles Geschehen anzusehen. Säkularisierung muss nicht mehr bloß im Sinn des Abfalls von einem Original gedeutet werden, sondern wird zur Aufgabe der Transkription. Die Transkription religiöser Formen und Inhalte erweist sich als der biblischen Botschaft inhärente Forderung und wird von ihr ermöglicht. Säkularisierung ist nicht Gegenspielerin zur authentischen Weitergabe des Glaubensgutes, sondern »konstitutives Merkmal einer authentischen religiösen Erfahrung«287. 2) Es scheint, als sei Säkularisierung für Vattimo kein bloß deskriptiver Begriff. Zum einen ist damit eine Aufgabe bezeichnet, zum anderen aber auch ein Kriterium, zumal nicht jede Form der Entfernung von einem religiösen Ursprung als Säkularisierung bezeichnet werden kann. Banalisierung, Zerstörung und Gleichgültigkeit scheinen mir Formen zu sein, denen Vattimos Begriff der Säkularisierung standzuhalten und entgegenzutreten sucht. Er meint ein Ablösen von einem Ursprung und ein Abdriften, welches seinen »Ursprung« auch bewahrt, d. h. zu irgendeiner Form der Übersetzung, der Transkription, des Übergangs wird. Darin treten die drei Momente des hegelschen Begriffs der Aufhebung auf: das subversive einer Auflösung, das erinnernde einer Bewahrung und das produktive einer Weiterführung. 3) Der Ort der christlichen Botschaft ist kein beliebiger in einem allgemeinen Prozess der Säkularisierung. Der Gedanke der Inkarnation in kenosis eröffnet eine sich in die Geschichte einschreibende Tendenz des Abdriftens und der Transkription. Diese Bewegung stellt einen Übergang dar und darf sich selbst in keiner erreichten Stufe verhärten, die vor allen anderen ausgezeichnet wäre und sich als Ende des Prozesses darstellte. Ferner muss sie sich ihrer Vor-Gabe (ihres Von-woher-Gegeben-Seins) bewusst werden, d. h. den Anschein der Voraus286 Vattimo, Abschied, 165. 287 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 9.
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setzungslosigkeit ablegen. Säkularisation benennt in dieser Sichtweise ein eigentümliches Gleichgewicht: Weder gibt es einen Vorrang des Originals vor seinen Transkriptionen noch gibt es einen Vorrang der Transkription gegenüber ihrer Herkunft. Den Titel eines Vortrags Reikerstorfers aufnehmend, könnten wir sagen, es geht um »Eine ›Übersetzung‹, in der ›Übersetztes‹ nicht überflüssig wird«. Säkularisierung kann sich selbst nicht aus jener Geschichte, die sie ermöglicht hat, herausnehmen, um sich als ungeschichtlich allgemeines Prinzip zu generieren. Wir stehen in einer vom biblischen Text eröffneten Geschichte von Interpretation, Transkription und Säkularisierung, welche unsere abendländische Kultur zutiefst prägt und aus der wir nicht heraustreten können. 4) Der Vorgang der Säkularisierung als Transkription kann auch eine Form der Bereicherung darstellen, was in Vattimos Diktum von der »Produktivität des interpretatorischen Aktes«288 zum Ausdruck kommt. Darin zeigt sich eine pneumatologische Tiefendimension von Vattimos Konzept der Säkularisierung und Transkription. »Geist« begegnet in den neutestamentlichen Schriften immer wieder als jene Größe, die über einen erreichten Status, über Bestehendes und Fixiertes hinaustreibt, wobei sich gerade in den darin statthabenden Verwandlungen der Gedanke des Bundes zeigt. Bund erscheint nicht allein als Treue Gottes zum Bestehenden, sondern zum Werden auf Zukunft hin. Im zweiten Korintherbrief spricht Paulus von Gott als dem, der uns fähig gemacht hat, »Diener des neuen Bundes« zu werden, »nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Der Buchstabe tötet, der Geist aber lässt lebendig werden« (2 Kor 3, 6). Buchstabe steht für die Erhaltung des Festgeschriebenen, Geist hingegen für dessen verwandelnde Neuschreibung als eines produktiven, kreativen, pluralen Aktes. Der neue Bund wird von Paulus nicht als Ablösung von einem alten Bund bestimmt, sondern durch die Fähigkeit und Aufforderung zur Erneuerung in der Transkription; Paulus will mithin das Moment des Neuen im Bundesgedanken selbst hervorkehren. Ähnlich heißt es im Johannesevangelium: »Der Geist ist der Belebende, das Fleisch nützt nichts, die Worte, die ich euch gesagt habe, sind Geist und sind Leben.« (Joh 6, 63) Biblisch findet sich mithin der Gedanke, dass Verwandlung und Transkription des Bestehenden nicht dessen Verfälschung und Verflachung sein müssen, sondern eine Bereicherung darstellen können. Biblisch ist jedes Bestehende und jeder Gehalt auf seine Anreicherung im Akt der Interpretation und Transkription angelegt. 5) Die Rückbindung der Säkularisierung an das Ereignis der Menschwerdung in kenosis hat nichts mit einer Vereinnahmung der modernen Welt durch die Religion zu tun, sondern ist der Versuch, Säkularisierung als geschichtliche (geschichtsphilosophische) Gestalt, die mit einer Aufgabe und Verantwortung 288 Vattimo, Abschied, 160, vgl. den Artikel: »Heilsgeschichte, Geschichte der Interpretation«, 154 – 167.
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verbunden ist, zu denken. Vattimo möchte mit seiner Konzeption eine Antwort auf das Zerbrechen sämtlicher Fortschrittserzählungen geben, indem Säkularisierung, die dort bisher ihren Ort hatte, nicht mehr als Element einer Fortschrittgeschichte gedacht, sondern nun im Rahmen einer Geschichte der Schwächung erzählt wird. Charakteristische (aufklärerische) Tendenzen der Moderne, die bislang in den Fortschrittserzählungen verankert waren (Übersetzung religiöser Gehalte, Schwächung starker Fundamente, Kritik an Autoritäten …), finden sich in dieser Erzählung der Schwächung wieder. Einen schwachen Zusammenhang von biblischer Botschaft und moderner Welt durch die Erzählung der Geschichte der Säkularisierung zu wahren, bedeutet für Vattimo, sich in einem der Moderne verpflichteten Ideal der Aufklärung zu halten.
Denken der pietas … nam corporalis exercitatio ad modicum utilis est pietas autem ad omnia utilis est promissionem habens vitae quae nunc est et futurae … körperliche Übung ist zu wenig Nutzen, die pietas aber ist nützlich zu allem, hat sie doch die Verheißung des Lebens – des gegenwärtigen wie des künftigen (1 Tim 4, 8)
1) Das schwache Denken evoziert eine Kontinuität zur Vergangenheit und eine bestimmte Art und Weise ihrer Wiederaufnahme. Wie kann diese Kontinuität jenseits genealogischer Ableitungen aus der Geschichte gedacht werden? Das Vertrauen in ein Fundament als der Veränderlichkeit der Geschichte enthobenem Bereich, der ihren Zusammenhalt garantierte, ist in den Prozessen der Säkularisierung entschwunden. Vattimo sieht in der Frage, wie dem drohenden Zerfall der Erinnerung geantwortet werden könne, wohl ein spezifisches Problem der Moderne, arbeitet er doch anhand unterschiedlicher »Erinnerungsfiguren« in der für ihn so entscheidenden Linie moderner Philosophie, die von Hegel über Nietzsche zu Heidegger reicht, ein Motiv der Treue zur Vergangenheit heraus. Dazu nimmt er die hegelschen Gedanken der Aufhebung und Erinnerung, Nietzsches Gedächtnisfest und Heideggers Begriffe der Verwindung und des Andenkens auf. Es gehe darum, »sich endlich die Vergangenheit außerhalb jeder linearen Herkunftslogik zugänglich zu machen«289. Um diesem spezifischen Gestus der Zuwendung zur Vergangenheit einen Ausdruck zu geben, greift Vattimo – all diese Stränge zusammenfassend – ein altes Wort der Tradition neu auf: »Das Wort, das diese Einstellung zur Vergangenheit und zu alldem, was uns – auch gegenwärtig – überliefert wird, zu umreißen vermag, könnte noch einmal ein anderes sein: das der pietas.«290
Bereits in den 70ger Jahren scheint der italienische Begriff piet an einer entscheidenden Stelle in Vattimos Übersetzung von Heideggers Vorträge und Aufsätze, und zwar am Schluss von Die Frage nach der Technik, auf: »Perch¦ il domandare À la piet (Frömmigkeit) del pensiero.« – »Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.«291 Denken wird hier nicht über eine technische 289 Vattimo, Abschied, 118, zum Begriff der pietas siehe den gesamten Artikel, 109 – 126 und Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 79 – 97. 290 Vattimo, Das Ende der Moderne, 191 f. 291 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 40; Heidegger, Saggi e discorsi, 27.
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Rationalität bestimmt, sondern findet im Gestus einer fragenden Zuwendung sein gleichsam innerstes Moment, was Heidegger (und mit ihm Vattimo) mittels eines Begriffs der religiösen Tradition zum Ausdruck bringt. Ohne diese Bezugnahme hier weiter ausführen zu können, sei festgehalten, dass der für Vattimo zentrale Begriff der pietas offensichtlich kein irrationales, dem Denken entgegenstehendes Moment zum Ausdruck bringen soll. In römischer Religiosität und Kultur kam der Haltung der pietas, die personifiziert als Göttin Verehrung genoss, große Bedeutung zu, ehe sie später in die patristische Theologie und christliche Frömmigkeit Eingang finden sollte. Die Vulgata gibt mit diesem Wort das griechische »eusebeia« wieder. Bevor der Begriff pietas Pate stand für die Bezeichnung »Pietismus« und allmählich in den Bereich des innerlich Frommen abgedrängt wurde, brachte er Ehrfurcht, Achtung, Andacht, Andenken, dankbares Gedenken, Herkunft, Antwort auf eine »Erbschaft« zum Ausdruck und zeigte sich in einem Gefühl des Verdanktseins und einer Beziehung der Unverfügbarkeit, welche sich sowohl auf Gott als auch auf die vorhergehenden Generationen (besonders die Eltern) und auf das Gemeinwesen ausstreckten.292 Damit sind bereits wesentliche Motive angesprochen, die Vattimo mit jenem Begriff aufnimmt. Dennoch scheint auch eine messianische Spur in Vattimos Prägung dieses Begriffes von Bedeutung, welche gerade in der Aufmerksamkeit für das Verlorene, Sterbliche, letztlich auch für die Toten liegt: Mit Bezug auf Walter Benjamin spricht Vattimo von der Pietät gegenüber den Ruinen. Aus der Zuwendung zu den »Spuren und Elementen, die nicht Welt geworden sind«, könne die »Möglichkeit des Neuen« entstehen, nicht allein aus dem »Weiterreichen von Wirkungen*«293 und dem fortlaufenden discursus der Interpretationen. In der hermeneutischen Philosophie Vattimos eröffnet sich an dieser Stelle über den Begriff der pietas ein gleichsam antihermeneutisch messianischer Aspekt. Zu einer Zeit aufgegriffen, als sich noch keine explizit religiösen Bezüge in seinen Texten finden, verwendet Vattimo den Begriff der pietas als Antwort auf die postmoderne Erfahrung des Verlustes jeglichen Fundamentes, d. h. als Antwort auf die Frage, was zu tun bleibe, »wenn wir einmal eingesehen haben, dass alle Wertesysteme nichts anderes als menschliche, allzumenschliche Erzeugnisse sind?«294 Kann man annehmen, dass jener Begriff Vattimos (neuerliche) Zuwendung zur Religion miteröffnete? Dass in diesem Begriff schon etwas angelegt war, was dann in den Überlegungen zur Religion einen differenzierteren Ausdruck finden sollte? Bemerkenswert ist eben, dass Vattimo einen an292 Vgl. Schmitz, Moribus antiquis res stat Roma – Römische Wertbegriffe bei christlichen und heidnischen Autoren. 293 Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 96. 294 Vattimo, Abschied, 123.
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tiken religiösen Begriff zunächst ohne expliziten Bezug auf Religion aufgreift und dieser säkularisierte Begriff dann wieder eine Offenheit für die Artikulation des religiösen Erbes bietet. Der Begriff zeigt somit jene Struktur der Wiederkehr, die Vattimo auch in seiner Betrachtung der Religion betont. In dieser Weise neu aufgegriffen, sagt pietas nicht die Unmittelbarkeit eines direkt ausgesprochenen Gottesbezuges aus, dieser bringt sich als schwacher erst in Vermittlung durch die von der pietas in den Blick gerückte Sterblichkeit, Endlichkeit und Unverfügbarkeit zum Ausdruck.295 Vattimo spricht von der pietas »als andächtige Achtung vor dem, was nur einen begrenzten Wert besitzt, aber gerade aufgrund dieses begrenzten Wertes Aufmerksamkeit verdient, weil er der einzige ist, den wir kennen: pietas ist die Liebe zum Lebendigen und dessen Spuren. Die Spuren, die es hinterlässt, und die, die es trägt, insoweit es sie von der Vergangenheit empfängt.«296
Zuwendung im Sinne der pietas meint Anerkennung des Lebendigen als des Endlichen und Unverfügbaren – als Sterbliches297; es meint die »Andacht-Achtung, die dem Leben-Tod gilt«298. Nicht der Rückgang auf eine arche, auf letzte Gründe oder das Anvisieren eines telos erschließen deduktiv im begründenden Regress oder Progress den Wert des Lebendigen, sondern gerade seine Endlichkeit und Verletzlichkeit. Die pietas ist demnach als ein geistiges Geschehen, ein geistiges Band, zu denken, welches nach dem Anderen und seinen Erzählungen (den Spuren, die das Lebendige hinterlässt), nach dem Anderen in seiner Sterblichkeit und Endlichkeit frägt und ihm als solchem Antwort zu geben gerufen ist. 2) Die Einführung der pietas in Vattimos Aufsatz Dialektik, Differenz, schwaches Denken erfolgt an jener Stelle, an der Vattimo auf das Thema des Todes zu sprechen kommt. Jener Aufsatz entwickelt das schwache Denken in einer Spannung zwischen hegelscher Dialektik und Heideggers Denken der Differenz. Sowohl in der Phänomenologie des Geistes als auch in Sein und Zeit kommt dem Thema des Todes eine entscheidende Bedeutung zu. Es gilt, die Frage zu stellen, wie das schwache Denken vor diesem Hintergrund zu sehen ist. Von der pietas sagt Vattimo: »Pietät ist ein Begriff, der vor allem die Sterblichkeit, die Endlichkeit und die Hinfälligkeit evoziert: Was bedeutet, das Sein 295 Den Gedanken der Zurückweisung einer unvermittelten Gottesunmittelbarkeit und deren Verpflichtung auf die Erzählung des Anderen spricht Johann Baptist Metz aus, wenn er immer wieder erinnert, dass Jesu erster Blick nicht der Sünde als Verletzung des Gottesbezuges, sondern dem Leid des Anderen, seiner Verletzlichkeit und Unverfügbarkeit galt. 296 Vattimo, Abschied, 118. 297 Vgl. Vattimo, Abschied, 123. 298 Vattimo, Abschied, 120.
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radikal unter dem Zeichen der Hinfälligkeit und Sterblichkeit zu denken?«299 Dies ist zunächst als Bezug auf Heideggers Versuch, die Endlichkeit des Seins zu denken, zu sehen. Vattimo stellt hiermit eine heideggersche Frage neu und gibt mit der pietas eine Antwort, die einen anderen Akzent setzt. Hinsichtlich der Philosophie Heideggers streicht Vattimo besonders eine Verbindung von Hermeneutik und Sterblichkeit heraus. Heidegger denkt Dasein nicht in völliger Selbstgegebenheit als ein Ganzes und als Präsenz, sich von dieser oder als diese auf Vergangenheit rückbeziehend und auf Zukunft hin ausstreckend, sondern sieht jede Form der Selbstgegebenheit durch das Vorlaufen auf den eigenen Tod vermittelt. Nicht aus dem descartschen Denken qua Zweifeln erlangt das Ich die unerschütterliche Gewissheit seines Seins, sondern das »Für-wahr-halten des Todes« ist »des In-der-Welt-seins gewiss«300. Es ist das Vorlaufen auf den je eigenen Tod, welches die existenziale Ganzheit des ontologischen Strukturganzen als Sorge, als »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)«, als »hermeneutische Totalität« gewährt301: »Das Für-wahr-halten des Todes – Tod ist je nur eigener – zeigt eine andere Art und ist ursprünglicher als jede Gewissheit bezüglich eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der formalen Gegenstände; denn es ist des In-der-Welt-seins gewiss. Als solches beansprucht es nicht nur eine bestimmte Verhaltung des Daseins, sondern dieses in der vollen Eigentlichkeit seiner Existenz. Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern. Daher muss die Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des Ich und des Bewusstseins notwendig hinter der Gewissheit zurückbleiben, die im Vorlaufen beschlossen liegt. Und zwar nicht deshalb, weil die zugehörige Erfassungsart nicht streng wäre, sondern weil sie grundsätzlich nicht das für wahr (erschlossen) halten kann, was sie im Grunde als wahr ›da-haben‹ will: das Dasein, das ich selbst bin und als Seinkönnen eigentlich erst vorlaufend sein kann.«302
Aus dieser Rolle des je eigenen Todes, wie sie Heidegger im zweiten Teil von »Sein und Zeit« veranschlagt, erschließt sich auch, was er im ersten Teil als Verstehen und Entwurf entfaltet hat303, in tieferer Weise. Dort hat er bereits das Dasein wesentlich als Seinkönnen, als Sein seiner Möglichkeiten, als Entwerfen ausgeführt – »als Dasein hat es sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend. Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist,
299 Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 91. 300 Heidegger, Sein und Zeit, § 53. 301 Heidegger, Sein und Zeit, § 42; vgl. dazu besonders das erste Kapitel des zweiten Abschnitts: »Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode«, § 46 – § 53. 302 Heidegger, Sein und Zeit, § 53. 303 Vgl. besonders Heidegger, Sein und Zeit, § 31.
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aus Möglichkeiten.«304 So ist es nicht die versammelte Präsenz seiner eigenen Vergangenheit, sondern es ist seine Möglichkeiten – das Dasein ist »ständig ›mehr‹, als es tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren«305. Dies hat entscheidende Folgen für die Frage nach dem Umgang mit dem, was uns überliefert wird, wie für das gemeinsame Verstehen, welches sich in einer Epoche, in einem geschichtlichen Weltumgang manifestiert. Zumal sich Dasein nicht als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren lässt, sondern immer als seine Möglichkeiten ist, kann einem dieses, fremdes wie eigenes, nie, auch nicht idealiter, in vollständiger Präsenz gegeben sein und so auch nie in erschöpfender Weise erkannt und beschrieben werden. Weder gibt es einen Rückgang auf das Dasein, fremdes wie eigenes, als auf ein unhintergehbares, aller Interpretation vorausliegendes factum brutum, welchem man sich mehr oder weniger gut annähern, angleichen kann und das als Substrat all unseren Deutungen zugrundeläge. Noch kann einem die Vergangenheit jemals als abgeschlossener Bestand verfügbar werden, sondern wird einem erst aus dem Vorlaufen auf den je eigenen Tod ansichtig. Dasein befindet sich in einem beständigen Deutungsprozess, in dem auch es selbst kein positivierbares Fundament hat. Als Referenzpunkt für das Dasein (im Sinne seines Ganz-Sein-Könnens), welches ja als seine Möglichkeiten existiert, erweist sich im heideggerschen Versuch, wie bereits erwähnt, die ausgezeichnete Möglichkeit des je eigenen Todes. Da Dasein niemals Seinsbestand als geschlossene Ganzheit ist, sondern Vorlaufen auf den Tod, bleibt es in einem fortgesetzten hermeneutischen Prozess – jede seiner Deutungen ist immer schon vom Vorlaufen auf den eigenen Tod überholt, der ihr eine Verhärtung zur absoluten Deutung und Eineindeutigkeit verwehrt und somit einen Vorgang der Auflösung jedes Grundes, d. h. einen Vorgang der Entgründung, darstellt. Der Tod ist aber auch Angelpunkt, der vor einem unbestimmten, beliebigen Sich-Verlieren in die Möglichkeiten, dem jede Ausrichtung fehlt, bewahrt. So ist das Dasein gerade in der Auflösung, im SichEntziehen jedes (positivierbaren) Grundes begründet. Aus der unhintergehbaren Bedeutung des Todes im Rahmen des heideggerschen Konzepts der Unverfügbarkeit erwächst die unlösbare Beziehung von Hermeneutik und Sterblichkeit, wie sie Vattimo des Öfteren herausstreicht.306 Vattimo sieht im Sein zum Tode, wie es Heidegger in Sein und Zeit bedenkt, die Struktur einer mit der »Auflösung« seines »Grundes« übereinstimmenden Begründung des Daseins, das heißt eine dialektische, gerade im Auflösen jedes 304 Heidegger, Sein und Zeit, § 31. 305 Heidegger, Sein und Zeit, § 31. 306 Vgl. besonders den Artikel »Hermeneutik und Nihilismus«: Vattimo, Das Ende der Moderne, 121 – 139.
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Grundes sich entfaltende Form des Gründens. Diese Struktur bleibe auch in den späteren Schriften Heideggers, die Vattimo in Kontinuität zu den frühen betrachtet, erhalten: »Dieser Zusammenhang zwischen Begründung und Auflösung des Grundes, der in Sein und Zeit bei der Analyse des Seins zum Tode eingeführt wird, ist eine Konstante der ganzen nachfolgenden Entwicklung von Heideggers Denken, auch wenn das Todesthema in den späteren Werken fast zu verschwinden scheint. Begründung und Auflösung des Grundes bilden die Basis des Begriffs ›Ereignis‹, d. h. des Ereignisses des Seins, eines Begriffs, auf den beim späten Heidegger die Gesamtheit der Probleme, die in Sein und Zeit mit dem Begriff der Eigentlichkeit zusammenhingen, übertragen werden.«307
Für Hegel ist das Thema des Todes aufs engste mit der Frage der Anerkennung verknüpft. Es tritt im Gang der Phänomenologie des Geistes zum ersten Mal im Herrschaft – Knechtschaftskapitel, nachdem Hegel die ontologische Struktur der Dialektik der Ankerkennung expliziert hat, auf.308 Das mordende Bewusstsein, das auf den Tod des anderen geht, erhält keine Anerkennung, wenn es den Anderen im Tod zum Ding macht, und unterwirft ihn infolge zum Knecht, indem es seinen Tod aufhält und er in der Furcht vor dem Tod verharrt. Sein Bewusstsein erfährt in der Furcht des Todes als des absoluten Herren seine innerliche Auflösung, es erfährt, wie »alles Fixe in ihm gebebt hat«309. Das Dienen und die Arbeit werden erste Versuche des Umgangs mit diesem Erzittern sein, sind also sublimierte Todesgestalten. Wenn sich in jeder Stufe des Weges der Phänomenologie eine Auflösung des jeweiligen Standpunktes des Bewusstseins vollzieht, so ist darin ein Nachhall dieses gänzlichen Erzitterns, das nichts Fixes bestehen lässt, vor dem Tod zu hören. Explizit tritt es etwa wieder im Kapitel über die Aufklärung und im Religionskapitel auf. Die Thematik der Anerkennung, die den gesamten weiteren Weg der Phänomenologie prägen wird, zeigt sich mithin vor einem Horizont des Zerbrechens von Maßstäben, Standpunkten und der Versuche, der Welt gegen die Hinfälligkeit einen fixierten Rahmen zu geben. Erst in der Verzeihung am Ende des Gewissenskapitels stellt sich ein Blick auf den anderen in seiner Endlichkeit und Verletzlichkeit ein, der diesen aus den eigenen Geltungsansprüchen freilassen und anerkennen kann. Vattimos Verständnis der pietas lässt sich nicht als ein rein hermeneutisches (die Botschaften der Vergangenheit interpretierendes) bestimmen, sondern situiert diese Hermeneutik in der Frage der Anerkennung, wenn es von einer »Erbschaft, der gegenüber man Pietät empfindet, die man allen Spuren dessen,
307 Vattimo, Das Ende der Moderne, 125. 308 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 145 – 155. 309 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 153.
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was gelebt hat, schuldet«310, spricht. Auf die Frage, was es heiße, das Sein radikal unter dem Zeichen der Hinfälligkeit und Sterblichkeit zu denken, antwortet Vattimo mit dem Motiv der pietas als Form einer gesteigerten Treue. Die Aufnahme der heideggerschen Auseinandersetzung mit dem Thema des Todes, die Vattimo vor allem unter dem Gesichtspunkt der Hermeneutik sieht, fundiert er gleichsam in der hegelschen Auseinandersetzung, welche das Thema des Todes mit der Frage der Anerkennung verbindet. 3) Die Einstellung der pietas erstreckt sich aber nicht nur auf die Vergangenheit und ist nicht allein die ehrfürchtige Haltung den Toten gegenüber, sondern bezieht sich auch auf all das, was uns gegenwärtig überliefert wird. Sie ist für Vattimo das geistige Band, welches das gemeinsame Verstehen in den sich ins Unermessliche differenzierenden Sprachspielen unserer Zeit ermöglicht und einen gemeinsamen Weltumgang konstituiert. Vattimo spricht in diesem Fall von einem Denken der Kontamination, d. h. der Vermengung und Verschmelzung unterschiedlicher Horizonte.311 Dies sei in aller Kürze angedeutet, kann aber hier nicht weiter ausgeführt werden. Verstehen kann sich, wenn ein Rekurs auf letzte Fundamente nicht mehr erschwinglich ist, weder auf einen angebbaren noch auf einen sich mythisch entziehenden Grund als letzten Referenzpunkt berufen, ist weder von einer arche abzuleiten noch von einem telos motiviert; es gibt auch keine außer- oder übersprachliche Metaebene, kein »›Metaspiel‹, welches die Befolgung der Regeln der Sprachspiele vorschreibt«312 und so die Möglichkeit von Verstehen gewährleiste: »Was die Achtung der Spielregeln zu leiten vermag … kann letztlich nur die pietas sein, die wir empfinden und gewissermaßen gegenüber dem Lebendigen und seinen SpurenMonumenten unmöglich nicht empfinden können, wenn wir erst einmal die Erfahrung der Ereignishaftigkeit, der Unbegründetheit und der Un-Anwesenheit des Seins gemacht haben.«313
Das Empfinden der pietas hervorzuheben, will nicht heißen, auf die Ebene des Gefühls abzuschieben, was sich einer positiven Bestimmung entzieht. Vielmehr handelt es sich um eine noetische Kategorie; es geht darum, pietas als Haltung der Unverfügbarkeit und des Verdanktseins angesichts der Sterblichkeit und Hinfälligkeit gegenüber jeglichem deduktiven Begründungsdenken, welches stets eine ins Unendliche reichende Fülle äußerlicher Gründe zu applizieren vermag, herauszustreichen. Vattimo spricht zuerst von der pietas gegenüber dem Lebendigen und seinen Spuren-Monumenten und verbindet dies dann mit 310 311 312 313
Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 91. Vattimo, Das Ende der Moderne, 192 – 195. Vattimo, Abschied, 122. Vattimo, Abschied, 122 f.
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der Erfahrung der Ereignishaftigkeit, Unbegründetheit und Un-Anwesenheit des Seins. Das Lebendige erscheint hier (wohl in gewisser Nähe zu Heidegger) als die Repräsentanz des Entzugs des Seins. Sprache (und mit ihr ein gemeinsamer Horizont des Verstehens) stellt nicht eine Fähigkeit des Menschen dar, sondern ist der Ort jener Differenz im Sein. Dass es ein gemeinsames Verstehen in den vielen Sprachspielen geben kann, ist mithin nicht primär aktive, positive Leistung des Menschen, sondern der Negativität der Sprache geschuldet, die sich nie regional auf ein bestimmtes, begrenzbares Sprachspiel einschränken lässt. Pietas können wir in diesem Fall als die Öffnung dieser Negativität gegenüber beschreiben. In der größeren Nähe und im Verstehen nehmen gerade die Verborgenheit und die Entzogenheit des Anderen, die Anerkennung seiner Unverfügbarkeit, Hinfälligkeit und Sterblichkeit zu. In der Auflösung jedes GrundFundamentes »begründet« sich erst Begegnung. In der Schwächung der sich ständig erneuernden Versuche der Fundamentierung und Begründung, die den Anderen immer schon in einen (Werte-)Rahmen einordnen, wird erst der Eintritt in ein sprachliches Verhältnis zum Anderen möglich, welches der Frage, die der Andere an mich darstellt, zu entsprechen sucht.
Universalismus und Gastfreundschaft
Vattimos geschichtsphilosophisches Konzept, Geschichte entgegen ihrer Mythisierung durch die Sieger, ihrer erinnerungslosen Zersetzung oder aber ihres apokalyptischen Abbruchs als subversive Gegengeschichte zu lesen, ist vom Motiv der Schwächung getragen. Die sich darin anzeigende nihilistische Tendenz versteht sich in Kontinuität zur Erzählung der kenosis und konkretisiert sich angesichts des Abschieds von letzten Sicherheiten als eine gesteigerte Treue (pietas) und Verpflichtung auf die Zeichen der Zeit. Vattimo spricht von der »absolut totale[n] Bereitschaft, ›die Zeichen der Zeit‹ zu lesen, sich also in offenem Eingeständnis der eigenen Geschichtlichkeit immer von Neuem mit der Geschichte zu identifizieren«314. Dabei geht es nicht lediglich um einen analytisch beobachtenden Blick, sondern um eine Zukunft eröffnende Frage, um die Frage nach den »Zeichen des Zeitalters des Geistes«315. Mit dieser Bezeichnung nimmt Vattimo ein Motiv aus Joachim von Fiores Geschichtsbetrachtung auf und stellt deren Zukunftsaspekt als leitendes Motiv der Betrachtung der Zeichen der Zeit heraus. Gegliedert in eine Epoche des Vaters, des Sohnes und des Geistes ist Joachims Einteilung von Geschichte nicht bloß (historiographische) Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern auf Zukunft hin ausgerichtet, zumal das dritte Zeitalter erst im Kommen ist und zur Aufgabe wird. Als geistiges Zeitalter lässt sich dessen Ankunft nicht an einem bestimmten Zeitpunkt fixieren, sondern benennt den Horizont einer Vision von Zukunft. Die entscheidende Frage, unter der man heute Joachim von Fiores Geschichtsbetrachtung aufnehmen muss, ist nicht die nach der Identifizierung eines Punktes der Ankunft des Zeitalters des Geistes, sondern die, welche Zeichen auf dessen Kommen zu verweisen vermögen. Für unsere geschichtliche Epoche benennt Vattimo die Säkularisierung, das Ende der Metaphysik und das Bewusstwerden der Ereignishaftigkeit des Seins. Diese Betrachtung veranlasst zur Frage, wie Geschichte gestaltet werden muss, um diesen Zeichen zu entsprechen. Welche 314 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 54. 315 Vattimo, Jenseits des Christentums, 53.
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Universalismus und Gastfreundschaft
Hoffnungsmomente zeigen sich an und wie können die sich dabei bietenden Chancen entwickelt werden? In der wachen Aufmerksamkeit dafür schaffe sich, wovon Joachim geträumt habe, der Geist sein Reich. Diese Utopie erhalte Vattimo zufolge bei Novalis (Europa oder die Christenheit), Schleiermacher (Reden über die Religion) und bei Schelling, Hegel, Hölderlin (im ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus) neue Aktualität und habe ein bis heute unausgeschöpftes Potential316 : »… und der romantische Traum einer neuen Religion, die, wie es Novalis … sagt, … eine neue sichtbare Kirche errichtet, die alle Grenzen überwindet und ›alle nach dem Überirdischen durstigen Seelen in ihren Schoß aufnimmt‹, ist zum großen Teil auch noch unser Traum.«317
Einige Momente dieses Traumes seien nun angedeutet: 1) Nicht in der Abgrenzung als einer partikularen Gestalt, sondern in der Überwindung sämtlicher Grenzen solle Kirche sichtbar werden, worin sich ein universaler Gedanke ausspricht. Kirche wird damit nicht in einem Diskurs der Identitätsgebung verortet, sondern auf das »Erbe des Universalismus«, das Vattimo zufolge zu den für das Christentum »konstitutiven Zügen« gehört, verpflichtet. Allerdings ist dieses Erbe durch seine historische Vermengung mit hegemonialen und eurozentrischen Ansprüchen zutiefst kompromittiert und nicht unmittelbar zugänglich. Es bedarf seiner »Wiedergewinnung«318. Ein Ausweg aus den Formen eines kompromittierten Universalismus kann nicht im Rückzug in eine Partikularität bestehen, was mit der Notwendigkeit einer starken Identitätsgebung und mit der Setzung klarer Grenzen anderen gegenüber einherginge, mithin einer Logik des Ausschlusses folgte. Christentum würde sich dadurch als ein Konfliktpartner in den »Raum der interkulturellen Konflikte« stellen. Gegenüber Formen partikularer Identitätsgebung gehe es, wie die Situierung der Überlegungen im Umfeld von Joachim von Fiores Geschichtsdeutung nahelegt, um eine Interpretation des Universalismus von Zukunft und kenosis her. Dies bedeutet zunächst, dass Universalismus nicht als Behauptung im Indikativ auftreten kann, sondern selbst zum Horizont einer auf Zukunft ausgerichteten Aufgabe wird. Vielleicht könnte man das auch so formulieren: Die Frage nach dem Universalismus ist nicht eigentlich Gegenstand dogmatischer Begründung und Versicherung, sondern angesichts der Herausforderungen, die sich der heutigen Weltgesellschaft stellen, unhintergehbares Desiderat. Dies wurde wohl bereits um 1800, als die von Vattimo erwähnten Texte der Romantiker und des deutschen Idealismus etwa zeitgleich verfasst wurden, gesehen. In diesen Horizont stellt sich auch Vattimos Bezug auf die 316 Vgl. Vattimo, Jenseits des Christentums, 49 – 54. 317 Vattimo, Jenseits des Christentums, 52. 318 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 139.
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christliche Religion, welcher nicht zuletzt mit den Begriffen Christenheit und christliche Welt erfolgt; d. h. mit Begriffen, die eine Allgemeinheit der Rede von Religion insinuieren und in ihrer Vagheit deren scharfe Abgrenzung vermeiden wollen. 2) Universalismus als Aufgabe und von einem Zukunftshorizont her zu interpretieren, darf aber nicht auf eine Wiedererlangung von Vorherrschaft und Macht hindeuten, sondern ist auf das Motiv der kenosis verwiesen. Diese Deutung hängt nicht bloß am Begriff der kenosis, sondern ließe sich biblisch wohl auch aus dem Werden eines universalen Horizonts der Geschichtsbetrachtung rekonstruieren. Dafür gilt es ein Wort von Metz im Auge zu behalten: »Gefahr und Gefährdung kennzeichnen den Horizont der Gründungsgeschichten« und der einschneidenden Entwicklungen biblischer Tradition und markieren in dieser Ausgesetztheit »auch die Grundsituation des Christen in der Welt«319. Biblisch entwickelt sich der Gedanke eines Universalismus nicht im Zeichen der Stärke, sondern gerade in der Gefährdung und der Machtlosigkeit des Exils, als die geistige Identität des deportierten JHWH-Volkes angesichts der eigenen politischen Bedeutungslosigkeit und der grandiosen Mythologien der mächtigen Unterdrückervölker auf dem Spiel steht. In der Vergewisserung und Vertiefung der subversiven Exoduserfahrung bricht sich der Gedanke eines universalen Gottes Bahn, dem, wie die Tempel-, Kult- und Herrschaftskritik der biblischen Schriften zeigt, nicht in der Inszenierung imperialer Stärke, sondern in der Ausweitung der Verantwortung, ja in einer universalen Welt-Verantwortung entsprochen werden muss. Das beständige Scheitern an diesem großen Anspruch wird dabei in unverhüllter Schonungslosigkeit geschildert und durchzieht weite Strecken der Bibel. Die Erzählung von der Menschwerdung des Logos wie der Geistsendung nimmt den universalen Gedanken auf und bekräftigt ihn als Aufgabe für alle Menschen und Völker. Viel später hat eine christliche Zivilisation universalistische Ansprüche erhoben und es zugelassen, dass der Gedanke des Universalismus durch gewaltsame Missionierungen, Kolonialismus und Imperialismus getrübt wurde. Wie sich die christliche Religion allzu lange in einem »kompromittierten Universalismus«320 zum Ausdruck brachte, hat sich entlarvt, die Konsequenzen daraus sind aber noch lange nicht in ausreichendem Maß gezogen. Die Aufgabe, vor der die »christliche Welt«, vor der das Christentum heute stehe, sieht Vattimo in einer von den hegemonialen Ansprüchen geläuterten »Wiedergewinnung seiner universalistischen Funktion unter Akzentuierung seiner missionarischen Berufung als Gastfreundschaft und als religiöse Grundlegung (so paradox, wie man will) der Weltlichkeit«321. Zwei 319 Metz, Memoria passionis, 143. 320 Vattimo, Jenseits des Christentums, 133. 321 Vattimo, Jenseits des Christentums, 139.
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Motive sind es, mit denen Vattimo jenen künftigen Universalismus beschreibt: Gastfreundschaft und religiöse Grundlegung der Weltlichkeit. 3) Weltlichkeit, die sich in der westlichen Welt meist nur gegen den Widerstand der kirchlichen Autoritäten ausbilden konnte, meint »das Bewusstsein der Pluralität«322. Vattimo bestimmt sie nicht etwa als Indifferenz oder rein formal, sondern als jene Sphäre, in welcher Kulturen und Religionen einander begegnen können. In der Logik seines Verständnisses von Säkularisation betrachtet Vattimo auch die Idee der Weltlichkeit nicht als Gegenentwurf zum Christentum, sondern als authentische Interpretation und säkularisierende Weiterführung des Gedankens von Inkarnation und kenosis. Vattimos geschichtsphilosophischem Impuls folgend, könne sie nicht unabhängig von dieser Herkunft betrachtet werden, sondern müsse in deren Geschichte verortet werden, was aber auch bedeutete, dass das Christentum vor der Aufgabe stehe, seine meist eher distanzierte Beziehung zur Sphäre der Weltlichkeit zu wandeln und sie aktiv anzunehmen. »Um seine spezifische Authentizität zu respektieren, wird es wichtig, dass das Christentum, wenn es in den interkulturellen Dialog eintritt, sich als Träger der Idee der Weltlichkeit darstellt, welche die Idee des Universalismus der Vernunft selbst ist, die ihrer akzidentiellen […] Verwicklungen in die Ideale des modernen Kolonialismus und Imperialismus beraubt ist.«323
Zwei Motive gilt es festzuhalten: Zum einen führen die Pluralität und die Aufgabe eines interkulturellen Dialogs zu einer Wandlung des Christentums, oder besser sie ermöglichen dem Christentum, in neuer Weise seine Wahrheit zu entdecken. Diese bestehe in der Aufgabe, Träger der Idee der Weltlichkeit zu werden. Zum anderen stellt Vattimo eine Beziehung von religiösem Universalismus und Universalismus der Vernunft her. Er sieht heute nicht nur eine Infragestellung des ersteren, sondern auch eine »Diskreditierung des für die Moderne charakteristischen Universalismus der Vernunft«324. Dieser sei eine Säkularisierung der Symbiose aus biblischem und griechischem Erbe. Biblischer Universalismus und Universalismus der Vernunft teilen als tiefengeschichtlich Verwandte nicht nur das Schicksal ihrer massiven Infragestellung, sondern stehen auch vor einer gemeinsamen Aufgabe, der Vattimo in der Idee der Weltlichkeit einen genaueren Ausdruck gibt. Was aber bedeutet es, dass Vattimo von einer religiösen Grundlegung der Weltlichkeit und vom Christentum als Träger der Weltlichkeit spricht? Das Christentum müsste sich selbst als Bewegung eines Abschieds von hegemonialen Ansprüchen hin zur Entleerung in eine Sphäre der Weltlichkeit zum 322 Vattimo, Jenseits des Christentums, 136. 323 Vattimo, Jenseits des Christentums, 136 (Übersetzung leicht geändert). 324 Vattimo, Jenseits des Christentums, 135.
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Ausdruck bringen und dabei zeigen, dass diese Bewegung einer Säkularisierung, die für es nicht akzidentell ist, sondern gleichsam paradox sein Wesen ausmacht, nicht Relativismus und Indifferenz bedeuten muss. Weltlichkeit könnte sich dann als Bewegung einer Entäußerung eigenen Geltungsanspruches darstellen und darin – weil Nachvollzug der Entäußerung des Absoluten in der kenosis – als ein zutiefst substanzvolles Geschehen anzeigen. Gerade in dieser Bewegung des Abschieds läge dann die (schwache) Identität des Christentums, nicht in einem definierbaren Gehalt oder der Abgrenzung als partikulärer Gruppe. Vattimo hat die Hoffnung, dass diese religiöse Grundlegung der Weltlichkeit im interreligiösen Dialog die Unvermittelbarkeit von Religion und Moderne aufbrechen könne, weil sie zum einen (den Religionen gegenüber) eine Konzeption der Weltlichkeit vorstellig macht, die nicht gegen die Religion gerichtet ist, sondern aus ihr erwächst und deshalb keine Bedrohung darstellen muss; und zum anderen (der Moderne gegenüber) eine Religiosität aufzeigt, welche die Sphäre der Weltlichkeit befördert. Heute, wo der Pluralismus zu den Signaturen unserer Epoche gehört, geht es nicht mehr um einen Kampf der Befreiung von religiöser Bestimmung des gesellschaftlichen Lebens, sondern um eine fundierte Gewinnung jener Weltlichkeit, von der man heute unbefangener sagen könne, sie sei nicht zuletzt religiöses Erbe. In diesem Sinne wäre »die Erneuerung unseres zivilen Lebens im Abendland in der Epoche des Multikulturalismus vor allem ein Problem der Erneuerung des religiösen Lebens«325. Vattimo ist sich der Anfechtbarkeit dieser These bewusst, aber vergessen wir nicht, dass sie Teil eines kühnen Traumes ist, dass sie dem Versuch entspringt, eine Aufgabe und Mission des Christentums in unserer Zeit zu imaginieren. Ihre Bedeutung liegt wohl vor allem darin, dass sie eine auf Zukunft hin offene Option trifft und Christentum aus seinen zentralen Theologumena, besonders aus der Menschwerdung als kenosis, in einem pluralen Kontext neu zu denken sucht. Sie will ein Gegenmodell zu den unzähligen religiösen wie kulturellen Bemühungen der Vergewisserung eigener Identität entwerfen. Die Diskussion um das Christentum oder auch um das so genannte christliche Abendland würde damit aus dem Fahrwasser eines Identitätsdiskurses und dessen Logik des Ausschlusses herausgelöst und in die Frage seiner globalen Herausforderung in pluralen Kontexten transkribiert. Über das Motiv der Gastfreundschaft sucht Vattimo dem noch einen konkreteren Ausdruck zu geben. 4) Vattimos Bezug auf Novalis’ Traum streicht besonders dessen einladenden Charakter hervor, wenn er davon spricht, alle nach dem Überirdischen durstigen Seelen sollten in jene Kirche aufgenommen werden. Allerdings müssen wir heute die Frage stellen, wie dieser einladende Charakter verhindern kann, zu einem vereinnahmenden zu werden. Geist der Gastfreundschaft bringt Vattimos An325 Vattimo, Jenseits des Christentums, 141.
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sicht zufolge »sowohl den weltlichen Charakter der abendländischen Kultur als auch seine tiefreichende christliche Herkunft gut zum Ausdruck«326. Vattimo greift damit ein Motiv auf, das zum biblischen Erbe zählt und darin tief verankert ist, aber auch ohne Bezug auf diese Erzählung in seiner fundamentalen kulturellen Bedeutung vorstellig gemacht werden kann im Sinne eines Aufweises des ontologischen Gaststatus des Daseins, wie dies Hans-Dieter Bahrs groß angelegtes Buch Die Sprache des Gastes in eindrucksvoller Weise versucht.327 Anerkennung und Vollzug des eigenen Gaststatus sind biblisch immer schon Nachvollzug und Entsprechung, denn biblisch ist es Gott selbst, der als Gast und Fremder in die Welt kommt. Dies in einer neuen Aufmerksamkeit herauszustellen ist wohl auch der Katastrophe von Auschwitz geschuldet, die sich als Versuch der Vernichtung jenes Volkes darstellte, das in seiner Unbehaustheit jenen Gaststatus des Menschen zum Ausdruck bringt.328 Vattimo sieht eine besondere Aufgabe des Christentums darin, über den Geist der Gastfreundschaft einen von seinen hegemonialen Ansprüchen befreiten Universalismus zu entwickeln, der sich »als Förderer von Freiheitssphären für den Dialog zwischen Religionen, Weltanschauungen, idealen Orientierungen und verschiedenen Kulturen«329 konkretisieren muss. Ein Universalismus, der im Zeichen einer neuen Menschlichkeit steht und sich als produktive Kraft in den multikulturellen Diskurs einbringen will, bedeutet, »dass man sich in die Hände des eigenen Gastfreundes begibt, sich ihm anvertraut«330 und die Position des Zuhörers einnimmt, der den anderen das Wort lässt.331 Hier handelt es sich nicht darum, eine Haltung der Toleranz zu imaginieren, sondern darum, aus dem Geist des Christentums selbst eine Figur zu entwickeln, welche den Erzählungen der Anderen Raum und eine konstitutive Bedeutung für die eigene »Identität« geben kann. Die eigene »Identität« weist darin eine Offenheit auf, welche sie nicht mehr schließen kann und welche zum einladenden Raum der Anderen wird. Sie wird selbst abhängig von der Annahme der Einladung durch den Anderen und somit Gast seines Wunsches, in eine Begegnung zu treten.332 Vattimo macht den kühnen Versuch, das Christentum nicht als eine »Religion« neben anderen zu denken, sondern als jene Sphäre, in deren Gastfreundlichkeit Begegnung der Anderen möglich werden kann. An dieser Stelle trifft sich Vattimos Idee eines biblisch inspirierten, säkularen, schwachen Universalismus mit der von Johann Baptist Metz in den Vernunft326 327 328 329 330 331 332
Vattimo, Jenseits des Christentums, 141. Vgl. Bahr, Die Sprache des Gastes; dazu auch: Appel, Die Gabe des Gastes. Vgl. dazu etwa: Metz, Zum Begriff der neuen politischen Theologie, 153 f. Vattimo, Jenseits des Christentums, 138. Vattimo, Jenseits des Christentums, 138. Vgl. Vattimo, Jenseits des Christentums, 139. Vgl. dazu Bahr, Die Sprache des Gastes.
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diskurs eingebrachten Konzeption einer hörsamen, auditiven Vernunft, welcher das Gehör und die Verwiesenheit auf den Anderen, den Fremden, ja den Leidenden eingeschrieben ist. Metz spricht von einer »universellen Verantwortung«333 und einem Logos der Theologie, welcher selbst um der Unhintergehbarkeit fremden Leides willen einen über die Grenzen der Religion hinaus in die Pflicht nehmenden Universalismus behauptet, der sich freilich nur mehr in schwachen Kategorien auszudrücken vermag. 5) Wo Vattimo auf den Traum Novalis’ zu sprechen kommt, zeigt sich in seinem Konzept, welches das Motiv der Schwächung so ins Zentrum auch der Frage nach dem Christentum rückt, wieder ein ekklesiales Moment, ist doch von der Errichtung einer neuen sichtbaren Kirche die Rede, die mittels der Überwindung aller Grenzen und ihrer gastlich aufnehmenden Funktion näher bestimmt wird. Bevor das nächste Kapitel darauf näher eingehen kann, sei noch eine Analogie festgehalten, die sich an dieser Stelle zu Vattimos Verständnis des Sozialismus anzeigt und eine weitere Einsicht in den Begriff der Schwächung zu geben vermag. Diese meint nicht ein Kokettieren mit einem selbstlaufenden dekonstruktiven Gestus im Sinne einer »›permanenten Revolution‹«, welche sich »das Problem des Danach« nicht stellt. Vattimo bezieht sich auf diese Problematik in politischem Kontext, wenn er sich in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises 2002 für politisches Denken gegen die Abstraktion ausspricht, die »Erfahrung der Authentizität« des kritisch-umstürzend-revolutionären Momentes so weit als möglich zu verlängern und dabei nie zu »politisch-institutionellen Projekten« zu gelangen. Jene Haltung könne in die Hoffnung einer religiösen Erlösung münden, welche unerreichbar ins Jenseits der Geschichte ausgelagert ist (Hegels unglückliches Bewusstsein) und der gegenüber alle geschichtlichen Manifestationen als Verrat erscheinen müssen, oder aber in eine ästhetische Verklärung des Kritisch-Revolutionären. Demgegenüber hält Vattimo an der Aktualität eines von ideologischen Fixierungen und Monstrositäten erleichterten Sozialismus und dessen Potentialen der Befreiung fest, die es ermöglichen, die »Frage der Anerkennung« zu stellen.334 Angezeigt sei eine Tendenz der Schwächung, nicht jedoch ein permanenter Prozess der Destruktion, an dessen Ende das positivierte Nichts stünde. Es verwundert von daher nicht, dass Vattimo analog dazu auch hinsichtlich der Religion wieder die Frage nach konkreten Verkörperungen institutioneller und persönlicher Art stellt. Es gilt, die Gestalt jener Halbgläubigen, die am Übergang von Theismus und Atheismus stehen, in den Blick zu nehmen.
333 Metz, Zum Begriff der neuen politischen Theologie, 200. 334 Vgl. Vattimo, Zwischen Populismus und Globalisierung.
»zu glauben glauben« – Apologie des Halbgläubigen
In den bisherigen Überlegungen war von einer Verschränkung von Hermeneutik und biblischer Herkunft die Rede. Jene Wiederkehr biblischer Botschaft, die sich heute darin anzeigt, lässt das Christentum selbst nicht unberührt. Es geht nicht (mehr) um das Wiederfinden einer religiösen Wahrheit, die als ein der Geschichte enthobenes Depositum bereitläge, sondern um ein Erbe, das zu einer Zeit (um mit Heidegger zu sprechen: geschichtlich-geschicklich) wieder neu zur Sprache kommen und gehört werden kann. Dieses Erbe begegnet, unabweisbar die Signatur der Wiederkehr, die jede unmittelbare Berufung auf ein wiedergefundenes Fundament schwächt, an sich tragend. Der Prozess der Wiederkehr der Religion, der nichts vom Triumphalismus eines Sieges des Glaubens über den Unglauben an sich hat, erweist sich, der christlichen Botschaft nicht äußerlich, akzidentell, zufällig zu sein, sondern macht mit dem Charakter der Wiederkehr ein Moment des Geistes des Christentums deutlich, das bislang vielleicht nicht in dieser Weise gesehen werden konnte. Die Spätmoderne wäre dann nicht bloß die Zeit der Glaubenslosigkeit, die allenfalls vom apokalyptischen Einbruch einer Rückkehr der Religion unterbrochen würde, sondern stellt vor die Aufgabe, sie in ihrer sich möglicherweise eröffnenden Verbindung zur biblischen Botschaft zu lesen. Darin könnte die Spätmoderne eine neue Interpretation dieser offenbaren und sie zu einer bestimmten Interpretation der Spätmoderne aufrufen: Diese verschränkte Lesart von Spätmoderne und christlicher Erzählung ist nicht richtungslos, sie zeigt eine auf Emanzipation angelegte nihilistische Berufung an, der es zu folgen und die es gegenüber einem sich manifestierenden, zernichtenden Nihilismus zu bedenken gilt. Die Erfahrung der Wiederkehr ist der Religion nicht äußerlich zufällig, sondern zeigt einen konstitutiven Zug ihrer Botschaft. In zirkulärer Struktur ließe sich sagen: Dass wir heute Religion als Wiederkehr erfahren können, hängt mit unserer
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»zu glauben glauben« – Apologie des Halbgläubigen
Zugehörigkeit zu jener Kultur zusammen, die zutiefst von jener Religion der Parusie geprägt ist.335 Welche Bedeutung hat diese riskante Deutung für die christliche Religion und die Gestalt der Gläubigen selbst, wenn diese eben nicht unverändert aus jenem geschichtlich-geschicklichen Prozess hervorgehen? Dieser Frage hat Vattimo in den Schriften der letzten Jahre breiten Raum gegeben, ohne sie freilich einer abschließenden Antwort zuführen zu können. Es geht ihm nicht um die Entwicklung eines neuen dogmatischen Ansatzes, sondern um die Eröffnung einer Besinnung auf eine Gestalt von Religion, wie sie sich als kritische Entsprechung zur Zeit der Spätmoderne darstellen kann – nach der Zeit der Religionskritik und, wie Santiago Zabala in einer Festschrift für Vattimo betont, »jenseits von Theismus und Atheismus«336. Es geht auch nicht um die Rückkehr zu einer bestimmten, gegebenen Gestalt der Religion. Wiederkehr ist eine wechselseitige Bewegung, welche Botschaft und Hörende gleichermaßen umgreift und beide Pole in einer neuen Erfahrung nicht unverändert hervorgehen lässt. Mit der Erfahrung der Wiederkehr, nicht mit einer Darstellung des Kerns der christlichen Religion setzt auch das kleine, aus einem Interview hervorgegangene Buch Glauben – Philosophieren ein, was dieser Schrift eine deutlich persönliche Färbung verleiht. Bereits im ersten Absatz des Textes betont Vattimo einen Wandel in der Diktion, der mit diesem seinem neuerlichen Sprechen über Religion einhergehe. Angezeigt ist eine Fragestellung, die ein »Sprechen in der ersten Person«, eine »notwendig ›persönliche‹ und engagierte Schreibweise« erfordert, was auf die Religion als auf ein »Thema« verweist, das sich einer letzten reflexiven Distanzierung entzieht, nicht jedoch die Artikulation bloß subjektiver Befindlichkeit meint. (Autobiographische Elemente fließen nur selten und wenn, dann in sehr zurückhaltender Weise in jenes Buch ein.) Halbmayr und Ruhstorfer kommen in ihrer Einschätzung darin überein, dass jenes Buch »im Stil der Confessiones eines Augustinus gehalten«337 sei, und beziehen es damit auf eine große Tradition zurück, an die es freilich nicht unmittelbar anschließen, sondern die es nur wie von ferne zitieren kann. Mit dem Begriff der Wiederkehr rückt Vattimo einen unhintergehbar allgemeinen Charakter der Betrachtung ins Blickfeld, ein »kulturelle[s] Klima«338, das nichts mit der Darstellung einer Entscheidung individueller Rückkehr zur Religion, die
335 Die folgenden Überlegungen wurden zum Teil in ähnlicher Form veröffentlicht in: Deibl, »Glauben zu glauben«. 336 Zabala, Gianni Vattimo and Weak Philosophy, in: ders. Hg., Weakening Philosophy, 26 (im Original Englisch). 337 Halbmayr, Vattimo, Gianni. Glauben – Philosophieren (Rezension), 217; Ruhstorfer, Christologie, 24. 338 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 7.
»zu glauben glauben« – Apologie des Halbgläubigen
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lediglich ein zufälliges Wiederentdecken einer bereitliegenden vergessenen Wahrheit imaginierte, zu tun hat. Vattimo bezeichnet sich als einst militanten Katholiken, welcher sich im Laufe seiner philosophischen Studien und aufgrund von persönlichen Erfahrungen von Religion und Kirche entfernt habe, dann aber die Frage nach der Religion – persönlich und in seinem Umfeld – als eine wiederkehrende erlebt.339 Was wie mehrere Wenden in der Haltung Vattimos aussieht, lässt untergründig doch eine Kontinuität erkennen, welche in der Nähe von schwacher Ontologie und christlicher Botschaft besteht: »Es ist das Christentum, in dem ich denjenigen ›Text‹ im Original finde, dessen Transkription die schwache Ontologie ist. Und zu dieser bin ich höchstwahrscheinlich gerade deshalb gelangt, weil ich von jenen christlichen Wurzeln ausging.«340 Vattimo habe jedoch nie daran gedacht, auch zur »zugleich bedrohlichen und beruhigenden Disziplin«341 der Kirche zurückzukehren, bedeutete dies doch letztlich eine Form der Suspendierung der für das Christentum charakteristischen Unsicherheit, Not und Bedrängnis. Es geht nicht um »gläubige« Rückkehr zu einem Kernbestand, der sich durch einen klar umrissenen dogmatischen Gehalt, »durch bestimmte positive Aufgaben auf der Ebene der Moral«342 und die kirchliche Disziplin als christliche Existenz definieren lasse. Vattimo sieht sich vielmehr als Halbgläubiger, der das Recht fordert, »von Neuem das Wort des Evangeliums anzuhören, ohne deshalb die zutiefst abergläubischen Anschauungen auf philosophischem und moralischem Gebiet, die es in der offiziellen Lehre der Kirche noch verdunkeln, teilen zu müssen«343. Die halbgläubige Zuwendung zum christlichen Erbe hat nichts mit den sooft als Charakteristika der spätmodernen Welt beargwöhnten Haltungen des Eklektizismus, Relativismus und der Indifferenz zu tun, sondern mit der Treue des Hörens auf das Wort und der Treue zum Geschick der Spätmoderne. Diese Erfahrung eines kulturellen Klimas versucht Vattimo in einer »Apologie des Halbgläubigen«, einer Apologie dessen, der glaubt zu glauben, in Sprache zu heben.344 Das Wort credere di credere (glauben zu glauben) – als spontane Antwort auf die Frage, ob er denn noch an Gott glaube, gegeben – scheint Vattimo die beste Beschreibung seiner Beziehung zur Religion zu sein. Bedenkt man, wie zu339 Einen biographischen Überblick über Werk und Arbeit Vattimos bietet der einleitende Aufsatz von Santiago Zabala »Introduction: Gianni Vattimo and Weak Philosophy« in der Festschrift »Weakening Philosophy« anlässlich Vattimos 70. Geburtstages. Vgl. Zabala (Hg.), Weakening Philosophy, 3 – 34. 340 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 76, 34. 341 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 35. 342 Vattimo, Os m¦, 181. 343 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 83 f. 344 Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 75 – 77; 107.
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rückhaltend er trotz des Sprechens in der ersten Person mit der Schilderung persönlicher Befindlichkeiten ist, so fällt auf, dass er im Zusammenhang mit der Genese jenes Wortes sehr genau das Umfeld einer zerstreuten Aufmerksamkeit in der Großstadt Mailand erzählt: eine Telefonzelle bei einer Fernbusstation nahe einem Eissalon, ein Telefongespräch, der Verkehr, das Stimmengewirr der Leute, die Hitze … Eine persönliche Involviertheit, die an dieser Stelle unvermutet in die Beschreibung drängt, weil sie sich intellektuell nicht distanzieren lässt, und die ganz eingelassen ist in das Ensemble postmoderner Lebenswelt, klingt darin an. Jene Antwort, deren Aufgang Vattimo beschreibt, vermag jedoch nicht in dieser Unmittelbarkeit festgehalten zu werden, sondern muss ins Wissen gehoben werden. Versuch dessen ist jenes bereits erwähnte Buch, das Vattimo unter den Titel Credere di credere stellt, um später, im Vorwort von Jenseits des Christentums, über die »Übersetzungen«, die jener Titel erfahren hat, zu reflektieren. Der Titel ist zunächst Hinweis auf den Antwortcharakter des Buches. Nicht aus persönlicher Laune hervorgegangen, bezieht es sich auf den kurz zuvor erschienen Briefwechsel von Umberto Eco und Carlo Martini, der den Titel In Cosa crede chi non crede? (Woran glaubt, wer nicht glaubt?, 1995/96) trägt. Auffallend ist, dass in beiden Titeln credere eine zweimalige Aufnahme erfährt, mithin in der Form der Wiederholung zum Ausdruck kommt. Die spanische (Creer que se cree), französische (Esp¦rer croire) und die deutsche (Glauben – Philosophieren) »Übersetzung« bringen alle (auf freilich verschiedene Weise) die dem italienischen Original eigene spannungsreiche Wiederholung, die in der doppelten (reflexiven) Verwendung des Wortes credere besteht, zum Ausdruck, sei es durch Wiederholung, doppelte Infinitivkonstruktion oder die mit Gedankenstrich verbundenen (scheinbaren) Gegensätze. Anders jedoch die englische Übersetzung (Belief), welche nur aus einem Wort besteht und die für das Original charakteristische Spannung nicht aufbauen kann.345 Dass Vattimo auf die sprachlichen Unterschiede hört, in denen das von ihm geprägte Wort auftritt, zeigt die Schwierigkeit an, für die Erfahrung der wiederkehrenden Religion, die sich dem Halbgläubigen eröffnet, eine adäquate Ausdrucksweise zu finden. Es handelt sich eben um eine genuin spätmoderne Erfahrung, die sich nicht ohne weiteres auf frühere Formen des Glaubens (und Unglaubens) zurückführen lässt. Was Vattimo wiederfindet, ist ein Christentum, »wie es in der Epoche des Endes der Metaphysik […] erscheint«346. Die Reflexion auf die unterschiedlichen Buchtitel verweist darauf, dass sich mit der Erfahrung der Wiederkehr der Religion die Frage der Übersetzung einstellt – wie kann es in unserer Zeit, in einem bestimmten kulturellen Kontext möglich sein, jener Erfahrung einen allgemeinen Ausdruck zu geben? Welchen Charakter des Wissens 345 Vgl. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 7 f; Glauben – Philosophieren, 75 f. 346 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 44.
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hat die Religion? Vattimo stößt diese Fragen an und weist jede distanzierte Betrachtungsweise zurück. Die von Vattimo akzentuierte Treue gegenüber dem Wort des Evangeliums deutet mit dem Terminus halbgläubig an, dass jene Ver-antwort-ung gegenüber Herkunft und Erbe mit den Kategorien einer Trennung von gläubig und ungläubig nicht mehr adäquat gefasst werden kann – und zwar nicht allein deswegen, weil diese Trennung dem spätmodernen Bewusstsein nicht mehr entspricht: Vattimos Apologie des Halbgläubigen rekurriert auf eine Kontinuität der Bezeugung des Wortes, die konstitutiver ist als eine Aussonderung der Gemeinschaft der Gläubigen, welche den Ungläubigen gegenüberstünde. Dies ist schon im Geist des Christentums als Religion des menschgewordenen Wortes angelegt: Nur im Verklingen vermag das Wort, anders als die Schrift, seine Bedeutung zu entfalten und in der Diskretion seines »Verscheinens« in die Kontinuität einer Interpretationsgeschichte einzutreten. Die Treue zum Wort ist Treue zu einem Entschwinden, das an eine Geschichte bindet, die gleichwohl nicht festzuhalten, gegenwärtig nur als Spur ist. Nicht in einzelne Augenblicke der Verklärung (als des apokalyptischen Einbruchs des Göttlichen) ergeht sich die Gestalt des Halbgläubigen; sie ist Treue zu einer Geschichte, die sich uns immer auch entzieht, die gänzlich zu assimilieren wir nicht mehr vermögen und der wir in keiner institutionellen Gestalt mehr eine umfassende Repräsentanz gewähren können. So ist sie Verkörperung einer der christlichen Gemeinde aufgegebenen je neuen Selbstüberschreitung um der Botschaft des Wortes des Evangeliums willen. Eine Charakterisierung, es handle sich bei der Gestalt des Halbgläubigen um Menschen, die noch auf der Suche nach der letzten Wahrheit seien, ist wohl zutreffend, den christlichen Glauben als Antwort und sicheres Fundament zu apostrophieren, greift jedoch zu kurz, ist jener Glaube doch nicht Gegenstand, sondern selbst Ausdruck dieser Suche. Jene halbgläubige Haltung umfasse auch eine »Wiederentdeckung der Kirche«347, die aber nicht identisch mit der kirchlichen Autorität sei.348 Kirche ist für Vattimo als eine Erinnerungs- und Interpretationsgemeinschaft der auf das Wort des Evangeliums Hörenden und Antwortenden zu verstehen. Sie meint einen nicht mehr scharf umgrenzbaren Raum der Anerkennung, der sich auf die biblische Tradition verpflichtet weiß und in dem das Wort des Evangeliums lebendig interpretiert werden kann. Vattimo insistiert mit dem Begriff der Liebe, der caritas, welche er eher im Sinn des jungen Hegel als noetische Kategorie denn als ethische Vorschreibung oder erbaulichen Moralismus versteht, auf
347 Vattimo, Abschied, 167. 348 Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 63.
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einen Anerkennungsraum349, welcher Grundlage für die geistvolle »Kontinuität« einer Botschaft ist. Diese erschöpft sich weder bloß in buchstäblich getreuer Weitergabe noch insinuiert sie eine Beliebigkeit der Auslegung. Die »Logizität«350 einer Kontinuität oder in anderen Worten ein geistiges Band der pietas gewährt eine Verbindung zu den früheren wie auch zu den gegenwärtigen Hörern und Interpreten der Botschaft.351 Das ist das Werden einer »Kirche als ›Bezugs‹-Gemeinschaft für die Gültigkeit und Kontinuität der Geschichte der Interpretation«352, was Vattimo mit dem Insistieren auf dem Begriff der Tradition, von der die Heilige Schrift nicht getrennt werden dürfe, herausstreicht.353 Die »Beziehung zur lebendigen Gemeinschaft der Gläubigen« ist aber gleichwohl nicht von der Aufgabe »der persönlichen Neuinterpretation der christlichen Botschaft«354 zu lösen, weil es Kirche als lebendige Gemeinschaft der Glaubenden auch nicht, ohne »in der eigenen Existenz« aus den Glaubensartikeln »fleischgewordene Prinzipien zu machen«355, gibt. Vattimo denkt Kirche vom Sich-Ereignen lebendiger Kontinuität und Vermittlung der Botschaft des Heils her. Christlicher Glaube kommt vom Hören, er ist »fides ex auditu«356, wir glauben, weil uns eine Botschaft überliefert wurde. Es ist ein konstitutiver Zug religiöser Erfahrung, »sich immer schon in einer Tradition, einem Glauben vorzufinden«357. Wir glauben, weil wir gehört haben, wie auch die Menschen früherer Zeiten »glaubten, weil sie gehört hatten«358 : »Es ist kein Skandal zu sagen, dass wir nicht deshalb an das Evangelium glauben, weil wir wissen, dass Christus auferstanden ist, sondern dass wir an Christi Auferstehung glauben, weil wir von ihr im Evangelium lesen«359, ja weil es eine Kontinuität der Überlieferung in Verkündigung, Feier und Tun gibt, die uns dies zu Gehör bringt. Übrigens berichten auch die Evangelien, dass nicht das Faktum des leeren Grabes zum Glauben führte, sondern jene Botschaft, die ihnen die Engel oder der Auferstandene selbst zu Gehör brachten. Der in paulinischer Tradition stehende zweite Brief an Timotheus bindet Rettung und zu Gehör gebrachten Ruf ganz eng aneinander und spricht dabei von der Zernichtung des Todes und dem Ans-Licht-Bringen des Lebens durch die frohe Botschaft: 349 Vattimo, Jenseits des Christentums, 152 – 154; vgl. auch: Müller, Glauben – Fragen – Denken, Bd. 1, 157 – 158. 350 Vattimo, Abschied, 166. 351 Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 191 – 195. 352 Vattimo, Abschied, 166. 353 Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 97 f. 354 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 98. 355 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 85. 356 Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 60. 357 Vattimo, Os m¦, 172. 358 Vattimo, Os m¦, 172. 359 Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 56.
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»… ich leide mit für die frohe Botschaft nach der Kraft Gottes, der uns gerettet und gerufen hat mit einem heiligen Ruf – nicht gemäß unserer Werke, sondern nach eigener vorausgehender Feststellung und Gnade, gegeben uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten, offenbart aber jetzt durch die Erscheinung unseres Retters Jesus Christus, der den Tod zunichte gemacht hat und Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch die frohe Botschaft …«360
Kirche als Erinnerungs- und Interpretationsgemeinschaft Hörender zu verstehen, ist der christlichen Botschaft als inkarnierter und im Geist präsenter nicht äußerlich, sondern entspricht ihrem Vollzugssinn. Diese den heutigen geschichtlich-geschicklichen Bedingungen geschuldete Transkription eines ekklesialen Gedankens legitimiert »sich allein durch die Auflösung der Metaphysik der Präsenz (Anwesenheit)«, d. h. sie steht selbst in einer bestimmten Zeit und kann »daher nicht außerhalb des Horizonts dieser Auflösung beansprucht werden«361, als handelte es sich um die Entdeckung einer überzeitlichen ungeschichtlichen Struktur von Kirche. Von jenem Horizont, aus dem sich jenes Verständnis von Kirche lernen lässt, ist es nicht abzulösen. Wo sich eine Kontinuität des Wortes des Evangeliums in lebendiger Interpretation einstellt und diese nicht privatistisch alleine bleibt, sondern auf Gemeinschaft hindrängt, da ereignet sich Kirche. Sie hat keine fixierte, überdauernde Gestalt, sondern ist unter der Dimension des Geistes zu denken, was ihr eine letzte Grenzziehung versagt und sie in ihrer konkreten Ausgestaltung je neu auf ihr »Außen« verpflichtet. Sie muss ihre eigene Verfasstheit transzendieren und sich immer wieder von ihren unscharfen Rändern, ja von »außen« sagen lassen, wo ein geistiges, die Immanenz der Welt durchbrechendes Moment aufgeht. Die Treue zum Wort des Evangeliums, wie sie eine halbgläubige Haltung charakterisiert, bringt vielleicht etwas zum Ausdruck, was viele Menschen (implizit) teilen, die ein Zerbrechen kirchlicher Strukturen nicht am Hören der biblisch überlieferten Botschaft hindert, welche aber auch nicht aus der erreichten Entwicklung und dem Problemhorizont einer Gesellschaft flüchten wollen. Vielleicht kann jene Treue zum Wort, wo auch immer sie statthat, die wesentlichen Elemente christlichen Vollzugs, nämlich Formen der Anamnese, Epiklese und Doxologie, der Gemeinschaft, Diakonie, Feier und Reflexion wahren helfen und ihnen einen unvorhersehbaren (säkularen) Ort geben. »Kirche« muss sich demgegenüber als Lernende und Hörende bescheiden. Kirche als Erinnerungs- und Interpretationsgemeinschaft muss sich gleichwohl objektive Manifestationen geben, wenn auch diese im Hören immer wieder aufgebrochen werden und sie konstitutiv auf ihr Außen, auf die Anderen, auf ein Überschreiten ihrer eigenen Gestalt angewiesen bleibt. Es muss einen objektiven 360 2 Tim 1, 8 – 10; Hervorhebungen hinzugefügt. 361 Vattimo, Abschied, 167.
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Geist, der sich in Kultur, Feier, Bauwerk, Bild und Musik zum Ausdruck bringt, geben, markieren diese Elemente doch gerade die geschichtliche Dimension dessen, was sonst abstrakt bliebe und lediglich als ungeschichtliche Idee firmierte. Als Zabala in einem Gespräch mit Vattimo die durch postmoderne Dekonstruktion gegangenen Begriffe Solidarität, Nächstenliebe und Ironie an die Stelle des ihm als problematisch erscheinenden Begriffs »Wissen« zu setzen gedenkt, streicht Vattimo explizit heraus, dass sich diese Haltungen Objektivität, Welthaftigkeit, ein gegenständliches Moment geben, mithin also im Horizont des »objektiven Geistes« stehen müssen und der Dimension des Wissens nicht entbehren können.362 So ist Zabala zu widersprechen, wenn er in Berufung auf Vattimo und das schwache Denken die Zukunft der Religion in einer völligen Privatisierung und einem Rückzug aus dem Bereich des Allgemeinen und der Gestaltgebung (Existenz einer Kirche, Beziehen einer politischen Position etc.) sieht. Dies gipfelte schließlich in der Suspendierung jeglicher Wahrheitsfrage, d. h. dass Hermeneutik und Christentum aus postmetaphysischer Perspektive alle Wahrheitsfragen entschlossen ausklammerten.363 Ein Aufgeben der Artikulation von Wahrheit und eine Sistierung der Wahrheitsfrage bedeutet jedoch nicht allein einen Verzicht auf die Anmaßung übertriebener Geltungsansprüche, sondern gibt gerade auch das Geschichtliche, die Objektivität und den Wirklichkeitsgehalt preis, bedeutet doch Wahrheit unumgänglich eine Entäußerung zur Wirklichkeit, welche als das Aus-gesetzt-Sein in die Unsicherheit des Überlieferungs- und Interpretationsprozesses, in welchem sich »Wahrheit als Kontinuität«364 gibt, gedacht werden muss. Eine Religion, welche sich ganz in den Bereich des Privaten zurückzieht und welcher jede »Kraft der Entäußerung« schwindet, führt indes nur mehr ein schwindsüchtiges Schattendasein in der Angst, ihr abstraktes »Inneres durch Handlung und Dasein zu beflecken«365 und kann unter der Ägide der Reinheit stehend auch keine Rolle in einem Überlieferungs- und Interpretationsprozess, welcher immer Verunreinigungen366 und »Kontaminationen«367 bedeutet, mehr spielen. Die offizielle, institutionelle Kirche ist für Vattimo Teil eines wieder entdeckten Christentums, doch kann sie nicht die Komplexität dieses Ereignisses zum Ausdruck bringen. »Das Christentum, das ich wiederentdecke, oder das wir Halbgläubigen von heute wiederentdecken, schließt mit Sicherheit auch die offizielle Kirche ein; jedoch nur als 362 363 364 365 366 367
Vgl. Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 90 f. Vgl. Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 26 f. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 43. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 483. Vgl. Vattimo, Ethik des Denkens, 80. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 19; vgl. auch Hermeneutik und Anthropologie, in: ders., Das Ende der Moderne, 175 f.
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Teil eines komplexeren Ereignisses, das auch die Frage der ständigen Neuinterpretation der biblischen Botschaft umfasst.«368
Jenes komplexere Ereignis ist die Lebendigkeit des Wortes des Evangeliums, dessen Erben wir sind. Eine Kirche, deren Wiederentdeckung Teil der Wiederkehr der Religion sein könnte, deutet Vattimo im Traum des Joachim von Fiore an. Es handelt sich um den Traum einer Kirche, in welcher und durch welche für Menschen alle Grenzen überwindend erfahrbar werden kann, dass Gott uns nicht mehr Knechte sondern Freunde heißt. (Jo 15, 15) Das verpflichtet die Kirche je neu auf Umkehr, um darin jenem Gott zu entsprechen, »der sich inkarniert, sich erniedrigt und alle Mächte dieser Welt beschämt …«. Vattimo benennt an dieser Stelle auch eine konkrete Vision für Kirche, die ihr Verhältnis zum Judentum betrifft. Dies gilt es gegenüber dem von Frederiek Deporteere erhobenem Vorwurf hervorzuheben, Vattimo tendiere durch eine Erfüllungschristologie und die Betonung der Diskontinuität von Altem und Neuem Testament zu einem Antijudaismus, der für das Judentum als genuine Gestalt keinen Raum lasse.369 Vattimo hat die Hoffnung, dass in der Schwächung kirchlicher Rigidität und der Erstarrung sich verselbstständigt habender rechtlicher und dogmatischer Strukturen die Geschichtlichkeit, der die Kirche verpflichtet ist, und die Tradition, auf welche sie zurückblickt, in neuer Weise sprechend werden könnten als eine Tradition, welche wie das christliche so »auch das jüdische Erbe enthält«. Zersetzt sich die Geschlossenheit in sich ruhender theologischer Begründungsfiguren, werden wir zurückgeworfen in ein andenkendes, erinnerndes Verhältnis zur Tradition. Nicht wir sind es dann, die die Tradition verwalten, sondern sie ist es, die uns Anteil haben lässt, die durch uns spricht. Was bedeutet es christlich, so müssen wir fragen, dass diese Tradition, die uns konstituiert, ohne ihr jüdisches Erbe zerfällt? Könnte diese gesteigerte Aufmerksamkeit für die Geschichtlichkeit und den Traditionszusammenhang auch der Zusammengehörigkeit der »beiden Seelen dieser Tradition«370, der jüdischen und der christlichen, eine Gestalt geben, ohne dass es dabei zu Vereinnahmungen des Jüdischen kommt? Könnte sich die christliche »Identität« auch dadurch als offene zeigen, dass sie ein jüdisches Erbe enthält, das von christlicher Seite nie assimiliert werden kann, und so eben zwei Seelen einer Tradition bleiben? Sieht man die Gestalt des Halbgläubigen als eine authentische Figur der Wiederkehr an und gesteht ihr etwas mehr Substanz zu, als sie bloß über einen notorischen Mangel an Übereinstimmung mit dem Corpus der christlichen
368 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 64. 369 Vgl. Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 20 f, 140. 370 Vattimo, Jenseits des Christentums, 56.
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Inhalte371 oder als eine postphilosophische Modeerscheinung, welche die Grenzen zwischen Philosophie und Theologie verwischt372, zu deuten, so erhebt sich eine Fülle von Fragen. Nicht zuletzt deshalb bezeichnet sich Vattimo als Halbgläubiger, weil er all diese Fragen nicht erschöpfend beantworten kann: Welche Inhalte des Christentums gehen im Sinne einer (spät)modernen Transkription in den Übergang einer Säkularisierung ein? Wo ist deren Grenze? Was ist nun genau jene Lehre, in Bezug auf welche er sagt, er glaube zu glauben? Und wie können die Transkriptionen einzelner Inhalte der christlichen Tradition tatsächlich aussehen?373 Die Ausführungen Vattimos verhehlen diese Schwierigkeit nicht, und ohne Elemente der Tradition preisgeben zu wollen, bekennt er sich immer wieder zur bloß fragmentarischen Form seiner Ausführungen.374 Die Gestalt des Halbgläubigen führt nicht zu einer systematischen Darstellung des Wandels sämtlicher Inhalte der christlichen Tradition, zu einer Neuformulierung der christlichen Lehre375 oder der Gestalt der Kirche. Vielmehr wird sie zur Verkörperung von deren Offenheit und einem je neu zu vollziehenden Übergang. Religion wird dann selbst von einer Fraglichkeit durchzogen; diese korrespondiert jener Schwäche, auf die sie die Erzählung von der kenosis verpflichtet.
371 Vgl. Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 21 f. Depoortere benennt an dieser Stelle jene Inhalte christlicher Tradition, die in Vattimos Darstellung ausfallen. 372 So etwa in Wenzel, Gretchenfrage, Art. in: NZZ 3. Juni 2006. 373 Vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 85. 374 Vgl. Vattimo/Giorgio/Dotolo, Dio: la possibilit buona. 375 Vgl. Bauer, Säkularisierung als Verwindung des Todes Gottes?, 75.
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Das Verhältnis von Kunst und Religion in spätmoderner Lebenswelt harre Vattimo zufolge einer Neubestimmung – nicht zuletzt deshalb, weil dabei auch etwas von der halbgläubigen Haltung als authentischer spätmoderner Existenzform ansichtig werden könne. Zumal jedoch der Hauptstrom der ästhetischen Theorien diesem Verhältnis nicht ausreichend Beachtung schenke, beginnt Vattimo in Jenseits der Interpretation seine Überlegungen dazu nicht mit der Relektüre gegenwärtiger ästhetischer Konzepte, sondern mit der Reflexion auf zwei Orte, an denen Kunst und Religion aufeinandertreffen: Kirche und Museum. Beide Orte werden von Menschen aufgesucht, die sich eine Zeitlang in ihrem Ambiente aufhalten, und bringen dabei in Begegnung mit Kunst. Sie stellen, zumal es sich nicht selten um Kunst vergangener Epochen handelt, vor die Frage einer Wiederkehr : Können Kunstwerke im lebendigen gottesdienstlichen Vollzug in anderer Weise Aktualität erfahren als in der Betrachtung im Museum? Sind Museen vielleicht zu dem Ort spätmodernen Bewusstseins geworden, als in ihnen Kunstwerke (verschiedener Stile, Richtungen und kultureller Herkunft) als kristallisierte Erfahrungen meist vergangener Zeit nebeneinander gestellt werden und unsere zerstreute Aufmerksamkeit von einer Epoche zur nächsten, von einer Stilrichtung zur anderen gleiten lassen und so vor die Frage nach dem Verhältnis zur Vergangenheit stellen? Was bedeutet der Besuch von Kirchen aus »vorwiegend ›ästhetischen‹ Gründen«376 wie der Feierlichkeit der Liturgie, deren musikalischer Gestaltung oder der Bewunderung von Malerei und Architektur? Kann auf der anderen Seite die Betrachtung religiöser Kunstwerke in Museen auch eine Motivation haben, die sich nicht in Kategorien der Ästhetik begreifen lässt? Immer wieder wird man bei diesen Überlegungen darauf stoßen, dass eine »gläubige« und eine »ästhetische« Haltung gar nicht streng zu trennen und vorwiegend ästhetische Gründe von »›authentisch‹ religiösen zu unterschei-
376 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 75.
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den«377 sind. Muss diese Unterscheidung selbst fragwürdig werden? Worin gründet sie eigentlich? Vattimo optiert für eine Neubesinnung auf das Verhältnis von Kunst und Religion, die Kunst weder als ein ephemeres Phänomen der Religion noch als deren Überbietung, d. h. als angemessenere Form der Wahrheitserfahrung, beurteilt. Kunst, Religion und Philosophie in bloßem Nebeneinander als gleichberechtigte, einander äußerlich bleibende, »untereinander nicht in Konflikt geratende Weisen des Zugangs zur Wahrheit«378 zu sehen, erweist sich aber auch nicht als gangbarer Weg, zumal sich dieses Haltung der Frage ihrer Verhältnisbestimmung nicht stellt und damit ein wesentliches Problem spätmoderner Lebenserfahrung umgeht. Ästhetik müsse hingegen in der »konkreten und konstitutiven Beziehung zur Religion, in der sich die Kunst im Laufe des die Moderne charakterisierenden Säkularisierungsprozesses befindet«379, bedacht werden. Als entscheidend dafür erweist sich für Vattimo der Begriff des Mythos, der jedoch gänzlich unklar geworden sei. Nicht zuletzt angesichts der Veränderungen, vor welche wir durch die spätmodernen Medien-Welten gestellt sind, zeigt sich »das Problem, die eigene Position hinsichtlich des Mythos neu zu definieren, als eines der dringlichsten«380. Auch die Kompetenz der Theologie, »jenseits kindischer (Pseudo)Naivität und abgeklärter, letztlich ungläubiger Rationalität« einen Begriff des Mythos auszubilden, scheint gering, wie Appel in Zeit und Ewigkeit konstatiert: »Tatsächlich scheint es heute so zu sein, dass gerade die Theologie weit von einem freien Zugang zum Mythos entfernt ist (was schon Bonhoeffer gegen Bultmann kritisiert hat) und es philosophischer Denker wie Pareyson, Vattimo oder sogar Zizek (alle drei nicht zufällig Erben Schellings und Hegels) bedarf, um der Theologie ihre genuine Sprachform zurückzugeben.«381
Wie könnte der Mythos als genuine Sprachform der Theologie heute aussehen? Wie kann man sich dem Begriff des Mythos annähern? Vattimo zufolge firmiert er in der aktuellen Diskussion besonders in drei idealtypischen Positionen, welche jedoch im Status einer gefühlten, mehr intuitiven Aufmerksamkeit für seine Bedeutung verbleiben, einer geschichtsphilosophischen Durcharbeitung jener geschichtlichen Situation, welche eine mögliche Wiederkehr des für überwunden gehaltenen Begriffs als unumgänglich erscheinen lässt, aber er-
377 378 379 380 381
Vattimo, Glauben – Philosophieren, 75. Vgl. ders., Jenseits der Interpretation, 89 – 92. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 87. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 88. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 45. Appel, Gottes Offenbarung in der Dialektik von Zeit und Ewigkeit, 446; vgl. besonders die Kapitel VIII und IX.
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mangeln. Es handelt sich dabei um Archaismus, kulturellen Relativismus und eine Theorie der begrenzten Rationalität oder des gemäßigten Irrationalismus. Der Archaismus382 ersetzt den die Moderne prägenden Fortschrittsmythos durch einen »Mythos der Ursprünge«383 und glaubt an die Möglichkeit einer Rückkehr zu unverdorbenen Anfängen, zu einer nicht von der Entfremdung der Geschichte kompromittierten Herkunft, oder sieht in mythischen Wissensformen einen authentischeren Weltzugang als in der modernen Rationalität. Vattimo spricht in diesem Zusammenhang von einer »›apokalyptischen Haltung‹«384, welche bestrebt ist, aus der Kultur der Gegenwart auszuwandern. Es wird nicht nach einem unserer Gesellschaft kritisch entsprechenden Weltumgang und nicht nach sich einstellenden Hoffnungsmomenten in der Gegenwart der Spätmoderne gefragt, sondern in romantischer Naivität die Gestalt eines Anfangs idealisiert, welche den Mythos als die ihr adäquate Form der Vorstellung impliziert. Der Archaismus scheitert an der Proklamation unmittelbarer Anfänge, die sich immer als hervorgebrachte Spiegelungen unserer Zeit und unseres Bewusstseins erweisen und somit die angestrebte Unmittelbarkeit nicht erreichen, sowie an der Weigerung, sich in die Verantwortung des Risikos des Heute zu stellen. Überdies gibt sich diese Position keine Rechenschaft über die Bedeutung jenes »Sündenfalls«, welcher gerade aus der nun erneut angestrebten, als ideal vorgestellten Herkunft in die Verderbtheit der Geschichte geführt hat, und warum es Ziel sein soll, zu diesem Ursprung, welcher die Möglichkeit seiner Entfremdung offensichtlich an sich hatte, zurückzukehren. Darüber hinaus steht jene Haltung in der Gefahr, in ihrer Ablehnung eines neuzeitlich verobjektivierenden Weltumgangs auch die demokratischen Errungenschaften der Moderne zu verwerfen. Als zweite dem Mythos Aktualität und Legitimation verleihende Haltung ist die Befindlichkeit eines kulturellen Relativismus385 zu nennen, welche Vattimo mitunter einer harschen Kritik unterzieht. Diese Position geht davon aus, dass sich der Gegensatz von mythischem und rationalem Wissen auflösen müsse, zumal die Fundamente und ersten Prinzipien jedweder Kultur sich der Beweisbarkeit entziehen, mithin Voraussetzungen in Anspruch nehmen, »die den Charakter des Mythos – des nicht bewiesenen, sondern vielmehr unmittelbar gelebten Glaubens – aufweisen«386. So genannte aufgeklärte und im Mythos verhaftete Lebensformen stünden einander ohne Vergleichsmöglichkeit und ohne Möglichkeit, von einer Entwicklung im Bewusstsein der Freiheit zu spre-
382 383 384 385 386
Vgl. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 48 – 52; 56 – 58. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 57. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 49. Vgl. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 52 – 54; 58. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 54.
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chen, gegenüber, weil es den Gedanken einer »einheitlichen Rationalität«387 nicht mehr gäbe. Sind die ersten Prinzipien jedweder Kultur der Rationalität gegenüber verschlossen, müssten sie als Wissen mythischen Typs aufgefasst werden. Vattimo weist auf eine in dieser Haltung auftretende Dichotomie hin: Geleitet vom hehren Motiv einer Gleichwertigkeit aller Kulturen und deren Wissensformen, bringt der kulturelle Relativismus diese zwar nicht mehr in die vereinheitlichende Logik imperialistischen und kolonialistischen Zuschnitts, sondern behauptet deren Selbst- und Eigenständigkeit und mithin »Getrenntheit«388. Diese Theorie wird aber selbst unversehens zur alle Kulturen übergreifenden Metaebene, welche in inhaltlicher Leerheit bloß abstrakt einen Horizont konstatiert, in welchem sich alle Kulturen als Dialogpartner ein- und wiederfinden können sollen. Es handelt sich hierbei aber um eine in der Moderne situierte und nur aus dieser zu verstehende Theorie, welche aus den Erfahrungen des Zerbrechens des Glaubens an die moderne Rationalität hervorgegangen ist, dieser geschichtlichen Bedingtheit aber nicht in einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion Rechnung trägt. Vattimo frägt dagegen nach einer geschichtlichen Positionierung, welche nicht bloß das abstrakte Gelten eines leeren Kulturrelativismus behauptet. Die Theorie der begrenzten Rationalität oder des gemäßigten Irrationalismus389 rehabilitiert den Mythos, indem sie gewissen Bereichen der Wirklichkeit mythisches – das heißt in diesem Fall erzählendes –, anderen aber rationales Wissen zuerkennt. Zwei Wissensformen werden nebeneinander gestellt und gegeneinander fixiert, ohne eine der Zeit und dem Bewusstsein einer Gesellschaft entsprechende Vermittlung zu leisten, sodass der Mythos letztlich zu jener Erzählung wird, die überall dort angefragt ist, wo das am Ideal der Naturwissenschaften und der formalen Logik orientierte Wissen stumm bleiben muss. Diese Position erweist sich als problematisch, weil sie an einer ungeschichtlichen, allzu statischen Kategorisierung einzelner Wissensbereiche gebildet ist. Sie muss unergiebig für eine an den spezifisch spätmodernen Bedingungen orientierte Betrachtung des Verhältnisses von Kunst und Religion bleiben. Die neue Aufmerksamkeit für den Mythos, wie sie sich in diesen idealtypischen Positionen zeigt, bringt Vattimo in einen Zusammenhang mit der Auflösung der großen geschichtsphilosophischen Systeme, welche vom Gedanken eines Emanzipationsprozesses der Vernunft, der vom Mythos zum Logos weist, getragen waren. Wenn der moderne Entmythologisierungsprozess so radikal wird, dass er sich auf sich selbst bezieht und es zu einer Entmythologisierung des Ideals der Entmythologisierung kommt, könne wieder Raum für den Mythos 387 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 53. 388 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 58. 389 Vgl. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 54 – 56; 59.
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entstehen. Das Defizit der oben angesprochenen Deutungen liege vor allem darin, dass sie diesen geschichtlichen Zusammenhang und mithin ihren eigenen Ort, von dem aus sie sprechen, nicht reflektieren. Vattimo wird jedoch diesem Schema nicht folgen, sondern sieht in der Erzählung der Säkularisierung die Möglichkeit, den Ort des Mythos in der Spätmoderne noch differenzierter zu bestimmen: »Säkularisierung des europäischen Geistes der Moderne«390 bedeutet für ihn nicht bloß die Überwindung mythischer Wissensformen, sondern auch deren Überleben in verzerrter, verwundener, veränderter Form. Dahinter steht ein bestimmtes Verständnis der Moderne: Die »Modernisierung findet nicht durch die Abwendung von der Tradition, sondern durch eine Art ironischer Interpretation derselben, einer ›Distorsion‹ statt (Heidegger spricht in einer ähnlichen Bedeutung von Verwindung*), die sie zwar aufrechterhält, aber zum Teil auch entleert«391.
Vattimo plädiert mit dem Begriff der Säkularisierung für eine Betrachtung der Moderne, die sich von einer linearen Entwicklungslogik befreit, wie sie noch im Gedanken anzutreffen ist, dass die großen Fortschrittserzählungen mit ihrem Programm der Entmythologisierung den Mythos beseitigen, dann aber selbst sich als Mythos entlarven und mithin wieder Platz für den Mythos wird. Säkularisierung (oder im obigen Zitat: Modernisierung) bedeutet in der spezifischen Interpretation Vattimos nicht primär Überwindung oder gar Zerstörung, sondern eine andere Form des Umgangs, die sich einstellt, sei diese Form nun ironisch, verdrehend, verwindend etc. Die moderne europäische Kultur ist demzufolge durch eine verwobene und verzweigte Spannung von Überwindung, Emanzipation, Bewahrung, Verzerrung und Entleerung eröffnet und bleibt an »die eigene religiöse Vergangenheit gebunden«. Mit dem Ende der großen Fortschrittserzählungen eröffnet sich also nicht in erster Linie ein neuer Platz für den Mythos, sondern wird die Deutung der Moderne wieder offen, und es kann hervortreten, dass es in ihr immer schon ein viel komplexeres Verhältnis zu Religion und Mythos gegeben hat. Wie kann sich darin aber nun wieder ein freierer Zugang zum Mythos auftun? Wie lässt sich vom Mythos sprechen? Gegenüber aller Mythenfreundlichkeit stellt Vattimo klar, dass wir »zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich … unser Verhältnis zum Mythos nicht wieder als ein naives einstellt«392, sondern von der Erfahrung der Kritik am Mythos geprägt bleibt. Ich denke, dass nur dann eine Chance besteht, in der neuen Aufmerksamkeit für den Mythos auch jener Erfahrung der Kritik treu zu bleiben (und nicht in die bloße Egoität zurückzufallen), wenn wir versuchen, in der Interpretation des Mythos die Thematisie390 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 61. 391 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 62. 392 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 61.
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rung des Menschlichen, wie sie darin entsprechend unserer Zeit statthat, aufzufangen. Vattimo prägt den Begriff eines wiedergefundenen Mythos und bringt damit erneut eine eigentümliche Bewegung der Wiederkehr zum Ausdruck, die nicht eine bloße Rückkehr darstellen kann. Eine heutige Rede vom Mythos bleibt, zumal eine ungebrochene mythische Geisteslage bloße Projektion bliebe, an die Moderne gebunden und muss folglich ein durch den Logos gegangener Mythos sein, die Entfremdung in die Geschichte an sich tragend. Vattimo rekurriert zur Darstellung dessen auf das von Schelling, Hegel und Hölderlin verfasste programmatische Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus393, wo prophetisch von der Notwendigkeit einer neuen Mythologie die Rede ist – »diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden«394. Im Dienste der Ideen ist eine weder unter der Notwendigkeit des Schicksals (klassischer Mythos) noch unter der Herrschaft der (ebenfalls schicksalhaften) Logik der chronologischen, maschinellen Zeit stehende Mythologie (in gewisser Weise der Mythos der Moderne). Es gibt, wie es im Fragment des Systemprogramms wohl in Anlehnung an Leibniz heißt, keine Idee von der Maschine, markiert doch die Idee den die Logik endlicher Prädikationen transzendierenden Raum der Freiheit – »Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee.«395 Ein wiedergefundener Mythos kann nicht mehr Ausdruck eines naturhaften Prozesses ewigen Werdens und Vergehens oder der Wiederholung von zeitlosen Archetypen sein, sondern muss sich als Mythos der Vernunft und Freiheit zur Sprache bringen. Das Motiv einer Mythologie der Freiheit ist dem Gedanken der der Menschwerdung des göttlichen Logos nicht äußerlich und kann vielleicht sogar als dessen Echo gelesen werden: In Jesus Christus ist die Verbindung aus Mythos und Logos zum Dasein gelangt – beide sind als Momente an seiner Gestalt. Die Menschwerdung ist ein einmaliges Ereignis, verortbar im chronologischen Ablauf der Zeit, und ruft in die Notwendigkeit einer je neu zu aktualisierenden Nachfolge. Dies bedeutet das Moment des Logos, der Offenheit der Geschichte. In der Menschwerdung ist aber die Geschichte auch vollendet und beschlossen, was das Moment des Mythos markiert – in dieser Vollendung der Geschichte ist eine ewige Vergangenheit gesetzt, aus welcher die Offenheit der Geschichte lebt und welche darin unserer Wachsamkeit und Verantwortung überantwortet ist.396 Der herkömmliche Mythos war Erzählung, in welcher sich die stets neu zu vollbringende Überwindung des alles bedrohenden und jede Ordnung sistie393 Vgl. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 45; ders., Jenseits der Interpretation, 94 f; Hegel, Frühe Schriften, 234 – 236. 394 Hegel, Frühe Schriften, 236. 395 Hegel, Frühe Schriften, 234. 396 Vgl. dazu Appel, Zeit und Gott, 193 – 197, 317 – 332.
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renden Chaos vollzogen hat, d. h. er war in die Bedrohung des Chaos gestellte Erzählung. Versucht man, in Anlehnung daran dem wiedergefundenen Mythos einen Ort zu geben, könnte man sagen, dass in ihm die Macht des Chaos säkularisiert erscheint. Sie erscheint transformiert als jenes jedweden Ordnungsrahmen und alle Maßstäbe der Selbstversicherung sistierende Risiko des Heute, in welches der durch den Logos gegangene Mythos ohne Halt gestellt ist. In sprachloser Ausgesetztheit, die sich unseren distanzierenden Bewältigungsversuchen entzieht, wäre er Drängen ins Wort und zu einer Erzählung und Entäußerung ins sinnliche Sein der Kunst. Mithin wäre er nicht letztes Sicherheitsnetz des Daseins, sondern Sprache an den Grenzen des Verstummens. Die Frage nach einem freien Zugang zum Mythos ist Frage nach einer (oder vielleicht der) Sprachform der Religion und kann sich nicht als Figur ungebrochener Rückkehr etwa zu den antiken Mythen entfalten. Der wiedergefundene Mythos bestimmt sich als eine Erzählung, die in Zusammenhang mit Freiheit steht und Sprache an den Grenzen des Verstummens ist. Bislang ist nur der Ort des Mythos bestimmt, ungeklärt jedoch, was er zum Ausdruck bringt. Dies lässt sich an Vattimos Verständnis der Kunst weiterverfolgen, wofür sich drei Texte als grundlegend erweisen: Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Walter Benjamins Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und Heideggers Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes. Das Systemprogramm inspiriert den Gedanken eines Zusammenhangs von Kunst und Religion über den Begriff der Säkularisierung; an den beiden anderen Texten, entstanden jeweils 1936, hebt Vattimo die Verbindung von Kunst mit einer Erfahrung der Unheimlichkeit hervor. Kunst und Religion, so das Plädoyer Vattimos, lassen sich nur in ihrer Bezogenheit aufeinander, welche sich als »ein komplexes Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung«397 artikuliert, begreifen. Religion fiele in die Abstraktheit bloß formaler Vernunftreligion der Aufklärung, wenn sie unter Abzug von Kunst und Mythos auf einen Kern, der sie als gleichsam reine Religiosität darstellte, reduziert würde. Sie kann nicht auf ein Inneres zurückgeführt werden, welches nicht zuvor schon seine künstlerische Entsprechung gefunden hat, welches sich nicht immer schon einen künstlerischen Ausdruck, eine es nicht bloß repräsentierende, sondern tatsächlich zum Dasein bringende Darstellung in der Sinnlichkeit gegeben hat. Dies aber lässt eine restlose Entmythologisierung der Religion als unmöglich erscheinen.398 Umgekehrt müsse Kunst, gerade um ihren spezifischen Status und ihre Eigenständigkeit herausstellen zu können, über ihre bleibende Beziehung zur Religion nachdenken. Beginnen wir, um uns diesem paradoxen Gedanken zu nähern, mit einer 397 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 109. 398 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 62.
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Überlegung Peter Strassers. Er konstatiert vor dem geistlosen Hintergrund eines drohenden Erstickens in der Enge sich lückenlos schließender Immanenz der Welt eine Verbindung von Religion und Kunst: »Kunst, wie wir sie bisher kannten, war ein Medium der Wahrheit: nicht der wissenschaftlichen, aber einer dennoch fundamentalen – einer existentiellen und ontologischen Wahrheit. Daher die Nähe der Kunst zur Religion auch noch dort, wo sie anscheinend schon ganz auf die Seite der Welt übergegangen war : sie verlieh den Dingen einen Glanz, der unmöglich nur aus ihnen selbst stammen konnte, sie tauchte sie in ein Schweigen, das sie von den innerweltlichen Diskursen ›erlöste‹.«399
Strasser kommt auf ein Zusammengehören von Kunst und Religion zu sprechen, wenn er Kunst als Medium der Wahrheit betont. Allerdings berührt er dabei die geschichtliche Dimension ihrer Verwiesenheit noch nicht. Als Schlüsselbegriff, um Religion und Kunst geschichtsphilosophisch in Verbindung zu setzen, erweist sich für Vattimo der Begriff der Säkularisierung. In Anlehnung an das Systemprogramm formuliert er : »Die sinnliche Religion, von der die Verfasser [des Systemprogramms] phantasieren, ist vielleicht die beispielhafteste ideale Konfiguration einer Kunst, die ausdrücklich als säkularisierte Religion aufgefasst wird.«400 Vattimo denkt dabei, wie bereits angedeutet, nicht mehr in Kategorien hierarchischer Ordnung, sondern ist der Ansicht, dass Kunst, »sobald man sie in ihrer Besonderheit erfassen möchte, wiederum auf einen Bereich, der sich nur in Bezug auf die Erfahrung der Religion und des Mythos definieren lässt«401, verweisen muss. Andernfalls werde man, um die Eigenständigkeit der Kunst herauszustellen, zumeist auf neukantianisch inspirierte Ästhetiken mit ihrem Rekurs auf transzendentale »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung der Kunst und des Schönen«402 verwiesen. Vattimos in Anklang an Heidegger und Gadamer vollzogene Ablehnung derartiger Formulierungen einer Ästhetik kann hier nicht weiter diskutiert werden. Von Bedeutung ist jedoch das Motiv : Vattimo ortet das Defizit dieser Theorien darin, dass sie zwar »›strukturspezifische‹ Kriterien«403 der Erfahrung von Kunst ausprägen, aber ihre epochale Stellung nur ungenügend reflektieren, wohingegen sein Interesse gerade der Kunst als genuinem Ausdruck und Wahrheit einer Zeit gilt. Der Begriff der Säkularisierung halte eine Verbindung »zwischen der ästhetischen Erfahrung und der religiösen Tradition«404 aufrecht, die im Sinne einer »Beziehung der Abkünftigkeit«405 und nicht der vollständigen Beerbung oder 399 400 401 402 403 404 405
Strasser, Journal der letzten Dinge, 251. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 96. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 99. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 100. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 96. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 108. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 9.
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Substitution zu verstehen ist. Vattimos Überlegungen zu Religion und Kunst sind ein Plädoyer, die »Problematik« dieser Beziehung aufzugreifen und nicht stillzustellen, indem entweder Kunst und Religion eine genau begrenzte Sphäre zugeordnet oder aber eines der beiden Phänomene als das Authentische behauptet wird: Religion als der eigentliche Ursprung, dem Kunst gegenüber immer nachgeordnet bleibt, oder Kunst als der Ersatz, der Religion überflüssig macht. Auch wenn die Ästhetik eine gänzlich von der Religion gelöste Definition der strukturspezifischen Kriterien von Kunst gäbe, wäre die spannungsreiche Beziehung der Abkünftigkeit aufgelöst. In dieser zeigt sich über den Begriff der Säkularisierung eine Richtung an, welche als Emanzipation der Kunst, als Schwächung religiöser Ursprünge und als verwindend verdrehende Übernahme zum Ausdruck gebracht werden kann. Dabei ist Kunst aber niemals Ersatz, der an die Stelle der Religion treten könnte, da sonst bloß ein Phänomen das andere substituieren würde. Kunst würde als statisches Wesen verstanden, muss aber vielmehr als Ausdruck jener Bewegung des Sich-Entfernens, d. h. der Säkularisierung, gedacht werden, die nie in einen beruhigten Endpunkt führt, sondern Gestalt im Übergang ist. Sie stellt nicht in erster Linie »etwas« dar, sondern ist vor allem Vollzug der Abkünftigkeit und Entfernung, Darstellung jenes Entzuges eines Ursprungs. Darin liegt ihre paradoxe Eigenständigkeit und Authentizität, eine Form der Identitätsgebung oder der Gründung auf starken Fundamenten bleibt ihr versagt, will sie Ausdruck unserer geschichtlichen Epoche sein und nicht hinter die Auflösung der Metaphysik zurückfallen. Hier liegt auch die Verbindung von Religion und Kunst. Religion ist Erzählung von einem Ursprung, den sie nicht besetzen kann, den sie nicht (re)präsentieren kann, dessen Sich-Entziehen sie die Treue hält. Eine Kunst, die sich von der Religion in einem Prozess der Säkularisierung entfernt, ohne zu ihrem Ersatz zu werden und ohne sich selbst eine Identität geben zu wollen, wiederholt säkularisiert diese Struktur, indem sie Darstellung einer Entfernung von einem Ursprung ist, den sie selbst nicht hervorbringen und besetzen kann. Wenn Heidegger vom »Fehl Gottes« und von »den Spuren der entflohenen Götter«406 und Hölderlin von »dürftiger Zeit« (Brot und Wein, V 122) spricht, meinen sie nicht allein den Verlust des Göttlichen, wie er heute statthat, sondern auch jenen Entzug des Göttlichen, den die Kunst nicht ausfüllen darf, will sie ihre Eigenständigkeit wahren und nicht zur Pseudoreligion werden. Das »Bedürfnis nach einer neuen Mythologie«407, das Vattimo in der Mythologie der Vernunft des Systemprogramms angedacht sieht, und Heideggers Warten auf einen kommenden Gott markieren die »Zwischenzeit«, die jenem Entzug entspricht. Vattimo interpretiert dieses (ambivalent bleibende) Warten aber nicht als ein 406 Heidegger, Holzwege, 269 und 271. 407 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 107.
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vorübergehendes, welches durch ein neuerliches Sich-Zeigen des Ursprungs beendet werden könnte. Die Überlegungen zur Wiederkehr des Mythos sind demgegenüber als ein Versuch anzusehen, das Bedürfnis nach einer neuen Mythologie nicht im Sinne einer positiven Besetzung jener im Verlust entstandenen Lücke aufgehen zu lassen. Vattimo gibt dem keine Beschreibung, sondern nimmt an dieser Stelle wieder Heidegger und Benjamin in einer gebrochenen Konvergenz auf, d. h. er kann selbst nicht mehr unmittelbar, sondern nur mehr im Verweis auf eine Refiguration von Geschichte antworten. In jener Zwischenzeit des Verlustes führt Kunst nicht in eine neue Form der Geborgenheit und Vertrautheit. Die so unterschiedlichen Theorien zur Kunst von Heidegger und Benjamin sieht Vattimo darin übereinstimmen, dass sie Kunst nicht länger als einen »Ort der Versöhnung«408 ansehen, sondern auf die Erfahrung der Unheimlichkeit aufmerksam machen, die sich darin anzeigt. Diese Erfahrung eines Un-zu-Hause-Seins steht »im Gegensatz zu jener der Vertrautheit des Gebrauchsgegenstands, in der die Rätselhaftigkeit des Dass in der ›Benutzbarkeit verschwindet‹«. Der Kunst und mit ihr dem wiedergefundenen Mythos eignet ein Moment des geistigen Bruches, welcher für beide Philosophen eine konstitutive und nicht nur vorübergehende, in eine neue Geborgenheit, »Sicherheit, Aneignung und Wiederaneignung der ›Heimlichkeit‹«409 aufzulösende Bedeutung hat. Kunst bedeutet in dem Sinn nicht mehr etwas, auch nicht das Un-zu-Hause-Sein, sondern ist allenfalls das Übergehen zu jener Erfahrung, was Vattimo als Oszillation bezeichnet. Sie ist ein Übergehen von Kontinuität und Bruch, ein Umschlagen von Zugehörigkeit und Unbehaustheit: »Gründung und Einbruch sind die Bedeutungen der beiden Aspekte, die Heidegger als konstitutiv für das Kunstwerk anerkennt, und zwar die Aufstellung der Welt und die Her-stellung der ›Erde‹«410. Der wiedergefundene Mythos ist Spannung von Gründung und Ent-gründung, er verortet den Menschen in eine Unbehaustheit – gründend nur im Sich-Entziehen eines Grundes, in der Auflösung positiver Fundamente und Anfänge; öffnend im »Immerwieder-Sichverschließen«411 der Erde. Ohne diesen gebrochen gründenden Charakter der Oszillation bliebe lediglich die Auflösung der Kunst in eine platte Abbildung von Wirklichkeit als Verbergung der Unheimlichkeit oder in einen zerstörenden Gestus als das Scheitern am Versuch, die Unheimlichkeit selbst noch einmal zu positivieren und darzustellen. Das Kunstwerk geht nie in dem Verweisungszusammenhang, in welchen es gestellt ist, auf, weil es auf einen Entzug, auf nichts oder auf das Nichts verweist, 408 409 410 411
Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 67. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 73 f. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 75. Vattimo, Das Ende der Moderne, 77.
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und lässt sich in keiner Ordnung gänzlich eingliedern. Es sprengt dadurch die Kontinuität des Seins und vermag ein neues Licht auf die Welt zu werfen, indem es die »Eindeutigkeit der Welt in einen Schwebezustand«412 versetzt. Dieser äußert sich nicht zuletzt in der Ambiguität von Sprache und Kunst, deren Vielfalt sich nicht in eine letzte Eindeutigkeit überführen lässt, was ihre geistige Dimension ausmacht. Ihr eignet kein vorübergehender Charakter, weil sie nicht »auf eine abschließende Wiedererlangung der Vertrautheit zielt«413. Die Erfahrung der Kunst führt nicht in eine umfassende Ordnung absoluter Beheimatung, sondern in ein Freilassen: Am Ende des Aufsatzes Die Kunst der Oszillation spricht Vattimo von der Darstellung der Kunst als Kreativität und Freiheit414. Kunst als Artikulation von Freiheit führt nicht in die Normierung einer Erzählung, und sei es einer utopisch-kritischen, sondern stellt sich dar als »Heterotopie«415 vieler Erzählungen und Interpretationen. Kommen wir nun auf die Frage nach dem wiedergefundenen Mythos zurück. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Geschichten, sondern um Erzählungen, die den geschichtlichen Ort unserer Existenz zu bestimmen vermögen. Dieser Ort steht nicht unter einem Schicksal und nicht mehr in der Notwendigkeit geschichtlicher Genealogien und Teleologien. Er ist dadurch von Freiheit gekennzeichnet, hat aber keinen Halt und zunächst auch keine verbürgte Sprache. In dieser Bedrohung und an den Grenzen dieses Verstummens ist der Mythos sprachlicher Ausdruck unserer Unbehaustheit. Er lässt die Unheimlichkeit unseres geschichtlichen Daseins nicht in die Sprachlosigkeit fallen, führt sie jedoch nicht in eine neue Form gänzlicher Vertrautheit. In der Oszillation zwischen Gründung und Ent-gründung stellt er das Menschliche in seiner geschichtlichen Ausgesetztheit dar. Dem entspricht seine Ambiguität, die sich nicht auf eine authentische Interpretation festlegen lässt. Ebensowenig vermag eine Erzählung fortan zur normierenden zu werden. Der Mythos stößt sich ab in die Freisetzung einer Vielzahl von Geschichten und hat den Charakter der Heterotopie. Genuiner Ort des wiedergefundenen Mythos sind Kunst, Philosophie und Religion. Kunst ist für Vattimo in Anlehnung an Heidegger immer Aufstellung einer Welt und Herstellung der Erde, in ihren Werken zeigt sich gerade die Vereinigung von Begründung und Auflösung des Grundes, wie sie für den wiedergefundenen Mythos charakteristisch ist. Sie wird im Werk (im weitesten Sinn des Wortes) zur punktuellen Erfahrung der Wahrheit einer Zeit.416 In der Philosophie begegnet der wiedergefundene Mythos heute in den Ver412 413 414 415 416
Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 72. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 84. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 84. Vgl. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 85 – 100. Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 133 – 138.
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suchen, eine Erzählung der Zeit zu geben, d. h. dem menschlichen Dasein einen Ort in der Geschichte der Freiheit zu geben. Freilich können diese Erzählungen nicht mehr positiv den Charakter einer Darstellung des Fortschritts und der geschichtlichen Notwendigkeit haben, sondern sich nur mehr in deren Lücken und Brüchen als eine subversive Kontinuität entfalten. Das zeigt sich bei Vattimo im Versuch, in den Lücken der Geschichte der Emanzipation und Freiheit eine Geschichte der Schwächung zu erzählen; im Versuch, die Geschichte von Religion, Kunst und Moderne als eine Geschichte der Säkularisierung zu lesen, die auf den Gedanken der Überwindung verzichtet; im Versuch, die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts als Repräsentation jenes Bruches, der mit dem Ende der Bell Êpoque eingetreten ist, zu interpretieren; im Versuch, Hermeneutik als koin¦ der Kultur, Philosophie und Geisteswissenschaften unserer Zeit zu deuten; im Versuch, in nihilistischer Gestimmtheit emanzipative Tendenzen aufzuspüren und in apokalyptischer Gestimmtheit eine Gegengeschichte des Abschiedes zu erzählen; sowie in den Refigurationen und Übergängen geschichtlicher Gestalten, in denen uns Überlieferung zugänglich werden soll. Was die Religion betrifft, entdeckt Vattimo, dass die biblische Erzählung nicht die Vereinnahmung eines Ursprungs ist, sondern kenosis des Absoluten. So erweist sie sich als Tiefendimension einer nicht abzuschließenden Vielfalt von Erzählungen der Schwächung. Es handelt sich dabei um eine »Freisetzung, die durch die Fleischwerdung Jesu, das heißt durch die kenosis Gottes, möglich geworden ist«417. Jene Erzählungen haben, wie Appel festhält, »in der […] Erzählung des ewigen Schöpfungswillens Gottes einen alle anderen Erzählungen anfangenden Abschluss. Der entscheidende Inhalt ist dabei Jesus von Nazareth, in dessen Kenosis alle anderen Geschichten und Zeiten in die Ewigkeit Gottes selber eingeborgen sind und somit ein wirkliches Ende (Ziel) haben.«418
Für Vattimo eröffnet sich in der Spätmoderne durch die Offenbarung der Inkarnation in kenosis ein neuer Blick: Das Motiv der kenosis wird zum fragilen Zusammenhalt und zur Hermeneutik der Erzählungen eines wiedergefundenen Mythos, die unseren Ort in der Geschichte zu bestimmen vermögen. Ihr Auftreten ist dann nicht mehr bloß einem subjektiven Einfall zu verdanken, sondern spricht aus einem geistigen Zusammenhang. Erzählungen sind dann nicht mehr bloß Geschichten über etwas, sondern stellen vor die Frage, ob und inwiefern sich durch sie ein Moment der Schwächung zum Ausdruck bringt. In der Artikulation dessen aber sind sie wahrhaft menschliche Geschichten.
417 Vattimo, Jenseits der Interpretation, 85. 418 Appel, Gottes Offenbarung in der Dialektik von Zeit und Ewigkeit, 495.
Nachträge und Anfragen: Gottesfrage und Spätmoderne
Die Überlegungen Vattimos zur Religion spielen sich in einem gemeinsam geteilten Horizont von biblischer Tradition und Moderne ab, dem Vattimo einen positiven Ausdruck geben möchte. Das folgende Kapitel enthält dazu einige nachgereichte Gedanken, welche sich vor allem auf kritische Anfragen an das Konzept Vattimos beziehen. Der erste Abschnitt könnte mit der Thematik Gottesfrage und Transzendenz umschrieben werden, der zweite bezieht sich auf die Spätmoderne als Hintergrund der Überlegungen Vattimos, der dritte schließlich sucht diese beiden Stränge, Gottesfrage und Spätmoderne, noch einmal ausdrücklich zusammenzuführen. 1) Wo von Religion als wiederkehrender oder verschwindender die Rede ist, muss auch die Frage nach dem sich zeitigenden Gottesverhältnis mitgedacht werden. Doch wie lässt sich diese Frage stellen? Ein Wiedererwachen religiösen Sinnes muss nicht per se theistisch konnotiert sein, spricht doch bereits Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse den Eindruck aus, »dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, – dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt«419. Wird im europäischen Kontext von einer möglichen Wiederkehr des Religiösen gesprochen, kann die Auseinandersetzung damit jedoch nicht vorbei an personaltheistischen Konzepten, besonders dem biblisch inspirierten Gottesgedächtnis, erfolgen. Ansonsten würde man einer abstrakten Geschichtslosigkeit verfallen. Es gibt für das allgemeine Bewusstsein keinen unschuldigen Neubeginn bei einem erwachenden religiösen Instinkt, der nicht mit jenen Traditionen in Zusammenhang gebracht werden müsste. Eine vermeintliche Unbedarftheit erschiene hier umso fragwürdiger, als sie implizit auch die sich an den theistischen Traditionen entzündende Religionskritik, durch welche vermittelt sich allein ein religiöser Instinkt heute redlich artikulieren kann, unterliefe. Dem geschichtslosen religiösen Instinkt wird Vattimo das Motiv einer durch die Errungen-
419 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 53.
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Nachträge und Anfragen: Gottesfrage und Spätmoderne
schaften und Entfremdungen der Moderne verunreinigten Wiederkehr biblischen Gottesgedächtnisses entgegensetzen. Zumal Vattimo selbst die Gottesfrage nie unmittelbar stellt, sondern stets im Rahmen anderer Überlegungen auf sie stößt, und sie auch nicht systematisch ausgearbeitet hat, möchte ich nicht versuchen, über seine verstreuten Äußerungen eine Ordnung zu legen, welche den einzelnen Aussagen ihren spezifischen Ort nehmen würde. Der Gang der folgenden Überlegungen bleibt vielmehr den kritischen Anfragen geschuldet, die an Vattimos Konzept gerichtet wurden und versucht durch sie hindurch einen nachvollziehbaren Weg zu finden. Sämtliche kritische Positionen ausführlich zu referieren, ist hier nicht möglich und würde auch zu vielen Doppelungen in der Darstellung führen. Als Schlüssel für die folgenden Überlegungen scheinen mir die Kategorien Mangel und Ersetzung aufschlussreich. Die Anfragen an das Konzept Vattimos beziehen sich entweder auf einen Mangel, d. h. einen Ausfall einzelner Momente, die für ein christliches Verständnis unverzichtbar seien, oder auf deren (problematische) Ersetzung durch andere Elemente. Die ersten beiden Anfragen, auf die ich eingehen möchte, stehen für jeweils eine dieser beiden Formen der Kritik, die dann infolge immer wieder auftreten werden. Vattimos starke Betonung der Menschwerdung lässt die Frage stellen, ob bei ihm die Person des Vaters ganz im Sohn verschwindet und es derart zu einem Ausfall der trinitarischen Dimension kommt. Sodann erhebt sich die Frage, ob Vattimos Bezug auf das Christentum letztlich nicht bloß die übersteigerte Betonung eines Elementes ist, sondern überhaupt als ein Spiel von Substitutionen und Umbesetzungen wesentlicher Momente der Heilsgeschichte anzusehen ist. Diese Deutung erscheint fokussiert in der Frage, ob für Vattimo Gott und Tradition zusammenfallen. Wird dies verneint, kommt es dann zu einem gänzlichen Ausfall des Gottesgedankens im Konzept Vattimos? Mehr noch: Bringt die Bewegung der Schwächung nicht überhaupt jede Form von Transzendenz und damit auch jegliche Offenheit für den Gottesgedanken zum Verschwinden? Michael Hofer fragt in seiner Darstellung von Vattimos Wiederaufnahme der Religion besonders nach dem Verhältnis von Gottesbegriff und Säkularisierung. Er würdigt in Vattimos starker Betonung der Geschichtlichkeit, Inkarnation und Freundschaft eine Absage an die Gnosis, sieht aber einen »Ausfall der trinitarischen Dimension«, nicht jedoch im Sinne einer bewussten Zurückweisung des Gedankens, sondern seines Verfehlens: »Vattimos Art und Weise der Paraphrasierung der Inkarnation erweckt den Eindruck, als ob Gott – ohne jegliche Differenzierung göttlicher Personen – Mensch geworden wäre.«420 Tatsächlich findet sich bei Vattimo keine ausführliche Reflexion auf die Trinität, was zur angesprochenen Schieflage führen kann, die ich jedoch, wie ich im zweiten Teil 420 Hofer, Jenseits von Gnosis und Nihilismus, 185.
Nachträge und Anfragen: Gottesfrage und Spätmoderne
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dieser Arbeit anzudeuten versuche, nicht für zwingend halte. Wenn wir aufgrund der seltenen expliziten Aussagen Vattimos hier nicht wirklich über einen Eindruck, wie auch Hofer seinen Einwand beschreibt, hinauskommen, so kann das Ausbleiben trinitarischer Reflexion, und damit jene Ungenauigkeit, selbst noch einmal in einen Zusammenhang gestellt werden. In einem Gespräch mit Giovanni Giorgio zeigt sich Vattimo dessen theologischen Erwägungen hinsichtlich eines Trinitätsverständnisses, das versucht Trinität von der kenosis her zu denken und nicht umgekehrt, offen gegenüber : »Ich frage mich, ob sie nie daran gedacht haben, darüber [über die kenosis als Kategorie der Offenbarung] hinauszugehen, und über die k¦nosis als trinitarische Kategorie nachzudenken. In anderen Worten: Wenn die k¦nosis gerade die Modalität der Offenbarung Gottes ist, könnte es möglich sein, von der ökonomischen k¦nosis zu einer immanenten k¦nosis zurückzugehen. Glauben Sie nicht, dass der christliche Gott, gerade weil ›plural‹ – d. h. trinitarisch – schon per se eine ›Schwächung‹ [›indebolimento‹] oder eine Destruktion eines rigiden metaphysischen Monotheismus und also eine Säkularisierung eines sakralen Gottes bedeuten könnte?«421
Vattimo kann dieser Bestimmung etwas abgewinnen und stimmt ihr – im nachträglichen Modus des Antwortens – auch zu, gibt jedoch zu bedenken, seit der Veröffentlichung von Credere di credere selbst theologische Affirmationen, d. h. eine affirmative Rede über Gott, vermieden zu haben. Diese stehe in der Gefahr, deskriptiv zu werden und dabei den Charakter des Sich-Auflösens (»si disfa«), des Sich-Entziehens (»si sottrae«), des Sich-Erniedrigens (»si abbassa«) Gottes zu unterlaufen.422 Vattimo, der sich auch gegenüber der Rede von Gott als dem ganz Anderen distanziert verhält, gelangt bis zu dem Punkt, dass die Rede von Menschwerdung und Schwächung, zu der er sich in Treue zur abendländischen und biblischen Tradition bekennt, nicht anders denkbar ist als in einem trinitarischen Verständnis. Trinität würde dann, wie übrigens biblisch auch (Mt 28, 19 f), nicht am Anfang der Gottesrede stehen, sondern als Horizont erkennbar werden, in dem allein ein bestimmtes Gottesgedächtnis denkbar scheint.423 Freilich hat Vattimo dies nicht mehr ausgearbeitet. Ich möchte an dieser Stelle jedoch daran erinnern, dass Vattimo kein Theologe ist, der den Anspruch stellt, eine vollständige Dogmatik vorzulegen, sondern aus seinen philosophischen Studien heraus heute einen Weg hin zur christlichen Tradition eröffnen möchte, wobei dieser Weg über den Gedanken der kenosis läuft. Allerdings könnte man mit Michael Hofer weiter fragen, ob Vattimos Verständnis von Menschwerdung und Säkularisierung in dieser Hinsicht nicht auf einen Abweg führen muss. Dabei geht es um die Frage, wie Vattimos Verständnis 421 Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 3 f (im Original Italienisch). 422 Vgl. Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 3 f. 423 Vgl. Vattimo, Die Spur der Spur, 120 – 122.
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von Säkularisierung überhaupt zu versehen sei, ob es eine »Substanz« voraussetzt, an der sie sich vollzieht, ob es einen »Rest«, einen »Kern« gibt, der ihr nicht anheimfällt, oder ob sich jeder Ursprung und jede Substanz ganz im Prozess der Säkularisierung auflösen.424 Diese Alternative scheint mir nicht zielführend. Ich bin nicht sicher, ob ein Verständnis von Säkularisierung, das an einen Bestand von Inhalten denkt, die einer Schwächung anheimfallen, bis die Grenze eines unauflösbaren Kerns oder Rests, sei dies die Liebe, sei dies der Gottesbegriff, erreicht ist, Vattimos Auffassung gerecht wird. Schwächung meint das Wagnis einer nicht-gewaltsamen Interpretation, das die subversiven Potenziale eines Inhaltes, einer Botschaft freilegt, niemals aber die Zerstörung ihres Ausgangspunktes. Niemals kann sie von der pietas gelöst werden, die wir den Inhalten und Botschaften der Vergangenheit entgegenbringen müssen. Kein »Ergebnis«, wenn man so sagen möchte, der Schwächung könnte selbst für sich einen bleibenden Standpunkt in Anspruch nehmen, der gegenüber dem Original und dem Prozess der Schwächung ausgezeichnet wäre. Vielmehr sind wir je neu zurückgeworfen in die Aufgabe der Interpretation und d. h. der Schwächung jener Inhalte und Botschaften. Es geht Vattimo ja gerade um eine Treue zu jenen Inhalten und Botschaften, denen er dadurch entsprechen möchte, dass er – und das muss in jeder Epoche neu erfolgen – ihren subversiven Gehalt und ihre noch unverwirklichten Möglichkeiten in einer auf Freiheit und Zukunft ausgerichteten Lektüre erinnern möchte. Und darin zeigt sich gerade auch die trinitarische Struktur von Vattimos Denken, setzt sich doch diese Säkularisierung nie an die Stelle ihrer Ursprünge. Umgekehrt jedoch gibt es nur dann einen Ursprung, wenn er sich selbst rückhaltlos gibt. Wenn Michael Hofer auch eine gewisse Schieflage in Vattimos Rückbindung der Menschwerdung »in eine trinitarische Verfasstheit des Absoluten«425 sieht, so ist für ihn doch klar, dass das Denken Vattimos trotz gewisser Mängel in den Bahnen christlicher Tradition zu verorten ist. Anders scheint dies bei Matthias Riedel, der Vattimos Bezug auf die Religion als ein Spiel von Substitutionen und Umbesetzungen beschreibt. Immer klarer werde, dass seine Lehre nichts anderes »als die postmoderne Umformulierung der traditionellen christlichen Heilsgeschichte« sei. Vattimos Hermeneutik könne darüber hinaus beschrieben werden als »postmoderne Umformulierung einer Lehre, die im Wesentlichen mittelalterlich ist«. Riedel sieht bei Vattimo ein Vergessen der »postmodernen Sprechverbote« und früherer Vorsätze, »den alten Geschichtsspekulationen keine neuen entgegenzusetzen«. Ich denke, dass Postmoderne für Vattimo nicht mit Sprechverboten konnotiert ist, sondern viel eher mit der Auflösung einer rigiden Verweigerung, bestimmte Themen in der Philosophie aufzugreifen. 424 Vgl. Hofer, Jenseits von Gnosis und Nihilismus, 186. 425 Hofer, Jenseits von Gnosis und Nihilismus, 183.
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»Sprechverbote« etwa der Religion gegenüber oder der Frage nach der Bedeutung der Geschichte würde Vattimo eher noch einer bestimmten Form von Moderne und deren szientistischer Rationalität zuordnen. Vielleicht ließe sich so das Aufgeben der Sprechverbote auch als Radikalisierung von Vattimos Konzept einer Verwindung der Moderne deuten. Diese Frage betrifft jedoch vornehmlich die Kohärenz der Entwicklung von Vattimos Denken und ist für die Überlegungen dieses Buches, das nicht davon ausgeht, dass Brüche innerhalb eines Denkens die Möglichkeit, von ihm zu lernen, schmälern müssten, nicht unmittelbar von Belang. Entscheidender scheint mir, dass Riedel bei Vattimo eine Substitution alter Geschichtsspekulationen durch neue sieht. Überdies avanciere der Philosoph in seinem quasi heilsgeschichtlichen Konzept selbst zum »Offenbarungsträger«: »Seine eschatologische Bedeutung besteht in der Exegese der Evangelien Nietzsches und Heideggers, deren Implikationen den Autoren selbst noch nicht bewusst werden konnten«, wobei Heidegger eine geradezu »soteriologische Bedeutung«426 erhalte. Vattimo konsultiere Nietzsche und Heidegger, damit sie seinen Geschichtsspekulationen »philosophische Weihen« gäben. All diese Einschätzungen bleiben freilich in einer sehr bildhaftvagen Diktion und bemühen dafür große Worte. Riedel sieht das Interesse seines Beitrages darin, die Wurzeln von Vattimos Denken ausfindig zu machen. In dieser Spurensuche stößt er auf eine Reihe von tatsächlich gewaltigen Substitutionen und Umbesetzungen, welche sich auf die Heilsgeschichte, den Offenbarungsträger, die Evangelien, die Erlösergestalt, die Eschatologie und Vorgänge der Initiation (»philosophische Weihen«) beziehen. Die kaum vorhandene Ausführung der von Riedel vorgetragenen Einschätzung lässt eine Auseinandersetzung damit im Einzelnen nur als sehr schwer möglich erscheinen. Große Aufmerksamkeit verdient allerdings der Umstand, dass Riedel offensichtlich in Vattimos Denken nicht den Versuch einer Übersetzung sieht, sondern eine Umbesetzung, dass er anstelle von Transkriptionen auf Substitutionen trifft. Dies stellt eine ernste Anfrage dar und könnte zu einer gänzlich anderen Beurteilung von Vattimos Anliegen führen – Wiederkehr der Religion entlarvte sich dann als bloßer Ersatz. Andere Mittel der Analyse des Denkens Vattimos, als die hier gewählten, wären angebracht, vielleicht solche, die an die Psychoanalyse anschließen. Bisher sind die Überlegungen dieses Buches davon ausgegangen, dass Vattimos freundschaftlich-anarchischer Gestus Texten in gewandeltem Kontext Gehör und eine neue Stimme zu geben versucht und sich einer Geschichte des Geistes verpflichtet sieht, im Rahmen welcher es zu einer nicht vorhersehbaren Entfaltung und Anreicherung eines Werkes kommen kann und in welcher Linien, Ideen und Tendenzen auszuma426 Vgl. Riedl, Säkularisierung als Heilsgeschehen: Gianni Vattimos postmoderne Eschatologie, 171 – 184.
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chen sind, die als subversive Kontinuität lesbar werden. Ob sich Vattimos Denken selbst in eine geschichtliche Kontinuität der Übersetzungen und Transkriptionen biblischer Botschaft einreihen kann oder aber diese Mühe scheuend bloß die Neubesetzung alter Sujets vornimmt, kann nicht durch einen Blick von außen entschieden werden, sondern muss sich in einem Versuch genauer Analyse des Voranschreitens der Argumentation von Vattimos Konzept erweisen, weil es hier nicht bloß um Resultate, sondern um die Qualität eines Übergangs zu tun ist. Der zweite Teil dieses Buches versucht darum, anders als der erste, der summarisch bestimmte Motive aus dem Denken Vattimos herausgegriffen hat, entlang eines Textes in die Argumentation Vattimos selbst einzutreten. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob wir heute lediglich noch zu punktuellen Umbesetzungen von Elementen vergangener Mythen gelangen oder ob auch unsere Zeit zu einer lebendigen und kontinuitätsstiftenden Transkription religiöser Erzählung etwas beizutragen hat. Vattimos Überlegungen scheinen von dieser Hoffnung getragen. Bleibt in Riedels Analyse von Vattimos Konzept die Rolle Gottes unerwähnt, so konzentriert sich eine andere Anfrage gerade auf deren mögliche Substitution. In einer Besprechung mehrerer 2006 erschienener philosophisch-theologischer Bücher gibt Uwe Justus Wenzel in der Neuen Zürcher Zeitung seiner Verwunderung Ausdruck, dass niemand »am Wegesrand zu stehen« scheint, um Vattimo, »den Wanderer im Nirgendwo zwischen Philosophie und Religion zu fragen, ob die Tradition denn ein Gott sei«. Immerhin ließe sich so jenes Vakuum füllen, welches entsteht, wenn der Halbgläubige »eher eine Religion ohne Gott als eine mit Gott«427 konstruiert. Vattimo als Wanderer im Nirgendwo zwischen Philosophie und Religion anzusprechen, bringt zum Ausdruck, dass sein Denken nicht unmittelbar in einer Ordnung voneinander getrennter Diskurse der Philosophie und Theologie zu verorten ist. Man kann dies als Beliebigkeit, Relativismus und ein Verwischen von Grenzen verstehen, aber auch als Suche nach einem unbefangeneren Zugang zur abendländischen Tradition, für den eine strikte Trennung von Religion und Aufklärung nicht mehr sinnvoll ist. Gefragt nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie betont Vattimo explizit die Herkunft okzidentaler Philosophie von der christlichen Offenbarung, sodass Philosophie zu betreiben für ihn bedeute, »einen christlichen Diskurs in Termini der zeitgenössischen Philosophie zu entfalten«428. Ohne ihren christlichen Kern hätten die moderne und die 427 Wenzel, Gretchenfrage, Art. in: NZZ 3. Juni 2006. 428 Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 77; vgl. 75 – 77. Thomas Eggensperger hebt im Rahmen seiner ausführlichen Besprechung von »Glauben – Philosophieren« in der abschließenden Beurteilung Vattimos philosophischen Bezug auf die Religion als einen intelligent vollzogenen Rekurs hervor (Vgl. Eggensperger, Die Wiederentdeckung der Religion, 78).
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zeitgenössische Philosophie nicht viel Sinn. Allerdings müsse mit dieser Erkenntnis auch die Theologie Starrheit und Rückzug von der Philosophie ablegen, zumal letztere ja auch eine Fortschreibung der Offenbarung darstellt. Genauer sind die beiden inhaltlichen Einwände gegenüber dem Konzept Vattimos zu betrachten. Zunächst ist die Frage aufgeworfen, ob denn die Tradition ein Gott sei. Was es bedeuten soll, dass der Tradition die Rolle des Absoluten zukommt, wäre wohl am ehesten an einem übersteigerten Historismus oder Historizismus zu erfragen. Diese lehnt Vattimo jedoch in den Bahnen des frühen Heidegger ab.429 Darüber hinaus aber gilt es zu sagen, dass es nach dem Zusammenbruch der großen Erzählungen und einem damit einhergehenden »Verlust von Geschichte«430 heute nicht mehr möglich ist, Tradition in ungebrochener Weise und unmittelbar affirmativ aufzunehmen, um sie dann allenfalls gar zum Absoluten zu verklären. Die Frage ist vielmehr, ob sich in jenen Brüchen neue, schwache Refigurationen von Geschichte ergeben können. So betrachtet Vattimo Tradition gebrochen hinsichtlich des sich in ihr zeigenden subversiven Gehaltes. Gott wird nicht mit der Immanenz von Geschichte oder Tradition gleichgesetzt, sondern in der Suche nach ihren subversiven Tendenzen sollen Geschichte und Tradition in ihrer Transzendenz und ihrem unabgegoltenen Gehalt, die sie nie gänzlich mit ihren jeweiligen Interpretationen zusammenfallen lassen, lesbar werden. Es kann somit nie eine unmittelbare Verortung Gottes in der Tradition geben; andererseits muss gefragt werden, was ein Gottesverhältnis wäre, welches nicht durch die Tradition vermittelt ist. Es müsste der sich jeder Kontinuität versagende apokalyptische Einbruch des ganz Anderen sein, der Riss und die Singularität, welche eine Unmittelbarkeit für sich in Anspruch nähmen, die bloß die Negation jeder Geschichte und Überlieferung wäre und in dieser Bewegung der Abhebung von ihnen bestimmt bliebe. Das Verhältnis von Gott und Tradition stellt sich mithin als wesentlich komplexer dar. Keineswegs kann Tradition einen fehlenden Gottesbegriff substituieren. Dies führt uns zur zweiten Anfrage Wenzels, ob Vattimo nicht eher eine Religion ohne Gott als eine mit Gott konstruiere. In welcher Weise kann man dieser Frage antworten? Durch den Aufweis einer bestimmten Häufigkeit der Nennung Gottes? Oder indem man ausmacht, ob in seinem System eine Stelle für Gott frei bleibt? Drängt diese Frage auf den alles entscheidenden Punkt hin, ob nun das Konzept Vattimos noch Religion sei oder nicht, Vattimo selbst noch Theist oder schon Atheist? Vattimo könnte darauf antworten, es handle sich dabei nicht um eine Frage theoretischer Positionierung oder persönlicher Wahl, sondern um die einer Treue zu jenem geistigen Hintergrund, dem man selbst entstammt: »… ich möchte versuchen, dem Text treu zu sein, von dem ich 429 Vgl. dazu etwa: Vattimo, Os mÀ, 173. 430 Appel, »Postatheistische« Religionskritik und die Fragwürdigkeit der Gottesfrage, 69.
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ausgehe, das ist die Heilige Schrift«431. Dies ist der Horizont, in dem Vattimo auch die Frage nach Gott stellt, sodass er in Bezug auf das Credo sagen kann: »Wenn ich sage, ich glaube an Gott, den Schöpfer, sage ich, dass ich an den Gott der Heiligen Schrift glaube, der die Summe einer Fülle von Elementen ist, aus denen ich lebe. Es ist wie eine Rekonstruktion der eigenen Menschlichkeit in ihren Grundlagen.«432 Die Frage nach Gott führt für Vattimo nicht in eine letzte Entscheidung oder Grundfrage, sondern ist für ihn situiert im Horizont der Bibel und gestaltet sich als Frage nach dem Umgang mit dieser Tradition. Die Frage nach der Existenz und Bestimmung Gottes tritt für Vattimo hinter die Frage nach der Interpretation der Schrift zurück: »… wenn ich vom Gott der Bibel spreche, spreche ich von dem Gott, den ich nur durch die Bibel kenne und der kein Subjekt da draußen ist.«433 Vattimo bezieht sich auf die biblische Erzählung, welche von Gott nicht unabhängig von seinem Erweis und menschlicher Bezeugung spricht. Tatsächlich scheint es, dass für Vattimo die Frage nach Gott immer auf ein Sich-Erweisen als Zukunft einerseits und auf Orte seiner Bezeugung andererseits verweist, von denen unabhängig sie nicht gestellt werden kann. So spricht Vattimo von Gott als der guten Möglichkeit des Menschen. Mit guter Möglichkeit meint Vattimo zunächst, dass sich in der überlieferten Geschichte auch eine positive Zukunftsperspektive anzeigt, Geschichte als eschatologisch geöffnet erscheint. Dabei steht Gott jedoch nicht in erster Linie für ein Ziel und einen guten Ausgang der Geschichte, sondern für eine konkrete geschichtliche Option: »In dieser Perspektive öffnet sich die Frage, wie Gott sich mir gibt, und das heißt: Wenn sich Gott mir gibt wie meine gute Möglichkeit, dann scheint es mir immer mehr, dass diese von den Besiegten der Geschichte verkörpert wird, die noch mehr zu geben haben als die Sieger.«434
Vattimo gibt an dieser Stelle erneut eine überraschende Verbindung von Heidegger und Benjamin, wenn er davon spricht, dass sich die Transzendenz der Stimme des Seins darin zeigt, dass sie auf all das verweist, was – weil unterdrückt – nicht zum Ausdruck kommen konnte und dennoch eine Zukunft haben muss. Es ist »die Stimme der Armen«, denen – mit Verweis auf die Seligpreisungen – das Heil gehört. Zukunft haben wir aus der Verheißung an die Zukunftslosen, d. h. insofern wir an deren Verheißung teilhaben können.435 Damit in Verbindung verweist die Gottesfrage immer auch auf den Ort ihrer 431 432 433 434 435
Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 19 (im Original Italienisch). Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 28 (im Original Italienisch). Vattimo/Rorty/Zabala, Die Zukunft der Religion, 91. Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 20 (im Original Italienisch). Vgl. Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 20; vgl. Vattimo, Della reali, 208 – 216.
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konkreten Bezeugung, d. h. sie wird zur ekklesialen Frage, wenn »Kirche« als Ort der Bezeugung der Schrift einerseits und jener Zukunftshoffnung andererseits gesehen wird. Sie ist zum einen der Bezugspunkt, der sich auf die Kontinuität der Tradition der Schrift verpflichtet sieht, zum anderen ist für Vattimo die Gemeinschaft auch der Ort des Sich-Ereignens der Transzendenz Gottes.436 Immer wieder verweist Vattimo auch auf Bonhoeffer, der gegen jede Versicherung der Anwesenheit und Existenz Gottes auftritt, wenn er sagt: »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht«.437 »Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15, 34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.«438 Dass Gott nicht als eine bestimmte Stelle in einem System gedacht werden kann, und sei es im Sinne eines unerschütterlichen Fundamentes, zeigt sich für Vattimo wohl auch vermittelt über die für ihn so wichtige hegelsche Interpretationslinie des Christentums. In der Phänomenologie des Geistes führt der Gottesgedanke in eine Bewegung radikaler Entäußerung jeglicher Versuche, sich der Welt mithilfe eines letzten Fundaments zu bemächtigen. Erst in diesem Zerbrechen ist für Hegel der Beginn der Religion zu sehen.439 In Anklang an den Hegelianer Benedetto Croce widersetzt sich Vattimo den Versuchen einer unmittelbaren Zuschreibung, wie sie sich in der Alternative Religion mit Gott oder ohne Gott ausdrücken ließen, indem er ein paradoxes Wort aufgreift: »Gott sei Dank bin ich Atheist«440. Es geht dabei um einen »Denkgestus, der sich einer eindeutigen Zuordnung ›Theismus-Atheismus‹ entzieht, ohne deshalb ins Beliebige zu verfallen«441. Überdies ist – zumindest in Europa – für den heutigen Zeitgenossen die allzu wortreiche und informierte Rede über Gott verdächtig, wenn nicht sogar nichtssagend geworden, weshalb sich auch die Gottesfrage nicht mehr unmittelbar stellen lässt, sondern Ausschau zu halten ist, wo sie in einer Bewegung des Denkens vielleicht wiederkehrt. Man müsste wohl zunächst die Frage stellen, wo in einem Denken ein Moment der Transzendenz aufbricht, um dann zu erwägen, ob sich dessen Unverfügbarkeit in noch tieferer Weise durch den Namen Gottes »bezeichnen« und dadurch schützen lässt. Damit sind wir bei einer noch schärferen Anfrage an das Konzept Vattimos angelangt. Branko Klun spricht nach einer sehr informativen Zusammenfassung von Vattimos hermeneutischer Philosophie und deren Bezug auf das Christen436 437 438 439 440 441
Vgl. Vattimo/Dotolo/Girogio, Dio: la possibilit buona, 13, 19. Vgl. Weiß, Gianni Vattimo, 174; Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 53. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Brief vom 16. Juli 1944, 192. Vgl. Appel/Auinger(Hg.), Eine Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes, 347 – 352. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 51. Appel, »Postatheistische« Religionskritik und die Fragwürdigkeit der Gottesfrage, 71.
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tum bei aller Wertschätzung für den Versuch, Religion und Philosophie wieder in ein Gespräch zu bringen, von einer »Aufhebung der Transzendenz«442, welche anders als im hegelschen Verständnis von Aufhebung zu deren Verlust führe. Derselbe Vorwurf findet sich (mit wesentlich größerer Skepsis gegenüber Vattimos Überlegungen) auch bei Frederiek Depoortere, der jedoch den Verlust der Transzendenz Gottes der Nähe Vattimos zur hegelschen Christologie zuschreibt.443 Bezüglich der Frage der Transzendenz schreibt Klun: »So gesehen hat bei Vattimo der Glaube, der nicht ohne einen gewissen Bezug zur Transzendenz zu denken ist, keinen Platz mehr und wird völlig vom Prinzip der Liebe ersetzt. […] Im Unterschied zu Hegel kennt Vattimos ›Aufhebung‹ keine dialektische Komplexität, zu der auch das Moment des Bewahrens gehört, sondern wird als eindeutige Verweltlichung und ›Vergeschichtlichung‹ verstanden.«444
Der Text spricht davon, dass dem Glauben, der untrennbar mit Transzendenz verbunden sei, kein Raum mehr bleibe und nennt unmittelbar danach erneut eine Substitution, nämlich des Glaubens durch das Prinzip der Liebe. Nun kann aber Liebe selbst nur als transzendentes Geschehen beschrieben werden, ja ist vielleicht sogar höchster Ausdruck von Transzendenz. Einerseits ist von einem Verlust der Transzendenz die Rede, andererseits von ihrer Ersetzung durch das Prinzip der Liebe, die selbst transzendenten Charakter hat. Offensichtlich lässt sich auch in den Darstellungen Vattimos ein transzendentes Moment, selbst wenn man dessen Ausfall herausstreicht, nicht ganz vermeiden. Energisch erklärt Depoortere dies als eine Problematik im System Vattimos, zumal ein solches Moment im Prozess der Säkularisierung, der zum Verlust jeglicher Transzendenz führen müsse, nicht mehr auftreten dürfe.445 Vermieden wird dabei jedoch die Frage, ob die Rekonstruktion von Vattimos Verständnis von Säkularisierung mit einem undialektischen Verständnis von Aufhebung, dem das Moment der Bewahrung abhandenkommt, tatsächlich arbeiten kann. Ich möchte mich bei den nun folgenden Überlegungen an Kurt Appel halten, der anders als Klun Vattimos Aufnahme des Terminus der Aufhebung nicht als reduktiv, sondern als bemerkenswert ansieht. Mit dieser Kennzeichnung soll wohl zum Ausdruck gebracht werden, dass der Begriff in einer überraschenden, produktiven Weise die drei Momente des Bewahrens, Auflösens und Erhöhens verbindet und nicht lediglich in mechanistischer Anwendung auftaucht. Appel expliziert im Terminus Aufhebung folgende Struktur einer Wiederkehr : »Traditionen, besonders solche religiöser Art, sind in ihrer Schwäche und Aufgehobenheit im Letzten stärker als jeder menschliche (scheinbar postreligiöse) Neuanfang: 442 443 444 445
Klun, Metaphysikkritik und biblisches Erbe, 63; vgl. auch 53 – 62. Vgl. Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 22, 24, 139 und öfter. Klun, Metaphysikkritik und biblisches Erbe, 63 f. Vgl. Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 20.
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Sie bleiben präsent in der Gestalt von Erzählungen, die sie transformieren, ohne ihren Sinn völlig verlöschen zu können.«446
Wo die Plausibilität geschichtlicher Notwendigkeiten und Teleologien zerbrochen ist, begegnen Traditionen nur mehr als schwache und bedrohte. Vattimos Konzept lebt Appel zufolge aus dem Bewusstsein, und d. h. aus dem Hoffnungsgedanken, dass religiöse Traditionen in ihrem Schwinden nicht einfach sprach- und bedeutungslos der Anihilierung anheimfallen, sondern den Charakter der Aufgehobenheit haben, was auch das Moment ihres Bewahrens ausdrückt. Ihre Präsenz ist freilich keine ungebrochene, sondern zeigt sich in Prozessen der Transformation, die in einer dialektischen Struktur gesehen werden müssen: Religiöse Traditionen bleiben präsent in anderen Erzählungen, die von ihnen transformiert werden, ohne dass der Sinn dieser Erzählungen gänzlich ausgelöscht würde. Die religiösen Traditionen bleiben darin jedoch selbst nicht unverändert, zumal jene Erzählungen, in denen sie präsent bleiben, auch ihren Sinn, d. h. den Sinn der religiösen Erzählungen, transformieren, ohne ihn jedoch vollständig preiszugeben. Kluns Anfrage weist jedoch noch in eine andere Richtung: »Die Dimension des Transzendenten, des Heiligen, des Anderen und des Geheimnisvollen wird unter dem Vorwand der Gewaltlosigkeit und Emanzipation (die bei Vattimo das Ziel der Liebe zu sein scheint) ›geschwächt‹, d. h. auf eine Botschaft reduziert, die nur noch als hermeneutisches Ereignis existiert.«447
Klun sieht mit dem Transzendenten, dem Anderen, dem Heiligen und dem Geheimnisvollen Bereiche angesprochen, die der Schwächung enthoben sein müssten, wobei er Schwächung mit Reduktion auf eine Botschaft gleichsetzt. Gingen jene Bereiche in den Prozess der Schwächung ein, würden sie zum Verschwinden gebracht. Zunächst ist die Frage zu stellen, was mit Schwächung gemeint ist. Für Vattimo bedeutet Schwächung ein Ablassen von den Versuchen der Bemächtigung, um Verletzlichkeit, Fragilität und Unverfügbarkeit des Seins und Daseins anzuerkennen. Gerade dadurch sind aber auch das Transzendente, das Heilige, der/das Andere, das Geheimnisvolle selbst gekennzeichnet. Schwächung steht somit jenen Dimensionen nicht entgegen, sondern will sie gerade vor ihrer Vereinnahmung schützen. Sie als Botschaften und hermeneutisches Ereignis anzusehen, hat für Vattimo nicht den Charakter einer Reduktion auf einen minderen Seinscharakter, sondern bringt ihre Sprachlichkeit zum Ausdruck, die um eine Herkunft weiß, die nicht aus der Reflexion des Bewusstseins abzuleiten ist, sondern uns (aus einer langen Tradition der Bezeugung) anspricht und auf eine Antwort wartet. Vattimos Konzept verschließt sich 446 Appel, »Postatheistische« Religionskritik und die Fragwürdigkeit der Gottesfrage, 73. 447 Klun, Metaphysikkritik und biblisches Erbe, 64.
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nicht gegenüber der Erfahrung des Transzendenten, allerdings sind die Hinweise darauf spärlich und gibt er selbst keine »Phänomenologie« dessen mehr, sondern verweist lediglich, wovon später noch zu handeln ist, auf die Sprache des Gebetes, auf die Erfahrung der Kreatürlichkeit, des Schmerzes, des Bösen und der Vergebung. Ich schließe mich dabei der Einschätzung Appels an, der in diesem Zusammenhang festhält: »Wenig entwickelt, aber doch indirekt angedeutet, wenn Vattimo etwa von der Erfahrung des Gebets als Krux jeder Philosophie spricht […], oder davon, dass die Geschichte, will sie nicht selber ein ausgangsloses System darstellen, über sich hinausweist, findet sich bei Vattimo der Gedanke einer göttlichen Transzendenz, die nicht in der Schwäche des hermeneutischen Prozesses und des Verzichts auf noetische und ethische Selbstbehauptung verortet wird.«448
Der Gedanke, dass Geschichte nicht ausgangsloses System sei, sondern über sich hinausweise und Vattimo darin auch ein Moment der Transzendenz veranschlage, lässt sich im ersten Teil des bereits erwähnten Gespräches, das Giorgio mit Dotolo und Vattimo führte, zeigen: »Von der Transzendenz, die ich gerade nicht negiere, sage ich nur, dass sie sich in der kontinuierlichen Modifikation eines Heilsplans gibt, der in Bewegung ist. Die Transzendenz ist der Heilsplan, der sich entgegenstellt oder die Ereignisse zieht oder sie richtet von einem Gesichtspunkt aus, der sich von jenem der reinen Ereignisse unterscheidet.«449
Der Begriff der Transzendenz wird von Vattimo mit dem Motiv des Heilsplans verbunden und hängt mit einer Perspektive zusammen, welche die Ereignisse davor bewahrt, entweder in die ausgangslose Immanenz »der reinen Ereignisse« oder in eine gänzliche Unbezüglichkeit zu fallen, was jeweils zur Auflösung der Erzählbarkeit von Geschichte führte. Dieser Heilsplan darf (als transzendenter) nie positiviert werden, sondern erweist sich gerade in seiner Modifikation, das heißt in einer Bewegung seiner Überschreitung. Damit kann wohl nicht gemeint sein, dass es einen den Ereignissen zugrundeliegenden Plan der Geschichte gäbe, der von Zeit zu Zeit geändert würde. Vattimo spricht demgegenüber von einer kontinuierlichen Modifikation des Heilsplans und deutet damit ein grundsätzliches Moment der Offenheit an. Wie kann dieses aber noch gedacht werden, wenn doch für Vattimo der Abschluss von Geschichte in Jesus Christus gegeben ist und der Heilsplan auch nicht einfach eine Verdoppelung der veränderlichen Geschichte sein kann? Worauf können sich Offenheit und Überschreitung hier noch beziehen? Ich denke, dass die kontinuierliche Modifikation zum Ausdruck bringt, dass nicht allein Geschichte nicht ohne Heilsplan gedacht werden kann, 448 Appel, »Postatheistische« Religionskritik und die Fragwürdigkeit der Gottesfrage, 73. 449 Vattimo/Dotolo/Girogio, Dio: la possibilit buona, 17.
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sondern auch dieser nicht ohne und getrennt von der Geschichte. In jeder Epoche muss die Frage gestellt werden, was angesichts der Bedrohungen, denen Menschen ausgesetzt sind, die Rede von einem Heilsplan überhaupt bedeuten kann. Inwiefern kann der Gedanke eines transzendenten Heilsplans zum sich entgegenstellenden, richtenden, verändernden, kritischen Moment in einer Zeit werden, das verhindert, dass die Ereignisse gänzlich mit sich selbst zusammenfallen? Die Transzendenz liegt dann nicht darin, dass der Heilsplan, wie Vattimo schreibt, in einer »anderen Welt« angesiedelt wäre, sondern im Charakter der Selbstüberschreitung seiner Bedeutung. »Transzendenz« und »Heilsplan« sind damit keine »metaphysischen« Begriffe einer anderen (d. h. übersinnlichen) Welt mehr, sondern streng auf die Geschichte bezogen (ohne jedoch daraus ableitbar oder darin auflösbar zu sein). Sie verlangen nach der Frage, was ihr Sinn und ihre Bedeutung heute sein kann und ob ihr Verständnis etwas dazu einträgt, nicht zuletzt über das Menschliche etwas zum Ausdruck zu bringen. Vattimo selbst arbeitet dies nicht weiter aus, weist aber auf diese Fragerichtung hin, womit sich die ihm gestellte Frage, ob Transzendenz (und andere theologische Motive) in seinem Denken einen Platz hätten, auch an die Theologie zurückwendet: Was können all diese Begriffe, deren Fehlen oder inadäquate Deutung beklagt wird, heute noch bedeuten? Was können sie uns über das Menschliche zum Ausdruck bringen? Hier zeigt sich eine entscheidende Umkehrung der Frage an. Viele der an Vattimos Konzept gerichteten Anfragen werden wohl offen bleiben, auch wenn sie, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht als zwingende Gründe einer Ablehnung von Vattimos Bezug auf die Religion gelten müssen. Der investigative Gestus, ob denn philosophische oder literarische Fortschreibungen biblischer Erzählung sämtliche theologisch relevante Motive in adäquater Form enthalten, kehrt sich aber gleichzeitig um und kommt auf den Fragensteller, der sich zum Anwalt der theologischen Begriffe macht, zurück. 2) Sämtliche Überlegungen Vattimos setzen die Moderne als ihren Hintergrund voraus.450 Auch die sprachlichen Signale, welche ihr Ende diagnostizieren, erweisen sich als an sie gebundene Präfixe: Post- und Spätmoderne markieren einen Kontext, welcher »an das gebunden [ist], was man unter Moderne versteht«451. Ebenso wie die ihr korrespondierende Metaphysik kann auch sie nicht einfach als Überwundene verlassen werden. Auch die von regressiven Strömungen ersehnte Rückkehr in eine Zeit vor der Moderne kann sich nicht als eine authentische Rückkehr in die Geschlossenheit des mittelalterlichen Kosmos entfalten, sondern bleibt als Bewegung der Absetzung an die Moderne gebun450 Vgl. Vattimo/Eggensperger/Engel/Schröder, Christentum im Zeitalter der Interpretation, 43. 451 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 11.
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den. Eine Akklamation der Postmoderne, welche in ihrer Rhetorik vom Ende der Moderne diese hinter sich lassen möchte, und ein Konservativismus, welcher auf eine Gelegenheit zum Ausstieg aus und der Abrechnung mit dieser verderbten Epoche wartet, stimmen im Versuch, die Moderne als Hintergrund ihrer Überlegungen zu verlassen, überein. Hierbei können sich in der Kritik an der Moderne unversehens (politisch) konservative Allianzen einstellen. Den schillernden Begriff der Moderne versucht Vattimo in dem Motiv des Neuen zu fokussieren, insofern es sich um jene Epoche handle, in welcher im Gegensatz zu Antike und Mittelalter »die Tatsache modern zu sein zu einem bestimmenden Wert wurde«452. Der Moderne wohnt eine Ambivalenz inne, die sich in ihrem umfassenden Herrschaftswillen einerseits, in ihrer auflösenden Tendenz andererseits darstellt. Phänomenaler Ausdruck des auflösend-zersetzenden Charakters sind in all ihrer Ambivalenz etwa das Verlassen einer natürlichen Sittlichkeit, genealogischer Ordnungen und der Beheimatung in Gemeinschaften, der Abbau hegemonialer Strukturen in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit, die durch die Naturwissenschaften wie die Psychoanalyse eintretende Ernüchterung in der Sichtweise des Menschen und das Auftreten eines unkontrollierbaren »Babels« der Massenmedien. Diese auch als »Prozesse der Schwächung« des Herrschaftscharakters der Moderne und nicht allein als Prozesse nihilistischer Zersetzung zu lesen, ist die Option und Aufgabe, unter der Vattimos Versuch, die Moderne zu denken, steht. In dieser auf Zukunft hin offenen und einem bestimmten Leitfaden unterstehenden Lesart sieht Vattimo »die Substanz der Moderne«453. Moderne ist mithin nicht bloß eine Epochenbezeichnung, sondern ein Programm, eine Vision. Das auf ihrem Boden bleibende Wissen um Grenzen, Ambivalenz, Erschöpfung, Krise, Bedrohtheit, aber auch um ihre Schwächung, Erleichterung und den Abbau gewaltsamer Strukturen versteht Vattimo als Spätmoderne, d. h. als unseren aktuellen philosophischen und gesellschaftspolitischen Problemhorizont. Die Spätmoderne überwindet die Moderne nicht, es gilt, sie als Abschied von der Moderne zu erzählen. Die Moderne fungiert als der gemeinsame Deutungshorizont der unterschiedlichen Zugangsweisen, welche Vattimo bezüglich einer Wiederkehr der Religion aufgreift. Es ist dies zum einen die der Moderne verpflichtete philosophische Reflexion, welche ihn in Fortführung seiner bisherigen Arbeit und in Beobachtung gegenwärtiger Diskurse zu einer Wiederaufnahme der Frage nach der Religion drängt. Zum anderen veranlassen ihn die kontroversiell beurteilte »Wiederkehr der Religion im allgemeinen Bewusstsein«454 sowie persönliche 452 Vattimo, Die transparente Gesellschaft, 11. 453 Vattimo, Jenseits des Christentums, 125. 454 Vattimo, Die Spur der Spur, 110.
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Gründe und lebensgeschichtliche Erfahrungen als Zeitgenosse der Spätmoderne dazu: »Die gemeinsame Wurzel des in unserer Gesellschaft verbreiteten religiösen Bedürfnisses und der Wiederkehr (der Plausibilität) der Religion in der heutigen Philosophie besteht in dem Bezug dieser Phänomene auf die Moderne als das wissenschaftlich – technische Zeitalter …«455
Weil wir die Moderne, wie Vattimo überzeugt ist, nicht verlassen können, vermag nur eine »moderne Religiosität«456, d. h. eine Religion auf dem Boden der Moderne, authentische Gestalt unserer Zeit zu sein. Vattimo zufolge avanciert die Ausgestaltung des Verhältnisses zur Moderne zur Schicksalsfrage des Christentums und zur grundlegenden Weichenstellung für die Zukunft, ist es doch vor die Alternative gestellt, »entweder das Schicksal der Moderne (und das ihrer Krise, ihres Übergangs zur Postmoderne) auf sich zu nehmen oder aber die eigene Fremdheit ihr gegenüber zu behaupten«457, was seinen Weltauftrag, seine »weltliche Berufung«458, unterliefe. In diese Situation stellt Vattimo seinen Versuch, einen Zusammenhang der Erzählung der Moderne (und von Erzählungen der Moderne) mit der biblischen Erzählung zu wahren. Diesen Gedanken einer Vermittlung streicht trotz mancher Kritikpunkte auch Ulrich Engel heraus, wenn er davon spricht, dass es Vattimo gelinge, »grundlegende Daten der christlichen Tradition dem postmodernen Diskurs zugänglich zu machen«459. An dieser Stelle möchte ich nun auf einige Anfragen an Vattimos Überlegungen zur Religion eingehen, die gerade jenen Versuch, einen Zusammenhang von Moderne (bzw. Säkularisation) und biblischer Erzählung zu wahren, betreffen, und anschließend auch einige Weiterführungen seines Konzeptes nennen. Dass Vattimos Bezug auf die Religion selbst in der Moderne verwurzelt ist und eine Antwort auf Probleme und Fragen der Moderne zu geben versucht, wird übersehen, wenn in Rezensionen460 zu Vattimos Texten zur Religion bloß von »zufälligerweise und äußerlich« gefundenen Fragen gesprochen wird oder Urteile wie »große Innigkeit«, »bloß schnell schreibendes Assoziationsdenken«, »dekonstruktivistische Spielchen«, »suggestives, der Argumentation sich entschlagendes Kokettieren mit religiöser Erbaulichkeit« beigebracht werden. Die folgenden Überlegungen haben gemeinsam, bei aller Kritik dem Denken Vat-
455 456 457 458 459 460
Vattimo, Die Spur der Spur, 111. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 63. Vattimo, Jenseits des Christentums, 134. Vattimo, Jenseits des Christentums, 136. Vattimo/Eggensperger/Engel/Schröder, Christentum im Zeitalter der Interpretation, 64. Vgl. dazu etwa die zahlreichen zu »Jenseits des Christentums« im Internet zugänglichen Rezensionen.
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timos gegenüber dieses ernst zu nehmen und vor dem Hintergrund der Moderne zu befragen. Verschiedene Positionen zeichnen sich hier ab. In seinem Buch Vattimo and Theology verfolgt Thomas G. Guarino das Ziel eines Dialoges und einer kreativen Auseinandersetzung »zwischen dem Philosophen, der ein fortwährendes Interesse gegenüber dem Christentum aufrechterhält, und der großen Tradition theologischen Denkens«461. In der Conclusion weist er jedoch in einem durchaus drastischen Bild auf die dabei bestehende Gefahr hin: »Vattimo möchte sicherlich dem Christentum Gehör schenken, ja sogar seine Begrifflichkeit in den öffentlichen Raum wieder einführen, aber dafür muss es grundsätzlich neu überdacht und in der Tat in seinen fundamentalen Motivationen verraten werden [betrayed in its fundamental instincts]. Aufgrund seiner Hingabe an Heidegger und Nietzsche kann man legitimerweise den Verdacht schöpfen, dass ein theologischer Dialog mit Vattimo einfachhin das antike Axiom bibere venenum in auro, Gift aus goldener Schale trinken, veranschaulicht – was, einfach gesagt, bedeutet, dass, während seine Arbeit in betörender Weise christlich scheint, verborgenes Gift hinter der verführenden und kokett der ›caritas verpflichteten‹ Botschaft [›charitable‹ message] lauert.«462
Worin kann diese große Gefahr bestehen? Sie rührt für Guarino wohl in letzter Hinsicht von dem her, was er »Gnostic proclivities«, gnostische Neigungen, in Vattimos Versuch einer Verwindung des Christentums nennt: »Nahezu jeder Schlüsselbegriff des christlichen Mysteriums wird tiefgehend reinterpretiert und behandelt wie ein alter Weinschlauch, der mit neuer und fremder Weinlese zu füllen ist und in der Tat dabei zerreißt.«463 Vattimo gäbe klassischen theologischen Termini eine ihnen gänzlich fremde Bedeutung, sodass das Christentum darin nicht wiedererkannt werden könne. Die Gefahr liegt offensichtlich in der Möglichkeit, Vattimos explizite Verwendung christlicher Begriffe und Motive für eine authentische Interpretation des Christentums zu halten und dabei eine grundlegende Inkongruenz zu übersehen. Könne man Vattimo anfänglich als Verbündeten (»ally«464) gegen eine Auflösung der Religion in Philosophie und gegen ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Raum, beides typische Phänomene der Moderne, ansehen, so stellt sich für Guarino die Frage, ob Vattimos Bezug auf die Religion nicht doch noch einmal als ein weiterer Versuch der Moderne, sich der Religion zu bemächtigen und sie in ihrem Eigenwert aufzulösen, gelten muss: »Aber ist nicht solch ein Zugang – indem jeder einfältige ›Aberglaube‹, inklusive der Bibel, ›überfrachtet mit Mythen‹, nun dem schwa461 462 463 464
Guarino, Vattimo and Theology, 3 (im Original Englisch). Guarino, Vattimo and Theology, 144 (im Original Englisch). Guarino, Vattimo and Theology, 152 (im Original Englisch). Guarino, Vattimo and Theology, 157 (im Original Englisch).
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chen Denken untergeordnet – einfachhin modernity revisited hinsichtlich einer Vernunft, die, wenn auch in ihrem geschwächten Zustand, immer noch den Glauben meistern und bezwingen muss?«465 Guarino fragt schließlich, ob es sich dabei um eine gnostische Verdünnung des Christentums in eine philosophische Idee handelt, nämlich die hegelsche Entzweiung des Geistes in die Welt. Auf der einen Seite gehe für Vattimo der Gedanke der Erlösung in einem an Nietzsche orientierten, postmetaphysischen und postmodernen Relativismus auf, der lediglich zu wechselnden Konstruktionen der Realität komme, die offensichtlich den Gedanken eines sammelnden Logos ablehnen. Auf der anderen Seite beklagt Guarino jedoch, dass der Master Narrative von Vattimos Verwindung der Religion die Vernunft bleibe und fragt, ob es sich dabei nicht bloß um eine Wiederauflage von Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft handle.466 Es scheint, als sähe Guarino bei Vattimo einerseits eine zu starke Rolle der Vernunft, andererseits eine zu schwache, einerseits zu viel Postmoderne, andererseits zu wenig. Bringt dieses Changieren eine Problematik in Vattimos Denken ans Licht oder eher eine Ambivalenz von Guarinos eigener Position gegenüber der Moderne? Was Guarino im Sinn hat, ist offensichtlich theological postmodernity, was er nicht selten mit einer ungebrochenen Rhetorik des Beherrschens und des Kampfes vertritt und illustriert. Er wende sich, wohl in einer großen Skepsis gegenüber dem Programm der Autonomie der Vernunft, wie es für die Moderne charakteristisch ist, gegen die Vorstellung, dass die moderne Philosophie etwas zur Explikation des Glaubens einträgt: »Wir haben uns jenseits der Moderne hin zu einer theologischen Postmoderne bewegt, genau in dem Ausmaß, dass wir ›moderne‹ philosophische Fundierungen als für ein angemessenes christliches Denken inadäquat erkennen.«467
Dabei erneuert er die Vorstellung von Theologie als höchster Erkenntnisweise, der andere Wissenschaften wie auch Philosophie und Metaphysik untergeordnet seien. Sie hätten der Theologie gegenüber lediglich eine dienende Rolle zu übernehmen: »Metaphysik muss also, wie jede Art des Denkens, die sich christliche Theologie zu eigen macht, in performativer Weise vom Glauben diszipliniert werden (performatively disciplined by faith), gerade weil der Glaube jede Form des Denkens zu Diensten der Intelligibilität christlicher Wahrheit nutzt.«468
465 466 467 468
Guarino, Vattimo and Theology, 156 (im Original Englisch). Vgl. Guarino, Vattimo and Theology, 155 f. Guarino, Vattimo and Theology, 94 (im Original Englisch). Guarino, Vattimo and Theology, 95 (im Original Englisch).
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Diese Wendung fällt in einem Kapitel, das selbst den Titel The performative disciplining of philosophy by faith trägt.469 Guarino optiert für einen Primat des Glaubens gegenüber der Vernunft, gleichzeitig für eine starke Metaphysik, die sich dem Glauben unterordnen, ihm aber zu Hilfe eilen müsse, um einerseits einen Fideismus abzuwehren und andererseits die universalen und transkulturellen Aussagen (»universal and transcultural assertions«470) der Theologie zum Ausdruck zu bringen. Dabei geht es Guarino offensichtlich um eine christliche Erzählung als leitender Erzählung, der gegenüber die Narrative der Philosophie lediglich in ihrer unterstützenden Funktion Bedeutung haben. Wie konsistent dieses Projekt selbst ist, kann hier nicht erörtert werden. Der wesentliche Unterschied zu Vattimo, auf den ich hinweisen möchte, ist, dass Vattimo der Theologie abverlangt, sich selbst auch durch die Moderne und die Philosophie anfragen zu lassen, dass er ihr Verhältnis wieder als (produktiv) offen sieht und jenseits einer Rhetorik der Über- und Unterordnung, des Kampfes und der Beherrschung zur Diskussion stellt. Religion ist kein gesicherter Bestand, sondern muss sich selbst aus einer Epoche heraus neu entdecken und hat daraus auch die Wahrheit des Evangeliums neu zu lernen. Die »spezifische Form des christlichen Narrativs«471 sieht auch Depoortere gefährdet, wenn die biblische Erzählung in ein Verhältnis der Korrelation mit modernen Erzählungen gebracht wird. Besteht für Guarino das Problem in einer gleichsam schleichenden Übernahme theologischer Motive durch die Philosophie, die zu einer Enteignung der Religion führe, ortet Depoortere eher eine Form der Verdoppelung philosophischer Erzählungen, welche zu einer Ersetzung des christlichen Narrativs führe. Er attestiert spätmoderner Theologie ein Verfahren, die biblische Erzählung angetrieben von einem großen Vertrauen in die Säkularisierung zu entmythologisieren, indem eine gleichsam überzeitliche Botschaft des Evangeliums (»message of the Gospel«) von dessen narrativem Ausdruck (»narrative expression«) unterschieden werde. Jene basic message erweise sich dann aber lediglich als »narrative double« derjenigen Philosophie, aus deren Sichtweise jene Interpretation biblischer Schrift vorgenommen wurde, im Falle Vattimos seiner nihilistischen Philosophie. Vattimo würde mithin keine kreative Reinterpretation des christlichen Narrativs geben, sondern bloß seine eigene Philosophie, verdoppelt in einer blassen Kopie, wiederfinden. Das Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung von biblischer Botschaft und hermeneutischer Philosophie, von dem alle bisherigen Überlegungen ausgegangen sind, wäre dann, ähnlich wie bei Guarano, als eine einseitige Inbesitznahme biblischer Botschaft durch die Philosophie zu sehen. Bei Vattimo käme es im Zuge dessen 469 Vgl. Guarino, Vattimo and Theology, 93 – 96. 470 Guarino, Vattimo and Theology, 94 (im Original Englisch). 471 Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 29.
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zu einer Verkürzung der biblischen Erzählung auf die beiden Zitate Jo 15, 15 und Phil 2, 7. Depoortere sieht jene für ihn aus theologischer Sicht problematische Korrelation von Bibel und Erzählung der Säkularisierung überdies auch als nicht sehr hilfreich an, weil sie wenig Möglichkeiten biete, der Herausforderung des heutigen Pluralismus gerecht zu werden. Dem Paradigma der Säkularisierung stellt er das des Pluralismus gegenüber.472 Depoorteres Kritik an Vattimos Philosophie scheint auf das Motiv der Säkularisierung fokussiert, gelangt aber nur zu einem sehr eingeschränkten Verständnis davon und bildet keinen Sinn für den bewahrenden Charakter von Aufhebung aus. Nicht erwähnt wird, dass in Vattimos Konzept den Prozessen der Auflösung als Gegenbewegung die Notwendigkeit einer gesteigerten Treue zur Vergangenheit und den Erzählungen, die uns erreichen, korreliert (pietas, Andenken). Diese Treue muss selbstverständlich auch der biblischen Botschaft gegenüber gelten. Darüber hinaus stellt sich erneut die grundsätzliche Frage, ob uns nicht auch die Epoche einer späten Moderne etwas über die Wahrheit des Evangeliums zu offenbaren vermag, wenn ihre Narrative in Beziehung zur biblischen Erzählung gesetzt werden. Räumt man dies ein, wird eine Textur sichtbar, die in einem viel komplexeren und reicheren Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung von Erzählungen gewoben ist, als dies die Figur des narrative doubles zum Ausdruck bringen kann. Der Gegensatz eines Paradigmas der Säkularisierung und des Pluralismus scheint aus meiner Sicht konstruiert, zumal Vattimos Verständnis von Säkularisierung durchaus Motive ausprägt, die einen Umgang mit dem Pluralismus suchen, nur fallen diese in der Darstellung Depoorteres gänzlich aus. Er rekurriert weder auf den Begriff der Heterotopie noch auf den der Gastfreundschaft und auch nicht auf Vattimos Bezugnahme auf die ersten Verse des Hebräerbriefes, die für ihn gerade zum Ausganspunkt eines religiösen Pluralismus werden.473 Was den pointierten Verwurf der Reduktion der Bibel auf lediglich zwei Zitate angeht, muss eingeräumt werden, dass Vattimo tatsächlich – wie übrigens auch viele klassische dogmatische Werke – keine ausführliche Exegese biblischer Texte gibt. Der Vorwurf einer Reduktion auf zwei Verse ist aber falsch. Vattimos so wichtiger Bezug auf den Hebräerbrief und zahlreiche andere biblische Verweise werden in Depoorteres Darstellung einfach nicht genannt. Darüber hinaus kann aber die Konzentration auf jene zweifelsohne im Mittelpunkt von Vattimos Interesse stehenden Verse (Jo 15, 15; Phil 2, 7; Hebr 1, 1 f) vielleicht auch anders denn als Endpunkt einer fortwährenden Ausdünnung, an deren Ende lediglich einige Zitate übrig blieben, gelesen wer472 Vgl. Depoortere, Christ in Postmodern Philosophy, 21, 27 – 32. 473 Hans-Martin Schönherr-Mann nimmt in seiner Einführung in die politische Philosophie Vattimo gerade über den Gedanken des Pluralismus auf: »Vom Pluralismus speziell der Mediengesellschaft geht Gianni Vattimo aus …«, Schönherr-Mann, Einführung in die politische Philosophie, 203.
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den. Mir scheint es, als wären sie nicht Endpunkt, sondern vielmehr Eingangstor einer erneuerten Reflexion, die das Christentum über jene Worte wieder zugänglich macht. Vattimos Wiederentdeckung der Religion als ein in unserer Zeit wiederkehrendes Erbe hängt mit einer Treue zusammen, auch wenn sich diese vielleicht nur in einem Wort des biblischen Textes zusammenfassen mag: »Was ist es, was ich wiederentdecke, wenn ich das Christentum wiederentdecke, angetrieben durch bestimmte, auf der philosophischen Ebene erreichte Schlussfolgerungen, aber auch durch eine Reihe ›kultureller‹ Motivationen, die ich mit meiner Welt teile, und vor allem durch ein Erbe, das nie aufgehört hat, in mir zu wirken? … Was ich wiederentdecke, ist eine Lehre, die ihren Grundpfeiler in der kenosis Gottes hat …«474
Es muss nicht unbedingt Ausdruck einer reduktiven Engführung sein, wenn sich in einem Zitat der Bibel das Ganze rekapituliert und davon eine solche Faszination ausgeht, dass fortan alle Reflexion davon ihren Ausgangspunkt nimmt, sondern kann gerade auch von einer existenziellen Entschiedenheit und Hingabe zeugen. Carmelo Dotolo scheint in Vattimos Versuch, Moderne (d. h. vor allem Säkularisierung) und christliche Erzählung in einen Zusammenhang zu bringen, zunächst einmal eine Chance zu sehen: Vattimos Überlegungen würden wieder zu einer Möglichkeit des Dialoges von Philosophie und Theologie führen.475 Ohne hier den mannigfaltigen Überlegungen Dotolos gerecht werden zu können, möchte ich die Frage aufwerfen, wie radikal sich seinem Verständnis zufolge Christentum und Theologie in diesen Dialog begeben können. Ein sehr optimistisches Verständnis kommt einem diesbezüglich aus dem Interviewband mit Giorgio und Vattimo entgegen: »… sollen wir für ein Christentum optieren, das in der Logik einer modernen Institution auf der Höhe der Zeit sein kann oder müssen wir zu Formen eines Christentums zurückkehren, die eher das Datum einer statischen Tradition bevorzugen, als auf eine dynamische Tradition, und also eine offene Identität, zu setzen? Von diesem Gesichtspunkt aus scheint es mir, dass wir uns heute nicht zurückwenden können, der Scheideweg geht fast in eine verpflichtende Richtungsanzeige über : Ein Christentum zu wählen, das im Stande ist, mit der Post-Moderne in Dialog zu treten, bedeutet, einen Stil des Christentums zu wählen, der den gegenwärtigen Problemen begegnet, auch wenn diese die Identität selbst in Bewegung bringen. Eine geschlossene Identität gerät in Nachbarschaft mit Fundamentalismen der Deutung und religiösen Strukturen, die es vorziehen, sich, auf welche Weise immer, eher vor dem Anstoß der Geschichte zu schützen, als mit ihr in einen Dialog zu treten.«476
474 Vattimo, Glauben – Philosophieren, 63 f. 475 Vgl. Dotolo, La teologia fondamentale, 433. 476 Vattimo/Dotolo/Giorgio, Dio: la possibilit buona, 10 f (im Original Italienisch).
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Der von Dotolo angesprochene Weg eines Dialogs mit der Postmoderne wird präzisiert als Versuch, den Problemen von heute zu begegnen, was zu einer Öffnung christlicher Identität führen könne. Wahrscheinlich ist es tatsächlich so, dass nur die Begegnung mit den Problemen einer Zeit zu einer Bewegung der Theologie und einer Öffnung der Identität führen kann. Könnte man sagen, dass der Postmoderne, die Bewegung, Verwirrung und Anstoß bringen kann, sogar so viel zuzutrauen ist, dass sie uns in neuer Weise die Wahrheit des Evangeliums zu offenbaren vermag? Dies meint keine billige Angleichung an eine Zeit. Es bedeutet, dass ein Christentum durch die Begegnung mit der jeweiligen Epoche die Wahrheit seiner Botschaft daraus je neu zu lernen hat. Ich denke, das ist es, was Vattimo meint, wenn er davon spricht, dass die Offenbarung weitergeht. Genau an diesem Punkt aber scheint sich Dotolo von Vattimo zu distanzieren. »Die Ambiguität aber, die in Vattimos Insistenz auf einer kontinuierlichen Offenbarung auftritt, spiegelt sich wider in der Verschiebung der Reflexion auf das Noch-Nicht der Offenbarung, die zu einem unendlichen interpretativen Spiel ihrer Rhythmen der Entmythologisierung berechtigen würde. Es scheint beinahe, dass das Bedürfnis eines interpretativen Zugangs zum Evangelium vermittelt sei vom Hier und Jetzt, von einer Suche des Heils, die sagt, was der Sinn des Textes für das Heute sei.«477
Dotolo sieht in Vattimos Andeutung einer kontinuierlichen Offenbarung lediglich die Weisen ihrer Entmythologisierung, nicht aber das Sich-Ereignen der Wahrheit der Offenbarung aus dem Heute, das uns erst lernen lässt, was Offenbarung bedeuten kann. Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass Dotolo im Zusammenhang mit der Offenbarung ihr datum, ihr positum, ihr Diktat (»dettata«) hervorhebt, und dies von der Frage ihrer Bedeutung abgehoben wissen will. Das positum der Offenbarung ist auch als der Inkarnation vorgängig anzusehen. Die Bedeutung des Ereignisses der Inkarnation wäre ohne das positum der Offenbarung undenkbar und zu keiner interpretatorischen Anstrengung disponibel. Nun ist freilich das positum der Offenbarung aus christlicher Sicht nicht zu leugnen, nur wird es in der Deutung Dotolos, die es von der Bedeutung der Inkarnation noch einmal abhebt, zu einem prädikatlosen Absoluten. Das scheint mir aber dem Gedanken der Inkarnation zu widersprechen, der eine gänzliche Abstraktion von jeglicher inhaltlichen Bestimmung der Offenbarung verhindert. Ihre Geschichtlichkeit und damit auch ihre Erzählung kann in der Reflexion nicht vollständig hinweggearbeitet werden, um schließlich ihre vorgängige Struktur eines positums im Sinne eines Substrats aller Offenbarung zu zeigen. Dass also zur Offenbarung auch das uns je neu zur Aufgabe werdende Suchen ihrer Bedeutung aus dem Heute (kontinuierliche Offenba477 Dotolo, La teologia fondamentale, 429 (im Original Italienisch).
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rung) gehört, ist wohl in der Logik einer starken Betonung des positums nicht möglich. Die Überlegungen Dotolos scheinen jedoch noch einmal von einer anderen Motivation getragen: Der »neuralgische und problematische Punkt«478 bei Vattimo sei die Betonung der inhaltlichen Dimension (fides quae) des Glaubens, die zu einer mangelnden Betonung des Glaubensaktes (fides qua) führe. Der Verweis auf die inhaltliche Dimension meint dabei wohl gerade die Inkarnation als kenosis, der Glaubensakt hingegen ist für Dotolo bestimmt von einer Dislozierung des Subjektes zu einem dialogischen479 – wohl besser : hörenden Subjekt. Es ist ausgerichtet auf eine andere Wahrheit, »die an das Hören durch eine Hermeneutik, die vom Objekt diktiert wird, appelliert«480. Eine eucharistische Hermeneutik könne hierbei der Vernunft helfen, von einem ideologischen zu einem revelatorischen Denken zu gelangen. Schließlich heißt es: »Der Glaube berechtigt deshalb nicht zu irgendeinem sacrificium intellectus, wenn er sich zum Hören disponiert; aber wenn ein solches Hören von den Ansprüchen/vom Drängen/von den Notwendigkeiten [istanze] einer endlichen Subjektivität begrenzt ist, liegt es am Intellekt, sich gegenüber den Gründen des Glaubens in der Offenbarung selbst zu opfern [autosacrificarsi].«481
Dem Primat des positums in der Offenbarung entspricht der Primat der fides qua, der mit einer Dezentrierung des Subjektes einhergeht. Die Öffnung des Subjektes ist allein einem Akt der Übergabe an das positum der Offenbarung geschuldet, den Dotolo sogar mit dem Begriff »autosacrificarsi« benennt. Von der Öffnung durch einen Dialog mit dem Heute, d. h. mit der Postmoderne, wie dies im zuvor zitierten Interview anklingt, ist hier nicht die Rede. Es gibt ein prius des Glaubens, das der Vernunft zu Hilfe kommen kann, um ihre ideologischen Schleier abzulegen, doch kann sich auch der Glaube aus den von der Vernunft eröffneten Räumen neu entdecken? Dass Vattimo bekennt, er glaube oder er wisse zu glauben, ist für Dotolo Anzeichen, dass Vattimo »in der Sicht eines reflektierenden Glaubens« verbleibe, der den geschuldeten Akt der Ekstasis des Staunens vor der Offenbarung nicht leistet. Dies aber bringe Vattimo in die Bahnen der kantischen Religionsauffassung, die letztlich im Gestus einer Frage verbleibe (Was darf ich hoffen?) und nicht zu einem Wissen gelange. Die Interpretation Kants kann hier nicht diskutiert werden, es muss aber die Frage gestellt werden, ob in dieser Andeutung nicht der eigentliche Kern der Argumentation Dotolos liegt. Geht mit der Distanzierung von Vattimo in den genannten Punkten eine gewisse Dis478 479 480 481
Dotolo, La teologia fondamentale, 430 (im Original Italienisch). Vgl. Dotolo, La teologia fondamentale, 429. Vgl. Dotolo, La teologia fondamentale, 430 (im Original Italienisch). Vgl. Dotolo, La teologia fondamentale, 432 (im Original Italienisch).
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tanzierung von Kant, d. h. eine gewisse Skepsis der Autonomie des Selbstbewusstseins, und damit letztlich der Moderne gegenüber einher?482 Die Betonung des unableitbaren Glaubensaktes lenkt den Blick weiter zu einer interessanten Stellungnahme des italienischen Philosophen Dario Antiseri gegenüber Vattimos Annäherung an die Religion. In der kleinen Schrift Ragione filosofica e fede religiosa nell’era postmoderna gibt Antiseri zunächst eine Rekonstruktion des pensiero debole in großer Nähe zu zeitgenössischen Philosophien, denen der Verzicht auf eine letzte (metaphysische) Fundierung des Denkens gemeinsam ist, wobei er immer wieder Wittgenstein, Popper, Gadamer, Kelsen und Hayek nennt. Bemerkenswert ist, dass hier eine Darstellung von Vattimos Denken erfolgt, die nicht vornehmlich auf Nietzsche und Heidegger rekurriert, sondern sein Denken aus einer Geisteslage heraus entfaltet, die mit Hilfe von Denkern dargestellt wird, die (mit Ausnahme Gadamers) nicht im Mittelpunkt seines Interesses stehen. Das pensiero debole steht, wie diese Darstellung zeigt, in einer Linie jener kritischen, modernen Philosophie, die für Antiseri offensichtlich heute die weitesten Entwicklungsmöglichkeiten besitzt. Er erinnert dabei daran, dass er die Offenheit des pensiero debole auf die Religion hin schon zu einem Zeitpunkt für konsistent und mit diesem Gestus modernen Denkens für vereinbar gehalten hat, als Vattimo derartige Bezüge noch zurückgewiesen hat.483 Interessant ist, wo Antiseri bei aller freundlicher Übereinstimmung doch Unterschiede in der Art, wie schließlich der Bezug zur Religion erfolgt, sieht. Zunächst lehnt er es ab, im historischen Faktum der Säkularisierung eine »Berufung« oder Form der »Normativität« zu sehen. Mit der Ablehnung dieses geschichtsphilosophischen Blickes fällt auch die Notwendigkeit, dass eine argumentative Darstellung der geistigen Lage einer Zeit in eine Erzählung, in diesem Falle des Abschiedes, übergehen müsse. Auch der hermeneutische Zirkel wird nicht von einer Textur der Erzählungen und Interpretationen, der Überlieferungen und Antworten her verstanden, sondern vom popperschen Kriterium der Fallibilität und der Methode von trial and error. Diesem Verzicht auf eine Erzählung geschichtlicher Kontinuität korrespondiert die Hervorhebung eines paradoxalen Glaubensaktes, der eine unableitbare Wahl voraussetzt und von der Vernunft uneinholbar ist. Das Motiv der Säkularisierung mag vielleicht für die Beschreibung der Heraufkunft heutiger Geisteslage hilfreich sein, lässt sich aber nicht in eine Darstellung von Religion und Glauben verlängern, um – wie dies Vattimo versucht – auch die Inhalte christlichen Glaubens sowie den Akt seiner Übernahme (credo di credere) von daher zu interpretieren. Den Sprung, das Paradox, die Fremdheit – Motive, die Vattimo in seiner Interpretation des 482 Vgl. Dotolo, La teologia fondamentale, 431. 483 Vgl. Vattimo/Antiseri, Ragione filosofica e fede religiosa, 19 – 49.
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Christentums als problematisch ansieht – greift Antiseri affirmativ auf. Bekommt für Vattimo das Katholische aufgrund seiner Betonung einer hermeneutischen Kontinuität Bedeutung, scheint es, wenn diese Interpretation gewagt sein darf, für Antiseri gerade aufgrund seiner letztlich dogmatisch wie institutionell verbürgten Schranke gegenüber einer gänzlichen Angleichung an die verbürgten Plausibilitäten einer Zeit von Belang.484 Ich denke, wir stoßen an dieser Stelle auf zwei mögliche Aktualisierungen des Christentums aus zeitgenössischer Perspektive, die zwei Pole des Umgangs mit den auflösenden Tendenzen der Spätmoderne anzeigen. Der Relativismus Antiseris schlägt gleichsam in die Notwendigkeit und das Wagnis eines unableitbaren Bekenntnisses und eines diskontinuierlichen Sprunges um, für die es keinerlei Sicherheit geben kann. Der Nihilismus Vattimos schlägt in eine gesteigerte Treue zur Vergangenheit und zu einer schwachen geschichtlichen Kontinuität um und lässt ihn jenen geistigen Horizont anerkennen, aus dem sein Denken immer schon lebt. Die theologische Diskussion um Vattimos und Antiseris Bezugnahme auf Religion wäre, so denke ich, gerade an dieser Stelle aufzunehmen. Es müsste die Frage gestellt werden, ob ein heutiges Christentum jene beiden Wege zusammenhalten kann, ohne letztlich zu einer Entscheidung zu zwingen, d. h. ob sich ein Christentum auf diese nicht einfach vermittelbare Doppelung seiner Äußerung einlassen kann. Nicht die dogmatische Vollständigkeit der beiden Entwürfe wäre in erster Linie zu prüfen, sondern was es bedeutet, dass ein Christentum heute in diesen beiden Gestalten auftritt. Dotolo und Antiseri betonen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und anderen Konsequenzen, in bewusster Abhebung von Vattimo die Bedeutung des Glaubensaktes. Dem sei eine weitere Position gegenübergestellt, welche vom Glauben als integralem Bestandteil von Vattimos Verständnis der Religion ausgeht. Ulrike Irrgang versucht in ihrer Thematisierung der Philosophie Vattimos im Spannungsfeld von Religion und Postmoderne weder das genuin religiöse Moment des Glaubens noch das philosophische Anliegen vernünftiger Begründung preiszugeben. Sie greift dabei auf einen Vorschlag von Albert Franz zurück, der hinsichtlich der postmodern pluralen Signatur unserer Zeit »drei Sachdimensionen, die konstitutiv für theologische Rationalität sind«485, nennt. Franz spricht von einer hermeneutischen Dimension, welche in theologischer Rede nicht unterlaufen werden dürfe, von der Wahrheitsdimension des Glaubens, d. h. von der Notwendigkeit, bei der »Tatsächlichkeit des überlieferten Gottesglaubens«486 einen Ausgangspunkt zu nehmen, und von der Dimension der philosophischen Glaubensbegründung bzw. Glaubensverant484 Vgl. Vattimo/Antiseri, Ragione filosofica e fede religiosa, 47 – 63. 485 Irrgang, Wahrheit und Begründung, 144. 486 Irrgang, Wahrheit und Begründung, 146.
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wortung. Irrgang zeigt, wie Vattimos Bezugnahme auf die Religion jenen Kriterien zu genügen vermag und sich damit innerhalb eines Dreiecks hält, das (etwas schematisch) mit den Eckpunkten Hermeneutik, Fideismus und Erstphilosophie bezeichnet werden kann. Sich innerhalb jener Figur zu bewegen, bedeutet, eine Konfiguration postmoderner Religion zu suchen, welche die legitimen Ansprüche aller drei »Eckpunkte« nicht aus den Augen verliert und zu einer Verschränkung von ihnen findet. Irrgangs Rekonstruktion von Vattimos Denken gelangt damit zu einem Verständnis von Hermeneutik, das sowohl den Glaubensakt in sich aufzunehmen vermag als auch den Anspruch philosophischer Begründung. Die folgenden Überlegungen nehmen zwei unabweisbare Signaturen gegenwärtiger Philosophie auf, die in einem Gespräch von Religion und Moderne nicht unerwähnt bleiben können: die Frage nach Eurozentrismus, Multikulturalität und Interreligiosität einerseits und die Thematik der Körperlichkeit andererseits. Bezeichnet sind damit auch zwei Felder, aus denen sich eine Kritik an Vattimos Bezug auf die Religion erhoben hat. Wer im europäischen Kontext nach dem Verhältnis von Moderne und Religion fragt und den Gedanken einer Wiederkehr der Religion ausspricht, muss seinen Blick wenigstens für einen Augenblick aus dem spätmodernen Europa mit seiner »Angst vor dem Verlust des Sinns der Existenz, vor jenem wahren und eigentlichen ennui, der mit der Konsumgesellschaft unvermeidlich einherzugehen scheint«487, in einen anderen Kontext wenden: In Lateinamerika ereignete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine in der jüngeren Kirchengeschichte wohl einzigartige Wiederkehr der Religion, welche weder von der Leitung der Kirche inszeniert wurde noch sich der Innerlichkeit Einzelner verdankte, sondern vor allem die kollektive Bewegung einer Gemeinschaft, ja eine zutiefst ekklesiale Bewegung war. Subjekt dieser war die konkrete Gemeinschaft, die lateinamerikanische Kirche. So konnte diese Wiederkehr der Religion auch ihre epochale Bedeutung entfalten: Sie stellt als Antwort auf die Herausforderung ihres Ortes und ihrer Zeit, die sich in den Schlüsselwörtern Befreiung, Entwicklung, Inkulturation ausspricht, ein zutiefst geschichtliches Ereignis dar und ist in lateinamerikanischem Kontext gegebene Antwort auf die Moderne. Was in der Theologie und Philosophie der Befreiung seinen systematischen Niederschlag findet, sind Auszug und Wiederkehr : Auszug aus entwürdigenden Abhängigkeitsverhältnissen und – fernab bloßer Folklore – Wiederkehr christlichen Erbes und indigener Tradition in vielfältigen Facetten. Es wurde begonnen, die Geschichte Lateinamerikas und seiner Kirche selbstständig und eigenhändig zu schreiben488, ja wurde Vergangenheit neu geschrieben. 487 Vattimo, Die Spur der Spur, 108. 488 Für den bedeutenden lateinamerikanischen Philosophen Enrique Dussel etwa sind philo-
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Theologische Fragen wurden in diesem geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext von Grund auf neu durchdacht, und es vollzog sich ein Aufbruch, der bei allem Einfluss der großen Theologien von Karl Rahner, Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann ein genuin aus der Tradition Lateinamerikas herauswachsendes Ereignis war.489 Die diesem wahrhaft prophetischen Aufbruch von römisch-kirchenamtlicher Seite entgegengebrachten Vorbehalte rührten wohl, wo sie nicht lediglich kirchen- oder weltpolitisch motiviert waren, vor allem von einer tiefliegenden Skepsis gegenüber der Moderne mit ihren Implikationen der Autonomie und Freiheit des Menschen sowie der Säkularisierung, die mit einer Profanierung des Heiligen, des Unverfügbaren, in Verbindung gebracht wurde, her. Diese Weitung der Perspektive über Europa hinaus eröffnet ein weites Feld an Fragen, das hier nur angedeutet werden kann. Aufzunehmen wäre die Einschätzung Enrique Dussels, dass Vattimos Kritik an der Moderne eurozentristisch sei, was wohl nicht einfach theoretisch entschieden werden kann, sondern selbst eines echten und tatsächlich zu führenden Dialoges (über Europa hinaus) bedürfte. Tatsächlich haben sich Dussel und Vattimo im September 2007 in Bozen zu einem Kolloquium unter dem Titel Für eine Entwaffnung der Vernunft – Das Ende des abendländischen Traumes und der Sieg der Vielfalt getroffen. Hier kann lediglich die Frage gestellt werden, ob Vattimos Überlegungen zur Religion selbst in produktiver Weise in einen über Europa hinausgehenden Dialog eingegangen sind. Eine Verbindung des Gedankens der Wiederkehr der Religion mit Motiven der Befreiungstheologie hat Mûnica Giardina von der Universität Buenos Aires angestellt. Sie versucht zu zeigen, dass die Theologie Leonardo Boffs in gewisser Hinsicht eine strukturelle Ähnlichkeit zu Vattimos Konzept aufweise, insofern auch sie vom Anliegen einer subversiven relecture des Christentums, das sich (speziell im lateinamerikanischen Kontext) zunächst als Machtfaktor dargestellt hat und deshalb nicht in unmittelbarer Kontinuität aufgegriffen werden kann, getragen wird. Für Vattimo wie für Boff seien es Prozesse der Säkularisierung, die eine gewaltsame Schicht der Religion hinwegarbeiten, was eine Wiederkehr der Religion (Vattimo) oder neue Evangelisierung (Boff) möglich mache, die nun im Zeichen der Schwäche stehen müsse und von den Rändern ausgehe. Vattimos Begriff der pietas und Boffs Bemühen um eine neue Sensibilität nicht sophisch-theologische Auseinandersetzung und Geschichtsschreibung nicht voneinander zu trennen. Dussel selbst hat sich in zahlreichen Texten mit der lateinamerikanischen Geschichte auseinandergesetzt. Er war Präsident und »Chefkoordinator« eines großen Projekts zur Kirchengeschichte Lateinamerikas, an dem viele Autoren beteiligt waren. Seit 1983 sind unter dem Titel »Historia general de la iglesia en america latina« elf Bände erschienen. 489 Wichtige Hinweise Theologie und Philosophie in lateinamerikanischem Kontext betreffend verdanke ich Hans Schelkshorn und Sebastian Pittl.
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zuletzt für die ökologischen Zusammenhänge sind Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zu der die Religion anleite.490 Weiters sei auf Georges De Schrijver verwiesen, der in seinem Buch Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue gegenwärtige theologische Ansätze nach ihren Chancen für einen interreligiösen Dialog befragt. Dieses Buch ist situiert vor dem religiösen Hintergrund Indiens und wurde zum Teil auch in Bangalore in Form von Vorträgen vorgestellt. Es verbindet zwei Stoßrichtungen der Auseinandersetzung: eine interreligiöse und eine befreiungstheologische. Schrijver hält Vattimos Entdeckung der Nähe des Gedankens der Schwächung des Seins und der kenosis für entscheidend und sieht gerade in seiner Rückwendung zur Religion das Potential seines Denkens, in einen multikulturellen Diskurs einzutreten. Jene Entdeckung habe Vattimo nicht nur tiefer in die europäische Tradition zurückgeführt und dort verwurzelt, sondern ihm auch die Augen für die Verschiedenheit der Kulturen und Religionen weltweit geöffnet. Mit dem Bewusstsein für eine kolonialistische Vergangenheit sehe Vattimo in der kenosis eine neue Perspektive, um wachsam für Vorgänge in anderen Regionen der Erde zu sein. Vattimos Beitrag für den interreligiösen Dialog sieht Schrijver zum einen in der Anerkennung der Bedeutung mythischer Sprache, die für ihn nicht mehr bloß Ausdruck eines zu überwindenden Bewusstseins sei.491 Zum anderen streiche Vattimo heraus, dass »alle Religionen durch ihre eigene Art der Verehrung und des Gottesdienstes Zugang zur vollen Präsenz des Göttlichen in seinen sinnlichen Manifestationen«492 hätten. Vielleicht kann man sagen, es gehe dabei jedoch nicht bloß um verschiedene Repräsentationen des Göttlichen nebeneinander und in unterschiedlichen Traditionen, sondern gerade um die Negativität des Sich-Entziehens des Absoluten, das erst dessen Präsenz ermöglicht und in jeglicher religiöser Sprache anzutreffen sei. Entspricht dem Nebeneinander der Gedanke eines philosophischen Pluralismus, so der Negativität des Sich-Entziehens der Gedanke der Selbsterniedrigung Gottes (Kenotic Pluralism493). Nicht der Gedanke des Absoluten, sondern dessen kenosis werde für Vattimo zum Fokuspunkt der Religionen und zur Möglichkeit der vollen Präsenz des Absoluten in verschiedenen Manifestationen. Jede Verehrung des Absoluten lebe gerade von dessen Entzug und sei niemals unmittelbar auf die konkret verehrte Manifestation des Göttlichen selbst gerichtet. Die religiösen Traditionen seien dazu 490 Vgl. Giardina, Elementos para pensar el retorno de lo relgioso. 491 Vgl. Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue, 349. 492 Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue, 350 (im Original Englisch). 493 Vgl. Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue, 27 – 32.
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aufgefordert, vor dem Hintergrund ihrer je eigenen Tradition ihren kenotischen Zug freizulegen. Diese Sichtweise sei durch die kenosis des Logos in Christus freigesetzt. Der kenotische Pluralismus finde einen Ausdruck im Hebräerbrief, wo von der Vielfalt der Wege, in denen Gott zu den Menschen gesprochen hat, die Rede ist: »Auf viele Arten und auf vielen Wegen hat Gott von einst her zu den Alten gesprochen durch die Propheten, am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er als Erben eingesetzt hat über alles, durch den er auch die Weltalter geschaffen hat …« (Hebr 1, 1 f)
Für Vattimo wird diese Passage zu einer Schlüsselstelle, die Vielfalt der Wege einerseits und deren Freisetzung durch ein schöpferisches Ereignis andererseits zu denken. Dieser Text ist für ihn nicht allein Aussage über den innerbiblischen Verweischarakter der vielen Offenbarungen Gottes auf das Zentrum Jesus, sondern bringe auch das Verhältnis der verschiedenen Religionen zu Christus zum Ausdruck. Schrijver sieht die Chance dieses Blickwinkels darin, dass er keinen äußerlich-distanzierten Zugriff auf andere Traditionen darstellt, der nur zur Klassifikation von Ähnlichkeiten gelangen könnte, wie ein philosophischer Pluralismus. Stattdessen suche Vattimo letztlich einen mystischen Zugang über die Innenseite der Religionen. Dieser Zugang sei eindeutig christozentrisch motiviert und komme mithin aus einer bestimmten Tradition, was zunächst eine Anfrage an das Konzept im interreligiösen Dialog darstelle. Schrijver streicht jedoch hervor, dass es dabei zum einen um ein sich selbst erniedrigendes, sich selbst verlierendes Zentrum ginge und zum anderen interreligiöser Dialog immer auch ein tieferes Eindringen in die eigene mystische Tradition bedeute und nie kontextlos sein könne. Offen bleibt für Schrijver vor allem die Frage, wie das Verhältnis von Religion und Moderne zu denken sei: Ist Vattimos Begriff der Säkularisierung auch für andere Religionen, wiewohl ihrem eigenen Rhythmus entsprechend, ein geeignetes Modell, um heutige Rekonfigurationen von Heiligem und Profanem zu denken, oder werden sich in diesem Zusammenhang ganz eigene andere Formen entwickeln?494 Schrijver bezeichnet unsere Zeit als »Epoche der Ökumene«495 und zählt Vattimo zu denen, die dieser Herausforderung zu entsprechen suchen. Neben der Signatur der Pluralität (in kultureller wie religiöser Hinsicht) ist auch die Thematik der Körperlichkeit zu einem unabweisbaren Kennzeichen zeitgenössischer Philosophie geworden, wobei sich dieser Diskurs nicht zuletzt 494 Vgl. Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue, 32 – 34. 495 Vgl. Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue, 34.
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auch in Auseinandersetzung mit christlichen Motiven, besonders der Inkarnation, entwickelt hat.496 Den Ausfall dieser Dimension in Vattimos hermeneutischer Bezugnahme auf die Religion monieren Branko Klun und Ulrich Engel, was dieser am Ende seiner theologischen Würdigung und Kritik Vattimos in knappen Worten auf den Punkt bringt: »Kritisch zu fragen bleibt […], warum eine Philosophie (im Licht) der kenosis das Fleisch als materialen Text der Inkarnation – und daran anschließend: die Materialität der sakramentalen Vollzüge – aus dem Religions-Diskurs durchgehend ausblendet.«497 Klun entfaltet diesen Einspruch etwas breiter und situiert ihn im Rahmen einer umfassenderen Kritik am »Problem der hermeneutischen Reduktion«498, die Vattimo vornehme. Diese werde dort, wo es um den »anderen Menschen«499 gehe, in besonders schlagender Weise zum Problem: »Auch wenn sich Hermeneutik als ein zutiefst dialogisches Geschehen versteht, handelt es sich primär um einen Dialog mit Botschaften, Texten und Überlieferungen, in dem aber die […] personale Dimension, der Dialog von ›Angesicht zu Angesicht‹, eine nur untergeordnete Rolle spielt.«500
Der hermeneutischen Leichtigkeit fehle die »Schwere der leiblichen Anwesenheit«, die »Passivität des Leibes, das Gewicht seines Leidens, ein ›Empirismus‹, der sich nicht idealistisch vereinnahmen«501 lasse. Theologisch bedeute dies eine Spiritualisierung der leiblichen Präsenz Christi bzw. deren Reduktion auf eine Botschaft. Um diesen Einspruch aufzunehmen, gilt es, eine Kritik an der Hermeneutik und eine theologische Kritik zu unterscheiden. Das Konzept einer Hermeneutik, das Vattimo entwickelt, ist meines Erachtens nicht durch »Leichtigkeit« zu charakterisieren und meint keine »Totalität des Verstehens«502, sondern hat – wie ich zu zeigen versucht habe – den Gedanken der »Treue gegenüber denen, die vor mir kamen und nach mir kommen werden«503 in seinem Zentrum. Damit aber geht es vom Gedanken der Endlichkeit und Sterblichkeit aus und fragt nach der Kontinuität des Zusammenhalts der Generationen. An einer wichtigen Stelle in Die Spur der Spur spricht Vattimo, wie noch auszuführen sein wird, von der Endlichkeit als der Erfahrung der Unangemessenheit unserer Antworten auf jene Fragen, die uns von den anderen gestellt werden. Dies bedeutet eine fundamentale Gebrochenheit und Fragilität jeglichen Dialogs und ein nicht inte496 497 498 499 500 501 502 503
Verwiesen sei etwa auf Michelle Merleau-Ponty und Michel Henry. Vattimo/Engel/Eggensperger/Schröder, Christentum im Zeitalter der Interpretation, 68. Klun, Der schwache Gott, 176. Klun, Der schwache Gott, 180. Klun, Der schwache Gott, 180. Klun, Der schwache Gott, 180. Klun, Der schwache Gott, 180. Vattimo/Girard, Christentum und Relativismus, 41.
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grierbares Moment innerhalb der Hermeneutik, was für Vattimo einen nicht unwichtigen Grund darstellt, die Frage nach der Religion aufzunehmen.504 Vielleicht wäre hier auch ein Ort, an dem sich eine Brücke zu Kluns Anfrage nach der Bedeutung des »anderen Menschen« und seiner nicht einholbaren objektiven Wirklichkeit finden ließe. Ohne Zweifel hat Vattimo aber einen anderen Fokus als Klun und der in diesem Zusammenhang von ihm ebenfalls erwähnte Levinas, doch müssen einander meines Erachtens diese Blickwinkel – schematisch gesprochen: die Transzendenz des »von Angesicht zu Angesicht« und die Bedrohtheit der Kontinuität der Generationen – nicht ausschließen, sondern könnten einander ergänzen. Für schwerwiegender als die Kritik an der Hermeneutik halte ich die Anfrage, ob in einem Konzept, das die Inkarnation so deutlich in den Mittelpunkt stellt, die Dimension des Fleisches nicht einen viel größeren Stellenwert haben müsste, als dies bei Vattimo der Fall ist. Ich möchte zunächst fragen, in welche Bereiche bei Vattimo, der ja keine Theologie der Inkarnation vorlegt, sondern ihre Erzählung als einen Grundtext abendländischer Kultur ansieht und daraus auch eine wesentliche Inspiration seiner Philosophie zieht, das Motiv der Menschwerdung hineinragt: Da ist zunächst der Text, und d. h. der Überlieferungszusammenhang, sodann sind aber auch Geschichte und Gesellschaft, d. h. Geschichtsphilosophie und die Kontinuität der Generationen, als Orte der Inkarnation zu nennen. Tatsächlich findet hier jene wesentliche Dimension, die Klun und Engel einmahnen, keine explizite Berücksichtigung. Dass dieser Einspruch nicht schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels, wo es um die in Vattimos theologischer Bezugnahme festgestellten Mängel und Substitutionen gegangen ist, Erwähnung gefunden hat, liegt daran, dass ich hier die Möglichkeit eines fruchtbaren Ausblicks sehe. Vattimos Versuch, Religion und zeitgenössische Philosophie wieder in ein Gespräch zu bringen, ist ein Anfang, welcher der Ergänzungen bedarf, er muss auch auf andere Momente, die in zeitgenössischer Philosophie und Theologie präsent sind, ausgeweitet werden. Ein Weg der Vermittlung deutet sich bei Engel an, wenn er vom Fleisch als materialem Text der Inkarnation spricht. Könnte man an dieser Stelle nach Verbindungen von Hermeneutik und einer Philosophie der Leiblichkeit suchen? Auch der materiale Text der Inkarnation, so ließe sich mit Vattimo anfügen, findet sich nicht in einem interpretationslosen Raum, und Jesus von Nazareth in der geschichtlichen Konkretheit der Fleischwerdung ist uns nicht jenseits der Botschaft des Evangeliums gegeben, die sich als Schranke hin zu seiner geschichtlichen Unmittelbarkeit überschreiten ließe. Zusammenfassend sei gesagt, dass dieser Kritikpunkt von Klun und Engel wohl weitreichende Möglichkeiten der Anknüpfung und Erweiterung von Vattimos Konzept bieten könnte. 504 Vgl. Vattimo, Die Spur der Spur, 116 f.
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3) In einem dritten Schritt soll nun versucht werden, die bisherigen Überlegungen des Kapitels, die zunächst einen Schwerpunkt auf der Gottesfrage und dann auf der Epoche der (Spät-)Moderne hatten, zusammenzuführen. Der Zusammenhang von Wiederkehr der Religion und der Epoche der Moderne ist als ein wechselseitig sich erschließender zu denken: Die Moderne mit all ihren Implikationen fungiert als Hintergrund der Auseinandersetzung um Religion und Gottesfrage. Die Überlegungen dazu können vom Hintergrund ihrer Zeit nicht gelöst werden. Umgekehrt ist das Gottesverhältnis als das Verhältnis zum Absoluten immer auch als höchster Ausdruck und Kristallisationspunkt des jeweiligen Weltumgangs einer Epoche anzusehen. So kann auch das Gottesverhältnis zum Horizont einer Betrachtung der Moderne werden. Diese Fragestellung ist bei Vattimo nicht weiter entwickelt, könnte aber in seiner Unterscheidung eines Gottesverhältnisses mit naturhaften Zügen, eines apokalyptischen Christentums mit dem Gedanken des richtend-rettenden Einbruchs Gottes und der offenbaren Religion als Religion der Liebe, in welcher uns Gott nicht mehr Knechte, sondern Freunde nennt, einen Ausgangspunkt nehmen. Die Rede von der Wiederkehr der Religion hat ferner die wichtige Aufgabe, die Gottesfrage in der Moderne offen zu halten, damit unserer Epoche nicht eine der entscheidenden Fragen der Tradition verloren geht. Es geht hier auch darum, den Reichtum menschlicher Ausdrucksweisen offen zu halten, Kunst und Kultur vieler Jahrhunderte würden andernfalls unverständlich. Dass Vattimo versucht, diese Frage in spätmoderner Lebenswelt wieder ins Gespräch zu bringen, scheint mir letztlich wichtiger, als ein Urteil darüber, inwiefern seine Deutungen der Religion einerseits und der Moderne andererseits in allen Punkten standhalten. All die Versuche dieses Kapitels, Gottesfrage und (Spät-)Moderne nicht auseinanderfallen zu lassen, haben ihren theologischen Hintergrund in der biblisch unlösbaren Verbindung von Offenbarung und Geschichte. Denkt man sie nicht als aufeinander bezogen, unterläuft man damit den Gedanken der Selbstbindung Gottes an seine Schöpfung (Bund) und die Inkarnation des Logos. Demgegenüber hält Johann Reikerstorfer fest, dass »Gott immer nur innerhalb eines bestimmten Wirklichkeitshorizonts auf bestimmte Weise sich als wirklichkeitsverwandelnde und -erfüllende Sinninstanz des Daseins gewähren und darin auch durch den Menschen erkannt und vermittelt werden kann. Diese Konkretheit Gottes in der Wirklichkeit, die von der Religionskritik zum Anlass einer Destruktion des religiösen Bewusstseins genommen wird, ist die Bedingung wahrhaft göttlicher Präsenz im Dasein. Demzufolge hat Gottes konkrete Wirklichkeit als bestimmte Erfüllung des gottsetzenden Bewusstseins das Dasein in bestimmter
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Nachträge und Anfragen: Gottesfrage und Spätmoderne
Auslegung in sich aufgenommen, um im Dasein als Sinngebung desselben sein und erfahren werden zu können.«505
Für Vattimo ist die Zeit einer bedrohten Moderne der bestimmte Wirklichkeitshorizont, in dem sich Gott gewährt. Die bestimmte Weise seines Gewährens ist wohl die Wiederkehr, die für ihn – heute, unser geschichtlichen Situation geschuldet – zum Ausgangspunkt der Überlegungen wird. Die Konkretheit Gottes in der Wirklichkeit ist seine Inkarnation in kenosis. Die bestimmte Erfüllung des gottsetzenden Bewusstseins, von der Reikerstorfer spricht, meint die Offenbarung Gottes in kritischer Entsprechung einer ihm gegenüber geöffneten Welt. Sie zeigt sich für Vattimo in der Entsprechung der kenosis zu Tendenzen moderner Säkularisierung, nihilistischer Auflösung und Schwächung und in der Korrespondenz von biblischer Botschaft und moderner Hermeneutik. Die Erzählung der kenosis als deren Tiefendimension anzusehen, ist Vattimos Versuch, die Geschichte der Spätmoderne lesbar zu erhalten, worin ein Hoffnungsmoment liegt, das uns vielleicht auch von Sinngebung des Daseins sprechen lässt. Es gibt kein Zurück hinter die Moderne und ihr apokalyptischer Abbruch muss vermieden werden. Dem religiösen Bewusstsein bleibt einzig der Weg, die Moderne in all ihrer Ambivalenz zu anzunehmen und in ihr dem Ruf »nach uns mit einer Stimme, von der wir sicher sind, sie schon einmal gehört zu haben«506 zu entsprechen. Es gibt, dies ist Vattimos Überzeugung, eine untergründige Kontinuität von Moderne und biblischem Gottesgedächtnis. Von jenen Philosophien und Strömungen der Moderne, durch welche hindurch sich die Botschaft von der Menschwerdung als Echo in einer schwachen Kontinuität vernehmen lässt, müssen wir uns zu einer Konkretion von Wiederkehr der Religion und Religion als Wiederkehr führen lassen. Die eine Erzählung der kenosis, die sich uns als Tiefengeschichte subversiver Überlieferung gezeigt hat, stößt sich ab in die Heterotopie der vielen Erzählungen, welche ihr von fernher Antwort geben; als Erzählungen der Moderne werden sie umgekehrt heute zum Voraus ihrer Präsenz. Beide, Moderne und biblisches Gottesgedächtnis, sind aufeinander verwiesen. Sie bezeichnen keinen gesicherten Bestand, Vattimos Philosophie kann als Aufruf gelesen werden, ihnen die Treue zu halten.
505 Reikerstorfer, Zur Ursprünglichkeit der Religion, 12. 506 Vattimo, Die Spur der Spur, 108.
Teil 2 – Die Spur der Spur?
Hegels Wort vom Tod Gottes
Die Überlegungen des zweiten Teils dieser Arbeit sind Vattimos Text Die Spur der Spur gewidmet.507 Sie folgen dem Gang seiner Entwicklung und versuchen so, mit ihm in Dialog zu treten, und ihn als Eröffnung eines Nachdenkens über die Religion zu lesen. Wir begegnen hier Vattimos wohl bedeutendstem Text zur Religion. Der Versuch, dem Text eine Unterteilung zu geben, könnte wie folgt lauten: Eine Einleitung betrachtet Religion im Spannungsfeld von Exodus und Wiederkehr. (107 – 108) Der erste Abschnitt versucht zwei Weisen der Wiederkehr miteinander in Verbindung zu bringen: eine Wiederkehr der Religion im allgemeinen Bewusstsein und eine Wiederkehr der Plausibilität der Religion in der Philosophie. (108 – 113) Der zweite Teil betrachtet die Positivität der Religion. (113 – 117) Der dritte und letzte Abschnitt ist schließlich dem ineinander verwobenen Verhältnis von Philosophie und Theologie, von Hermeneutik und biblischer Botschaft gewidmet. (117 – 124) Vor einer näheren Betrachtung des Textes möchte ich den Blick auf das kurze Vorwort, das Vattimo unter dem Titel Begleitumstände dem Band Die Religion voranstellt, richten. Vattimo setzt dort das erneuerte Nachdenken über die Religion ausdrücklich in Beziehung zu Hegel. Welche Verbindung zeigt sich hier an? Die »kardinale Bedeutung«508 der Frage nach der Religion einräumend, sieht Vattimo trotz aller Unterschiede, die uns von der Zeit Hegels trennen, eine Kontinuität lebendig, welche sich in den gemeinsamen Bezugspunkten Geburt Christi und Tod Gottes fokussiert. Was die Geburt Christi betrifft, ist es zunächst die Zeiteinteilung, welche ausgehend von jenem Ereignis als kontinuitätsstiftendes Medium fungiert, um die Zeit Hegels mit der unsrigen zu verbinden. »Aber ›unsere‹ Zeit (die, wie jene Hegels, von der Geburt Christi her gezählt wird), ist sie wirklich an-
507 Eine Zusammenfassung und Interpretation des Textes bietet: Schrijver, Recent Theological Debates in Europe: Their Impact on Interreligious Dialogue, 5 – 12. 508 Vattimo, Begleitumstände, 7.
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Hegels Wort vom Tod Gottes
ders?«509 Zumal der Verweis auf die Zeitrechnung lediglich in Klammern steht, handelt es sich dabei wohl nicht um die einzige Kontinuität, die uns mit der Zeit Hegels verbindet. Vattimo lässt uns beim Wort unsere Zeit verweilen, indem er unsere durch Anführungszeichen hervorhebt. Diese Hervorhebung deutet noch einen anderen Horizont der Überlegung an und lässt danach fragen, was unsere Zeit als unsere konstituiert. Ich denke, damit ist auf eine neue Zeiterfahrung als Erfahrung unserer Zeit verwiesen, eröffnet von der Inkarnation, von der beginnend unsere Zeit gezählt wird. Unsere Zeit ist nicht mehr die des Schicksals (und nicht die der Maschinen), sondern die Zeit der Menschen. Eröffnet in der Menschwerdung des Wortes ist diese Erfahrung einer menschlichen Zeit heute als unsere Zeit (d. h. in Kontinuität) zitierbar, wiederholbar, wovon die gemeinsame Zeitrechnung nur ein äußerlicher Ausdruck ist. Ihre Zitierbarkeit ist ein Hoffnungsbild, welches die Johannes-Apokalypse in ihrem Gestus freien Zitierens vorstellt und in der Spätmoderne, die nicht allein durch einen Abbruch genealogischer und teleologischer Geschichtsdeutungen, sondern durch einen massiven Zerfall der Erinnerung geprägt ist, eines erneuerten Nachdenkens bedarf. Vattimo sieht Hegel das Grundgefühl seiner Epoche als unglückliches Bewusstsein konstatieren, das sich schmerzvoll im harten Wort vom Tod Gottes ausspricht.510 Bezeichnet ist mit jenem Wort ein Zerbrechen von Subjekt (Selbst) und jeglicher einen sicheren (Werte-)Rahmen garantierenden Substanz. In ähnlicher Weise interpretiert Vattimo an anderen Stellen auch Nietzsches Wort vom Tod Gottes. Er bezieht sich dabei vor allem auf eine Stelle in den Nachgelassenen Fragmenten, wo es heißt, dass der »moralische Gott«511 gestorben sei. Als solcher war dieser Gott der Garant und Begründer einer objektiven Ordnung, welche in einem sicheren (Werte-)Rahmen und hierarchischen Ordnungen ihren Ausdruck fand. Das Wort vom Tod Gottes spreche gerade den Zerfall jener Ordnungen und Maßstäbe aus.512 Doch die Erwähnung des Wortes vom Tod Gottes sofort in Verbindung mit Nietzsche zu bringen, ist übereilt. Vattimo spricht hier nicht über Nietzsche. Vattimo spricht von einer Erfahrung, die man heute zu Unrecht als »Renaissance der Religion« apostrophiere, und fragt, ob dieses Phänomen, etwas anderes als der Tod Gottes sei. Worauf verweist diese eigenartige Verbindung von einer wiederauftretenden Religion, die aber nicht Renaissance genannt werden dürfe, und dem Tod Gottes? Es muss auffallen, dass Vattimo sich an dieser Stelle, im Vorwort zum Band Die Religion, nicht auf Nietzsche bezieht, 509 510 511 512
Vattimo, Begleitumstände, 7. Vattimo, Begleitumstände, 7; vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 547. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 – Herbst 1887, 5 [71, Aph. 7]. Vgl. Vattimo, Jenseits des Christentums, 23.
Hegels Wort vom Tod Gottes
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sondern explizit die Kontinuität zu Hegel hervorhebt. Hier ist eines der beiden Einfallstore bezeichnet, die meines Erachtens philosophisch im Hintergrund von Vattimos Aufsatz Die Spur der Spur stehen. Es handelt sich dabei um die Anfangspassagen von Hegels Darstellung der offenbaren Religion in der Phänomenologie des Geistes. Das zweite Tor sehe ich in Heideggers Holzwegen, im Übergang der beiden Aufsätze Nietzsches Wort »Gott ist tot« und Wozu Dichter?, worauf ich später noch zurückkommen werde. Ich denke, diese beiden Orte markieren gleichsam die Stätte, auf der Vattimos Überlegungen zur Religion beruhen. In der Phänomenologie des Geistes begegnet uns das harte Wort, dass Gott gestorben ist, am Ende des fünften Absatzes des Kapitels über die offenbare Religion. Damit ist der Verlust »der Substanz wie des Selbsts«513 bezeichnet, der Tiefpunkt des Weges der Phänomenologie. Vorausgegangen waren diesem Verlust verschiedene Ausgestaltungen der Religion (Naturreligion und Kunstreligion) als Weisen des Aufgangs des Göttlichen. Kennzeichnend dafür ist, dass das Ich keine Möglichkeit mehr hat, diese göttlichen Gestalten als Produkte seiner Reflexion hervorzubringen und sich in ihnen zu verorten, d. h. zu spiegeln. (Genau dies war das Bestreben des Ichs in allen der Religion vorausgehenden Gestalten der Phänomenologie.) In den göttlichen Gestalten begegnet im Gegenteil eine Nicht-Verortbarkeit, der Entzug Gottes wie des Ichs. Die Ausgestaltungen der Religion sind Figurationen des Überganges von Tod und Leben. In der griechischen Tragödie (im Kapitel über die Kunstreligion) zeigt sich der Untergang der Götter und Menschen in der Macht eines über allem lastenden Schicksals. In der Komödie hingegen bleibt keine substanzhafte Macht mehr bestehen, alle bisherigen Gestalten, Menschen und Götter und auch der Tod, werden hier zerlacht. Es bleibt kein substanzhaftes Geschehen mehr über, keine Richtung der Darstellung, kein vorantreibendes Moment, kein Weg, der weiter zu beschreiten wäre. Sichtbar wird jedoch, nachdem in der Komödie die Maske fällt, die Kontingenz und Ausgesetztheit des Menschen selbst, seine Nacktheit und Deutungslosigkeit. Stark vereinfacht gesagt, ist damit der Ort bezeichnet, wo Hegel mit der Darstellung der offenbaren Religion beginnt. Jener gänzliche Verlust, der schon in der Komödie statthatte, erscheint darin noch einmal radikalisiert in einem Akt konkreter Übernahme und als ein Geschehen der Entäußerung. Hegels Wort vom Gott, der gestorben ist, deutet auf Jesu Kreuzestod hin, der als Akt der Übernahme diesen kontingenten und ausgesetzten Menschen (Verlust des Selbst) sichtbar macht (Ecce homo) und gleichzeitig höchste Form der Entäußerung (kenosis) Gottes selbst (Verlust der Substanz) ist. An diesem Tiefpunkt ist jedoch die Darstellung der Phänomenologie nicht zu Ende. Sie fährt aber auch nicht unmittelbar mit einer Entwicklung der offen513 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 547.
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Hegels Wort vom Tod Gottes
baren Religion fort. Hegel situiert gewissermaßen die offenbare Religion in der Überwindung jenes Totpunktes, an dem die Religion (wie auch die Erzählung der Geschichte) zu Ende ist. Dieser Totpunkt bezeichnet mithin nicht allein das historische Geschehen nach der Kreuzigung Jesu, also den Karsamstag, sondern den Ausgangspunkt, welcher der christlichen Religion eingeschrieben bleibt. So gibt Hegel im nächsten Absatz514 zunächst dem gänzlichen Niedergang und der völligen Kraftlosigkeit aller bisherigen Ausgestaltungen der Religion Ausdruck: Verloren ist das Vertrauen in die ewigen Gesetze der Götter, die Statuen sind nur noch Leichname, den Festen fehlt die belebende und vereinigende Kraft etc. Nach einem Gedankenstrich wird deutlich, dass Hegel die Schilderung nun fortan auf seine (unsere?) Zeit bezieht: Nicht mehr der Aufgang des Göttlichen werde in lebendiger Beziehung erfahrbar ; was sich uns darbietet, ist »allein die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit«515. Nach einem weiteren Gedankenstrich fährt Hegel mit einem Bezug auf »unser Tun« fort, das eine äußerliche Distanz nicht mehr überwinden könne und das einstmals lebendige Religiöse nur noch verwalte, aber nicht mehr das gottesdienstliche Tun sei. An diesem Totpunkt kann es keine Überwindung geben, die durch unser Tun irgendwie herbeigeführt werden könnte. Auch ein natürliches Sich-Geben (etwa einer neuen Religiosität), das Hegel hier »unmittelbar« nennt, tritt nicht ein. Ab hier wird nun die Darstellung der Phänomenologie gewissermaßen utopisch. Hegel beschreibt nun im Modus der Utopie eine »darreichende Gebärde«, welche uns die Kunstwerke, die Erinnerung, die verlorene Welt darbietet. Hegel bezieht sich an dieser Stelle wohl auf Hölderlin und fragt, ob in seiner Dichtung jenes Zerbrechen eines Zusammenhaltes der Welt der Menschen und der Götter, d. h. jener Totpunkt, in einer Weise ansichtig wird, die eine neue Epoche (unsere Zeit) eröffnet. Hölderlin ringt noch um eine Sprache, um diesen Verlust überhaupt aussagen zu können, was sich besonders am Beginn der zweiten Fassung der Hymne Mnemosyne ausdrückt: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren.«516 Die offenbare Religion, und das ist nun das Utopische an Hegels Darstellung (und Hölderlins Dichtung), hätte genau hier ihren Ort. Die tote Erinnerung, uns in der darreichenden Gebärde übergeben, könnte in ihr zu »Er-Innerung« werden – Hegel wandelt hier die Schreibweise des Wortes »Erinnerung«, vollzieht also eine Änderung im Begriff der Erinnerung selbst. Hätte die offenbare Religion, die selbst Gestalt umfassenden Verlustes (von Selbst und Substanz) ist, gerade hier ihren Ort? Wie wäre die Religion als diese Gestalt des Verlustes zu denken? Diese 514 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 547 – 548. 515 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 548. 516 Hölderlin, Mnemosyne (Entwurf), in: ders., Sämtliche Werke und Briefe I. herausgegeben von Knaupp, 436.
Hegels Wort vom Tod Gottes
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Frage leitet Hegel in den folgenden Absätzen in seiner Interpretation der offenbaren Religion. Halten wir für den Zusammenhang unserer Überlegungen fest, dass Religion nach diesem Zerbrechen, wenn von ihr noch die Rede sein kann, nicht mehr in einer Unmittelbarkeit auftreten kann, sondern nur mehr als Gestalt der Erinnerung, die zur Er-Innerung wird, d. h. in einem Gestus der Wiederkehr. Mit dem Titel der Hymne Mnemosyne lenkt bereits Hölderlin das Augenmerk auf diese Frage nach der Gestalt der Erinnerung, die sich bei Hegel im Übergang der Schreibweise von Erinnerung zu Er-Innerung ausdrückt. Wenn Vattimos erneuertes Nachdenken über die Religion beim Begriff der Wiederkehr einsetzt, nimmt er die Fragestellung genau an diesem Punkt wieder auf. Von einer Renaissance der Religion zu sprechen, würde die Dramatik der Frage nach der Gestalt des Wiederauftretens, der Wiederholung, der Erinnerung übergehen, um sofort eine neue Vitalität der Religion zu beschreiben. Wie aber können wir dann noch in eine Betrachtung der Religion, wie sie sich uns heute zeigt, einsteigen? Weiterhin in den Spuren Hegels zu bleiben, würde bedeuten, dass eine Betrachtung der Religion irgendwie mit einer Umkehr des Blickes, einem Blickwechsel verbunden ist …
Exodus und Wiederkehr
Vattimos Text Die Spur der Spur beginnt mit dem Vorschlag eines Blickwechsels auf die Religion, d. h. mit einer Ausweitung und genaueren Differenzierung der Betrachtungsweise: »Oft heißt es, die religiöse Erfahrung sei eine Erfahrung des Exodus; wenn es sich aber um einen Exodus handelt, dann ist dieser Exodus möglicherweise Aufbruch zu einer Rückkehr.«517 Die Rede ist zunächst von religiöser Erfahrung. Die Frage, wie es überhaupt einen adäquaten Zugang dazu geben kann, steht im Hintergrund der anfänglichen Überlegungen, nicht Bekräftigung oder Bestreitung ihrer Legitimität.518 Von einem äußeren Standpunkt der Beurteilung, der den gesicherten Gang der folgenden Argumentation vorzugeben vermöge, oder dem sicheren Fundament einer Apologie, die sich ihres Ausgangs gewiss wäre, nimmt Vattimo schon mit dem ersten Satz Abstand. Es geht vielmehr um die (kritische) Deutung einer Erfahrung und die Frage, was diese uns zu sagen hat. Dabei werden keine unmittelbaren Erklärungen religiöser Phänomene gegeben, sondern es gilt, eine bestimmte Struktur herauszustellen, als deren Auslegung der gesamte Text zu verstehen ist: In ganz knapper Form nennt der erste Satz diese in der Spannung von Exodus und Rückkehr. Religiöse Gründungen (dies gilt wohl nicht nur für die biblische Tradition), sei es einer neuen selbstständigen Bewegung, sei es einer Gemeinschaft innerhalb einer Religion (Orden etc.), werden oft mit einer Erfahrung des »Auszugs« in Verbindung gebracht: Eine Gründerfigur, eine Gruppe, ein Volk verlässt einen angestammten Bereich und dessen Plausibilitäten, geht in die Wüste, den Wald, die Fremde und erfährt in diesem In-die-Fremde-Gehen, in diesem Zerbrechen der eigenen Maßstäbe und Plausibilitäten eine bedeutsame, unableitbare Wahrheit. Mit der Erinnerung an diesen Auszug bleibt ein kritisches Moment verbunden, sich fortan nie mehr ganz in den Verhältnissen der Umgebung, der Zeit einzuhausen. Rilke hat dies im Stundenbuch mit den Worten »und keine Heimat haben in der 517 Vattimo, Die Spur der Spur, 107 (Übersetzung leicht geändert). 518 Vgl. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), besonders: §§ 20 – 23.
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Exodus und Wiederkehr
Zeit« zum Ausdruck gebracht. Vattimo stellt die Frage, ob dieses Motiv des Auszugs gleichsam ein letztes, wenn auch kritisches Ursprungsmotiv ist, wie es Gründungsmythen innewohnt. Handelt es sich um einen ersten Akt, sei er menschlich oder göttlich gesetzt, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann, oder kann auch der Auszug selbst noch einmal in seiner Struktur gedacht werden (und ist eben nicht unhinterfragbares »Prinzip«)? Wenn der Auszug Aufbruch zu einer Rückkehr ist, dann ist Religion etwas anderes als das, was Ursprungsmythen sind oder wofür sie zumeist ausgegeben werden: Rückbindung an ein letztes, unhinterfragbares Fundament. Wenn Auszug Aufbruch zu einer Rückkehr ist, dann gibt es hier kein Erstes mehr, wir befinden uns in einer Struktur der Verweisung, die an keinem Punkt beginnt: Der Auszug ist nicht erster Akt, sondern bereits eine Form der Rückkehr. Aber auch die Rückkehr kann nicht als fundamentaler als der Auszug gedacht werden, denn sie setzt immer schon ein Verlassen-Haben voraus. Die religiöse Erfahrung ist dann nicht in erster Linie Repräsentation eines Bruches, sondern Darstellung unserer Geschichtlichkeit, einer Existenz als Verweisung, die an keinem Punkt beginnt und in den Zirkel aus Exodus und Rückkehr gestellt, den Charakter des Übergangs hat. In diesen Zirkel gestellt, können wir versuchen, seine Bedeutung und die Weise, wie er sich geschichtlich zum Ausdruck bringt, zur Darstellung zu bringen. Eine Rückführung im Sinne einer vollständigen Analyse, d. h. einer Zerteilung in seine Bestandteile und einer ruhenden Abbildung, welche die Bewegung des Zirkels stillstellt, ist nicht zu erlangen. Religiöse Erfahrung ist Erfahrung des Übergangs, nicht jedoch die Rückführung auf eine Bedeutung, sie lässt keine unmittelbaren Bedeutungszuweisungen und Erklärungen ihrer »Phänomene« zu. Vattimo spricht von einer Verschränkung von Exodus und Rückkehr, macht aber danach sofort darauf aufmerksam, dass es keinen verborgenen Automatismus im Sinne einer ungeschichtlich »wesenhaften Natur«519 gibt, welcher Auszug und Rückkehr zusammenhält. Der Auszug kann zur sich selbst perennierenden Bewegung werden, der jedes Ankommen Verrat ist und die nie zu einer Rückkehr wird. Die Rückkehr hingegen kann in den Kreislauf ewiger Wiederkehr des Ewiggleichen münden, der keinen Ausgang mehr bietet. Je neu muss die Frage gestellt werden, wie sich die Spannung aus Exodus und Rückkehr, wo sie nicht zerbricht und in eines der Extreme fällt, in einer bestimmten Zeit darstellt. Vattimos Überlegungen sind, wie er in diesem Zusammenhang sogleich festhält, auch tatsächlich der Erfahrung geschuldet, dass Religion heute verschiedentlich als Rückkehr erlebt und wieder thematisch wird. In der Diktion unterschiedlicher philosophischer Richtungen nennt Vattimo in einem Satz mehrere Figuren einer Rückkehr der Religion, wie wenn er Kategorien, um diese 519 Vattimo, Die Spur der Spur, 107.
Exodus und Wiederkehr
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denkbar erscheinen zu lassen, bereitstellen wollte (»die Vergegenwärtigung von etwas, das wir endgültig vergessen zu haben meinten …«520). Er nimmt dazu Begriffe auf, die in der Eigenart der jeweiligen Philosophien die Bewegung einer Wiederkehr auszusagen vermögen. Jene Gestalten werden wir in einem eigenen Kapitel noch genauer behandeln. Nachdem das Motiv der Rückkehr in anspielender Weise genannt ist, stellt Vattimo die entscheidende Frage, ob diese Bewegung letztlich nur eine akzidentelle Gestalt sei, die auf ein eigentlich unveränderliches Wesen als den Kern der Religion verweist, zu dem man zurückfindet: »Wenn es sich also um eine Rückkehr handelt, könnte es dann eine in Bezug auf ihr eigentliches Wesen akzidentelle Form der Vergegenwärtigung der Religion sein?«521 Es könnten historische, individuelle, soziale Entwicklungen gewesen sein, welche die Religion vergessen haben lassen, durch irgendwelche Ereignisse würde sie wieder in den Blick gerückt. Es ist die Vorstellung einer essentiellen Wahrheit, »die irgendwo unbewegt feststünde, während um sie herum Individuen und Generationen in einer ihr gänzlich äußerlich und irrelevant bleibenden Bewegung kommen und gehen«522. Das unveränderliche Wesen der Religion würde nicht berührt durch den fragilen Zusammenhang der Generationen, die eine Tradition durch die Geschichte weitergeben, vergessen und wiederfinden. Der Hinfälligkeit und Sterblichkeit, die sich darin anzeigt, wäre die Wahrheit der Religion enthoben. Vattimo sieht, wenn er sich gegen diese Vorstellung wehrt, offensichtlich den Gedanken des gefährdeten hermeneutischen Zusammenhalts der Generationen als bedeutsamer als den Gedanken einer unveränderlichen Wahrheit. Zeigt sich darin ein (säkularisiertes) Echo des biblischen Bundesgedankens? Dieser erachtet, wie das Buch Jona lehrt, die Treue Gottes zu den Menschen in ihrem Schwanken als grundlegender sogar noch als die Unveränderlichkeit des Gotteswortes.523 Die weiteren Überlegungen des einleitenden Absatzes wenden sich dann auch gegen die Vorstellung einer lediglich äußerlich akzidentellen Bedeutung der Rückkehr der Religion. Vattimo deutet an, dass hinter dieser Vorstellung das Bild einer Wahrheit stünde, welcher Geschichte bloß äußerliche Bewegung ist, die lediglich an ihrer Oberfläche bliebe. Diese Denkweise hat Hegel im Kapitel Kraft und Verstand der Phänomenologie des Geistes als eine Wissensgestalt dargestellt und in ihrer Aufhebung betrachtet.524 Dort versucht das Bewusstsein der Negativität der Bewegung, wir könnten auch sagen der ersten sich anzeigenden geschichtlichen Veränderung, die sich am Ding mit Eigenschaften immer wieder 520 521 522 523 524
Vattimo, Die Spur der Spur, 107. Vattimo, Die Spur der Spur, 107. Vattimo, Die Spur der Spur, 107. Vgl. Heinrich, Parmenides und Jona, 61 – 128. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 107 – 136.
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Exodus und Wiederkehr
auftut, dadurch standzuhalten, dass es sie zum Unwesentlichen erklärt, dem ein Inneres der Dinge als Unveränderliches gegenübersteht (Bespiele dafür sind eine unveränderliche Welt der Gesetze der Physik, der die kontingenten Erscheinungen gegenüberstehen oder eine übersinnliche Welt der Ideen, der die bloß veränderliche geschichtliche entgegengestellt ist). Folgt man den Ausführungen Hegels, so tritt der Aspekt der Bewegung (der Geschichte) immer deutlicher hervor, je mehr versucht wird, ihn von einem an-sich seienden Kern fernzuhalten. Schließlich zerbricht die Vorstellung einer unbewegten Wahrheit eines unveränderlichen Kerns und der Blick ins Innere stößt auf die Negativität des Selbstbewusstseins, die sich nicht mehr als etwas Positivierbares festhalten lässt. Hinter dieses Auftreten des Selbstbewusstseins und die erste Aufmerksamkeit für Bewegung und Geschichte kann der weitere Weg der Phänomenologie nicht mehr zurückgehen. Dieser Einsicht schließt sich Vattimo an, wenn er sagt, dass man mit einem Mechanismus, der einer essentiellen Wahrheit die Unwesentlichkeit der Geschichte gegenüberstellt, heute in der Philosophie nicht mehr arbeiten könne. Der Weg der Geschichte, der von der Religion weg und wieder zu ihrem unveränderten Wesen hingeführt hätte, wäre sonst lediglich als entbehrlicher Umweg zu kennzeichnen. Neben Hegel spielt Vattimo dabei aber wohl auch auf Heideggers Aufsatz Das Ding525 an, der mit dem Gedanken des Gevierts ebenfalls gegen eine Vorstellung eines unveränderlichen Kerns der Dinge (eines unveränderlichen Wissens), dem eine veränderliche Geschichte bloß äußerlich bliebe, auftritt. Dieser Aufsatz, von Vattimo ins Italienische übersetzt, zählt zu seinen ständigen Bezugspunkten und führt im letzten Absatz vor die Unentbehrlichkeit des Gehens von Wegen, die sich nicht im Blick auf eine unveränderliche Wahrheit als überflüssig erweisen: »Alles ist hier Weg des prüfend hörenden Entsprechens. Weg ist immer in der Gefahr, Irrweg zu werden. Solche Wege zu gehen, verlangt Übung im Gang.«526 Sind Vattimos Überlegungen vielleicht als eine derartige Übung anzusehen? Was an dieser Stelle noch nicht deutlich wird, weil es erst in den weiteren Überlegungen entwickelt werden muss, ist, dass gerade die Erzählung der Menschwerdung in kenosis die Vorstellung eines unveränderlichen Fundamentes aufgelöst hat und einen neuen Blick auf Geschichte als Geschichte des Menschen freigibt. Vattimo zufolge könnte man Hegel und Heidegger hier durchaus in dieser Tradition verorten. Wo sich Vattimo (zunächst) aus philosophischen Prämissen von Vorstellung einer Rückkehr zu einer unveränderlichen Wahrheit distanziert, wandelt sich auch die Diktion: Er spricht hier nicht von Rückkehr (»il ritorno«) der Religion, weil dies immer noch irgendwie den Gedanken einer äußerlichen Bewegung 525 Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 157 – 179; Heidegger, Saggi e discorsi, 109 – 124. 526 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 179.
Exodus und Wiederkehr
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zurück zu einem Unveränderlichen insinuieren könnte, sondern von Wiederkehr (»il ritornare«). Es handelt sich dabei, wie es im italienischen Original die Substantivierung des Infinitivs »ritornare« zum Ausdruck bringt, nicht um eine Bewegung von etwas zu etwas, die an einem Ruhepunkt wieder anlangen würde, sondern um die Gestalt der Bewegung selbst, von der her Religion zu denken, Vattimo versucht. Der deutsche Begriff der Wiederkehr nimmt jene Oszillation, die Vattimo zunächst als Exodus und Rückkehr auseinandergelegt hat, als Gestalt einer Bewegung auf. So gälte es, nicht sofort und ausschließlich zu wiederkehrenden »Inhalten« überzugehen und damit den Begriff Rückkehr (»il ritorno«) zu füllen, sondern gerade die Wiederkehr (»il ritornare«) als (den) wesentlichen Aspekt religiöser Erfahrung selbst darzustellen, d. h. Religion als Wiederkehr zu denken.
Gestalten der Wiederkehr
In einem Satz nimmt Vattimo unmittelbar nach der Erwähnung der religiösen Erfahrung als Exodus und Rückkehr unterschiedliche religionskritische Traditionen der Moderne (d. h. Auszüge aus der Religion) auf und setzt sie mit einer ihnen entsprechenden Gestalt der Wiederkehr der Religion in Beziehung. Vattimo betrachtet mithin keine wiederkehrenden Inhalte, sondern möchte die Bewegung des Wiederkehrens selbst in den Blick bringen: »Sie [die Religion, die als Rückkehr erlebt wird] ist die Vergegenwärtigung von etwas, das wir endgültig vergessen zu haben meinten, das Wiederauftauchen einer verwehten Spur, das Aufbrechen einer Wunde, die Wiederkehr eines Verdrängten, die Offenbarung eines für überwunden (wahr geworden und folglich für abgetan) Gehaltenen als eines bloß Verwundenen, eine lange Konvaleszenz, in der wir unsere Rechnung mit der unauslöschlichen Spur der Krankheit noch einmal aufmachen müssen.«527
Die Bewegung einer Wiederkehr zeigt sich im italienischen Original durch das Präfix ri- an, das hier in sämtlichen Wendungen auftritt: rifarsi presente, riattualizzazione, riacutizzarsi, riemergere, rivelazione, rifare i conti. Vattimo spricht nicht einfach von einer neuerlichen Präsenz der Religion, sondern benennt in einer Fülle von Anspielungen zunächst Bewegungen einer Rückkehr und nimmt diese unterschiedlichen Stränge gleichsam zu einem Bund zusammen. Der hier anklingenden Erinnerung an Marxismus, Nietzsche, Heidegger, Hegel, Psychoanalyse und vielleicht auch an Levinas und Derrida ist jeweils ein wiederholender Gestus eingeschrieben, den Vattimo als religiöse Spur zu entziffern sucht. Es handelt sich bei diesen Philosophien um Erzählungen, welche sich dem Halbgläubigen als einer authentischen Gestalt spätmodernen (Un-) Glaubens als Echo und ferner Wi(e)derhall der kenosis eröffnen und auf diese Weise selbst zum Voraus religiöser Rede heute werden, die nicht den erreichten Problemhorizont der Moderne unterlaufen möchte. Religion als Wiederkehr bleibt auf deren eröffnende, bereitende Funktion angewiesen. Verwiesen sei 527 Vattimo, Die Spur der Spur, 107.
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Gestalten der Wiederkehr
hinsichtlich dieses Verständnisses auf den zweiten der zuvor angedeuteten Referenzpunkte der Deutung von Vattimos Begriff der Wiederkehr. Im Aufsatz Wozu Dichter?, veröffentlicht in Holzwege, benennt Heidegger eine mögliche Wende unseres Weltalters, das durch das Wegbleiben Gottes bestimmt sei: »Die Wende des Weltalters ereignet sich nicht dadurch, dass irgendwann nur ein neuer Gott oder der alte neu aus dem Hinterhalt hereinstürzt. Wohin soll er sich bei seiner Wiederkunft kehren, wenn ihm nicht zuvor von den Menschen ein Aufenthalt bereitet ist?«528
Wiederkunft bedeutet für Heidegger in den Holzwegen nicht den apokalyptischdiskontinuierlichen Einbruch Gottes, sondern setzt das Bereiten einer Stätte voraus. Diese vorbereitende Haltung weicht dem Wegbleiben Gottes nicht aus und sucht diesen Verlust nicht durch etwas anderes auszufüllen. Die Holzwege können durchaus in diesem vorbereitenden Charakter gelesen werden, wie die kunstvolle Anordnung der Aufsätze des Buches zeigt, was ich kurz andeuten möchte. Dem Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung folgen Nietzsches Wort »Gott ist tot« und Wozu Dichter?, wobei ersterer wie ein Kreisen um jenen Satz aus der Einleitung in die Phänomenologie erscheint, der vom Bei-uns-Sein und Bei-unsSein-Wollen des Absoluten spricht529, und zweiterer den berühmten Aphorismus vom Tod Gottes aus der Fröhlichen Wissenschaft auslegt. Dem Gedanken der Parusie, der im Mittelpunkt des Aufsatzes über Hegel steht, folgt das Wort vom Tod Gottes, wobei dieser Aufsatz unter Verweis auf den 130. Psalm mit dem Schrei des tollen Menschen nach Gott endet: »Der tolle Mensch dagegen ist eindeutig nach den ersten Sätzen, eindeutiger noch für den, der hören mag, nach den letzten Sätzen des Stückes derjenige, der Gott sucht, indem er nach Gott schreit. Vielleicht hat da ein Denkender wirklich de profundis geschrieen? Und das Ohr unseres Denkens? Hört es den Schrei immer noch nicht? […]«530
Wozu Dichter? setzt daraufhin mit dem Motiv des »Fehls Gottes« ein und stellt die Frage nach seiner Wiederkunft und dem Bereiten eines Aufenthaltes dafür. Mithin scheint sich der Text der Holzwege in seinem Kern um die Frage nach dem Verlust des Göttlichen und seiner Wiederkehr zu bewegen, die nicht unmittelbar, d. h. ohne den Weg durch die Infragestellung (wie sie hier über Nietzsche angezeigt ist) erschwinglich ist. Beginnen wir heute erneut ein Nachdenken über die Religion, muss es den Durchgang durch jene von Vattimo angedeuteten Erzählungen der Moderne 528 Heidegger, Holzwege, 270. 529 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 69. 530 Heidegger, Holzwege, 267.
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Marxistische Religionskritik
nehmen. Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch, jene Gestalten der Wiederkehr in einigen Motiven auszuführen.
Marxistische Religionskritik Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe keinen Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Habt ihr mir etwa Schlachtopfer und Gaben dargebracht während der vierzig Jahre in der Wüste, ihr vom Haus Israel? (Amos 5, 21 – 25)
1) Zunächst wird die Wiederkehr der Religion als »die Vergegenwärtigung von etwas, das wir endgültig vergessen zu haben meinten«531, gefasst, was als Anspielung auf die marxistische Religionstheorie gelesen werden kann. Diese rechnet in ihrer ursprünglichen Form damit, dass Religion durch Verbesserung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse ganz von selbst vergessen werde, zumal sie als »das notwendig falsche Bewusstsein, das sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen ergibt, die noch von dem Widerspruch zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den zu deren Befriedigung zur Verfügung stehenden Kräften bestimmt sind«532, nach einer grundlegenden Umstrukturierung der Gesellschaft überflüssig würde. Religion wird dabei als gesellschaftliches Phänomen betrachtet; sie wird historisch in ihrer Entwicklung rekonstruiert, auf andere Faktoren zurückgeführt und in ihrem künftigen Verschwinden erzählt. Nicht als etwas Ursprüngliches genommen, das den Menschen unbedingt angeht, begegnet sie als abgeleitete, von anderen, ihr äußerlichen Bedingungen abhängige Gestalt. Die marxistische Religionstheorie war freilich nicht der erste Versuch einer Darstellung dieser Art, ihr gehen etwa schon die Überlegungen Ludwig Feuerbachs und Heinrich Heines voraus, die ähnliche Elemente aufweisen. Aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Wirkmächtigkeit und der vielen bis heute an sie anschließenden Diskurse kann sie jedoch als der zusammenfassende Ausdruck dieser modernen Linie der Kritik gesehen werden. Wenn 531 Vattimo, Die Spur der Spur, 107. 532 Bütow/Lieber, Ideologie, 90.
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Religion weder in den realsozialistischen noch in den kapitalistischen Gesellschaftsordnungen gänzlich in Vergessenheit geraten ist, darf dies nicht als Sieg der Religion über die marxistische Kritik gefeiert werden, als sei diese nun widerlegt. Hat sich die Gesellschaft anders als darin vorhergesagt entwickelt, so bleibt der Bruch mit der Vorstellung der Religion als unbedingter, nicht ableitbarer Macht im Bewusstsein unserer Gesellschaft wirkmächtig. Religion kann danach »nur« mehr als eine wiederkehrende erfahren werden, wobei jede Form ihrer Rückkehr neu jenen Bruch sichtbar macht.533 Auch dort, wo sie in Kontinuität lebendig geblieben ist, hat sie nicht mehr den Charakter der Unmittelbarkeit und Ungebrochenheit, weil sie sich nicht außerhalb des gesellschaftlichen Umfeldes, das von ihrer Infragestellung durchzogen bleibt, zu artikulieren vermag. Unser einziger Zu-gang zur Religion ist vermittelt über die vielen Umwege und Aus-züge gegeben, welche das allgemeine Bewusstsein in der Moderne vollzogen hat. Als Antwort auf marxistische Religionskritik, welche sich als praktisch–revolutionäre Gesellschaftskritik entfaltete, kann eine Wiederkehr der Religion nicht mehr bloß im innerlichen Gefühl oder der theologisch akademischen Anstrengung des Einzelnen statthaben, sondern nur im Horizont von Gesellschaft – und dort nur mit einer klaren Option für die Verlierer. Die Kritik des Marxismus, dem Religion als Vertröstung, Überbau und falsches Bewusstsein gilt, d. h. als von anderem abgeleitetes Phänomen, weist der Gottesrede ein Niveau sozialer Verantwortung und Verpflichtung zu, welches weder vom gelebten und gefeierten Glauben noch von der Theologie unterschritten werden darf. Religion kann Praxis und gesellschaftliche Verantwortung nicht mehr als bloß nachträgliche Anwendung ihres dogmatischen Gehalts außer sich haben, sondern diese sind integraler Bestandteil ihrer Gottesrede, sie sind noetische Kategorien ihres Logos. Die Artikulation der Religion steht in einer Theorie-Praxis-Dialektik, d. h. ihre theoretischen Begriffe müssen sich im Raum praktischer Verantwortung je neu suchen. Sakrale Sonderräume, die sich nicht in Welt qua Geschichte und Gesellschaft hinein vermitteln und aufheben und somit eine unbedingte Weltverantwortung ablehnen, sind drohen zur Ideologie zu werden. Eine sich lange Zeit gesellschaftlich und politisch weithin unschuldig wähnende Gottesrede sieht sich dadurch an ihre biblische Herkunft gemahnt. Es war besonders die Neue Politische Theologie534, welcher in geschärfter Aufmerksamkeit für den Weltblick Israels und Jesu sowie in Annahme des Anstoßes (neo) marxistischer Religionskritik daran gelegen war, »Weltgeschichte mit ihren 533 Vgl. Heinrich, Parmenides und Jona, 10 – 28. 534 Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft; vgl. dazu auch: Metz, Marxismus als Herausforderung an die Theologie, in ders. (Hg.), Anfragen an den Marxismus und an das Christentum, 53 – 66.
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Erfahrungen als immer neue Herausforderung der christlichen Hoffnungspraxis zu erläutern: Geschichte als schöpfungstheologisch geforderter Ort theologischer Wahrheitssuche«535. 2) An dieser Stelle kann es lediglich darum gehen, den vom Marxismus ausgehenden Impuls nicht zu überhören und anzudeuten, in welche Richtung dieser eine wiederkehrende Religion weisen mag. Vattimo selbst verbindet jedoch eine lange Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Für ihn sind Marxismus und Kommunismus wichtige Bezugspunkte in der Entwicklung seines philosophischen Denkens und politischen Engagements und stehen nicht in strikter Gegnerschaft zur Religion. Den so genannten »Kathokommunismus«, eine für Italien eigentümliche Verbindung von Katholizismus und Kommunismus, bezeichnet Vattimo als eine Konstante, der er stets treu geblieben sei.536 Er war für den postkommunistischen »Partitio dei Democratici di Sinistra« Mitglied des Europaparlaments und bezieht sich gesellschaftspolitisch nicht zuletzt auf Antonio Gramsci, welchen er als den »vielleicht letzte[n] bedeutende[n] Vertreter des westlichen Marxismus«537 ansieht. Wie Gramsci geht es ihm »um den Bau einer liberalen, demokratischen, laizistischen (und damit umso christlicheren), von allen getragenen Kultur, die den Weg für die Schaffung einer Gesellschaft öffnet, die sich nicht dem Fortschritt um jeden Preis unterwirft, sondern entschlossen für die Durchsetzung von Werten wie Solidarität und Zusammenhalt eintritt, den letztlich besten Garanten der Sicherheit«538.
Abgesehen vom gesellschaftspolitischen Engagement hat sich Vattimo besonders in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Marxismus, vor allem mit der Gestalt des revolutionären Subjekts beschäftigt; so habe er in Il soggeto e la maschera (1974) »versucht, Marx und Nietzsche zusammenzubringen«539. Vattimo findet im marxistischen und neomarxistischen Erbe, welches in der zeitgenössischen italienischen Geisteslandschaft eine unüberhörbare Stimme darstellt, eine dissolutive (auflösende) Tendenz, die für ihn große Bedeutung hat, auch wenn dieses Motiv gerade dort, wo sich der Marxismus als politische Leitidee manifestierte, der massiven Bedrohung der Erstarrung ausgesetzt war (und ist). In Akzentuierung seiner auflösenden Tendenz lässt sich ein Denken marxistischer Provenienz als Teil jener schwachen Kontinuität der Auflösung starker, ungeschichtlicher Strukturen lesen, die Vattimo zufolge in der
535 Reikerstorfer, Weltfähiger Glaube, 165. 536 Vgl. Vattimo, Wie werde ich Kommunist, 7. 537 Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, 44; zum Marxismus vgl. 36 – 45. 538 Vattimo, Wieder ein Regime? Zur politisch-gesellschaftlichen Situation in Italien, 18. 539 Weiß, Vattimo, 171 f.
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Menschwerdung als kenosis, ja die schon im subversiven Gottesbegriff des Exodus und der Verkündigung der Propheten gründet. 3) Vattimo greift den an der Bedeutung der Erinnerung sich bildenden neomarxistischen Einspruch gegen die marxistische Weltanschauung klassischer Prägung auf und verbindet ihn mit seiner Lesart Nietzsches. Dies wird besonders in einem Interview der Zeitung lotta continua des gleichnamigen, linksgerichteten, außerparlamentarischen Bündnisses ersichtlich, wo Vattimo Kritik an den Formen einer »Projekthaftigkeit von Geschichte«540 übt, welche diese in einer wie subtil auch immer artikulierten Teleologie als von einem letzten Sinn, einer letzten »absoluten Versöhnung«, »Wieder-Aneignung«541, Wieder-in-Besitz-Nahme getragen sieht. Diese Modelle einer säkularen Übernahme der mythischen Vorstellung absoluter Beheimatung zehren, wie wohl sie gerade dagegen angetreten sind, immer noch von jenem »metaphysischen Betrug«, welcher den Wert des Endlichen, des Zeitlichen und Verletzlichen in einem Unendlichen aufgesogen sieht. Damit verbleiben sie noch im Bereich der »Mystifikation«542, in der »Vorgeschichte«543. Der Eintritt in die Geschichte erfolgt erst dort, wo man lernt, »unter der Bedingung zu leben, nirgendwohin unterwegs zu sein«544, worin sich das Erbe Nieztsches zeigt. Es ist das »ein SichEinüben auf Sterblichkeit«545, auf Endlichkeit: »Der wahre Ausbruch aus der Vorgeschichte erfolgt nicht durch die Aneignung eines vermeintlich ›absoluten‹, theologischen Sinnes von Geschichte […], sondern durch die Erkenntnis, dass Geschichte gewissermaßen keinen Sinn hat …«546 Dies bedeutet ein Ausgesetztwerden in die Aktualität und Unsicherheit, in der das Heute steht, aber auch ein Sich-Aussetzen einer »gefährlichen Erinnerung« (Metz) der Vergangenheit, der Verlierer, der Toten. Vattimo sieht sich aufgrund der Schrecken, die mit den revolutionären, die Verwirklichung eines zukünftigen Ziels erzwingen wollenden Bewegungen einhergehen, wie aufgrund der Entleerung des neuzeitlichen Wertes des novum in eine zunehmend entfesselte selbstlaufende Reproduktion des Immer-Neuen »mehr der Vergangenheit, mehr den als Kristallisationen, als Werke, aber auch als Ruinen zurückgelassenen Spuren und Werten verpflichtet als einer Projekt-Vision, die künftig zu realisieren wäre«. Der sich immer schneller drehende Kreislauf automatisierter ständiger Erneuerung, in welchem »die Vergangenheit als Kontinuität von Erfahrung, als Verkettung von Bedeutungen« vom Verschwinden bedroht ist, spricht sich als der große Mythos der 540 541 542 543 544 545 546
Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 11. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 29. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 17. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 32. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 17. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 27. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 32.
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Moderne aus. Kennzeichen eines freien Menschen sei hingegen »erst die Pflege des Gewesenen, der Reste, der Spuren der Vergangenheit«547. Dieses 1980 in Auszügen erstmals veröffentlichte Interview stammt aus einer Zeit, in der sich im Werk Vattimos noch keine direkten affirmativen Bezüge auf die christliche Tradition finden, doch scheint eine Verbindung darin schon irgendwie vorbereitet. Dies soll in aller Kürze an zwei Motiven gezeigt werden: Gegenüber einer ungebrochenen und inflationären Verwendung der Kategorien Sinn und letztes Ziel entdeckt Vattimo, wie sein Artikel Os m¦ zeigt, in den paulinischen Schriften mit ihrer (schwachen) Bestimmung der christlichen Existenz als »Mangel und Drangsal«, »als in Erwartung der Parusie erduldete Schwachheit« eine radikale Kritik und »beständige Verweigerung, sich für ›gesinnt‹ (soll heißen: sinnvoll) zu halten«548. Überdies ist christlicher Glaube nicht zu denken ohne eine Kontinuität der Erinnerung an das Verlorene, an die Gestorbenen, an die Opfer ; ohne eine Kontinuität, »die nicht nur das Gelungene erinnert, sondern auch das Zerstörte, nicht nur das Verwirklichte, sondern auch das Verlorene« und die sich »gegen die Identifizierung von Sinn und Wahrheit mit der Sieghaftigkeit des Gewordenen und des Bestehenden wendet«549. Insofern ist von hier aus auch eine Wiederentdeckung des biblischen Erbes denkbar, die überdies in eine ähnliche Motivlage wie Vattimos Bezug auf Nietzsche und Heidegger weist. Sie gelten ihm als jene beiden Denker der Philosophie der Spätmoderne, deren Anstoß und Kritik zeigt, dass sich Neues nur im erinnernden Rückgang in die Geschichte, im Aufnehmen der vergangenen Spuren und nicht in der handelnden Verwirklichung auf Ziele und absolute Werte hin gibt. Mit einigen Fragen möchte ich an dieser Stelle schließen: Inwiefern hat der Marxismus trotz all seiner Erstarrung in unbewegliche, dogmatische Gehäuse Elemente eines wiedergefundenen Mythos gezeitigt? Was war und ist deren Größe? Woran sind diese gescheitert, sich nicht tiefer im allgemeinen Bewusstsein zu verankern? Ist der Marxismus betreffs eines wiedergefundenen, durch den Logos gegangenen, geschichtlich verunreinigten Mythos schon hinreichend bedacht? Eine Artikulation dessen wäre für unser Thema einer aus der marxistischen Kritik wiederkehrenden Religion gleichwohl unerlässliches Desiderat, lässt sich doch erst in Hinblick darauf die Frage nach der Bedeutung von liturgischer Feier und Erinnerung – etwa im Unterschied zu den kultischen Elementen im Marxismus – angemessen stellen. Gibt es eine Dignität religiösen Festes, welche weder die Erinnerung noch den zukunftsträchtigen Charakter von Utopie und Exodus unterläuft und die Spannung aus Unbehaustheit und 547 Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 19. 548 Vattimo, Os m¦, 180. 549 Metz, Anfragen an den Marxismus und an das Christentum, 61.
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Beheimatung nicht sistiert? In welcher Weise hebt sich darin das gesellschaftliche Engagement befreiender Praxis noch einmal in die Unmittelbarkeit des Lobpreises und eines verdankten Ja zur Schöpfung auf ?
Nietzsche: rückläufige Bewegung und Gedächtnisfest Die Metaphorik vom »Aufbrechen einer Wunde« und von einer langen »Konvaleszenz, in der wir unsere Rechnung mit der unauslöschlichen Spur der Krankheit noch einmal aufmachen müssen«550, deutet auf die Religions- und Wissenskritik Nietzsches hin. Wendungen aus dem Umfeld von Krankheit und Gesundheit sind in Nietzsches mittlerer Schaffenszeit, welcher unter anderem Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft angehören, häufig.551 Sie treten stets im Zusammenhang mit einer Dekonstruktion der Leitideen auf, in denen sich das Zeitalter der Moderne ausspricht: Entwicklung, Überwindung und Begründung. Im Umfeld dieser Auseinandersetzung mit der Moderne ist demnach auch die Frage nach einer Wiederkehr der Religion zu situieren. Eine eindeutige Auflösung obigen Bildes, welche »Krankheit« und »Wunde« in bruchlos identifizierender Manier mit Religion gleichsetzt, die sich im Prozess der Genesung von abergläubischen Ideen hin zu einem aufgeklärten Bewusstsein noch einmal zur Erscheinung bringt, überspringt den erzählenden Charakter von Nietzsches Schriften. Sie evozieren einen Bedeutungsreichtum, eine Ambiguität und Fülle an Verweisen und widersetzen sich einer vollständigen Übersetzung und Rationalisierung, als sei ihr erzählender Charakter nur peripher. Unabhängig von einzelnen Aussagen Nietzsches zur Religion eröffnet sein Schreiben Vattimo zufolge ein Klima und eine geistige Atmosphäre, die die Möglichkeit geben, die Frage nach der Religion überhaupt wieder neu zu stellen.552 Gleichwohl lehnt Vattimo eine lediglich kulturkritisch-literarisch akzentuierte Lektüre Nietzsches ab und affirmiert die von Heidegger vollzogene Wende, ihn »als einen Philosophen im vollen Sinne des Wortes«553 unter ontologischem Anspruch zu lesen.554 Halten wir uns für eine erste Annäherung jene Spannung vor Augen, die sich im Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft in der Gestalt der Zuhörer des tollen Menschen zeigt. Schon lange zu Atheisten geworden, stehen sie doch der 550 551 552 553 554
Vattimo, Die Spur der Spur, 107. Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 186; vgl. auch Vattimo, Nietzsche, 52 – 57. Vgl. Vattimo, Nietzsche, 52. Vattimo, Nietzsche, 3. Vgl. Vattimo, Nietzsche, 1 – 5; ders., Jenseits vom Subjekt, 36 – 64; ders. Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers, 141 – 153.
Nietzsche: rückläufige Bewegung und Gedächtnisfest
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größten Tat, der Tötung Gottes, unverständig gegenüber und vermögen diese in ihren Konsequenzen nicht zu ermessen.555 In dieser Hinsicht sind auch sie »noch fromm«. Für die »Gottlosen und Antimetaphysiker« kehrt, wie Nietzsche später ausführt, in der Wissenschaft der Glaube wieder, »dass die Wahrheit göttlich ist«556, d. h. sie behalten den Glauben an eine wahre Welt. Nietzsches Schriften vollziehen daran eine umfassende »Entlarvungsarbeit«557, die sich auf Kunst, Kultur, Wissenschaft, Religion und Metaphysik richtet. Diese ist weder motiviert durch ein Telos gleichwelcher Art (d. h. eine wahre Welt), sei es ein geschichtlich anzustrebendes, sei es ein jenseitig zu erhoffendes, sei es ein ewig sich entziehendes oder transzendental regulatives, noch erschöpft sie sich darin, bloß situative Kulturkritik zu sein. In den in immer neuen Anläufen vollzogenen demaskierenden Erzählungen spricht sich ein Über-gang aus, dessen ontologischer Gehalt in der Schwächung starker Strukturen als Weg zu einer »›schwachen‹ Seinskonzeption«558, einer »interpretativen Seinsstruktur«559 besteht. Dieser Übergang einer Schwächung stellt für Vattimo den Leitfaden durch Nietzsches Philosophie dar. Nietzsche erzählt, was sich gebündelt im Wort vom »Tod Gottes« zum Ausdruck bringt, den Verlust einer wahren Welt und letzter Fundamente als Sicherheiten und Schlusssteine der Begründungszusammenhänge zugunsten »hermeneutischer Erfahrung«560 von Welt und Subjekt als eines »komplexen Interpretationsspiel[s]«561. Dieser auflösende Gestus richtet sich auch auf das moderne Ideal der kritischen Überwindung, das eine bestimmte Weise des Bezugs auf Vergangenheit und Zukunft impliziert: einen verfügenden Umgang mit der Vergangenheit und eine Entleerung des Zukunftsbegriffs.562 Sie denkt das Alte im Modus unumschränkter Verfügbarkeit für die Gegenwart in ihrem Planen, Berechnen und Herstellen des Neuen, wodurch wir lediglich zu einem totalitären, nicht jedoch zu einem freien Begriff von Vergangenheit und Zukunft gelangen. Es ist eine fortwährende überbietende Distanzierung alles Vergangenen, die sich ständig erneuern muss. Sinn wird untrennbar mit dem Neuen als Neuem verbunden und konstituiert sich in einer sich selbst perennierenden Überwindung, die nie zum Stillstand kommen darf. Neuheit wird zum umfassenden ontologischen Wert, sodass Vattimo sogar vom »Wesen der Moderne als Zeitalter der Reduktion des 555 556 557 558 559 560 561 562
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 344. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 54. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 64. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 49. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 50. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 60. Theologisch hat dies Johann Baptist Metz besonders in seinen Unzeitgemäßen Thesen zur Apokalyptik herausgestellt. Er hebt dabei auch auf die quasireligiöse Totalität des Gedankens der Entwicklung ab. Vgl. Metz, Glauben in Geschichte und Gesellschaft, 165 – 174.
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Seins auf das novum«563 sprechen kann. Bezüglich des Fortschritts schreibt er am Beginn seines Buches Das Ende der Moderne: »das Ideal des Fortschritts ist leer, sein Endzweck besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen immer ein neuer Fortschritt möglich sein soll«564. Die substanz- und subjektlose Leere des Fortschritts- und Entwicklungsdenkens führe schließlich »zur Auflösung des Fortschrittsbegriffs selbst – was in der Kultur zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert geschieht«565 und bei Nietzsche zu Tage tritt. Ein gänzlich anderes Verhältnis zur Vergangenheit nimmt bei Nietzsche die Gestalt des guten Temperaments aus Menschliches, Allzumenschliches, die Vattimo immer wieder aufgreift, in den Blick.566 Sie evoziert eine Art und Weise des Rückbezugs auf die Vergangenheit, welche »nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit«567, der »Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen« an sich trüge. Nehmen wir einen Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft auf, der uns die Frage aufzeigen kann, vor die die Gestalt des guten Temperaments uns stellt: »Unser Fragezeichen. – Aber ihr versteht das nicht? In der That, man wird Mühe haben, uns zu verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdrucke Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben: wir sind alles Dreies in einem zu späten Stadium, als daß man begriffe, als daß ihr begreifen könntet, meine Herren Neugierigen, wie es einem dabei zu Muthe ist. Nein! nicht mehr mit der Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen muß!«568
Mit welchen Worten, in welcher Sprache und auf welche Weise lässt sich die Frage nach einer Alternative zur Haltung der kritischen Überwindung zum Ausdruck bringen? Wie kann es möglich sein, Ernst und Eifer des Losgerissenen abzulegen und sich in freierer Weise auf die Vergangenheit zu beziehen? Es ist dies eine Frage, der in gegenwärtiger philosophischer Diskussion größte Bedeutung zukommt. Sloterdijk etwa fragt in seinen Frankfurter Vorlesungen Zur Welt kommen – zur Sprache kommen, wie Erzählungen vorausgehender Generationen zur Vor-Gabe werden können, die wir dankend und ohne durch sie vergiftet zu werden, entgegen zu nehmen vermögen.569 Agamben spricht von der Verantwortung, die das Verlorene, das sich intentionaler Erinnerung und 563 564 565 566 567 568 569
Vattimo, Das Ende der Moderne, 182. Vattimo, Das Ende der Moderne, 12. Vattimo, Das Ende der Moderne, 12. Vattimo denkt besonders an di Kunst der Avantgarde. Vattimo, Nietzsche, 54; Vattimo, Das Ende der Moderne, 191 f. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Aph. 34. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 346. Vgl. Sloterdijk, Zur Welt kommen – zur Sprache kommen, 45 – 48.
Nietzsche: rückläufige Bewegung und Gedächtnisfest
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Kommemoration entzieht und »als Vergessenes in uns und mit uns zu bleiben«570 fordert, an uns hat. Nietzsche sagt, dies sei »Unser Fragezeichen« – die Frage nach einem freien Umgang mit der Vergangenheit. Für Vattimo, der (mit Heidegger) Nietzsches Philosophie als Vollendung und Krise der Metaphysik ansieht, bedeutet dies wesentlich die Frage nach einem freien Umgang mit der Geschichte der Moderne; darin aber stellt sich auch die Frage nach einem freien Umgang mit der Religion. Wie nimmt Vattimo diese Frage nun von Nietzsche auf ? Vattimo liest Nietzsches Texte als Eröffnung eines Raumes, der nicht in der starren Alternative von Theismus und Atheismus gefangen bleibt und den zu denken, zu bewohnen, zu erzählen die große Aufgabe unserer Epoche bildet. Jene Gestalt, die unser Fragezeichen wird, ist eine, die sich nicht aus dem »Unglauben noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen« muss. Die Distanzierung einer Haltung, welche die Substanz ihres Glaubens in einem Unglauben hat, kann auf zwei Arten gelesen werden. Zum einen wendet sie sich gegen einen dogmatischen, kämpferischen Atheismus, der im Gestus kritischer Überwindung die Religion hinter sich lässt und dessen Abhebung selbst zu einem Glauben wird. Von den Gestalten der Gottlosen, Atheisten und Immoralisten sagt Nietzsche, sie seien in ein zu spätes Stadium eingetreten. Sie, die am Gedanken der kritischen Überwindung der Religion festhalten wollen, werden vom Menschen des über als der Gestalt des Über-gangs, die der Interpretation, Transkription und Versetzung sich öffnen kann, abgelöst. Zum anderen wendet sich jene Formulierung Nietzsches gegen eine verbissene Verteidigung authentischer Religiosität. Dieser Gestus der Abwehr steht in der Gefahr, die Substanz des Glaubens aus der Zurückweisung des als verwerflich diskreditierten Unglaubens der Welt zu gewinnen (sich aus dem Unglauben einen Glauben machen). Atheismus und Theismus als klar voneinander abgegrenzte Kategorien der Deutung des Verhältnisses zur Religion reichen hier offensichtlich nicht mehr zu, der Umgang mit der Religion wird uns neu zum Fragezeichen. Die Überlegungen Nietzsches schaffen mit ihrer auflösenden Tendenz gegenüber dem Ideal der kritischen Überwindung, das bislang die Antwort der Moderne auf ihre Krisen war, ein Klima, dies zu überdenken. Es kann jedoch keine Überwindung des Fortschrittsgedankens der Moderne geben, zumal Überwindung als »typisch moderne Kategorie […] gänzlich ungeeignet ist, einen Ausweg aus der Moderne anzugeben«571. Nietzsche erkennt diese Problemtatik bereits in seinen frühen Schriften und greift zunächst auf Mythos und Kunst zurück, um dann aber verstärkt die tragische Epoche der Griechen zu akzentuieren. An die Stelle von Überwindung der Moderne tritt die 570 Agamben, Die Zeit, die bleibt, 52. 571 Vattimo, Das Ende der Moderne, 180.
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Metaphorik von Krankheit und Genesung.572 Sie insinuiert eine nicht abzuschließende Auseinandersetzung mit der Moderne und ihren Bedingungen, die nicht mehr im Gestus schrittweiser Argumentation erfolgen kann, sondern erzählt werden muss, wie der Verlauf von Krankheit und Genesung. Kann es auf diese Weise gelingen, der Vergangenheit eine andere Präsenz zu geben, als sie bloß als Überwundene anzusehen? Am Beginn von Menschliches, Allzumenschliches findet sich das Bild einer rückläufigen Bewegung, das den Gedanken eines anderen, sich von dem der kritischen Überwindung unterscheidenden Zugangs zu Vergangenheit und Zukunft insinuiert: Einige Sprossen zurück. – Die eine, gewiß sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muß die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muß erkennen, wie die größte Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. – In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer mehrere, welche an das negative Ziel (daß jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Überlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.573
Es bedarf einer neuerlichen Zuwendung zu den überwundenen Gestalten, deren Reichtum im Gestus der Überwindung verloren zu gehen droht; einer neuerlichen Zuwendung freilich in dem Bewusstsein, dass es keine unmittelbare Wiederaufnahme geben kann. Die entscheidende Frage ist nicht mehr die der Überwindung der Vergangenheit, sondern was uns diese in ihrem Reichtum aufzuschließen vermag. Für Vattimo hängt die Dignität des Neuen an der pietas zum Vergangenen: »Die neuen Erfahrungen, die wir machen, haben nur Sinn als Fortführungen des Dialogs mit dem, was der Todesschrein – die Geschichte, die Tradition, die Sprache – uns überliefert hat.«574 Es ist dies die Begegnung mit dem »›Inhalt‹ der Botschaften, die sich durch die Abfolge der Generationen überliefern«575. In unzähligen, nur teilweise systematisierbaren Aphorismen tritt 572 573 574 575
Vgl. Vattimo, Nietzsche, 39; Vattimo, Das Ende der Moderne, 179 – 186. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Aph. 20. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 18. Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 145.
Heidegger: Andenken und Verwindung
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Nietzsche in Dialog mit den Spuren der Vergangenheit, ohne dieser (trotz seiner dissolutiven Lektüre) eine wahrere Welt entgegensetzen zu wollen. »Die Archäologie Nietzsches feiert der Metaphysik gegenüber vielmehr ›Gedächtnisfeste‹, sie durchläuft die Geschichte dieser Irrtümer als eine ›Geschichte des Seins‹.«576 Die Fortführung des Dialogs auch mit der jüdisch-christlichen Herkunft kann für Vattimo, anders als für Nietzsche, wieder in einer unbefangeneren Weise erfolgen. Die Thematisierung der Religion aus der Logik der kritischen Überwindung und aus den unmittelbaren Zuschreibungen Theismus und Atheismus herauszunehmen, ist das, was Vattimo von Nietzsche übernimmt. Es geht dabei um die Eröffnung eines geistigen Klimas, das nicht gänzlich im argumentativen Duktus aufgeht, sondern nach einem erzählerischen Charakter verlangt. Die Moderne bleibt das Zeitalter der kritischen Überwindung, der Religionskritik, der Entfremdung, aber gleichzeitig muss sie auch die Epoche der Wiederkehr, die je neu in ihre Traditionen zurückgeht, und des wiedergefundenen Mythos sein. Religion der Moderne kann keine ungebrochene Kontinuität mehr für sich veranschlagen. Wir können sie nur als Wiederkehr verstehen, sie muss die Formen ihrer Kritik als Verunreinigung an ihr haben, sich diese innerlich machen und so in sich zurückgehen. Einem Weltumgang der kritischen Überwindung, wie er für die Moderne charakteristisch ist, stellt Vattimo nicht den apokalyptisch-diskontinuierlichen Abbruch des Fortschrittsmythos, sondern den frohen Sinn des guten Temperaments und die Suche nach einer Erzählung der Vergangenheit gegenüber.
Heidegger: Andenken und Verwindung Die Anfangspassage aus Die Spur der Spur spricht von der »Offenbarung eines für überwunden … Gehaltenen als eines bloß Verwundenen«577. Der Übergang von der Überwindung zur Verwindung verweist auf Heideggers Ausgang aus der Metaphysik, der nicht ein Hintersichlassen oder Verlassen bedeutet (Überwindung), sondern einen neuen Umgang mit ihr erfragt (Verwindung), was uns bereits auf ähnliche Weise in Vattimos Nietzsche-Interpretation begegnet ist. 1) Bei Heidegger findet sich der zur »Wiederkehr« eng verwandte Begriff der »Wiederholung«, welcher in Sein und Zeit ein für die gesamte Philosophie
576 Vattimo, Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers, 148 – zur Thematik siehe den gesamten Artikel: 141 – 153; vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Aph. 223. 577 Vattimo, Die Spur der Spur, 107.
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Gestalten der Wiederkehr
Heideggers zentrales Problem ans Licht bringt, die Frage nach der Übernahme der Vergangenheit.578 Heidegger schreibt: »Diese Ekstase [die vorlaufende Entschlossenheit] ermöglicht es, dass das Dasein entschlossen das Seiende, das es schon ist, übernehmen kann. Im Vorlaufen holt sich das Dasein wieder in das eigenste Seinkönnen vor. Das eigentliche Gewesen-sein nennen wir die Wiederholung.«579
Das Dasein hat seine Vergangenheit nicht wie einen Besitz, sondern muss diese in der Wiederholung übernehmen, wobei es nicht um eine Repetition gehen kann. Erst in einer Figur des Vorlaufens auf Zukunft, wird es dem Dasein möglich, »das Seiende, das es schon ist« zu übernehmen. Die wiederholende Übernahme der Vergangenheit ist also unhintergehbar mit einem Zukunftsaspekt verbunden, einem Seinkönnen, das zu einer Neuerschließung der Vergangenheit führt. Dabei handelt es sich jedoch nicht allein um eine Ausrichtung des Daseins auf eine unbestimmte Zukunft, sondern um eine Wiederholung in das »eigenste Seinkönnen«. Mit dieser Vereinzelung oder Individuation meint Heidegger das Vorlaufen auf den je eigenen Tod als radikalisierte Zukunftsgestalt, welche jegliche Erstarrung des Ichs zu einem gegenwärtigen Bestand oder zu statischer Selbstgegebenheit und jede fixierte Deutung des Daseins in der Zeit zerbricht. Darin wir es dem Dasein »ermöglicht, die Vergangenheit nicht als vergangen, sondern als gewesen zu begreifen, also als eine noch offene Möglichkeit.«580 Die Gewesenheit als noch offene Möglichkeit und mithin unter einem Zukunftsaspekt zu sehen, will einen Zugang zur Vergangenheit eröffnen, der diese nicht lediglich als zu überwindende in den Blick nimmt. Darin ist eine grundlegende Fortschrittskritik Heideggers angelegt: Fundamentaler als die Gestalt des Fortschritts, d. h. einer sich perpetuierenden Überwindung, die stets nur ihre eigene (leere) Fortschreibung in eine unendlich ausgedehnte Zeit (re)produzieren muss, erweist sich für Heidegger eine andere Gestalt des »Fortschreitens«, das Vorlaufen auf den je eigenen Tod, das Sein-zum-Tode, das eine nicht mehr positivierbare Grenze bedeutet, die weder überschritten werden kann noch ein Sich-darin-Halten ermöglicht, sondern je neu auf Vergangenheit und Gegenwart zurückkommen lässt. Im wiederholenden Zurückkommen erschließt sich das eigene Gewesen-sein je neu. Dem Gedanken einer sich perpetuierenden Überwindung in eine ewige ausgedehnte, leere Zukunft wird eine Figur der Grenze und der Rückkehr gegenübergestellt, die Vergangenheit in ihrer Offenheit in den Blick nehmen möchte. Nach Sein und Zeit, wo der Begriff der Wiederholung in Bezug auf das Dasein 578 Vgl. Vattimo, Das Ende der Moderne, 189. 579 Heidegger, Sein und Zeit, § 68, 339. 580 Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, 56.
Heidegger: Andenken und Verwindung
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auftritt, arbeitet ihn Heidegger stärker in einer geschichtsphilosophischen Dimension aus und möchte damit eine bestimmte Gestalt des Denkens und der geschichtlichen Kontinuität akzentuieren. In der Rekonstruktion dessen hebt Vattimo zwei Begriffe hervor : Andenken und Verwindung. »Das Andenken ist nichts anderes als Verwindung: eine Wiederaufnahme, die den Absolutheitsanspruch der metaphysischen archai zurückweist, ohne ihnen eine andere Absolutheit entgegenhalten zu können, sondern nur eine Art ›Gedächtnisfest‹ – der Ausdruck stammt zwar von Nietzsche, gibt aber die andenkende Haltung Heideggers gut wieder. Es handelt sich dabei um eine Haltung, die wir auch als pietas beschreiben können …«581
Die erste Bestimmung, die Vattimo Andenken und Verwindung gibt, ist die der Wiederaufnahme, welche nicht Rückkehr zu einer früheren Gestalt des Denkens bedeutet, sondern deren bewusste Wiederholung. Den Begriff der Wiederaufnahme bestimmt Vattimo genauer durch die Zurückweisung des Absolutheitsanspruches der metaphysischen archai. Botschaften sind nicht mehr verortet in einem Rückbezug auf erste Prinzipien, mit denen sie durch die Notwendigkeit einer Genealogie verbunden wären, können aber auch in einem telos der Zukunft keinen Halt mehr finden, denn jede Imagination von Zukunft erscheint bei Heidegger vom Sein zum Tode als der äußersten Möglichkeit des Vorlaufens auf Zukunft überholt. Der Verlust jeglicher letzter Fundierung lässt sich nicht durch die Substituierung eines Prinzips oder Ziels durch ein anderes ausgleichen (wie dies für die Moderne mit ihrer Haltung der kritischen Überwindung charakteristisch ist), es bleibt nur das schwache Band einer neuerlichen Zuwendung zu den Überlieferungen (pietas). Dies macht die Fragilität der Gestalt der Wiederaufnahme deutlich. Nicht mehr von einer großen geschichtlichen Erzählung der Herkunft oder Zukunft gehalten, sind die Überlieferungen, die uns als Vor-Gabe unserer geschichtlichen Existenz erreichen, unserer Wachsamkeit anvertraut, und zwar, wie dies Heidegger ausführt, unserer Wachsamkeit als Sterbliche. Diesen Anspruch, der die Fragilität des Überlieferungszusammenhangs ausdrückt, zu hören, meint ein Springen in die Haltlosigkeit, in den Abgrund, in dem wir als Sterbliche verwurzelt sind, und damit auch eine Übernahme unserer Endlichkeit. »Dieses Springen ist nichts anderes als das An-denken«582, d. h. die achtungsvolle Zuwendung zu Botschaften, die uns erreichen und die keine starke, in der Berufung auf arche oder telos begründete Identität für sich beanspruchen können. Als Erzählungen sind sie dem discursus der Generationen, der Überlieferung und je neuen endlichen Interpretation übereignet. 2) Eine deutlichere Konturierung erhält der Terminus Andenken in Was heißt 581 Vattimo, Abschied, 117 f. 582 Vattimo, Das Ende der Moderne, 128.
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Denken?, jenen Vorlesungen, in denen sich Heidegger mit Nietzsche als dem Denker des Übergangs auseinandersetzt. Zumal »sich in Nietzsches Denken alle Motive abendländischen Denkens, aber alle verwandelt, geschicklich versammeln«, lässt sich davon auch auf Heideggers Zugang zum Denken des Abendlandes schließen, das »bei diesem Übergang in seiner eigentlichen Wahrheit angeeignet«583 werde: »Damit wir nun aber dem Denken Nietzsches überhaupt begegnen können, müssen wir erst es finden. Erst wenn das Finden geglückt ist, dürfen wir versuchen, das Gedachte dieses Denkens wieder zu verlieren. Dieses, das Verlieren, ist schwerer als jenes, das Finden. Denn ›verlieren‹ heißt in einem solchen Fall nicht: etwas bloß fallen lassen, es hinter sich lassen und preisgeben. Verlieren besagt hier : von dem, was Nietzsches Denken dachte, sich wahrhaft befreien. Das geschieht aber nur so, dass wir von uns aus und uns zum Andenken dieses Gedachte in das Freie seines eigenen Wesensgehaltes freigeben und es dadurch an dem Ort lassen, an den es von sich aus gehört.«584
Zunächst gilt es zu fragen, was an dieser Stelle mit Übergang gemeint sein kann. Heideggers Suche nach einem Ausgang aus der Metaphysik kann sich von dieser nicht in einem Akt unmittelbarer Loslösung absetzen, sondern bedarf einer Gestalt, die ihm dieses Denken als gesammeltes (alle Motive abendländischen Denkens) und refiguriertes (aber alle verwandelt) bereits übergibt. Sonst bliebe er noch zu sehr in unmittelbaren Interpretationen, wie sie sich in unserem Zugreifen auf Texte sofort einstellen, und könnte eine Tradition nie »freigeben«. Dies bedarf schon einer Sammlung und Versetzung. In Nietzsche sei ein solcher Versammlungspunkt abendländischer Tradition angezeigt, der Heidegger die Möglichkeit gibt, sich in einer neuen Weise darauf zu beziehen. Insofern ist Nietzsche für ihn eine Gestalt des Übergangs; dieser Übergang aber erhält als Andenken von Heidegger (und dann auch von Vattimo) eine genauere Darstellung. Andenken als wiederholender Rückgang gestaltet sich als eine Begegnung mit einem Denken, die in der Dialektik von Finden und Freigeben besteht. Diese Begegnung ist nicht als passives Hinnehmen (etwa dem Ideal objektiver Geschichtsschreibung entsprechend) noch als aktive Konstruktion einer Vergangenheit zu verstehen, sondern im Sinne von Erinnerung (finden) und Einräumen von Zukunft (freigeben). Sie speichert und konserviert das gefundene Denken nicht wie Informationsinhalte (ein Was?), sie versucht vielmehr, es wieder zu verlieren, was aber weder ein bloßes Vergessen noch ein Überwinden noch ein richtendes Urteilen meint. Ein Denken zu verlieren heißt, es nach und nach aus den Bahnen der eigenen Deutung, welche sich in einer Begegnung sofort einstellt, durch einen Schritt zurück zu entlassen. Heidegger spricht in 583 Heidegger, Was heißt Denken?, 33 (Paginierung nach der Reclam Ausgabe). 584 Heidegger, Was heißt Denken?, 34 (Paginierung nach der Reclam Ausgabe).
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diesem Zusammenhang auch von lösender Bindung: Je mehr man sich an ein Denken bindet, je tiefer man in es eindringt, umso mehr kann es sich aus unseren Kategorien der Deutung lösen. Findet man in einem Text zunächst nur das, was dem eigenen Verständnis korrespondiert, d. h. findet man zunächst nur sich selbst darin wieder, so kann das wiederholte Zurückgehen in diesen erst dessen Tempo, Übergänge und Brüche sichtbar werden lassen. Hörbar werden kann erst langsam das, was ein Text nicht unmittelbar ausspricht, was aber zwischen den Zeilen, in seinen Leerstellen, in den »Knicken« seines geradlinigen Verlaufes nicht aufhört, nicht zur Sprache zu kommen.585 Es ist um ein wahrhaftes Befreien, das heißt ein Befreien in die ein Denken durchwaltende und konstituierende Wahrheit zu tun – das früher Gedachte ist nicht einfach das Vergangene, welches als unabänderlicher Schatten und unerbittliches Schicksal ewig über uns zu lasten bestimmt ist oder aber unser unanfechtbarer Besitz wäre, sondern kann im Andenken freigelassen, in das Freie seines eigenen Wesensgehaltes freigegeben werden. Dies bedeutet zum einen, dass es als Gewesenes in seinen Möglichkeiten zur Sprache kommen kann, von denen wir niemals sagen können, sie seien gänzlich erschöpft, zum anderen, dass sich die Wahrheit eines Denkens in einer gewandelten Lage selbst in einer anderen Weise oder als eine andere zeigen kann. Erst so wird ein Denken an dem Ort gelassen, an den es von sich aus gehört, das heißt an dem Ort, den es sich von sich aus (auch in unserer Zeit) gibt, der nicht der von uns aus bestimmbare und somit verfügbare ist. An diesem Ort kann es eine offene Zukunft haben. In aller Kürze sei auf einige Konsequenzen des Verständnisses von Denken als Andenken hingewiesen: a) Andenken setzt einen Abstand voraus, der vor den Versuchen gänzlicher Aneignung schützt. Die Betrachtung vermittelt durch Nietzsche generiert für Heidegger so einen Abstand und in ähnlicher Diktion wie Nietzsche, der von einem Zurücksteigen der Sprossen spricht, hält auch er es für nötig, einen »Schritt zurück« zu tun: »Durch den Schritt zurück ergibt sich vielmehr die Möglichkeit, die Philosophie erst ihrem Eigenen eigens zu übereignen. So gelangt sie in ein anfänglicheres Bleiben, das den Reichtum des schon Gedachten für ein anderes Gespräch mit ihr bereithält.«586 In einem Gespräch bleiben beide »Seiten« nicht unverändert, der Inhalt generiert sich im offenen Zwischen (das immer einen Abstand voraussetzt) und ist nicht konstruierbar. Überlieferung und deren Rezipienten gehen gewandelt daraus hervor. b) Andenken ist keine bloß konservierende Haltung. Ihr veränderndes Moment macht Vattimo im Begriff der Verwindung deutlich, einem bei Heidegger selten auftretenden, doch häufig rezipierten Begriff, der sich vom Begriff der 585 Vgl. Bahr, Die Sprache des Gastes, 456 – 461. 586 Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, 632.
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Überwindung absetzt. Vielleicht aufgrund der sperrigen, sich nicht unmittelbar erschließenden Bedeutung beginnt Vattimo seinen Rekurs darauf je neu mit dem Versuch einer Übersetzung. Dieser Zuweg, den Vattimos jedes Mal wählt, deutet darauf hin, dass Verwindung nicht für eine Methode steht, die man in ihrem Fortschreiten beschreiben könnte, sondern für eine Weise des Umgangs mit etwas (etwas verwinden), die immer wieder neu erzählt werden muss. Vattimo spricht dabei vom Abfinden (mit der Tradition der Metaphysik), von Genesung und Erholung (eine Krankheit verwinden; sich von einer Krankheit erholen, welche uns jedoch im Status der Rekonvaleszenz nicht loslässt), von »Wiederaufnahme-Hinnahme-Genesung-Verdrehung«587, Vertiefung, Erhebung. Mit einem anderen Wort könnte man Heideggers Verwindung auch als einen Schritt der Versetzung bezeichnen. c) Andenken richtet sich nicht allein auf bestimmte Inhalte, sondern fragt nach der Erschlossenheit, aus der ein Denken auf uns zukommt. Mit der Überlieferung der Vergangenheit in ein Gespräch zu treten, bedeutet, die Überlieferung der Vergangenheit nicht wie einen Irrtum ablegen zu können, über den man hinaus ist, sondern eine Einkehr in die Lichtung, wie sie je den Weltumgang einer Epoche konstituiert. Nicht die Beurteilung der Inhalte steht dabei im Vordergrund, sondern die Frage nach dem Horizont, aus dem ein Denken spricht. Man wird, so schreibt Vattimo in Rückbezug auf die von Aristoteles an Platon geübte Kritik an der Ideenlehre, »Platon nicht mit der Fragestellung wieder-denken, ob die Ideenlehre wahr ist oder nicht; sondern man wird sich um ein An-denken der Lichtung bemühen, der vorgängigen schicksalhaften Eröffnung, innerhalb deren so etwas wie die Ideenlehre hat auftreten können.«588
d) Vattimos Bezug auf den Gegensatz von Überwindung und Verwindung lenkt den Blick auch auf eine weitere Stelle aus Zur Sache des Denkens, wo dieser Antagonismus mit im Zusammenhang mit dem Ungedachten eines Denkens auftaucht: »Aber ein Denker lässt sich niemals dadurch überwinden, dass man ihn widerlegt und eine Widerlegungsliteratur um ihn aufstapelt. Das Gedachte eines Denkers lässt sich nur so verwinden, dass das Ungedachte in seinem Gedachten auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegt wird.«589
Was kann es bedeuten, wenn Heidegger nicht bloß von der Aufgabe des Hebens des Ungedachten im Gedachten spricht, sondern davon, dass es auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegt werden müsse? Dem Andenken eignet nicht 587 Vattimo, Abschied, 114. 588 Vattimo, Das Ende der Moderne, 191. 589 Heidegger, Zur Sache des Denkens, 36.
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ein beliebig selektiver Inhalt, welcher sich aus diesem und jenem zusammensetzte, sondern es versteht sich als ein verwindendes Übernehmen einer Überlieferung. Es ist die abendländische Tradition als solche, welche sich dem Andenken als Erbschaft zuspricht, zu ihr gehören Metaphysik und Moderne und auch die jüdisch-christliche Tradition – »jeder Versuch, einen Einblick in die vermutete Aufgabe des Denkens zu gewinnen, sieht sich auf den Rückblick in das Ganze der Geschichte der Philosophie angewiesen«590. Dies bedeutet nicht, dass es darum geht, die gesamte Philosophie und abendländische Tradition zu speichern und verfügbar zu halten. Es ist auch keine Aussage, welche Texte der Vergangenheit zu erinnern sind und welche vergessen werden könnten. Auf seine anfängliche Wahrheit zurückzuverlegen will sagen, dass wir jene Texte, mit denen wir in ein Gespräch treten, so lesen müssen, dass sich in ihnen die abendländische Tradition rekapituliert, indem sie uns einen neuen Blick auf jene Tradition eröffnen und unseren geschichtlichen Ort in ihr bestimmen. Was hier als übertriebene Aufgabe und überhöhter Anspruch scheinen mag, erhält einen anderen Klang, wenn wir genau auf Heideggers Wort hören. Er spricht nicht davon, dass das Gedachte auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegt werden müsse, das heißt in all seinen Beziehungen und Verweisen zur abendländischen Metaphysik in der Lektüre präsent zu halten ist. Vielmehr spricht er vom Ungedachten im Gedachten. Jeder Text ist in seinem Ungedachten, d. h. in seinen Auslassungen, Lücken und Brüchen, aber auch in seinem je kontingenten Beginnen und immer verfrühten Abbrechen nicht bloß Teil des Stromes des abendländischen Denkens, in dem er gänzlich aufgeht, sondern in seiner Diskretion und Endlichkeit immer auch Bruch mit diesem. Er stellt mit seinem Auftreten auch die gesamte Tradition infrage. Wir beginnen auf diese Weise sein subversives Moment zu hören. Dies gilt besonders, weil Heideggers Überlegung in einem Text zu Nietzsche zu finden ist, der für ihn Höhepunkt und Abschluss der Metaphysik ist. Jeder Text nach Nietzsche wäre dann Nachtrag, der diese Tradition als ganze anfragt. Auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegen will aber auch sagen, dass in einem Denken die Wahrheit seiner Zeit aufgeht, jene Wahrheit, aus der es anfänglich spricht. Dies meint sicherlich kein bloß historisches Erkennen. Die Wahrheit einer Zeit begegnet uns vielmehr vor allem dann, wenn Texte der Überlieferung in eine Zeitgenossenschaft mit unserer Zeit treten, die in ihnen zunächst nicht angelegt, mithin ungedacht ist. In eine Zeitgenossenschaft mit unserer Zeit treten sie, indem sie zu deren Infragestellung werden können und uns aus ihrer Fremdheit und kritischen Distanz etwas über sie zu sagen haben. Einzelne Texte können darin zum Fokuspunkt des Ganzen der Tradition werden. 3) Inwiefern ergibt sich nun von diesen Figuren der Wiederkehr, d. h. von 590 Heidegger, Zur Sache des Denkens, 66.
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Wiederholung, Andenken und Verwindung ein Übergang zur Religion, wie ihn Vattimo über Heidegger hinaus akzentuiert hat? In welcher Weise kehrt in Vattimos »Gespräch« mit Heidegger ein religiöses Moment wieder? Ich möchte versuchen, zwei Schwerpunktverschiebungen zu benennen. a) Andenken steht für Heidegger in enger Beziehung zur Bestimmung des Daseins als Sein zum Tode, was zur Auflösung jeglicher Form umfassender Beheimatung und Sicherheit und zur Auflösung der Vorstellung des Daseins als eines fixierten Bestandes führt. Gewiss stehen Vattimos Überlegungen auf dem Boden Heideggers, doch es scheint, als ob er in einem paulinischen Diktum aus dem ersten Brief an die Korinther eine noch fundamentaleren Ausdruck dieser Unbehaustheit sieht: »Der paulinische Satz ›Tod, wo ist dein Stachel?‹ (1 Kor 15, 55) kann mit gutem Grund als extreme Leugnung des ›Wirklichkeitsprinzips‹ gelesen werden.«591 Für Paulus ist der Tod nicht die absolute Realität, die absolute Schranke, sondern auch Tod und Endlichkeit des Menschen erfahren im Horizont der Menschwerdung des Wortes und der Auferweckung eine Neuerschließung. Der kardinale Punkt, aus dem heraus sich Dasein eröffnet, ist nicht mehr der Tod, sondern »die eigenste und äußerste Möglichkeit des Daseins« ist für Paulus der neue Mensch, das offene, geschichtliche Sein in Christus als dem neuen Adam, wie es in der Taufe auf seinen Tod geschenkt wird. Christi Tod aber ist der überwundene, der verkehrte Tod.592 Vattimos Aufnahme dieser paulinischen Tradition darf nicht so verstanden werden, als sollte sie am endlichen Dasein das ergänzen, was ihm von der säkularen Philosophie vorenthalten wird, sondern ist für ihn noch tieferer Ausdruck der Nicht-Verortbarkeit des Menschen. Der »neue Mensch« sowie »Taufe« sind keine individuellen Ausdrücke persönlichen Heils – Paulus spricht in seinen Briefen die Gemeinschaft an, welcher er auch selbst angehört: Es ist die Gemeinschaft der in der Gleichheit seines (Christi) Todes Zusammengewachsenen (Röm 6, 5), welche um Auferstehung und Neuheit der Existenz weiß. Bei Heidegger, wenigstens in Sein und Zeit, bleibt das Sich-Neuerschließen der Vergangenheit in der Wiederholung Sache des im Vorlaufen auf den je eigenen, unbezüglichen, unvertretbaren Tod radikal Vereinzelten. Gemeinschaft bedeutet hier bereits ein Moment des Verfallens.593 Vattimo, der näher bei Paulus als bei Heidegger zu sein scheint, legt in seiner weniger existenzialistischen denn hermeneutischen (und die Frage der Anerkennung aufnehmenden) Interpretation des Todes den Schwerpunkt nicht so
591 Vattimo, Wirklichkeit, wo ist deine Wahrheit? Art. 592 Röm 6, 3 – 11. 593 Im späteren Bestreben des Hörens auf die Seynsgeschichte und die Wahrheit der Dichter scheint dieser Horizont absoluter Vereinzelung auch bei Heidegger selbst wieder aufgebrochen.
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sehr auf die Diskretion, sondern mehr noch auf eine Kontinuität. In einer sehr schönen, poetischen Stelle heißt es dazu bei Vattimo: »Nicht nur die Lust an den Dingen des Lebens ist eng an deren Unbeständigkeit und Vergänglichkeit, an deren Werden und Vergehen gebunden. Auch der Reichtum der menschlichen Geschichte in seiner Veränderung und Anreicherung (an Bedeutungen und Nuancen) durch die Abfolge der Generationen und die Vielfalt der Interpretationen hindurch steht in strenger Abhängigkeit zum Sterben. Der Tod ist der Schrein, in dem die Werte aufbewahrt sind: die Lebenserfahrung der vergangenen Generationen, die Großen und Schönen der Vergangenheit, mit denen wir zusammen sein und sprechen wollen, die Personen, die wir liebten und die verschwunden sind. Selbst die Sprache als Kristallisation von Wortakten, Erfahrungsweisen liegt im Schrein des Todes aufbewahrt.«594
Vattimo spricht zuerst von der Vergänglichkeit der Dinge, d. h. von einer Negativität, welche uns die Dinge entzieht und nicht festhalten lässt, worauf sich gerade das Begehren und die Freude an ihnen richten. Nicht die Dinge als Dinge, sondern sie in ihrer Unbeständigkeit lieben wir. Aber davon spricht Vattimo, wie um auf etwas anderes überzuleiten: Nicht nur die Dinge …, auch der Reichtum der menschlichen Geschichte steht in strenger Abhängigkeit zum Sterben. Seine Aufmerksamkeit gilt nun dem Reichtum der menschlichen Geschichte. Wie auch beim Begriff der pietas bringt Vattimo Sterben und hermeneutische Kontinuität in einen engen Zusammenhang. Die auflösende Macht des Todes bestimmt nicht allein die Erschließung des je eigenen Gewesen-Seins, sondern ermöglicht Vielfalt, Veränderung und Anreicherung von Interpretationen, weil sie jede Fixierung unmittelbarer Bedeutung aufsprengt. Vattimo führt diesen Gedanken hier noch weiter bis zum Bild der Gemeinschaft von Lebenden und Toten, das er in einer genau überlegten Weise zeichnet: Er spricht zunächst vom Zusammenhang der Generationen, aus dem wir unsere Erfahrungen schöpfen, und geht dann von dieser allgemeinen Perspektive auf die bedeutenden Menschen der Vergangenheit über, die in unserem Denken präsent sind und denen unser Denken antwortet. Es sind jene Menschen, an die wir uns in unseren Überlegungen so oft adressieren und denen wir uns über die Zeiten hinweg als Zeitgenossen fühlen. Danach spricht er von den Menschen, die wir liebten und die verschwunden sind; es sind die Menschen, denen wir über den Tod hinaus Freundschaft bewahren. Wenig später nennt er die Ruinen, Spuren, Kristallisationen und Reste595, die uns erreichen; all das was in der Geschichte untergegangen ist, was vom Verstummen bedroht ist. Sogar die Sprache sei daher zu denken, dass sie eine Kontinuität und Allgemeinheit über den Tod hinaus zum Ausdruck bringt, die »natürlich« scheitern müsste. Vattimo 594 Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 17 f. 595 Vattimo, Jenseits vom Subjekt, 19.
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zeichnet dieses Bild einer Gemeinschaft von Lebenden und Toten in einem Ton großer Zuwendung und Freundlichkeit. Niemand soll darin vergessen werden: Die Gemeinschaft umfasst die Bedeutenden, die Geschichte machten, und das, was untergegangen ist und keine Bedeutung erlangen konnte, die Allgemeinheit der aufeinander folgenden Generationen und die geliebten Menschen, die darin einen besonderen Ort haben. Darüber hinaus ist das Bild selbst eine Antwort an Platons Apologie596 und Heidegger, der vom Tod als Schrein spricht. Es bleibt die Frage, ob dieses Bild auch einer gelebten und gefeierten Gestalt der Bezeugung bedarf. Der Text drängt darauf, diese in ihren Konturen nachgezeichnete Gemeinschaft auch in einer Feier zu vergegenwärtigen. Möglicherweise hängt Vattimos Zuwendung zur paulinischen Frage nach dem Stachel des Todes damit zusammen, dass er in der christlichen Tradition eine in der Feier der Liturgie gegebene Kontinuität des Wissens um die Bezeugung einer derartigen Verkehrung des vereinzelnden Todes in ein gemeinschaftstiftendes Moment schwacher Kontinuität findet. Vattimos Frage ist nicht die nach der Vereinzelung, sondern die nach der Gemeinschaft von Lebenden und Toten. Andenken hat für ihn nicht allein mit Endlichkeit und Sterblichkeit zu tun, sondern auch mit einem Gedenken der Verstorbenen. b) Die biblische Tradition gehört für Vattimo in viel bedeutenderer Weise zum »Ganzen der Geschichte der Philosophie« als für Heidegger. In seiner Rekonstruktion der Seynsgeschichte kommt sie kaum vor und eröffnet sich nur über indirekte, oft schwer zugängliche Verweise.597 Vattimo zufolge unterlaufen Heideggers und auch Nietzsches Versuche einer Genesung von der Metaphysik ihren Anspruch darin, dass sie in ihrer Rückkehr in die Seynsgeschichte die biblische Tradition kaum aufgreifen. Sie bleiben »Gefangene des griechischen Objektivismus und weigern sich folglich, die Implikationen der christlichen antimetaphysischen Revolution konsequent zu entwickeln«598. In ihren großartigen Versuchen, einem vergegenständlichenden Denken zu entkommen, sei ein Nachklang der »Kraft der christlichen Neuheit«599 zu spüren, diese jedoch darin nicht zu weiterer Entfaltung gekommen. Vattimo hat einen viel affirmativeren (positiven) Bezug auf eine geschichtlich überlieferte Religion, auf ein geschichtlich ergangenes Ereignis, als dies bei Heidegger (und vielen religiös sensiblen Philosophien) der Fall ist. Religion kann für Vattimo nicht losgelöst von einem konkret geschichtlichen Ausdruck, einer bestimmten Gestalt sein. Darin hält er sich an Heideggers frühe Intentionen aus den Vorlesungen zu den Thessalonicher-Briefen. 596 597 598 599
Platon, Apologie 41a. Vgl. Vattimo, Abschied, 108. Vattimo, Die christliche Botschaft und die Auflösung der Metaphysik, 226. Vattimo, Die christliche Botschaft und die Auflösung der Metaphysik, 226.
Hegel: Rekapitulation und Versammlung
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Hegel: Rekapitulation und Versammlung Die Überlegungen Vattimos lassen sich vielfach in einem Gespräch zwischen Heidegger und Hegel verorten. So zeigt sich in Vattimos Aufnahme der Verwindung auch ein Nachhall des hegelschen Begriffs der Aufhebung (freilich nicht in dessen mechanistischer Anwendung).600 Dies kommt besonders in den unterschiedlichen Umschreibungen, die er dem Begriff Verwindung zuteilwerden lässt, zum Ausdruck, wo sich entsprechend den drei Bedeutungen des hegelschen Terminus ein bewahrender Aspekt, eine Weise des Unwirksam-Machens und die Angabe einer Richtung oder einer Veränderung anzeigen. Überdies akzentuiert das Erbe der Dialektik im Begriff des Verwindens, dass dieses nicht selbstanfangende Handlung, sondern immer schon Gesetztsein von einem geistigen Raum ist, der ihm vorausliegt. Hinsichtlich des schwachen Denkens streicht Vattimo die wechselseitige Beeinflussung seiner Hegel- und Heideggerinterpretation wie folgt heraus: Das schwache Denken »konstruiert sich nicht nur, indem [es] den Diskurs der Differenz entfaltet, sondern auch wieder eingedenk der Dialektik. Das Verhältnis von Dialektik-Differenz ist keine Einbahnstraße. Es geht dem Denken der Differenz nicht nur darum, die Illusionen der Dialektik [also deren mechanistische Anwendung und fortschreitende Notwendigkeit] aufzugeben. Wahrscheinlich kann man die Verwindung, die Verwandlung der Differenz [d.h. des Erbes Nietzsches und Heideggers] in schwaches Denken, nur denken, wenn man auch das Erbe der Dialektik übernimmt.«601
Nehmen wir nach dieser Vorbemerkung jenes Motiv, das uns im letzten Abschnitt zu Heidegger geführt hat, noch einmal auf und richten den Fokus mehr auf seine hegelsche Herkunft. Die Rede von der »Offenbarung eines für überwunden (wahr geworden und folglich für abgetan) Gehaltenen als eines bloß Verwundenen«602 erinnert zunächst an eine Rezeptionslinie hegelscher Philosophie, welche die Phänomenologie des Geistes dahingehend deutet, dass die sich entwickelnden Stufungen des phänomenologischen Weges einander im Modus der Überbietung ablösen und schließlich in der Gestalt des absoluten Wissens kulminieren. Der offenbaren Religion kommt in dieser Deutung zwar ein hoher Rang zu, stellt sie doch die letzte Gestalt vor der Explikation des absoluten Wissens dar, dennoch erschöpft sie sich in ihrem Gehalt und ihrer Bedeutung darin, bloß eine vorbereitende Rolle ohne Bestehen einzunehmen (»überwunden«, das heißt wahr geworden und folglich abgetan). Nach einer allgemeinen Gestalt der Religion in der (Spät)Moderne zu fragen, würde bedeuten, nach einer Bewusstseinsgestalt Ausschau zu halten, welche das Be600 Vgl. dazu auch Vattimo, Jenseits der Interpretation, 82 f. 601 Vattimo, Dialektik, Differenz, schwaches Denken, 88. 602 Vattimo, Die Spur der Spur, 107.
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Gestalten der Wiederkehr
wusstsein im Prozess fortschreitender Aufklärung zu überwinden hat. Doch dieses teleologische Aufstiegsschema und die unmittelbare Identifikation von Bewusstseinsgestalten mit realen Erscheinungen unterläuft die Komplexität der Phänomenologie. Hier kann freilich keine Darstellung des für Phänomenologie des Geistes so wichtigen Übergangs von der Religion zum absoluten Wissen gegeben werden, es soll lediglich angedeutet werden, dass die Religion auch aus der Perspektive des absoluten Wissens nicht einfach abgetan ist. Gewiss ist die offenbare Religion noch von einem »phänomenologischen Defizit«603 gekennzeichnet und ist zu Beginn des absoluten Wissens von einer noch nicht erfolgten Überwindung die Rede604, jedoch soll damit nicht die Vernichtung der Gestalt der Religion ausgedrückt werden. Für Hegel bedeutet das Fortschreiten der Gestalten nicht die Annullierung der vorhergehenden Wissensstufen. Es »kann z. B. weder das Wissen der sinnlichen Gewissheit noch das Wissen der Religion als überholt oder abgetan gelten und auch nicht durch ein anderes und womöglich absoluteres Wissen abgelöst bzw. ersetzt werden; im Gegenteil wird nur deren Bestehen das absolut Gehaltvolle des >Begriffs-Wissens< garantieren und es letztlich in seinem erfüllenden Sinn bewahrheiten.«605
Der Inhalt der Religion ist schon der absolute Geist, allerdings – und darin liegt ihr Defizit – noch in der Form des Vorstellens, welche eine Distanz des Standpunktes des Bewusstseins (des Wissens) und eines ihm äußerlichen Gegenstandes anzeigt. Hegel schreibt dazu im letzten Absatz des Religionskapitels: »Vollendet aber ist diese Gemeinde noch nicht in diesem ihrem Selbstbewusstsein; ihr Inhalt ist überhaupt in der Form des Vorstellens für sie […] Sie hat nicht auch das Bewusstsein über das, was sie ist; sie ist das geistige Selbstbewusstsein, das sich nicht als dieses Gegenstand ist oder sich nicht zum Bewusstsein seiner selbst aufschließt; sondern insofern sie Bewusstsein ist, hat sie Vorstellungen, die betrachtet wurden.«606
Es ist sein »Bewusstsein als solches«607, welches der Geist der offenbaren Religion noch nicht überwunden hat. Anvisiert ist das »Aufheben der noch inadäquaten Form der Gegenständlichkeit«608, wohingegen sich im absoluten Wissen kein neuer, eigenständiger Inhalt mehr gegenüber der offenbaren Religion ergibt:
603 Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung, 92; vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 573 f. 604 vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 575. 605 Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung, 15. 606 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 573. 607 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 575; Hervorhebung hinzugefügt. 608 Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung, 15.
Hegel: Rekapitulation und Versammlung
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»Der Inhalt des Vorstellens ist der absolute Geist; und es ist allein noch um das Aufheben dieser bloßen Form zu tun …«609 Auinger hält fest, dass das »resultierende >absolute Wissen der Religion< – das er [Hegel] durch die christliche Religion verwirklicht sieht – immer noch unter der ›Form der Vorstellung‹ gesetzt [ist]. Denn alles >in-halt-lich< Gewusste, auch der absolute Inhalt der Religion, ist vorstellend gewusst, weil sich im >In-halt< die absolute Form die Gestalt einer seienden Gegebenheit gibt, die phänomenologisch als das Andere des Bewusstseins erscheint.«610
Das absolute Wissen ist jedoch auch nicht einfach als Weiter- und Höherentwicklung der zwar inhaltlich angereicherten, aber der Form nach erst rudimentär ausgebildeten Religion zu verstehen. Der Übergang gestaltet sich weit diffiziler, zumal »das absolute Wissen nicht als Bestimmung aufgefasst werden darf, die autark als eigene Gestalt auftritt …, sondern ein Wissen ist, das sich selbst im religiösen Wissen voraussetzt«611. Führen wir das oben begonnene Zitat Hegels weiter, so zeigt sich sofort eine nähere Erläuterung dessen, was »Aufheben dieser bloßen Form« meint: »weil sie dem Bewusstsein als solchem angehört, muss ihre Wahrheit schon in den Gestaltungen desselben sich ergeben haben«612. Damit ist eine Figur der Rekapitulation bezeichnet, wohingegen es kein äußerliches Moment, das die Bewegung vorantriebe oder im Übergang zum absoluten Wissen überbietend noch hinzukäme, und keinen äußerlichen Standpunkt oder unveränderlichen Maßstab, an welchem die Überwindung der offenbaren Religion durch das absolute Wissen beobachtet werden könnte, gibt. Dieses ist vielmehr die Versammlung isoliert auftretender Momente, die sich in den jeweiligen Stufen bereits ergeben haben, dort aber noch abstrakt bleiben, in eine Präsenz. Die einzelnen zuvor entwickelten Wissensbestimmungen werden darin »nicht nivelliert und verabschiedet«, es ist vielmehr »Ort der Ver-Einigung der getrennten und insofern noch nicht realen >Bewusstseins-Verfassungen