Menschenwürde und Menschenrechte: Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen 9783495807910, 9783495486498, 9783495487662


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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Teil I: Der Begriff der Menschenwürde
1. ›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff
1.1 Historische Erinnerungen an den Würdebegriff
1.2 Historiografie als Problem
2. Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹
2.1 Bedeutungszuschreibungen
2.2 Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs
2.3 Menschenwürde als Postulat der praktischen Vernunft
Teil II: Paradigmata in der Geschichte des Würdebegriffs
1. Antike und mittelalterliche Würdebegriffe
1.1 Cicero: Tugend, Rang und Würde
1.2 Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde
2. ›Dignitas hominis‹ in der Renaissance
2.1 Giannozo Manettis ›De dignitate et excellentia hominis‹
2.2 Giovanni Pico della Mirandola und seine ›Oratio de hominis dignitate‹
2.3 Die Reformation als Gegenbewegung
3. Skeptische Kritik an der Überschätzung des Menschen: Montaignes ›Essais‹ und Pascals ›Pensées‹
4. Wege zu Aufklärung, Revolutionen und Menschenrechten: ›Menschenwürde‹ in Naturrechtstheorien und als Begriff der Rechts- und Politiktheorie im 18. Jahrhundert
4.1 Samuel Freiherr von Pufendorfs Naturrechtstheorie
4.2 Menschenwürde und die ›Rights of Man‹
5. Philosophien der Menschenwürde: Von Hume zu Kant und zum Deutschen Idealismus
5.1 Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert
5.2 Fichte: Selbstachtung, Anerkennung und Würde
5.3 Hegel: Würde und Recht
5.4 ›Würde‹ in der Entwicklung nach Hegel: Vom Vormärz bis zu Proudhon
5.5 Zwei Würde-Kritiken: Marx und Nietzsche
5.6 Karl Kraus: ›Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist‹
Teil III: Menschenwürde als Rechtsbegriff
1. Unrechtserfahrung – die Quelle der Menschenwürdegarantie
2. Staat, Völkerrecht und Menschenwürde
3. ›Menschenwürde‹ in Verfassungen
3.1 Verfassungsvergleichende Befunde
3.2 Europa auf dem Wege zu einer menschenrechtlichen Verfassung
4. ›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
4.1 Zur Entstehung des Grundgesetzes
4.1.1 Der vorbereitende ›Verfassungskonvent‹
4.1.2 Der Parlamentarische Rat 19481949
4.2 Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹
5. Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm
6. Das Neutralitätsgebot und die Religionen
7. Die Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde ›vom Eingriff her‹
8. Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
9. Menschenwürde und Menschenrechte
9.1 Menschenwürde als Grund der Menschenrechte und ihre Konkretisierung in den Menschenrechten
9.2 Menschenwürde und soziale Menschen- und Grundrechte
9.3 Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung
10. Menschenwürde – abwägbar?
10.1 Die Menschenwürde ist nicht abwägbar
10.2 Die ›Logik der Abwägung‹ und das Folterverbot
Bibliografie
Siglen
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Menschenwürde und Menschenrechte: Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen
 9783495807910, 9783495486498, 9783495487662

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Hans Jörg Sandkühler

Menschenwürde und Menschenrechte Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen

ALBER STUDIENAUSGABE https://doi.org/10.5771/9783495807910

.

B

Hans Jörg Sandkühler Menschenwürde und Menschenrechte

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieser Satz ist ein unbedingt bindender Rechtssatz und die Grundnorm für die nachfolgenden Grundrechte, mit denen die Würdegarantie nicht abwägbar ist. Die Würdenorm gilt aufgrund nationaler Verfassungen und transnationaler Rechtsinstitute wie der EU-Grundrechte-Charta und des internationalen Menschenrechte-Rechts absolut und universell. Dass die menschliche Würde täglich verletzt wird, mindert die Geltung der Norm nicht. Gleichwohl gibt es darüber, ob die Menschenwürde »unantastbar« ist, heftige Auseinandersetzungen. In den im ersten Teil des Buches erörterten Kontroversen wird oft eingewandt, der Begriff werde inflationär missbraucht, ja es gebe eine »Tyrannei der Würde«. Wer die Würdenorm aus verfassungsrechtlicher Unkenntnis relativieren will, trägt zur Entrechtlichung der Ansprüche auf Achtung und Schutz bei. Im historischen zweiten Teil dieses Buches warnt Hans Jörg Sandkühler vor der Fiktion, der moderne Rechtsbegriff der Würde sei aus einer bruchlosen zweitausendjährigen Geschichte zu begründen. Vielmehr haben interessengeleitete ideengeschichtliche Rekonstruktionen die Menschenwürde als Konzept der Stoa, der Renaissance, der Aufklärung oder als christliches Konzept ausgewiesen. Die tatsächlichen Quellen der Menschenwürdegarantie moderner Verfassungen sind die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die von der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« geprägte Würdenorm ist – so das Ergebnis des dritten Teils des Buches – ein Gegenprogramm zur totalitären Missachtung des Individuums: eine Revolution der Rechtskultur, die es zu verteidigen gilt.

Der Autor: Hans Jörg Sandkühler, Jahrgang 1940, hat nach dem Studium der Philosophie und der Rechtswissenschaften 1967 promoviert und sich 1970 habilitiert. 1971 wurde er Professor für Philosophie in Gießen, 1974 in Bremen. 2003 übernahm er die Leitung der Deutschen Abteilung Menschenrechte und Kulturen des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie/Paris an der Universität Bremen, die er auch nach seiner Emeritierung 2005 bis 2011 ausübte.

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Hans Jörg Sandkühler

Menschenwürde und Menschenrechte Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Umschlagmotiv: Landgericht Frankfurt/M. © Dontworry ISBN (Buch) 978-3-495-48649-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80791-0

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Teil I Der Begriff der Menschenwürde 1. ›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff . . . . . . . . . 1.1 Historische Erinnerungen an den Würdebegriff . . . . . . 1.2 Historiografie als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 22 25

2. Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹ . . . . . . 2.1 Bedeutungszuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Menschenwürde als Postulat der praktischen Vernunft . .

28 28 35 45

Teil II Paradigmata in der Geschichte des Würdebegriffs 1. Antike und mittelalterliche Würdebegriffe . . . . . . . . . 1.1 Cicero: Tugend, Rang und Würde . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde . . . . . . .

53 53 58

2. ›Dignitas hominis‹ in der Renaissance . . . . . . . . . . . . 2.1 Giannozo Manettis ›De dignitate et excellentia hominis‹ . 2.2 Giovanni Pico della Mirandola und seine ›Oratio de hominis dignitate‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Reformation als Gegenbewegung . . . . . . . . . . .

67 71 76 84 5

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Inhalt

3.

Skeptische Kritik an der Überschätzung des Menschen: Montaignes ›Essais‹ und Pascals ›Pensées‹ . . . . . . . . .

93

Wege zu Aufklärung, Revolutionen und Menschenrechten: ›Menschenwürde‹ in Naturrechtstheorien und als Begriff der Rechts- und Politiktheorie im 18. Jahrhundert . . . . . 4.1 Samuel Freiherr von Pufendorfs Naturrechtstheorie . . . 4.2 Menschenwürde und die ›Rights of Man‹ . . . . . . . . .

97 97 99

4.

5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Philosophien der Menschenwürde: Von Hume zu Kant und zum Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert . . . Fichte: Selbstachtung, Anerkennung und Würde . . . . . Hegel: Würde und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Würde‹ in der Entwicklung nach Hegel: Vom Vormärz bis zu Proudhon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Würde-Kritiken: Marx und Nietzsche . . . . . . . . Karl Kraus: ›Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 108 116 121 127 132 138

Teil III Menschenwürde als Rechtsbegriff 1.

Unrechtserfahrung – die Quelle der Menschenwürdegarantie

2.

Staat, Völkerrecht und Menschenwürde

145

. . . . . . . . . . 166

3. Menschenwürde in Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Verfassungsvergleichende Befunde . . . . . . . . . . . . 3.2 Europa auf dem Wege zu einer menschenrechtlichen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . 4.1.1 Der vorbereitende ›Verfassungskonvent‹ . . 4.1.2 Der Parlamentarische Rat 1948–1949 . . . .

177 177 183

4.

. . . .

. . . .

6 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

. . . .

. . . .

190 191 195 198

Inhalt

4.2 Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹ . . . . . . . . . . . . . 5.

212

Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

6.

Das Neutralitätsgebot und die Religionen . . . . . . . . . .

241

7.

Die Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde ›vom Eingriff her‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

8.

9. Menschenwürde und Menschenrechte . . . . . . . . . . 9.1 Menschenwürde als Grund der Menschenrechte und ihre Konkretisierung in den Menschenrechten . . . . . . . . 9.2 Menschenwürde und soziale Menschen- und Grundrechte 9.3 Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . .

. 271 . 271 . 280 . 294

10. Menschenwürde – abwägbar? . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Menschenwürde ist nicht abwägbar . . . . . . . . . . 10.2 Die ›Logik der Abwägung‹ und das Folterverbot . . . . . .

303 303 308

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

7 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Vorbemerkung

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieses verfassungsrechtlich als Basisnorm für alle Grundrechte und im internationalen Menschenrechte-Recht garantierte Achtungs- und Schutzprinzip hat die Funktion, das Individuum vor jeglicher Verletzung dessen zu bewahren, was es als Individuum in Freiheit und Gleichheit konstituiert. Die Norm der Unantastbarkeit der Menschenwürde gilt absolut – ohne Vorbehalt und ohne Einschränkungen bezüglich besonderer menschlicher Eigenschaften –, und zwar nicht allein in den Rechtssystemen der Staaten, in deren Verfassungen sie positiviert ist, sondern universell. Das juridische Fundament dieser Absolutheit und Universalität sind nationale Verfassungen wie das Grundgesetz der Bundespublik Deutschland, transnationale Rechtsinstitute wie die Grundrechte-Charta der Europäischen Union und insgesamt das internationale Menschenrechte-Recht. Darüber, was diese Grundnorm bedeutet, ob die Menschenwürde ›unantastbar‹ ist, ob es Grenzen der Geltung der verfassungsrechtlichen Würdenorm gibt und ob diese Norm mit anderen Grundrechtsnormen ›abwägbar‹ ist, gibt es heftige Auseinandersetzungen. Die jeweiligen Positionen sind abhängig von epistemischen und praktischen Interessen, von Menschen- und Weltbildern und vom Medium, in dem sie formuliert werden, etwa im Alltagsdiskurs, in der Politik, in Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft sowie – zunehmend – in lebenswissenschaftlichen, bioethischen und medizinethischen Kontexten. In den Kontroversen über den Begriff der Menschenwürde wird oft eingewandt, er werde inflationär missbraucht; er habe sich zu einer ›Zivilreligion‹ entwickelt, ja es gebe eine ›Tyrannei der Würde‹. Derartige Kritiken setzen in aller Regel verfassungsrechtliche Unkenntnis voraus. Wer dafür plädiert, die Würdenorm zu relativieren oder ganz auf sie zu verzichten, trägt – ob mit oder ohne Absicht –zur Entrechtlichung der Ansprüche auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und dazu bei, sie aus dem öffentlichen Raum der demokrati9 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Vorbemerkung

schen Rechtsordnung in die Sphäre privater (weltanschaulicher, politischer, akademischer) Meinungen zu verbannen. Der im ersten Teil dieses Buches dargestellte Streit darüber, ob der Würdebegriff gehaltvoll oder bedeutungsleer ist, wird oft so geführt, als ginge es darum, ob es Menschenwürde ›gibt‹ oder ›nicht gibt‹. Genau darum aber geht es nicht. ›Menschenwürde‹ ist die Zuschreibung einer Bedeutung des Menschseins aus praktischen Gründen: Alle Menschen sind Träger der Auszeichnung, einen unter keinen Vorbehalt zu stellenden Anspruch darauf zu haben, als im Menschsein Gleiche vor Verletzung geschützt zu sein. ›Würde‹ ist ein dynamischer Begriff. Was unter der menschlichen Würde und ihrer Unantastbarkeit verstanden wurde und wird, ist jeweils im historischen Raum und in der geschichtlichen Zeit verortet. Im Konflikt der Interpretationen spielen selektive Rückgriffe auf bestimmte Traditionen und interessengeleitete ideengeschichtliche Rekonstruktionen eine wesentliche Rolle, in denen ›Menschenwürde‹ als Konzept der Stoa, der Renaissance, der Aufklärung oder als genuin christliches Konzept ausgewiesen wird. Die Bedeutung historischer Erinnerung an die Wege, auf denen sich der moderne Rechtsbegriff der Menschenwürde herausgebildet hat, ist weithin anerkannt, und es gibt hierfür gute Gründe. Das Erinnerte soll verbürgen, dass das im 20. Jahrhundert verrechtlichte Neue nicht ex nihilo entstanden ist, sondern es historischen Vorschein gegeben hat. Das Erinnern hält zum einen Hoffnungen präsent und verweist im Vergleich zwischen dem, was war, und dem, was ist, auf das an Ideen des Recht auf Würde Unabgegoltene, also auf das, was sein kann bzw. sein soll. Zum anderen zielt das Erinnern, das immer selektiv ist, ex negativo auf das, was aus dem modernen Rechtsbegriff der Würde ausgeschlossen ist und ausgeschlossen bleiben soll, etwa die antike und mittelalterliche, ja bis in die Neuzeit reichende Exklusion bestimmter Menschen, z. B. der Sklaven. Im Erinnern wird präsent gemacht, dass Menschen den Mangel an Würde gefühlt haben, seit sie Ungerechtigkeit zu beklagen hatten und sich in Aufständen und Revolutionen gegen Herr-Knecht-Verhältnisse und gegen die Verletzung ihrer Freiheits- und Gleichheitsrechte aufgelehnt haben. Aber ihre Lebenslage hat es den wenigsten unter den Entrechteten erlaubt, die Verletzung ihrer Würde in Würdebegriffen zu artikulieren. ›Menschenwürde‹ war ein Thema der Bevorrechtigten, von Avantgarden, von Intellektuellen – von Philosophen, Theologen, Literaten und Theoretikern von Recht und Staat. 10 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Vorbemerkung

Zu warnen ist vor der teleologischen Konstruktion eines geraden, zum ›Sieg‹ des modernen Rechtsbegriffs der Würde führenden Weges. Zu warnen ist vor der Fiktion, der moderne, mit der Gleichheit und Freiheit aller Menschen und mit der Achtungs- und Schutzverpflichtung für den Staat, die Gesellschaft, die sozialen Gruppen und die Individuen verbundene Rechtsbegriff der Würde sei aus einem bruchlosen zweitausendjährigen Kontinuum zu begründen. Es hat diese Kontinuität nicht gegeben. Das früheste Paradigma, auf das bei der Erinnerung an den Weg zum modernen Verfassungsbegriff der Menschenwürde zurückgegriffen werden kann, ist das in der Renaissance entwickelte und von Kant explizit begründete Autonomie-Prinzip. Um die Überprüfung dieser These, nicht aber um den Versuch zu einer erschöpfenden Geschichte der Idee der Menschenwürde geht es im zweiten Teil dieses Buches. Genannt werden paradigmatische Beispiele in Antike, Renaissance und Neuzeit – von Cicero bis Nietzsche ins 20. Jahrhundert. Es geht dabei um die Frage, an was in welcher Perspektive erinnert werden sollte. Das die Auswahl an Erinnernswertem leitende Kriterium ist, in welchem Maße ein historisches Paradigma für das Verstehen des modernen Verfassungsbegriffs der unantastbaren, zu achtenden und zu schützenden Menschenwürde wegweisend war. Deshalb geht es nicht um ›ausgewogene‹ Narration, in der auf antike und mittelalterliche, Ungleichheit legitimierende bzw. zumindest nicht ausschließende Würdebegriffe die gleiche Aufmerksamkeit zu richten wäre wie auf Konzepte seit der Renaissance und der modernen Aufklärung, die in der Perspektive von Art. 1 Abs. 1 GG von weit größerer Bedeutung sind, weil sie zum Verständnis von Gleichheit, Freiheit und Selbstherrschaft aller Menschen beigetragen haben. Berücksichtigt werden auch Gegenpositionen, wie sie etwa in der Reformation gegen die emanzipatorische Idee menschlicher Autonomie und Würde entwickelt wurden. Von den Dogmen der Erbsünde, des Elends (›miseria‹) der irdischen Welt, aus dem sich der Mensch nicht durch eigene Aktivität befreien könne, und von seiner Rechtfertigung allein durch göttliche Gnade und den Glauben führt kein Weg zu Art. 1 Abs. 1 GG. Lässt man die paradigmatischen Positionen aus der Geschichte des Würdebegriffs Revue passieren, dann ist festzuhalten: Art. 1 Abs. 1 GG ist ein Rechtssatz, dessen juridischer Gehalt nicht aus einer geraden historischen Linie hin zur Würdenorm der modernen Verfassung ableitbar ist. Die tatsächlichen Quellen der Menschenwürdegarantie 11 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Vorbemerkung

moderner Verfassungen sind die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Bei Anrufungen historischer Paradigmata ist deshalb immer zu fragen, wer in welchem Interesse an etwas erinnert. Um die Verfassungsnorm der Menschenwürde geht es im dritten Teil dieses Buches. Sie ist erst im 20. Jahrhundert positiviert worden, nicht zuletzt nach 1945 aufgrund der Gewalt- und Unrechtserfahrungen, die in der ›Charta der Vereinten Nationen‹ dazu geführt haben, den ›Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit‹ zu betonen. In der deutschen Geschichte bedeutet das maßgeblich von der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ geprägte GG aufgrund der zentralen Stellung der Würdenorm das – so Horst Dreier – ›Gegenprogramm zur totalitären Mißachtung des Individuums‹ ; ein Gegenprogramm, weil der Norm der Unantastbarkeit der Menschenwürde das Faktum der Antastung vorausgegangen war. Der Satz im Grundgesetz über die ›Unantastbarkeit der Menschenwürde‹ ist ein unbedingt bindender Rechtssatz und die Grundnorm für die ›nachfolgenden Grundrechte‹. Der Rechtssatz bedarf keiner außerrechtlichen Begründung, etwa durch Metaphysik oder Naturrecht. Religiöse und weltanschauliche Ansprüche auf Deutungshoheit widersprechen der Neutralität, zu der Recht und Staat in der pluralistischen Demokratie verpflichtet sind. Der Rechtssatz normiert die Beziehung zwischen Individuen als Achtungs- und Schutzadressaten und dem Staat; und aus ihm folgt insofern eine unmittelbare Drittwirkung, als der Staat verpflichtet ist, auch Würdeverletzungen von Personen durch Personen rechtlich zu unterbinden bzw. zu ahnden. Erst im Rechtssatz wird die Würde zur letzten Grundlage von Ansprüchen, auf die alle Individuen ein Recht haben und deren Schutz von Staaten und inter-individuell und kollektiv, politisch, sozial und kulturell ohne Vorbehalt und einschränkende Bedingung garantiert werden muss. Die Norm der Unantastbarkeit, der Achtung und des Schutzes bleibt vom Streit über ethische, theologische, natur- oder positivrechtliche etc. Begründungen in ihrem Kern unberührt. Dass die Menschenwürde aufgrund des Aktes der verfassunggeberischen Setzung als für das positive Verfassungsrecht geltungsbegründend und als akzeptiert unterstellt wird, ist aus pragmatischen Gründen unverzichtbar. Das GG definiert die Menschenwürde nicht. Die definitorische Enthaltsamkeit der Verfassung eröffnet zwar Spielräume für rechtstheoretische Kontroversen. Aber Verfassungen vermeiden es aus guten 12 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Vorbemerkung

Gründen, die Menschenwürde material zu definieren: Materiale Definitionen müssten auf Prinzipien von Moralen bzw. Ethiken zurückgreifen, zu denen in pluralistischen Gesellschaften ein allgemeiner Konsens weder besteht noch erzwungen werden darf. Der definitorische Verzicht führt insofern nicht zu Schwierigkeiten, als sich aus dem Gesamt der menschenrechtlich zu interpretierenden Grundrechtsnormen und ex negativo aus der Prüfung von Verletzungen im Einzelfall ergibt, was die Würdenorm bedeutet. Wie zu interpretieren ist, ergibt sich in Deutschland bzw. in Europa aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die menschliche Würde ist nicht abwägbar. Andernfalls wird diese Norm, bei der eine Eingriffsrechtfertigung kategorisch ausgeschlossen ist, zu einer Norm unter anderen herabgestuft. In der ›Logik der Abwägung‹ wird mit der Absolutheit der Würdenorm auch die in dieser Norm gründende Absolutheit von Verletzungsverboten – nicht zuletzt des Folteverbots – relativiert. Die hier vorgelegte Studie ist aus über zehn Jahren Forschung, Lehre und öffentlichen Vorträgen zu Recht und Staat, Demokratie und Menschenrechten entstanden, vor allem aus meinen Vorlesungen am Institut für Philosophie der Universität Bremen in den Jahren 1998 bis 2003 und aus meinen Vorlesungen im Rahmen der Deutschen Abteilung ›Menschenrechte und Kulturen‹ des europäischen UNESCOLehrstuhls für Philosophie (Paris) in den Jahren 2003 bis 2011. Im ersten und im dritten Teil habe ich in überarbeiteter und erheblich erweiterter Form auf Passagen aus meinem 2013 erschienenen Buch Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive zurückgegriffen. Die zum Teil ausführlichen Zitate in diesem Buch entsprechen dem Gebot der Fairness, die Überlegungen und Argumente Dritter nicht paraphrasierend zu konsumieren, sondern selbst zu Wort kommen zu lassen. Lilienthal bei Bremen, im August 2013

13 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Teil I Der Begriff der Menschenwürde

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

1. ›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

›Menschliche Würde‹ ist ein Topos in Entwicklung, kein ›ewiger Wert‹. 1 Dies zeigt die bis in die Antike zurückführende Geschichte 2 des Begriffs, und dies belegt auch die Entwicklung der Rechtsnorm der Menschenwürde im 20. Jahrhundert. ›Menschliche Würde‹ ist kein eineindeutiger Begriff; es handelt sich um ein Konzept, dessen semantische Bedeutungskomplexität 3 danach zu fragen verlangt, wer es in welcher Sprache, in welchem Kontext und in welchem Interesse wie verwendet. »Der Begriff der Menschenwürde ist ein dynamischer Begriff. Es kann und sollte immer mehr und besser erkannt werden, was dem Menschen auf Grund seiner unverlierbaren Grundwürde an weiterer Würde zusteht. Es ist ein Prozess, der zwar Etappen kennt, aber grundsätzlich nicht abgeschlossen werden kann, ebenso wenig wie die Entwicklung des Menschen selbst als eines gesellschaftlich-kulturellen Wesens.« 4 Der historische Raum und die geschichtliche Zeit, die Verwobenheit in kontextuelle Bedeutungen gehören zu dem, was unter ›Unantastbarkeit‹ 5 der menschlichen Würde verstanden wurde und verstanDie Historizität des Würdebegriffs hat auch das BVerfGE betont: »Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares. Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, sie zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen. […] Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben, ist mithin nicht von der historischen Entwicklung zu trennen.« (BVerfGE 45, 187 (229)). 2 Zur Begriffs- und Ideengeschichte vgl. Horstmann 1980, Gadamer 1988, Huber 1992, S. 578–581, Wetz 2005, S. 14–55; vgl. auch Böckenförde/Spaemann 1987, De Koninck 1996, Bayertz 2010. 3 Vgl. zu Würdebegriffen im internationalen Vergleich Baumbach/Kunzmann 2010. 4 Reiter 2004, S. 7. Zur Entwicklung des Menschenwürdebegriffs hat keineswegs nur Europa bzw. der ›Westen‹ beigetragen, wie z. B. die Untersuchung von Yacoub 2007 zum mesopotamischen und syrischen Erbe zeigt. 5 Zur Semantik und Geschichte des Begriffs der ›Unantastbarkeit‹ vgl. Kapust 2009, S. 270–278. 1

17 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

den wird. Mit dem Grund-Satz Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) »Die Würde des Menschen ist unantastbar« verbindet sich axiomatische Selbstevidenz. Und doch gibt es einen Konflikt der Interpretationen, selektive Rückgriffe auf bestimmte Traditionen und interessengeleitete ideengeschichtliche Rekonstruktionen. Die Dynamik des Würdebegriffs zeigt sich im historischen Prozess vor allem seit der Renaissance, in der ›Menschenwürde‹, anders als in Antike und Mittelalter, zum Ausdruck der unbedingten Achtung wurde, die jedem Menschen als Menschen – unabhängig von bestimmten Eigenschaften oder Leistungen – zukommt. Sie wurde nun »nicht mehr als ein Abglanz aufgefaßt, der aus der transzendenten Welt auf den Menschen fällt, sondern als Inbegriff dessen, was der Mensch im irdischen Leben darstellt. Der Würdebegriff fungiert als Rammbock gegen ein Weltbild, das den Menschen von seinem Dasein in dieser Welt ablenkt, indem es diese Welt als ein Jammertal darstellt und jede Anstrengung zur Verbesserung des Daseins als eitel ausgibt. Die christliche Anthropozentrik wird beibehalten, aber mehr und mehr auf irdische Ziele bezogen. Der Würdebegriff soll dem Menschen ein neues Selbstbewußtsein geben und mit der Zuversicht ausstatten, die notwendig ist, um diese Welt und sein Los in ihr zu verbessern.« 6 ›Würde‹ war nicht immer ein Begriff zur Bezeichnung eines vom Recht verbürgten humanen Anspruchs. ›Würde‹ – dignitas – war auf ›Rang‹, ›Stand‹, ›Amt‹, ›Ehre‹ und ›Geltung‹ bezogen. ›Würde‹ konnte – noch bis ins 19. Jahrhundert – das Haben eines sozialen Status bedeuten und war insofern ein Begriff ohne normative, ihren Schutz vor Verletzung umfassende Dimension. Sie war dem Vergleich unterworfen; es gab Grade der Würde, ein Mehr und ein Weniger. Diese Wortbedeutung 7 beinhaltete Ungleichheit. Und weil Würde an eine Funktion, an eine soziale Rolle, gebunden war, konnte sie mit der Funktion bzw. Rolle entzogen werden. Die Würde, von der wir heute als Rechtsnorm sprechen, ist von allen diesen und von diskriminierenden Konnotationen wie ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ frei. ›Würde‹ bezeichnet das, was Menschen als Men-

Bayertz 1995, S. 466. Zur deutschen Wortgeschichte vgl. ›Würde‹ in Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Lieferung 30, 13. 6 7

18 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

schen zukommt. Sie ist in einem nicht-metaphysischen Sinne absolut 8: Die Norm, sie nicht zu verletzen, gilt absolut nicht allein in den Rechtssystemen der Staaten, in deren Verfassungen sie positiviert ist, sondern absolut und universell. Das Fundament dieser Absolutheit und Universalität sind nationale Verfassungen wie das GG, transnationale Rechtsinstitute wie die Grundrechte-Charta der Europäischen Union (GRCh) und insgesamt das internationale Menschenrechte-Recht. 9 Menschliche Würde war einmal ein Ideal, ihr Schutz gar eine Utopie; doch wer sie heute noch für utopisch hält 10, verkennt ihren längst erreichten Status als Basisnorm allen Rechts und die Rechtsförmigkeit ihres Schutzes. Das mittelalterliche christliche Verständnis von der Würde des Menschen als ›Ebenbild Gottes‹ 11 war mit einer Abwertung des diesseitigen Lebens verbunden. Dies wurde zum Stein des Anstoßes für Renaissance-Autoren, »die die ›Würde und Erhabenheit des Menschen‹ nicht mehr allein als Abglanz von dessen bevorzugter Stellung zu Gott interpretierten, sondern – so z. B. von Pico della Mirandola in seiner berühmten Rede Über die Würde des Menschen – als die Fähigkeit und das Recht zur aktiven Gestaltung des diesseitigen Lebens«. 12 In der beginnenden Moderne und in der Zeit der Naturrechtstheorien wurde die Auffassung der Würde als Freiheit in Sozialität erstmals verrechtlich und mit der stoischen Auffassung der Würde als Teilhabe an der Vernunft verbunden. Samuel von Pufendorf – der Theoretiker Zur Absolutheit des Wertes ›Menschenwürde‹ vgl. z. B. Tiedemann 2005, S. 370–376. Vgl. Henkin 1979, McDougal/Lasswell/Chen 1989, Frowein 2002, Kretzmer/Klein 2002. Die aus der ›kulturellen Bedingtheit des Rechts‹ und aus der Feststellung der Nichtachtung der Würdenorm in bestimmten Kulturen abgeleitete Behauptung in Mastronardi 2003, S. 73, die Menschenwürde sei »nicht universal«, müsse aber »dringend universalisiert werden«, betrifft nur die Genesis der Würdenorm und die – oft defizitäre – Faktizität ihrer Garantie, nicht aber ihre durch Menschenrechtserklärungen und -pakte sowie Verfassungen positiv-rechtlich universalisierte Geltung. 10 So De Baets 2007, S. 83: »We all know that most utopias in history, whether backward- or forward-looking, failed when the doctrines informing them were tested in reality. While being tested, many produced terror rather than paradise. Human dignity, insofar as it is utopian, is an exception. It will not lead us to paradise, but it is an increasingly successful attempt to prevent us from seeking a destiny in terror. It is a pragmatic utopia.« 11 Siehe Teil II, Abschnitt 1.2 in diesem Buch. 12 Bayertz 2010, S. 1554; vgl. Bayertz 1995, S. 465 f. Vgl. zur Renaissance vgl. Manetti 1990 [1452] und Pico della Mirandola 1990 [1496]; vgl. hierzu Trinkaus 1970 und Teil II, Abschnitte 2.1 und 2.2 in diesem Buch. 8 9

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›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

des Staats- und Völkerrechts, der die ›Virginia Bill of Rights‹ von 1776 beeinflusst hat – sah in De iure naturae et gentium (1672, dt. 1711 Acht Bücher von Natur- und Völkerrecht) die Würde (dignatio) in der Freiheit und Pflicht des Menschen, das durch die Vernunft Erkannte zu wählen und dementsprechend zu handeln; er verband die Würde mit der Idee der Gleichheit aller Menschen. 13 In der neuzeitlichen Philosophie wurden vor allem drei Momente der Menschenwürde hervorgehoben: »(i) Die Nicht-Fixiertheit des Menschen: Während allen übrigen Wesen ihre Daseinsweise von Natur bzw. von Gott vorgeschrieben wurde, ist der Mensch frei in der Wahl seiner Lebensweise; ihm kommt die Möglichkeit der schöpferischen Selbstbestimmung zu. (ii) Seine Vernunftnatur: d. h. seine Fähigkeit zu rationalem Denken und Handeln. (iii) Seine Befähigung zur Moral, insbes. zur moralischen Selbstgesetzgebung; nach Kant gilt: ›Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.‹« 14 Um die geschichtliche Dynamik und die Kontroversen zu verstehen, in denen dem Begriff ›Menschenwürde‹ Bedeutungen zugeschrieben wurden, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: (i) Der anthropologische Aspekt besagt, dass zur menschlichen Natur Unvollkommenheit, Verschiedenheit und Offenheit für eine nicht deterministisch zu verstehende Entwicklung gehören. Deshalb laufen Versuche, »eine menschliche Natur, ein menschliches Wesen, eine menschliche Substanz oder ein Bild des Menschen zu definieren und normativ verbindlich zu machen, dem philosophischen Kern der Menschenwürde-Idee zuwider«. 15 (ii) Der historisch-soziale Aspekt besagt, dass der Schutz der Menschenwürde in ökonomisch-sozialen, politischen und kulturellen Kontexten verstanden, erkämpft und in Konflikten interpretiert werden musste. Die Geschichte des Menschenwürdebegriffs »betrifft das Verhältnis unserer gegenwärtigen Überzeugungen, die sich in Moral und Recht artikulieren […]. Menschenwürde ist etwas, was wir als Gegebenheit, als eine Eigenschaft, einen Sachverhalt, als etwas, das uns Menschen ›tatsächlich‹ zukommt, verstehen. Philosophiegeschichte hingegen ist Geschichte des Theoretisierens über solche Sachverhalte. 13 14 15

Vgl. Welzel 1986, S. 6 f. und 47 ff. Siehe Teil II, Abschnitt 4.1 in diesem Buch. Bayertz 2010, S. 1554; das Kant-Zitat: AA IV, S. 436. Bayertz 1995, S. 479.

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›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

Wie kann das Reden über einen Sachverhalt die Grundlage dieses Sachverhalts sein?« Die Antwort Georg Mohrs lautet: »Menschenwürde ist nichts anderes als das, was im Laufe der Philosophiegeschichte als Menschenwürde konzeptualisiert wird.« 16 Mohr räumt ein: »[D]ie These, Menschenwürde als Prinzip sei vor allem Produkt eines sehr spezifischen und spezialisierten Bereichs der Gesellschaftsgeschichte, nämlich der Philosophiegeschichte, wirkt vielleicht verstörend, da man sie dann dem sachlich Fundierten entzogen fürchtet.« Doch er verteidigt die herausgehobene Rolle der Philosophiegeschichte: »Dennoch scheint mir kein überzeugender Weg vorbeizuführen an der Einsicht: Wir entdecken die Menschenwürde im Laufe der Philosophiegeschichte. Dabei plädiere ich wiederum für eine nicht-substantialistische Lesart des Verbs ›entdecken‹. Wir entdecken Menschenwürde als etwas, das in einem fundamentalen Sinne den Orientierungsgehalt unserer Moral- und Rechtskultur auf seinen Begriff bringt, aber sie existiert nur dadurch, dass wir sie entdecken. Es gibt keinen anderen Zugang zu ihr als die Philosophiegeschichte. Diese ist allerdings nicht zu verstehen in dem eingeschränkten Sinne einer akademischen Disziplin, sondern als die Geschichte der Verständigung von Menschen über das, was ihnen im Umgang mit sich und anderen besonders wichtig ist. Wir entdecken Menschenwürde nur im Innern unserer Praxis und daher nur als ›geglaubte‹. Menschenwürde existiert nur, soweit wir an sie glauben. Und sie entsteht durch den Glauben an sie. Entgegen häufigen Befürchtungen wird durch ein solches Verständnis Menschenwürde keineswegs etwas Irrationales, sondern ganz im Gegenteil erst auf eine rationale Grundlage gestellt: Statt substantialistische Spekulationen Mohr 2007, S. 13 f. »Wenn wir über ›Menschenwürde‹ sprechen, so sprechen wir über etwas, dessen Realität oder Existenz nicht empirisch gegeben ist wie die Gestalt oder Farbe eines raumzeitlichen Gegenstands, wie die Größe oder Haarfarbe eines Menschen. Es handelt sich um etwas Abstraktes, ähnlich wie dies z. B. auch bei Begriffen wie denen der Freiheit, der Gerechtigkeit oder der Autonomie der Fall ist. Dennoch sprechen wir über Menschenwürde gewöhnlich wie über etwas, das eine Eigenschaft ist, die Menschen tatsächlich zukommt. Diese Redeweise birgt das Risiko eines Missverständnisses, eines ›Kategorienfehlers‹. Sie suggeriert uns, dass wir es mit einer natürlichen Tatsache zu tun haben, dass Würde in einem ähnlichen Sinne eine Eigenschaft des Menschen ist, wie seine Bedürftigkeit, seine körperliche und seelische Verletzlichkeit, seine Sterblichkeit. Die These, Menschenwürde sei ›nichts anderes als das, was im Laufe der Philosophiegeschichte als Menschenwürde konzeptualisiert wird‹, enthält unter diesem Aspekt eine kritische Pointe: dass Menschenwürde keine Eigenschaft im Sinne natürlicher Tatsachen ist.« (Ebd., S. 15).

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›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

über spirituelle Eigenschaften zu produzieren, beziehen wir uns auf unsere reflektierten alltäglichen Erfahrungen und den über Generationen und Epochen ausgebildeten ›Korpus‹ an moralischen Intuitionen, der seinerseits rückgekoppelt ist an unsere Vorstellungen von einem guten Leben.« 17

1.1 Historische Erinnerungen an den Würdebegriff Über die Bedeutung historischer Erinnerung an die Wege, auf denen sich der moderne Rechtsbegriff der Menschenwürde herausgebildet hat, muss man nicht streiten; sie ist weithin anerkannt. Und doch gibt es zu seiner Geschichte erstaunlich wenige umfassende Darstellungen. 18 Grundgesetz-Kommentare enthalten in der Regel mehr oder weniger kurze, weitgehend standardisierte Ausführungen zur Ideengeschichte und zu Vorverständnissen aus zweitausend Jahren: Podlech erwähnt Stoa, Renaissance, Pufendorf, Kant und Lassalle 19; Herdegen betont, in »weitaus stärkerem Maße als alle anderen Verfassungsbestimmungen [werde] die Deutung der Menschenwürdegarantie von Vorverständnissen mitbestimmt, die in zweitausend Jahren philosophischer Ideengeschichte wurzeln. Prägend wirken dabei vor allem zwei geistesgeschichtliche Komponenten der Idee von einer universell geltenden Menschenwürde: einmal die auf der Vernunftbegabung des Menschen beruhende Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zum anderen die christliche Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dabei wirken Einflüsse der stoischen Philosophie, der in der Scholastik entfaltete Begriff vom Menschen als Person und das aufklärerische Postulat der sittlichen Autonomie des Einzelnen zusammen.« Herdegen bezieht sich auf Cicero, Thomas von Aquin, Manetti, Pico della Mirandola, Pufendorf, Kant und Hegel. 20 Ebd., S. 37 f. Ausnahmen bilden Bloch 1961, Pöschl und Kondylis 1992, Lebech 2009, S. 29–220, Sorgner 2010 und Tiedemann 2010, S. 109–172. Die m. W. umfassendste Darstellung der Geschichte des Würdebegriffs liegt vor in Pele 2010. Vgl. auch Wetz 1998a, S. 14–49 und Sensen 2011a. Zu einer verdienstvollen Sammlung von Quellentexten vgl. Wetz 2011. Michael Rosens Dignity. Its History and Meaning (2012) ist selektiv und hält nicht, was der Titel verspricht. 19 AK-GG Podlech, Art. 1, Abs. 1, Rn. 2–4. 20 Herdegen, GG, GG Art. 1, Abs. 1, in Maunz-Dürig, GG-K, 65. Lfg. 2012, Rn. 7–13. 17 18

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Historische Erinnerungen an den Würdebegriff

Für die Kürze des In-Erinnerung-Rufens in GG-Kommentaren gibt es gute Gründe: In Kommentierungen zu Art. 1 Abs. 1 GG geht es um die Bedeutung eines Rechtssatzes, der erst in Zeiten der moderner Verrechtstaatlichung und Konstitutionalisierung formuliert wurde und dessen juridischer Gehalt nicht aus der Geschichte des Würdebegriffs – etwa aus dem Begriff ›dignitas‹ 21 – ableitbar ist. Dies betont Dreier und bildet so eine Ausnahme unter den GGKommentatoren. Die von ihm nachgezeichnete Ideengeschichte zur Universalität der Menschenwürde und Menschenrechte 22 hebt zwar die Bedeutung von Ansätzen von der Antike bis zu Kant hervor, zollt aber nicht der These einer zweitausendjährigen historischen Kontinuität Tribut, die das revolutionär Neue an der Würdegarantie in Verfassungen nach 1945 verkennt. 23 Er betont vielmehr, dass Unrechtserfahrung die Quelle der Würdegarantie des GG ist: »Durch die Platzierung des Menschenwürdesatzes an der Spitze des Grundgesetzes sollte die Absage an das nationalsozialistische Regime im besonderen wie der Protest gegen die ›unsäglichen Entwürdigungen der Menschen durch die totalitären Gewalten des 20. Jahrhunderts‹ im allgemeinen dokumentiert sowie zugleich die dem diametral entgegengesetzte, für die neue Staatsordnung fundamentale Aussage von der gleichen Würde aller Menschen verkündet werden. […] Das Grundgesetz formuliert das Gegenprogramm zur totalitären Mißachtung des Individuums.« 24 Gewiss gibt es für das Erinnern an die Geschichte des Würdebegriffs gute Gründe. Das Erinnerte soll verbürgen, dass das verrechtlichte Neue nicht ex nihilo entstanden ist, sondern es historischen Vorschein gegeben hat. Das Erinnern hält zum einen Hoffnungen präsent und verweist im Vergleich zwischen dem, was war, und dem, was ist, auf das an Ideen des Recht auf Würde Unabgegoltene, also auf das, was sein kann bzw. sein soll. Zum anderen zielt das Erinnern, das immer selektiv ist, ex negativo auf das, was aus dem modernen Rechtsbegriff So die Prämisse des Forschungsprojekts ›Würde ist nicht Dignitas‹ am Ethikzentrum Jena: »›Würde‹, so der Kern des Projekts, ist nicht ohne Verlust in ›dignitas‹ und deren Nachfolgerinnen wie ›dignity‹ oder ›dignité‹ zu übertragen, sondern hat besondere Wurzeln, die eigenwillige Wortbedeutung bis heute ergeben.« (http://www.ethik.uni-jena.de/de/index.php?option=com_content&view=article&id= 63&Itemid=5). 22 Vgl. Dreier in Dreier 2013, Vorb., S. 47–54, und Art. 1 I, S. 159–171. 23 Vgl. Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 2. 24 Ebd., Rn. 41 f. 21

23 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

der Würde ausgeschlossen ist und ausgeschlossen bleiben soll, etwa die antike und mittelalterliche, ja bis in die Neuzeit reichende Exklusion bestimmter Menschen, z. B. der Sklaven. Im Erinnern wird präsent gemacht, dass Menschen den Mangel an Würde gefühlt haben, seit sie Ungerechtigkeit zu beklagen hatten und sich in Aufständen und Revolutionen gegen Herr-Knecht-Verhältnisse und gegen die Verletzung ihrer Freiheits- und Gleichheitsrechte aufgelehnt haben. Aber ihre Lebenslage hat es den wenigsten unter den Entrechteten erlaubt, die Verletzung ihrer Würde in Würdebegriffen zu artikulieren. ›Menschenwürde‹ war ein Thema der Bevorrechtigten, von Avantgarden, von Intellektuellen – von Philosophen, Theologen, Literaten und Theoretikern von Recht und Staat. Deshalb ist vor der teleologischen Konstruktion eines geraden, zum ›Sieg‹ des modernen Rechtsbegriffs der Würde führenden Weges und vor der Fiktion zu warnen, der moderne, mit der Gleichheit und Freiheit aller Menschen und mit der Achtungs- und Schutzverpflichtung für den Staat, die Gesellschaft, die sozialen Gruppen und die Individuen verbundene Rechtsbegriff der Würde sei in einem bruchlosen zweitausendjährigen Kontinuum von Würdekonzepten zu verorten. Diesen Weg und dieses Kontinuum seit der Antike hat es nicht gegeben. Das früheste Paradigma, auf das bei der Erinnerung an den Weg zum modernen Verfassungsbegriff der Menschenwürde zurückgegriffen werden kann, ist das in der Renaissance entwickelte und von Kant explizit begründete Autonomie-Prinzip, das heteronome Würde-Begründungen (Gott, Natur) verabschiedet hat. Es ist sicher zutreffend, dass der »Verfassunggeber […] Wort und Sache der Menschenwürde nicht erfunden, sondern im Reservoir der abendländischen Ideen vorgefunden [hat]. Er schöpft aus diesem Reservoir und macht sich mit der Semantik auch Substanz zu eigen, wenn auch nicht zur Gänze und nicht vorbehaltlos.« Doch Vorsicht ist bei der Unterstellung geboten, »dass jedwede historische Äußerung zum Thema, jede literarische Trouvaille rechtlich relevant wäre. Vielmehr kommt es darauf an, ob und wieweit Äußerungen die Tradition repräsentieren, aus der das Grundgesetz schöpft.« 25

25

Isensee 2012, § 87, Rn. 55, S. 40.

24 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Historiografie als Problem

1.2 Historiografie als Problem Was kann historisches Erinnern leisten? Was Jürgen Mittelstraß zur Charakterisierung der Historiografie der Philosophie gesagt hat, lässt sich auf die Historiografie zu ›Würde‹ übertragen: 26 Es handelt sich (i) »bei dieser Geschichte rechtverstanden um eine Argumentationsgeschichte«, und die Annahme wäre absurd, »jemand hätte allein deshalb nichts mehr zu sagen, systematisch nichts mehr beizutragen, weil er seit langem tot und seine Vorstellung nur noch in Texten präsent sei.« Und (ii) schützt »eine selbst argumentativ geführte Reflexion dessen, was argumentativ in einer langen Geschichte schon vorliegt, den Systematiker vor der möglichen Naivität gewisser Anfänge und Konstruktionen«. 27 Die historische Rekonstruktion der Entwicklung des Würdebegriffs geschieht im Medium von Zeichen und Interpretation; sie ist Repräsentation in der Form der Präsentation, des Gegenwärtig-Machens von Sinnwelten, die diesseits und jenseits des Präsentierens bedeutungslos sind. In der rekonstruktiven Arbeit sprechen keine Ursprünge, keine Quellen aus sich und über sich selbst. Diese Arbeit ist teils Entdeckung von Gegebenem, teils Erfindung von zu Verstehendem. Der Ursprung expliziert sich nicht selbst. Erst in der Welt der symbolischen Formen führt eine Brücke zum bedeutungsneutralen Ursprung. Die Brückenkonstruktion entsteht aus intentionalen Akten, aus Entwürfen vorwärts. Dies ist die uns Menschen mögliche Art, in der Form semiotischer, semantischer, symbolischer Repräsentation erinnernd zu erkennen. Re–Präsentation hat ihre Funktion darin, dass das Repräsentierte nicht als ein Anwesendes und Selbstexplikatives/Evidentes vorgefunden, sondern als Abwesendes und der Repräsentation Bedürftiges ›vorgestellt‹ bzw. ›ein–gebildet‹ wird. Symbolische Repräsentation kompensiert die Abwesenheit und Sprachlosigkeit der Dinge, wie sie an sich und in ihren Eigenschaften unabhängig von Repräsentationsleistungen sein mögen. Was historiografisch zu ›Würde‹ rekonstruiert wird, sind – so William James in anderem Kontext – ›nicht Dinge, die schon geworden sind, sondern Dinge, die noch im Werden (in the making) begriffen sind‹. Als Historiker sind wir »schöpferisch in unserem Erkennen 26 27

Siehe zu den nächsten Abschnitten Sandkühler 2013c. Mittelstraß 1991, S. 11.

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›Menschenwürde‹ als dynamischer Begriff

ebenso wie in unserem Handeln. Wir erweitern sowohl die Subjekte als auch die Prädikate der Wirklichkeit«. 28 Auch die vergangenen ›Dinge‹ sind im Werden. Sie werden das, als was sie in Rekonstruktion und Interpretation erscheinen sollen. Was war, wiederholt sich nicht von selbst und nicht wie es selbst. Historiografie ist Rekonstruktion in der Form der Konstruktion dessen, was gewesen sein soll. Vergangene Würdekonzeptionen sprechen nicht von sich aus die Nachgeborenen an, sondern sie werden von diesen evoziert oder weiterhin dem Vergessen überlassen. Was wir evozieren und wie wir evozieren, geschieht nicht nach dem Maß des Gewesenen, sondern nach dem Maß derer, die es unter bestimmten Voraussetzungen und mit bestimmtem Interesse zurückrufen. Die Welt der Würdebegriffe ist eine Vico-Welt: Wir können sie erkennen, weil wir sie machen. Es kann in der historischen Rekonstruktion des Würdebegriffs nur darum gehen, »die Würde des Menschen und die Politik der Würde nicht als eine (Wieder)Entdeckung, sondern als eine Erfindung zu betrachten, als Amalgam von (kontinenten) Interpretationsleistungen, bewußten Verschiebungen, intellektuellen Problemkonstellationen und bereits beschrittenen Lösungswegen«.29 Im interessegeleiteten Erinnern an die Geschichte von ›Menschenwürde‹ lauert immer die Gefahr, dass die ›Quelle‹, der ›Ursprung‹, das ›Original‹ überwältigt wird. Dies gilt nicht zuletzt für Übersetzungen: Der in deutscher Sprache zitierte Text Ciceros über ›dignitas‹ ist nicht der Text, den Cicero verfasst hat. Die mit der Sprache verbundenen Evidenzen, die seinen Begriff ›dignitas‹ tragen, sind nicht die Evidenzen einer späteren Zeit und eines anderen historischen Raumes. Auf die damit verbundene Gefahr hat bereits Hieronymus in einem seiner Briefe Ad Pammachium (›De optimo genere interpretandi‹) bezüglich Hilarius von Poitiers’ hingewiesen: Dieser habe als Übersetzer »quasi captivos sensus in suam linguam, victoris iure transposuit«, den in Haft genommen Sinn mit dem Recht des Siegers in seine Sprache übersetzt. 30 Dass dies auch in der heutigen Debatte darüber, aus welcher GeJames 1977, S. 163. Thumfart 2008, S. 75. 30 Hieronymus, Epistulae, 3, 57: »Sufficit in praesenti nominasse Hilarium Confessorem, qui Homilias in Iob, et in Psalmos tractatus plurimos in Latinum vertit e Graeco, nec assedit litterae dormitanti, et putida rusticorum interpretatione se torsit: sed quasi captivos sensus in suam linguam, victoris iure transposuit.« 28 29

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Historiografie als Problem

schichte ›Menschenwürde‹ verstanden werden soll, geschieht, zeigt nicht zuletzt die Instrumentalisierung von Metaphysik und ›christlichem Naturrecht‹ gegen den aus guten Gründen nicht-definierten und weltanschaulich neutralen Verfassungsbegriff der Würde. 31 Zu fragen ist also immer: In welchem Interesse wird welche Geschichte erzählt? Zu fragen ist auch: Handelt es sich bei der in Rekonstruktionen oft unterstellten Kausalität – Antike, Renaissance, Aufklärung etc. als Ursachen mit der Wirkung der modernen Verfassungsnorm zum Schutz unantastbarer Würde – nicht eher um eine Finalität im Interesse einer bestimmten Legitimierung oder Delegitimierung des Neuen durch das Alte? 32 Wer heute an die Geschichte von Würdebegriffen erinnert, interveniert narrativ in einer Situation, in der oft behauptet wird, ›Menschenwürde‹ sei ein vages, leeres und verzichtbares Konzept, und in Kontroversen darüber, wie der Rechtsbegriff des Art. 1 Abs. 1 GG verstanden werden soll.

Siehe Teil III, Abschnitte 4. und 5. in diesem Buch. Ein repräsentatives Beispiel für eine finalistische Rekonstruktion ist Kobusch 2008. Er interpretiert die Würde-Schrift Pico della Mirandolas einerseits als revolutionär (vgl. ebd.; S. 236 f.) und andererseits als Ausdruck christlicher Philosophie: »Die Theologie, von der Pico in der ›Oratio‹ spricht, ist die Metaphysik der christlichen Philosophie« (ebd., S. 242). Das Ziel seiner Rekonstruktion legt der Titel seines Aufsatzes offen: ›Die Würde des Menschen – ein Erbe der christlichen Philosophie‹.

31 32

27 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

2. Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

2.1 Bedeutungszuschreibungen Es gibt unübersehbar viele, sich teils ergänzende, teils miteinander unvereinbare Erklärungen, Begründungen und Definitionen dazu, was unter ›Menschenwürde‹ verstanden werden soll. 1 Sie sind abhängig von epistemischen und praktischen Interessen, von Menschen- und Weltbildern und vom Medium, in dem sie formuliert werden, etwa im Alltagsdiskurs, in der Politik oder in Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft sowie – mit zunehmender Bedeutung – in lebenswissenschaftlichen, bioethischen und medizinethischen Kontexten. In Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften 2 stellt Michael Quante fest, »das Rationalitätspotential unserer Diskurse über Biopolitik und biomedizinische Ethik [sei] rückläufig, und [wir liefen] Gefahr, bereits erreichte Konsense wieder zu zerstören«: »Bedenklich ist, daß der Begriff der Menschenwürde gegenwärtig nicht dazu genutzt wird, um in bioethischen Debatten voranzukommen, sondern um sie abrupt zu beenden. Hier besteht philosophischer Analysebedarf. In einer solchen Untersuchung muß auch expliziert werden, wie die Argumente, die auf dem Begriff der Menschenwürde fußen, in verschiedenen Kontexten der biomedizinischen Ethik funktionieren.« Quantes These lautet, »daß sich dieser gegenwärtige Rückschritt aus der Tatsache ergibt, daß der Fortschritt in der Reproduktionsmedizin die Frage aufwirft, wie man angemessen mit dem beginnenden menschlichen Leben umgehen sollte, und zwar auf eine Art und Weise, wie sie in der deutschen DisVgl. zu einer Bibliografie Haferkamp 1996. Zur Darstellung verschiedener Würdekonzeptionen vgl. Giese 1975, 3 ff. Für ein »nicht-funktionales Verständnis des Würdebegriffs« plädiert z. B. Spaemann 1987, S. 302. 2 Quante 2010. 1

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Bedeutungszuschreibungen

kussion (und im deutschen Recht) beharrlich vermieden oder allgemein als ethisch unzulässig angesehen worden ist. Daß man so rasch auf den Begriff der Menschenwürde zurückgreift, ergibt sich daraus, daß eine Beurteilung der neuen medizinischen Optionen der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik uns dazu zwingt, über die ethische Annehmbarkeit der Lebensqualitätsbewertung von menschlichem Leben nachzudenken.« 3 Quante plädiert für »ein solches Konzept der Menschenwürde […], das noch immer einen zentralen Stellenwert in unserer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft einnehmen kann«. 4 Er schließt eine Revision der »absoluten Lesart« von ›Menschenwürde‹ gem. GG nicht aus: »Eine derartige Revision könnte notwendig und ethisch gerechtfertigt sein, wenn unser Verständnis von Menschenwürde ethische Probleme in den neuen Zusammenhängen verursacht, die von technischen Entwicklungen wie der Präimplantationsdiagnostik geschaffen werden. Allerdings sollten wir zunächst versuchen, unsere ethischen Intuitionen in diesen Kontexten in Übereinstimmung mit der absoluten Lesart von Menschenwürde zu bringen, bevor wir zu einer derart revisionären Schlußfolgerung gelangen.« Er hält es für möglich, ein »Überlegungsgleichgewicht zu finden, wenn wir die absolute Lesart von Menschenwürde mit der Konzeption von Menschenwürde kombinieren, die auf personaler Autonomie beruht. Dies sind gute Neuigkeiten, weil jede Gesellschaft, die sich dem Pluralismus verpflichtet weiß, gut darin beraten ist, die Fähigkeit zur Ausbildung einer Persönlichkeit und zur Führung eines autonomen Lebens zu schützen, indem sie die Würde des Menschen – im starken philosophischen Sinne – als wesentliches Element unserer ethischen Praxis, das nicht abgewogen werden darf, anerkennt.« 5 Diese Intervention ist eine unter vielen Bedeutungszuschreibungen zum Würdebegriff. Es ist offensichtlich, dass es in der Debatte nicht allein um bessere oder schlechtere Argumente geht, sondern – zumindest auch – um Deutungsmacht: »Klarer kann man nicht sagen, worum es in den aktuellen Kontroversen um die Menschenwürde geht: um politische Deutungsmacht. Viel Wille zur Macht lässt sich gerade in den bioethischen und biopolitischen Kontroversen der letzten Jahre 3 4 5

Ebd., S. 28; vgl. S. 203 f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 39.

29 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

beobachten: Man zieht den Würdejoker, um der eigenen Position die Aura unüberbietbarer verfassungsrechtlicher Legitimität zu verschaffen. Und wer anderen vorwirft, ihre Position zu Asylrecht, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung oder was auch immer widerspreche ›der Menschenwürde‹, lässt sie in eine kognitive wie moralische Abseitsfalle laufen. Wer sich als Hüter der ›Menschenwürde‹ inszeniert, macht es sich insoweit bequem: Er hat gleichsam das Heilige, Auratisierte, vorstaatlich Ewige auf seiner Seite.« 6 Man darf vermuten, dass auch diese Kritik nicht ohne Interesse an Deutungsmacht gegenüber denen ist, deren Berufung auf verfassungsrechtliche Legalität und Legitimität denunziert werden soll. Der Begriff ›Menschenwürde‹ ist umstritten. Es gibt ihn de facto im Plural, sobald es darum geht, die aus der Würdenorm folgenden subjektiven Rechte und Schutzbereiche zu bestimmen: Bei Art. 1 Abs. 1 GG 7 ist »jede Schutzbereichsbestimmung nicht nur notwendig von einer bestimmten philosophischen Tradition geprägt, sondern diese Prägungen sind auch das Einfallstor für die Verabsolutierungen einzelner, partikulärer ethischer Auffassungen oder politischer Haltungen.« 8 In der schwächsten Variante wird unter ›Menschenwürde‹ eine Vision oder etwas verstanden, wonach man strebt, weil es erlaubt, andere Prinzipien aufzustellen. Eine stärkere Variante lautet, ›Würde‹ sei ein Leitprinzip, fundamentaler als das Wort ›Recht‹, denn die Menschenrechte gründeten in ihm, und wertvoller als das Wort ›Freiheit‹, denn man bewahre seine Würde auch dann, wenn man seine Freiheit verliere. 9 In der stärksten Variante ist Würde keine gesetzte Norm, sondern ein intrinsisch mit der menschlichen Natur verbundenes Prinzip. Metaphysische Interpretationen von Art. 1 Abs. 1 GG favorisieren diese Variante. Allen diesen Varianten ist allerdings eines gemein: Die Achtung und der Schutz der menschlichen Würde ist nicht allein als staatliche Verpflichtung aufzufassen, sondern muss sich als moralische

Graf 2009, S. 178. Siehe hierzu Teil III, Abschnitt 3.2 in diesem Buch. 8 Will 2011, S. 3. 9 Vgl. ›Dignité‹ in Encyclopédie de l’Agora: »Dignité est le mot phare en ce moment, plus fondamental que le mot droit, – car les droits de l’homme reposent sur sa dignité –, plus précieux que le mot liberté, car on conserve encore toute sa dignité quand on a perdu l’usage de sa liberté«. (http://agora.qc.ca/Dossiers/Dignite). 6 7

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Bedeutungszuschreibungen

und/oder rechtliche Pflicht auch auf die interpersonalen Beziehungen erstrecken.10 In der kontroversen Debatte darüber, wie Art. 1 Abs. 1 GG zu verstehen ist, welchen Lebensformen und -bereichen rechtlicher Schutz zukommt und auf welche historischen Würde-Paradigmata man sich beziehen kann bzw. beziehen sollte, konkurrieren (i) metaphysische und anthropologische Substanzbegriffe und (ii) pragmatische Funktionsbegriffe der Würde: (i) Substanztheoretisch an einem ›objektiven Wert‹ orientiert ist die Mitgifttheorie: Die Menschenwürde ist ein Wert, der vor-positiv in der von Gott oder der Natur gegebenen Existenz des Menschen gründet. Diese Theorie »wirft die intrikate Frage auf, ob und in welchem Maße die Rechtskategorie der M[enschenwürde] im sich säkular begreifenden Verfassungsstaat geltungstheoretisch und/oder in seiner soziokulturellen Wirkmächtigkeit von metaphysischen Grund- oder Restbeständen abhängt oder anders formuliert: welchen Status die Einspeisungen der Religionskulturen, zuvörderst der christlichen, in den juridischen M[enschenwürde]topos haben (dürfen). Unter den Bedingungen moderner, religiös-weltanschaulich neutraler Staatlichkeit wird man religiöse Imprägnierungen der M[enschenwürde] wie die sonstigen kulturhistorisch relevanten Würdetraditionen wohl weder ignorieren noch absolut setzen können.« 11 (ii) Pragmatische Funktionstheorien plädieren für Leistung- 12 bzw. Anerkennungskonzeptionen: Menschen haben Würde aufgrund ihrer Leistung, bzw. Würde

Limbach 2001, S. 73, stellt allerdings fest: »Der Gedanke, dass das Ethos der Grundrechte auch von den Bürgern aktiv gelebt werden will, erscheint zuweilen als unterentwickelt.« 11 H. M. Heinig in EStl, Sp. 1520. 12 Die Leistungstheorie geht davon aus, »daß es gerade der einzelne selbst ist, der bestimmt, was seine Würde ausmacht. [Diese Theorie] ist jedoch dort ungenügend, wo der einzelne handlungs- oder willensunfähig und zur Leistung der Identitätsbildung außerstande ist.« (Pieroth/Schlink 1994, Rn. 385). Zu dieser von N. Luhmann vertretenen Würdeauffassung vgl. auch Tiedemann 2010. S. 76–79. Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 11, betont: »Die Würde ›des‹, also jedes Menschen ist geschützt. Staatsangehörigkeit, Lebensalter, intellektuelle Reife, Kommunikationsfähigkeit sind unerheblich, nicht einmal Wahrnehmungsfähigkeit ist vorausgesetzt, damit auch nicht das Bewusstsein von der eigenen Würde oder gar ein ihr entsprechendes Verhalten.« Zu Luhmanns Leistungstheorie vgl. ebd., Rn. 13, und Vitzthum 1985, S. 206 f. 10

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

entsteht aus der Anerkennung der Achtungspflicht. 13 Die Mitgift-, Leistungs- und Anerkennungs- bzw. Kommunikationstheorien 14 stimmen zumindest in der Annahme überein, dass jedem Menschen der Schutz seiner Würde zusteht. Mit Paul Tiedemann können »zwei klassische Konzepte der Menschenwürde« unterschieden werden, »nämlich das heteronomische und das autonomische Konzept«: »Die heteronomische Interpretation sieht die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung begründet, sofern diese Fähigkeit dazu genutzt wird, sein Leben in Übereinstimmung mit normativen Ansprüchen zu entwerfen und zu leben, die von außen, also heteronom an das Individuum herangetragen werden. Jene Autorität, von der diese Ansprüche ausgehen, wird als eine übermenschliche gedacht.« 15 Die autonomische Konzeption hingegen zielt »entscheidend nicht auf die Stellung des Menschen zu den Anforderungen ab, die von äußeren Autoritäten (Gott, Gemeinschaft; Schöpfung) an ihn gestellt werden, sondern auf die Fähigkeit des Menschen, sich das Gesetz seines Handelns selbst zu geben. Die Menschenwürde gründet in diesem Sinne ebenso wie dies prinzipiell auch nach der heteronomischen Konzeption der Fall ist, in der Fähigkeit zur Selbstbestimmung des Menschen. Während die heteronomische Deutung diese Fähigkeit aber nur dann achtet, wenn sie in Übereinstimmung mit einem von außen gegebenen Gesetz realisiert wird, gebietet der autonomische Ansatz die Achtung der menschlichen Selbstbestimmung und Willensfreiheit unabhängig davon, ob sie zum Guten oder zum Bösen ausgeübt wird.« 16 Das verfassungsrechtlich normierte Würdeprinzip hat die Funktion, das Individuum vor jeglicher Verletzung dessen zu bewahren, was es als Individuum in Freiheit und Gleichheit konstituiert. Gegen diese Bindung der Menschenwürde an das Individuum wird von konserVgl. Habermas’ Satz, die Menschenwürde beruhe »allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang von Personen miteinander« (Habermas 2001, S. 67). Zur Kritik an Habermas vgl. Schaber 2010, S. 81 f. Zu der bei Hofmann 1993 sichtbaren Gefahr, dass die Anerkennungsgemeinschaft mit der Menge der Rechtsgenossen im Nationalstaat identifiziert wird, vgl. Tiedemann 2005, S. 358 f., und Hain 1999, S. 236–243. 14 Vgl. Zur Charakterisierung und Erörterung der verschiedenen Theorien Pieroth/ Schlink 1994, Rn. 384, und Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 56–59, und Haucke 2006. 15 Tiedemann 2010, S. 84; zu Vertretern dieser Position vgl. ebd., S. 84–92. 16 Ebd., S. 92. 13

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Bedeutungszuschreibungen

vativer theologischer Seite unter dem Titel ›Individualismus als Aufhebung der Menschenwürde‹ polemisiert: »Es ist evident, daß die Konsequenzen aus einer so begriffenen individualistischen Menschenwürde zur Entwürdigung des Menschen nicht nur führen könnte, sondern notwendig führt.« 17 Das die Polemik begründende theologische ›Argument‹ lautet: »Letzten Endes vermag der Mensch nur im Wagnis des Vertrauens auf die Sinnhaftigkeit einer Welt, die ihrem Schöpfer entgegengeht, zu einem standfesten Grund seiner Würde zu finden. Nicht im Wissen, sondern im Glauben und in der aus dem Glauben erwachsenden Verantwortlichkeit dem Schöpfer gegenüber erfährt der Mensch seine Würde. Der Mensch setzt nicht autonom seine Würde, vielmehr gewinnt er sie glaubend in Demut.« 18 ›Menschenwürde‹ signalisiert, dass jeder Mensch als Subjekt und als Person19 anerkannt und nicht als Objekt, als Mittel, missbraucht werden soll. Aus welchen subjektiven Gründen dieses Signal gesetzt wird, ist nicht wesentlich. Es kann sich um Gründe der Gleichheit oder der ›Brüderlichkeit‹ handeln. Der christliche Existenzialist Gabriel Marcel hat 1961 in Vorlesungen an der Harvard University eingewandt, Menschenwürde sei nicht von der Gleichheit her zu denken, sondern von ›Brüderlichkeit‹ : »[W]enn die menschliche Würde heute voll anerkannt werden kann, ohne sich dadurch von neuem in den ausgefahrenen Geleisen eines abstrakten Rationalismus festzulegen, so geschieht dies unter der Bedingung, daß von der Brüderlichkeit und nicht vom Egalitarismus, von der Gleichheit her gedacht wird.« Marcels Grundgedanke, dass Brüder einen gemeinsamen Vater haben – Gott –, führt allerdings nicht zu Exklusion: »Ich meine, es wäre ein Irrtum […], zu behaupten, die menschliche Würde könne nur von denen in Anspruch genommen werden, die, in welcher konfessionellen Abwandlung auch immer, ausdrücklich Gott als Vater aller Menschen anerkennen, wobei dann diese Würde eben als das Zeichen der imago dei erscheinen würde. […] Andernfalls müßte man sich darüber hinwegsetzen, daß ein Nichtgläubiger in der Tat ein zugleich unerbittliches und sehr feines Bewußtsein der menschlichen Würde besitzen und dafür in seinem Handeln die unanfechtbarsten Beweise erbringen kann.« 20 17 18 19 20

Schmitz-Moormann 1979, S. 11. Ebd., S. 93. Vgl. Schürmann 2007. Marcel 1965, S. 160.

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

Welche Gründe auch immer – wesentlich ist, dass die Würde nicht diesseits oder jenseits des Rechts als bloßes moralisches Postulat schutzlos bleibt: »Die Verpflichtung des Staates, die Menschenwürde zu achten, gibt einen Unterlassungsanspruch, die Verpflichtung, sie zu schützen, ein Forderungsrecht. […] Die Schutzpflicht bedeutet eine Pflicht zur Abwehr von Würdebeeinträchtigungen, aber auch die Verpflichtung, solche Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um Würdebeeinträchtigungen bereits vorzubeugen und sie abzustellen.« 21 Die Schutzfunktion charakterisiert das Würdeprinzip als subjektives Grundrecht 22: Es »enthält ein subjektiv öffentliches Recht […], stellt ein Abwehrrecht gegen die öffentliche Gewalt dar und bildet einen Schutzauftrag an den Staat, den Einzelnen gegen Angriffe durch Dritte auf seine Würde zu schützen und vor sozialer Missachtung zu bewahren.« 23 »Der Würdegrundsatz umschreibt« – so Th. Gutmann – »das Fundament reziproker Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen. Seine primäre Struktur und Funktion ist die eines constraints, einer deontologisch verstandenen und als subjektives Abwehrrecht ausgestalteten Grenze dessen, was Rechtspersonen angetan werden darf. Er umschreibt ein ›Recht auf absolute Rechte‹ und kein

Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 29 f. Vgl. hierzu Will 2011, S. 2 f.: »Mit der Qualifizierung der Würdegarantie als subjektives Recht entsteht der Zwang, die spezifisch juristische Struktur eines Grundrechts mit Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung zur Geltung zu bringen. Mit anderen Worten: Wer eine Grundrechtsprüfung vornimmt, geht in drei Schritten vor. Er muss erstens feststellen, ob das umstrittene Handeln in den Schutzbereich des Grundrechts fällt; nur wenn dies der Fall ist, wird es auch vom Grundrecht geschützt. Im zweiten Schritt muss festgestellt werden, ob in diesen Schutzbereich eingegriffen wurde. Im dritten Schritt wird je nach Schrankenregelung der festgestellte Eingriff gerechtfertigt oder die Verfassungswidrigkeit des Eingriffs festgestellt. Für die Menschenwürde muss nach diesem Schema ein Schutzbereich bestimmt und die Qualität der Schrankenregelung festgestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht so verfahren. Es hat nicht zunächst positiv den Schutzbereich der Menschenwürde bestimmt, sondern aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ihre Unabwägbarkeit gefolgert. […] Das mit der Bestimmung der Menschenwürde als subjektives Grundrecht heraufbeschworene Strukturproblem einer positiven Schutzbereichsbestimmung ist bis heute nicht gelöst und kann im Zweifel auch nicht zufriedenstellend gelöst werden.« 23 Hofmann in Schmidt-Bleibtreu/Klein/Hofmann/Hopfauf 2011, Rn. 3. Zur Abwehrfunktion des Art. 1 Abs. 1 vgl. Hönig 2009, S. 29; zur Schutzfunktion vgl. ebd., S. 30; zur Leistungsfunktion vgl. ebd., S. 30 f. 21 22

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Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs

Gut. Der Würdegrundsatz ist weder Gegenstand noch Resultat von Prozessen der Güterabwägung.« 24 Anerkannte ›Würde‹ bezeichnet in diesem Sinne das, was einem Menschen zukommen soll und zugemutet werden darf, und die Grenze nicht nur für inhumanes Handeln (etwa Folter, Versklavung, Todesstrafe), sondern auch für inhumanes Unterlassen (etwa Verhungernlassen, Hinnahme der Verfolgung von Minderheiten). 25 Über ihre Funktion als Grenze hinaus, die sich gem. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG aus der Verpflichtung zur Achtung ergibt, erstreckt sich die Würdenorm auch darauf, die Menschenwürde zu »schützen«: »Es ist dies eine der wenigen Stellen im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes, wo von der staatlichen Gewalt ausdrücklich ein Tätigwerden verlangt wird […]. Würde des Menschen ist mit anderen Worten nicht nur Grenze, sondern auch Aufgabe der staatlichen Gewalt.« 26

2.2 Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs In der Kontroverse über den Begriff der Menschenwürde wird oft eingewandt, er werde inflationär missbraucht. »Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß sich die Menschenwürde – im besten Sinne – zu einer Zivilreligion in Deutschland entwickelt hat.« 27 Daran, dass man dies feststellen kann, sind Zweifel erlaubt. Eingewandt wird ferner, der inflationäre Gebrauch stehe in einem proportionalen Verhältnis dazu, dass der Würdebegriff keine stabile Bedeutung und deshalb keinen Sinn habe. 28 Diese These setzt verfassungsrechtliche Unkenntnis voraus. Gewarnt wird gar vor der Gefahr einer »Tyrannei der Würde«. 29 Doch trotz derartiger Kritiken ist ›Menschenwürde‹ weder ein ›Auslaufmodell‹ 30 noch ›bloße Präambellyrik und Fassadenornamentik‹, wie F. J. Wetz behauptet: »Die Würde des Menschen ist zwar Gutmann 2010, S. 11. Vgl. Birnbacher 1996. 26 Pieroth/Schlink 1994, Rn. 382. 27 Gröschner/Lembcke 2009a, S. 22. 28 Zur Auseinandersetzung hierüber vgl. Schaber 2004. 29 Vgl. Neumann 1998. 30 Bielefeldt 2011 begründet in Kritik an naturrechtlichen und religiösen Begründungsversuchen und für eine säkulare Legitimation plädierend, warum die Würde des Men24 25

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

ein Schlagwort der Gegenwart mit höchster Rechtsbedeutung, diesem haftet aber eine merkwürdige Vagheit an, die es mit anderen hohen populären Begriffen wie ›das Schöne‹ oder ›das Gute‹ teilt. Hier wie dort verschleiert das Pathos, das mit solchen Ausdrücken einherzugehen pflegt, allzu leicht deren Unbestimmtheit. Aber auch große Wissenslücken kennzeichnen das heutige Würdebewußtsein, weshalb die Existenz der Würde oftmals bloß behauptet, doch nur selten bestimmt oder begründet wird. Obwohl wir uns lautstark zum Grundsatz der Menschenwürde bekennen, weiß kaum einer genau, was dieser Ausdruck eigentlich bedeutet und worauf sich dieses schöne Wort im Ernstfall noch stützen könnte; ja, seine Konturen verschwimmen umso stärker, je intensiver man sich damit befaßt. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß heute einige diese Idee als bloße Phrase, schöne Floskel oder leere Worthülse belächeln und als rhetorisches, praxisfernes Ornament abtun. Der Begriff Menschenwürde vermag zwar nach wie vor zu faszinieren, er scheint aber nichts als eine abgegriffene, bedeutungslose Begriffsschablone zu sein. In diesem Sinne ist die Aussage des Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek zu verstehen: ›So edel und lobenswert die Gefühle sind, die in Begriffen wie Menschenwürde ihren Ausdruck finden, für sie ist in einem Versuch zu rationaler Überzeugung kein Platz.‹ Denn bei näherem Hinsehen erweisen sich solche Sprachgebilde – trotz oder gerade wegen ihres Glanzes und ihrer Leuchtkraft – als unverständlich, als bloße Präambellyrik und Fassadenornamentik.« 31 Es ist nicht zu bestreiten, dass das Wort ›Menschenwürde‹ tatsächlich oft mit unbestimmter nicht-rechtlicher Bedeutung als ›Leerformel‹ eingesetzt und gelegentlich auch als moralisierendes ›knock-out argument‹ missbraucht wird, um Schwierigkeiten ethischer Diskussionen zu umschiffen oder ›gegnerische‹ Auffassungen zu diskreditieren. P. Schaber stellt zu Recht fest: »Eine […] unangemessene semantische Ausdehnung des Menschenwürdebegriffs widerspricht […] nicht nur unseren sprachlichen Intuitionen. Diese Verwendung des Begriffs hat darüber hinaus die bekannten ›Entwertungseffekte‹ : Der Vorwurf der Menschenverletzung verliert sein Gewicht im Rahmen ethischer Debatten, wenn jede moralische Pflichtverletzung die Menschenwürde schen »in seiner grundlegenden Auszeichnung als Verantwortungssubjekt« (ebd., S. 96) kein ›Auslaufmodell‹ ist. 31 Wetz 1998, S. 10 f.

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Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs

tangiert. Auf diese Weise berauben wir uns eines wichtigen Teils unseres moralischen Vokabulars zur Kennzeichnung besonders schwerwiegenden Unrechts. Der Begriff der Menschenwürde ist daher entsprechend eng zu fassen.« 32 Auch Ph. Kunig betont: »Das Grundrecht, das keine ›kleine Münze‹ sein sollte, hat Inflation.« Aber für ihn hat die »Allgegenwärtigkeit des Würde-Arguments im politischen wie juristischen Kontext […] aufs Ganze gesehen dennoch mehr Vorteile als Nachteile: Der Staat muss das Wissen der Bürger um ihre Subjektstellung (ihr Recht, es nicht hinnehmen zu müssen, wenn er sie zum Objekt degradiert) ertragen; seine Organe müssen die Kraft finden, den Querulanten vom berechtigten Beschwerdeführer zu unterscheiden. Vor allem: Sie müssen sich stets an der Zielverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 messen lassen«. 33 Wenn »wir einräumen müssten, dass Menschenwürde eine Leerformel ist, dann wäre damit zugleich auch eingeräumt, dass eine interkulturelle Selbstverständigung der Menschen und damit ein global gültiges Konzept von Menschenrechten eine Illusion ist. Diese Erkenntnis könnte gerade jenen gefallen, die darauf aus sind, über Menschen Macht auszuüben und dabei keinem Rechtfertigungszwang zu unterliegen«. 34 Der Missbrauch eines Begriffs disqualifiziert nicht den Begriff, sondern dessen Verwender. Dies verkennt P. Kondylis, wenn er behauptet, »das allgemeine Bekenntnis zur Menschenwürde [habe] kaum praktische Verbindlichkeit erlangen können«; sie werde »von geradezu entgegengesetzten sozialpolitischen Ordnungen gleichermaßen in Anspruch genommen. Infolge dieses vielfachen und widersprüchlichen philosophischen und politischen Sprachgebrauchs ist ›Menschenwürde‹ zu einer Leerformel neben anderen geworden.« 35 Bei Kritikern des Würdebegriffs ist Arthur Schopenhauer ein beliebter Zeuge. 1840 schrieb er, der Ausdruck ›Würde‹ sei ein »SchibboSchaber 2004, S. 95. Für Schaber folgt hieraus aber kein Verzicht auf den Würdebegriff. 33 Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 8. 34 Tiedemann 2010, S. 3; vgl. auch ebd., S. 104–107. Auch Wildfeuer 2002 erörtert verschiedene Positionen, die ›Menschenwürde‹ als ›Leerformel‹ kritisieren. Vgl. auch Müller 2011, S. 101, der zwar hinsichtlich des konkreten Gehalts der Menschenwürde ein »Ungeklärtheitsproblem« feststellt, dieses aber im Anschluss an Kants Autonomiekonzept (vgl. ebd., S. 105 f.) als lösbar darstellt. 35 Kondylis 1992, S. 677. 32

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

leth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck ›Würde des Menschen‹ verstecken«. 36 Wenn Philosophen behaupten, der Begriff der Würde sei substanziell ›leer‹, zumindest aber nicht konsensuell rational begründbar, dann zeigt dies nur, dass der »philosophische Diskurs […] eher heterogen als weiterführend« ist. 37 Wenn in philosophischer oder theologischer Literatur vom »unklaren Rechtscharakter des Menschenwürdeartikels« (Art. 1 Abs. 1 GG) die Rede ist 38, dann gründen derartige Kritiken meist darin, dass den Kritikern der verfassungsrechtliche Status der Würdenorm fremd, verschlossen oder gar unbekannt ist. 39 Wer als Philosoph behauptet, es gebe mit der Menschenwürde nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein »juristische[s] Problem«, und wer dieses ›Problem‹ damit zusammenhängen lassen will, »dass der Begriff der Menschenwürde […] bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch keine juristische Rolle gespielt hat« 40, wendet einen – nicht einmal zutreffenden – empirischen Herkunftshinweis gegen die Geltung der Würdenorm und verkennt die innere Logik von Geltungsbegründungen im Recht. Wer als Philosoph die Erklärungsbedürftigkeit der »Position der Menschenwürde« damit begründet, dass die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte […] das einzige weltweit anerkannte Dokument zur Regelung jener Ansprüche [sei], die der Mensch legitimerweise erheben kann« 41, argumentiert auf dürftiger und falscher Faktenkenntnis: Die ›Allgemeine Erklärung‹ hat als Erklärung gerade Schopenhauer 1840, S. 522. Hermann 2003, S. 62. 38 So Heuser 2004, S. 19; vgl. entsprechend irreführend ebd., S. 114 f. 39 Ein besonders krasses Beispiel hierfür bietet der analytische Philosoph Jacek Holówka mit seinem Aufsatz ›The Fiction of Human Dignity‹ in Joerden et al. 2011, S. 115–129. Er erwähnt die verfassungsrechtliche Würdenorm nicht einmal und vertritt die These, »that the concept of dignity is deficient on many accounts. It is unclear and it supports dubious practices like dueling. It motivates people to act insensitively or with inexplicable stubbornness […]. It is vaguely and ambiguously connected with the concepts of rights, justice, autonomy, power games, control, slavery and human status. It can be easily replaced by these concepts in all important contexts. It brings no order into our ideas but only causes unnecessary confusion. It should not be used simply because it has dignifying overtones.« (Ebd., S. 129). 40 Stoecker 2010, S. 19. 41 Düwell 2011, S. 77. 36 37

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Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs

keine völkerrechtliche Verbindlichkeit; der Präambel zufolge handelt es sich um ein »zu erreichendes gemeinsames Ideal«. Zu nennen sind stattdessen der Zivilpakt (IpbpR) und der Sozialpakt (IPwskR) der Vereinten Nationen von 1966 42; bei ihnen handelt es sich um Dokumente verbindlichen Internationalen Rechts. Wenn Verhaltenswissenschaftler – wie B. F. Skinner in Beyond Freedom and Dignity – das Prinzip der Würde für überflüssig halten, weil nicht der ›autonome Mensch‹ sich selbst, sondern die ›Umwelt‹ ihn kontrolliere 43, dann signalisiert dies, dass die Naturwissenschaft an die Grenze dessen gestoßen ist, wozu man von ihr sinnvolle Aussagen erwarten kann. Man sollte diese Begrenztheit nicht als Überlegenheit ausgeben. Dies gilt auch für andere Disziplinen. Ein prominenter französischer Jurist erklärte, die Menschenwürde sei »das nichtssagendste aller Konzepte«, ein »Abrakadabra, dessen liturgische Verbreitung jegliche Gesetzgebung begleitet, um deren Autorität dank der Magie seiner geheiligten Form symbolisch zu bekräftigen«. 44 Es ist offensichtlich, dass der Würdebegriff vor allem in Naturwissenschaften und Medizin, in der Bio- und Medizinethik sowie in der ›Praktischen Ethik‹ in Kollision mit dem Interesse an der ›Freiheit der Forschung‹ gesehen wird – gerade so, als wären die Würdegarantie und das in Art. 5 Abs. 3 GG bzw. in anderen Verfassungen garantierte Grundrecht auf Forschungsfreiheit gegeneinander abwägbar. 45 Eine amerikanische Bioethikerin disqualifiziert in einem im British Medical Journal veröffentlichten Artikel ›Menschenwürde‹ als ein für die Medizinethik »unnützes Konzept«, weil es nichts anderes bedeute als das, »was bereits im ethischen Prinzip der Respektierung der Personen enthalten ist«. Deshalb könne man den Begriff ohne zu bedauernden Verlust aufgeben. 46 In seiner Ethik des Embryonenschutzes verabschiedet Vgl. hierzu Paech/Stuby 2013, S. 663–669. Skinner, deutsche Ausgabe »Jenseits von Freiheit und Würde« (1973), zit. nach Starck 1981, S. 461. 44 So Olivier Cayla, Forschungsdirektor am ›Centre d’études des normes juridiques, École des Hautes études en sciences sociales‹ in: Dignité humaine: le plus flou de tous les concepts, Le Monde, 31 janvier 2003, S. 14. 45 Zu einer vehementen konservativen Kritik am Auseinanderklaffen der Konjunktur des Würdebegriffs und der Abwertung des menschlichen Lebens vgl. Picker 2002; zu Grenzen der Forschungsfreiheit vgl. ebd., S. 170–173. 46 Macklin 2003, S. 1419. Demgegenüber hat das BVerfGE entschieden, dass der moralische und rechtliche Status menschlicher Embryonen aus der Würdenorm Art. 1 Abs. 1 GG abzuleiten ist (BVerfGE 39, 1 (41)). In der ›Déclaration universelle sur le génome 42 43

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

auch Norbert Hoerster den Würdebegriff als »normativ besetztes Schlagwort ohne jeden deskriptiven Gehalt«. 47 Der amerikanische Psychologe Steven Pinker verwirft, gestützt auf Macklins Position, in seiner 2008 unter dem Titel ›The Stupidity of Dignity‹ erschienenen Abrechnung mit dem unter der Bush-Administration in Auftrag gegebenen und vom konservativen ›Council of Bioethics‹ veröffentlichten Report Human Dignity and Bioethics den Begriff der Menschenwürde als »a squishy, subjective notion, hardly up to the heavyweight moral demands assigned to him«; »one hardly needs the notion of ›dignity‹ to say why it’s wrong to gas six million Jews or to send Russian dissidents to the gulag«. Pinker lastet dem Würdeprinzip drei Merkmale an, die »undermine any possibility of using it as a foundation for bioethics«: »First, dignity is relative […]. Second, dignity is fungible […]. Third, dignity can be harmful […]; totalitarianism is often the imposition of a leader’s conception of dignity on a population«. Pinkers Fazit: »So is dignity a useless concept? Almost.« 48 Aber es stehen heute existenzielle, wesentlich mit der Würdegarantie verbundene Probleme auf der Tagesordnung: die immer wieder verletzten Rechte von Flüchtlingen 49, Asylanten 50 und Migranten, humain et les droits de l’homme‹ (UNESCO 1997) ist die Menschenwürde der »Schlüsselwert für die Bioethik«. Zu bioethischen Kontexten der Debatte vgl. z. B. Düwell 2001, Höffe 2001, Herms 2004, Sève 2006. Zur Kritik an der »Inflationierung des Begriffs ›Menschenwürde‹ in der deutschen Bioethik«, der im angelsächsischen Bereich eine weit geringere Rolle spiele, vgl. Birnbacher 1996. Zu einem Plädoyer für die »Freiheit der Forschung« in den »Lebenswissenschaften« vgl. Markl 2001. 47 Hoerster 2002, S. 24. 48 Pinker 2008. Zur Auseinandersetzung zwischen ›Biokonservativen‹ und ›Bioliberalen‹ um Sinn und Nutzen des Würdebegriffs vgl. Kunzmann 2011. 49 Vgl. H. Prantl, Flüchtlinge als Botschafter der Menschenrechte – Das Asylrecht als Prüfstein für die EMRK. In: Leutheusser-Schnarrenberger 2013. 50 Am Beispiel des ›Schengen‹-Regimes und des am Frankfurter Flughafen praktizierten ›Flughafenverfahrens‹ zur beschleunigten Bearbeitung von Asylanträgen zeigt S. Freudenger, mit welchen juridischen Fiktionen das Asylrecht in Deutschland unterlaufen wird: Es wird mit der absurden Fiktion der ›Nichteinreise‹ der Asylbewerber operiert, indem der Transitbereich des Flughafen zu einer Zone ohne überschreitbare Grenze erklärt wird. Diese Fiktion »dient neben der Entgeographisierung der Grenze auch dazu, eine legale Möglichkeit dafür zu schaffen, dem vom Flughafenverfahren betroffenen Personenkreis das in der deutschen Verfassung verankerte Recht auf Bewegungsfreiheit vorzuenthalten« (Freudenberger 2004, S. 129 f.). »Even if one was willing to grant that – since all of the airport constitutes the border – foreigners who have not left the airport

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Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs

der Schutz vor Armut und nicht zuletzt das absolute Folterverbot; zu nennen sind die Forschung mit embryonalen Stammzellen, die Präimplantationsdiagnostik, die Sterbehilfe 51 – Probleme, die sich aus sich verändernden individuellen Autonomieansprüchen, aus einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, aus den Erfordernissen einer nachhaltigen Entwicklung52 und in vielen gesellschafts- und rechtspolitisch umkämpften Bereichen aus Fortschritten der medizinischen Forschung und aus Entwicklungen in der Medizintechnik 53 ergeben. Es gibt keinen guten Grund, die von der ›Wiener Weltkonferenz über die Menschenrechte‹ im Jahre 1993 zum Ausdruck gebrachte Sorge zu verdrängen, »daß gewisse Fortschritte, vor allem in der Biomedizin und den anderen biologischen Wissenschaften, aber auch in der Informationstechnologie, sich potentiell auf die Integrität, die Würde und die Menschenrechte des Individiuums negativ auswirken können«, sie forderte »internationale Zusammenarbeit, um zu gewährleisten, daß die Menschenrechte und die Menschenwürde in diesem für alle Menschen belangvollen Bereich voll und ganz respektiert werden«. 54 Ist nicht aus der Konjunktur der Berufung auf die ›Menschenwürde‹ auf das Bedürfnis von Menschen zu schließen, den Schutz ihrer Würde als Rechtsanspruch zu verteidigen? Gegen die mit dieser Frage verbundene Antwort argumentieren Kritiker, die sich etwa auf Friedrich Nietzsche beziehen. Mit Nietzsches Kritik am Konzept ›Menschenwürde‹ lasse sich – so S. L. Sorgner – zeigen, »dass der Begriff der Menschenwürde in der [im Grundgesetz] grounds have not crossed the border into Germany, one would think that leaving the airport would constitute an entry. But it does not. If, for example, a refugee is taken to hospital treatment in the city of Frankfurt, the fiction of non-entry still applies. The refugees from the airport procedure have not legally entered the country as long as they are under control of the border police. So, and this is the decisive point, as long as such a refugee is guarded by a border police officer, he is not in the country whereever he is.« (Ebd., S. 126). Vgl. dagegen die problematische Entscheidung des BVerfGE vom 14. 5. 1996, in dem das Flughafenverfahren gebilligt wird: »Die Entscheidung des Gesetzgebers, ein besonderes Verfahren für bestimmte Gruppen von auf dem Luftwege eintreffenden Asylsuchenden zu schaffen, hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG stand.« (BVerfGE 94, 166 (113)). 51 Vgl. Schöne-Seifert 2010. 52 Vgl. Lange 2010. 53 Vgl. Joerden/Hilgendorf/Petrillo/Thiele 2011. 54 Dok. Nr. A I CONF.157123 v. 12. Juli 1993. In: Gleiche Menschenrechte für alle. Dokumente zur Menschenrechtsweltkonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993, hg. v. der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1994, S. 18.

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

gegebenen Form stark an Plausibilität eingebüßt hat. Zwei mögliche Konsequenzen werden durch diese Position nahegelegt: 1. Der Begriff der Menschenwürde muss revidiert werden. Die Revisionsbedürftigkeit betrifft speziell die Merkmale der nicht graduierbaren Eigenschaft X und der Sonderstellung des Menschen. Hinsichtlich des Grundgesetzes bedeutet dies, dass nicht mehr alleine der Mensch als Träger der Würde angesehen werden sollte und alle anderen Wesen und Dinge als Sachen, d. h., die kategoriale Unterscheidung zwischen Menschen und Nichtmenschen sollte zu einer graduellen werden. Dies legt nahe, dass auch der Würdebegriff zu einem hierarchisierbaren wird, sodass möglicherweise, wie in der Verfassung der Schweiz, von der Würde der Kreatur gesprochen werden kann; 2. Gegen Konsequenz (1) spricht jedoch, dass beim Wort ›Menschenwürde‹ humanistische und christliche Konnotationen mitschwingen, die problematische Implikationen beinhalten, weshalb es näherliegen mag, nicht mehr am Wort ›Menschenwürde‹ festzuhalten. Stattdessen könnte man direkt und ausschließlich weniger metaphysisch aufgeladene Normen heranziehen, wie die negative Freiheit und die Gleichheit.« 55 Wer so dafür plädiert, das Würdekonzept zu relativieren oder ganz auf es zu verzichten 56, trägt – ob mit oder ohne Absicht – zur ›Deregulierung‹, d. h. zur Entrechtlichung der Ansprüche auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und dazu bei, sie aus dem öffentlichen Raum der demokratischen Rechtsordnung in die Sphäre privater (akademischer) Meinungen zu verbannen. 57 Die Folge ist, dass Sorgner 2010, S. 265. »Offenbar können wir jede Verletzung der Menschenwürde genauso gut, ja sogar noch weit besser, als eine Verletzung eines Menschenrechts beschreiben. Wenn dem so ist, dann wird aber der Verweis auf die Würde des Menschen nicht nur inhaltsleer, sondern geradezu überflüssig. Wozu sollen wir beispielsweise eine Geiselnahme als Würdeverletzung bezeichnen, wenn wir sie viel präziser als eine Beeinträchtigung des Rechts auf persönliche Freiheit fassen können? Und warum sollen wir eine Vergewaltigung als Würdeverletzung bezeichnen, wenn wir sie viel konkreter als eine Beschädigung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit brandmarken können? Kurzum: Solange sich keine Verletzung der Menschenwürde findet, die nicht zugleich auch einen Verstoß gegen ein Menschenrecht darstellt, ist der Begriff der Menschenwürde schlicht und einfach redundant.« (Edgar Dahl in SPIEGEL ONLINE, 17. April 2010, http://www. spiegel.de/wissenschaft/mensch/ethik-debatte-die-wuerde-des-menschen-ist-antastbar -a-685376.html). Zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Verzichtbarkeitsthese und zu einem Versuch, sie vor Missverständnissen in Schutz zu nehmen, vgl. Borchers 2007. 57 »Ausgehend von der modernen Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem, ist 55 56

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Kritik am ›inflationären Gebrauch‹ und an der ›Vagheit‹ des Würdebegriffs

die Würdenorm innerhalb und jenseits der Rechtsordnung nicht mehr als absolut anerkannt wird. 58 Zum Verständniss der Menschenwürde gibt es deshalb Konflikte, weil sie und die mit ihr verbundenen Rechtsnormen weder eine ›vom Sein selbst‹ gegebene noch durch eine universell akzeptierte Moral bzw. Ethik gesicherte Stabilitätsgarantie haben. Akzeptanzbehauptungen und Deutungen sind – wie alle epistemischen Akte – abhängig von Voraussetzungen, etwa von Begriffsschemata und Theorierahmen, von Menschenbildern 59 und Weltbildern, von Ethiken und moralischen Präferenzen und nicht zuletzt von sich wandelnden realen gesellschaftlichen Verhältnissen. Ethik gibt es immer nur als eine Ethik, Moral immer nur als eine Moral, nicht aber universell. Die einzige Moral, die dieser Partikularität nicht unterliegt, ist das universelle Recht der Menschenrechte als de jure und de facto unversalisierte Moral. 60 Dass Verständnisse der Menschenwürde moralischen Intuitionen und Ansprüchen entspringen, ist nicht zu bezweifeln. Sobald aber die Menschenwürde als das »Portal« verstanden wird, »durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird« 61, ist der Streit über die Frage, worin dieser ›Gehalt der Moral‹ besteht, schon programmiert. Aus guten Gründen wendet deshalb Volker Schürmann gegen Habermas’ Idee des Imports von Moral ins Recht ein: Seit »aus einer moralischen Verknüpfung« von Menschenwürde und Menschenrechten durch die ›Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‹ und nachfolgende völkerrechtlich verbindliche Pakte und […] die Frage nach der angeborenen Menschenwürde in die Privatsphäre zu verlegen.« So F. J. Wetz in einem Interview in: Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart, Jg. 9 (2008), H. 3. 58 So behauptet z. B. Teifke 2011, S. V, gestützt auf R. Alexys ›Prinzipientheorie‹ (vgl. ebd., S. 109 ff.), einen »Doppelcharakter der Menschenwürde«, der sich »in der Relativität der Menschenwürde als Rechtsbegriff und der Absolutheit der Menschenwürde als Rechtsidee« spiegele. 59 Vgl. Benda 1983, S. 113. 60 Vgl. dagegen Tiedemann 2010, S. 214 f.: »Wenn Menschenwürde ein Prinzip bezeichnet, an Hand dessen staatliche Rechtsordnungen moralisch beurteilt werden können, kann es sich nicht selbst um ein rechtliches Prinzip handeln. Es muss deshalb als ein außerrechtliches Prinzip verstanden werden, dessen Geltung nicht davon abhängt, ob eine gegebene Rechtsordnung sich zu diesem Prinzip bekennt oder nicht, und ob die Menschenwürde zum Inhalt eines staatlichen Gesetzes gemacht wird oder nicht. Menschenwürde ist also kein originär juridischer Terminus, sondern ein Begriff, der seinen originären Sitz in der Ethik hat.« Aber in welcher Ethik? 61 Habermas 2010, S. 347.

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

Konventionen der Vereinten Nationen »eine rechtsverbindliche, d. h. im Prinzip einklagbare, Verknüpfung geworden ist, ist ›Menschenwürde‹ keine moralische Fundierung der Menschenrechte mehr, sondern im Gegenteil eine moralische Neutralisierung von Menschenwürde. Dies ist eine Neutralisierung im doppelten Sinn. Zum einen werden die nunmehr als unantastbar geltenden Individualmoralen ihrerseits unter (menschen-)rechtlichen Schutz gestellt; zum anderen gelten die deklarierten Menschenrechte nunmehr als Verletzungstatbestände ganz unabhängig davon, ob die Moralen der Individuen Verstöße gegen die Menschenrechte ebenfalls als Würdeverletzungen beurteilen. […] Die kategorische, fraglose Geltung der Menschenrechte wird in der politischen Moderne nicht (mehr) an die Berufung auf eine universale Menschenmoral gebunden. Ganz im Gegenteil ist dieser Begründungsweg nun abgeschnitten zugunsten der gemeinsam geteilten und deklarierten Normierung dessen, was uns als Verletzungen von Würde gilt.« 62 Es sind diese guten Gründe, aus denen sich die Notwendigkeit ergibt, die Würdenorm im Recht sowohl von privaten Präferenzen und partikulären Gruppeninteressen als auch vom Import von Moral – die es immer nur als eine bestimmte Moral gibt – freizuhalten. Der Streit darüber, ob der Würdebegriff gehaltvoll oder bedeutungsleer ist, wird oft so geführt, als ginge es darum, ob es Menschenwürde ›gibt‹ oder ›nicht gibt‹. Genau darum aber geht es nicht. ›Menschenwürde‹ ist die Zuschreibung einer Bedeutung, eines Zeichens aus praktischen Gründen: Alle Menschen sind Träger der Auszeichnung, einen unter keinen Vorbehalt zu stellenden Anspruch darauf zu haben, als im Menschsein Gleiche vor Verletzung geschützt zu sein. ›Würde des Menschen‹ bezeichnet ein zu Achtendes und zu Schützendes, aber kein Gegebenes, dessen Existenz als ›objektive reale Entität‹ ontologisch definiert 63 oder empirisch gerechtfertigt werden könnte. Zur Bestimmung des Status dieses Begriffs bietet sich ein anderer Weg an. Schürmann 2011, S. 35. Vgl. dagegen Zúñiga 2003, S. 190: »Der Begriff der Würde gehört nicht zur Ethik, sondern zur Metaphysik, speziell zur Ontologie der Person«. Vgl. auch Dürig in Maunz/Dürig, GG-K, Art. 1 Abs. 1, Rn. 17 f.: »Die normative Aussage des objektiven Verfassungsrechts, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, beinhaltet eine Wertaussage, der ihrerseits aber eine Aussage über eine Seinsgegebenheit zugrundeliegt. Diese Seinsgegebenheit ›Menschenwürde‹, die unabhängig von Zeit und Raum ›ist‹ und rechtlich verwirklicht werden ›soll‹, besteht in folgendem: Jeder Mensch ist Mensch

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Menschenwürde als Postulat der praktischen Vernunft

2.3 Menschenwürde als Postulat der praktischen Vernunft Diesen Weg zur Bestimmung des theoretischen Status und der praktischen Funktion des Würdebegriffs eröffnet Kants pragmatische Strategie: Theoretische Ideen, die – wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – nicht zur Welt der Erfahrung gehören, können nicht empirisch gerechtfertigt werden, aber sie können im Rahmen einer Philosophie des Als-ob 64 zu praktischen Zwecken funktional als Postulate der praktischen Vernunft bestimmt werden 65: »Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar nicht das speculative Erkenntniß, geben aber den Ideen der speculativen Vernunft im Allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objective Realität und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte.« 66 Die Funktion von Postulaten wie dem der Freiheit besteht darin, »die Bedingung des moralischen Gesetzes« zu sein, »dessen Realität ein Axiom ist«. Freiheit ist die Voraussetzung dafür, die »Realität der Idee von Gott« zu ›beweisen‹, freilich »nur in praktischer Absicht, d. i. so zu handeln, als ob ein Gott sei«. 67 Moralisches Handeln in der Menschenwelt setzt das ›Als-ob‹ einer anderen Welt voraus: »Die Ideen von Gott und Zukunft bekommen durch moralische Gründe nicht objectiv theoretische sondern blos praktische Realität so zu handeln als ob eine andere Welt wäre«. 68 kraft seines Geistes,der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten«. 64 Zum Status und zur Funktion des ›Als-ob‹ vgl. Kants Kritik der reinen Vernunft, B 699–730. 65 Diese Möglichkeit räumt Kant trotz seines Vetos gegen ›transzendentale Hypothesen‹ als Ersatz empirischer Erklärungen im Bereich der theoretischen Vernunft ein: »Transscendentale Hypothesen des speculativen Gebrauchs der Vernunft und eine Freiheit, zur Ersetzung des Mangels an physischen Erklärungsgründen sich allenfalls hyperphysischer zu bedienen, kann gar nicht gestattet werden, theils weil die Vernunft dadurch gar nicht weiter gebracht wird, sondern vielmehr den ganzen Fortgang ihres Gebrauchs abschneidet, theils weil diese Licenz sie zuletzt um alle Früchte der Bearbeitung ihres eigenthümlichen Bodens, nämlich der Erfahrung, bringen müßte.« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 801). 66 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 132. 67 Kant, Logik (1800), AA IX, S. 93; vgl. AA XVI, S. 541. 68 Kant, Aus dem Nachlaß – Phase w1, w2: ca.1791–1795, AA XX, S. 341.

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Kontroversen über den Begriff ›Menschenwürde‹

Die transzendentale Fiktion des ›Als-ob‹ spielt bei Kant nicht zuletzt in rechtstheoretischer Hinsicht eine wichtige Rolle. Sie hat eine methodisch unverzichtbare Funktion in der Strategie der Begründung dafür, dass das Recht im Interesse allgemeiner Freiheit mit der Befugnis verbunden ist, die Normenbefolgung durch – dem Recht verpflichteten – Zwang durchzusetzen: »Die bürgerliche Gesetzgebung hat zu ihrem wesentlichen obersten Princip das natürliche Recht der Menschen, welches im statu naturali (vor der bürgerlichen Verbindung) eine bloße Idee ist, zu realisiren, d. i. unter allgemeine, mit angemessenem Zwange begleitete, öffentliche Vorschriften zu bringen, denen gemäß jedem sein Recht gesichert, oder verschafft werden kann[n].« 69 Um die Möglichkeit der Verwirklichung der Menschenrechte durch zwingendes Recht denken zu können, bedarf es der Voraussetzung, »als ob einer sie für alle und alle für einen jeden einzelnen freywillig beschlossen hätten«. 70 Was Kant hier zur Begründung einsetzt, ist die transzendentale Fiktion – das ›Als-ob‹ – eines ursprünglichen Gesellschaftsvertrags: »Hier ist nun ein ursprünglicher Contract, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. – Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Coalition jedes besondern und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keinesweges als ein Factum vorauszusetzen nöthig (ja als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet und eine sichere Nachricht oder ein Instrument davon uns mündlich oder schriftlich hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben Kant, An Heinrich Jung-Stilling, nach dem 1. März 1789, AA XI, S. 10. Kant, AA XI, S. 10; Hervorh. v. mir. Kant, AA VI, S. 231. Ebd. Vgl. AA XXIII, S. 136: »das Recht ist eigentlich die Befugnis zu zwingen so fern sie aus dem Begriffe der Freyheit von Jedermann hervorgeht«; vgl. AA XXIII, S. 495.

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Menschenwürde als Postulat der praktischen Vernunft

entspringen können, und jeden Unterthan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe.« 71 Der begriffliche Als-ob-Status und die durch ihn ermöglichte praktische normative Funktion des Konzepts der Menschenwürde sind der von Kritikern nicht reflektierte Grund für die Klage über dessen vermeintliche ›Vagheit‹ und ›Leere‹. Kants Weg gehen auch diejenigen nicht mit, die glauben, der Würdebegriff könne ohne metaphysische und naturrechtliche Grundlegung weder verstanden werden noch Geltung beanspruchen.

Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), AA VIII, S. 297.

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Teil II Paradigmata in der Geschichte des Würdebegriffs

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Paradigmata in der Geschichte des Würdebegriffs

Um den Versuch zu einer erschöpfenden Geschichte der Idee der Menschenwürde soll es im Folgenden nicht gehen. Genannt werden paradigmatische Beispiele in Antike, Renaissance und Neuzeit. Die Frage, um die es hier gehen soll, lautet nicht, an was selbst dann erinnert werden kann, wenn von Menschenwürde noch gar keine Rede ist. Das folgende Beispiel ist kein nachahmenswertes Muster: »Wenn […] anerkannt ist, daß es für jeden Menschen in der Menschheitsfamilie eine ›ihm innewohnende Würde‹, eine ›angeborene, unantastbare Menschenwürde‹ gibt, aus der alle Menschenrechte fließen, die also als ein generelles anthropologisches und damit auch ontologisches Merkmal des Menschseins überhaupt gelten kann, dann ist sie auch bei den Menschen Homers der Sache nach, nicht dem Begriff nach unmittelbar vorauszusetzen, sie muß auch für die homerische Zeit an den Handlungen der Menschen und ihrem Verhalten bei schicksalhaftem Geschehen in ihrer jeweiligen Zustandsqualität ablesbar sein, wenn sie etwa in besonderer Weise positiv verwirklicht oder negativ verletzt erscheint.«1 Auch die folgende These führt eher in die Irre als zu angemessener historischer Rekonstruktion: »[T]he idea that the law must accommodate human dignity is by no means novel. On the contrary, theories of human dignity have their origins in antiquity.« 2 Zu Begründungen einer normativen Transformation der Idee der Menschenwürde in Recht kommt es erst in der Neuzeit und zur verfassungsrechtlichen Verwirklichung der Würdenorm erst im 20. Jahrhundert. Es soll hier vielmehr um die Frage gehen, an was in welcher Perspektive erinnert werden sollte. Das die Auswahl an Erinnernswertem leitende Kriterium ist, in welchem Maße ein historisches Paradigma für das Verstehen des modernen Verfassungsbegriffs der unantastbaren, zu achtenden und zu schützenden Menschenwürde wegweisend ist. Deshalb wird es nicht um ›ausgewogene‹ Narration gehen, in der auf antike und mittelalterliche – Ungleichheit legitimierende bzw. zumindest nicht ausschließende – Würdebegriffe die gleiche Aufmerksamkeit zu richten wäre wie auf Konzepte seit der Renaissance und der modernen Aufklärung, die in der Perspektive von Art. 1 Abs. 1 GG von weit größerer Bedeutung sind, weil sie zum Verständnis von Gleichheit, Freiheit und Selbstherrschaft aller Menschen beigetragen haben. Und zu berücksichtigen sind Gegenpositionen, wie sie zeitgleich 1 2

Dietz 2000, S. 172. Cancik 2002, S. 74.

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Paradigmata in der Geschichte des Würdebegriffs

etwa in der Reformation gegen die emanzipatorische Idee menschlicher Autonomie und Würde entwickelt wurden. Von den Dogmen der Erbsünde, des Elends (›miseria‹) der irdischen Welt, aus dem sich der Mensch nicht durch eigene Aktivität befreien könne, und seiner Rechtfertigung allein durch göttliche Gnade und den Glauben führt kein Weg zu Art. 1 Abs. 1 GG.

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1. Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

1.1 Cicero: Tugend, Rang und Würde ›Würde‹ war in der Antike noch nicht bedeutungsgleich mit der im Mittelalter konzipierten ›dignitas hominis‹, und zwar auch dann nicht, wenn von ›dignitas‹ die Rede war, denn es ging um ›dignatio‹, d. h. um Würde-Zuschreibung aufgrund von Rang und Tugendhaftigkeit: »digna¯tio, o¯nis, f. (dignor), I) aktiv, die Würdigung, Anerkennung des Wertes (Verdienstes) einer Person, die Auszeichnung, Achtung, Gnade, die man jmdm. zollt […]. – II) passiv, die durch Verdienst erregte hohe Meinung, persönliche Achtung, – Hochachtung, Ehre, Gnade, Gunst, die man bei od. von andern genießt, der Rang, die Stellung, die man einnimmt«. 1 ›Würde‹ war weder in der griechischen noch in der römischen Antike 2 eine »Wesensbestimmung, die allem, was Menschenantlitz trägt, von Geburt an zukommt, sondern eine Errungenschaft, die sich einige wenige durch persönliche Anstrengung erwarben. Infolge sittenwidrigen Verhaltens und fehlender gesellschaftlicher Anerkennung konnten diese ihren moralischen Adel aber auch wieder verlieren, was jedoch – wenigstens theoretisch – nicht die Möglichkeit ausschloß, ihn bei nächster Gelegenheit und entsprechender Lebensführung von neuem zu gewinnen.« 3 Selbst wenn mit dignitas die Idee verbunden war, der sich selbst reflektierende Mensch könne sich »seine innere Freiheit zur Affektkontrolle als kosmologisch begründete Pflicht zu Bewusstsein bringen«, wurde der »Schluss auf einen daraus resultierenden Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover 1913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Bd. 1, Sp. 2156. Zu ›dignitas‹ vgl. W. Dürig 1957, Pöschl 1989 und 1992, Wetz 1998a, S. 16–28, Grossmann 2005. 2 Zu ›Würde im antiken Rom‹ vgl. Pöschl 1992, S. 637–645. 3 Wetz 1998a, S. 18. 1 8

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

Rechtsanspruch aller Menschen zur äußeren Handlungsfreiheit […] nicht gezogen. Folglich vertrug sich die stoische Idee von der gleichen Würdestellung des Menschen im Kosmos grundsätzlich mit der gesellschaftlichen Institution der Sklaverei.« 4 Von herausragender Bedeutung für die Konzeptualisierung von ›dignitas‹ war die griechische Stoa, unter deren Einfluss der römische Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) diesem Prinzip, das er in der athenischen Demokratie vermisste 5, eine neue Form gab. War ›dignitas‹ traditionell ein Funktionsbegriff, der den gesellschaftlichen Rang einer Person bezeichnete, so gab Cicero der erstmals bei ihm so bezeichneten ›dignitas hominis‹ in seiner Schrift De officiis (Über die Pflichten) aus dem Jahre 44 v. Chr. die Bedeutung des Vorrangs des vernunftbegabten Menschen vor allen anderen Lebewesen: Die Vernunft (ratio) verleiht dem Menschen die Fähigkeit zu freier sittlicher Entscheidung; sie ist das Göttliche im Menschen, sie lässt ihm ›dignitas‹ zukommen, wenn er ihre Gebote befolgt. ›Dignitas‹ beruht vor allem auf den Prinzipien, sich – befreit von Leidenschaften – gemäß der Ordnung des Komos von seiner Vernunft leiten zu lassen und sittlich gut zu handeln. Fähig zu Selbstreflexion und zur Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Leben, kann der Mensch in Freiheit leben. Dies begründet seine ›excellentia‹, seine erhabene, ihn von der animalischen Natur unterscheidende Stellung: »Es gehört zu jeder Untersuchung des pflichtgemäßen Handelns, immer vor Augen zu haben, wie sehr die Natur des Menschen das Vieh und die übrigen Tiere übertrifft; jene empfinden nichts als Vergnügen, und auf dieses stürzen sie sich mit aller Kraft. Der Geist des Menschen aber wächst durchs Lernen und Denken, er erforscht immer irgendetwas, handelt oder lässt sich durch die Freude am Sehen und Hören leiten. […] Daraus ersieht man, dass körperliches Vergnügen der erhabenen Stellung des Menschen nicht genug würdig ist und verschmäht und zurückgewiesen werden muss; wenn es aber einen gibt, der dem Vergnügen einigen Wert beilegt, so muss der sorgsam ein Maß des Genießens einhalten. […] Wenn wir bedenken wollen, eine wie überlegene Stellung und Würde in unserem Wesen liegt, dann werden wir einsehen, wie schändlich es ist, in Genusssucht verzärtelt und weichlich

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Baranzke 2011, S. 198. Cicero, De re publica 1, 43.

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Cicero: Tugend, Rang und Würde

sich treiben zu lassen, und wie ehrenhaft anderseits, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern zu leben.« 6 Als Ciceros De officiis 1488 erstmals ins Deutsche übersetzt wurde, wurde ›dignitas‹ mit ›Wyrde‹ wiedergegeben. 7 Cicero entwickelte den dignitas-Begriff in einer Zeit von Unruhen und Kämpfen um die Herrschaft in Rom, wie er im Jahre 55 v. Chr. in De oratore (Über den Redner) schrieb: »Wenn ich […] die alten Zeiten überdenke und mir vergegenwärtige, so pflegen mir die Männer sehr glücklich zu erscheinen, welchen bei der besten Verfassung des Staates im Genuss hoher Ehrenämter und eines großen Tatenruhmes einen solchen Lebenslauf zu behaupten erlaubt war, dass sie entweder ihren Ämtern ohne Gefahr obliegen oder in ihrer Zurückgezogenheit von den Staatsgeschäften mit Würde leben konnten. Auch ich hatte gehofft, es würde mir einst mit Fug und Recht und nach dem Urteil fast aller eine Zeit, in der ich wieder Ruhe finden und mich in den Schoß der herrlichen Wissenschaften […] zurückziehen könnte, gegönnt werden, wenn die unendliche Arbeit der gerichtlichen Verhandlungen und die Bewerbung um Staatsämter mit dem Ablauf der Ehrenstellen zugleich auch mit der Neige des Alters das Ziel erreicht hätte. Doch diese Hoffnung meiner Gedanken und Pläne wurde teils durch die unglücklichen Zeitverhältnisse des Staates, teils durch mannigfache eigene Unfälle vereitelt. Denn in der Zeit, welche mir die vollste Ruhe und Zufriedenheit zu versprechen schien, türmte sich eine gewaltige Wucht von Widerwärtigkeiten auf, und die wildesten Stürme erhoben sich, und nicht wurde mir der so sehr gewünschte und erstrebte Genuss der Muße zuteil, um die Wissenschaften, denen wir von Kindheit an ergeben waren, zu betreiben und unter uns zu pflegen. Denn mein erstes Lebensalter fiel gerade in den Umsturz der alten Verfassung; und mein Konsulat führte mich mitten in den Kampf und die Gefahr des ganzen Staates, und die ganze Zeit nach dem Konsulat habe ich den Fluten

6 Cicero, De Officiis I, 105 f. Vgl. 106: »Ex quo intellegitur corporis voluptatem non satis esse dignam hominis praestantia eamque contemni et reici oportere, sin sit quispiam, qui aliquid tribuat voluptati, diligenter ei tenendum esse eius fruendae modum. Itaque victus cultusque corporis ad valitudinem referatur et ad vires, non ad voluptatem. Atque etiam, si considerare volumus, quae sit in natura excellentia et dignitas, intellegemus, quam sit turpe diffluere luxuria et delicate ac molliter vivere, quamque honestum parce, continenter, severe, sobrie.« 7 Vgl. Cancik 2002, S. 28.

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

entgegenstellen müssen, die, durch mich von der Vernichtung des Staates abgewehrt, gegen mich selbst zurückströmen sollten.« 8 Der Würdebegriff, den Cicero im Rahmen seiner Tugend- und Pflichtenlehre und nicht in einer Rechtslehre entwickelte, bezeichnet das, was es aufgrund der Teilhabe an der Vernunft »in der [menschlichen] Natur an Auszeichnung/Vorzüglichkeit und Würde gibt (quae sit in natura excellentia et dignitas)«. 9 ›Dignitas‹ gehört zum Wortfeld von ›honor‹ (Ehre), ›gratia‹ (Gnade), ›gloria‹ (Ruhm), auch von ›imperium‹ (Macht), und nicht zuletzt – entsprechend der griechischen ›theoria‹ – von ›otium‹ (Muße). Zwar gilt, »daß wir alle teilhaben an der Vernunft« 10, weshalb jeder, »wer er auch sei, eben aus dem Grunde, weil dieser ein Mensch ist« 11, einen Anspruch auf Achtung hat. Damit ist jedoch die Annahme einer Gleichheit aller Menschen als Würdeträger nicht verbunden. Im menschlichen Handeln gibt es keine Garantie für Vernunft; man kann gegen ihre Gebote verstoßen. Tugend wird belohnt, das Laster wird bestraft. In De oratore betont Cicero, »dass man die sittliche Würde vor allem erstreben müsse, weil ja die Tugend und die ehrenwerte Tätigkeit durch Ehren und Belohnungen geschmückt wird, andererseits, dass die Laster und Verbrechen der Menschen mit Geldbußen, Beschimpfungen, Kerker, Schlägen, Verbannung, Tod bestraft werden, und wir lernen nicht aus endlosen und mit Wortkämpfen angefüllten Streitschriften, sondern durch das Ansehen und den Wink der Gesetze unsere Sinnlichkeit bezähmen, alle Begierden zügeln, das Unsrige bewahren, von fremdem Gut Sinn, Augen und Hände fernhalten.« 12 Deshalb müsse man »sehen, daß wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen ausgestattet sind, die eine davon ist eine gemeinsame, weil wir alle teilhaftig sind der Vernunft und der Verehrung, durch die wir uns auszeichnen vor den Tieren, von der alles Ehrenhafte und Schickliche abgeleitet und von der aus der Weg zur Auffindung des pflichtgemäßen Handelns gesucht wird, die andere aber ist eine, die in besonderem Sinne den einzelnen zugeteilt ist.« 13 Auf der ungleichen Cicero, De oratore 1, 1–3. Cicero, De officiis 1, 106. 10 Ebd., 107. 11 Cicero, De oratore 3, 27. 12 Ebd., 1, 194. 13 »Intellegendum etiam est duabus quasi nos a natura indutos esse personis; quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius, qua 8 9

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Cicero: Tugend, Rang und Würde

Zuteilung der Würde besteht Cicero auch in De re publica (Der Staat) 14; er betont, wenn alles das »auch noch so gerechte und maßvolle Volk bestimmt, kommt gerade eine ungerechte Gleichheit dadurch zustande, daß diese keinerlei Abstufungen an Würde kennt«. 15 Auch »die Gleichmäßigkeit des Rechtes, die die freien Völker leidenschaftlich beanspruchen, kann nicht gewahrt werden – denn (sie) übertragen doch vielen viele Dinge vorzugsweise, und es herrscht unter ihnen selber eine große Auswahl von Menschen und Würden.« 16 Mit ›Rom‹ verbindet sich nicht Gleichheit der Würde: »›Würde‹ (›dignitas‹) ist in Rom zunächst ein politischer Begriff. Zugehörigkeit zur Nobilität, amtliche Funktion, Verdienste um das Gemeinwesen, aber auch Würde des Auftretens, der Ausdrucksweise, der Lebensführung sind wesentliche Elemente der römischen dignitas. Der Glanz, den sie hat, gehört zu den Eigentümlichkeiten der Lebensordnung Roms.« 17 Zu dieser Lebensordnung gehörte das römische Recht, in dem nur der ›pater familias‹ (das Familienoberhaupt) Person und Rechtssubjekt war, nicht aber Frauen, Kinder und Sklaven. 18 ›Dignitas‹ kam aber Perantecellimus bestiis, a qua omne honestum decorumque trahitur et ex qua ratio inveniendi officii exquiritur, altera autem quae proprie singulis est tributa.« Ebd., 107. Die deutscheDeutsche Übersetzung: in Cicero 1995, S. 95. 14 Vgl. Cicero 1964 und 2007. 15 Cicero, De re publica I, 43: »Sed et in regnis nimis expertes sunt ceteri communis iuris et consilii, et in optimatium dominatu vix particeps libertatis potest esse multitudo, cum omni consilio communi ac potestate careat, et cum omnia per populum geruntur quamvis iustum atque moderatum, tamen ipsa aequabilitas est iniqua, cum habet nullos gradus dignitatis.« 16 Ebd., 34 (53). 17 Pöschl 1992, S. 637. 18 Hinsichtlich der Sklaverei stellt Seneca eine Ausnahme dar, für den ›Sklave‹ und ›Freier‹ nur Namen sind, die aus Ungerechtigkeit stammen: »Quid est enim eques Romanus aut libertinus aut servus? nomina ex ambitione aut iniuria nata.« (Seneca, Epistulae morales 31, 11) »Ich will mich nicht auf ein unerschöpfliches Thema einlassen und die Behandlung der Sklaven diskutieren, denen gegenüber wir so arrogant, grausam und herablassend sind. Doch kurz zusammengefasst lautet meine Lehre folgendermaßen: Du sollst mit deinem Untergebenen so leben, wie du wünschst, dass dein Vorgesetzter mit dir lebe. […] Sei gütig und höflich zu deinem Sklaven, beziehe ihn in die Unterhaltung ein, gib ihm Zutritt zu deinen Besprechungen und Gelagen. […] Einige mögen deine Tischgenossen sein, weil sie dessen würdig sind, doch andere sollten es noch werden. Denn sofern sie aufgrund ihres rohen Umgangs noch das Verhalten von Sklaven zeigen, wird das Tischgespräch mit Gebildeteren sie dieses Verhalten ablegen lassen. Es stimmt nicht, lieber Lucilius, dass du nach einem Freund bloß auf dem Forum oder in der Kurie suchen kannst; wenn du sorgfältig und aufmerksam bist, wirst du ihn auch in

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

sonen nicht zufällig und willkürlich zu. Was vornehme Römer an politischem und sozialem Einfluss hatten und vererben konnten, musste nach öffentlicher Meinung ›würdig‹ sein. Sie mussten ihre Pflichten im Sinne des Gemeinwohls – der maiestas imperii/rei publicae – erfüllen. Wie Cicero in De oratore betonte, beruhte Würde auf Tugend, Weisheit und Leistung für das Gemeinwesen: »Auf der weisen Mäßigung des vollkommenen Redners beruht vorzüglich nicht allein seine eigene Würde, sondern auch die Wohlfahrt der meisten einzelnen und des ganzen Staates.« 19 Derjenige, dem Würde zukam, musste »moralisch einwandfrei sein […] Ein eindrucksvolles Zeugnis hierfür ist der berühmte Satz des Scipio Aemilianus (185?–129 v. Chr.): ›Aus Untadligkeit erwächst Würde, aus Würde eine Ehrenstellung; aus der Ehrenstellung die imperiale Gewalt, aus der imperialen Gewalt Freiheit‹.« 20

1.2 Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde Zwei Prinzipien der Würdevorstellung der ciceronischen Stoa wurden in das Christentum des Mittelalters 21 überführt: Die Menschen sind zu Würde fähig, und sie übertreffen in ihrer Würde alle anderen Lebewesen. Ihre ›excellentia‹ ergibt sich aber nun aus ihrer Gottesebenbildlichkeit 22 (imago Dei) und aus der von Sünde erlösenden Menschwerdung Christi. Dass sie aus Vernunft ihres Glückes Schmied seien, blieb auf der Strecke. »Von der Stoa ab hat sich […] die Würde vom Glück auf lange abgesetzt, mit dem Schritt abgesetzt, der zum Kampf gehört. Nicht ohne daß Wärme immer wieder, gerade stoisch ins Herbe einströmte, doch auch dann galt der erhobene Kopf letzthin. Und so nur wurde das Ungebeugte, Aufgerichtete, das im Naturrechtlichen von Anfang an darin war, auch unverwechselt sichtbar.« 23 deinem Haus finden.« (Ebd., 47, 11 ff.) »Platon sagt, es gebe keinen König, der nicht von Sklaven, und keinen Sklaven, der nicht von Königen abstamme. Der Wechsel der Zeit hat all dies durcheinander geworfen und das Schicksal hat alles mehrfach umgekehrt. […] Der Verstand verleiht den vornehmen Rang, und er kann sich aus jeder Lebenslage über das Schicksal erheben.« (Ebd., 44, 4 f.). 19 Cicero, De oratore 1, 34. 20 Pöschl 1989, S. 23. 21 Zu ›dignitas‹ in der mittelalterlichen Theologie vgl. Kondylis 1992, S. 645–651. 22 Vgl. hierzu Groß/Ernst et al. 1995; Kruhöffer 1999; Goffi 2004, S. 45 f., Graf 2009, S. 88 ff.; Schneider-Flume 2010, S. 43–51. 23 Bloch 1961, S. 25.

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Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde

Die ›wahre Würde‹ des Menschen ist seit dem frühchristlichen Verständnis in Gott; sie ist ein Spiegel der transzendenten göttlichen Natur; sie ist »nicht von dieser Welt, weder erwerbbarer Ruhmestitel noch ererbbarer Adelstitel. Christlich gesehen ist sie eine Auszeichnung, die sich der Mensch nicht selbst geben kann, sondern von Gott empfängt, ein Gnadenerweis und Geschenk. In diesem Sinne sind auch die Worte des Theophilos von Antiochien zu verstehen: ›Als erstes deutet [Gott] die Würde des Menschen an […], denn nur die Erschaffung des Menschen hält er für würdig, ein Werk seiner eigenen Hände zu sein.‹ Damit stimmt Gregor von Nyssa überein, dem zufolge die zur Herrschaft über die Welt bestimmte Menschenseele aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit und Unsterblichkeit königliche Würde besitzt: ›Die Seele zeigt ihr von der gemeinen Niedrigkeit geschiedenes königliches und erhabenes Wesen schon darin, daß sie unabhängig und selbständig ist, nach eigenen Entschlüssen selbstmächtig waltend. Wem sonst ist dies eigen wenn nicht einem König? […] So ward die menschliche Natur, als sie zur Herrschaft über alles andere ausgestattet wurde, durch ihre Ähnlichkeit mit dem König des Alls als lebendiges Bild aufgestellt, das mit dem Urbild sowohl die Würde wie den Namen gemein hat. Zwar trägt sie keinen Purpur und deutet nicht durch Szepter und Diadem ihre Würde an – auch das Urbild hat das ja nicht – doch statt des Purpurs ist sie mit der Tugend bekleidet, was wohl von allen Gewändern das königlichste ist. Statt des Zepters stützt sie sich auf die Seligkeiten der Unsterblichkeit, statt des königlichen Diadems ist sie mit der Krone der Gerechtigkeit geschmückt. So zeigt sie sich durchaus in der Würde des Königtums als getreue Nachbildung der urbildlichen Schönheit.‹« 24 Die christliche Idee der Würde aufgrund der Gottesebenbildlichkeit des Menschen war in religionsgeschichtlicher Sicht nicht neu: »In der ägyptischen Literatur tritt seit 1630 v. Chr. neben den älteren Titel ›Sohn des Re‹ die Bezeichnung ›Abbild des Sonnengottes Re‹ als modernere Definition für den König. Dabei bezieht sich die Gottebenbildlichkeit des Königs sowohl auf die göttlichen Taten wie auf die äußere Erscheinung des Königs. Die Rede vom Menschen als Bild Gottes ist also keine Neuschöpfung des Alten Testamentes, sondern sie greift auf Wissen aus der altorientalischen Religionsgeschichte zurück. Neu ist

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Wetz 1998, S. 22 f.

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

allerdings die Demokratisierung dieser Rede durch die Übertragung auf alle menschlichen Geschöpfe.« 25 Die Idee der Gottesebenbildlichkeit wurde zurückgeführt auf Psalmen des Alten Testaments, auf das Buch Genesis und auf Aussagen im Neuen Testament. Psalm 8,6–7 lautet: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt«. In 1. Mose 1, 26–28, ist zu lesen: »Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.« 26 Im Neuen Testament erscheint der Begriff der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Analogie zu Christus: Der 2. Korintherbrief spricht »von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes« (ˆ@ ¥stin e§kn to‰ qeo‰) 27; im Kolosserbrief ist Christus »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes«. 28 Die mit dieser Idee der Gottesebenbildlichkeit verbundene Würde ist keine Leistung des Menschen, der – mit Würde aus natürlicher Vernunft ausgestattet 29 – allen anderen Lebewesen überlegen ist und die Erde beherrschen und Gott dienen soll 30; sie ist, wie die Ebenbildlichkeit selbst, eine entgegengebrachte Gabe: »Die imago Dei wird Menschen zugesprochen, bevor sie selbst etwas aus sich gemacht ha-

Schneider-Flume 2010, S. 48. Vgl. 1 Mose 5,1: »Dies ist das Buch von des Menschen Geschlecht. Da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Gleichnis Gottes.« (Übers. nach der Luther-Bibel 1545). 27 2 Kor 4,4. 28 Kol 1,15. 29 »Rationabilis naturae dignitate«, so Johannes Scotus Eriugena in De divisione naturae 4, 10. 30 Vgl. Hugo von St. Victor, De sacramentis 1, 2,1: »homo factus est ut Deo serviret propter quem factus est; et mundus factus est ut serviret homini propter quem factus est«. (Der Mensch ist gemacht, damit er Gott diene, nach dem er geschaffen ist; und die Welt ist gemacht, damit sie dem Menschen diene, um dessen willen sie geschaffen ist.) 25 26

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Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde

ben. Die Gottebenbildlichkeit erfährt der Mensch rein passiv, er verdankt sie.« 31 Im Hebräerbrief kamen für die Würdethematik wesentliche Konnotationen hinzu: Sünde, Vergebung und Erlösung. Christus ist »der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe«. 32 So öffnete sich hinter dem christologischen der anthropologische Horizont: Der Mensch ist »zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen«. 33 Nun konnte gesagt werden: »Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.« 34 Die ›dignitas hominis‹ und die durch Sündhaftigkeit verursachte ›miseria hominis‹ sind in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie zwei Seiten einer Medaille. Um 1195 verfasste Papst Innozenz III. seine Schrift De miseria humanae conditionis (Vom Elend des menschlichen Daseins), in der er Alter, Laster, soziale Lage, Krankheiten, Schmerzen und Tod als Merkmale der ›miseria‹ darstellte. Autoren der Renaissance wie Manetti und Pico sollten gegen diese Verknüpfung von ›dignitas‹ und ›miseria‹ Widerspruch einlegen. Im mittelalterlichen Christentum wurde freilich ein Ausweg aus dem Elend gewiesen. Bereits in der frühen Kirche war bei Augustinus der Topos der durch Christus gesühnten Erbsünde Adams präsent. 35 Auch Leo der Große erinnerte den Menschen daran, er sei nach dem Bilde Gottes gemacht, das Adam zerstört und Christus wiederhergestellt habe. 36 Für Thomas von Aquin war es in seiner Summa theologiae selbstverständlich, »daß der Mensch, der durch Sünde von der Vernunftordnung abweicht, sich dadurch auch von der menschlichen Würde lossagt«. 37 Sein Argument Schneider-Flume 2010, S. 48. Hebr 1,3. 33 Kol 3, 10. 34 2 Kor 3,18. 35 Augustinus, Quaestiones evangeliorum 2, 33,3: »dignitas, quam perdidit Adam«. 36 Leo der GroßeGrosse, Sermo 27 (in nativitate domini 7), c. 6: »Expergiscere, o homo, et dignitatem tuae cognosce naturae. Recordare te factum ad imaginem Dei, quae, etsi in Adam corrupta, in Christo tamen est reformata.« 37 Zit. Nach Wetz 1998, S. 27. 31 32

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

lautete, dass der Mensch seine Würde als Vernunftwesen habe, sich frei zum Guten oder zum Bösen entscheiden könne und deshalb Person sei 38, aber »der sündigende Mensch von der vernünftigen Ordnung abfällt und dadurch seine menschliche Würde aufgibt, um deretwillen der Mensch von Natur frei und um seiner selbst willen existiert, und sich in tierischer Abhängigkeit verliert«. 39 Entsprechend antwortete Thomas auf die Frage, wann man einen Menschen töten dürfe: »Wiewohl es […] in sich schlecht ist, einen Menschen, solange er in seiner Würde verharrt, zu töten, so kann es doch gut sein, einen Menschen, der in Sünden lebt, zu töten wie ein Tier; denn der schlechte Mensch ist schlimmer als ein Tier und bringt größeren Schaden«. 40 Von einer Würde des Sünders ist nicht die Rede. Zwar hatte Paulus im Brief an die Galater geschrieben: »Es gibt nicht mehr Juden noch Griechen, nicht mehr Sklaven noch Freie, nicht mehr männlich noch weiblich; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.« 41 Doch in Würde gleich waren die Menschen nicht, weil sie nicht alle ›Person‹ waren. 42 »[I]n der sich bildenden Kirche wurde ein besonders intelligibles Stück der partialen Gleichheit: die Seelen-Gleichheit vor Gott, zur Ideologie. Zur Ideologie der Ekklesia, aus Christi Gleichnis von den Reben am Weinstock zum klerikalen Institut verwandelt, zur einen Herde unter einem Hirten. Wie partial aber diese Gleichheit war, wie sehr sie als lediglich gebildeter oder lediglich geistlicher Consensus florierte, erhellt daraus, daß sie der Sklaverei nicht im Weg stand, ja daß hohe Funktionäre der Ekklesia, selbst Kirchenväter, dieser härtesten Nicht-Gleichheit das Wort redeten.« 43 Die Sklaverei hat ihre Wurzel in der Sünde. »Dieser Gedanke sollte nicht mehr aus der katholischen Theologie verschwinden. Zur Zeit

Thomas von Aquin, Summa Theologiae I 29,3 ad 2: »Et quia magnae dignitatis est in rationali natura subsistere, ideo omne individuum rationalis naturae dicitur persona.« 39 Ebd., II–II 64.2 ad 3. 40 Ebd., II–II, qu. 64, Art. 2 resp. ad 3. 41 Gal 3,28. 42 Schockendorf 1990, S. 484, erklärt zu Thomas von Aquin: »Das Wort ›Person‹ avanciert geradezu zu einem allgemeinen Würdenamen des Menschseins, das die nobilitas und die dignitas ebenso wie die excellentia der geistigen Kreatur emphatisch bezeichnet.« Er bezieht sich auf Thomas von Auquin, 1 Sent. de 10 q.1 a.5: »persona est nomen dignitatis« und auf ebd., 23 q.1 a.1: »Hoc nomen ›persona‹ significat substamiamsubstantiam particularem, prout subjicitur proprietati quae sonat dignitatem«. 43 Bloch 1961, S. 189. 38

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Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde

der Hochscholastik trat neben die Kirchenväter noch eine andere Autorität erster Ordnung: Aristoteles. So spürt man denn in der Stellungnahme des Aquinaten zur Sklaverei immer wieder das Bemühen, Aristoteles mit den Vätern in Einklang zu bringen. Einesteils versichert Thomas, daß die Sklaverei eine Folge der Sünde sei. Im Urzustand habe es keine Sklaverei gegeben, sondern nur jene Unterordnung, die der Sozialnatur des Menschen entspreche, nämlich in Familie und Staat. Aber darüber hinaus wendet Thomas auf das Sklavenproblem seine von Aristoteles übernommene Naturrechtslehre an.« Thomas von Aquin kam zu dem Ergebnis, »daß es eine naturrechtlich bedingte Sklaverei gebe. An sich, so führt er aus, sucht die Natur nur hochwertige Menschen hervorzubringen, was freilich infolge widriger Umstände nicht immer gelingt. Es gibt deshalb minderwertige Menschen, denen gegenüber nur Zwang und Gewalt am Platze ist. Sie sind geborene Sklaven. ›Die geistig Überlegenen sind nämlich von Natur aus zum Gebieten berufen, die geistig Zurückgebliebenen aber – mit ihrem robusten Körper – scheinen von der Natur selbst zum Dienen bestimmt zu sein, wie Aristoteles in seiner Politik sagt und wie auch Salomon zugibt, wenn er spricht: Der Tor soll dienstbar sein dem Weisen‹ (Spr. 11, 29 [Contra Gentiles, Lib. III. c. 81.]. Die Minderwertigen können eben nicht kraft eigener Vernunft ihr Leben gestalten; sie bedürfen dazu der Vernunft und Leitung eines anderen. Diese Kennzeichnung der geistigen und sittlichen Minderwertigkeit, so fährt Thomas fort, trifft vor allem auf die Naturvölker zu; ihnen fehlt die Schrift und das geschriebene Recht; in Stumpfsinn und tierischen Sitten leben sie dahin. Das ist eine harte Lehre, die sich schlecht mit der Frohbotschaft Christi vereinbaren lassen will.« 44 »Bis weit in das 19. und 20. Jahrhundert stießen politische Ordnungen, die dem egalitären Charakter der Menschenwürde strikt zuwiderlaufen, nicht auf den Widerstand der christlichen Großkirchen.«45 Thomas von Aquin erklärte – dem aristotelischen Prinzip der distributiven Gerechtigkeit folgend und mit sozialpolitischen Konsquenzen für die Differenzierung der Würdenträger 46 – ausdrücklich, unterschiedlichen Personen werde Unterschiedliches zugeteilt, und zwar proportio-

44 45 46

Höffner 1947, S. 63. Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 7. Vgl. hierzu Kondylis 1992, S. 651 ff.

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

nal zu den unterschiedlichen ›Würden der Personen‹. 47 Der Gedanke einer allen Menschen zukommenden Würde gehörte nicht zur christlichen ›dignitas‹ : »Zum einen wurde er durch die Einsicht in die Sündhaftigkeit aller Menschen relativiert. Die kirchliche Erbsündenlehre erwies sich bis in die Neuzeit hinein als Hemmnis für die Entwicklung einer eigenständigen christlichen Konzeption von der Würde und den Rechten des Menschen; denn sie legte eine Auffassung des Menschen nahe, der durch seine Sünde alles Recht vor Gott verwirkt hat und deshalb auch nicht über eine Würde verfügt, die aller weltlichen und kirchlichen Gewalt entzogen ist. Zum andern trat die Gemeinsamkeit des genus humanum zurück hinter der Unterscheidung zwischen Christen, Häretikern und Nichtchristen (Juden und Heiden). Bis in die Neuzeit hinein wurde die menschliche Würde weithin als Privileg der Christen angesehen; daß Häretiker, Juden und Heiden auf sie keinen Anspruch erheben konnten, legitimierte die grausamen Methoden von Ketzerverfolgungen, Judenpogromen und Kolonisationen. Schließlich wurde die christliche Anthropologie in ein ständisches Gesellschaftsbild sowie in ein hierarchischesKirchenbild eingezeichnet. Damit gewann die differenzierende Funktion des Würdebegriffs die Oberhand über dessen egalisierende Bedeutung.« 48 Das Zusammenspiel von ›imago die‹ und Erbsünde hatte über die theologische Dimension hinaus auch eine politische: »Bürgte die Gottebenbildlichkeit für die künftige Erlösung des Menschen, so diente der Hinweis auf seine Sündhaftigkeit dazu, die gegenwärtige Notwendigkeit mehr oder weniger asketischer Disziplinierung zu begründen. Die Disziplinierung sollte zwar im Hinblick auf die angenommene Sündhaftigkeit ohnehin erfolgen, sie konnte aber letztlich nur in der Hoffnung auf Erlösung ihre einleuchtende bzw. tröstende Rechtfertigung finden – eine Erlösung, die ihrerseits nicht nur dank der Wirkung der Gnade, sondern auch deswegen für sicher galt, weil der Mensch als Ebenbild Gottes die Ansätze dazu ontologisch in sich zu tragen schien. Diese Gedankenskala erklärt, warum für die Kirche Gottebenbildlichkeit und Sündhaftigkeit des Menschen gleichermaßen unverzichtbar

Thomas von Aquin, Summa theologiae 2, 2, 93, resp.: »diversis personis diversa tribuuntur secundum proportionem ad dignitates personarum«. 48 Huber 1992, S. 578 f. 47

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Gottesebenbildlichkeit als Grund von Würde

waren: beide trugen komplementär dazu bei, ihren Erziehungs- bzw. Herrschaftsanspruch zu untermauern.« 49 Dessen ungeachtet berufen sich heute Interpreten der Menschenwürdenorm des Grundgesetzes auf die mittelalterliche christlich-theologische, metaphysisch begründete ›dignitas‹. Dies wäre nicht nötig, wenn es allein um ›Gottesebenbildlichkeit‹ ginge. Es gab eine Entwicklung im Recht, die sich auf diesen Topos stützte und zugleich eine gegen Unterwerfung gerichtete Funktion hatte – die Aufzeichnung des bestehenden Gewohnheitsrechts in Eike von Repgows Sachsenspiegel (1220 bis 1235): »Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und hat ihn durch sein Martyrium erlöst, den einen wie den anderen. Ihm steht der Arme so nah wie der Reiche. […] Als man zum ersten Mal Recht setzte, da gab es keinen Dienstmann und da waren alle Leute frei […]. Mit meinem Verstand kann ich es auch nicht für Wahrheit halten, daß jemand des anderen Eigentum sein sollte.« 50 Die mittelalterlich-christliche ›dignitas‹ ist unter dem historisch Erinnernswertem nichts, was eine angemessene Deutung von Art. 1 Abs. 1 GG begründen könnte: »Aus der christlichen Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ergeben sich […] weder zwingend noch automatisch Konsequenzen für eine im staatlich-politischen Raum zu verwirklichende oder zu akzeptierende gleiche Würde aller Menschen. […] Die Menschenwürde in unserem heutigen Sinn ist nicht bloßes Säkularisat christlicher Glaubenssätze, sondern erwächst aus einer Gemengelage antiker, humanistischer und aufklärerischer Traditionen. Damit ist weder die Verwobenheit von Humanismus und Aufklärung mit christlichem Gedankengut oder Möglichkeit systematischer Rekonstruktion des christlichen Zeugnisses im heutigen menschenwürdeaffinen Sinne bestritten noch die Relevanz explizit theologischer Entwürfe für ein adäquates Verständnis des Menschenwürdesatzes in Abrede gestellt. […] Insofern zeigt nun aber die reale geschichtliche Entwicklung zeigt, daß für die erfolgreiche Durch-

Kondylis 1992, S. 645. Eike von Repgow. Der Sachsenspiegel, hg. v. C. Schott, Zürich 1984, S. 189 f., Landrecht III 42, §§ 1 und 3: »Got hevet den man nach eme selven gebildet, unde hevet ene mit sine martere geledeget, den enen alse den anderen; eme is der arme alse beswas alse de rike. […] Do men ok recht erst satte, do ne was nen denstman unde ›do‹ waren alle de lude vri […] An minen sinnen ne kann ek is ok nicht op genemen na der wahrheit, dat ieman des anderen scole sin.« Der Sachsenspiegel galt in Preußen bis 1794.

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Antike und mittelalterliche Würdebegriffe

setzung des Menschenwürde-Gedankens im staatlich-politischen Raum die (jeweils herrschenden) christlichen Lehren keineswegs eine exklusive, kaum eine relevante und oft eine retardierende Rolle gespielt haben.« 51

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Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 10.

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2. ›Dignitas hominis‹ in der Renaissance

Die in der Renaissance 1 häufigen Schriften über die ›dignitas hominis‹ 2 lassen sowohl Kontinuität mit stoischen und mittelalterlichen ›dignitas‹-Auffassungen als auch radikale Brüche erkennen. Weitgehende Kontinuität besteht hinsichtlich der Ideen der – nun mit Modifikationen verstandenen – Gottesebenbildlichkeit und der kraft seiner Vernunft herausgehobenen Stellung des Menschen im Kosmos. Gebrochen wird mit der Verortung des Menschen im irdischen Elend. Die ›miseria‹-Literatur wird zum Stein des Anstoßes und zum Gegenstand der Kritik. Die neue Auffassung der Menschenwürde im RenaissanceHumanismus belegt im Paradigmenwechsel eine Dialektik des Alten und des Neuen, die Kontinuität von Überzeugungen und Wissen bei gleichzeitigem Brechen mit Denkmustern, die den neuen Ansprüchen auf menschliche Autonomie nicht mehr standhielten. Das philosophische Denken der Renaissance stellt nur scheinbar vor eine Paradoxie: Ansprüche auf eine Rationalität, die nicht mehr Erstmals wurde ›Renaissance‹ als Epochenbegriff vom französischen Historiker Jules Michelet im 1854 erschienenen, das 16. Jahrhundert behandelnden 7. Bd. seiner Histoire de France gebraucht. Ihm zufolge erfolgte zu dieser Zeit in Frankreich ein geistiger Aufbruch aus erstarrten mittelalterlichen Lebensformen, bei dem die Begegnung mit der auf die Wiedererweckung des klassischen Altertums gerichteten modernen Kultur Italiens von maßgeblicher Bedeutung war. Das Wesen dieser Epoche fasste Michelet in der Formel zusammen: »Die Entdeckung der Welt, die Entdeckung des Menschen«. Damit spielte er auf die Entdeckungen neuer Wirklichkeitsbereiche und auf die Herausstellung der Individualität des Menschen an. Bald nach Michelets Buch erschien 1860 Jacob Burckhardts einflussreiches Werk Kunst und Kultur der Renaissance in Italien. Es fußte zwar auf Michelets Konzept, doch stand nunmehr Italien als das Ausgangsland dieser Erneuerung im Mittelpunkt. Burckhardt arbeitete die italienische Spezifik der Wiedererweckung des klassischen Altertums und das ›enge Bündnis mit dem italienischen Volksgeist‹ heraus. 2 Vgl. Cassirer 1927 und 1942, Buck 1960, Sozzi 1970, Baker 1975, Kristeller 1981, Buck 1990, Trinkaus 1995, Gröschner/Kirste/Lembcke 2008. 1

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›Dignitas hominis‹ in der Renaissance

einem dem Menschen fremden Prinzip entliehen sind, auf Unabhängigkeit von der Autorität der Offenbarung und kanonisierter Philosophie, auf Autonomie der Erkenntnis und Freiheit der Persönlichkeit – alles dies wurde zum Kennzeichen einer intellektuellen Revolution. Doch der Weg wurde evolutionär über Vermittlungsschritte gegangen, und die Instanz der Vermittlung war die Erneuerung wesentlicher Topoi der Antike. In diesem Prozess veränderten sich die Kategorien, in denen die conditio humana gedacht wurde: Das Wissen des Seins und des Seienden war nicht mehr selbstverständlich in der Art der antiken und scholastischen Metaphysik, nicht mehr garantiert durch Substanzen und göttliches Sein. Dass Seiendes nur durch den Akt der Erkenntnis auf zugrundeliegendes Sein rückbezogen werden kann, wurde zur Herausforderung für ein Selbstbewusstsein, das sich zunächst der Gründe, Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis vergewissern musste, um Aussagen über Sein und Seiendes und über die epistemische Beziehung zwischen äußerer und innerer Welt für gerechtfertigt halten zu können. In der Wiedererinnerung vollzog sich ein Funktionswandel des theoretischen Instrumentariums, am deutlichsten im Gottesbegriff, der sich der mittelalterlichen Theologie entfremdete und nun zunehmend mit anderen Begriffen funktionale Aufgaben übernahm: Noch konnte Erkenntnis nicht ohne ein Gewissheit und Wahrheit verbürgendes Prinzip gedacht werden – nicht ohne Gott. Doch in dem von der Mitte des 14. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts währenden Prozess des Funktionswandels der Philosophie vom Mittel der Glaubensrechtfertigung zum Zweck freier ›Wissenschaft‹ wurden die Weichen neu gestellt: (i) Wissen, Wissenschaft und rationale philosophische Argumentation überschritten die zuvor engen professionellen Grenzen der klerikalen Bildungskultur, wurden öffentlich und zum Besitz breiterer gebildeter Stände. Die Befreiung des Individuums zum aktiven Subjekt des Wissens führte zu sozialer Verallgemeinerung der Erkenntnis. (ii) Die humanistische Rückwendung zur Antike war zugleich die Vorwärtswendung zu einem neuen Verhältnis zur Tradition, das sich in selbstbewußter Forderung nach Authentizität aussprach und Bildung nicht mehr von autoritativer Auslegung erwartete, sondern vom autonom interpretierten Sinn der litterae. Der Vorzug, der seit dem ersten Bekanntwerden der vollständigen Texte Platons (1423) und seit den Übersetzungen L. Brunis und M. Ficinos Platon vor Aristoteles gegeben wurde, und die von der 1459 in Florenz erneuerten Platonischen 68 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

›Dignitas hominis‹ in der Renaissance

Akademie ausgehende Wirkung gründeten in eben dem Autonomiestreben, aus dessen Sicht Aristoteles, mit der kirchlichen Lehre in besonderer Übereinstimmung gesehen, als belastet erschien. (iii) Die Gegenbewegung gegen die mittelalterliche Metaphysik führte zu einem um den Menschen zentrierten Weltbild, das freilich ohne metaphysische Begründungen noch nicht auskam: Ein durchgängige Antidualismus verwarf die Trennung zwischen göttlicher bzw. natürlicher und menschlicher Welt; die Folge war aber gerade nicht die Preisgabe der Idee einer übersinnlichen Welt, sondern die Stärkung der Idee einer Einheit und Ganzheit, in der Natur Gott und Gott Natur war und in dem die Natur des Subjekts aus der Objektivität der Natur des Einen erklärt werden konnte. (iv) Die Denker der Renaissance haben sich nicht an eine einzige Tradition geklammert. L. Bruni sah in Petrarcas am ›Wort‹ orientierter Vereinigung der Traditionen Platons, Ciceros und Augustinus’ zu klarer Erkenntnis und tröstendem Glauben die ›Morgendämmerung des neuen Tages‹. L. Valla favorisierte Epikur bei seiner Kritik an der aristotelischen Scholastik und an der schematisch gewordenen Logik. Bei M. Ficino koexistierten das Interesse an der Vereinigung von Platonismus und Christentum und Bezüge zu Avicenna in einem Werk, das der Emanationslehre Plotins verpflichtet war. Pico della Mirandola plädierte in De hominis dignitate für die zwischen Erkenntnis und Offenbarung Frieden stiftende Rolle der Philosophie, dachte die Natur auch in magischen und kabbalistisch-jüdischen Traditionen und trat ein für die Vereinbarkeit von Platon und Aristoteles als Quellen des Humanismus. Unter den Platonikern gründete in der Spätrenaissance F. Patrizzi seinen gegen den aristotelischen Substanzbegriff gerichteten Ansatz zu einem naturphilosophischen System auf empirischer Grundlage auf die neuplatonische Lehre der Emanation des Einen. In diesem vielschichtigen Prozess wurde ein neuer Begriff der ›dignitas hominis‹ möglich. »Die Rede vom Menschen als Zweitem Gott oder als Mikrokosmus verbreitet sich im Laufe des 15. Jahrhundert in Italien, während Prometheus oder Adam zu suggestiven Verkörperungen der emporstrebenden Menschheit hochstilisiert werden. Diese geistige Atmosphäre muß nun bei allen Autoren vorausgesetzt werden, die sich dem Thema der Menschenwürde widmen«. 3 Dies gilt für Bartolomeo Facios De excellentia ac praestantia hominis (1447/48), 3

Kondylis 1992, S. 659.

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›Dignitas hominis‹ in der Renaissance

Antonio da Bragas Libellus de dignitate et excellentia humanae vitae 4 (1447), Giannozzo Manettis De dignitate et excellentia hominis (1452/ 1532), Pico della Mirandolas De hominis dignitate (1496/1557), Fernán Pérez de Olivas Diálogo de la dignidad del hombre [kurz vor 1530 5] und für Pierre Boaistuaus Bref Discours de l’excellence et dignité de l’homme [1558]. In diesen Abhandlungen gewann »der Ausdruck Menschenwürde – dignitas hominis – sein besonderes Gewicht aus der Gegenüberstellung zur mittelalterlichen Erfahrung menschlichen Elends – der miseria hominis«. 6 Bereits Petrarca verstand seine 1354 oder 1357 verfassten Ausführungen über die ›dignitas hominis‹ 7 als Reaktion auf die ›miseria‹-Schrift von Innozenz III. 8: »Das Elend der menschlichen Situation ist groß und vielfältig, das bestreite ich nicht […]. Aber blick’ auch in die andere Richtung, und du wirst gleichfalls vieles sehen, was das Leben glücklich und angenehm macht. […] Da ist jenes Bildgleichnis Gottes, des Schöpfers im Innern der menschlichen Seele, da sind Talent, Gedächtnis, Voraussicht, beredter Ausdruck, so viele Erfindungen, so viele Künste, […] soviel Gunst der Umstände und der Bedürfnisbefriedigungen, dazu die ganze Mannigfaltigkeit der Dinge, die euch […] zur Ergötzung dienen! […] die ganze bunte Pracht der Blumen! an so vielen Gerüchen, Farben, Geschmäcken, Tönen, die aus Gegensätzen hervorgegangene Harmonie! so viele Lebewesen am Himmel, auf der Erde, im Meer, die nur zu eurem Gebrauch bestimmt sind und um einzig dem Menschen zu gehorchen erschaffen wurden! […] Hierzu kommt: unser Leib, der sich, mag er auch hinfällig und zerbrechlich sein, dem Trinkaus, Bd. 1, S. 176. Vgl. Baranda 2001. 6 Wetz 1998, S. 28. 7 Petrarca, De remediis utriusque fortunae. 8 »Als der Großprior der Grande Chartreuse Petrarca bat, die von Kardinal Lothar von Conti, dem späteren Papst Innozenz III., zu seiner Abhandlung ›De miseria humanae conditionis‹ geplante Ergänzung ›De dignitate hominis‹ zu schreiben, lehnte der Dichter diese Bitte zwar ab, setzte sich jedoch in einem Kapitel seines innerhalb und außerhalb Italiens viel gelesenen Traktats ›De remediis utriusque fortune‹ ausführlich mit der ›dignitas humana‹ auseinander. Es ist die erste Behandlung des Themas im Humanismus, als dessen Vater sich Petrarca hier wie auch in anderer Hinsicht erweist. Viele der von ihm zur Begründung der Wesenswürde des Menschen angeführten Argumente kehren in der späteren ›dignitas‹-Literatur wieder. Sie konnten aus Petrarca entlehnt worden sein oder – wohl in der Regel – unmittelbar aus den von Petrarca benutzten Quellen.« (Buck 1990, S. VIII). 4 5

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Giannozo Manettis ›De dignitate et excellentia hominis‹

Auge souverän darbietet und heiter und in aufrechter Haltung, die ihn zur Himmelsbetrachtung befähigt. Dazu: die Unsterblichkeit der Seele.« 9

2.1 Giannozo Manettis ›De dignitate et excellentia hominis‹ Auch Giannozzo Manetti wandte sich in seiner König Alfons von Aragon gewidmeten, 1452 verfassten und 1584 auf den kirchlichen Index gesetzten Schrift De dignitate et excellentia hominis 10 gegen den ›miseria‹-Topos: »Deshalb haben wir im ersten Buch allein über die herausragenden Gaben des menschlichen Körpers, im zweiten über bestimmte außerordentliche Vorzüge der Vernunftseele, im dritten über die bewundernswerten Eigenschaften des Menschen als Ganzen gehandelt, so gründlich und genau, wie es uns möglich war. Als wir dies alles mit den drei ersten Büchern abgeschlossen zu haben meinten, entschlossen wir uns, ein viertes hinzuzufügen, um das zu widerlegen, was – wie uns bekannt war – von einer Reihe tüchtiger Schriftsteller zum Lobe des Todes und über seine Vorteilhaftigkeit sowie über das Elend des menschlichen Lebens geschrieben worden war. Denn wir sind uns durchaus bewußt, daß dies unseren Ausführungen gewissermaßen feindlich entgegensteht.« 11 Wie auch andere Renaissance-Autoren verfügte Manetti über eine reiche humanistische Bildung, und wie andere ›dignitas‹-Schriften ist auch sein De dignitate et excellentia hominis keine systematische Abhandlung nach scholastischem Muster, sondern so etwas wie eine gelehrte kleine historische Enzyklopädie antiker, frühchristlicher und mittelalterlicher Autoren. Häufig genannt sind Anaxagoras, Empedokles, Demokrit, Sokrates, Platon und Aristoteles 12, Cicero, Vergil und Seneca, Ambrosius, Laktanz und Augustinus; auch Averroes und Avicenna fehlen nicht. Dabei unterschied Manetti freilich zwischen »Autoritätsbeweisen« und »Vernunftgründen«. Er stellte vorsichtig Zit. nach Wetz 1998, S. 30. Zum Motiv des aufrechten Gangs vgl. Bayertz 2012. Vgl. Glaap 1994. 11 Manetti 1990, S. 5. 12 »Aufgrund seiner Teilnahme an den Zusammenkünften im Augustinerkloster Santo Spirito, einem Treffpunkt der gelehrten Welt, erwarb er philosophische und theologische Kenntnisse und wurde ein überzeugter Anhänger des Aristoteles, dessen Ethik er übersetzte und in öffentlichen Vorlesungen erläuterte.« (Buck 1990, S. XIV). 9

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›Dignitas hominis‹ in der Renaissance

fest, »daß man sich um die alten Vorstellungen der heidnischen Autoren dann überhaupt nicht zu kümmern braucht, wenn erkennbar ist, daß sie in irgendeiner Beziehung mit der katholischen und der rechtmäßigen Lehre nicht übereinstimmen. Daß aber alles, was Gott geschaffen hat, sehr gut ist, wie es die Heilige Schrift bezeugt, hat niemand, der nur gesunden Geistes war, jemals bezweifelt.« 13 Im Dritten Buch von De dignitate widmete sich Manetti »de[m] Menschen als Ganzen […], soweit es die Zeit betrifft, in der er in diesem sterblichen Leben weilt. Daß dieser vom unsterblichen Gott wunderbar geschaffen wurde, können wir nicht begründet anzweifeln […] Wenn aber vielleicht irgendein ungebildeter Mensch, der die Sachlage nicht kennt, eben daran Zweifel hegt, dann würde in der Tat jeder Zweifel und jedes Bedenken aus ihm weichen, wenn er auch nur ein wenig bedenkt, daß diese zwei Naturen, also die körperliche und die geistige, die so verschieden und so ungleichartig, ja, einander entgegengesetzt sind, auf eine solch wunderbare und wahrhaftig übermenschliche Weise sich miteinander zu einem einzigen Wesen verbunden haben. Wir wissen mit völliger Gewißheit, daß dies in keiner anderen Weise als durch das Wirken des allmächtigen Gottes geschehen konnte, zumal diese beiden Naturen offensichtlich den stärksten Gegensatz bilden und einander widerstreben.« 14 Auf der Grundlage dieser Selbstvergewisserung wollte Manetti »zeigen, wie ihn jener höchste Meister gemacht«, »welche Aufgabe er ihm, den er so wunderbar geschaffen hat, zur Pflicht gemacht hat und wie es sich mit ihr verhält«, um schließlich zu »erklären, warum er ihn so geschaffen hat«: »Erstens nun hat Gott offenbar seiner so würdigen und so hervorragenden Schöpfung einen solchen Wert beigemessen, daß er dem Menschen strahlendste Schönheit, reichste Begabung, höchste Weisheit, äußersten Reichtum und schließlich größte Macht verlieh.« 15 Dann aber kam Manetti auf den anthropozentrischen Kern seiner Würde-Begründung: »Was sollen wir noch zusätzlich über die menschliche Weisheit sagen, wenn man glaubt, daß eben die Tätigkeit des Ordnens in den Bereich der bedeutenden, ausschließlichen Pflichten allein der Weisheit gehört und fällt? Wir können nämlich nicht den geringsten berechtigten Zweifel daran haben, daß ein Weiser (›sapiens‹) der 13 14 15

Ebd., S. 119. Ebd., S. 65. Ebd., S. 71.

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Giannozo Manettis ›De dignitate et excellentia hominis‹

sei, als dessen spezifische Aufgabe wir das Wissen (›sapere‹) bezeichnen, dies aber beruht offenkundig auf nichts anderem stärker als darauf, beim Handeln eine bestimmte Ordnung zu beachten. Um aber etwas verständlicher zu sprechen: Man meint, daß es die spezifische Aufgabe des Weisen sei, daß er alles, was gemacht sei, mit seiner einzigartigen Weisheit einteile, ordne und steuere. Daß aber die Dinge, die wir in der Welt sehen, zum überwiegenden Teil vom Menschen geordnet und eingeteilt worden sind, wird niemand leugnen; die Menschen nämlich haben, da sie Herren über alles sind und die Erde bestellen, diese mit ihren ganz verschiedenen Leistungen auf wunderbare Weise bestellt und Acker und Inseln sowie Strände mit Ländern und mit Städten geschmückt. Wenn wir dies wie in unserem Geist so mit den Augen sehen und wahrnehmen könnten, würde niemand, der, wie wir es oben formuliert haben, alles mit einem Blick sieht, jemals davon ablassen, es zu bewundern und zu bestaunen.« 16 Das Thema, dass Gott zwar den Menschen, der ingeniöse Mensch aber seine eigene Welt geschaffen habe, ist zentral: »Was sollen wir aber über den feinen und scharfsinnigen Verstand dieses so schönen und wohlgestalteten Menschen sagen? Denn er ist wirklich so groß und reich, daß nach der Erschaffung jener ursprünglichen, neuen, rohen Welt offenbar alles weitere von uns aufgrund des einzigartigen, überragenden Scharfsinns des menschlichen Verstandes hinzuerfunden und zur Vollendung und Vollkommenheit geführt worden ist. Folgendes ist nämlich unser, also Menschenwerk, weil es offensichtlich von Menschen hervorgebracht worden ist: Alle Häuser, alle großen und kleinen Städte, überhaupt alle Gebäude des Erdkreises […] Unser sind die Bilder, unser die Skulpturen, unser sind die Künste, unser die Wissenschaften, unser ist […] die Weisheit […]. Unser sind schließlich alle Maschinen [machinamenta], die der erstaunliche Scharfsinn des menschlichen oder eher göttlichen Verstandes mit einzigartiger Tatkraft und überragendem Erfindungsreichtum ins Werk zu setzen und zu bauen begann.« 17 Dieser Mensch hat einerseits moralische Qualitäten, und andererseits kann er seine moralischen Pflichten verletzen. Er ist »um des Glaubens und der Gerechtigkeit willen geschaffen worden […]. Dies bezeugt Cicero in seinem Werk ›Über die Gesetze‹, indem er folgendes 16 17

Ebd., S. 78 f. Hervorh. v. mir. Ebd., S. 77 f.

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sagt: ›Von all dem, was in den Erörterungen gelehrter Männer auftaucht, ist in der Tat nichts vorzüglicher als der Satz, daß man es innerlich vollkommen erfassen müsse, daß wir für die Gerechtigkeit geboren sind.‹ Da dies vollkommen wahr ist, will Gott somit, daß alle Menschen gerecht, also Gott und dem Menschen zugetan seien, das heißt natürlich, daß sie Gott wie einen Vater ehren und den Mitmenschen wie einen Bruder lieben sollen. Auf diesen beiden Maximen beruht nämlich die ganze menschliche Gerechtigkeit. Wer aber Gott nicht anerkennt oder einem Menschen grundlos schadet, der lebt wider seine Natur und verdirbt auf diese Weise das Werk und das Gesetz Gottes.« 18 Dies war für Manetti die Schattenseite der Würde: »Aus dieser so großen und so hehren Würde und Erhabenheit des Menschen nun erwachsen und entspringen wie aus einer Wurzel Neid, Stolz, Zorn, Herrschlust und Ehrgeiz und die sonstigen verwandten Leidenschaften der Seele, und zwar nicht ohne Grund. Denn wer bedenkt, daß er zu einem so erhabenen Wesen gemacht worden ist, daß er über alle Dinge zu gebieten und zu herrschen scheint, wird es in der Tat nicht nur unerträglich finden, wenn er von anderen überragt wird, was man als das kennzeichnende Fehlverhalten des Neides ansieht, sondern er wird vielmehr sehr stark danach streben, die anderen zu übertreffen, was als das kennzeichnende Fehlverhalten des Stolzes und des Ehrgeizes gilt.« 19 Das Vierte Buch enthält, gestützt auf Augustinus und Laktanz und gerichtet gegen »Papst Innozenz« 20, Manettis Veto gegen den ›miseria‹-Topos: »Daher können wir in der Tat auch nicht den geringsten berechtigten Zweifel daran haben, daß der Mensch, um dessentwillen nachweislich alles sehr gut und unübertrefflich gemacht worden ist, nicht nur etwas Unübertreffliches ist, sondern sogar, um es so auszudrücken, etwas mehr als Unübertreffliches ist. Das menschliche Leben, dank dem der Mensch ja lebt, kann daher nicht grundsätzlich elend sein oder werden; andernfalls würde daraus folgen, daß dasjenige, was mit Gewißheit unübertrefflich ist, in einem dauerhaften und beständigen Elend lebt. Da dies offensichtlich falsch ist, ergibt es sich ganz klar, daß all die oben angeführten Zitate der Dichter, Redner und Philosophen, von denen bekannt ist, daß sie über das Elend des 18 19 20

Ebd., S. 94. Vgl. hierzu Thumfart 2008. Manetti 1990, S. 95. Ebd., S. 124 ff.

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menschlichen Lebens gesprochen und geschrieben haben, sich als irrig, nichtig und gehaltlos erwiesen haben.« 21 Der Mensch ist in seiner Schönheit »herrlich und erhaben«. Ohne jede Distanzierung von den Autoren, auf die er sich berief – hier auf Cicero –, verglich Manetti den Rang des Menschen mit dem Gottes: »Daher wollten sehr viele sowohl der heidnischen als auch der christlichen Autoren, daß man in den Tempeln und Heiligtümern den unsterblichen Göttern auf Gemälden und bei Skulpturen keine andere Gestalt verleihe als die menschliche, da sie viel herrlicher und erhabener sei als alle übrigen. Sie meinten also, daß das Aussehen der Götter menschlich oder besser daß das unsere göttlich sein müsse […]. [D]as alleinige, wahrhaftige Bild Gottes ist der Mensch, in dem ja manche gebildete und zugleich fromme Denker den Widerschein der Ähnlichkeit mit Gott erkennen«. 22 Manettis spricht die Sprache christlicher Theologie und Philosophie; doch seine Botschaft ist auf geradezu radikal neue Weise humanistisch, ein Plädoyer für den aufrechten Gang des Menschen, der sich in seiner Welt zum zweiten Mal erschafft. »So sehr sich das neue Nachdenken über Würde und Rechte der Menschen in der Frühaufklärung christlichen Wurzeln verdankt, so unverkennbar sind doch die Verschiebungen gegenüber tradierten christlichen Denkformen, die sich nun anbahnen. Zu ihnen zählt zum einen das Zurücktreten der Erbsündenlehre. Je optimistischer nun von der Würde und den Fähigkeiten des Menschen die Rede ist, desto mehr nötigt dies zu einer Relativierung und Säkularisierung der Sündenlehre. Sie erscheint – in Gestalt der Einsicht in die Endlichkeit und Fehlsamkeit der Menschen – nur noch als einschränkende Bedingung für die Realisierung menschlicher Würde, nicht mehr jedoch als eine das Wesen des Menschen selbst betreffende Aussage. Zu diesen Verschiebungen zählt zum andern die Tatsache, daß die Würde des Menschen nun nicht mehr unmittelbar in seiner Gottebenbildlichkeit, sondern in seiner – mit dieser freilich noch lange verbunden gedachten – Vernunftbegabung verankert wird.« 23

21 22 23

Ebd., S. 119. Ebd., S. 72; vgl. ebd., S. 32. Huber 1992, S. 580.

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2.2 Giovanni Pico della Mirandola und seine ›Oratio de hominis dignitate‹ Giovanni Pico della Mirandola hat seine Oratio de hominis dignitate, in der er den Begriff ›dignitas hominis‹ nicht explizit verwendet, im Jahre 1486 verfasst; sie wurde posthum 1496 unter dem Titel Oratio quaedam elegantissima in einer Ausgabe der Opera veröffentlicht. Erst seit der Baseler Ausgabe von 1557 hat sich der Titel De hominis dignitate durchgesetzt. »Höchstwahrscheinlich während seines Pariser Aufenthalts von 1485 konzipierte Pico den Plan, einem zeitgenössischen Brauch folgend, seine wichtigsten philosophischen Vorstellungen in einer öffentlichen Diskussion zu verteidigen, wofür er zunächst 600 und später 900 Thesen aufstellte. Als Ort für die Diskussion wählte er Rom trotz des damit verbundenen Risikos, ausgerechnet am Sitz des Papstes Thesen vorzutragen, die teilweise im Widerspruch zur rechtmäßigen Lehre standen. Als seine Gesprächspartner wollte er Philosophen und Theologen aus ganz Europa einladen […]. Nachdem die Diskussion durch den Papst verboten worden war, ist Picos Eröffnungsrede nie gehalten worden.« 24 Seine Thesen wurden seitens der Kirche verurteilt; die Exkommunikation wurde erst 1493 aufgehoben. Radikaler 25 noch als Manetti stellt Pico, der als Schüler Ficinos durchaus im Platonismus des christlichen Florenz verankert war und den Ernst Cassirer in An Essay on Man als »one of the noblest and most pious thinkers of the Renaissance« bezeichnet hat 26, die Freiheit des Menschen als den Grund seiner Würde 27 ins Zentrum seiner philosophischen Überlegungen. Von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen spricht Pico im Unterschied etwa zu Pierre Boaistuaus Bref Discours de l’excellence et dignité de l’homme (1558) nicht, dem zufolge Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen habe, um ihn als ›König‹ und ›Herrscher‹ von allem einzusetzen, was im Universum enthalten sei. 28 Pico erklärt stattdessen, Gott habe verschiedene Keime im Buck 1990a, S. XVI f. »Mitten in der strenggläubigen, ja in der streng kirchlichen Welt des Florentiner Platonismus bricht jetzt jener ›heroische Affekt‹ durch, der in der Folge zu Giordano Brunos Dialog ›Degli eroici furori‹ führen wird.« (Cassirer 1927, S. 90). 26 Cassirer 1944, S. 113; vgl. die Pico-Studie Cassirer 1942. 27 Vgl. hierzu Lembcke 2008. 28 Boaistuau 1982, S. 38: »Après que nostre Dieu par une providence admirable eut créé l’excellent pourpris de ce monde visible (qui n’est autre chose que une boutique, en 24 25

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Giovanni Pico della Mirandola und seine ›Oratio de hominis dignitate‹

Menschen angelegt: »Sind es Keime der Vernunft, wird er sich zu einem himmlischen Lebewesen entwickeln; sind es geistige, wird er ein Engel sein und Gottes Sohn.«29 Die geistige Situation der Zeit der Renaissance, in der Pico schrieb 30 und in der es darum ging, »durch selbstbewußte geistige Energie zur Potenzierung des Menschenwesens und Menschenwertes fortzuschreiten« 31, hat Cassirer so charakterisiert: »Nicht am Himmel, sondern in sich selbst muß der einzelne den Grund seines Geschickes lesen: Die Seele ist des Menschen Dämon. […] Der Freiheitsgedanke […] ist daher nicht der Gegensatz, sondern das Korrelat zum Gedanken der empirischen Verursachung. Bestimmter tritt sein Sinn und seine Tendenz in Picos Rede ›Über die Würde des Menschen‹ hervor. […] Um den eigentlichen Vorrang des Menschen zu bezeichnen, ist es […] nicht genug, in ihm das Verbindungsglied zu sehen, das Hohes und Niederes, das die sinnliche und die intelligible Welt verknüpft und sich laquelle reluisent et sont manifestées les raions de sa sapience) soudain il commença à y introduire l’homme, faict à sa semblance et image, à fin qu’il fust Roy, et Empereur de tout ce qui estoit contenu en cest univers, et que contemplant l’excellence d’un tel ouvrage, il eust en admiration et reverence l’architecte et auteur d’iceluy: ensemble qu’il recogneust de quelle liberalité il avoit usé envers luy.« 29 Pico della Mirandola 1990, S. 7. 30 Ernst Cassirer hat allerdings einen Vorbehalt gegenüber einer umstandslosen Einordnung Picos unter ›Renaissance‹ bzw. ›Humanismus‹ angemeldet: »In the intellectual panorama of the Italian Renaissance Giovanni Pico della Mirandola is one of the most notable and remarkable figures. For us he is once and for all a part of this panorama and inseparably bound up with it. But the more deeply we study his work, the clearer it becomes that the real significance and substance of his thought can be only very incompletely and inadequately described as belonging to »the Renaissance« in the sense which investigations of the last century in the history of philosophy and of ideas have led us to associate with that term. There is no doubt that Pico belongs among the great representative thinkers of his epoch; but at the same time he falls outside it in many of his characteristics. The intellectual ancestry of his philosophy is to be sought in the ancient world and in the Middle Ages, not in the Quattrocento. In many respects he seems to represent and announce a new way of thinking. But on the other hand we find him still completely bound up with and even restricted to a century-old tradition drawn from the most divergent sources.« (Cassirer 1942, S. 67). »The same sense of independence here revealed distinguishes also Pico’s attitude toward Humanism. He stands quite in the center and inner circle of the great Humanistic movement; and in his admiration for the ancients, in particular for Plato and Aristotle, he is surpassed by none of the other Renaissance thinkers. But here too he rejects any dogmatic crystallization of the humanistic ideals and claims.« (Ebd., S. 93). 31 Cassirer 1922, S. 135.

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somit zum Mittler und Dolmetsch des Alls macht. Denn welche ausgezeichnete und zentrale Bedeutung ihm hier auch zugesprochen zu werden scheint: sie bleibt hinter seinem eigentlichen Werte zurück, solange man sie nur als von außen gegeben, nicht als durch ihn selbst erwählt und erworben ansieht. Der einzigartige Wert des Individuums wurzelt darin, daß es nicht, wie die anderen Dinge, an einen einzelnen festen Platz im All gebunden ist, sondern sich selbst seine Stellung im Universum bestimmt und den Standort seiner Betrachtung anweist. In seine eigene Hand ist es gegeben, welcher Art des Daseins und des Lebens es angehören will.« 32 Nicht anders als bei Manetti fließt floss auch Picos breites humanistisches Wissen in seine historisch verfahrende, sich mit zahlreichen Autoren auseinandersetzende Oratio eine. 33 Pico verfügte über »eine der größten Privatbibliotheken der Zeit, deren gedrucktes Inventar von 1498 nicht weniger als 1697 Titel umfaßt. Was den Bücherbestand auszeichnet, ist der hohe Anteil des hebräischen und mittelalterlichen Schrifttums, darunter auch naturwissenschaftlicher und okkulter Texte. Unter den antiken Autoren sind Platon und die Neuplatoniker stark vertreten, ebenso wie die antiken Mediziner; dazu kommen arabische und jüdische Ärzte. Relativ zahlreich sind astronomische und astrologische Schriften aus dem Altertum und dem Mittelalter. Unter den zeitgenössischen Autoren nimmt Marsilio Ficino mit seinen zwei wichtigsten Werken ›De religione Christiana‹ und ›Theologia Platonica‹, sowie seine Übersetzungen Platons und der hermetischen Schriften einen einen bevorzugten Platz ein entsprechend seinem Einfluß auf Picos Denken.« 34 Ebd., S. 132. Pico betont, er habe sich »dahin gehend unterwiesen, auf die Worte keines Meisters der Philosophie zu schwören, sondern meine Aufmerksamkeit auf alle auszudehnen, sämtliche Schriften zu durchforschen, alle Schulen kennenzulernen. Über sie alle hatte ich zu sprechen, um nicht als Verfechter einer einzelnen Lehre die übrigen hintanzusetzen und so den Anschein zu erwecken, auf die eine festgelegt zu sein. Daher mußte, was zu allen angeführt wurde, zusammengenommen sehr viel sein, auch wenn nur weniges zu den einzelnen vorgebracht wurde. […] Und in der Tat zeugt es von Engstirnigkeit, wenn man sich immer nur innerhalb der Grenzen einer einzigen Säulenhalle oder Akademie aufgehalten hat. Auch kann man sich nicht aus ihnen allen die eigene richtig auswählen, wenn man sich nicht vorher mit allen genau vertraut gemacht hat. Dazu kommt, daß es in jeder Schule etwas Besonderes gibt, das sie nicht mit den übrigen gemeinsam hat.« (Pico della Mirandola 1990, S. 43). 34 Buck 1990a, S. X. 32 33

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Giovanni Pico della Mirandola und seine ›Oratio de hominis dignitate‹

Im Unterschied zum Aristoteliker Manetti nahm Pico für Platon Partei, allerdings mit dem Ziel, die Lehren der beiden antiken Philosophen zu versöhnen. Deshalb wurde er ›Princeps Concordiae‹ genannt: »Die Vereinigung und Versöhnung der Scholastik mit dem Platonismus erscheint ihm als Hauptziel des Denkens. Nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter – so spricht er selbst es in einem Briefe an Ermolao Barbaro aus – sei er an die Akademie in Florenz gekommen. Und als Ergebnis dieser Erkundung zeigt sich, daß Aristoteles und Platon, sosehr sie in Worten miteinander zu streiten scheinen, in der Sache überall einig sind.« 35 Ein weiteres wichtiges Anliegen Picos war die Rehabilitierung der Magie, deren positive Seite nichts anderes sei als »die absolute Vollendung der Naturphilosophie«. 36 In seinen von der Kirche auf den Index gesetzten Conclusiones verteidigte er mit der Magie zugleich auch die Kabala, die auf besondere Weise die Göttlichkeit Christi bestätigten: »Nulla est scientia que nos magis certificet de divinitate Christi, quam magia et cabala.« 37 Für Pico, den Christen, bestand kein Zweifel an der Schöpfertat Gottes: »Schon hatte Gottvater, der höchste Baumeister, dieses Haus, die Welt, die wir sehen, als erhabensten Tempel der Gottheit nach den Gesetzen verborgener Weisheit errichtet. Den Raum über den Himmeln hatte er mit Geistern geschmückt, die Sphären des Äthers mit ewigen Seelen belebt, die kotigen und schmutzigen Teile der unteren Welt mit einer Schar Lebewesen aller Art gefüllt. Aber als das Werk vollendet war, wünschte der Meister, es gäbe jemanden, der die Gesetzmäßigkeit eines so großen Werkes genau erwöge, seine Schönheit liebte und seine Größe bewunderte. Daher dachte er, als schon alle Dinge (wie Moses und Timaios bezeugen) vollendet waren, zuletzt an die Erschaffung des Menschen. Es gab aber unter den Archetypen keinen, nach dem er einen neuen Sproß bilden konnte, unter den Schätzen auch nichts, was er seinem neuen Sohn als Erbe schenken konnte, und Cassirer 1927, S. 2 f.; vgl. Cassirer 1922, S. 82: »In den Kreisen der Florentinischen Akademie ist es sodann Giovanni Pico della Mirandola, der die Versöhnung von Platon und Aristoteles als das eigentliche Endziel der Philosophie betrachtet und verkündet.« Vgl. hierzu Pico della Mirandola 1990, S. 49. 36 Pico della Mirandola 1990, S. 53; vgl. S. 56 f. 37 Giovanni Pico della Mirandola, Conclusiones, Rom 1486, S. 79. Zit. nach Cassirer 1944, S. 113. Zur den »alten Geheimlehren der Hebräer« vgl. Pico della Mirandola 1990, S. 58 ff. 35

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es gab unter den Plätzen der ganzen Erde keinen, den der Betrachter des Universums einnehmen konnte. Alles war bereits voll, alles den oberen, mittleren und unteren Ordnungen zugeteilt. Aber es hätte nicht der väterlichen Allmacht entsprochen, bei der letzten Schöpfung gewissermaßen aus Erschöpfung zu versagen; es hätte nicht seiner Weisheit entsprochen, aus Ratlosigkeit in einer unumgänglichen Angelegenheit unschlüssig zu sein; nicht hätte es seiner wohltätigen Liebe entsprochen, daß der, der die göttliche Großzügigkeit an den anderen loben sollte, gezwungen wäre, sie in Bezug auf sich selbst zu verurteilen.« 38 Der Philosoph Pico aber konfrontierte nicht nur gleich mit der ersten Zeile von De hominis dignitate die ›ehrenwerten Väter‹ des Klerus damit, er habe »in den Werken der Araber« gelesen, es gebe »nichts Wunderbareres als den Menschen« 39, sondern er bezeichnete den Schöpfergott als ›Künstler‹ und gab der Genesis seine eigene, auf die Autonomie des Menschen drängende Deutung: »Endlich beschloß der höchste Künstler, daß der, dem er nichts Eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, was die einzelnen jeweils für sich gehabt hatten. Also war er zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ›Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Pico della Mirandola 1990, S. 5. Ebd., S. 3. »Unter den Arabern besitzt Averroes etwas Festes und Unerschütterliches, bei Avempace und Alfarabi finden sich würdevoller Ernst und Bedachtsamkeit, bei Avicenna Göttliches und Platonisches.« (Ebd., S. 45).

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Göttlichen wiedergeboten werden, wenn deine Seele es beschließt.‹ Welch unübertreffliche Großmut Gottvaters, welch hohes und bewundernswertes Glück des Menschen!«40 Ernst Cassirer interpretiert interpretierte in Individuum und Kosmos Picos über Manetti hinausgehende Konzeption so: »Nicht im Sein des Menschen kann seine Würde beruhen – nicht auf der Stelle, die ihm ein für allemal im kosmischen Gefüge angewiesen ist. Wenn das hierarchische System die Welt in Stufen abteilt und jedem Wesen eine dieser Stufen als den ihm zukommenden Platz im Universum zuweist – so faßt gerade diese Grundanschauung den Sinn und das Problem der menschlichen Freiheit nicht. Denn dieses liegt in der Umkehr des Verhältnisses, das wir überall sonst zwischen Sein und Wirken anzunehmen pflegen. In der Dingwelt mag der alte scholastische Satz, der Satz: ›operari sequitur esse‹, gelten; die Menschenwelt hat ihre Natur und ihre Eigenart darin, daß in ihr die entgegengesetzte Bestimmung gilt. Nicht das Sein schreibt hier der Art der Gestaltung eine ein für allemal feststehende Richtung vor – sondern die ursprüngliche Richtung der Gestaltung bestimmt und setzt erst das Sein. Das Sein des Menschen folgt aus seinem Tun: Und dieses Tun geht nicht lediglich in der Energie des Willens auf, sondern umfaßt die Gesamtheit seiner bildenden Kräfte. Denn jedes echte schöpferische Bilden schließt mehr als ein bloßes Wirken auf die Welt in sich; es setzt voraus, daß das Wirkende sich vom Gewirkten, daß das Subjekt des Tuns sich von seinem Gegenstand unterscheidet und sich ihm mit Bewußtsein entgegensetzt. Und diese Entgegensetzung ist kein einmaliger Prozeß, der mit einem bestimmten Resultat abschließt, sondern sie muß stets aufs neue vollzogen werden. Das Sein des Menschen wie sein Wert hängt von diesem Vollzug ab – kann demnach immer nur dynamisch, nicht statisch bezeichnet und bestimmt werden.« 41 Für Pico sind waren die »Stufen der Leiter«, die mittels der »Kunst der Rede oder Dialektik« zu erklimmen seien, Naturphilosophie, Moralphilosophie und Theologie: »[D]en gesamten sinnlichen Teil, in dem sich die Verlockung des Leibes befindet, die die Seele, wie man sagt, am Genick gepackt hält, wollen wir mit der Moralphilosophie wie in einem fließenden Gewässer waschen, damit wir nicht als Ungeweihte und Befleckte von der Leiter zurückgestoßen werden. Aber auch dies wird 40 41

Ebd., S. 5/7. Hervorh. v. mir. Cassirer 1927, S. 97 f.

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nicht genug sein, wenn wir Begleiter der Engel sein wollen, wie sie an der Jakobsleiter hinauf- und heruntersteigen. Wir müssen zuvor gut gerüstet und unterwiesen sein, uns auf die rechte Weise von Stufe zu Stufe vorwärtszubewegen, nirgends vom Verlauf der Leiter abzuweichen und die hinaufwie herunterführenden Wege zu begehen. Wenn wir das durch die Kunst der Rede oder Dialektik erreicht haben und so schon vom Geist der Cherubim beseelt sind, werden wir in philosophischer Betrachtung über die Stufen der Leiter, das ist der Natur, von einem Endpunkt zum anderen alles durchschreiten und dabei bald hinabsteigen, das Eine wie den Osiris mit titanischer Gewalt in eine Vielheit zerstükkelnd, bald hinaufsteigen, die Vielheit gleichsam als Glieder des Osiris mit phöbeischer Macht zum Einen sammelnd, bis wir endlich im Schoß des Vaters über der Leiter ruhen und durch die Glückseligkeit der Theologie zur höchsten Vollendung gelangen.« 42 Das Ziel, das aufgrund der menschlichen Freiheit auch zum Bösen durch Leidenschaften verfehlt werden kann, ist ›Frieden‹ : »Befragen wir auch den gerechten Hiob, der mit dem Gott des Lebens ein Bündnis einging, bevor er selbst zur Welt gebracht wurde, was der höchste Gott unter den tausendmal Tausenden, die ihn dienend umgeben, am meisten wünscht. ›Frieden‹, so wird er gewiß antworten, entsprechend dem, was man bei ihm liest: ›der Frieden schafft in der Höhe‹. Und da ja die mittlere Ordnung die Mahnungen der höchsten Ordnung den Unteren erklärt, soll uns der Philosoph Empedokles die Worte des Theologen Hiob auslegen. Er weist uns auf eine zweifache Natur in unserer Seele hin, durch deren eine wir nach oben in den Himmel erhoben, durch deren andere wir nach unten in die Unterwelt gedrängt werden, durch Streit und Freundschaft oder durch Krieg und Frieden, wie seine Gedichte bezeugen. […] In der Tat, Väter, ist die Zwietracht in uns vielfältig; schwere innere Kämpfe, schlimmer als Bürgerkriege, führen wir mit uns selbst. Wenn wir diese nicht wollen, wenn wir den Frieden begehren, der uns so in die Höhe erhebt, daß wir unter die Erhabenen des Herrn aufgenommen werden, wird allein die Philosophie sie in uns ganz unterdrücken und zur Ruhe bringen; die Moralphilosophie wird zunächst, wenn unser Mensch von seinen Feinden nur Waffenstillstand erbittet, die zügellosen Ausfälle des vielgestaltigen Viehs und die Streitsucht des Löwen, seine Zornund Wutausbrüche dämpfen. Dann, wenn wir besser für uns Rat halten und uns die Sicherheit ewi42

Pico della Mirandola 1990, S. 17.

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Giovanni Pico della Mirandola und seine ›Oratio de hominis dignitate‹

gen Friedens ersehnen, wird sie dasein und unsere Wünsche großzügig erfüllen, denn sie wird, wenn die beiden Bestien getötet sind – sozusagen wenn das Opferschwein abgestochen ist –, zwischen Fleisch und Geist ein unverletzliches Bündnis heiligsten Friedens stiften.« 43 Pico wandte sich in seiner Oratio »gegen die Überbewertung der Form des sprachlichen Ausdrucks und darüber hinaus gegen die Monopolstellung des Lateinischen: ›Der Araber, der Ägypter sagen dasselbe, nicht auf lateinisch, sie sagen es aber richtig.‹ Die Philosophie wird in ihrer Eigenständigkeit und in ihrem Rang gegenüber dem Humanismus abgegrenzt: ›Wer sich nicht um einen literarisch eleganten Ausdruck bemüht, ist kein humanistisch gebildeter Mensch; wer jedoch der Philosophie entbehrt, ist kein Mensch.‹« 44 Die Oratio ist vor allem eine Verteidigung der im Namen der Theologie vom Klerus angegriffenen Philosophie: »Das, ehrenwerte Väter, sind die Gründe, die mich zur eingehenden Beschäftigung mit der Philosophie nicht nur ermutigt, sondern gedrängt haben. Ich hätte sie sicher nicht dargestellt, wenn ich nicht denen antworten müßte, die ein Studium der Philosophie besonders unter Männern von Rang oder sogar unter solchen, die von mäßigem Vermögen leben, zu verurteilen pflegen. All dieses Philosophieren wird nämlich schon – das ist das Unglück unserer Zeit – eher geschmäht und verachtet als in Ehre und Ruhm gehalten. Daher hat sich diese unheilvolle und ungeheuerliche Überzeugung in fast allen Köpfen festgesetzt, philosophiert werden solle überhaupt nicht oder doch nur von wenigen. Als ob es ganz und gar nichts wäre, die Ursachen der Dinge, die Wege der Natur, die Ordnung des Universums, die Ratschlüsse Gottes, die Geheimnisse des Himmels und der Erde genauestens erforscht und greifbar vor Augen zu haben, außer wenn man dadurch irgendeine Gunst erhaschen oder sich einen Gewinn verschaffen kann.« 45 Die Verteidigung der Philosophie ist ein Plädoyer für die Freiheit des Denkens, gerichtet gegen jene, die Pico »nicht zugestehen, über neunhundert Thesen zu disputieren, indem sie verleumderisch behaupten, dies sei ebenso überflüssig und ehrsüchtig wie über meine Kräfte unternommen.« 46 Ebd., S. 19. Buck 1990a, S. XVI. Die beiden Zitate: Pico della Mirandola, De genere dicendi philosophorum. In: E. Garin, Filosofi italiani del Quattrocento, Firenze 1942, S. 440, und ebd., S. 442, 444. 45 Pico della Mirandola 1990, S. 33. 46 Ebd., S. 37. 43 44

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›Dignitas hominis‹ in der Renaissance

In Picos philosophischer Konzeption kann der Mensch »seine Stellung im Kosmos in einem Akt freier Entscheidung selbst bestimmen. Die menschliche Natur ist offen, frei zur Selbststimmung und Selbstgestaltung. Der Mensch zeichnet sich durch Urteilsfähigkeit sowie eine ästhetische und moralische Einstellung aus. Er hat ein reflektiertes Verhältnis zur Welt. Er ist nicht nur in der Welt, sondern verhält sich zur Welt. In dieser Anlage zur Freiheit liegt die Würde des Menschen. Die philosophische Intuition, die Pico hier entfaltet, enthält bereits wesentliche Elemente des modernen philosophischen Verständnisses von Menschenwürde.« 47

2.3 Die Reformation als Gegenbewegung Die Kritik am ›miseria‹-Topos, der Bruch mit kirchlich fixierten Dogmen der Scholastik und das Plädoyer für menschliche Würde und Autonomie waren wesentliche Elemente des von Renaissance-Intellektuellen – vor allem Philosophen und Künstlern – gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse eingeklagten und normativ begründeten Aufbruchs in säkulare menschliche Selbstgestaltung aus Freiheit. Diese Entwicklung hat zu einem beträchtlichen Modernisierungsschub geführt. Doch zur Epoche der Renaissance gehörte auch ein ganz anderer Denkstil, dem die Reformation zum Durchbruch verhalf und der sich vor allem in den Prinzipien ›sola gratia‹ und ›sola fide‹ ausdrückte. An die Stelle der Idee des Menschen, der sich in der aktiven, von Vernunft gesteuerten Gestaltung seiner Welt verwirklicht und deshalb zum Bild Gottes erhoben ist, trat mit Martin Luther 48 und anderen Reformatoren eine Gegen-Idee. Zwar wurde der Mensch »zum Bilde Gottes geschaffen. Also war er das Bild Gottes.« 49 Doch er hat seine Gottesebenbildlichkeit verloren. Der in Sünde lebende Mensch kann sein Heil nicht durch eigene gute Werke erwirken, sondern allein dank der Gnade Gottes; und seine Rechtfertigung und Rettung kann er allein aus dem Glauben an die Versöhnungstat Christi erreichen. »Die Reformatoren Luther und Calvin folgten Augustin: Die sündigen Menschen 47 48 49

Mohr 2007, S. 14 f. Zu ›Luther und die Würde des Menschen‹ vgl. die Beiträge in Scharbau 2005. Luther, De Iustificatione. In: WA 39 I, 108.

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haben ihre Gottesebenbildlichkeit eingebüßt; sie wiederzuerlangen, sei eine bloße Hoffnung, die sich auf die Güte und Gnade Gottes richte und aus unser aller Gotteskindschaft nähre. Da wir aber über Gottes Gnadenwahl nichts wissen, müssen wir alle Menschen als unsere Brüder achten und an ihnen die gnadenweise wiedergewinnbare Gottähnlichkeit ehren. Der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit wird so von dem der gemeinsamen Gotteskindschaft überlagert.« 50 Im Zentrum von Luthers Theologie steht die Rechtfertigungslehre. In ihr wird die Einsicht formuliert, »daß der Mensch als Person nicht durch seine eigenen Leistungen definiert, sondern allein durch seine Gottesrelation konstituiert wird, also durch etwas, was seiner eigenen Verfügung schlechterdings entzogen ist. Im Geschehen der Rechtfertigung erfährt der Mensch sich so als das Wesen, das weder das bloße Resultat gegebener Bedingungen ist noch in irgendeiner Definition seiner selbst aufgeht, sondern sie alle transzendiert. Seine Würde kann deshalb auch nicht als etwas an ihm selbst Aufweisbares verstanden werden; vielmehr wird sie ihm durch Gottes rechtfertigende Gnade zugesprochen. Der Satz, daß der Mensch durch Gnade gerechtfertigt werde, bildet deshalb in der reformatorischen Theologie eine Definition des Menschen, die an die Stelle geläufiger philosophischer Definitionsangebote tritt.« 51 Vor dem Sündenfall, im status originalis, gehörte – so Luther – die Gottesebenbildlichkeit noch zur ›Natur‹ Adams 52, zu einem Leben in Übereinstimmung mit dem Leben Gottes. Nach dem Sündenfall aber, im status peccatoris, war die Gottesebenbildlichkeit infolge der Erbsünde gänzlich verloren gegangen. Die Natur des Menschen, der nun von Todesfurcht, Begierde und Hass bestimmt ist, ist zerrüttet. In Von den guten Werken (1520) 53 schrieb Luther: »Der Mensch, durch die Sünde verderbt, hat viel böse Liebe und Neigung zu allen Sünden. (Es ist so) wie die Schrift sagt (1. Mose 8, 21): ›Des Menschen Herz und Sinne stehen allezeit nach dem Bösen‹, das ist Hoffart, Ungehorsam, Zorn, Haß, Geiz, Unkeuschheit usw., und Summa Summarum: in allem, was er tut und läßt, suchet er mehr seinen Nutzen, Willen und Ehre als Gottes und seines Nächsten. Darum sind alle seine Werke, alle seine 50 51 52 53

Hofmann 2009, S. 27; vgl. Leiner 2008, S. 54 f. Huber 1992, S. 579. Luther, WA 42, 47, 8 f.; vgl. WA 42, 123 f. Vgl. Luther, WA 6, 204–250.

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Worte, alle seine Gedanken, all sein Leben böse und nicht göttlich. Soll nun Gott in ihm wirken und leben, so müssen alle diese Laster und Bosheiten erwürgt und ausgerottet werden, daß hier eine Ruhe und Aufhören aller unserer Werke,Worte, Gedanken und unseres Lebens geschehe«. Der sündige Mensch ist nicht mehr das Ebenbild Gottes, sondern des Teufels: »Aber das selbe Bilde ist nu untergegangen und verderbet und an des Statt des Teufels Bilde aufgericht«. 54 Mit der Fixierung auf die Erbsünde kam der ›miseria‹-Topos in der Reformation wieder auf die Tagesordnung. Gleichwohl hielt Luther an der Möglichkeit einer zukünftigen Wiederherstellung der Gottesebenbildlichkeit fest – gemäß der Aussage in Röm 3,28, dass »der Mensch durch Glauben gerechtfertigt werde«, und der Definition von Hebr 11,1 folgend, der Glaube sei die ›Substanz (Fähigkeit) der hoffenden Dinge‹ (fides est substantia rerum sperandarum): »So verhält sich der Mensch in diesem Leben zu seiner künftigen Gestalt, bis dann das Ebenbild Gottes wiederhergestellt und vollendet sein wird«. 55 Bei Luther heißt es: »Durch den Glauben fähret er (der Mensch) über sich in Gott, aus Gott fähret er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe […]. Siehe, das ist die rechte geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde.« 56 Die anthropozentrischen Renaissance-Ideen der Autonomie des mit Vernunft und freiem Willen ausgestattetenMenschen und seiner Würde haben in Luthers theozentrischer Theologie keinen Ort mehr. 57 Luther-Interpreten sprechen gar davon, das Wort ›Menschenwürde‹ stehe für eine »negative Theologie. Es steht an einer Stelle, an der eigentlich von Gott die Rede sein müsste«. 58 Der Mensch ist nicht auf Luther, WA 24, 153, 14. Vgl. Luthers Disputatio de homine, These 25. Luther, WA 39 I, 177,7–10; Übers. nach G. Ebeling: Lutherstudien. Bd. 2. Disputatio de homine. Teil 1. Text und Traditionshintergrund, Tübingen 1977, S. 23. 56 Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, zit. nach Strohm 1977, S. 198. 57 »Von ›dignitas‹ ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht die Rede; und wenn Luther das Wort verwendet, so meint er damit nur die Würdigkeit des Menschen, für seine Tugend belohnt zu werden, wobei freilich nicht die Würdigkeit an sich, sondern die göttliche Gnade allein den Lohn verschafft.« (Kondylis 1992, S. 662, mit Bezug auf Luthers De Servo arbitrio (1525), WA 18, 693 f.) 58 Heuser 2004, S. 238. 54 55

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sich hin, sondern auf Gott hin geschaffen, der allein ihn aus dem elenden irdischen Dasein erlösen kann: In Psalm 6 von Die Sieben Bußpsalmen (1525) schrieb Luther: »Wende dich, Herr, und errette meine Seele. […] Hilf mir. Denn dies ist die tiefste und größte Krankheit der Seele, darin sie ewiglich verderben müßte, wenn sie so bleiben sollte. Nicht um meiner Verdienste Würdigkeit, sondern deiner Güte willen: auf daß dieselbe gepriesen, geliebt und gelobt werde, weil du sie auch den Unwürdigen zu Hilfe kommen läßt. Denn welchem Gott nach seinem Verdienst hilft, der wird billiger geehret und gepriesen als Gottes Güte. Das wäre eine große Schmach. Darum, soll Gottes Güte gepriesen werden, so müssen alle Verdienste und Würden zunichte werden.« Insgesamt ein Gegner der Scholastik 59, teilte Luther zwar Tomas von Aquins These, durch die Sünde verliere der Mensch seine Gottesebenbildlichkeit. Doch gerade deshalb verwarf er die andere These des Aquinaten, »nur im Vollzug des ›dominium sui actus‹ gelang[e] der nach dem Bild seines Schöpfers auf Freiheit hin entworfene Mensch zu seiner Bestimmung; die Auszeichnung des Person-Seins [sei] dem Menschen nicht anders denn als Auftrag zur fortwährenden Inbesitznahme seiner selbst auf dem Weg des Handelns gegeben«. 60 In seiner Disputatio de homine sieht Luther den Menschen gerade in Bezug auf den Willen und das Denkvermögen »dem Zufall und der Nichtigkeit unterworfen«. 61 Über die Frage der Willensfreiheit und darüber, ob der Mensch aus eigener Aktivität zu seinem Heil beitragen könne, gerieten der Humanist Erasmus von Rotterdam und der Reformator in einen erbitterten Streit. Erasmus hatte Luther in seiner Schrift Über den freien Willen (De libero arbitrio diatribe sive collatio, 1524) 62 mit seinem Plädoyer für die Wissensfreiheit des Menschen konfrontiert und provoziert. Die Auffassung Luthers, der er widersprach, bilanzierte er so: »[E]s sei dem schlichten Gehorsam einer christlichen Gesinnung höchst angemessen, 59 Vgl. Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam (1517). In: WA 1, 224–228, 284, 507. Luther polemisiert gegen die »Theologastri scholastici«, die »ebenso sich wie andere geblendet« hätten durch »eitel erdichtete, erlogene, verfluchte, teuflische Geschwätze und Mönchsträume«. 60 Schockendorf 1990, S. 486. 61 Luther, Disputatio de homine, These 18. 62 Erasmus von Rotterdam, Erörterung oder Streitgespräch über den freien Willen. In: Der deutsche Renaissancehumanismus. Abriß und Auswahl v. W. Trillitzsch, Leipzig 1981.

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daß der Mensch völlig vom Willen Gottes abhängen und auf seine Verheißungen seine ganze Hoffnung und Zuversicht setzen und erkennen soll, wie armselig er selbst von sich aus ist; daß er Gottes unendliche Barmherzigkeit bewundern und liebgewinnen soll, die er uns ohne unser Verdienst in so reichem Maße schenkt; daß er sich Gottes Willen gänzlich unterwerfen soll, mag er uns nun erretten oder verderben wollen, und sich keinerlei Ruhm aufgrund guter Werke anmaßt, sondern allen Ruhm seiner Gnade zuschreibt, indem er bedenkt, daß der Mensch nichts anderes ist als das lebendige Werkzeug des göttlichen Geistes, das dieser sich selbst gereinigt und geheiligt hat durch seine unverdiente Güte und das er nach seiner unerforschlichen Weisheit lenkt und leitet; daß es hierbei nichts gibt, was einer seinem eigenen Vermögen zuschreiben könnte, und daß er dennoch durch sein festes Vertrauen von Gott den Lohn des ewigen Lebens erhoffen darf, nicht weil er ihn durch seine guten Werke verdient hätte, sondern weil es der Güte Gottes gefallen hat, ihn denen zu verheißen, die ihm vertrauen. Des Menschen Aufgabe aber sei es, Gott beständig zu bitten, ihm seinen Geist zu verleihen und in uns zu vermehren, ihm zu danken, wenn durch uns etwas vollbracht wurde, seine Macht in allem zu verehren, seine Weisheit überall zu bewundern und seine Güte allenthalben zu lieben.« 63 Erasmus hielt diese Auffassung für fragwürdig und falsch: »Wenn ich denn aber höre, das Verdienst des Menschen sei so nichtig, daß alle Werke auch noch so frommer Menschen Sünde seien; wenn ich höre, unser Wille leiste nicht mehr, als der Ton in der Hand des Töpfers tut; wenn ich höre, all unser Tun und Wollen sei auf absolute Bestimmung zurückzuführen – dann wird mein Herz von vielen Skrupeln geplagt. Zunächst: Wieso liest man so oft, die Heiligen seien reich an guten Werken gewesen und hätten Gerechtigkeit geübt, sie seien als Gerechte vor Gott gewandelt und seien weder nach rechts noch nach links vom Wege abgewichen – wenn alles, was auch die ganz Frommen tun, Sünde ist, und zwar solche Sünde, daß darum einer, für den doch Christus gestorben ist, in die Hölle stürzen müßte, wenn ihm nicht Gottes Barmherzigkeit zu Hilfe käme?! Wieso hört man so oft von ›Lohn‹, wo es doch überhaupt kein Verdienst gibt? Mit welchem Recht wird der Gehorsam derer gelobt, die den göttlichen Geboten gehorchen, und der Ungehorsam derer verurteilt, die nicht gehorchen? Warum 63

Ebd., S. 481 f.

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wird in der Heiligen Schrift so oft das Gericht erwähnt, wenn es überhaupt kein Abwägen der Verdienste gibt? Oder warum müssen wir vor Gottes Richterstuhl treten, wenn nichts nach unserem eigenen Willen, sondern alles an uns nach reiner Bestimmung geschah? Es widerstreitet dem auch die Überlegung, wozu dann so viele Ermahnungen, so viele Gebote, so viele Drohungen, so viele Ermunterungen, so viele Aufforderungen nötig sind, wenn wir selber nichts vermögen, sondern Gott nach seinem unveränderlichen Willen alles in uns wirkt, das Wollen und das Vollbringen?! Er will doch, daß wir ohne Unterlaß beten, er will, daß wir wachen und kämpfen und um den Lohn des ewigen Lebens ringen sollen. Warum will er ohne Unterlaß um etwas gebeten werden, wo er doch selbst schon beschlossen hat, es zu geben oder nicht zu geben, und er seine Beschlüsse nicht ändern kann, da er selbst unwandelbar ist? Warum befiehlt er uns, unter so vielen Mühen zu erstreben, was er umsonst zu schenken selbst beschlossen hat? Wir werden angefochten, vertrieben, verspottet, gequält und getötet: Dann ringt in uns Gottes Gnade, dann siegt und triumphiert sie. So Schreckliches erleidet ein Märtyrer, und dennoch wird ihm keinerlei Verdienst zugestanden, ja es heißt noch sündigen, wenn er in der Hoffnung auf das himmlische Leben seinen Leib den Qualen aussetzt? Doch warum wollte der allbarmherzige Gott in den Märtyrern so wirken?« 64 Luthers Antwort in Vom unfreien Willen (De servo arbitrio, 1525) – »Dem ehrwürdigen Herrn Erasmus von Rotterdam Martinas Luther Gnade und Friede in Christus« – war schroff und unversöhnlich: Der Mensch sei bezüglich seines Heils ohnmächtig, ein Sünder, der Gott weder erkennen noch Gottes Willen kraft eigenen Handelns erfüllen könne. Luther bekräftigte gegen Erasmus seine Lehre von der Prädestination: »Wenn wir glauben, es sei wahr, daß Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, daß es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.« 65 Der menschliche Wille ist »in die Ebd., S. 482 f. Luther, Vom unfreien Willen. In: K. Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Bd. 3: Der neue Glaube, Göttingen 1991, S. 331 f.

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Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will, wie der Psalm (75, 22 f.) sagt: Ich bin wie ein Tier geworden und ich bin immer bei dir. Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen.« 66 Luthers Schlussfolgerung lautete, »daß der freie Wille ein völlig göttlicher Ehrenname ist und keinem anderen zustehen kann, denn allein der göttlichen Majestät«. 67 Hieraus folgte, der Mensch sei »im Verhältnis zu sich selbst nicht Herr, sondern Knecht; er entgleitet sich eben in dem Versuch der praktischen Selbstaneignung, durch den er seiner selbst mächtig werden will«. 68 An die Stelle von Autonomie und Würde trat die Unterordnung des Menschen unter die göttlichen Gebote und zugleich unter die von Gott gewollte weltliche Obrigkeit. Bei Luther heißt es: »Wir sehen es nicht für eine sonderliche Ehre an, daß wir Gottes Kreatur sind. Aber daß einer ein Fürst und großer Herr ist, da sperrt man Augen und Maul auf, obwohl doch derselbe nur eine menschliche Kreatur ist, wie es St. Petrus nennt (I. Epist 2,13) und ein nachgemacht Ding. Denn wenn Gott nicht zuvor käme mit seiner Kreatur und machte einen Menschen, dann würde man keinen Fürsten machen können. Und dennoch klammern alle Menschen danach, als sei es ein köstlich, groß Ding, so doch dies hier viel herrlicher und größer ist, daß ich Gottes Werk und Kreatürlein bin. Darum sollen Knechte und Mägde und jedermann solcher hohen Ehre sich annehmen und sagen: ich bin ein Mensch, das ist je ein höher Titel, denn ein Fürst sein. Ursache: den Fürsten hat Gott nicht gemacht, sondern die Menschen: daß ich aber ein Mensch bin, hat Gott allein gemacht.« 69 In Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) setzte Luther deshalb zunächst bei einer Fürsten-Kritik an: »Gott der Allmächtige hat unsere Fürsten toll gemacht, daß sie nicht anders meinen, sie könnten tun und ihren Untertanen gebieten, was sie nur wollen, (und die Untertanen irren auch und glauben, sie seien 66 67 68 69

Ebd., S. 196. Ebd., S. 198. Schockendorf 1990, S. 499. Zit. n. Strohm 1977, S. 200.

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schuldig, dem allem zu folgen), so ganz und gar, daß sie nun angefangen haben, den Menschen zu gebieten, Bücher von sich zu tun, zu glauben und zu halten, was sie vorgeben. Damit vermessen sie sich, sich auch in Gottes Stuhl zu setzen und die Gewissen und den Glauben zu meistern und nach ihrem tollen Gehirn den heiligen Geist zur Schule zu führen. Dennoch verlangen sie, man dürfe es ihnen nicht sagen und solle sie noch gnädige Junker nennen.« 70 Er wolle seinen »ungnädigen Herrn und zornigen Junkern nicht länger zusehen« und »ihnen zum wenigsten mit Worten Widerstand leisten«. 71 Doch die Notwendigkeit einer rechtlichen Zwangsordnung und das Prinzip des Gehorsams gegenüber der weltlichen Obrigkeit hat Luther theologisch gerechtfertigt. Während »der Gerechte von sich selbst aus alles und mehr tut, als alle Rechte fordern«, tun »die Ungerechten […] nichts Rechtes, darum bedürfen sie des Rechts, das sie lehre, zwinge und dringe, recht zu tun«. 72 Die weltliche Zwangsordnung begründet sich freilich nicht aus sich selbst: »Aufs erste müssen wir das weltliche Recht und Schwert gut begründen, daß nicht jemand daran zweifle, es sei durch Gottes Willen und Ordnung in der Welt. Die Sprüche aber, die sie begründen, sind diese: Rom. 13,1–2: ›Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen‹, ferner 1. Petr. 2, 13–14: ›Seid Untertan aller menschlichen Ordnung, es sei dem König, als dem Obersten, oder den Statthaltern, als die von ihm gesandt sind zur Strafe für die Übeltäter und zu Lobe den Rechtschaffenen.‹« 73 Luther bestand allerdings darauf, der weltlichen Obrigkeit Grenzen zu setzen: »Aufs erste ist zu merken, daß die zwei Teile Adamskinder, deren einer in Gottes Reich unter Christus, deren anderer in der Welt Reich unter der Obrigkeit ist (wie oben gesagt), zweierlei Gesetz haben. Denn ein jegliches Reich muß seine Gesetze und Recht haben, und ohne Gesetz kann kein Reich bestehen, wie das hinreichend die Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. In: WA 11, 246. 71 Ebd., 247. 72 Ebd., 250. 73 Ebd., 247. 70

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tägliche Erfahrung ergibt. Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich auf Erden ist. Denn über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen als sich selbst allein. Deshalb: wo weltliche Gewalt sich vermißt, der Seele Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen. Das wollen wir so klar machen, daß mans mit Händen greifen solle, auf daß unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben.« 74 »Das alles hat auch Christus selbst fein unterschieden und kurz zusammengefaßt, wenn er Matth. 22, 21 sagt: ›Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist‹. Wenn nun kaiserliche Gewalt sich in Gottes Reich und Gewalt erstreckte und nicht ein Besonderes wäre, sollte ers nicht so unterschieden haben.« 75

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Ebd., 262. Ebd., 266.

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3. Skeptische Kritik an der Überschätzung des Menschen: Montaignes ›Essais‹ und Pascals ›Pensées‹

Neben der reformatorischen Zurücknahme wesentlicher Elemente der Menschenwürde-Idee in der Renaissance ist eine andere frühneuzeitliche Entwicklung von Bedeutung, die der Humanist Michel Eyquem de Montaigne mit seinen 1580 in Bordeaux erschienenen Essais eingeleitet hat: die skeptische anthropologische Kritik an der ›maßlosen‹ Überschätzung des Menschen in der Renaissance. Montaigne setzte ihr – ohne der ›miseria‹-Unterstellung Tribut zu zollen – die Thesen von der Einsamkeit des Menschen und der Unmöglichkeit einer Beziehung zu Gott entgegen. Hieraus folgte die Forderung nach einem »bescheidenen Humanismus«: »Die ganze ideologische Architektonik, die den traditionellen Würde-Diskurs stützte, bricht zusammen. Montaigne spricht nicht mehr auf die selbe Weise wie seine Vorgänger, und seine singuläre Stimme stellt eine im eigentlichen Sinne menschliche Würde vor, die sich auf die einzige sich ihm offenbarende ›Materie‹ stützt, das Individuum.« 1 Dieses Individuum, das sich nicht auf Autoritäten stützen und keine Dogmen anerkennen soll, ist auf seine autonome Moral zurückgeworfen. Es hat weder eine Sonderstellung im Kosmos, noch ist es Herr über die übrigen Geschöpfe, noch ›imago Dei‹ : »Betrachten wir denn einmal den Menschen allein, ohne fremde Hilfe, nur mit seinen eigenen Waffen gerüstet, und beraubt der Gnade und Erkenntnis Gottes, die all seine Ehre, seine Kraft und der Urgrund seines Daseins ist. Sehen wir, wie er sich in dieser schönen Rüstung ausnimmt. Mache er mir durch die Kraft seiner Schlußfolgerungen begreiflich, auf welchen Fels er diese großen Vorzüge gegründet hat, die er vor der übrigen Kreatur zu haben meint. Wer hat ihm in den Kopf gesetzt, daß dieser bewundernswürdige Reigen des Himmelsgewölbes; das ewige Licht dieser Flammenkörper, die so erhaben über seinem Haupte kreisen, 1

Martinet 2007, S. 235 f. Meine Übers.

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die ungeheuren Bewegungen dieses unendlichen Meeres zu seiner Annehmlichkeit und zu seinen Diensten geschaffen und so viele Jahrhunderte in Gang gehalten wurden? Läßt sich etas Lächerlicheres ausdenken, als wenn dieses elende und erbärmliche Geschöpf, das nicht einmal seiner selbst Herr und von allen Seiten jeder Unbill ausgesetzt ist, sich für den Herrn und Meister des Alls ausgibt, von dem auch nur den geringsten Teil zu überschauen, geschweige denn zu beherrschen, nicht in seiner Macht steht? […] Die Anmaßung ist unsere natürliche Erbkrankheit. Das unglückseligste und gebrechlichste aller Geschöpfe ist der Mensch, und allzumal das hoffärtigste. Er sieht und fühlt sich hienieden im Kot und Auswurf der Erde hausen, in den übelsten, abgestorbensten und vermodertsten Winkel des Alls ausgesetzt und angeschmiedet […] und geht hin und setzt sich in seiner Einbildung über den Mondkreis und macht den Himmel zum Schemel seiner Füße. Aus dem Hochmut dieser gleichen Einbildung kommt es, daß er sich Gott gleichstellt, daß er sich göttliche Eigenschaften beimißt, daß er sich auserlesen dünkt und vom großen Haufen der übrigen Geschöpfe absondert […]. Wir stehen weder über noch unter den übrigen Geschöpfen: alles, was unter dem Himmel ist, sagt der Weise, hat einerlei Gesetz und einerlei Los.« 2 Über ein Jahrhundert später erschienen die von Blaise Pascal ab 1658 verfassten fragmentarischen Reflexionen, die 1670 unter dem Titel Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets (Gedanken über die Religion und über einige andere Themen) herausgegeben wurden. Sie zielten auf eine Apologie des Christentums. Pascal hat den durch Montaigne 3 gegenüber der Renaissance vollzogenen Paradigmenwechsel so radikalisiert, dass ›Menschenwürde‹ keine Rolle mehr spielen zu können schien. Wie kaum ein anderer hat er auf der Grundlage seines christlichen Welt- und Menschenbildes die »Vergeblichkeit menschlicher Ansprüche aufgezeigt und vehement die Notwendigkeit der Bescheidenheit, der Unterwerfung und der Niederzwingung des Erhabenheitsgefühls betont«; und doch hat er die »Würde des Menschen anerkannt«. 4 Montaigne, Essais, zit. nach Wetz 2011, S. 91 f. Pascal grenzt sich in den Fragm. 205–214 von Montaigne ab, der »darauf ausging eine Moral zu suchen, die auf die Vernunft gegründet wäre ohne das Licht des Glaubens«; »Gefühllos zerstört er alles, was unter den Menschen als das Gewisseste gilt«. 4 Klein 1968, S. 93 f. 2 3

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»Die Würde des Menschen in seiner Unschuld bestand darin, daß er über die Geschöpfe herrschte und sie gebrauchte; aber jetzt« – so heißt es in Fragment 486 – »besteht sie darin, daß er sich von ihnen scheidet und sich ihnen unterwirft.« Anders als im Renaissance-Denken hat der Mensch für Pascal seine Sonderstellung im Universum verloren; er ist ein entthronter König (›roi dépossedé‹ 5), der seine Nichtigkeit erkennt. In Fragment 84 fragte Pascal: »Was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Unendlich entfernt vom Begreifen der äußersten Grenzen, sind ihm Ende und Gründe der Dinge undurchdringlich verborgen, unlösbares Geheimnis; denn er ist gleicherweise unfähig, das Nichts zu erfassen, aus dem er hervorging, wie das Unendliche, das ihn verschlingt.« Der Mensch hat – »voll von Sünden« – Gott verloren; seine Pflicht ist, »Gott zu lieben«, doch seine »bösen Gelüste« bringen ihn dazu, sich »von ihm ab[zu]wenden«. 6 Ohne Gott lebt er in Elend. Doch dieses Elend war nicht mehr die ›miseria‹ des mittelalterlichen Denkens, und Pascal entzog sich der Alternative ›Elend oder Größe‹ : »Die Größe des Menschen besteht darin, dass er sich in seinem Elend erkennt. Ein Baum erkennt sich selbst nicht in seinem Elend. Es bedeutet also elend zu sein, wenn man sich in seinem Elend erkennt, doch es bedeutet zugleich groß sein, wenn man erkennt, dass man elend ist.« 7 »So offenbar ist die Größe des Menschen, daß er sie selbst aus seinem Elend gewinnt. Denn was den Tieren natürlich ist, nennen wir Elend beim Menschen; es erinnert uns daran, daß wir, deren Natur jetzt gleich der der Tiere ist, aus einer bessern Natur, die uns eignete, gestürzt sind. Denn wer ist außer einem entthronten König unglücklich nicht König zu sein?« 8 Was den Menschen nach dem Verlust seiner Zentralstellung im Universum noch auszeichnet und seine Würde begründet, ist allein seine Fähigkeit zum Denken: »Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht ist es nötig, dass sich das All wappne, um ihn zu vernichten: ein Windhauch, ein Wassertropfen reichen hin, um ihn zu töten. Aber, wenn das All ihn 5 6 7 8

Pascal, Pensées, Fragm. 409. Ebd., Fragm. 430. Ebd., Fragm. 123. Ebd., Fragm. 409.

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vernichten würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, dass er stirbt, und er kennt die Übermacht des Weltalls über ihn; das Weltall aber weiß nichts davon. Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken. Das ist die Grundlage der Moral.« 9 Doch diese Würde ist wie die von ihr gebotene Moral potenzieller Art: Vernunft macht das Sein des Menschen aus, doch er handelt nicht aus Vernunft. Seine Natur ist korrumpiert. 10 Deshalb kommt der Religion die Aufgabe der Rettung zu: »Was mich angeht, so gestehe ich, daß, sobald die christliche Religion diesen Grundsatz enthüllt, daß die Natur des Menschen verdorben und er von Gott verstoßen sei, die Augen geöffnet sind, um die Zeichen dieser Wahrheit überall zu sehen; denn die Natur ist derart, daß sie überall sowohl im Menschen als außerhalb des Menschen auf einen verlorenen Gott hinweist und auf eine verderbte Natur.« 11

Ebd., Fragm. 347. Vgl. Fragm. 143: »Ich kann mir sehr wohl einen Menschen ohne Hände, ohne Füße und ohne Kopf ausdenken, denn wir wissen lediglich aus Erfahrung, dass der Kopf notwendiger ist als die Füße. Doch ich kann mir keinen Menschen ohne Gedanken ausdenken. Das wäre ja dann ein Stein oder ein stumpfsinniges Tier.« Vgl. auch die Fragm. 146, 346 und 365. 10 Ebd., Fragm. 486. 11 Ebd., Fragm. 441. 9

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4. Wege zu Aufklärung, Revolutionen und Menschenrechten: ›Menschenwürde‹ in Naturrechtstheorien und als Begriff der Rechts- und Politiktheorie im 18. Jahrhundert 4.1 Samuel Freiherr von Pufendorfs Naturrechtstheorie Es hat nach Manetti und Pico della Mirandola annähernd zweihundert Jahre gedauert, bis die Würde des Menschen in den Naturrechtslehren des 17. Jahrhunderts – noch unter den Bedingungen des feudalen Absolutismus – zu einem Gegenstand der Rechtstheorie geworden ist – nicht bei Hugo Grotius, nicht bei Thomas Hobbes, sondern bei Samuel Freiherr von Pufendorf: »Ein bißchen altväterlich das Ganze, mit Perücke, aber großartig. Die Würde des Menschen, dignatio. Hier erscheint sie zum ersten Mal im Recht und damit steht er am Anfang der Ideen allgemeiner Menschenrechte, noch vor John Locke und mit deutlicher Wirkung auf Amerikaner und Franzosen einhundert Jahre später.« 1 Pufendorf blieb »der einzige unter den klassischen Vertretern des Naturrechts, bei dem Menschenwürde in ihrer Verbindung mit einer Vernunftanthropologie geradezu konstitutive Funktion« hatte. 2 Pufendorf definierte das Naturrecht 1673 in De Officiis Hominis et Civis zwar noch im Rahmen des Christentums, freilich rationalistisch gewendet zur ›natürlichen Vernunft‹ : »Die Grundordnung des Gemeinschaftslebens, welche den Menschen lehrt, wie er sich als richtiges Glied menschlicher Verbände verhalten muß, wird Naturrecht genannt. Die Hauptregel des Naturrechts ist diese: Jedermann muß Gemeinschaft halten und dem Ganzen dienen, so gut er kann! Weil nun jeder, der ein Ziel erreichen möchte, auch die Mittel wollen muß, ohne die es nicht erreicht werden kann, gilt alles, was die Gemeinschaft festigt und fordert, als vom Naturrecht geboten und alles, was sie verwirrt oder zerstört, für verboten. […] Um diesen Regeln Gesetzeskraft zuzuerkennen, genügt es aber nicht, daß sie offenbar nutzbringend er1 2

Wesel 1997, S. 370. Vgl. Welzel 1986. Kondylis 1992, S. 663.

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scheinen. Dazu bedarf es vielmehr der Annahme, daß Gottes Vorsehung alles regiert und der Menschheit die Beobachtung dieser Regeln eingeschärft habe, so daß man sie als von Ihm offenbarte, wenngleich auf dem Wege der natürlichen Vernunft einsehbare Gebote begreifen kann.« 3 Auch die Notwendigkeit und die Geltung rechtlicher Ordnung begründete Pufendorf ganz traditionell als Folge der Faktizität menschlicher Unvernunft und Aggressivität: »Es wurde erst nötig, Verbote zu geben, als statt der Liebe die Gehässigkeit begann unter den Menschen zu herrschen, und eine üppige Saat verderbter Naturen aufgegangen war, die hemmungslos nicht nur Unschuldige, sondern auch ihnen freundlich gesinnte und wohlwollende Menschen angreifen.« 4 Neu aber war sein naturrechtliches Plädoyer für die nicht von Gott verliehene, sondern allen Menschen als Menschen zukommende Würde, die sie aufgrund ihres Selbterhaltungsinteresses, ihrer Selbstachtung und ihrer Sozialität zur Achtung der Würde aller verpflichtet: »Der Mensch ist nicht nur ein auf Selbsterhaltung bedachtes Lebewesen. Ihm ist auch ein feines Gefühl der Selbstachtung eingegeben, dessen Verletzung ihn nicht weniger tief trifft als ein Schaden an Körper oder Vermögen. […] Deswegen steht folgende Regel an zweiter Stelle unter den Pflichten aller gegen alle: Daß jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in gleicher Weise Mensch ist, ansieht und behandelt.« 5 ›Würde‹ ist nun ein Implikat des Menschseins, das zu achten ist: »Das Wort ›Mensch‹ begreift eine gewisse Würde in sich, so daß das letzte und wirksamste Argument, mit dem man mutwillige Angriffe zurückweist, zu lauten pflegt: Ich bin kein Hund, sondern so gut ein Mensch wie jeder andere! Jeder teilt mit allen die gleiche menschliche Natur: Niemand kann und will sich mit solchen zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die ihn nicht wenigstens als Mensch und Träger der gleichen Natur gelten lassen. Daher gebührt unter den Gemeinschaftspflichten der zweite Platz dieser: Jeder achte den anderen und behandle ihn als einen von Natur ihm gleich Gearteten, nämlich als Menschen schlechthin!« 6 Pufendorf 1948, S. 17. Ebd., S. 10. 5 Vgl. Pufendorf, De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo, 1. Buch, Kap. 7, § 1. 6 Pufendorf 1948, S. 26. Vgl. Pufendorf, Jus naturae methodo scientifica pertractatum 3 4

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Menschenwürde und die ›Rights of Man‹

1672 erschien Pufendorfs Hauptwerk De jure naturae et gentium libri octo; es wurde 1711 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Acht Bücher von Natur und Völkerrecht veröffentlicht. Hier schrieb er dem Individuum die Attribute zu, die von nun an zu Elementen des modernen Rechts wurden und die Rechtsfähigkeit der Individuen begründeten: die Fähigkeit zum Handeln aus Vernunft, die Willensfreiheit und die Menschenwürde: »Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.« 7

4.2 Menschenwürde und die ›Rights of Man‹ Die in Verfassungen des 20. Jahrhunderts normierte Achtung der Menschenwürde ist weder auf die antike noch auf die mittelalterliche ›dignitas‹ zurückzuführen. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines Prozesses, in dem im ausgehenden 18. Jahrhundert – durchaus noch in der Kontinuität religiösen Glaubens an den Gott, der die Menschen als Gleiche geschaffen hat – die Norm der Achtung und des Schutzes menschlicher Würde im Kontext der revolutionären Kritik am ›ancien régime‹ und der Forderungen nach Menschenrechten völlig neu begründet wurde. Was ›Menschenwürde‹ – ›human dignity‹, ›dignité humaine‹ – von nun an bedeutete, ergab sich erst aus den sie konkretisierenden Menschenrechtsansprüchen und -normen. Von entscheidender Bedeutung für die Verknüpfung von Menschenwürde und Menschenrechten war die amerikanische Revolution, die Entwicklung hin zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Die ›Virginia Bill of Rights‹ vom 12. Juni 1776 verwandte zwar den Begriff human dignity nicht, machte ihn aber menschenrechtlich verstehbar: »1. That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; (1740/48), 6, § 759: »Honor humanitatis dicitur, qui homini defertur qualenus homo est.« 7 Pufendorf, De iure naturae et gentium, 2. Buch, 1. Kapitel, § 5. »Maxima inde homini dignatio, quod animam obtinet immortalem, lumine intellectus, facultate res dijudicandi et eligendi praeditam, et in plurimas artes solertissimam.«

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namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.« Dies gilt auch für die unmittelbar auf die ›Virginia Bill‹ folgende Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« Bereits zehn Jahre später wurde der Würdebegriff im politischen Kontext der Debatte über die Verfassung der Vereinigten Staaten verwandt, und zwar in den ›Federalist Papers‹, 85 Essays in New Yorker Zeitungen, in denen für die Annahme einer republikanischen Verfassung geworben wurde. 8 ›Dignity‹ bezeichnete hier die allen Menschen aufgrund ihrer Gleichheit und ihrer natürlichen Rechte zukommende Würde, allerdings auch die Würde von Institutionen und Ämtern. Die unter dem Pseudonym ›Publius‹ schreibenden, von J. Locke beeinflussten Autoren waren Alexander Hamilton, James Madison und John Jay. Hamilton wandte sich in Nr. 1 der ›Papers‹ mit der Frage »An das Volk des Staates New York«: »Sind menschliche Gesellschaften wirklich dazu fähig, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten, oder sind sie für immer dazu verurteilt, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von Zufall und Gewalt abhängig zu sein?« 9 Zu anthropologischem Optimismus hinsichtlich der moralischen Vervollkommnung der menschlichen Gattung sahen die Autoren keinen Anlass. Madison nahm in Nr. 51 der ›Federalist Papers‹ den Gemeinplatz der politischen Theorie von Hobbes bis Kant auf, dass die Menschen aufgrund ihrer moralischen Schwäche rechtlicher und staatlicher Ordnung bedürften: »Das persönliche Interesse des einzelnen Vgl. hierzu Glensy 2002. A. Hamilton, General Introduction. For the Independent Journal. »It has been frequently remarked that it seems to have been reserved to the people of this country, by their conduct and example, to decide the important question, whether societies of men are really capable or not of establishing good government from reflection and choice, or whether they are forever destined to depend for their political constitutions on accident and force. If there be any truth in the remark, the crisis at which we are arrived may with propriety be regarded as the era in which that decision is to be made; and a wrong election of the part we shall act may, in this view, deserve to be considered as the general misfortune of mankind.« Dt. Übers. in Hamilton/Madison/Jay 1993, S. 53.

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muß mit den verfassungsmäßigen Rechten […] verbunden sein. Es mag ein Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur sein, daß solche Kniffe notwendig sein sollen, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt in Schranken zu halten. Aber was ist die Tatsache, daß Menschen eine Regierung brauchen, selbst anderes als der deutlichste Ausdruck des Mangels der menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, wäre keine Regierung notwendig. Wenn Engel die Menschen regierten, wären weder äußere noch innere Kontrollen der Regierung notwendig.« 10 Bereits in seiner ›General Introduction For the Independent Journal‹ in ›The Federalist No. 1‹ erwähnte Hamilton bei seinem Plädoyer für die Annahme der republikanischen Verfassung die Menschenwürde an prominenter Stelle im Zusammenhang mit Freiheit und Glück: »Im Verlauf der vorangegangenen Betrachtungen ging es mir um folgendes, liebe Mitbürger: Ihre Wachsamkeit zu schärfen gegenüber allen Versuchen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, Ihre Entscheidung in einer Angelegenheit von äußerster Bedeutung für Ihr künftiges Wohlergehen durch Eindrücke zu beeinflussen, die nicht auf eindeutigen Wahrheiten beruhen. Sie haben dem allgemeinen Tenor meiner Betrachtungen sicherlich bereits entnommen, daß sie einer Position entstammen, die der neuen Verfassung nicht ohne Sympathie gegenübersteht. Ja, liebe Landsleute, ich gebe zu, daß ich, nachdem ich diese Verfassung eingehend geprüft habe, ganz klar der Meinung bin: Es ist in Ihrem Interesse, sie anzunehmen. Ich bin davon überzeugt, daß dies der sicherste Garant für Ihre Freiheit, Ihre Menschenwürde und Ihr Glück ist.« 11 J. Madison, The Structure of the Government Must Furnish the Proper Checks and Balances Between the Different Departments From the New York Packet. Friday, February 8, 1788: »The interest of the man must be connected with the constitutional rights of the place. It may be a reflection on human nature, that such devices should be necessary to control the abuses of government. But what is government itself, but the greatest of all reflections on human nature? If men were angels, no government would be necessary. If angels were to govern men, neither external nor internal controls on government would be necessary.« Dt. Übers in Hamilton/Madison/Jay 1993, S. 320. 11 »In the course of the preceding observations, I have had an eye, my fellow-citizens, to putting you upon your guard against all attempts, from whatever quarter, to influence your decision in a matter of the utmost moment to your welfare, by any impressions other than those which may result from the evidence of truth. You will, no doubt, at the same time, have collected from the general scope of them, that they proceed from a source not unfriendly to the new Constitution. Yes, my countrymen, I own to you that, 10

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Noch blieb freilich diese Verwendung des Wortes ›dignity‹ im Sinne allgemeiner Menschenwürde die Ausnahme. In den ›Federalist Papers‹ wurde es meist im Sinne der Institutionen- und Ämterwürde verwendet. In Nr. 46 stellte Madison warnend fest, dass »ein großer Teil der von den gesetzgebenden Körperschaften in den Staaten begangenen Fehlern von der Neigung ihrer Mitglieder herrührt, die umfassenden und dauerhaften Interessen des Staates den partikulären Zielen und Sonderinteressen der Kreise oder Distrikte zu opfern, aus denen sie stammen«; von ihnen sei nicht zu erwarten, dass sie »die Würde und Achtbarkeit ihrer Regierung zum Ziel ihres Strebens« machten. 12 In Nr. 70 sprach Hamilton mehrfach von »magistrates of equal dignity and authority« 13 und in Nr. 71 von der »dignity« der »representatives of the people«, die gefärdet sei, »wenn die Exekutive oder Judikative ihre Rechte wahrnehmen«. 14 Eindeutiger wurde die Begriffsverwendung in Thomas Paines Verteidigung der Französischen Revolution und der amerikanischen Verfassung gegen konservative Kritik in seinen 1791 und 1792 in zwei Teilen erschienenen Rights of Man, Being an Answer to Mr. Burke’s Attack on the French Revolution. Paine, der als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten bereits 1775 eine Abhandlung gegen die Sklaverei (African Slavery In America) veröffentlicht und maßgeblich die von Jefferson verfasste Unabhängigkeitserklärung beeinflusst hatte, schrieb: »When I contemplate the natural dignity of man, when I feel (for Nature has not been kind enough to me to blunt my feelings) for after having given it an attentive consideration, I am clearly of opinion it is your interest to adopt it. I am convinced that this is the safest course for your liberty, your dignity, and your happiness.« Dt. Übers. in Hamilton/Madison/Jay 1993, S. 55. Hervorh. v. mir. 12 Madison, The Influence of the State and Federal Governments Compared. From the New York Packet, Tuesday, January 29, 1788: »Every one knows that a great proportion of the errors committed by the State legislatures proceeds from the disposition of the members to sacrifice the comprehensive and permanent interest of the State, to the particular and separate views of the counties or districts in which they reside. And if they do not sufficiently enlarge their policy to embrace the collective welfare of their particular State, how can it be imagined that they will make the aggregate prosperity of the Union, and the dignity and respectability of its government, the objects of their affections and consultations?« Dt. Übers. in Hamilton/Madison/Jay 1993, S. 296. 13 Hamilton, The Executive Department Further Considered. From the New York Packet, Tuesday, March 18, 1788. Vgl. in der dt. Übers. S. 416 ff. 14 Hamilton, The Duration in Office of the Executive. From the New York Packet, Tuesday, March 18, 1788. Vgl. in der dt. Übers. S. 425.

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the honour and happiness of its character, I become irritated at the attempt to govern mankind by force and fraud, as if they were all knaves and fools, and can scarcely avoid disgust at those who are thus imposed upon.« 15 Nach einer Reihe militärischer Niederlagen der Kontinentalarmee unter dem Befehl George Washingtons veröffentlichte Paine ab 1776 unter dem Titel The American Crisis zur Unterstützung der Amerikaner gegen die britische Kolonialherrschaft eine Serie von dreizehn Schriften, für jede Kolonie eine. Die erste ließ Washington vor seinen Truppen verlesen. Als Washington sich 1783 gegen eine drohende Rebellion von Militärs (The Newburgh Conspiracy) zur Wehr zu setzen hatte, griff er am 15. März 1783 in seiner Response to the first Newburgh Address auf Paines Würdebegriff zurück: »You will, by the dignity of your Conduct, afford occasion for Posterity to say, when speaking of the glorious example you have exhibited to Mankind, had this day been wanting, the World had never seen the last stage of perfection to which human nature is capable of attaining.« 16 Der menschenrechtlich aufgeladene Würdebegriff wurde auch in Deutschland aufgegriffen und verteidigt. Friedrich Schiller ließ den Marquis von Posa in seinem in den Jahren von 1783 bis 1787 verfassten Drama Don Karlos dem spanischen König entgegentreten: »Ich höre, Sire, wie klein/Wie niedrig sie von Menschenwürde denken,/Selbst in des freien Mannes Sprache nur/Den Kunstgriff eines Schmeichlers sehen, und/Mir däucht, ich weiß, wer sie dazu berechtigt./Die Menschen zwangen sie dazu; die haben/Freiwillig ihres Adels sich begeben,/Freiwillig sich auf diese niedre Stufe/Herabgestellt. Erschrocken fliehen sie/Vor dem Gespenste ihrer innern Größe,/Gefallen sich in ihrer Armut, schmücken/Mit feiger Weisheit ihre Ketten aus,/Und Tugend nennt man, sie mit Anstand tragen./So überkamen sie die Welt. So ward/Sie ihrem großen Vater überliefert./Wie könnten sie in dieser traurigen/Verstümmlung – Menschen ehren?« 17 Dem Sog des neuen Würde-Paradigmas hat sich auch die Theologie nicht entzogen, wie die Predigten ueber die Wuerde des MenPaine 1771/1792, S. 88. http://www.earlyamerica.com/earlyamerica/milestones/newburgh/text.html. Am 30. September 1779 hatte Washington an den in der Kontinentalarmee dienenden Marquis de Lafayette geschrieben: »The best and only safe road to honor, glory, and true dignity is justice.« (http://firstinpeace.org/?page_id=935). 17 Schiller, Don Karlos, 10. Auftritt. 15 16

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schen, und den Werth der vornehmsten Dinge, die zur menschlichen Glueckseligkeit gehoeren, oder dazu gerechnet werden belegen, die der Leipziger reformierte Prediger Georg Joachim Zollikofer 1784 in zweiter Auflage veröffentlich hat: »Worinn besteht […] die Würde des Menschen? Oder was giebt ihm den Werth, den er hat? Und wie und wodurch äußert sich seine Würde? oder, was bringt sie in ihm und außer ihm hervor? Dies sind die Hauptfragen, die wir hier zu beantworten haben. Verstand, Freyheit, Thätigkeit, immer zunehmende Vollkommenheit, Unsterblichkeit, das Verhältniß, in welchem er gegen Gott, und gegen seinen Sohn Jesum steht, die Stelle, die er auf dem Erdboden einnimmt, und das, was er in Absicht auf denselben ist und thut; das machet die Würde des Menschen aus, das giebt ihm seinen vorzüglichen großen Werth. Verstand und Vernunft adeln den Menschen. Dies ist der erste und vornehmste Grund seiner Würde. Dies erhebt ihn weit über alle andere Geschöpfe des Erdbodens. Dadurch wird er zum Verwandten der Engel; dadurch schwingt er sich bis zur Gottheit empor. […] Freyheit, moralische Freyheit ist ein anderer charakteristischer Zug des Menschen, ein anderer Grund seiner Würde«. 18 Johann Gottlieb Herder verknüpfte in seinen 1784–1791 verfassten Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Menschenrechte und Menschenwürde: »Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der Erde noch nicht geschehen ist, künftig geschehen werde; denn unverjährbar sind die Rechte der Menschheit und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar. Wir erstaunen darüber, wie weit Griechen und Römer es in ihrem Kreise von Gegenständen in wenigen Jahrhunderten brachten; denn wenn auch der Zweck ihrer Wirkung nicht immer der reinste war, so beweisen sie doch, daß sie ihn zu erreichen vermochten. Ihr Vorbild glänzt in der Geschichte und muntert jeden ihresgleichen, unter gleichem und größerm Schutze des Schicksals, zu ähnlichen und bessern Bestrebungen auf. Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zu Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde.« 19 1794 schrieb der deutsche Jakobiner Georg Forster, der 1793 die Mainzer Republik mitbegründet hatte und als Abgeordneter des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents nach Paris entsandt worden war, um ihre Angliederung an das revolutionäre Frankreich zu beantragen, 18 19

Zit. nach Wetz 2011, S. 96. Vgl. Graf 2009, S. 100 ff. Herder 1965, Bd. 2, S. 219.

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in Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit: »Der wohlhabendere Mann, der allen Überfluß seiner fetten Äcker und Weiden genießt, gut gekleidet ist und in einem netten, reinen, mit schönem Geräte versehenen Haus wohnt, ist zugleich in Rücksicht seines Geistes, seines Gefühls, seiner Grundsätze, seiner Überlegung, seiner Kenntnisse, mit einem Worte, als Mensch derjenige, der bei weitem den Vorzug verdient. Ihm ist wohl in allen seinen Verhältnissen; und in diesem behaglichen Zustande blickt er um sich her, forscht nach, wer, von wannen und zu welchem Ende er sei, gibt also dem besseren Teile seines Wesens, der Vernunft, die ihn über die ganze sichtbare Schöpfung hebt, ihre zweckmäßige Entwickelung und fängt an, sich seiner Menschenwürde bewußt zu sein. Der ausgemergelte Sklav des sarmantischen Edelmanns hingegen, in einer morschen, räucherigen, nackten Hütte, im schmutzigen Schafpelze, vom Ungeziefer halb verzehrt, bei schwerer Arbeit und geringer, wo nicht gar ungesunder Kost, kennt bloß tierische Affekten, ruhet gedankenleer von seiner Anstrengung, und stirbt hin, ohne den höheren Sinnengenuß gekostet, ohne sich seiner Geisteskräfte gefreuet oder sie nur gekannt zu haben, um den Zweck seines Hierseins gänzlich betrogen.« 20 Hier wie in Schillers Distichon Würde des Menschen aus dem Jahre 1797 zeigte sich, dass ›Würde‹ nicht nur ein bloßes Ideal bedeutete, sondern eine Forderung in praktisch verändernder Absicht: »Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.« 21

20 21

Forster 1966, S. 141. Schiller, Gesammelte Werke in drei Bänden, Bd. 3, Gütersloh 1976, S. 438.

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5. Philosophien der Menschenwürde: Von Hume zu Kant und zum Deutschen Idealismus

Historische Rekonstruktionen des Beitrags philosophischer Theorien zur Entstehung des modernen Verfassungsbegriffs der Menschenwürde beziehen sich in aller Regel – nicht nur in der deutschsprachigen Literatur zu Art. 1 Abs. 1 GG, sondern international – auf die kritische Philosophie Kants. Dies ist angesichts der Häufigkeit, Intensität und Klarheit, mit der Kant wie kein anderer zu seiner Zeit die menschliche Würde thematisiert hat, durchaus berechtigt. Doch zu Recht gibt G. Mohr zu bedenken: »Beim Thema ›Menschenwürde und Menschenrechte‹ befinden wir uns auf Kantischem Terrain. Diesen Eindruck gewinnt man sehr schnell, wenn man sich anschaut, wie omnipräsent der Name Kant und ein einschlägiges Set an Standard-Zitaten aus Kants Werk in den Feuilletons, in höchstrichterlichen Urteilsbegründungen, in Grundgesetz-Kommentaren, in der rechtswissenschaftlichen und natürlich auch in der rechtsphilosophischen Literatur ist. Es sieht so aus, als seien wir beim Thema ›Menschenwürde‹ plötzlich alle Kantianer, quasi ›natürliche Kantianer‹. Das sollte uns stutzig machen. Um so mehr, als das Unisono der Berufung auf Kant einhergeht mit einer erstaunlichen Divergenz der Schlussfolgerungen, die man aus Kant ziehen zu können meint.« 1 Kant ist eine wichtige Quelle, doch es wäre falsch, aus seiner Würdetheorie auf die Philosophie zur Zeit der Aufklärung zu schließen. Der französische Aufklärungsmaterialismus hat trotz seiner vehementen Kritik an Religion, Kirche und feudalem Staat keinen nennenswerMohr 2007, S. 16. Mohr betont unter Verweis auf Kants Urteile über ›Selbstmord‹, ›Liebe zum Geschlecht‹ allein zum Zwecke der ›Erhaltung der Art‹ und ›mütterlichen Kindsmord aus Ehrgefühl‹ auch: Der »Eindruck der geschichtsüberspannenden sachlichen Nähe unseres heutigen moralischen Denkens zu Kants Moralphilosophie wird jedoch sogleich gehörig erschüttert, wenn wir uns ansehen, wie Kant selbst seine Grundkonzeption von Würde zur Anwendung bringt bei seiner Exposition konkreter Pflichten der Menschen gegen sich selbst und gegen andere«. (Ebd., S. 22).

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ten Beitrag zum Würdediskurs geleistet. Seine naturalistisch-reduktionistische Anthropologie hat es verhindert, dem von Naturgesetzen determinierten Menschen Würde zuzuschreiben. Bereits in der seit 1751 von Diderot und D’Alembert herausgegebenen Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers fehlte ein Lemma ›dignité‹ ; der Begriff wurde hier ausschließlich zur Bezeichnung eines hohen Ranges (von Ämtern, Funktionen, Nationen etc.) verwendet. Kants Würdigung David Humes ist bekannt:»Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.« 2 Für das Würde-Thema konnte dies nicht gelten. Hume hatte sich 1757 in seiner Schrift Of the Dignity or Meaness of Human Nature nicht geneigt gezeigt, ›Würde‹ als wichtiges Thema aufzugreifen. Er behandelte Selbstliebe, Leidenschaft und Tugend, und die Zuschreibung von Würde ergab sich für ihn nicht allgemein für alle Menschen, sondern graduell im Ergebnis des Vergleichs zwischen mehr oder minder würdevollen Einstellungen und Verhaltensweisen von Individuen. Hume wandte sich kritisch gegen die ›Sekten‹, die entweder eine Überlegenheit des Menschen über die anderen Lebewesen behaupteten und dabei übersähen, dass der Mensch an Weisheit und Tugend von einem himmlischen Wesen weit entfernt sei, oder aber die Nichtigkeit des Menschen betonten: »The most remarkable of this kind are the sects, founded on the different sentiments with regard to the dignity of human nature; which is a point that seems to have divided philosophers and poets, as well as divines, from the beginning of the world to this day. Some exalt our species to the skies, and represent man as a kind of human demigod, who derives his origin from heaven, and retains evident marks of his lineage and descent. Others insist upon the blind sides of human nature, and can discover nothing, except vanity, in which man surpasses the other animals, whom he affects so much to despise. […] We find few disputes, that are not founded on some ambiguity in the expression; and I am persuaded, that the present dispute, concerning the dignity or meanness of human nature, is not more exempt from it than any other. It may, therefore, be worth while to consider, what is real, and what is only verbal, in this controversy. That there is a natural difference between merit and demerit, virtue 2

Kant, Prolegomena (1783), AA IV, 260.

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Philosophien der Menschenwürde

and vice, wisdom and folly, no reasonable man will deny: Yet is it evident, that in affixing the term, which denotes either our approbation or blame, we are commonly more influenced by comparison than by any fixed unalterable standard in the nature of things. In like manner, quantity, and extension, and bulk, are by every one acknowledged to be real things: But when we call any animal great or little, we always form a secret comparison between that animal and others of the same species; and it is that comparison which regulates our judgment concerning its greatness.« 3 Nachdrücklicher als in der westeuropäischen Aufklärung wurde der Würdebegriff in Deutschland verwandt: »Erstens stand hier ein Terminus zur Verfügung, der im Gegensatz zu ›dignitas‹ noch unverbraucht war und sich daher viel leichter mit neuen Inhalten auffüllen ließ. In der Tat hört ›Würde‹ im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich auf, sich ausschließlich auf die äußeren oder inneren Vorzüge von Personen zu beziehen, um nunmehr bestimmte geistige und sittliche Wesenseigenschaften der gesamten Menschengattung zu bezeichnen. Zweitens (diesmal im umgekehrten Sinne) gestattete die eigenartige deutsche Vermischung von mehr oder weniger freier Religiosität und aufklärerischem Gedankengut eine Überleitung traditioneller Inhalte in den neuen Würdebegriff, die ihn zunächst stützte, bis er selbständig genug wurde, um die Säkularisierung jener Inhalte zu tragen und sich darüber hinaus sogar mit zeitgenössischen emanzipatorischen Forderungen zu verbinden.« 4 Diesen neuen Würdebegriff hat Kant entwickelt.

5.1 Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert Kant 5 hat die Forderung, den Menschen ›seiner Würde gemäß zu behandeln‹ in der Zeit der amerikanischen und bereits vor der Französischen Revolution 1784 in Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? erhoben und damit zugleich die Bedingungen benannt, unter Hume 1987, S. 80 f. Kondylis 1992, S. 666 f. 5 Zu Kants Theorie der menschlichen Würde vgl. Klein 1968, Bielefeldt, 1998, Hruschka 2002, Ruzicka 2004, Mohr 2007, Sensen 2009 und 2011, von der Pfordten 2009a, Ladewig 2010, Gutmann 2010b, Baranzke 2011. 3 4

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Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert

denen er schrieb und auf die hin er schrieb – noch im Rahmen der Freiheitseinschränkungen im ancien régime und schon gerichtet auf die Verallgemeinerung menschlicher Fähigkeit zur Freiheit: »Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vortheilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählig zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.« 6 Kants Ziel war – dies erhellt seine 1795 erschienene Schrift Zum ewigen Frieden – eine weltbürgerrechtliche Verfassung im Interesse der ›öffentlichen Menschenrechte überhaupt‹. Im ›Dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden‹ heißt es: »Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des 6 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 41 ff. Kant bezieht sich vermutlich auf Julien Offray de La Mettries materialistische Schrift L’homme machine (1747). Vgl. Kant, Anhang zu Der Streit der Fakultäten (1798), AA VII, S. 69 f.: »Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernt, daß Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns; – sie soll den Menschen nach allen seinen Bestandtheilen darstellen, wie er ist und sein soll, d. h. sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverhältniß. Hier wies nun die alte Philosophie dem Menschen einen ganz unrichtigen Standpunkt in der Welt an, indem sie ihn in dieser zu einer Maschine machte, die als solche gänzlich von der Welt oder von den Außendingen und Umständen abhängig sein mußte; sie machte also den Menschen zu einem beinahe bloß passiven Theile der Welt. – Jetzt erschien die Kritik der Vernunft und bestimmte dem Menschen in der Welt eine durchaus active Existenz.« Kant erwähnt La Mettrie zweimal: »de la Mettrie macht die Sittlichkeit zur bloßen Geschiklichkeit in Befriedigung unserer Begierden« (Aus dem Nachlaß: 1769, AA XIX, S. 110), und in Vorarbeiten Zum weigen Frieden, Nachlaß – vgl. Phase w2/w3: ca.1794– 1795, AA XXIII, S. 163.

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Philosophien der Menschenwürde

ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.« 7 Dies war der menschenrechtliche Horizont von Kants Aufklärung über ›Würde‹. Die Anlässe für seine Konzeptualisierung waren zum einen anthropologischer und zum anderen – hieraus folgend – rechtstheoretischer bzw. rechtspolitischer Natur. Dieser Feststellung widerspricht auf den ersten Blick der philologische Befund, dass sich Kant in der ›Rechtslehre‹ seiner Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1797 (21798) nur an einer einzigen Stelle 8 über Würde äußert, während die Stellen in der ›Tugendlehre‹ zahlreich sind. Dieser Befund berechtigt allerdings nicht zu Oliver Sensens überspitzter Interpretationsthese, Kant verwende den Würdebegriff »to express the idea that morality is more important than other forms of behavior«. 9 Bei Kant hat das Recht Vorrang vor der Moral. Es gibt zwar in seiner Metaphysik der Sitten eine moralphilosophische Dimension, sobald es darum geht, zu begründen, wie – d. h. an welchen Werten orientiert – Recht und Staat sein sollen. Doch das Würdethema ist – nicht anders als Kants Rechtslehre insgesamt – kein untergeordneter Teil der Moralphilosophie. Es bedarf keiner moralphilosophischen Begründungen dafür, dass es Recht gibt und die menschliche Würde rechtlich geschützt werden muss. Warum es das Recht geben muss, ergibt sich ex negativo aus demselben Grund, aus dem die Rechtstheorie normative Theorie ist: Die Analyse der Gründe für die Existenz des Rechts folgt dem Befund, dass die Menschen vernünftig handeln sollen, de facto aber diesem Sollen oft nicht entsprechen. Die ihnen von Kant zugeschriebene Freiheit garantiert nicht, dass sie sich tatsächlich in ihrem Handeln der Achtung und dem Schutz der Freiheit Dritter verpflichtet wissen. Die Normativität des kategoriKant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 360. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, S. 329 f. Insofern ist die Feststellung von Mohr 2007, S. 25, »dass der Würde-Begriff in Kants Rechtsphilosophie gar nicht vorkommt«, nicht zutreffend. In der ›Rechtslehre‹ verwendet Kant den Würde- bzw. Würdenbegriff ansonsten traditionell: »Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden und als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend, Staatswürden.« (Ebd., S. 315); er spricht auch von der »Würde des Staatsoberhaupts« (ebd., S. 317). 9 Sensen 2011, S. 202. 7 8

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Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert

schen Imperativs – »Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne« 10 – wäre grundlos, wenn die wechselseitige Achtung der Freiheits- und Würdeansprüche – wie später bei Hegel – in einer substanziell freien und vernünftigen Sittlichkeit garantiert wäre: »Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.« 11 Dieses ›So fern‹ kennzeichnet Kants kritische anthropologische Perspektive, in der die Würde nicht wie eine Substanz ›gegeben‹ ist. 12 Vielmehr muss sich der Mensch »im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, […] der Menschheit würdig […] machen«. 13 Wie Vorarbeiten Zum ewigen Frieden zeigen, verband Kant die Forderung nach Kultivierung deshalb mit dem Recht, weil es »einen Wiederstreit in den Absichten der Menschen« gibt und »kein allgemeines Princip da ist[,] was Macht hätte ihre Bestrebungen einhellig zu machen (d. i. ohne den moralischen Gesetzen angemessen zu seyn) und einer des anderen Absicht vernichtet[,] d. i. weil das Böse sich selbst immer im Wege ist.« 14 Kant hat den »Gang der Menschengattung« in ständiger Gefahr gesehen, »in die alte Rohigkeit zurückzufallen«. 15 Dieser Gefahr begegnet das Recht: »Die Menschen bedürfen bei ihrer natürlichen Bösartigkeit und in ihrer darum sich unter einander drängenden Lage einer Macht, die jeden größeren Haufen derselben unter dem Zwange öffentlicher Gesetze halte und dadurch jedem sein Recht sichere«. 16 Das Recht ist »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA VI, S. 389. Ebd., S. 435; Hervorh. v. mir. 12 »Intrinsisch wertvoll ist der je einzelne, konkrete, phänomenale Mensch um seines noumenalen Anteils willen, d. h. wenn und soweit er sich durch freie und rationale Handlungsfähigkeit auszeichnet. […] Kant arbeitet nicht mit einer aristotelischen Metaphysik menschlicher Substanz, an der ohne weiteres auch jene Mitglieder der menschlichen Spezies teilhätten, denen sie akzidentiell fehlt.« (Gutmann 2010b, S. 5 f.). 13 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 325. Hervorh. v. mir. 14 Kant, Nachlass, AA XXIII, S. 172. 15 Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AA VIII, S. 117, Fn. 2. 16 Kant, Ein Reinschriftfragment zu Kants ›Streit der Fakultäten‹ (aus dem Nachlass: bis 1798), Loses Blatt Krakau. In: Kant-Studien 51 (1959/60), S. 5–8. 10 11

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Philosophien der Menschenwürde

Freiheit zusammen vereinigt werden kann« 17, und »mit dem Rechte [gibt es] zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen«. Der rechtliche Zwang ist »als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend«. 18 ›Würde‹ war für Kant unter diesen Bedingungen auch dann kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff, wenn er von der »angebornen Würde des Menschen« 19 sprach: Würde soll sein, und die metaphysische Begründung liegt in der anthropologischen Präsupposition, sie sei ›angeboren‹. In Kants normativer Konstruktion gründet die Idee der menschlichen Würde in der Idee der Autonomie, d. h. darin, dass »der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte«. Es geht um die »Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt«. 20 Dieser Wille ist Selbstgesetzgebung, allerdings »unter der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung«; »dieser uns mögliche Wille in der Idee, ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein«. 21 Der Ausdruck ›Würde der Menschheit‹ kann irritieren, geht es doch um die ›Würde des Menschen‹. Dass Kant von ›Menschheit‹ spricht, bedeutet nicht, dass die Gattung das Würde-Subjekt ist: »›Menschheit‹ bezeichnet bei Kant […] nicht das Kollektiv ›die Gesamtheit aller Menschen‹, sondern meint soviel wie ›das Menschsein‹, das Wesen des Menschen, die Natur des Menschen, meint dasjenige, was wesentlich Menschen zu Menschen macht.« 22 Nicht die Menschheit als Gattung, sondern der einzelne Mensch »muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie 17 18 19 20 21 22

Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, AA VI, S. 230. Ebd., S. 231. Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA VI, S. 420. Ebd., S. 434. Ebd., S. 440. Hervorh. v. mir. Mohr 2007, S. 18.

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Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert

anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« 23 Wesentlich ist die Konkretisierung der scheinbar abstrakten Würde der ›Menschheit‹ in der »Würde der Menschheit in unserer Person« 24: »Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann. Die Menschheit in seiner Person ist das Object der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen muß.« 25 Kant hebt nachdrücklich auf ›jeder Mensch‹ ab 26: »Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen NebenKant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA VI, S. 436. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), AA V, S. 273; Hervorh. v. mir. Bereits in einer frühen Phase hat Kant die ›juridische Würde‹ mit ›personalitas‹ identifiziert: »Es giebt eine dreyfache Verbindung, die aus der Natur der Menschheit fließt: 1. da der Mensch ein anderes Geschlecht nöthig hat. 2. Da er Eltern bedarf. 3. Da er zuletzt einen Herrn nöthig hat. Alle drey zu seiner Erhaltung. In allen dreyen ist die juridische würde der Menschheit, welche dieser Verbindung schranken der subordination setzt. Diese dignitas iuridica ist die personalitas. Nach derselben ist nicht die bloße subiection sondern societät nothwendig, d. i. kein ius reale in den Menschen sondern ius personale. Die gänzliche Beraubung der freyheit hebt die Persohn auf.« (Kant, Aus dem Nachlaß: 1776–1778, Phase y-f, 7881, y-f? c? q? J 39). 25 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA VI, 434 f. Ähnlich argumentiert Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts; dort heißt es im Zusatz zu § 155: »Was den Menschen auferlegt wird als Pflicht, soll für etwas geschehen […], worin sie ihre Würde, Freiheit haben, dessen Dasein daher ihr Dasein – ihr Recht ist. Nicht bloß: Andere haben Rechte, ich bin ihnen gleich, bin Person wie sie, ich soll Pflichten gegen ihre Rechte haben, – als ihnen gleich soll ich durch diese Pflichten auch Rechte haben – Zusammenhang durch Vergleichung.« 26 Kant schreibt hier ›jeder Mensch‹ und nicht ›jede Person‹. Gutmanns kritische Frage zu Kants Personenbegriff und seine These, es blieben »jedenfalls Menschen übrig, die den Kantischen Qualifikationsbedingungen für Personen unter keinen Umständen gerecht werden können: Kleinkinder etwa, schwer geistig behinderte, demente oder gar dauerhaft komatöse Menschen«, mögen nicht unberechtigt sein. Die Schlussfolgerung, im Sinne der Ethik Kants seien »sie Nicht-Personen, denen gegenüber wir keine moralischen Pflichten haben können« (Gutmann 2010b, S. 8, vgl. S. 13), schränkt aber die bei ›jedem Menschen‹ zu achtende Würde nicht ein. 23 24

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Philosophien der Menschenwürde

menschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.« 27 O. Sensen bezeichnet es als die »conclusion« seiner Interpretation, die Kant zum Stoiker werden lässt, »that – contrary to the impression created by a few well-known passages – Kant does not conceive of dignity as an inner value at all. Rather, Kant’s view of dignity turns out to be more in line with a Stoic conception. Specifically, throughout writings on different topics and from different periods, Kant conceives of dignity as sublimity (Erhabenheit) or the elevation of something over something else. Ontologically ›dignity‹ refers to a relational property of being elevated, not to a non-relational value property. ›X has dignity‹ is another expression for ›X is elevated over Y‹ or ›X is higher than Y‹.« 28 Doch genau diese gradualistische Auffassung ist Kant fremd. Wesentlich für Kants Konzeption ist die Unterscheidung zwischen ›Preis‹ und ›Würde‹: »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.« 29 Keinen Preis zu haben, bedeutet: »[Der] Mensch, und überhaupt Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA VI, S. 462. Sensen 2009, S. 310. 29 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, S. 434. »Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung (aestimii) aus27 28

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Kant: Würde als unbedingter, unvergleichbarer Wert

jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen zugleich als Zweck betrachtet werden.« 30 Diesem Prinzip entspricht die frühere deontologische Version des ›kategorischen Imperativs‹ : »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 31 In der Tradition dieses Prinzips konnte die spätere verfassungsrechtliche ›Objektformel‹ zum Verständnis der Würdenorm im deutschen Grundgesetz formuliert werden. 32 Kant war ein anthroplogischer Realist. Die Idee, dass der Mensch »eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt« 33, musste eine normative, mit Geboten und Verboten verbundene Idee sein, denn de facto steht ihr das ›Laster‹ entgegen: »Was aber die Pflicht des Menschen gegen sich selbst blos als moralisches Wesen (ohne auf seine Thierheit zu sehen) betrifft, so besteht sie im Formalen der Übereinstimmung der Maximen seines Willens mit der Würde der Menschheit in seiner Person; also im Verbot, daß er sich selbst des Vorzugs eines moralischen Wesens, nämlich nach Principien zu handeln, d. i. der inneren Freiheit, nicht beraube und dadurch zum Spiel bloßer Neigungen, also zur Sache, mache. – Die Laster, welche dieser Pflicht entgegen stehen, sind: die Lüge, der Geiz und die falsche Demuth (Kriecherei). Diese nehmen sich Grundsätze, welche ihrem Charakter als moralischer Wesen, d. i. der inneren Freiheit, der angebornen Würde des Menschen, geradezu (schon der Form nach) widersprechen, welches so viel sagt: sie machen sich es zum Grundsatz, keinen Grundsatz und so auch keinen Charakter zu haben, d. i. sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der Verachtung zu machen.« 34 getauscht werden könnte. – Die Beurteilung eines Dinges, als eines solchen, das keinen Wert hat, ist die Verachtung.« (Ebd., S. 462; vgl. ebd., S. 436). 30 Ebd., S. 428. 31 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA IV, S. 429. 32 Siehe hierzu Teil III, Abschnitt 6 in diesem Buch. 33 Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, AA VI, S. 436. 34 Ebd., S. 420. »Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung himmlischer Gegenstände sich dadurch zu versinnlichen, ist der Menschenwürde zuwider, so wie die Anrufung derselben in gegenwärtigen Bildern; denn ihr demütigt euch

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Philosophien der Menschenwürde

Wo Kant sich auf den Bereich des Politischen bezog, zeigte sich, dass er den Verlust der ›angebornen‹ Würde für möglich hielt: »Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staatsbürgers; außer, wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines anderen (entweder des Staats, oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht wird.« 35 In der weiteren Entwicklung zum Deutschen Idealismus haben sich – sofern ›Würde‹ überhaupt thematisiert wurde 36 – die philosophischen Kontexte und Begründungen der Menschenwürde geändert, nicht aber die von Kant entwickelten Gehalte und Bedeutungen des Begriffs. Sieht man von traditionellen Begriffsverwendungen (Stand, Amt, Funktion) ab, die es nach wie vor gab, ging es immer um die Würde des Menschen als Individuum und Person, und zwar auch dann, wenn von der ›Würde der Menschheit‹ die Rede war.

5.2 Fichte: Selbstachtung, Anerkennung und Würde Fichte hat in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) von Würde im Kontext des tätigen Ichs und des »Selbstbewusstseyn[s] (der Freiheit)« als »Form der Selbstachtung« gesprochen. Selbstachtung sei »entweder rein, schlechthin Achtung der Würde der Menschheit in uns, oder empirisch, Zufriedenheit über die wirkliche Behauptung derselben. […] Insofern nun diese Selbstachtung als activer, den Willen zwar nicht nothwendig zum wirklichen Wollen, aber doch thätig zur Neigung bestimmender Trieb betrachtet wird, heisst sie sittliches Intealsdann nicht unter einem Ideal, das euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol, was euer eigenes Gemächsel ist.« (Ebd., S. 436 f.). 35 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, S. 329 f. 36 Dies war bei Schelling nicht der Fall. Die einzige Stelle, an der – abgesehen von der Verwendung des traditionellen Ämter- und Institutionen-Würdebegriffs – von ›Würde‹ die Rede ist, findet sich in seiner späteren ›positiven Philosophie‹ ; es geht aber auch hier nicht um Menschenwürde: Das »bloß substantielle Seyn enthält in sich die Möglichkeit eines anderen Seyns – nicht für sich selbst, denn es ist das sich selbst nicht kennende, nicht wissende, und nur darum rein substantielles Seyn, aber für Gott. […] Wenn es auch gegen Gott das nicht Seyende, so ist es doch eben darum Subjekt Gottes. Dieß ist gleichsam seine Würde, die es nicht aus sich selbst, sondern nur aus seinem Verhältniß zu Gott erhält.« (Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus (1836), SW X, S. 263 f.).

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Fichte: Selbstachtung, Anerkennung und Würde

resse; welches entweder rein ist, – Interesse für die Würde der Menschheit an sich, oder empirisch – Interesse für die Würde der Menschheit in unserem empirisch bestimmbaren Selbst.« 37 In Fichtes Schrift zur Verteidigung der Französischen Revolution aus dem Jahre 1793 ist deutlich, dass die Würde nichts metaphysisch Garantiertes ist, sondern einer befreiten Zukunft bedarf: »Begeistere uns, Aussicht auf diese Zeit, zum Gefühl unserer Würde, und zeige uns dieselbe wenigstens in unseren Anlagen, wenn auch unser gegenwärtiger Zustand ihr widerspricht.« 38 Von Mitte Februar bis Ende April 1794 hielt Fichte in Zürich im Hause Lavaters Privatvorlesungen und trug erstmals die Grundsätze seiner Wissenschaftslehre vor. Seiner Abschlussvorlesung am 25. oder 26. April gab er den Titel Ueber die Würde des Menschen. Den Würdebegriff selbst verwandte er nicht, aber es war eine Rede zur Apotheose des Menschen und eine Verteidigung von Gleichheit und Brüderlichkeit: »Die Philosophie lehrt uns alles im Ich aufsuchen. Erst durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die todte, formlose Masse. Allein vom Menschen aus verbreitet sich Regelmässigkeit rund um ihn herum bis an die Grenze seiner Beobachtung, – und wie er diese weiter vorrückt, wird Ordnung und Harmonie weiter vorgerückt. […] Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann: Ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen, und schaudern und erbeben vor seiner eigenen Majestät! – Das ist jeder, der mir sagen kann: Ich bin. – Wo du auch wohnest, du, der du nur Menschenantlitz trägst; – ob du auch noch so nahe grenzend mit dem Thiere, unter dem Stecken des Treibers Zuckerrohr pflanzest, oder ob du an des Feuerlandes Küsten dich an der nicht durch dich entzündeten Flamme wärmst, bis sie verlischt, und bitter weinst, dass sie sich nicht selbst erhalten will – oder ob du mir der verworfenste, elendeste Bösewicht scheinest – du bist darum doch, was ich bin; denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum doch mein Gesell und mein Bruder.« 39 In seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre entwickelte Fichte 1796 »einen Begriff der Person, der […] die wechselseitige Anerkennung begrenzter personaler FreiheitssphäFichte, Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792), SW V, S. 27 f. Fichte, Berichtigung der Urteile des Publicums über die französische Revolution (1793), SW VI, S. 104. 39 Fichte, Ueber die Würde des Menschen (1794), SW I, S. 412 und 415. 37 38

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Philosophien der Menschenwürde

ren impliziert. Personen erkennen sich als ihresgleichen an, indem sie ihre Freiheit und deren Begrenzung reziprok anerkennen. Aus dem so verstandenen Personbegriff entwickelt Fichte die gesamte Rechtsphilosophie. Das Recht wird aus dem ›bloßen Begriffe der Person, als einer solchen‹ deduziert. Recht ist der Inbegriff dessen, was dazugehört, ›daß jemand überhaupt frei, oder Person sei‹. […] Dieser Grundgedanke enthält zwei Momente: die Idee fundamentaler Rechte der Person als solcher sowie die Idee der Kompatibilität von gegenseitig einzuräumenden Sphären freier Handlungen.« 40 Georg Mohr bilanziert: »Es ist Fichtes Verdienst, den normativen Gehalt der Kantischen Menschheits-Selbstzweck-Formel durch eine Theorie der Anerkennung für die Rechtsphilosophie so begründet zu haben, dass sein methodischer Status deutlicher wird. Zum einen können wir Fichtes Theorie entnehmen, dass und wie sich im Kontext einer Interpersonalitätskonzeption Menschenwürde von ontologisch-substantialistischen Prämissen abkoppeln lässt. Das Missverständnis, wir müssten Menschenwürde wie eine deskriptive Eigenschaft konzeptualisieren, wird bei Fichte schon im Ansatz der Theorie erfolgreich ausgeschlossen. Stattdessen wird die grundlegende Beziehung zwischen Personen als wechselseitige Anerkennung charakterisiert, die nur als eine solche Wechselseitigkeit existiert. Und nur diese interpersonale Relation ist gemeint und nicht etwa noch eine irgendwie zugrunde liegende substantielle Eigenschaft jedes der beiden Relata für sich genommen. Fichtes Theorie bietet einen wichtigen Ansatz, um zu verstehen, was es heißt, dass Menschenwürde Produkt oder Funktion der Kommunikation zwischen Personen ist.« 41 Nicht anders als Kant sprach Fichte in seinem System der Sittenlehre (1798) von Autonomie, von der »Würde, die in der absoluten Selbstständigkeit und Selbstgenügsamkeit besteht«. 42 Doch hinsichtlich der Bestimmung des Menschen als Zweck, nicht aber als Mittel, setzte er einen anderen Akzent: »Jeder Mensch ist selbst Zweck, sagt Kant mit allgemeiner Beistimmung. Dieser Kantische Satz besteht neben dem meinigen; führe man nur den letzteren weiter aus. Für jedes vernünftige Wesen ausser mir, an welches ja das Sittengesetz ebensoMohr 2007, S. 30. Mohr zitiert Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796), SW III, S. 94. 41 Mohr 2007, S. 36. 42 Fichte, Das System der Sittenlehre (1798), SW IV, S. 142. 40

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Fichte: Selbstachtung, Anerkennung und Würde

wohl, als an mich, sich richtet, wie an sein Werkzeug, gehöre ich zur Gemeine der vernünftigen Wesen, und bin ihm sonach Zweck, von seinem Gesichtspuncte aus, so wie er es mir ist, von dem meinigen aus. Jedem sind alle andere ausser ihm Zweck; nur ist es keiner sich selbst. Der Gesichtspunct, von welchem aus alle Individuen ohne Ausnahme letzter Zweck sind, liegt über alles individuelle Bewusstseyn hinaus; es ist der, auf welchem aller vernünftigen Wesen Bewusstseyn, als Object, in Eins vereinigt wird; also eigentlich der Gesichtspunct Gottes. Für ihn ist jedes vernünftige Wesen absoluter und letzter Zweck. Aber nein, sagt man, jeder soll ausdrücklich für sich selbst Zweck seyn; und auch dies lässt sich zugeben. Er ist Zweck, als Mittel, die Vernunft zu realisiren. Dies ist der letzte Endzweck seines Daseyns, dazu allein ist er da; und wenn dies nicht geschehen sollte, so brauchte er überhaupt nicht zu seyn. – Dadurch wird die Würde der Menschheit nicht herabgesetzt, sondern erhöhet. Jedem allein wird vor seinem Selbstbewusstseyn die Erreichung des Gesammtzwecks der Vernunft aufgetragen; die ganze Gemeine der vernünftigen Wesen wird von seiner Sorge und seiner Wirksamkeit abhängig, und er allein ist von nichts abhängig. Jeder wird Gott, so weit er es seyn darf, d. h. mit Schonung der Freiheit aller Individuen. Jeder wird gerade dadurch, dass seine ganze Individualität verschwindet und vernichtet wird, reine Darstellung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt; eigentliches reines Ich, durch freie Wahl und Selbstbestimmung.« 43 1796/97 erklärte Fichte in seiner Grundlage des Naturrechts, der »Inbegriff aller Rechte« sei »die Persönlichkeit«, und es sei »die erste und höchste Pflicht des Staats, diese an seinen Bürgern zu schützen«. Er bezog sich, wie häufig auch an anderen Stellen, konkret auf die Ehe und die Würde der Frau: »Nun aber verliert das Weib seine Persönlichkeit und seine ganze Würde, wenn sie ohne Liebe der Geschlechtslust eines Mannes sich zu unterwerfen genöthigt wird. Sonach ist es absolute Pflicht des Staats, seine Bürgerinnen gegen diesen Zwang zu schützen; eine Pflicht, die sich gar nicht auf einen besonderen willkürlichen Vertrag, sondern die sich auf die Natur der Sache gründet, und unmittelbar im Bürgervertrage enthalten ist; eine Pflicht, die so heilig und unverletzlich ist, als die, das Leben der Bürger zu schützen.« 44 Ebd., S. 255 f. Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796/97), SW III, S. 318; vgl. ebd., S. 320. Die Frau werde im ehelichen Geschlechtsverkehr »Mittel für den Zweck eines Anderen; weil

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Philosophien der Menschenwürde

In Fichtes Reflexionen über die ›niederen Volksklassen‹ findet sich ein religiöses Argument, das Kant in seinem Würdediskurs fremd war: »Die Würde jedes Menschen, seine Selbstachtung und mit ihr seine Moralität hängt vorzüglich davon ab, dass er sein Geschäft auf den Vernunftzweck, oder, was dasselbe heisst, auf den Zweck Gottes mit dem Menschen beziehen, und sich sagen könne: es ist Gottes Wille, was ich thue. Dies können die Mitglieder der niederen Volksklassen mit dem höchsten Rechte sich sagen.« 45 Auch in den späten Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1813 klingt dieser religiöse Ton an: »Eine Ansicht der Menschen, die nicht durch ihre eigene Freiheit, sondern durch ein ihnen selbst verborgen bleibendes Gesetz gebildet wird, ist ein Glaube. Dagegen durch die Freiheit klare Verstandeseinsicht. Das Dasein des Menschengeschlechts hebt nothwendig in einem solchen Glauben an, weil es innerhalb seines schon begonnenen Daseins durch eigene Freiheit sich entwickeln soll; – diese eigene Freiheit, seine Würde, kann nie erlassen werden; – durch jenen aber allein erhalten wird. Durch den Glauben darum wird es geschützt, bewacht, gleichsam aufgehoben, bis zu seiner eigentlichen Entwicklung zur Freiheit. Dies ist das Gesetz: der Glaube waltet, so lange die Freiheit zerstören könnte; die Epoche der Freiheit tritt nur ein, wenn das Geschlecht sie ertragen kann. Tritt sie ein, so ist sicher, daß dasselbe sie tragen könne, zufolge jenes ewigen Grundgesetzes der Weltregierung.« 46 Und doch sind Fichtes Äußerungen zur menschlichen Würde insgesamt Ausdruck einer auf Emanzipation drängenden Aufklärung über die ›Bestimmung des Menschen‹ : »Was sie etwa wahres wissen, woher können sie es wissen, ausser durch eigenes Nachdenken? Und warum sollte ich durch dasselbe Nachdenken nicht dieselbe Wahrheit finden, da ich ebensoviel bin als sie? Wie sehr habe ich bisher mich selbst herabgesetzt und verachtet! Ich will, dass es nicht länger so sey! Mit diesem Augenblicke will ich in meine Rechte eintreten, und Besitz nehmen von der mir gebührenden Würde. Alles Fremde sey aufgege-

sie ihr eigener Zweck nicht seyn konnte, ohne ihren Endzweck, die Würde der Vernunft, aufzugeben. Sie behauptet ihre Würde, ohnerachtet sie Mittel wird, dadurch, dass sie sich freiwillig, zufolge eines edlen Naturtriebes, des der Liebe, zum Mittel macht.« (Ebd., S. 310; vgl. Das System der Sittenlehre, SW IV, S. 332). 45 Fichte, Das System der Sittenlehre (1798), SW IV, S. 362. 46 Fichte, Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre (1813), SW IX, S. 25 f.

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Hegel: Würde und Recht

ben.« 47 1804 hat Fichte in Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalter dieses Plädoyer für intellektuelle Autonomie wiederholt: »Das eigene Begreifen, als solches […] hat für das Zeitalter Werth, – und den höchsten, allen andern Werth erst bestimmenden Werth: auf ihm beruht die Würde und das Verdienst der Person.«48

5.3 Hegel: Würde und Recht 1795 hat Hegel an Schelling geschrieben: »Man wird schwindeln, bei dieser höchsten Höhe aller Philosophie, wodurch der Mensch so sehr gehoben wird; aber warum ist man so spät darauf gekommen, die Würde des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermögen der Freiheit anzuerkennen, das ihn in die gleiche Ordnung aller Geister setzt? Ich glaube, es ist kein besseres Zeichen der Zeit als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird; es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet. Die Philosophen beweisen diese Würde, die Völker werden sie fühlen lernen.« 49 Hegel hat sich, anders als Kant und Fichte, nur selten über ›Würde‹ geäußert. Hieraus zu schließen, sein Beitrag zum Würdediskurs sei zu vernachlässigen, wäre ein Irrtum. »In Hegels Philosophie gibt es drei Ebenen, auf denen das Thema Menschenwürde angesprochen wird. Die Menschen haben Würde in der Anerkennung als gleiche ›Personen‹, d. h. als gleiche Kompetenzzentren für das Innehaben von Rechten, in der wechselseitigen Anerkennung als ungleiche Bedürfnissubjekte und schliesslich in der wechselseitigen verzeihenden Anerkennung eines unendlichen Werts des anderen, die für den Anerkennenden identisch ist mit einer Selbstzurücknahme und Einordnung in einen substantiellen Gesamtbezugsrahmen, in ein Interaktionsverhältnis.« 50 Hegel hat nachdrücklicher als Kant und Fichte begründet, dass das Recht der Horizont ist, in dem über Menschenwürde zu sprechen ist. Fichte, Die Bestimmung des Menschen (1800), SW III, S. 70. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804), SW VII, S. 81. 49 Hegel an Schelling, 16. 4. 1795. In: Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister, Bd. 1, Hamburg 1952, S. 24. 50 Seelmann 2000, S. 144. 47 48

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Philosophien der Menschenwürde

Dies macht das Besondere seines Beitrags zur Theorie der Würde aus. Wenn er einfordert, die Menschen seien als Menschen zu achten, dann liegt dieser Pflicht »keine ontologische Gegebenheit und auch nicht Autonomie oder Vernunft zugrunde, die Achtung erheischen, sondern Achtung ist ein praktisch motiviertes Gebot zur Herstellung eines rechtlichen Zustandes. Anders als bei Kant ist diese wechselseitige Achtung der ersten Stufe, die Achtung als Person, als berechtigt zum Innehaben von Rechten, keine blosse Tugendpflicht, sondern ausdrücklich ein Rechtsgebot.« 51 In Hegels Nürnberger Schriften zur ›Philosophischen Propädeutik‹, d. h. zur Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse (1810 ff.), heißt es in § 6 der ›Rechtslehre‹ : »Diejenige Handlung, welche die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt und gelten läßt, ist widerrechtlich.« Hegels »Erläuterung« lautet: »Im absoluten Sinne ist eigentlich kein Zwang gegen den Menschen möglich, weil jeder ein freies Wesen ist, weil er seinen Willen gegen die Notwendigkeit behaupten und alles, was zu seinem Dasein gehört, aufgeben kann. Der Zwang findet auf folgende Weise statt. An die Seite des Daseins des Menschen wird irgend etwas als Bedingung desselben angeknüpft, so daß, wenn er das erstere erhalten will, er sich auch das andere gefallen lassen muß. Weil das Dasein des Menschen von äußeren Gegenständen abhängig ist, so kann er an einer Seite seines Daseins gefaßt werden. Der Mensch wird nur gezwungen, wenn er etwas will, mit dem noch ein anderes verbunden ist, und es hängt von seinem Willen ab, ob er das eine und damit auch das andere oder auch keines von beiden will. Insofern er doch gezwungen wird, ist, wozu er bestimmt wird, auch in seinem Willen gelegen. Der Zwang ist insofern nur etwas Relatives. Rechtlich ist er, wenn er geübt wird, um das Recht gegen den Einzelnen geltend zu machen. Dieser Zwang hat eine Seite, nach welcher er kein Zwang ist und der Würde des freien Wesens nicht widerspricht, weil der Wille an und für sich auch der absolute Wille eines jeden ist. Die Freiheit findet überhaupt da statt, wo das Gesetz, nicht die Willkür eines Einzelnen herrscht.« 52 Von besonderer Bedeutung für sein Würdeverständnis sind Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse aus dem Jahre 1821. Im Kontext seiner 51 52

Ebd., S. 135 f. Hegel, HW 4, S. 233.

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Hegel: Würde und Recht

Ausführungen in § 154 zur Sittlichkeit und zum »Recht der Individuen an ihre Besonderheit« 53 betont Hegel in einem Zusatz zu § 155: »Was den Menschen auferlegt wird als Pflicht, soll für etwas geschehen; – nicht nur ihren Vorteil direkt oder indirekt dabei haben – sondern für Etwas, worin sie ihre Würde, Freiheit haben, dessen Dasein daher ihr Dasein – ihr Recht ist. Nicht bloß: Andere haben Rechte, ich bin ihnen gleich, bin Person wie sie, ich soll Pflichten gegen ihre Rechte haben, – als ihnen gleich soll ich durch diese Pflichten auch Rechte haben – Zusammenhang durch Vergleichung.« 54 Der eigentliche Stein des Anstoßes für Hegels Rechtstheorie war die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit, deren Unvernunft er analysierte und kritisierte. Das Recht – und der Staat des Rechts – sind für ihn notwendig als Korrektive dieser Gesellschaft. Hegel forderte für die Gegenwart die normative Allgemeinheit des Rechts, die sich in allgemeinen Menschenrechten ausdrückt. An dieser Perspektive ließ er – wie § 209 zeigt – keinen Zweifel: »Das Relative der Wechselbeziehung der Bedürfnisse und der Arbeit für sie hat zunächst seine Reflexion in sich, überhaupt in der unendlichen Persönlichkeit, dem (abstrakten) Rechte. Es ist aber diese Sphäre des Relativen, als Bildung, selbst, welche dem Rechte das Dasein gibt, als allgemein Anerkanntes, Gewußtes und Gewolltes zu sein und, vermittelt durch dies Gewußt und Gewolltsein, Gelten und objektive Wirklichkeit zu haben. Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.« 55 Doch die moderne bürgerliche Gesellschaft verwirklicht das der ›allgemeinen Person‹ zustehende Recht nicht. Hegel bilanzierte den Grund hierfür in § 185: »Die Besonderheit für sich, einerseits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, zerstört in ihren Genüssen sich selbst und ihren substantiellen Begriff; andererseits als unendlich erregt und in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür sowie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt, ist die Befriedigung des notwendigen wie des zufälligen Bedürfnisses zu53 54 55

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, HW 7, S. 304. Ebd., S. 305. Ebd., S. 360 f., § 209.

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fällig. Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwicklung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar.« 56 Die aus der Form der kapitalistischen Produktionsweise herrührende Verelendung und Akkumulation von Reichtum sind nicht zwei Seiten der bürgerlichen Gesellschaft; Armut und Reichtum bilden einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben die Tendenz, »Individuen zur Armut herunter[zu]bringen, einem Zustande, der ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft läßt, und der […] sie aller Vorteile der Gesellschaft […] mehr oder weniger verlustig macht«. 57 Zugleich »vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer […] auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse«. 58 In §§ 244 gab Hegel den eigentlichen Grund für die Funktionen an, die dem Recht in der bürgerlichen Gesellschaft zukommen sollten: »Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert, – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, – bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt.« 59 Systematisch gesehen, hätte hier anstelle von ›Ehre‹ auch ›Würde‹ stehen können. Seine systematische Perspektive auf ›Würde‹ hat Hegel in seinen 1821 – also zur Zeit seiner Rechtsphilosophie – begonnenen und 1824, 1827 und 1831 in Modifikationen gehaltenen historischen ›Vorlesungen über die Philosophie der Religion‹ im Kontext der »Vorstellung von der Unsterblichkeit« entwickelt, die »mit der Vorstellung von Gott« zusammenhängt, »von der Stufe […], auf welcher der metaphysische Begriff von Gott steht. Je mehr die Macht der Geistigkeit nach 56 57 58 59

Ebd., S. 341, § 185. Ebd., S. 388, § 241. Ebd., S. 389, § 243. Ebd., S. 389, § 244. Hervorh. v. mir.

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Hegel: Würde und Recht

ihrem Inhalt auf ewige Weise aufgefaßt wird, je würdiger ist die Vorstellung von Gott und die des Geistes des menschlichen Individuums und der Unsterblichkeit des Geistes«. 60 Auf der ›Stufe‹ der griechischen Antike kann von ›Würde‹ noch nicht die Rede sein: »So schwach, so unkräftig die Menschen hier erscheinen, so erscheinen sie auch bei den Griechen und bei Homer. In der Szene des Odysseus am Styx ruft dieser die Toten hervor: er schlachtet einen schwarzen Bock; erst durch das Blut vermögen die Schatten Erinnerung und Sprache zu bekommen. Sie sind begierig nach dem Blut, damit Lebendigkeit in sie komme; Odysseus läßt einige trinken und hält die anderen mit dem Schwert zurück. So sinnlich die Vorstellung von dem Geiste des Menschen ist, ebenso sinnlich ist die von dem, was die Macht an und für sich ist. In dem angeführten Beispiel ist auch zugleich enthalten, wie wenig Wert der Mensch als Individuum auf diesem Standpunkt hat; diese Verachtung, Geringachtung des Menschen durch andere ist auch unter den Negern als Zustand der Sklaverei bekannt, die ganz allgemein unter ihnen ist. Gefangene sind entweder Sklaven oder werden geschlachtet. Mit der Vorstellung der Unsterblichkeit wächst der Wert des Lebens; man sollte meinen, es sei umgekehrt: dann habe das Leben weniger Wert. Einerseits ist dies auch der Fall, aber andererseits wird damit das Recht des Individuums an das Leben um so größer, und das Recht wird erst groß, wenn der Mensch als frei in sich erkannt ist. Beide Bestimmungen, des subjektiven endlichen Fürsichseins und der absoluten Macht, was späterhin als absoluter Geist hervortreten soll, hängen aufs engste zusammen.« 61 Am historischen Bild der Antike, deren Merkmal die Sklaverei ist, entwickelte Hegel sein metaphysisches Gegenbild: Es fehle in der griechischen Antike »noch das Bewußtsein der unendlichen Subjektivität des Menschen, daß die sittlichen Verhältnisse und das absolute Recht dem Menschen als solchem zukommen, daß er dadurch, daß er Selbstbewußtsein ist, in dieser formellen Unendlichkeit das Recht wie die Pflicht der Gattung hat. Freiheit, Sittlichkeit ist das Substantielle des Menschen, und dieses als das Substantielle zu wissen und seine Substantialität darein zu setzen, ist der Wert und die Würde des Menschen. Aber die formelle Subjektivität, das Selbstbewußtsein als solches, die in sich unendliche Individualität, nicht die bloß natürliche, 60 61

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, HW 16, S. 299. Ebd., S. 299 f.

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unmittelbare, ist es, welche die Möglichkeit jenes Wertes ist, d. h. die reale Möglichkeit, und um derentwillen er selbst unendliches Recht hat. Weil nun in der unbefangenen Sittlichkeit die Unendlichkeit der formellen Subjektivität nicht anerkannt ist, daher kommt dem Menschen als solchem nicht die absolute Geltung zu, daß er an und für sich gelte, mag er in seiner inneren Erfüllung sein, wie er will, da oder dort geboren, reich oder arm, diesem oder jenem Volke angehörig. Die Freiheit und Sittlichkeit ist noch eine besondere und das Recht des Menschen mit einer Zufälligkeit behaftet, so daß auf dieser Stufe wesentlich Sklaverei stattfindet.« 62 Auf dieser Entwicklungsstufe »sollte man meinen, der Mensch, weil er als diese Macht so viel gilt, sei hier hoch geehrt und habe das Gefühl seiner Würde. Aber im Gegenteil, vollkommenen Unwert hat hier der Mensch – denn« – dies ist Hegels systematische Gegenposition – »Würde hat der Mensch nicht dadurch, was er als unmittelbarer Wille ist, sondern nur indem er von einem Anundfürsichseienden, einem Substantiellen weiß und diesem seinen natürlichen Willen unterwirft und gemäß macht. Erst durch das Aufheben der natürlichen Unbändigkeit und durch das Wissen, daß ein Allgemeines, Anundfürsichseiendes das Wahre sei, erhält er eine Würde, und dann ist erst das Leben selbst auch etwas wert.« 63 Auch im historischen Kontext seiner Religionsphilosophie – auch sie war als Geschichte der Entwicklung der Freiheit konzipiert – hob Hegel hervor: »Das Staatsgesetz ist Gesetz der Freiheit, setzt die Persönlichkeit, die Menschenwürde voraus.« 64

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, HW 17, S. 127 f. In seinen von 1822 bis 1830 in Berlin gehaltenen ›Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte‹ führte Hegel mit Bezug auf Indien aus: »Jede Kaste hat ihre besonderen Pflichten und Rechte; die Pflichten und Rechte sind daher nicht die des Menschen überhaupt, sondern die einer bestimmten Kaste. Wenn wir sagen würden, Tapferkeit ist eine Tugend, so sagen die Inder dagegen: Tapferkeit ist die Tugend der Kschatrijas. Menschlichkeit überhaupt, menschliche Pflicht und menschliches Gefühl ist nicht vorhanden, sondern es gibt nur Pflichten der besonderen Kasten. Alles ist in die Unterschiede versteinert, und über dieser Versteinerung herrscht die Willkür. Sittlichkeit und menschliche Würde ist nicht vorhanden, die bösen Leidenschaften gehen darüber; der Geist wandert in die Welt des Traumes, und das Höchste ist die Vernichtung.« (HW 12, S. 184). 63 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, HW 16, S. 300. 64 Ebd., S. 226. 62

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›Würde‹ in der Entwicklung nach Hegel: Vom Vormärz bis zu Proudhon

5.4 ›Würde‹ in der Entwicklung nach Hegel: Vom Vormärz bis zu Proudhon Hegels Philosophie hat die weitere Entwicklung des Würdebegriffs und dessen Verwendung bzw. Kritik maßgeblich beinflusst. Dies zeigt sich bei gegen die konservative Hegel-Schule gerichteten Theoretikern und Politikern des Vormärz, z. B. beim Radikaldemokraten Karl Nauwerck65; er war 1844 bis 1849 Mitglied des ›Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen‹ und wurde 1848 in das Paulskirchenparlament gewählt. 66 1841 notierte er: »Ohne rechtliche Ebenbürtigkeit aller Stände und Personen, ohne Anerkennung der Würde des Geistes und der Rede- und Schriftfreiheit, durch welche Köpfe mit Köpfen, Herzen mit Herzen in lebendiger Wechselwirkung treten, ohne verständige Verwaltung der Steuern und öffentlichen Güter, ohne gutes Schulwesen, ohne weise Gesetzgebung für Ackerbau, Gewerbe und Handel – ist Ruhe und Ordnung ein Traum, eine Luftspiegelung.« 67 Eine zweite Erwähnung von ›Würde‹ betraf die Bildungspolitik, einen Schwerpunkt der Reformbestrebungen in der Zeit der 1848er Revolution in Deutschland. Erstmals hatte der liberale Bildungsreformer Adolph Diesterweg der Forderung Gehör zu schaffen gesucht, Wissen müsse allgemeines Menschenrecht werden. Volksbildung von der Grundschule an war für ihn ein Mittel der Volksbefreiung Die Bedingungen für die Verwirklichung seiner Forderungen waren jedoch alles andere als günstig. Das preußische ›Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken‹ vom 9. März 1839 war nur ein erster Schritt, die allgemeine Schulpflicht zu ermöglichen: Das Mindestalter arbeitender Kinder wurde auf neun Jahre und die Arbeitszeit der unter 16jährigen auf maximal zehn Stunden täglich festgesetzt; ihr Einsatz für Nacht- und Sonntagsarbeit wurde verboten. Für die im Folgenden zitierten Quellen aus dem Familiennachlass von Karl Nauwerck danke ich Prof. Dr. Lars Lambrecht (Hamburg), der an einer Nauwerck-Nachlassausgabe arbeitet. 66 Vgl. Lars Lambrecht, Karl Nauwerck (1810–1891). Ein ›unbekannter‹ und ›vergessener‹ Radikaldemokrat. In: H. Bleiber/W. Schmidt/S. Schütz (Hg.), Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49, Berlin 2003, S. 431–462. 67 Karl Nauwerck, Für Julie und die Kinder. Allerlei. Eigenes und Fremdes. Große Sammlung, KNFA, 1.1.1.1 AphGr1 (Nr. 1–1195), Nr. 1015, Bl. 98, S. 200 (Familiennachlass). 65

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Philosophien der Menschenwürde

In diesem Kontext schrieb Nauwerck 1847: »Je tüchtiger die Volksschule, desto größer ist die Sittlichkeit, die Erkenntniß, der Wohlstand. Was der Staat für Unterricht und Erziehung ausgibt, das spart er an Gefängnissen und Strafanstalten. Es ist ja seine heiligste Angelegenheit, die sittlich-geistige Menschenwürde mehr als bisher zum Gemeingut zu machen, mit aller Macht an der Aufhebung des Pöbels zu arbeiten. Deßhalb muß er die Volksschule mit besonderer Sorgfalt behandeln, auf sie die reichsten Mittel verwenden. Zu diesem Behuf ist auch unerläßlich, daß die äußere Stellung des Standes der Volksschullehrer wesentlich und gründlich verbessert werde. Die unwürdige Hungerleiderei, welche man fast überall bis jetzt den größten Theil aller Schullehrerklassen auferlegt hat, wird mit Anerkennung der Wahrheit aufhören, daß es keine edlere und höher zu ehrenden Beschäftigung gibt, als Menschenbildung.« 68 Es war das ›Elend der Menschheit‹, das den Demokraten 1850 bewegte: »Kann irgend etwas Kummer und Schmerzen unsers Privatlebens lindern und unser innerstes Leid erträglicher machen, so ist es die lebendige Theilnahme an den Kämpfen und Leiden, den Siegen und Niederlagen der Völker, an der Wonne und dem Elend der Menschheit. Sie fordert mit Recht einen schönsten Theil vom Menschen; Gleichgültigkeit gegen sie raubt ihm geradezu den besten Anspruch auf Menschenwürde. Der von der Menschheit losgerissene Mensch ist nur noch dürftiges, verkommendes Bruchstück eines Menschen.«69 In einer geschichtsphilosophischen Reflexion ›Räumliche und zeitliche Entwickelung der Menschheit‹ aus dem Jahre 1850 setzte Nauwerck – nicht anders als Hegel am Ende seiner Rechtsphilosophie – seine Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse auf die Vereinigten Staaten: »In Amerika, dem äußersten Westen, ist die mittelalterliche Barbarei auf ihre ersten praktischen Besieger gestoßen; dort sind gesunde Schößlinge, die aus dem verdorbenen Europa sich hinüber gerettet hatten, selbständig zur Freiheit und Menschenwürde aufgewachsen und werden durch massenhafte europäische Auswanderung verstärkt. Durch Nordamerika nun wird fort und fort Europa geistig und staatlich erobert, wenn auch hier der Freiheitskampf bald siegt, bald unterliegt. Nach demselben Gesetze, wie der Fortschritt des Menschengeschlechtes im Raume hin und her wandern muß und doch immer mehr Boden gewinnt, bewegt 68 69

Ebd., Nr. 1001, Bl. 97, S. 197. Ebd., Nr. 708, Bl. 64, S. 131.

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er sich auch vor- und rückwärts in der Zeit. Die Gesittung und Befreiung schreitet niemals in gerader Linie, sondern in einer Spirallinie fort. […] Aber die Menschheitsbildung, dem fallenden Körper gleich, erkräftigt sich im Wachsen und schreitet rascher vor.« 70 Von Hegel und Fichte beinflusst, sah auch Ferdinand Lassalle, der Gründer und erste Präsident des 1863 gegründeten ›Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins‹, in der Entwicklung seit 1848 die Chance zur Befreiung des ›vierten Standes‹, d. h. der ›arbeitenden Classen‹, und damit der ›Menschheit‹ aus menschenunwürdigen Verhältnissen 71: »Am 24. Februar 1848 brach die erste Morgenröthe einer neuen Geschichtsperiode an. An diesem Tage brach nämlich in Frankreich, in diesem Lande, in dessen gewaltigen inneren Kämpfen die Siege wie die Niederlagen der Freiheit, Siege und Niederlagen für die gesamte Menschheit bedeuten, eine Revolution aus, die einen Arbeiter in die provisorische Regierung berief, als den Zweck des Staates die Verbesserung des Loses der arbeitenden Classen aussprach, und das allgemeine und direkte Wahlrecht proklamierte, durch welches jeder Bürger, der sein 21. Jahr erreicht hatte, ohne alle Rücksicht auf seine Besitz Verhältnisse einen gleichmäßigen Antheil an der Herrschaft über den Staat, an der Bestimmung des Staatswillens und Staatszweckes empfing. […] Dieser vierte Stand, in dessen Herzfalten daher kein Keim einer neuen Bevorrechtung mehr enthalten ist, ist eben deshalb gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller.« 72 Ganz auf einer Linie mit Hegels Staatskonzeption erklärte Lassalle: »Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit andern Worten: die menschliche Bestimmung – d. h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist – zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit.« 73 Karl Nauwerck, Die Gegenwart im Lichte der menschheitlichen Entwickelungsgesetze. In: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, hg. v. A. Kolatschek, 1. Jh., H. 9, S. 345–356, hier: S. 349 f. Nauwercks eigene Datierung ›Bremen 1851‹ ist irrtümlich und muß heißen: Stuttgart 1850. 71 Den Begriff ›Menschenwürde‹ verwandte Lassalle nicht. 72 Lassalle 1863, S. 31 f. 73 Ebd., S. 41. 70

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Auch die Dichtung dieser Zeit wurde zum Spiegel der Reflexion über Menschenwürde. Charles Baudelaire schrieb 1855 sein in der Sammlung Les fleurs du mal 1857 veröffentlichtes Gedicht ›Les Phares‹, in dem er acht bedeutende Maler als ›Leuchttüme‹ der Humanität würdigte: Rubens, Leonardo da Vinci, Rembrandt, Michelangelo, Puget, Watteau, Goya und Delacroix. Doch die menschliche Würde findet ihre Grenze im ›glühende[n] seufzer der hinrollt von zeiten zu zeiten/ Und der am rande deiner ewigkeit stirbt‹ – der Ewigkeit Gottes. Ces malédictions, ces blasphèmes, ces plaintes, Ces extases, ces cris, ces pleurs, ces Te Deum, Sont un écho redit par mille labyrinthes; C’est pour les coeurs mortels un divin opium! C’est un cri répété par mille sentinelles, Un ordre renvoyé par mille porte-voix; C’est un phare allumé sur mille citadelles, Un appel de chasseurs perdus dans les grands bois! Car c’est vraiment, Seigneur, le meilleur témoignage Que nous puissions donner de notre dignité Que cet ardent sanglot qui roule d’âge en âge Et vient mourir au bord de votre éternité! Dies alles an flüchen an lästerungen an träumen Verzückungen klagen thränen und lobliedern trifft Sich wie ein echo aus tausend verschlungenen räumen Es ist für die menschen ein göttlich berauschendes gift Es ist ein laut den tausend schildwachen schreien Ein losungswort das von tausenden lippen schwirrt Es ist ein leuchtturm der flammt über tausend basteien Ein ruf von jägern im dickicht des waldes verirrt. Dies ist es o Gott! was bei all deinen herrlichkeiten An unsre würde uns den glauben erwirbt: Der glühende seufzer der hinrollt von zeiten zu zeiten Und der am rande deiner ewigkeit stirbt. 74

Wenige Jahre später leistete in Frankreich der Ökonom und Sozialrevolutionär mit anarchistischen Tendenzen Pierre Joseph Proudhon, der sich 1840 in Qu’est ce que la propriété? Ou recherches sur le prin74

So die Übersetzung von Stefan George.

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cipe du droit et du gouvernement die Parole ›Eigentum ist Diebstahl‹ zueigen gemacht 75 und 1846 sein Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère veröffentlicht hatte, mit seiner Gerechtigkeits- und Gleichheitstheorie einen eigenständigen Beitrag zur zeitgenössischen Debatte über Menschenwürde. In De la justice dans la révolution et dans l’église: nouveaux principes de philosophie pratique (Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche. Neue Principien praktischer Philosophie) schrieb er 1858: »[1)] Der Mensch hat kraft der Vernunft, mit welcher er begabt ist, die Fähigkeit, seine Würde in der Person seines Nebenmenschen zu fühlen wie in seiner eigenen Person, und in dieser Beziehung seine Identität mit ihm zu bejahen. 2) Die Gerechtigkeit ist das Produkt dieser Fähigkeit; sie ist die spontan empfundene und gegenseitig garantirte Achtung der menschlichen Würde, in welcher Person und unter welchen Umständen sie gefährdet sein, und welchen Gefahren uns ihre Vertheidigung aussetzen mag. 3) Diese Achtung steht auf dem niedrigsten Grade bei dem Barbaren, welcher sie durch die Religion ersetzt; sie stärkt und entwickelt sich bei dem Civilisirten, der die Gerechtigkeit um ihrer selbstwillen ausübt und sich von jedem persönlichen Interesse und jeder religiösen Erwägung befreit. 4) So gefaßt, ist die Gerechtigkeit gleichbedeutend mit Seligkeit, dem Principe und Endzwecke der menschlichen Bestimmung. 5) Aus der Definition der Gerechtigkeit geht die des Rechts und der Pflicht hervor. Das Recht besteht für jeden in der Befugniß, von dem Andern die Achtung der menschlichen Würde in seiner Person zu verlangen; die Pflicht, in der Verbindlichkeit für Jeden, diese Würde in dem Andern zu achten. Im Grunde sind Recht und Pflicht identische Bezeichnungen, da sie immer der Ausdruck der Achtung sind, sei diese nun ein Guthaben oder eine Schuld; beide setzen sich gegenseitig voraus und unterscheiden sich nur durch das Subjekt, ich oder du, in welchem die Würde gefährdet ist. 6) Aus der Identität der Vernunft bei allen Menschen und dem Gefühle der Achtung, welches sie antreibt, um jeden Preis ihre gegenseitige Würde aufrecht zu erhalten, geht die Gleichheit vor der Gerechtigkeit hervor.« 76 Die von Proudhon aufgenommene Formulierung stammt vom Girondisten JacquesPierre Brissot de Warville, dem die Aufständischen am 14. Juli 1789 in einem symbolischen Akt den Schlüssel zur erstürmten Bastille übergaben. Er hatte bereits 1780 in Recherches philosophiques sur le droit de propriété et sur le vol considéré dans sa nature vom Eigentum als Dienstahl gesprochen. 76 Proudhon 1858, S. 191 f. 75

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5.5 Zwei Würde-Kritiken: Marx und Nietzsche Der Würdebegriff hat bei Karl Marx, dem juristisch gebildeten HegelLeser, keine Rolle gespielt. Dies ist auffällig angesichts der Programmatik des Manifests der kommunistischen Partei: »An die Stelle der alten bürgerlichen Ordnung mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« 77 Auffällig ist dies auch, wenn man sich die zahlreichen empirischen Darstellungen menschenunwürdiger Verelendung der Fabrikarbeiter in Marx’ Das Kapital vergegenwärtigt. Und doch ist es nicht überraschend, dass Marx den Würdebegriff – mit einer einzigen Ausnahme – ausschließlich mit kritischen Konnotationen verbunden hat. In der 1844 gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Schrift Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik klingt ein positiver Würdebegriff in der Kritik an ›Rudolph, Fürst von Geroldstein‹ – einer Romanfigur von Eugène Sue – zumindest an: Rudolph »erhebt sich nicht mal auf den Standpunkt der selbständigen Moral, welche wenigstens auf dem Bewußtsein der Menschenwürde beruht«. 78 Alle übrigen Passagen, in denen bei Marx von ›Würde‹ die Rede ist, sind – wie in den folgenden Beispielen – ideologiekritisch motiviert: »Die Souveränität, die monarchische Würde, würde also geboren. Der Leib des Monarchen bestimmte seine Würde. Auf der höchsten Spitze des Staats entschiede also statt der Vernunft die bloße Physis.« 79 »In diesem System erscheint die körperliche Würde des Menschen oder die Würde des menschlichen Körpers (was weiter ausgeführt lauten kann: die Würde des physischen Naturelements des Staats) so, daß bestimmte, und zwar die höchsten sozialen Würden die Würden bestimmter durch die Geburt prädestinierter Körper sind.« 80 Mit Ironie stellte Marx fest: »Wenn aber noch jemand zweifelt, daß diese ehrbaren Banditen die nationale und internationale Produktion ausbeuten nur im Interesse der Produktion und der Ausgebeuteten

Marx/Engels, Das kommunistische Manifest, MEW Bd. 4, S. 482. Hervorh. v. mir. Marx/Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW Bd. 2, S. 213. 79 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 235. 80 Ebd., S. 311. 77 78

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selbst, der wird sicher eines Bessern belehrt durch folgenden Exkurs über die hohe sittliche Würde des Bankiers«. 81 Ein Grund für den pejorativen bzw. ironischen Begriffsgebrauch düfte die Marx’sche und Engels’sche Kritik an der Funktion der Menschenrechte im Staat der Bourgeoisie gewesen sein. Während noch in Art. 3 der Statute des ›Bundes der Gerechten‹ von 1838 – des unmittelbaren Vorläufers des ›Bundes der Kommunisten‹ – die ›Verwirklichung der in den Menschen- und Bürgerrechten enthaltenen Grundsätze‹ als Zweck des Bundes angegeben worden war, kritisierte Marx in seinem Aufsatz ›Zur Judenfrage‹ (1844) den bloß humanitären Anspruch »der so genannten Menschenrechte«. 82 Marx und Engels zogen gemeinsam in Die heilige Familie gegen Bruno Bauer und andere ›deutsche Ideologen‹ zu Felde; Bauer habe »den Staat mit der Menschheit, die Menschenrechte mit dem Menschen, die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselt«. 83 Die beiden Ideologiekritiker wollten zeigen, »wie die Anerkennung der Menschenrechte durch den modernen Staat keinen andern Sinn hat als die Anerkennung der Sklaverei durch den antiken Staat. Wie nämlich der antike Staat das Sklaventum, so hat der moderne Staat die bürgerliche Gesellschaft zur Naturbasis, sowie den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. den unabhängigen, nur durch das Band des Privatinteresses und der bewusstlosen Naturnotwendigkeit mit dem Menschen zusammenhängenden Menschen, den Sklaven der Erwerbsarbeit und seines eignen wie des fremden eigennützigen Bedürfnisses. Der moderne Staat hat diese seine Naturbasis als solche anerkannt in den allgemeinen Menschenrechten. Und er schuf sie nicht. Wie er das Produkt der durch ihre eigne Entwickelung über die alten politischen Bande hinausgetriebnen bürgerlichen Gesellschaft war, so erkannte er nun seinerseits die eigne Geburtsstätte und Grundlage durch die Proklamation der Menschenrechte an. […] Die bürgerliche Gesellschaft wird positiv repräsentiert durch die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie beginnt also ihr Regiment. Die Menschenrechte hören auf, bloß in der Theorie zu existieren.« 84 Die Gesellschaft, die Marx 1844 in seinen Pariser ›Ökonomischphilosophischen Manuskripten‹ im Spiegel der von ihm kritisierten 81 82 83 84

Marx: Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 561. Marx, MEW Bd. 1, S. 366. Marx/Engels, MEW Bd. 2, S. 92. Ebd., S. 120 und 130.

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»Nationalökonomen« sah, war »die bürgerliche Gesellschaft, worin jedes Individuum ein Ganzes von Bedürfnissen ist und es nur für den andern, wie der andre nur für es da ist, insofern sie sich wechselseitig zum Mittel werden. Der Nationalökonom – so gut, wie die Politik in ihren Menschenrechten – reduziert alles auf den Menschen, d. h. auf das Individuum, von welchem er alle Bestimmtheit abstreift, um es als Kapitalist oder Arbeiter zu fixieren.« 85 Die Kontexte dieser Kritik waren (i) die gegen Hegel gerichte Ideologiekritik und (ii) die Konzentration auf die Kritik der politischen Ökonomie. In ihrem Rahmen wurde eine so vehemente Rechtskritik formuliert, dass der Zusammenhang von Recht und Würde nicht mehr gesehen werden konnte. 86 (i) Marx schrieb 1843 in der Absicht, die »Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen« 87, einen kritischen Kommentar zum Hegel’schen Staatsrecht (zu den §§ 261–313 von dessen Rechtsphilosophie), das er als bloße »Parenthese zur Logik« 88 Hegels verstand: »Der ›Staatszweck‹ und die ›Staatsgewalten‹ werden mystifiziert, indem sie als ›Daseinsweisen‹ der ›Substanz‹ dargestellt und getrennt ihrem wirklichen Dasein, dem ›sich wissenden und wollenden Geist, dem gebildeter Geist‹ erscheinen. […] Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch-metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. […] Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik.« 89 Hegel sei »nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt«. 90 Diese Kritik war angesichts der polemischen politisch-ideologieMarx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Bd. 40, S. 557. Vgl. hierzu Sandkühler 2013b. 87 Marx, Briefe aus den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹, Brief an A. Ruge, September 1843, MEW 1, S. 345. 88 Ebd., S. 217. 89 Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1, S. 216. 90 Ebd., S. 266. 85 86

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kritischen Absicht zu erwarten. Doch Marx übersah, dass Hegels Rechtsphilosophie in einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft gründete und keine deskriptive, sondern eine normative Theorie war, die dem Staat des Rechts die Funktion des Korrektivs dieser Gesellschaft zuwies. 1844 erschien in den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ Marx’ Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Nur in Deutschland sei »die spekulative Rechtsphilosophie möglich, dies abstrakte überschwengliche Denken des modernen Staats, dessen Wirklichkeit ein Jenseits bleibt«. 91 Erstmals beantwortete Marx hier die Frage nach der »positive[n] Möglichkeit der deutschen Emanzipation«: »Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sehären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.« 92 (ii) Marx hat seine Kritik an der Faktizität der Staats- und Rechtsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft weniger in politischer als in ökonomischer Perspektive entwickelt. Das Problem der Beziehung zwischen Staat und Recht, Staatsfunktionen und Rechtsfunktionen, thematisierte er nur am Rande; er fragte suggestiv: »Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen?« 93 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 384. Ebd., S. 391. 93 Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Bd. 19, S. 18. 91 92

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Er bilanzierte: »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.« 94 Ja, er ging einen Schritt weiter: Alles Recht sei »Recht der Ungleichheit«. 95 Dass sich Marx für das Recht nicht in normativer Perspektive interessiert hat, ist nicht nur aus der zeitbedingten Identifizierung des bestehenden Rechts mit dem bestehenden Staat zu erklären. Der tiefere Grund ist systematischer Art: Die Kritik der politischen Ökonomie verlangte geradezu danach, sich mit dem Recht als ›Überbau‹ und deshalb als ideologischem Phänomen zu befassen. Die Reduktion der Würde- und Menschenrechte-Thematik und des bei Kant und im Deutschen Idealismus begründeten Zusammenhangs von Würde und Recht auf die bürgerliche Gesellschaft und die kapitalistische Produktionweise machen die Achillesferse der analytisch starken Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie aus: Von hier aus wurde kein Weg zum Recht, zum Rechtsstaat, zur verfassungsrechtlichen Würdenorm und zur Demokratie ausgeschildert. Unter den Bedingungen des anderen, des faschistischen Weges verfasste der Marxist Bert Brecht 1938 in Paris zur Verbreitung in Hitler-Deutschland Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit; der Text wurde als Sonderdruck der antifaschistischen Zeitschrift ›Unsere Zeit‹ vom ›Schutzverband Deutscher Schriftsteller‹ herausgegeben: »Und besser als das Wort Ehre ist das Wort Menschenwürde. Dabei verschwindet der einzelne nicht so leicht aus dem Gesichtsfeld. Weiss man doch, was für ein Gesindel sich herandrängt, die Ehre eines Volkes verteidigen zu dürfen! Und wie verschwenderisch verteilen die Satten Ehre an die, welche sie sättigen, selber hungernd.« 96 Mit völlig anderer Begründung als Marx kam Friedrich Nietzsche 97 im Rahmen seiner nihilistischen Moralkritik zu einem vergleichbaren Ergebnis: ›Würde‹ sei nichts als eine Illusion seines Zeitalters. Seine Begründung findet sich im dritten Buch seines 1882 erschienenen und 1887 ergänzten Werks Die fröhliche Wissenschaft: »Die vier Irrthümer. – Der Mensch ist durch seine Irrthümer erzogen Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. 96 Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In: ders., Werke, Bd. 22.1, Berlin/Weimar 1993. 97 Vgl. Sorgner 2010, S. 151 f. 94 95

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Zwei Würde-Kritiken: Marx und Nietzsche

worden: er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrthümer weg, so hat man auch Humanität, Menschlichkeit und Menschenwürde hinweggerechnet.« 98 Nietzsche stellte fest, die christliche Moral und mit ihr auch der Glaube an die Menschenwürde habe den ›Tod Gottes‹ überlebt. »Das größte neuere Ereignis – daß Gott tot ist, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, älter scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen; das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral.« 99 Mit dem Tod Gottes verbunden ist es das »allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-Held des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich als verwandt mit der entscheidenden und an sich wertvollen Seite des Daseins zu beweisen – wie es alle Metaphysiker tun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, dass die moralischen Werte kardinale Werte sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest.« 100 Was bei Nietzsche an ›Würde‹ übrig blieb, war erstens die traditionelle Konzeption der Würde nach dem Grad der Leistung: »[J]eder Nietzsche, KSA, FW, 3, S. 474. Ebd., S. 573. 100 Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtigerjahre, KSA, NF, 12, S. 254 f. 98 99

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Philosophien der Menschenwürde

Mensch, mit seiner gesamten Tätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Konsequenz zu erschließen ist, daß der Mensch an sich, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt: nur als völlig determiniertes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen.« 101 Was zweitens blieb, war der Zynismus eines Aristokraten nach der Aristokratie: »Sklaven und Arbeiter. – Dass wir mehr Wert auf Befriedigung der Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass Jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die Aufhebung der Sklaverei wünscht und es auf’s Ärgste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während Jeder sich sagen muss, dass die Sklaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sklavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältnis zu der des ›Arbeiters‹ ist. Man protestiert im Namen der ›Menschenwürde‹ : das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nichtgleich-gestelltsein, das Öffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Los empfindet. – Der Zyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: – und so war Diogenes eine Zeitlang Sklave und Hauslehrer.« 102

5.6 Karl Kraus: ›Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist‹ 1908 hat der Satiriker Karl Kraus, der 1917 in ›Zwischen den Lebensrichtungen‹ von sich sagen konnte »Die Partei der Menschenwürde habe ich nie verleugnet« 103, in seinem Beitrag ›Menschenwürde‹ deutlich gemacht, warum die bloße Anrufung der menschlichen Würde problematisch ist und der Weg letztlich zur Rechtsnorm ihrer Achtung und ihres Schutzes führen muss. Deshalb sei sein Text zum Schluss der

Nietzsche, KSA, CV, 1, S. 776. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I. Ein Buch für freie Geister (1878), Nr. 457. 103 Die Fackel, Jg. 19, 1917, Nr. 462–471, 9. Oktober, S. 78. Gemeint war die Sozialdemokratie. 101 102

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Karl Kraus: ›Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist‹

Darstellung wesentlicher Paradigmata in der Geschichte des Würdebegriffs in voller Länge zitiert: »Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde in seine Hand gegeben oder es faßt ihn ihr ganzer Jammer an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. Ich habe mich viel und eingehend mit der Menschenwürde beschäftigt, habe in meinem Laboratorium die verschiedensten Untersuchungen darüber angestellt und muß bekennen, daß die Versuche in den meisten Fällen schon wegen der Schwierigkeit der Beschaffung des Materials kläglich verlaufen sind. Die Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer dort zu scheinen, wo sie nicht ist. Die Fähigkeit gewisser Tiere, die Gestalt lebloser Körper oder Pflanzen anzunehmen, jene Vorkehrung, die man Mimikry nennt und durch die die Natur sie in den Stand gesetzt hat, ihre Verfolger zum Narren zu halten, sie tritt beim Menschen als die sogenannte Würde in Erscheinung. Der Mensch zieht ein Kleid an und stellt sich in Positur. Der Hauptmann von Köpenick aber war es, der dieser unterhaltlichen Schutzvorrichtung selbst wieder einen Possen gespielt und die menschliche Mimikry entlarvt hat. Als er mit der Würde daherkam, ergab sich die Würde, als er mit Trommeln und Pfeifen einzog, ging die Autorität flöten, und darum ist es begreiflich, daß er ins Zuchthaus mußte. Man sagt, er habe sich bloß den Scherz einer Verkleidung erlaubt; aber in Wahrheit hat er mehr getan, er hat die Verkleidung eines Ernstes enthüllt. Wenn ein Shakespearischer König wahnsinnig wird, so benützt er die Gelegenheit, um Weisheiten auszusprechen, die man ihm sonst übelnähme: man würde ihn für verrückt halten. Auch der Narr ihm zur Seite genießt die Vorteile seiner Stellung: nähme man ihn ernst, man ließe sich von ihm auch nicht die kleinste Wahrheit gefallen. Er darf seinen König einen Narren nennen, der König darf die Behauptung wagen, daß man »dem Hund im Amt gehorcht«, und der Schuster in der Uniform kann beweisen, daß der Hund im Amt dem Schuster in der Uniform gehorcht. Einem Mann, der lange Zeit im Kostüm eines persischen Generals die höchsten Kreise einer Residenzstadt zu seinem eigenen Besten gehalten hatte, kam man endlich dahinter, daß er eigentlich gar kein persischer General oder, wenn er einer sei, daß er noch avancieren müßte, um den Rang eines österreichischen Korporals zu erreichen. Jener wahnsinnige König hat sofort die Wahrheit erkannt; denn er sagte: ›Euch, Herr, halte ich als einen meiner Hundert; nur 139 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

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gefällt mir der Schnitt Eures Habits nicht. Ihr werdet sagen, es sei persische Tracht; aber laßt ihn ändern.‹ Wenn er ihn nun ändern läßt und sich etwa zur Uniform des Schweizer Admirals aus ›Pariser Leben‹ entschließen sollte, wird er darum nicht weniger beliebt sein. Die Würde, mag sie selbst als Takowa-Orden verliehen oder als päpstliche Jubiläumsmedaille um den Hals gehängt werden, sie gewährt in allen Formen Schutz vor Verfolgung und trägt den Respekt aller jener ein, die noch nicht auf die Idee verfallen sind, sie sich zu verschaffen. Die Würde, die das Verdienst einst um den Vermittlungspreis bekam, ist jetzt unter dem Herstellungspreis zu haben. Vorbei die Zeiten, da irgendein Gregers Werle mit der idealen Forderung umherging, die Medaillen, welche die Bahnhofportiers auf der Brust tragen, müßten revidiert werden. Heute schafft der Besitz die Berechtigung. Früher hatten die Hochstapler von der Dummheit gelebt; jetzt bereichert sich die Dummheit auf Kosten der Hochstapler und beutet sie in der rücksichtslosesten Weise aus. Denn die Würde verleitet zur Erzeugung falscher Ehrenzeichen und wenn der Schwindler eine Zumutung zurückweist, dem Dummen gelingt es stets noch, ihn zu überlisten. Vor allem aber wollen die Leute einen Titel hören, unter dem sie sich nichts vorstellen können. Man kann dem übermütigsten Beamten den Fuß auf den Nacken setzen, wenn man ihm zuruft: ›Ich bitte mir diesen Ton aus, Sie scheinen nicht zu wissen, wer ich bin. Ich bin Exhibitionist!‹ Die Menschenwürde hat die Eigenschaft, sich selbst so zu imponieren, daß sie sofort nachgibt, wenn sie aufbegehrt. Ich kenne eine Stadt, in der sie an jeder Straßenecke solche Siege feiert. Auch dort hat jetzt endlich ein Kutscher die gleichen politischen Rechte wie ein Baron, aber wenn er ihn zum Wahllokal befördert hat, so sagt er zu ihm: ›Küß die Hand, Euer Gnaden!‹ Als der Staatswagen dahintorkelte, riß das Volk die Tür auf. Doch es stellte sich heraus, daß es nur Wagentürl-Aufmacher waren. Man fragte sie, was sie wollten, und sie sagten: ›Euer Gnaden wissen eh!‹ Sie wollten ein Trinkgeld, man gab ihnen die Menschenwürde, und sie brummten: ›So a notiger Beutel! …‹ Ich habe eine wahre Hochachtung vor dem Menschenrechte der Freiheit, so sehr, daß ich der Freiheit das volle Recht auf die Menschen zuerkenne, die sie verdient. Ich habe eine unbegrenzte Ehrfurcht vor den politischen Rechten. Solange aber der Absolutismus des Trinkgelds nicht abgeschafft ist, glaubt das Volk, ein Achtundvierziger sei die Rufnummer eines Fiakers, und ein Unnumerierter sei nobler. Ich kenne einen Hoflieferanten, der sich ins Privatleben zurückgezogen hat, nicht ohne daß ihm der 140 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Karl Kraus: ›Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist‹

Verkehr mit den hohen Herrschaften, die er bedient hatte, zu Kopf gestiegen war. Er benimmt sich noch heute in jeder Lebenslage so, als ob er eine Lieferung für die Königin von Hannover zu effektuieren hätte. Die geheimsten Wünsche und Beschwerden des Bürgerherzens kommen so ans Tageslicht, und als er einmal in einem öffentlichen Lokal eines leibhaftigen Aristokraten ansichtig wurde, verbeugte er sich und rief: ›Zu Füßen des Herrn Grafen, zu Füßen!‹ Es war mir wie die Vision eines unblutig niedergeworfenen Aufstands. Ein radikales Gemüt aber kann wieder auf Lebenszeit von einer Leitartikelphrase verwirrt werden. Ich glaube, daß die Politik entweder daran krankt, daß die Ideen aus kleinen Köpfen in kleinere Herzen, oder daß sie aus kleinen Herzen in kleinere Köpfe übergehen. Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, dann bekommt er die Masern, dann die Würde, und mit der weiß er schon gar nichts anzufangen. Ausgenommen, wenn er Sekundant wird. Das ist nämlich die einzige Situation, in der der Philister herumgeht, als ob er Kartellträger der Vorsehung wäre. Weh dem, der ihn in dieser Würde nicht ernst nimmt, er erhebt sich mit einem ›Pardon, dann habe ich hier nichts mehr zu suchen!‹, und das Protokoll, diese Reinschrift der Würde, ist fertig. Wenn nicht hin und wieder ein Kommis ›fixiert‹ würde, wir wüßten nichts von den ehernen Gesetzen, die uns an das Schicksal binden. Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist. Wenn aber Würde nicht wäre, gäbs keine Würdelosigkeit. Sie provoziert die Gaffer, und wo Gaffer sind, stockt der Verkehr. Die Überwindung der Menschenwürde ist die Voraussetzung des Fortschritts. Sie taugt nichts. Ich habe sie in allen Situationen gesehen. Sie glaubte sich unbeobachtet: da sah ich, wie ein Kellner vor einem Trinkgeld, das ein Gast auf dem Tisch zurückgelassen hatte, sich verbeugte und ›Ich danke vielmals‹ sagte. Ein anderes Mal bemerkte ich, wie er sich bückte, um eines Kreuzers, der in einen Spucknapf gefallen war, habhaft zu werden. In einem doppelten Symbol faßte mich der Menschheit ganzer Jammer an. Wo ist die Würde? fragte ich. Jener verstand schlecht, glaubte, ich wolle eine abgegriffene Zeitung, und sagte: Bedaure, sie ist in der Hand!« 104 Lässt man die hier vorgestellten paradigmatischen Positionen aus der Geschichte des Würdebegriffs Revue passieren, dann ist festzuhalten: Art. 1 Abs. 1 GG ist ein Rechtssatz, dessen juridischer Gehalt nicht aus einer geraden historischen Linie hin zur Würdenorm der moder104

Die Fackel, Heft 250–251, 1908, S. 30–33.

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Philosophien der Menschenwürde

nen Verfassung ableitbar ist. Die tatsächlichen Quellen der Menschenwürdegarantie moderner Verfassungen sind die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Deshalb wiederhole ich: Bei Anrufungen vorkantischer historischer Paradigmata ist zu fragen, wer in welchem Interesse an etwas erinnert, das der Würdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG angemessen oder aber nicht angemessen ist.

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Teil III Menschenwürde als Rechtsbegriff

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1. Unrechtserfahrung – die Quelle der Menschenwürdegarantie

Als Rechtsbegriff 1 und Verfassungsnorm ist ›Menschenwürde‹ erst im 20. Jahrhundert positiviert worden, nicht zuletzt nach 1945 2 aufgrund der Gewalt- und Unrechtserfahrungen, die zur ›Charta der Vereinten Nationen‹ vom 26. Juni 1945 geführt haben: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern, haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.« 3 Die im 20. Jahrhundert unter dem Eindruck der Verbrechen des Kolonialismus und Imperialismus, des deutschen Nationalsozialismus, Vgl. zur Menschenwürde als Rechtsbegriff Seelmann 2004, Gutmann 2010 und 2010a, Tiedemann 2010. 2 Vgl. Lohmann 2010. 3 Präambel. Zur Debatte um die Aufnahme des Würdebegriffs in die UN-Charta vgl. Tiedemann 2010, S. 10–20. 1

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Unrechtserfahrung – die Quelle der Menschenwürdegarantie

italienischen Faschismus und japanischen Militarismus sowie des Stalinismus formulierten Menschenwürdeansprüche zielen letztlich auf ein Leben unter weltbürgerrechtlichen Bedingungen, und zwar sowohl innerhalb eines Staates als auch in der Gesamtheit der Staaten. ›Menschenwürde‹ wurde seit 1945 zu einer »Ermächtigungsklausel gegen Unrechtserfahrungen«. 4 Weltbürgerrechtliche Lebensbedingungen setzen einen universellen rechtsstaatlichen Konstitutionalismus voraus, d. h. eine ›weltweite demokratische Rechtsordnung‹ 5 ohne Diskriminierung und Unterdrückung, Hunger und Not, Gewalt und Krieg. Zu Recht und mit gebotener Vorsicht hat Jürgen Habermas festgestellt: »Die Obsoleszenz des noch fortdauernden Naturzustandes zwischen bellizistischen Staaten, die ihre Souveränität bereits eingebüßt haben, hat immerhin begonnen. Der weltbürgerliche Zustand ist kein bloßes Phantom mehr, auch wenn wir noch weit von ihm entfernt sind. Staatsbürgerschaft und Weltbürgerschaft bilden ein Kontinuum, das sich immerhin schon in Umrissen abzeichnet.« 6 Rechtsstaatlicher Konstitutionalismus und Demokratie bilden in normativer verfassungsrechtlicher Hinsicht eine Einheit. Spricht man in diesem Kontext von ›Verfassung‹, so sind Christoph Möllers zufolge zwei Verfassungsbegriffe in Betracht zu ziehen: Der eine ist »charakterisiert durch Herrschaftsbegründung in dem doppelten Sinn der Hervorbringung und der Legitimierung von Herrschaft«; der zweite ist »herrschaftsformend«; bei ihm geht es »um die Verrechtlichung einer nicht von der Verfassung hervorgebrachten, sondern unabhängig von ihr existierenden Herrschaft«. Die Gleichsetzung dieser beiden Begriffe kritisiert Dieter Grimm zu Recht als »irreführend. Der herrschaftsbegründenden demokratischen Verfassung fehlt ja nicht das herrschaftsformende rechtsstaatliche Element. Sie vereint vielmehr beides, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Der rechtsstaatliche Verfassungsbegriff ist daher im Verhältnis zu dem demokratischen kein Aliud, sondern ein Minus. Wer beide gleichsetzt, hat damit bestimmte MerkWesche 2013. Vgl. Habermas 1999, S. 4: »Erst wenn die Menschenrechte in einer weltweiten demokratischen Rechtsordnung in ähnlicher Weise ihren ›Sitz‹ gefunden haben wie die Grundrechte in unseren nationalen Verfassungen, werden wir auch auf globaler Ebene davon ausgehen dürfen, daß sich die Adressaten dieser Rechte zugleich als deren Autoren verstehen können.« 6 Habermas 1994, S. 660. Zu einem globalen Konstitutionalismus im Widerspruch zur Staatensouveränität vgl. Rosas 2000. 4 5

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male des Verfassungsbegriffs, die bisher maßstabsbildend wirkten, geopfert. Der wahre Unterschied liegt folglich darin, dass es sich bei dem rechtsstaatlichen um einen weniger anspruchsvollen Verfassungsbegriff handelt.« 7 Hieraus folgt: Unrechtserfahrung ist in genau dem Sinne die Quelle der Menschenwürdegarantie, dass sich aus ihr die Forderung nicht nur nach einer rechtsstaatlichen Verfassung, sondern nach der Einheit von Rechtsstaat und Demokratie ergibt, nach einer demokratischen rechtsstaatlichen Verfassung, aus deren Normen die Achtung und der Schutz der Menschenwürde zwingend folgen. Bei der Entstehung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland standen der Holocaust und die Kriegsverbrechen als eine historisch neue Form des Bösen im Vordergrund. Hannah Arendt schrieb an Karl Jaspers am 4. März 1951: »Alle überlieferte Religion, jüdische oder christliche, sagt mir als solche gar nichts mehr. Ich glaube auch nicht, daß sie irgendwo oder irgendwie noch ein Fundament für etwas so unmittelbar Politisches wie Gesetze hergeben könnte. Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. Äußerlich gesprochen: Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: Die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, daß das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, daß das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat. Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht, aber mir scheint, es hat irgendwie mit den folgenden Phänomenen zu tun: Die Überflüssigmachung von Menschen als Menschen (nicht sie als Mittel zu benutzen, was ja ihr Menschsein unangetastet läßt und nur ihre Menschenwürde verletzt, sondern sie qua Menschen überflüssig zu machen). Dies geschieht sobald man alle unpredictability ausschaltet, der auf Seite des Menschen die Spontaneität entspricht. Dies alles wiederum entspringt oder besser hängt zusammen mit dem Wahn von einer Allmacht (nicht einfach Machtsucht) des Menschen.« 8 Die Positivierung des Gebotes, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, zur den Staat verpflichtenden Rechtsnorm war »im nationalen wie internationalen Recht zugleich auch eine Reaktion auf sehr D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II. Auswirkungen von Europäisierung und Glabalisierung, Berlin 2012, S. 209 f. 8 Hannah Arendt an Karl Jaspers, den 4. März 1951. In: Hannah Arendt, Karl Jaspers. Briefwechsel 1926–1969. Hg. v. L. Köhler/H. Saner, München/Zürich 22001, S. 202. 7

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konkrete geschichtliche Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: der Erfahrung von zwei Weltkriegen und der industriell betriebenen Vernichtung von Millionen von Menschen unter der faschistischen Diktatur in Deutschland. Die hervorgehobene Stellung des Menschenwürdebegriffs in zahlreichen internationalen Dokumenten und die ausdrückliche Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde, die das deutsche Grundgesetz dem Staat auferlegt, sind als Schlußfolgerung aus einer Geschichte zu verstehen, die sich nicht wiederholen soll. Die Konzentrationslager hatten auf eine unmißverständliche Weise klar gemacht, daß der Mensch sich heute nicht mehr primär gegen ein unerbittliches ›Schicksal‹ oder gegen eine übermächtige Natur behaupten muß, sondern gegen sich selbst.« 9 Der Verrechtlichung des Schutzes der Menschenwürde war das vorausgegangen, was Ernst Fraenkel in seiner 1938 verfassten Analyse des NS-Staates den ›Doppelstaat‹ genannt hatte, d. h. die Ersetzung des ›Normenstaates‹ durch den ›Maßnahmenstaat‹ : »Unter ›Maßnahmenstaat‹ verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter ›Normenstaat‹ verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen.« 10 Kennzeichen des Maßnahmenstaates waren »die Konterkarierung des Normenstaates durch offene Illegalität […], die (Selbst) Restriktion durch Zurücknahme (gerichtlicher) Kontroll- und Überprüfungsmöglichkeiten […], schließlich die Inkorporation der Gerichte in den Maßnahmenstaat«. 11 Im NS-Regime wich das »machtlose Recht […] der rechtlosen Macht, die faktische Maßnahme siegt[e] über die vorgängige rechtliche Entscheidung.« 12 Horst Dreier bilanziert: »Die Gerichte wirk[t]en hier als Organ und Instanz des Maßnahmenstaates. An die Stelle des (möglichen oder faktisch verunmöglichten) Rechtsschutzes [trat] die aktive Beförderung der Logik des NS-Systems.« 13 Für die Verrechtlichung des Schutzes der Menschenwürde und für Bayertz 1995, S. 471. Fraenkel 2012, S. 49. Zit. nach Dreier 2012, S. 281. 11 Dreier 2012, S. 282. 12 Ebd., S. 284. 13 Ebd., S. 294. 9

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die Positivierung der Menschenrechte bzw. für ihre Implementierung in einen wiederhergestellten Rechts- und Verfassungsstaat war diese Erfahrung entscheidend: Recht statt Entrechtung durch Willkür. Und entscheidend wurde nach 1945 die von nun an für das – zunehmend nicht mehr als bloßes Staatenrecht zu verstehende – Völkerrecht wegweisende Einführung neuer Straftatbestände. Das eigentlich Neue war die Einbeziehung staatlicher Verbrechen in ein nun internationalisiertes, die Souveränitätsgrenzen von Staaten sprengendes Strafrecht, verbunden mit der Idee der Prävention, der Verhütung zukünftiger Staatsverbrechen. Doch bei nicht wenigen Intellektuellen stieß diese Verrechtlichung angesichts des nationalsozialistischen Völkermordes auf Befremden und Vorbehalte, so z. B. bei Hannah Arendt: »Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und bricht alle Rechtsordnungen.« 14 Noch anlässlich des Eichmann-Prozesses teilte Jaspers ihre Auffassung: »Das Politische hat einen mit Rechtsbegriffen nicht einzufangenden Rang (der Versuch, dies zu tun, ist angelsächsisch und eine Selbsttäuschung zur Verschleierung einer Grundtatsache der Wirkungen politischen Daseins).« 15 Diese Urteile wurden von der Entwicklung des Völkerrechts und des Völkerstrafrechts seit den Nürnberger Prozessen, in denen es nicht in erster Linie um Vergeltung oder Rache, sondern um eine Beweisaufnahme im Interesse zukünftiger Generationen und um Gerechtigkeit ging 16, nicht bestätigt. Entsprechend der Moskauer ›Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa‹ vom 30. Oktober 1943 verhandelten anlässlich der Konferenz von San Francisco im Mai 1945 diplomatische Vertreter Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten über die Errichtung eines Internationalen Militärgerichtshofs zur Aburteilung der europäischen Kriegsverbrecher. Im Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 wurde das ›Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsver-

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Hannah Ahrendt, Karl Jaspers. Briefwechsel 1926–1969, S. 90. Ebd., S. 450. Zur Bedeutung der Prozesse vgl. Paech 1998, S. 166–172, hier: S. 166.

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brecher der europäischen Achse‹ unter Einschluss des ›Statuts für den internationalen Militärgerichtshof‹ unterzeichnet. Im Nürnberger Hauptprozess 17 – er dauerte vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946; es folgten weitere Verfahren gegen bestimmte Berufs- und Funktionsgruppen– wurde an 218 Tagen verhandelt. Das Sitzungsprotokoll umfasst 16.000 Seiten. Von der Anklage wurden 2.360 Beweisdokumente vorgelegt, von der Verteidigung 2.700. Das Gericht hörte 240 Zeugen und prüfte 300.000 eidesstattliche Erklärungen. 27 Hauptverteidiger traten auf, unterstützt von 54 Assistenten. Am 30. September 1946 wurde das Urteil verkündet, in dem die Angeklagten nach den vier Gesichtspunkten der Anklageschrift als schuldig oder nichtschuldig klassifiziert wurden. Zum Tode durch den Strang wurden zwölf Angeklagte verurteilt, zu lebenslänglicher Haft zwei und zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren vier Angeklagte; drei Angeklagte wurden freigesprochen. 18 Ein Beispiel kann hier genügen, um verständlich zu machen, was ›Unrechtserfahrung‹ meint: »Die zur Ausrottung angewendeten Methoden in Konzentrationslagern waren [u. a.]: schlechte Behandlung unter dem Vorwand pseudowissenschaftlicher Experimente (Unfruchtbarmachung von Frauen in Auschwitz und Ravensbrück, Studium der Entwicklung von Gebärmutterkrebs in Auschwitz, von Typhus in Buchenwald, anatomische Untersuchungen in Natzweiler, Herzinjektionen in Buchenwald, Verpflanzung von Knochen und Entfernung von Muskeln in Ravensbrück usw.).« 19 In Auschwitz wurde »in den Lagerakten eine statistische Übersicht des Lagerkommandanten gefunden […]. Diese Übersicht ist von dem stellvertretenden Lagerkommandanten, Sella, unterschrieben. Darin befindet sich eine Rubrik ›Für Experimente bestimmte Gefangene‹. In dieser Rubrik heißt es: ›Frauen unter Experiment: 15. Mai 1944 400, 15. Juni 1944 413, 19. Juni 1944 Vgl. Weinke 2010. In Tokio wurde vor dem ›Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten‹ vom 3. Mai 1946 bis 12. November 1948 wegen »Verschwörung gegen den Weltfrieden« (Klagegründe 1–36), »Mord« (Klagegründe 37 bis 52) und »Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (Klagegründe 53 bis 55) verhandelt. Es wurde 7 Mal die Todesstrafe und 16 Mal eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, u. a. gegen mehrere japanische Ministerpräsidenten. Vgl. Maga 2001. 19 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache, Nürnberg 1947 [im Folgenden: Nürnberger Prozess], Bd. 2, S. 60, Erster Tag. Dienstag, 20. November 1945. 17 18

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348 usw.‹«. 20 Es wurde »die Wirkung von verschiedenen chemischen Präparaten verschiedener deutscher Firmen studiert. Ein deutscher Arzt, Dr.med. Valentin Erwin, hat ausgesagt, daß es einen Fall gegeben hat, wo für solche Experimente die Vertreter der chemischen Industrie Deutschlands – Glauber, ein Frauenarzt von Königshütte, und Gevel, ein Chemiker, – bei der Lagerverwaltung 150 Frauen gekauft haben.« 21 Die Korrespondenz der Firma BAYER mit dem Kommandanten des KZ Auschwitz belegt dieses Verbrechen: »Bezüglich des Vorhabens von Experimenten mit einem neuen Schlafmittel würden wir es begrüßen, wenn Sie uns eine Anzahl von Frauen zur Verfügung stellen würden […] Wir erhielten Ihre Antwort; jedoch erscheint uns der Preis von RM 200,– pro Frau zu hoch. Wir schlagen vor, nicht mehr als RM 170,– pro Kopf zu zahlen. Wenn Ihnen das annehmbar erscheint, werden wir Besitz von den Frauen ergreifen. Wir brauchen ungefähr 150 Frauen. […] Wir bestätigen Ihr Einverständnis. Bereiten Sie für uns 150 Frauen im bestmöglichsten Gesundheitszustand vor, und sobald Sie uns mitteilen, daß sie soweit sind, werden wir diese übernehmen […] Erhielten den Auftrag für 150 Frauen. Trotz ihres abgezehrten Zustandes wurden sie als zufriedenstellend befunden. Wir werden sie bezüglich der Entwicklung der Experimente auf dem Laufenden halten […] Die Versuche wurden gemacht. Alle Personen starben. Wir werden uns bezüglich einer neuen Sendung bald mit Ihnen in Verbindung setzen.« 22 Ebd., Bd. 8, S. 345. Ebd., S. 345 f. 22 Dieses Dokument belegt neben vielen anderen die Menschenversuche, die im Auftrag der IG-Farben durchgeführt wurden. Das Dokument aus der Korrespondenz der Firma BAYER mit dem Kommandanten des KZ Auschwitz, das der Anklagebehörde bei den Nürnberger Prozessen vorlag, wurde von der Zentralkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen veröffentlicht: Jan Sehn, Konzentrationslager Oswiecim-Brzezinka – Auschwitz-Birkenau, Warszawa 1957, S. 89 f., Fn. 2; Nürnberger Dokumente NJ. 7184. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Prof. Dr. Werner Goldschmidt. Giorgio Agamben hat im Erschrecken über den ›Muselmann‹, den lebenden Toten im Konzentrationslager, die These vertreten, Auschwitz bedeute »das Ende und den Zusammenbruch jeder Ethik der Würde und der Angleichung an eine Norm« (Agamben 2003, S. 60): »Tatsächlich hat sich der Muselmann in eine Zone des Menschlichen begeben – denn ihm einfach das Menschsein abzusprechen, würde bedeuten, das Verdikt der SS zu akzeptieren, seinen Gestus zu wiederholen –, in der nicht nur Hilfe, sondern auch Würde und Selbstachtung nutzlos geworden sind. Wenn es aber eine Zone des Menschlichen gibt, in der diese Begriffe keinen Sinn haben, dann kann es sich bei ihnen um keine genuin ethischen Begriffe handeln. Denn keine Ethik darf sich anmaßen, einen Teil des Menschlichen auszuschließen«. (Ebd., S. 55) 20 21

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Im Hauptprozess ergingen die Urteile gemäß den z. T. neuen Tatbestandskategorien des ›Statuts‹ : »Die folgenden Handlungen, oder jede einzelne von ihnen, stellen Verbrechen dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist. Der Täter solcher Verbrechen ist persönlich verantwortlich: (a) Verbrechen gegen den Frieden […]; (b) Kriegsverbrechen […] (c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Nämlich: Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht. Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.« 23 Der Hilfsankläger für die Sowjetunion, N. L. Smirnow, erklärte: »[D]er Begriff ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ ist […] viel weitreichender als der Begriff aller übrigen Verbrechen der deutschen Faschisten, für die dem Gerichtshof die Beweise bereits vorgelegt wurden. […] Die erbarmungslose Maschine des faschistischen Staates wollte sie [die KZ-Häftlinge] zwingen, sich von allem loszusagen, was als Ergebnis tausendjähriger menschlicher Entwicklung zum unlösbaren Bestandteil der Menschlichkeit geworden war. So schwebte der Tod stets über ihnen, aber man zwang sie auf dem Wege zum Tode zu qualvollen Erniedrigungen, die gegen alle menschliche Würde verstießen, und die in ihrer Gesamtheit das bilden, was die Anklage ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ nennt.« 24 Wie insgesamt im Nürnberger Hauptprozess, war der Begriff der Menschenwürde auch zentral in den Ausführungen des französischen Hauptanklägers François de Menthon: »In der Abstufung der verschiedenen Verbrechen, die im Verlauf des Krieges durch die Führer des nationalsozialistischen Deutschlands begangen wurden, kommen wir schließlich zu der Gruppe, die wir als Verbrechen gegen die Menschen23 24

Nürnberger Prozess, Bd. 1, S. 11 ff. Hervorh. v. mir. Ebd., Bd. 8, S. 266 f.

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würde (Crime contre la condition humaine) bezeichnet haben. Zunächst ist es wichtig, daß ich dem Hohen Gerichtshof die Bedeutung dieses Ausdrucks klar auseinandersetze. Dieser klassische französische Ausdruck gehört sowohl zum technischen Wortschatz des Rechtes als auch zur Sprache der Philosophie. Er bedeutet die Gesamtheit der Fähigkeiten, deren Ausübung und Entwicklung den Sinn des menschlichen Lebens bilden.« 25 Er führte weiter aus: »Der Kampf der Nazis gegen die Menschenwürde vervollständigt das tragische und ungeheuerliche Gesamtbild der Kriegsverbrechen Nazi-Deutschlands und stellt dieses unter das Zeichen der Erniedrigung des Menschen, wie sie von der nationalsozialistischen Lehre bewußt gewollt war. Damit gibt sie ihm den wahren Charakter einer systematischen Rückkehr zur Barbarei.« 26 Der Berufung auf den Würdebegriff konnten sich auch die Angeklagten und deren Verteidiger nicht entziehen. Der Verteidiger des ›Reichsjugendführers‹ Baldur von Schirach glaubte geltend machen zu können: »Wenn es gelungen ist, die in die Millionen zählenden Mitglieder der Hitler-Jugend stets von allen solchen Exzessen herauszuhalten, so spricht auch diese Tatsache dafür, daß die Führung sich bemühte, der Jugend den Geist der Toleranz, der Nächstenliebe, die Achtung vor der Menschenwürde einzuflößen.« 27 Und Alfred Rosenberg, seit 1934 ›Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‹, und später Leiter des ›Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete‹, erklärte zu seiner Verteidigung: »Ich weiß mein Gewissen völlig frei von einer solchen Schuld, von einer Beihilfe zum Völkermord. Statt die Auflösung der Kultur und des nationalen Gefühls der Völker Osteuropas zu betreiben, bin ich eingetreten für die Forderung ihrer physischen und seelischen Daseinsbedingungen, statt ihre persönliche Sicherheit und menschliche Würde zu zerstören, bin ich nachgewiesenermaßen gegen jede Politik gewaltsamer Maßnahmen mit ganzer Kraft aufgetreten und habe mit Schärfe eine gerechte Haltung der deutschen Beamten und eine humane Behandlung der Ostarbeiter gefordert.« 28 25 26 27 28

Ebd., Bd. 5, S. 456 f. Ebd., Bd. 5, S. 463 f.; vgl. ebd., S. 444, 450 f. und 459. Ebd., Bd. 18, S. 501. Ebd., Bd. 22, S. 435.

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Den Völkermord an den Juden erwähnte Rosenberg trotz der Hasstiraden in seinem bis 1944 massenhaft verbreiteten Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit nicht. 29 Hier war die Rede von der »Vergötzung des hebräischen, uns stets feindlichen Parasitenvolkes« und davon, dass die »Verherrlichung des Judentums ganz unmittelbar, bei Freiwerden der jüdischen Triebhaftigkeit, uns jene Verlumpung unserer Kultur und unserer Politik beschert hat«. 30 Man werde sich »das Wort Lagardes über die Juden zu eigen machen müssen, daß man Trichinen nicht erziehen kann, sondern so schnell als möglich unschädlich zu machen hat«. 31 Rosenberg propagierte: »Ehen zwischen Deutschen und Juden sind zu verbieten, solange überhaupt noch Juden auf deutschem Boden leben dürfen. (Daß die Juden die Staatsbürgerrechte verlieren und unter ein ihnen gebührendes neues Recht gestellt werden, versteht sich von selbst.).« 32 Binnen fünfzig Jahren habe »der nordische Mensch Vorsorge zu treffen, daß es in seinen Staaten keine Neger mehr gibt, keine Gelben, keine Mulatten und keine Juden«. 33 »Seelische Würde der nordischen Völker« 34 war das Schlagwort dieses exterministischen Programms, ergänzt um Kritik an Humanität, Demokratie und Menschenrechten: »Hierher gehört das kirchlich-christliche Mitleid, das auch in der freimaurerischen ›Humanität‹ in neuer Form aufgetaucht ist und zu der größten Verheerung unseres gesamten Lebens geführt hat. Aus dem Zwangsglaubenssatz der schrankenlosen Liebe und der Gleichheit alles Menschlichen vor Gott einerseits, der Lehre vom demokratischen rasselosen und von keinem nationalverwurzelten Ehrgedanken getragenen ›Menschenrecht‹ andererseits, hat sich die europäische Gesellschaft geradezu als Hüterin des Minderwertigen, Kranken, Verkrüppelten, Verbrecherischen und Verfaulten ›entwickelt‹.« 35 »Dank der Humanitätspredigt und der Lehre von der Menschengleichheit konnte jeder Jude, Neger, Mulatte vollberechtigter Bürger eines europäischen Staates werden; dank der humanitären Sorge für den EinMünchen 33/341934. Bis 1944 wurden 1.075.000 Exemplare der ›Volksauflage‹ gedruckt; hinzu kamen 260.000 Exemplare der ›Dünndruck-Ausgabe‹. 30 Ebd., S. 12. 31 Ebd., S. 591. 32 Ebd., S. 579. So Rosenberg bereits 1934. Hervorh. v. mir. 33 Ebd., S. 668. 34 Ebd., S. 183. 35 Ebd., S. 169. 29

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zelnen wimmelt es in den europäischen Staaten von Luxusanstalten für unheilbare Kranke und Irrsinnige; dank der Humanität wird auch der rückfällige Verbrecher als unglücklicher Mensch ohne Bezug auf die Interessen des ganzen Volkes gewertet, bei der ersten Möglichkeit wieder auf die Gesellschaft losgelassen und in seiner Fortpflanzungsfähigkeit nicht behindert.« 36 Rosenberg wurde zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 durch Erhängen hingerichtet. Auch andere, wie z. B. Werner August Max Schäfer, Regierungsdirektor im Reichsstrafvollzug, von März 1933 bis März 1934 Kommandant des Konzentrationslagers Oranienburg, 1938 SA-Oberführer, haben geltend gemacht, man habe den Inhaftierten »niemals etwas vorenthalten, was irgendwie nicht etwas mit menschlicher Würde zu tun gehabt hätte«. Schäfer fügte hinzu: »Sie haben selbstverständlich das Leben so geführt, wie jeder Inhaftierte es in einem solchen Lager führen muß.« 37 Völkerrechtlich verankert wurden die sieben ›Nürnberger Prinzipien‹ 38, die zu einer Revolutionierung des Völkerrechts und des Völkerstrafrechts geführt haben, am 29. Juli 1950 durch die am 21. November 1947 eingerichtete ›International Law Commission‹ (ILC) der Vereinten Nationen 39: »Principle I. Any person who commits an act which constitutes a crime under international law is responsible therefor and liable to punishment. Principle II. The fact that internal law does not impose a penalty for an act which constitutes a crime under international law does not relieve the person who committed the act from responsibility under international law. Principle III. The fact that a person who committed an act which constitutes a crime under international law acted as Head of State or responsible Government official does not relieve him from responsibility under international law. Principle IV. The fact that a person acted pursuant to order of his GovernEbd., S. 202. Ebd., Bd. 21, S. 109. 38 ›Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nuremberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal‹. In der Tradition dieser Prinzipien stehen die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda sowie der 2002 eingerichtete ständige Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. 39 UN-Generalversammlung, Resolution 174 (II); weitere Resolutionen: 485 (V) vom 12. Dezember 1950, 984 (X) vom 3. Dezember 1955, 985 (X) vom 3. Dezember 1955 und 36/39 vom 18. November 1981. Zum Statut der ›International Law Commission‹ vgl. http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/statute/statute_e.pdf. 36 37

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ment or of a superior does not relieve him from responsibility under international law, provided a moral choice was in fact possible to him. Principle V. Any person charged with a crime under international law has the right to a fair trial on the facts and law. Principle VI. The crimes hereinafter set out are punishable as crimes under international law: (a) Crimes against peace: Planning, preparation, initiation or waging of a war of aggression or a war in violation of international treaties, agreements or assurances; Participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment of any of the acts mentioned under (i). (b) War crimes: Violations of the laws or customs of war which include, but are not limited to, murder, ill-treatment or deportation to slave-labour of for any other purpose of civilian population of or in occupied territory; murder or ill-treatment of prisoners of war, of persons on the Seas, killing of hostages, plunder of public or private property, wanton destruction of cities, towns, or villages, or devastation not justified by military necessity. (c) Crimes against humanity: Murder, extermination, enslavement, deportation and other inhuman acts done against any civilian population, or persecutions on political, racial or religious grounds, when such acts are done or such persecutions are carried on in execution of or in connection with any crime against peace or any war crime. Principle VII. Complicity in the commission of a crime against peace, a war crime, or a crime against humanity as set forth in Principle VI is a crime under international law.« Während in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit der Nürnberger Hauptprozess vielfach als ›Siegerjustiz‹ kritisiert wurde, hat Gustav Radbruch das Urteil als wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Weltrechts gewürdigt: »Im Nürnberger Urteil hat sich in dem vorbildlichen objektiven Geist der angelsächsischen Justiz das furchtbare Bild des zusammengebrochenen Unrechtsstaates jedem, der nicht absichtlich die Augen schließt, unentziehbar dargeboten. Sein Wert für die Zukunft des Völkerrechts ist in drei neuen Gedanken enthalten. 1. Es hat der Erkenntnis zum Durchbruch verholfen, daß das Völkerrecht sich verpflichtend nicht nur an die Staaten wende, sondern auch an die einzelnen Staatsmänner und Staatsbürger und hat damit die Entwicklung des Völkerrechts aus einem internationalen Recht zu einem Weltrecht entscheidend gefördert. 2. Es hat den alten Typen völkerrechtlichen Unrechts, den Kriegsverbrechen, zwei neue Typen an die Seite gestellt: das Verbrechen der Herbeiführung eines Angriffskrieges und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In dem völkerrechtlichen Interven156 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

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tionsrecht und der internationalen Gerichtsbarkeit über Humanitätsverbrechen ist ein weiterer Schritt vom Völkerrecht zum Weltrecht zu erblicken, die Erkenntnis, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch wenn sie gegen eigene Volksgenossen begangen werden, die ganze Menschheit angehen. 3. Schließlich hat der Nürnberger Prozeß zum Schutz gegen solches völkerrechtliches Unrecht von Staatsmännern und anderen Personen auch ein Völkerstrafrecht geschaffen. Es ist vielfach beanstandet worden, daß entgegen dem Satze nulla poena sine lege das neue Völkerstrafrecht mit rückwirkender Kraft in Geltung getreten sei, daß dies im Widerspruch stehe zu der Wiederherstellung des Satzes nulla poena sine lege, welche der Kontrollrat dem deutschen Strafrecht auferlegt hat. Dieser Einwand verkennt, daß das Verbot neuen rückwirkenden Strafrechts nur im Rahmen einer Strafrechtskodifikation gelten kann, nicht aber dort, wo das Strafrecht als Richterrecht in der Bildung begriffen ist. […] Freilich ist das Werk von Nürnberg nur ein Anfang: seine völkerrechtlichen Neuerungen werden sich dann erst als solche bekräftigen, wenn sie künftig nicht von einem Militärgerichtshof der Siegermächte gegen Staatsmänner und Staatsbürger eines besiegten Staates Anwendung finden werden, sondern durch ein internationales Gericht gegen unbesiegte und mächtige Rechtsbrecher.« 40 Nach den Unrechtserfahrungen im 20. Jahrhundert wurde die Frage der Legitimität von Recht und Staat zentral. Sie führte zu einer Prüfung und Qualifizierung des positiven Rechts, und zwar mit einer Orientierung an menschenrechtlich universalisierten Normen. Niemand, auch nicht der radikalste Gesetzespositivist, konnte sich nach 1945 noch ohne diese Überprüfung zu der legalistischen Aussage ›Gesetz ist Gesetz‹ berechtigt glauben, d. h. zur Behauptung, jegliches Recht sei – weil ›gesetztes Recht‹ – als ›richtiges Recht‹ anzuerkennen. Die Nürnberger ›Rassen‹-Gesetzgebung und andere Gesetze des Nationalsozialismus forderten Gustav Radbruch, den bedeutenden Rechtsphilosophen und sozialdemokratischen Rechtspolitiker der Weimarer Republik, 1946 heraus, mit der nach ihm benannten ›Formel‹ die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. In ›Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‹ schrieb er: »Keineswegs ist Recht alles das, ›was dem Volke nützt‹, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt. 40

Radbruch 1959 (1947), S. 111 f.

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[…] Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.« 41 Radbruchs Antwort auf die Frage nach der Legitimität des Rechts hat Schule gemacht. Dies zeigen nach der Einführung des Straftatbestandes ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ im Nürnberger Prozess das ihm folgende Völkerstrafrecht und Art. 7 (2) der ›Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten‹ (EMRK) vom 4. November 1950. Gem. EMRK Art. 7 (2) wurde die ›nullum crimen, nulla poena sine lege‹-Norm so eingeschränkt, »dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war« (›Nürnberg-Klausel‹). Die Bundesrepublik Deutschland hat die EMRK am 5. Dezember 1952 ratifiziert, zur Nürnberg-Klausel jedoch folgenden Vorbehalt erklärt: »Gemäß Artikel 64 der Konvention macht die Bundesrepublik Deutschland den Vorbehalt, dass sie die Bestimmung des Artikels 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird. Die letztgenannte Vorschrift lautet wie folgt: ›Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.‹ (BGBl. II, 1954, 14).« 42 Auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 2 GG aber war Art. 7 (2) EMRK gar nicht anwendbar. Radbruch 1946, S. 215 f.; Hervorh. v. mir. In seiner 1947 posthum veröffentlichten Vorlesungsnachschrift Vorschule der Rechtsphilosophie heißt es vergleichbar: »Wo […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur Machtsprüche sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben«. (Göttingen 21959, S. 34; vgl. auch ebd., S. 33). 42 De facto wurde der Vorbehalt – nicht aber das dem Vorbehalt zugrundeliegende Prinzip – am 14. Juli 2000 aufgehoben, als die Bundesregierung erklärte: »Dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Artikel 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte keinen Vorbehalt eingelegt hat, führt aber nicht zu einer Abweichung von der Rechtslage nach Artikel 7 Abs. 2 EMRK, gegen den die Bundesrepublik Deutschland einen Vorbehalt erklärt hat. Denn beide Bestimmungen erlau41

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Der Vorbehalt ist zu verstehen als Ausdruck der problematischen ›Vergangenheitspolitik‹ in der jungen Bundesrepublik Deutschland 43, zu deren ersten Gesetzesinitiativen das ›Straffreiheitsgesetz‹ vom 31. Dezember 1949 44 gehörte, das durch ein zweites Straffreiheitsgesetz vom 17. Juli 1954 ergänzt wurde, um Nazi-Täter vor Strafverfolgung zu schützen. »Tatsächlich gab es in der frühen Bundesrepublik die Tendenz, nationalsozialistische Untaten juristisch zu bagatellisieren oder nicht zu ahnden. Die Statistik jedenfalls spricht eine klare Sprache. Nachdem sechs Millionen Juden und 500.000 Roma und Sinti ermordet wurden, 200.000 psychisch behinderte Menschen dem Anstaltsmord zum Opfer fielen, drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene zu Tode gebracht wurden, 32.000 Oppositionelle von den Militärgerichten und der politischen Strafjustiz aufs Schafott geschickt wurden, wurden 6.201 Personen als sogenannte Gehilfen zu einer Zeitstrafe verurteilt. Lediglich 167 Personen wurden als überzeugte nationalsozialistische Täter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Missverhältnis von Staatsverbrechen und ihrer Ahndung ist evident – und es stand im dramatischen Gegensatz zum 1949 verabschiedeten Grundgesetz.« Die Ahndung der NS-Verbrechen stieß auf erbitterten Widerstand. »So entschied die Regierung Adenauer 1952, die Bestimmung der Europäischen Menscherechtskonvention, die die Ahndung der NS-Verbrechen völkerrechtlich erst ermöglichte, außer Kraft zu setzen. […] Mit einem Wort: Die Strategie der Bundesregierung lief darauf hinaus, den NS-Staat in einen Rechtsstaat umzudeuten – mit weitreichenden Folgen für die Rechtsprechung. So erklärte das (auch von der Mehrheit der SPD-Fraktion mitgetragene) Straffreiheitsgesetz von 1954 Delikte befehlsausführender Gewalttäter in der Zeit vom 1. Oktober 1944 bis ben in den genannten Fällen eine rückwirkende Bestrafung, schreiben sie aber nicht vor. Diese Normen eröffnen den Vertragsstaaten also die bloße Möglichkeit der Durchbrechung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots. Voraussetzung einer solchen Durchbrechung ist allerdings, dass von dieser Möglichkeit im innerstaatlichen Recht auch Gebrauch gemacht wird. Der Bundesrepublik Deutschland steht es demnach auch ohne Vorbehalt frei, eine rückwirkende Bestrafung in diesen Fällen nicht vorzusehen.« (Deutscher Bundestag, Drucksache 14/3892: ›Innerstaatliche Umsetzung von Menschenrechtsstandards‹). 43 Vgl. zum Umgang mit der NS-Vergangenheit: Deutscher Bundestag, Drucksache 17/ 8134, 14. 12. 2011. 44 Vgl. N. Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996, S. 29–53.

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zum 31. Juli 1945 zwar nicht für rechtmäßig, hob aber die Strafsanktion insbesondere für Tötungsdelikte auf – sofern eine Strafe bis zu drei Jahren Gefängnis zu erwarten war. Die juristische Konstruktion für das Straffreiheitsgesetz stammte im Wesentlichen von Werner Best, unter Hitler SS-Obergruppenführer und Justiziar des Reichssicherheitshauptamts.« 45 »SS-Brigadeführer Dr. Werner Best, Ministerialdirektor, z. Zt. Kriegsverwaltungschef« war Stellvertreter von Reinhard Heydrich in der Führung des ›Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS‹ ; sein Rang entsprach dem eines Generalmajors der Wehrmacht. Er hatte in seinem Beitrag ›Grundfragen einer deutschen Großraum-Verwaltung‹ in Festgabe für Heinrich Himmler, den ›Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei‹, geschrieben: »Die Volks-Odnung wird durch den Willen der Einzelmenschen gestaltet. In der Völker-Ordnung zwingen die stärkeren Völker den Schwächeren ihren Willen auf.« 46 In seiner »völkisch-organischen Weltschau« 47, mit seiner gegen die »mechanistische Auffassung vom Inhalt des ›Rechtes‹ als eines Systems subjektiver Ansprüche und Verpflichtungen« und gegen die »individualistisch-liberale Epoche unserer ›Staats‹-Geschichte« 48 gerichteten Konzeption des »völkische[n] Rechtsbegriff[s]« und mit der Ersetzung des Völkerrechts durch »Großraum-Ordnungen« 49 begründete Best sein politisches Programm: »Die Verwirklichung des politischen Willens, den das deutsche Volk ständig durch das Organ seiner ›politischen Bewegung‹ – d. h. durch die NSDAP als das politische Organ der deutschen Volks-Ordnung – bildet und äußert, wird durch das ›Ordens-Prinzip‹ der NSDAP gewährleistet, nach dem alle Träger entscheidenden Waltens über völkische Funktionen zugleich als Repräsentanten der Joachim Perels, Ignorieren, relativieren, verharmlosen. Wie die Justiz in der frühen Bundesrepublik mit NS-Gewalttätern umging. Erinnerung an einen Skandal. In: DIE ZEIT, 24. Januar 2013, No 5, S. 38. 46 W. Best, Grundfragen einer deutschen Großraum-Verwaltung. In: Festgabe für Heinrich Himmler, Darmstadt 1941, S. 35. 47 Ebd., S. 34. 48 Ebd., S. 36. 49 Ebd., S. 35. Die »individualistisch-rechtsstaatliche Auffassung, die in jeder öffentlichen Tätigkeit nur die Anwendung des von den Staatsbürgern oder ihrer Beauftragten gesetzten Rechts sah«, sei durch die »völkische Auffassung überwunden«; bei der Vorbereitung für den leitenden öffentlichen Dienst sei die »Rechtskunde« durch »Staatskunde« zu ersetzen, »die Geschichte, Rasselehre, Weltanschauung, Wirtschaftsleben und andere Sachgebiete zusammenfaßt«. (Ebd., S. 59). 45

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NSDAP Mitwirkende an dieser politischen Willensbildung sein sollen.« 50 Best, der u. a. seit 1943 Reichsbevollmächtigter im besetzen Dänemark war, wurde am 20. September 1948 in Kopenhagen erstinstanzlich zum Tode, im Berufungsverfahren zu fünf Jahren Haft und nach Protesten aus der dänischen Bevölkerung vom obersten dänischen Gericht zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Auf Druck aus der Bundesrepublik wurde er bereits im August 1951 aus der Haft entlassen und aus Dänemark abgeschoben. Zu Beginn der 1950er Jahre war Best Rechtsberater der nordrhein-westfälischen FDP, die ein Sammelbecken für ehemalige NS-Führungskräfte um den FDP-Politiker und Rechtsanwalt Ernst Achenbach war. Best widmete sich mit Achenbach, in dessen Kanzlei er angestellt war, der Straffreiheit 51 für NS-Verbrecher und ihrer Rehabilitierung. Erst im März 1969 wurde er als Täter, der für die Aufstellung von Einsatzgruppen im Aggressionskrieg gegen Polen und zahlreiche Morde verantwortlich gemacht wurde, verhaftet. Im Februar 1972 erhob die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen Best wegen der »gemeinschaftlich mit Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und Müller« begangenen Ermordung von mindestens 8.723 Menschen in Polen. Das Hauptverfahren wurde jedoch mit Verweis auf Bests psychische Gesundheit nicht eröffnet. Als die Staatsanwaltschaft im Juli Juli 1989 erneut einen Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens stellte, lebte Best nicht mehr. Der Fall Best ist eines von vielen Beispielen dafür, dass NS-Unrecht in der Bundesrepublik lange Zeit nicht oder nur selektiv geahndet wurde. Der neue Staat integrierte vielmehr zahlreiche Personen mit NS-Karrieren in seinen Dienst. 52 Die Rechtsgrundlage war mit Art. 131 GG gegeben. Der Deutsche Bundestag beschloss am 11. Mai Ebd., S. 37. So als Autor der für das zweite Straffreiheitsgesetz maßgeblichen Denkschrift ›Gesichtspunkte zur Liquidation der politischen Strafsachen einer abgeschlossenen Epoche‹ ; vgl. N. Frei, Vergangenheitspolitik: Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 21997, S. 106. 52 Zwei Beispiele: Hans Globke, der führend beteiligt war an der NS-›Rassen‹-Gesetzgebung und 1936 mit dem SS-Obergruppenführer Wilhelm Stuckart einen Kommentar zu den ›Nürnberger Gesetzen‹ verfasst hatte, wurde 1953 Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Willi Geiger war seit 1938 SA-Rottenführer; als Staatsanwalt am Sondergericht Bamberg erwirkte er mindestens fünf Todesurteile; nach dem Krieg wurde er Oberlandesgerichtsrat am Oberlandesgericht Bamberg und 1949 Leiter des Verfassungsreferates im Bundesministerium der Justiz; 1950 wurde er an den Bundesgerichts50 51

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1951 das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen, dem zufolge alle früheren Beamten, die bei Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, wieder eingestellt werden durften. Für mangelndes Unrechtsbewusstsein und die restaurative politische Mentalität in dieser Zeit sprechen Konrad Adenauers wiederholte Ehrenerklärungen für die Waffen-SS. In einem offiziellen, mit Briefkopf des Bundeskanzlers versehenen Brief schrieb er am 17. Dezember 1952 an den SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst der WaffenSS Paul Hausser: »Sehr geehrter Herr Generaloberst! Einer Anregung nachkommend, teile ich mit, daß die von mir in meiner Rede vom 3. Dezember 1952 vor dem Deutschen Bundestag abgegebene Ehrenerklärurg für die Soldaten der früheren Deutschen Wehrmacht auch die Angehörigen der Waffen-SS umfaßt, soweit sie ausschließlich als Soldaten ehrenvoll für Deutschland gekämpft haben. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung bin ich Ihr Adenauer«. 53 Im Oktober 1955 wiederholte Adenauer in einem Brief an den FDP-Abgeordneten und früheren General der Panzertruppe der Wehrmacht Hasso von Manteuffel: »Ich weiß schon längst, daß die Soldaten der Waffen-SS anständige Leute waren. Aber solange wir nicht die Souveränität besitzen, geben die Sieger in dieser Frage allein den Ausschlag, so daß wir keine Handhabe besitzen, eine Rehabilitierung zu verlangen. […] Machen Sie einmal den Leuten deutlich, daß die Waffen-SS keine Juden erschossen hat, sondern als hervorragende Soldaten von den Sowjets gefürchtet war.« 54 Für den Widerstand gegen das NS-Regime gab es in den drei Westzonen bzw. in der Bundesrepublik Deutschland derartige Ehrenerklärungen lange Zeit nicht. Es war umstritten, ob sich am 20. Juli 1944 Widerstandskämpfer oder Hochverräter gegen das NS-Regime erhoben hatten. Erst als 1952 auf Betreiben des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer der ehemalige Generalmajor Otto Ernst Remer, der 1950 zu den Gründern der rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei gehört und bei einer Parteiveranstaltung im Mai 1951 die Attentäter des hof berufen, wo er ab 1951 Präsident eines Senates war; zugleich war er 1951 bis 1977 Richter am Bundesverfassungsgericht. 53 Zit. nach: http://www.terra-kurier.de/Adenauer1.htm. 54 Zit. nach: http://www.gelsenzentrum.de/deutsche_nazi_karrieren.htm.

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20. Juli als vom Ausland gedungene Landesverräter bezeichnet hatte, von der Dritten Großen Strafkammer des Braunschweiger Landgerichts wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt wurde, änderten sich nach und nach die öffentliche Meinung und die Rechtsprechung. Bauer verstand das Widerstandsrecht als Recht auf Notwehr und erklärte: »Ein Unrechtsstaat, der täglich zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr. […] Ich stelle deswegen den Satz auf: ein Unrechtsstaat – im Gegensatz zum heutigen Rechtsstaat – […] wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.« 55 Auf Initiative Bauers, der gegen eine in der Bevölkerung immer noch verbreitete Stimmung am Landgericht Frankfurt/Main im Dezember 1963 die Eröffnung des ersten Auschwitz-Prozesses durchgesetzt hatte 56, wurde dort eine Tafel mit dem Satz angebracht: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹. Was Gustav Radbruch 1946 in ›Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‹ zum NS-Unrecht geschrieben hatte, gehörte lange Zeit nicht zum common sense. Doch hat das BVerfGE bereits in einem Leitsatz zum Urteil des Ersten Senats vom 18. Dezember 1953 erklärt: »Die Norm einer Verfassung kann dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße mißachtet.« Es hat sich dabei explizit auf die Radbruch’sche Formel bezogen. 57 Auch in seinem Urteil vom 14. Februar 1968 zur Ausbürgerung jüdischer Menschen durch das NS-Regime hat das BVerfGE in seinen Leitsätzen an die ›Radbruch-Formel‹ angeknüpft: »1. Nationalsozialistischen ›Rechts‹vorschriften kann die Geltung als Recht abgeBauer 1998, S. 26. Vgl. zu Bauers Plädoyers für ein Widerstandsrecht gegen den Unrechtsstaat auch ders. 1962 und 1965. 56 Im umfangreichen Urteil – LG Frankfurt/Main vom 19./20. 8. 1965, 4 Ks 2/63 (http:// www.holocaust-history.org/german-trials/auschwitz-urteil.shtml) –, das eine detaillierte Geschichte des KZ-Systems enthält, wurde immer wieder auf ›Menschenwürde‹ Bezug genommen. 57 Vgl. BVerfGE 3, 225 (21): »Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann, daß also, soll die praktische Rechtsübung solchen geschichtlich denkbaren Entwicklungen nicht ungewappnet gegenüberstehen, in äußersten Fällen die Möglichkeit gegeben sein muß, den Grundsatz der materialen Gerechtigkeit höher zu werten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes für die Regel der Fälle zum Ausdruck kommt. Auch ein ursprünglicher Verfassungsgeber ist der Gefahr, jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten, nicht denknotwendig entrückt.« 55

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sprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. 2. In der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. I S. 772) hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß. 3. Einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechtes verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird.« 58 Und: »Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein ›Verfassunggeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann.« 59 Dieser Linie ist das BVerfGE auch nach 1989 gegenüber Repräsentanten der ehemaligen DDR gefolgt: »Der Beschwerdeführer, letzter Generalsekretär des Zentralkomitees der SED sowie Vorsitzender des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrats der DDR, wurde vom Landgericht wegen Totschlags und wegen tateinheitlich begangenen dreifachen Totschlags zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen verursachte der Beschwerdeführer durch seine Mitwirkung an Beschlüssen des Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrats zum Grenzregime der DDR zwischen 1984 und 1989 den Tod von vier Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze. […].« 60 Das BVerfGE hat entschieden: »Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht verletzt. Das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Interpretation von Strafgesetzen ist durch Art. 103 Abs. 2 GG nicht geschützt, wenn die zugrunde liegende Staatspraxis durch Aufforderung zu schwerstem kriminellen Unrecht und seiner Begünstigung die in der Völker-

BVerfGE 23, 98, Leitsätz 1–3. Ebd., (30). 60 BVerfG, 2 BvQ 60/99 vom 12. 1. 2000 (1). Es ist bemerkenswert, dass die Abt. Agitation/Propaganda der Bezirksleitung Berlin der SED noch 1989 eine Veröffentlichung unter dem Titel Unser sozialistisches Vaterland – Heimstatt für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde herausgab. 58 59

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gemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet hat; denn hierdurch setzt der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht«. 61

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Ebd. (8).

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Die Nürnberger Prinzipien haben das zuvor geltende Völkergewohnheitsrecht 1 ›weltrechtlich‹ revolutioniert – vor allem das nulla-poenasine-lege (scripta)-Prinzip, das die Berufung auf ›Gesetze‹ mit dem Status ›unrichtigen Rechts‹ ermöglicht hatte, das Prinzip zurechenbarer individueller Verantwortung auch bei vorgeblichem ›Befehlsnotstand‹ und in Ansätzen auch das Prinzip der Staatenimmunität. 2 In den folgenden Jahrzehnten wurde der Rechts- und Verfassungsdiskurs zunehmend »globalisiert und das internationale Recht der Staatenverträge in ein autonomes System postnationalen Weltrechts verwandelt. Das mehr oder minder lose vernetzte System inter-, trans- und supranationaler Institutionen ist weit entfernt, einen Weltstaat zu konstituieren, aber es hat in diesen Institutionen eindeutig ›Elemente von Staatlichkeit (stateness)‹, die ›nicht mehr nur in der Gestalt des Nationalstaats auftreten‹.« 3 In diesem Prozess wurde auch die Rechtskonzeption nationalstaatlicher Souveränität verändert: »Der internationale Menschenrechtsschutz, in der UN-Charta schon als allgemeines Ziel formuliert (Art. 1 Ziff. 3), in der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ (1948) dann als eine Art Legislativprogramm näher entfaltet und danach in einer Vielzahl universeller und regionaler Menschenrechtsverträge normativ umgesetzt, hat zur Revolutionierung der Souveränitätsidee […] entscheidend beigetragen. Die mit diesen Verträgen ebenso wie mit dem gewohnheitsrechtlichen Mindestschutzstandard bewirkte Veränderung besteht v. a. darin, dass ein Staat auf völkerrechtlicher Ebene verpflichtet ist, die jeweiligen Menschenrechtsnormen allen Menschen, also auch seinen eigenen Staatsangehörigen ge1 2 3

Vgl. hierzu Paech/Stuby 2013, S. 457–468. Vgl. hierzu ebd., S. 402–406. Brunkhorst 2008, S. 14.

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genüber zu beachten und je nach Vertrag internationale (Gerichts-)Instanzen mit der Überprüfung seines Verhaltens, sei es durch Anrufung der anderen Vertragsparteien, sei es der betroffenen Individuen selbst, zu betrauen. Völkerrechtliche Verpflichtungen schränken den interventionsfreien Raum der ›eigenen Angelegenheiten‹ (domaine réservé) ein. Der gegen die Forderung nach Respektierung der Menschrechtsverpflichtungen häufig erhobene Einwand der verbotenen Einmischung ist nicht mehr tragfähig.« 4 Die Völkerrechtsrevolution zielte nach 1945 auf »die positivrechtliche Einbeziehung aller Menschen in eine Rechtsgenossenschaft gleicher und freier Bürger«: »Alle Bewohner der Erde gehören heute zum Inklusionsbereich gleicher Rechte und gleichen Rechts.« 5 Das Völkerrecht und die Menschenrechte sind in diesem Prozess in normativer Hinsicht zu zwei Seiten einer Medaille geworden. Einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des Internationalen Rechts stellt das ›Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge‹ 6 (1969, 1980 in Kraft getreten) dar. Es führt in Art. 53 die Unterscheidung zwischen zwingendem (ius cogens) und abwandlungsfähigem (ius dispositivum) Völkerrecht ein. Die zum ius cogens zählenden Normen genießen einen besonderen Bestandsschutz. Sie sind unabhängig vom Beitritt eines Staates zu einem Vertrag aufgrund allgemeinen Völkerrechts für alle Staaten bindend. Dieses höherrangige internationale Recht bricht nationales Recht, wenn dieses Rechtsprinzipien widerspricht, die zur Werteordnung der Gesamtheit der Staaten gehören. Gemäß dem Wiener Übereinkommen ist jeder Vertrag, der eine ius-cogens-Norm verletzt, ex tunc (von Anbeginn) null und nichtig. Art. 53 bestimmt zu ›Verträgen im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens)‹ : »Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen StaatengemeinKlein 2010, S. 2915. Brunkhorst 2008, S. 15 f. 6 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927). Vgl. auch das erweiterte ›Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen‹ von 1986 (BGBl. 1990 Teil II Seite 1415). 4 5

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schaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.« Darüber hinaus gilt gem. Art. 64: »Entsteht eine neue zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts, so wird jeder zu dieser Norm im Widerspruch stehende Vertrag nichtig und erlischt.« Die Staaten sind nach Art. 41 Abs. 1 verpflichtet, der schwerwiegenden Verletzung einer Verpflichtung aus einer zwingenden Rechtsnorm kollektiv »mit rechtmäßigen Mitteln ein Ende zu setzen«; nach Art. 41 Abs. 2 darf kein Staat einen Zustand, der durch eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des Art. 40 herbeigeführt wurde, als rechtmäßig anerkennen. Dies entspricht Jürgen Habermas’ Forderung, die internationale Rechtsgemeinschaft müsse »ihre Mitglieder unter Androhung von Sanktionen zu rechtmäßigem Verhalten mindestens anhalten können«. 7 Das Weltrecht müsse so institutionalisiert werden, dass es »über die Köpfe der kollektiven Völkerrechtssubjekte hinweg auf die Stellung der individuellen Rechtssubjekte durchgreift«.8 Bestätigt sich damit nicht Kants These, »die Idee eines Weltbürgerrechts [sei] keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt«? 9 Kant sprach vom »Weltbürgerrecht«, »so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließendem Verhältniß stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum)«. 10 Heute bedeutet ›Kosmopolitismus‹ Seyla Benhabib zufolge: »anzuerkennen, dass Menschen voneinander abhängig sind; dass Ländergrenzen im 21. Jahrhundert zunehmend durchlässig sind; dass Gerechtigkeit innerhalb der Grenzen und Gerechtigkeit jenseits der Grenzen miteinander verbunden sind, selbst wenn es zwischen ihnen zu Spannungen kommen kann und kommt; und dass Menschen moralische Personen sind, die ein Recht auf den Schutz durch das Gesetz haben, und zwar aufgrund der Rechte, die ihnen nicht als Staatsbürger oder als Habermas 1999a, S. 208. Ebd., S. 210. 9 Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 360. 10 Ebd., S. 349, Anm. 7 8

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Mitglieder einer ethnischen Gruppe zukommen, sondern die sie einfach als Menschen beanspruchen können«. 11 Dieser Kosmopolitismus stößt allerdings an Grenzen. Die erste Grenze besteht in einer Staatlichkeit, die noch immer weitgehend die Form der Nationalstaatlichkeit hat. Die zweite Grenze ergibt sich aus dem Mangel an Demokratie in vielen Nationalstaaten: »Kosmopolitismus bedeutet, die Würde der Menschen als Träger von Rechten in einer globalen Zivilgesellschaft zu achten, aber diese Rechte können nur innerhalb der Grenzen der Verfassungen von Demokratien eine rechtlich einklagbare Gestalt annehmen.« 12 Die Idee des Kosmopolitismus scheint sich für Benhabib als Idee einer weltbürgerrechtlichen Gesellschaft »nur schwer mit der Demokratie vereinbaren zu lassen. Demokratie bedeutet, sich als demos zu konstituieren, als eine politische Gemeinschaft mit klaren Regeln, durch die die Beziehungen zwischen dem Innen und dem Außen bestimmt werden. In einer Demokratie gewinnt die Verfassung ihre Legitimität aus dem vereinten und kollektiven Willen des Volkes. […] Ein demokratisches Volk akzeptiert die Herrschaft des Gesetzes, weil es sich zugleich als Urheber und Adressat des Gesetzes sieht. Der Bürger einer Demokratie ist kein Weltbürger, sondern Bürger dieser klar abgegrenzten politischen Gemeinwesen – unabhängig davon, ob es sich um einen Einheits- oder um einen föderalistischen Staat handelt, um die ›Europäische Union‹ oder einen ›Staatenbund‹. Wie ist das mit der kosmopolitischen Vision einer Gerechtigkeit, die nicht an der Staatsgrenze endet, zu vereinbaren? […] Sollte die Frage also nicht ›Kosmopolitismus und Demokratie‹ lauten, sondern ›Kosmopolitismus oder Demokratie‹ ?« 13 Benhabib verneint diese Frage. Auch wenn es »vielleicht zu utopisch« sei, die Entwicklungen im Recht »als erste Schritte hin zu einer ›Weltverfassung‹ zu bezeichnen«, und obwohl »Staaten die mächtigsten Akteure bleiben«, sei es doch offensichtlich, dass »die Reichweite ihrer legitimen und rechtmäßigen Entscheidungen zunehmend eingeschränkt [wird]. Wir müssen das Völkerrecht vor dem Hintergrund dieser im Entstehen begriffenen und noch zerbrechlichen globalen Zivilgesellschaft, die stets von Krieg, Gewalt und militärischer Intervention bedroht wird, neu überdenken. Diese Transformationen des Rechts 11 12 13

Benhabib 2009, S. 25 Ebd., S. 35. Ebd., S. 25.

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haben Auswirkungen darauf, wie wir das Verhältnis von Kosmopolitismus und Demokratie in unserer Zeit begreifen. Unsere Frage bezieht sich nicht länger auf Kosmopolitismus und Demokratie und ebenso wenig auf Kosmopolitismus oder Demokratie, sondern vielmehr auf die Demokratie im Zeitalter des rechtlichen Kosmopolitismus.« 14 Entscheidend ist, dass das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip auf der internationalen Ebene dem gleichen materialen Prinzip entsprechen muss, das für den Nationalstaat gefordert ist: Das Recht muss nicht nur die Rechtssubjekte vor Willkür schützen und Rechtssicherheit garantieren, sondern es muss als ›richtiges Recht‹ den Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte in Gerechtigkeit verwirklichen. Noch aber sind die ius-cogens-Normen des Völkerrechts und die Menschenrechtsnormen mit der Frage der Reichweite nationalstaatlicher Souveränität konfrontiert. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen den Polen des Gewaltverbots gem. Art. 2 Abs. 4 und des Nichteinmischungsgebots gem. Art. 2 Abs. 7 der UN-Charta einerseits und der Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zum Schutz der Menschenrechte gemäß der Präambel, Art. 1 Abs. 3 und Art. 55 der Charta andererseits. Angesichts dieser Problematik zeichnet sich in den Vereinten Nationen seit den 1990er Jahren und letztlich seit der Sondervollversammlung der UN im September 2005 eine neue Strategie ab: die Anerkennung einer ›responsibility to protect‹ (›RtoP‹ bzw. ›R2P‹, Schutzverantwortung). Der damalige Generalsekretär der UN, Kofi Annan, hatte dieses Prinzip bereits anlässlich der UN-Vollversammlung 1999 und im Jahre 2000 in seinem ›Millennium Report: Wir, die Völker: Die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert‹ 15 im Zusammenhang mit dem Kosovo-Konflikt und dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien 16 eingefordert. Er erklärte zu humanitären Interventionen: »Ich akzeptiere auch, dass die Grundsätze der Souveränität und der Nichteinmischung kleinen und schwachen Staaten einen unverBenhabib 2009, S. 32. UN-Dokument A/54/2000. 16 Zur Frage, ob Menschenrechtsverletzungen militärische Interventionen rechtfertigen können, vgl. die in The Responsibility to Protect: Research, Bibliography, Background. Supplementary Volume to the Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Issued by the International Development Research Centre, Ottawa 2001, dokumentierte internationale Diskussion. 14 15

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zichtbaren Schutz bieten. Den Kritikern möchte ich jedoch folgende Frage entgegenhalten: Wenn eine humanitäre Intervention tatsächlich einen unannehmbaren Angriff auf die Souveränität darstellt, wie sollen wir dann auf ein Ruanda, ein Srebrenica oder auf alle schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen reagieren, die gegen jedes Gesetz verstoßen, das uns unser gemeinsames Menschsein vorschreibt?« Kofi Annan führte weiter aus: »Wir stehen vor einem echten Dilemma. Kaum jemand würde bestreiten, dass sowohl die Verteidigung der Menschlichkeit als auch die Verteidigung der Souveränität unterstützenswerte Grundsätze sind. Nur gibt uns das keinen Aufschluss darüber, welcher der beiden den Vorrang erhalten soll, wenn sie im Widerspruch zueinander stehen. Humanitäre Interventionen sind ein heikles Thema, bei dem es viele politische Klippen zu umschiffen heißt und Antworten nicht leicht zu finden sind. Doch kann ganz sicher kein Rechtsgrundsatz – nicht einmal die Souveränität – je als Schutzschild für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten. Wann immer solche Verbrechen begangen werden und alle friedlichen Versuche, ihnen Einhalt zu gebieten, ausgeschöpft sind, hat der Sicherheitsrat die moralische Pflicht, im Namen der internationalen Gemeinschaft zu handeln. Wenn wir auch nicht alle Menschen überall schützen können, so ist das doch kein Grund, dort, wo wir dies vermögen, tatenlos zu bleiben. Eine bewaffnete Intervention muss stets der letzte Ausweg bleiben, doch wenn es um Massenmord geht, können wir auf diese Option nicht verzichten.« 17 Bezüglich des Souveränitätsprinzips hat diese Strategie weitreichende Folgen: »it is the peoples’ sovereignty rather than the sovereign’s sovereignty«. 18 Inzwischen gilt in den Vereinten Nationen das Prinzip: »Sovereignty no longer exclusively protects States from foreign interference; it is a charge of responsibility that holds States accountable for the welfare of their people.« 19 Eine mit der ›responsibility to protect‹ befasste internationale Kommission veröffentlichte unter expliziter Berufung auf die oben zitierte Frage Kofi Annans ihre Empfehlungen kurz nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 und im Kontext des ›Krieges gegen den Terrorismus‹ unter dem Titel ›The Responsibility to Protect: The 17 18 19

UN-Dokument A/54/2000, Ziff. 217 f. Kofi Annan 1999. http://www.un.org/en/preventgenocide/adviser/index.shtml.

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Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty‹ (ICISS-Report). 20 Mit dem ICISS-Report soll das im Völkerrecht bisher nicht existierende ›Recht zur humanitären Intervention‹ als Pflicht etabliert werden. Das zentrale Thema des umfangreichen Berichts ist »the idea that sovereign states have a responsibility to protect their own citizens from avoidable catastrophe – from mass murder and rape, from starvation – but that when they are unwilling or unable to do so, that responsibility must be borne by the broader community of states«. Das Ende 2003 von Kofi Annan zur Reform der Vereinten Nationen einberufene ›High-Level Panel on Threats, Challenges and Change‹ (HLP) griff in seinem Abschlussbericht ›A more secure world: our shared responsibility‹ das von der ICISS entwickelte Konzept ›responsiblity to protect‹ auf. 21 Das HLP sprach bezüglich der Schutzverantwortung schon vor dem ›World Summit, High-Level Plenary Meeting‹ der UN (14.–16. September 2005) von einer »sich entwickelnden Norm« des Völkerrechts: »We endorse the emerging norm that there is a collective international responsibility to protect, exercisable by the Security Council authorizing military intervention as a last resort, in the event of genocide and other large-scale killing, ethnic cleansing or serious violations of international humanitarian law which sovereign Governments have proved powerless or unwilling to prevent.« 22 Es wurde in diesem Kontext nun auch deutlich, dass nun – im Unterschied zur UN-Charta, die in Art. 39 ein Interventionsrecht auf die »Bedrohung oder einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung« beschränkt hatte – sehr viel weitergehende Gründe für humanitäre Intervention geltend gemacht wurden: »the rule of law, human rights and democracy«. Die Staaten sollen jetzt angesichts des »gap between rhetoric and reality – between declarations and deeds – so stark and so deadly as in the field of international humanitarian law« 23 »(a) Reaffirm their commitment to human dignity by action to The Responsibility to Protect: The Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, 2002, The International Development Research Centre (Canada). 21 Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, A more secure world: our shared responsibility, 2. Dezember 2004, UN Dok. A/59/565, Annex II. 22 Ebd., Abschn. 203. 23 Ebd., Ziff. 134. 20

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strengthen the rule of law, ensure respect for human rights and fundamental freedoms and promote democracy so that universally recognized principles are implemented in all countries; (b) Embrace the ›responsibility to protect‹ as a basis for collective action against genocide, ethnic cleansing and crimes against humanity, and agree to act on this responsibility, recognizing that this responsibility lies first and foremost with each individual State, whose duty it is to protect its population, but that if national authorities are unwilling or unable to protect their citizens, then the responsibility shifts to the international community to use diplomatic, humanitarian and other methods to help protect civilian populations, and that if such methods appear insufficient the Security Council may out of necessity decide to take action under the Charter, including enforcement action, if so required«. 24 Das Demokratieprinzip spielt seit dem ›World Summit Outcome‹ eine wesentliche Rolle: »We reaffirm that democracy is a universal value based on the freely expressed will of people to determine their own political, economic, social and cultural systems and their full participation in all aspects of their lives.« Eingeräumt wurde: »We also reaffirm that while democracies share common features, there is no single model of democracy, that it does not belong to any country or region, and reaffirm the necessity of due respect for sovereignty and the right of self-determination. We stress that democracy, development and respect for all human rights and fundamental freedoms are interdependent and mutually reinforcing.«25 Doch bereits im nächsten Absatz dieses Dokuments wurde wieder ein allgemeiner Demokratiebegriff verwandt: »We renew our commitment to support democracy by strengthening countries’ capacity to implement the principles and practices of democracy and resolve to strengthen the capacity of the United Nations to assist Member States upon their request. […]« 26 Die im ICISS-Report und durch nachfolgende Erklärungen etablierten Prinzipien der »responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity« wurden erstmals in der vom UN-Sicherheitsrat am 28. April 2006 verabschiedeten Resolution 1674 verankert. Diese Entwicklung zu einer Norm ›RtoP‹ scheint unumkehrbar zu 24 25 26

Ebd., Ziff. 7. Ebd., Ziff. 135. Ebd., Ziff. 136.

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sein, auch wenn sie noch nicht in ein völkerrechtliches Abkommen aufgenommen wurde und noch nicht als allgemein anerkanntes Rechtsinstitut gewertet werden kann. »Zwar sind einzelne Tatbestandselemente kodifiziert; das Konzept als solches wurde aber bislang nur in Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrates anerkannt. Diese haben grundsätzlich empfehlenden, keinen Recht setzenden Charakter. Resolutionen können zwar Ausdruck einer gemeinsamen opinio iuris sein und Völkergewohnheitsrecht wiedergeben. Die responsibility to protect aber kann derzeit noch keine gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen. Es fehlt an ›einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung‹ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut. […] Zudem zeugen die voneinander abweichenden Ausgestaltungen der responsibility to protect in den verschiedenen Dokumenten von den unterschiedlichen Auffassungen über Inhalt und Tragweite der völkerrechtlichen Schutzverantwortung, nicht aber von einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung. […] Konkrete Rechtsfolgen, die über die bereits völkerrechtlich anerkannten Befugnisse des Sicherheitsrates hinaus gehen, akzeptierte die Generalversammlung nicht. Insoweit kann die responsibility to protect bisher keine völkergewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen, sondern ist als Konzept in der Entwicklung zu verstehen. Sie begründet eine Verantwortungsstruktur, derzeit aber keine Rechtsstruktur.« 27 RtoP ist in eben dem Maße ein Problem, ja eine Gefahr, wie sie von ›starken‹ Staaten unter irreführender Berufung auf den Schutz der Menschenrechte und der Durchsetzung von Demokratie unter Missachtung des Gewaltverbots funktionalisiert wird. Das Konzept ›Schutzverantwortung‹ gründet in einem problematisch erweiterten Verständnis des Friedensbegriffs gem. Art. 39 UN-Charta zu Lasten des Gewaltverbots. 28 Kreuter-Kirchhof 2010, S. 378 f. Leutheusser-Schnarrenberger 2002, S. 102 f., hat davor gewarnt, dass die »neue‹ Interventionspolitik des Sicherheitsrates […] zu einer Entwertung des Verbindlichkeitsund Rechtscharakters der UN-Charta und zu einer von Partikularinteressen nicht freien Selektivität des militärischen Engagements der UN zu führen [droht]. Angesichts dieser Tendenz zur Relativierung oder gar Geringschätzung des materiell- und prozeduralnormativen Gehalts der Charta konnte es auch nur eine Frage der Zeit sein, bis mit der Überdehnung des Interventionsmandats im Irak-Konflikt durch die USA und Großbritannien und mit der Selbstmandatierung der NATO im Kosovo-Konflikt auch die letzten rechtlich-normativen Hemmnisse für internationale Militäroperationen mißachtet wurden. […] Eine zunehmende Delegalisierung« der Interventionspolitik der UN »wird

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Die Aufhebung des Souveränitätsprinzips als Grundlage des Gewaltverbots und der entsprechende Wandel in der Völkerrechtstheorie weisen auf schwerwiegende Defizite einer Konstitutionalisierung ohne Konstitution hin: Die neuen Völkerrechtsnormen werden von den UN ad hoc und unter Bedingungen asymmetrischer politischer Einflussmöglichkeiten der Staaten formuliert und angewandt. Eine Weltrechtsverfassung gerät damit immer mehr aus dem Blick. Zur mangelnden Verrechtlichung der neuen Normen, die oft weniger aus Gründen von Recht und Moral als aus Machtgründen angewandt werden, gehört, dass (i) die Resolutionen der UN-Generalversammlung ungeachtet der Tatsache, dass sie von Mehrheiten der Staaten beschlossen werden (›Gesetz der Zahl‹) und sich in ihnen die ›Entwicklungsländer‹ artikulieren können, keine völkerrechtliche Bindungswirkung haben und (ii) UN-Sicherheitsratsresolutionen, in denen das ›Gesetz der Macht‹ zum Ausdruck kommt, hinsichtlich der konkret zu ergreifenden Maßnahmen vage bleiben können, weil prozedurale Ausführungsbestimmungen für legitimierbare humanitäre Interventionen fehlen. Die neuen Normen sollen dem menschenrechtlichen Schutz dienen; de facto ermöglichen sie aber die Verletzung der Würdenorm und des Rechts auf Leben. Obwohl die humanitären Interventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung auf die Zerstörung des militärischen Potenzials des Staates, gegen den sie eingeleitet werden, gerichtet sein sollen, nehmen – ob im Irak, in Afghanistan oder in Libyen – die als ›Kollateralschäden‹ verharmlosten Opfer unter der Zivilbevölkerung in erschreckendem Maße zu. Trotz dieser Defizite gibt es im Prozess der Konstitutionalisierung des Völkerrechts begrüßenswerte Fortschritte. Sie sind vor allem im ›Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge‹ und insgesamt im noch unabgeschlossenen Prozess der Konkretisierung von iuscogens–Normen und der Verpflichtungen erga omnes erkennbar. Doch die Widersprüche zwischen Souveränitätsgarantie, Friedensgebot, Gewaltverzicht, hegemonialer Rolle ›starker‹ Staaten und menschenrechtlich begründeten – in besonderen Fällen nicht grundsätzlich aus-

notwendigerweise zu einem substantiellen Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsverlust der UN und letztlich zu einer Gefährdung ihrer Existenz als rechtlich organisierter Gemeinschaft aller Nationen führen.« Vgl. zur Kritik an der RtoP Paech/Stuby 2013, S. 561– 570.

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Staat, Völkerrecht und Menschenwürde

zuschließenden 29 – humanitärer Intervention sind (noch) nicht aufgehoben. Gerade deshalb kann man auf die normative Idee einer in den Menschenrechten gründenden weltrechtlichen Verfassung nicht verzichten. Es handelt sich um eine Verfassung, deren Grundlage die UNCharta ist. Diese Charta rechtlich vereinter Nationen zu einer weltrechtlichen Verfassung so zu erweitern, dass die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht länger mit dem Friedensgebot und dem Gewaltverbot kollidiert, ist heute eine vorrangige Herausforderung.

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Der Völkermord in Ruanda wäre als ein solcher Fall anzusehen gewesen.

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3. ›Menschenwürde‹ in Verfassungen

3.1 Verfassungsvergleichende Befunde Verfassungsrechtlich ist das Prinzip der Menschenwürde zwar erstmals schon in der Präambel der Verfassung Irlands vom 1. Juli 1937 verankert worden: »We, the people of Éire, […] seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured […].« Die Konkretisierung dieser Prinzipien enthält der Teil ›Fundamental Rights‹ : ›Personal Rights‹, Art. 40–45. Aber der Begriff ›Menschenwürde‹ wurde erst aufgrund der Terrorerfahrungen des 20. Jahrhunderts bzw. nach dem Zusammenbruch der Staaten des ›Realsozialismus‹ in die Mehrheit der europäischen Verfassungen aufgenommen, teils in den Präambeln, teils in Form von Grundrechte-Artikeln: Königreich Belgien, 7. Februar 1831, koordinierter Text (bzw. ›neu bekanntgemachter Text‹), 17. Februar 1994: »Art. 23: Jeder hat das Recht, ein menschenwürdiges Leben zu führen.« Republik Bulgarien, 12. Juli 1991: »Wir, die Abgeordneten der Siebten Großen Volksversammlung, verkünden, in unserem Bestreben, dem Willen des bulgarischen Volkes Ausdruck zu geben, wobei wir unsere Treue zu den allgemein menschlichen Werten: Freiheit, Frieden, Humanismus, Gleichheit, Gerechtigkeit und Toleranz erklären; wobei wir die Rechte der Persönlichkeit, ihre Würde und Sicherheit zum obersten Prinzip erheben […].« Republik Estland, 28. Juni 1992: »§ 10 Die im vorliegenden Abschnitt aufgezählten Rechte, Freiheiten und Pflichten schließen keine anderen Rechte, Freiheiten und Pflichten aus, die sich aus dem Sinn des Grundgesetzes ergeben oder mit ihr im Einklang stehen, sowie den Grundsätzen der Menschenwürde und des sozialen und demokratischen Rechtsstaates entsprechen.«

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›Menschenwürde‹ in Verfassungen

Republik Finnland, 11. Juni 1999: »[…] Die Verfassung sichert die Unverletzlichkeit der Menschenwürde und die Freiheit und Rechte des Individuums und fördert die Gerechtigkeit in der Gesellschaft.« Griechische Republik, 9. Juni 1975: »Art. 2 (1) Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. […] Art. 106 (2) Die private wirtschaftliche Initiative darf nicht zu Lasten der Freiheit und der Menschenwürde oder zum Schaden der Volkswirtschaft entfaltet werden.« Italienische Republik, 27. Dezember 1947: »Art. 3 Alle Staatsbürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind vor dem Gesetz ohne Unterschied des Geschlechtes, der Rasse, der Sprache, des Glaubens, der politischen Anschauungen, der persönlichen und sozialen Verhältnisse gleich. […] Art. 41 Die Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei. Sie darf sich aber nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft oder in einer Weise, die die Sicherheit, Freiheit und menschliche Würde beeinträchtigt, betätigen.« Republik Lettland, 15. Februar 1922, durch Zusammentritt des Seimas am 6. Juli 1993 wieder in Kraft gesetzt. Durch Gesetz vom 15. Oktober 1998 wurde Art. 95 eingefügt: »Der Staat schützt Ehre und Würde des Menschen.« Republik Litauen, 25. Oktober 1992: »Art. 21. Die Persönlichkeit des Menschen ist unantastbar. Die Würde des Menschen ist gesetzlich geschützt.« Polnische Republik, 2. April 1997, Präambel: »[…] Alle, die diese Verfassung zum Wohl der Dritten Republik anwenden werden, fordern wir auf, dabei die dem Menschen angeborene Würde, sein Recht auf Freiheit und seine Pflicht zur Solidarität mit anderen Menschen zu beachten, und diese Prinzipien als unverletzliche Grundlage der Republik Polen immer einzuhalten.« Portugiesische Republik, 2. April 1976: »Art. 1. Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und deren Ziel die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft ist.« (Durch Gesetz vom 8. Juli 1989 wurden im Art. 1 die Worte ›einer klassenlosen Gesellschaft‹ ersetzt durch: ›einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft‹). »Art. 13. (1) Alle Staatsbürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind vor dem Gesetz gleich.«

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Verfassungsvergleichende Befunde

Königreich Schweden, 28. Februar 1974: »§ 2. Die öffentliche Gewalt ist mit Achtung vor dem gleichen Wert aller Menschen und vor der Freiheit und Würde des einzelnen Menschen auszuüben.« Slowakische Republik, 1. September 1992: »Art. 12 (1) Alle Menschen sind frei und gleich in ihrer Würde und in ihren Rechten. Die Grundrechte und -freiheiten sind nicht entziehbar, unveräußerlich, unverjährbar und unaufhebbar.« Republik Slowenien, 23. Dezember 1991: »Art. 34 Jedermann hat das Recht auf persönliche Würde und Sicherheit.« Königreich Spanien, 29. Dezember 1978: »Art. 10 (1) Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Rechte, die ihr innewohnen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Achtung des Gesetzes und der Rechte anderer sind die Grundlagen der politischen Ordnung und des sozialen Friedens.« Tschechische Republik (Verfassungsgesetz des Tschechischen Nationalrates, 16. Dezember 1992), Präambel: »Wir, die Bürger der Tschechischen Republik in Böhmen, in Mähren und in Schlesien, sind zur Zeit der Wiederherstellung eines selbständigen tschechischen Staates […] entschlossen, die Tschechische Republik im Geiste der unantastbaren Werte der Menschenwürde und Freiheit, als Vaterland gleichberechtigter, freier Bürger, die sich ihrer Pflichten gegenüber anderen und der Verantwortung gegenüber der Gesamtheit bewußt sind, als einen freien und demokratischen, auf der Achtung der Menschenrechte und den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft beruhenden Staat […].« Ungarn, 25. April 2011: »Wir bekennen uns dazu, dass die Würde des Menschen die Grundlage des menschlichen Seins ist.« Die Würdegarantie ist in der einen oder anderen Form heute weltweit in zwei Dritteln aller Verfassungen verankert; hier nur einige Beispiele: Föderative Republik Brasilien, 5. Oktober 1988: »Art. 1. Gründung und Grundlagen der Föderativen Republik. Die Föderative Republik Brasilien […] zählt zu ihren Grundlagen: I. die Souveränität; II. die Staatsbürgerschaft; III. die Würde der menschlichen Person; IV. die sozialen Werte Arbeit und freie Initiative; V. den politischen Pluralismus.« Republik Chile, 17. September 2005: »Art. 1. Die Menschen sind von Geburt frei und gleich an Würde und Rechten.«

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›Menschenwürde‹ in Verfassungen

Schweizerische Eidgenossenschaft, 18. April 1999: »Art. 7. Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.« Republik Serbien, 8./29. Oktober 2006: »Art. 19 Guarantees for inalienable human and minority rights in the Constitution have the purpose of preserving human dignity and exercising full freedom and equality of each individual in a just, open, and democratic society based on the principle of the rule of law.« Republik Südafrika, 8. Mai 1996: »The Republic of South Africa is one sovereign democratic state founded on the following values: (a) Human dignity, the achievement of equality and the advancement of human rights and freedoms.« Republik Südkorea, 17. Juli 1948, Stand: 29. Oktober 1987: »Art. 10 All citizens are assured of human worth and dignity and have the right to pursue happiness. It is the duty of the State to confirm and guarantee the fundamental and inviolable human rights of individuals.« Sozialistische Volksrepublik Vietnam, 5. April 1992: »Art. 71 (1) The citizen shall enjoy inviolability of the person and the protection of the law with regard to his life, health, honour and dignity. […] (3) It is strictly forbidden to use all forms of harassment and coercion, torture, violation of his honour and dignity, against a citizen.« Eine Besonderheit stellt die Verfassung der Französischen Republik dar, die den Begriff der Menschenwürde bis heute nicht kennt, während er bereits im Dekret der provisorischen Regierung über die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien vom 27. April 1848 vorkam: »In der Erwägung, dass die Sklaverei ein Attentat auf die menschliche Würde ist, dass sie, indem sie den freien Willen des Menschen zerstört, das natürliche Prinzip des Rechts und der Pflicht unterdrückt, und dass sie eine flagrante Verletzung des republikanischen Dogmas ist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.« Das Vichy-Regime unter Maréchal Pétain hatte in einem nie in Kraft getretenen ›Projet de constitution‹ vom 30. Januar 1944 einen Art. 1 mit dem Wortlaut einführen wollen: »Die Freiheit und die Würde der menschlichen Person sind höchste Werte und unantastbare Güter. Ihre Wahrung verlangt vom Staat Ordnung und Gerechtigkeit und von den Bürgern Disziplin. Die Verfassung bestimmt zu diesem Zweck die die öffentliche Gewalt und die Bürger betreffenden Pflichten und Rechte, indem sie einen Staat errichtet, dessen Autorität sich auf die Zustimmung der Nation stützt.« 180 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Verfassungsvergleichende Befunde

Nachdem der französische Staatspräsident N. Sarkozy mit Dekret vom 9. April 2008 ein Komitee unter Leitung von Simone Veil mit einer Revision der Präambel der Verfassung beauftragt hatte, warnte Anne-Marie Pourhiet, Öffentlichrechtlerin an der Universität Rennes, am 24. Mai 2008 in Le Figaro unter dem Titel ›Touche pas à mon préambule‹ (Rühr’ meine Präambel nicht an) unter Verweis auf den Pétain-Verfassungsplan und auf ethnozentrische oder religiöse Würdedefinitionen: »Die Würde stellt heute die direkteste Bedrohung der Aufklärungsphilosophie und der republikanischen Idee dar, die fatale Waffe gegen unsere Freiheiten. Diesen eminent subjektiven und relativen philosophischen Begriff zur juridischen Norm zu erheben ist eine Verrücktheit.« 1 Mit dem Gesetz no 94–653 vom 29. Juli 1994 wurde Art. 16 des ›Code civil‹ eingeführt: »Das Gesetz sichert den Vorrang der Person, verbietet jegliche Verletzung ihrer Würde und grantiert die Achtung des Menschen vom Beginn [des Lebens] der Person an.« 2 Eine Ausnahme von der Regel der Implementierung der Würdenorm in Verfassungen stellt auch die angelsächsische Rechtskultur dar. »Es gibt Staaten und Rechtsordnungen, in denen es nicht nur an einer Kodifizierung der Menschenwürde fehlt, sondern die Implementierung der Menschenwürde auch von Rechtsprechung und juristischer Lehre dezidiert abgelehnt wird. Dies gilt vor allem für Großbritannien und die USA. […] Im angelsächsischen Rechtskreis spielt der Begriff der Menschenwürde eine eher untergeordnete Rolle. In den Verfassungen Kanadas und Australiens kommt er nicht vor. Einzig die Verfassung Neuseelands (Art. 23) erwähnt ihn im Zusammenhang mit den Meine Übers. Meine Übers. Vgl. Borowsky in Meyer 2011, Artikel 1 Würde des Menschen, Rn. 2: »Der Conseil Constitutionnel stützte sich in seiner bahnbrechenden Entscheidung vom 27. Juli 1994 auf den einleitenden Satz der Praämbel der Verfassung von 1946: ›Am Tage nach dern Siege, den die freien Völker über die Regime davongetragen haben, die versucht hatten, die menschliche Person zu unterjochen und zu entwürdigen, verkündet das französische Volk von neuem, dass jedes menschliche Wesen ohne Unterschied der Rasse, der Religion oder des Glaubens unveräußerliche und geheiligte Rechte besitzt.‹ Aus diesem Text folgerte der Verfassungsrat: ›Die Wahrung der Menschenwürde gegenüber jeglicher Form der Unterjochung oder der Entwürdigung ist ein Grundsatz von Verfassungsrang.‹ Damit kennt das französische Verfassungsrecht die Menschenwürde als ›ungeschriebenen‹, in den Konturen allerdings noch unscharfen Grundsatz, der bereits Ausstrahlungswirkung für das gesamte französische Recht entfaltet und neben dem Gesetzgeber vor allem den Conseil d’État in ihren Entscheidungen leitet.«

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›Menschenwürde‹ in Verfassungen

Rechten von Gefangenen. Die Präambel der kanadischen Bill of Rights von 1960, bei der es sich um ein einfaches Gesetz handelt, erwähnt die Menschenwürde […]. Im Vereinigten Königreich ist das rechtliche Konzept der Menschenwürde so gut wie unbekannt. Es ist weder Bestandteil der ungeschriebenen Verfassung, noch des geschriebenen Gesetzesrechts oder der Judikatur der englischen Gerichte. Bis vor kurzem verfügte Großbritannien nicht einmal über einen Menschenrechtskodex, dessen Verletzung vor britischen Gerichten hätte eingeklagt werden können. Diesem Zustand wurde erst im Oktober 2000 abgeholfen, als der im Jahre 1998 beschlossene Human Rights Act in Kraft trat. Dieses Gesetz inkorporiert die EMRK in das nationale britische Recht und eröffnet den Rechtsschutz vor den britischen Gerichten.« Die Verfassung der USA und die Verfassungen der Bundesstaaten kennen die Menschenwürde-Norm bis auf zwei Ausnahmen nicht. Die Verfassung von Louisiana von 1974 – in diesem Staat herrscht als einzigem der Staaten der USA kontinentales bürgerliches Recht – »enthält in Sec. 3 Diskriminierungsverbote unter dem Titel ›Right to Individual Dignity‹. Die Verfassung von Montana von 1972 enthält in Art. 11 Sec. 4 unter dem Titel ›Individual Dignity‹ neben Diskriminierungsverboten einen ersten Satz, der an das deutsche GG erinnert: ›The dignity of the human being is inviolable.‹« 3 In welchem Maße der Schutz der Menschenwürde selbst unter antagonistischen gesellschaftspolitischen Voraussetzungen als Auftrag politischen Handelns anerkannt werden musste, spiegelt die ›Gemeinsame Erklärung‹ von Bundeskanzler Helmut Kohl und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow vom 13. Juni 1989: »Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stimmen darin überein, daß die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken. – Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.« 4

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Tiedemann 2010, S. 57 ff. http://www.kas.de/upload/ACDP/Gem_Erklaerung.pdf.

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Europa auf dem Wege zu einer menschenrechtlichen Verfassung

3.2 Europa auf dem Wege zu einer menschenrechtlichen Verfassung Auf supranationaler europäischer Ebene hat die ›Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten‹ (EMRK) vom 4. November 1950 – in Kraft getreten am 13. September 1953 – den Schutz der Menschenwürde noch nicht explizit erwähnt. 5 Doch die EMRK entspricht dem Verlangen nach Würde und Herrschaft des Rechts; sie hat auf diese Weise wesentlich dazu beigetragen, für Europa den Weg des Friedens und der Demokratie zu bahnen. Sie antwortet mit dem Mittel einer auf Legalität und Legitimität gerichteten Verrechtlichung auf Unrechtserfahrungen, nicht zuletzt auf die mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher erstmals als Straftatbestand benannten ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹. Die Unterzeichnerregierungen haben 1950 die EMRK 6 vereinbart »in Anbetracht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte […], in der Erwägung, daß diese Erklärung bezweckt, die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten; in der Erwägung, daß […] eines der Mittel zur

Doch nach »der Rechtsprechung des EGMR liegt das Gebot ihrer Achtung allen Konventionsgarantien zu Grunde (z. B. EGMR v. 11. 7. 2002, 28957/95 Nr. 90, NJW-RR 2004, 289 – Goodwin/Vereinigtes Königreich; zum Schutz der Menschenwürde MeyerLadewig, NJW 2004, 981). Besondere Bedeutung hat die Menschenwürde bei der Auslegung von Art. 3, wo die Definition der erniedrigenden Behandlung auf die Menschenwürde abstellt. Sie wird als entwürdigende Behandlung verstanden (EGMR v. 20. 4. 2005, 2346/02 Nr. 52, NJW 2002, 2851 – Pretty/Vereinigtes Königreich). In Urteilen über Beschwerden gegen Haftbedingungen hat der EGMR betont, dass eine Person unter Bedingungen festgehalten werden darf, die mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind (EGMR v. 15. 7. 2002, 47095/99 Nr. 95, NVwZ 2005, 303 – Kalshnikov/ Russland und zur Leibesvisitation EGMR v. 2001, 44558/98 Nr. 102, Slg. 02–VIII-Valasinas/Litauen).« (Meyer-Ladewig, Art. 8, in: ders. 2011, Rn.10). Vgl. Frowein/Peukert 1996, Maurer 1999. 6 Zur Bedeutung der EMRK 60 Jahre nach ihrem Inkrafttreten vgl. die Beiträge in Leutheusser-Schnarrenberger 2013, u. a. Sandkühler 2013a. Vgl. als EMRK-Kommentare u. a. J. A. Frowein/W. Peukert, Die Europäische MenschenRechtsKonvention. EMRK-Kommentar, Kehl/Straßburg/Arlington 21996; D. J. Harris/M. O’Boyle/ C. Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, Oxford 22009; J. Meyer-Ladewig, EMRK. Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar, Baden-Baden 32011; vgl. auch das Zusatzprotokoll zur EMRK in der Fassung des Protokolls Nr. 11 und weitere Zusatzprotokolle: http://conventions.coe.int/treaty/ger/ treaties/html/194.htm. 5

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›Menschenwürde‹ in Verfassungen

Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist; in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, […] die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden«. Mit Art. 19 EMRK wurde zur »Einhaltung der Verpflichtungen, welche die Hohen Vertragschließenden Teile in dieser Konvention übernommen haben«, »a) eine Europäische Kommission für Menschenrechte« und »b) ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte« (EMRG) eingerichtet. Damit konnte die EMRK für Europa Defizite beheben, die seit der Verabschiedung der ›Allgemeinen Erklärung‹ von 1948 noch bestanden: Die AEMR ist »zwar ein von allen Ländern anerkanntes Ideal, auf dessen Einhaltung und Verwirklichung diese in ihren politischen und rechtlichen Bemühungen hinzuwirken haben, formal begründet sie jedoch weder individuelle Rechte, noch konkrete Rechtspflichten für die Unterzeichnerstaaten. Ein immer wieder geforderter Internationaler Gerichtshof, der sich allgemein mit Menschenrechtsfragen befasst, ist nie Realität geworden […] Mit der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention hat man dagegen erreichen können, was international nicht gelungen ist, nämlich eine allgemein anerkannte Übereinkunft, die nicht den Charakter bloßer Empfehlungen besitzt, sondern ihre Vertragsstaaten unmittelbar rechtlich verpflichtet. Die in ihr verbürgten elementaren Freiheitsrechte, vom Recht auf Leben bis zum Folterverbot, von der Versammlungsfreiheit bis zum Recht auf ein faires Verfahren, gelten heute von der Straße von Gibraltar bis nach Kamtschatka, von Grönlands Nordküste bis an das Schwarze Meer.« 7 Die EMRK ist von herausragender Bedeutung für die supranationale Verrechtlichung der Menschen- und Grundrechte in Europa. Sie ist ein – in praxi noch nicht völlig gefestigtes – Bollwerk gegen nationalstaatliche Rückfälle, aber kein Hindernis für die weitere Entwicklung menschenrechtlichen Schutzes innerhalb der Staaten. In den EMRK-Signatarstaaten wurde den Konventionsrechten – wenn auch in unterschiedlichem Maße – innerstaatlich Geltung verschafft, ob-

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Leutheusser-Schnarrenberger 2013, Vorwort, S. VI.

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Europa auf dem Wege zu einer menschenrechtlichen Verfassung

wohl der EGMR »eine entsprechende Rechtspflicht zur Übernahme der Konventionsrechte verneint« hat. 8 Zu bedauern ist, dass die EMRK laut BVerfGE in der deutschen Rechtsordnung nur »im Range eines Bundesgesetzes« gilt und »bei der Interpretation des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien – [nur] zu berücksichtigen« ist. Ihre eingeschränkte Bindungswirkung »hängt von dem Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab und von dem Spielraum, den vorrangig anwendbares Recht lässt«. 9 Und umgekehrt verbietet es Art. 53 EMRK, die Konvention »so auszulegen, als beschränke oder beinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten«, die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten verbürgt sind. Die EMRK wurde zum normativen Meilenstein für die ›Charta der Grundrechte der Europäischen Union‹ (GRCh) 10, in deren Präambel es heißt: »In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.« 11 Entsprechend lautet Art. 1 der GRCh: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schüt-

J. M. Hoffmann, Die Pflicht der Staaten zur Übernahme der Europäischen Menschenrechtskonvention in das innerstaatliche Recht. In: MenschenRechtsMagazin, H. 2/2011, S. 129 f.; vgl. zur Pflicht der Übernahme der EMRK in das nationale Recht ebd., S. 131– 140. Zur Umsetzung in deutsches Recht siehe BGBl 1952 II, S. 685, 953; BGBl 2002 II, S. 10. 9 BVerfGE 2 BvR 1481/04 (30), 14. 10. 2004. 10 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (2000/C 364/01). Vgl. dazu J. A. Frowein, Die Einwirkungen der EMRK auf das Verfassungssystem der Mitgliedstaaten. In: Leutheusser-Schnarrenberger 2013, Wallau 2010 und D. v. Arnim, Standort der EUGrundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, Frankfurt/M. et al. 2006; zur Entstehung der GRCh und zur Kommentierung vgl. J. Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union [Kommentar], Baden-Baden 32011; zur Bedeutung als »Meilenstein auf dem Weg der Union zur Grundrechtsgemeinschaft« vgl. Burr, Entwicklungslinien und Methodik, Rn. 1, in P. Tettinger/K. Stern, 2006, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, München 2006. Burr verweist darauf, dass an der GRCh neben »der Entstehung des Gemeinschaftsrechts aus einer Vielfalt von Rechtskulturen« auch »die Entwicklung einer gemeinschaftlichen Rechtssprache in mehrsprachiger Ausprägung« zu würdigen ist. 11 Der Hinweis in der deutschen Fassung der GRCh auf ein ›geistig-religiöses‹ Erbe existiert in den Fassungen der anderen Amtssprachen nicht. So heißt es etwa im Englischen: »spiritual and moral heritage«, im Französischen: »patrimoine spirituel et moral«. 8

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›Menschenwürde‹ in Verfassungen

zen.«. 12 So lautet auch die Formulierung im Verfassungsvertrag für die Europäische Union. 13 In den ›Erläuterungen zur Charta der Grundrechte‹ 14 heißt es hierzu: »Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht an sich, sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte.« Weiter heißt es in den ›Erläuterungen‹ : »In seinem Urteil vom 9. Oktober 2001 in der Rechtssache C-377/98, Niederlande gegen Europäisches Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70–77, bestätigte der Gerichtshof, dass das Grundrecht auf Menschenwürde Teil des Unionsrechts ist. Daraus ergibt sich insbesondere, dass keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen, und dass die Würde des Menschen zum Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört. Sie darf daher auch bei Einschränkungen eines Rechtes nicht angetastet werden.« Es ist angesichts dieses rechtspolitischen Prozesses nicht übertrieben, zu sagen: »Der Begriff der Menschenwürde ist ein Grundpfeiler europäischer Identitätsentwicklung.« 15 Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, wenn Christoph Enders behauptet: »Überhaupt ist das europäische Würdekonzept insgesamt ein wesentlich anderes – obwohl doch die Leitidee des Grundgesetzes Schule gemacht hat und die ›Würde des Menschen‹ auch der Europäischen Charta der Grundrechte vorangestellt wurde. Auf europäischer Ebene statuiert das Bekenntnis zur Würde des Menschen indessen nicht zugleich die rechtsverbindliche, vollzugsfähige Grundnorm guter Ordnung. Die Würde des Menschen fungiert im Wesentlichen als Verweisungsbegriff, der an die grundsätzliche Berechtigung sozial-ethisch begründeter, jedoch keineswegs unabänderlich feststehender Verhaltensregeln erinnert.« 16 Noch weniger plausibel ist Enders’ These, im Falle einer »Verfassungsneugebung« sei mit einem solchen Akt »zwangsläufig der Abschied von der Grundnorm Menschenwürde und ihrer Garantie guter Ordnung verbunden. In der Situation wiederhergestellter Souveränität mag sich die verfassungsmäßige Ordnung des Zur Entstehung dieser Grundrechte-Norm im Europäischen Grundrechtekonvent vgl. Borowsky in Meyer 2011, Artikel 1 Würde des Menschen, Rn. 10–25. 13 Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004, Teil II, Die Charta der Grundrechte der Union, Titel I, Art. II-61. Vgl. Meyer 2011, Schwarzburg 2012. 14 http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/dat/32007X1214/htm/ C2007303DE.01001701.htm. 15 Meyer in Meyer 2011, Präambel, Rn. 33. 16 Enders 2011, S. 18. 12

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Gemeinwesens weiterhin der sinnstiftenden Leitidee der Würde des Menschen verschreiben. Aber die verfassunggebende Gewalt wird sich auch unter Verweis auf ein suprakonstitutionelles Ordnungsprinzip nicht ihrer Verantwortung entziehen können. Weder kann sie sich der Pflicht zu einer autonomen und – ungeachtet völkerrechtlicher Bindungen der Bundesrepublik – durch nichts und niemanden präjudizierbaren Gesamtentscheidung über die Art und Form der politischen Existenz des deutschen Volkes verweigern. Noch steht es in ihrer Macht, den Souveräntitätsvorbehalt des Grundgesetzes zu perpetuieren und künftige Generationen weiter mit der Hypothek unabänderlicher Verfassungsprinzipien zu belasten.« Der »darum unumgängliche Abschied von einer letztverbindlichen, verfassungsrechtlich in der ›Würde des Menschen‹ vergewisserten und verewigten guten Ordnung« sei zu ertragen, »wenn man sich […] die ursprüngliche Funktion des Satzes von der Menschenwürde« vor Augen führe. Diesen Satz sieht Enders nicht als die Basisnorm Art. 1 Abs. 1 GG, sondern er lagert ihn – geradezu absurd – in eine de facto und de jure nicht existente »Präambel zum Grundrechtsabschnitt« 17 aus und depotenziert ihn so. Die GRCh erkennt jedoch in Titel I die folgenden notstandsfesten Grundrechte an, die ihren besonderen Charakter »in ihrer gesteigerten Schutzdimension« und als »Tabuzonen« haben 18: »Artikel 1: Würde des Menschen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen. Artikel 2: Recht auf Leben. (1) Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. (2) Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden. Artikel 3: Recht auf Unversehrtheit. (1) Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. (2) Im Rahmen der Medizin und der Biologie muss insbesondere Folgendes beachtet werden: a) die freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung entsprechend den gesetzlich festgelegten Einzelheiten, b) das Verbot eugenischer Praktiken, insbesondere derjenigen, welche die Selektion von Menschen zum Ziel haben, c) das Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen, d) das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen. Artikel 4: Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung. Niemand darf der Folter oder Ebd., S. 21. Borowski in Meyer 2011, Titel I Würde des Menschen, Vorbemerkungen Vor Titel I, Rn. 5b.

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›Menschenwürde‹ in Verfassungen

unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Artikel 5: Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit. (1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. (2) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. (3) Menschenhandel ist verboten.« Diese Grundrechte dürfen nicht eingeschränkt werden. Die nachfolgenden Freiheitsgarantien (Titel II), Gleichheitsgarantien (Titel III), Solidaritätsrechte (Titel IV), Bürgerrechte (Titel V) und justiziellen Rechte (Titel VI) dürfen gem. Art. 52 GRCh nur unter der Voraussetzung entsprechender Gesetze und bei Achtung des »Wesensgehalts dieser Rechte und Freiheiten« eingeschränkt werden. De facto aber werden diese Grundrechte verletzt, und die Verletzung führt dazu, dass die Menschenwürde und die Menschenrechte aus individueller Unrechtserfahrung eingeklagt werden. Beim UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf gehen jährlich etwa 400.000 Individualbeschwerden ein. Unter den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sind Staaten, in denen keine Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen werden, in erschreckender Minderheit. Die Möglichkeit der individuellen Menschenrechtsbeschwerde hat allerdings trotz bestehender Defizite 19 dazu geführt, dass immer mehr Menschen ihre Rechte gegen Staaten einklagen. Beim EGMR werden jährlich mehr Beschwerden eingelegt, inzwischen etwa 65.000. Aufgrund finanzieller und personeller Unterausstattung sowie struktureller Probleme werden allerdings viele Beschwerden nicht in angemessener Frist behandelt. 2011 waren 150.000 unerledigte Beschwerden anhängig. Die Situation verbessert sich, seit im Juni 2010 die von Russland jahrelang blockierte Reform des ›Protokolls Nr. 14 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems‹ vom 13. Mai 2004 wirksam wurde. Seitdem dürfen in eindeutig unzulässigen Fällen, die keiner weiteren Untersuchung bedürfen, Einzelrichter – statt wie zuvor mit mehreren Richtern besetzte Kammern – allein entscheiden und Klagen abweisen. Aus formalen Gründen werden insgesamt etwa 90% der Beschwerden abgewiesen. Die Zahl der Vertragsstaaten, die Einzelbeschwerden zulassen, ist jedoch enttäuschend gering (Stand: 1. Dezember 2011): »beim Zivilpakt: 114 bei 167 Vertragsstaaten; bei der Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention: 54 von 175; bei der Anti-Folter-Konvention: 61 von 149; bei der Frauenrechtskonvention: 103 von 187; und bei der Behindertenrechtskonvention: 64 von 107«. (Ebd.)

19

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Europa auf dem Wege zu einer menschenrechtlichen Verfassung

Die ständige Zunahme von Individualbeschwerden signalisiert, in welchem Maße Menschenwürde- und Menschenrechtsverletzungen als Unrecht wahrgenommen werden, dem mit den Mitteln des Rechts zu begegnen ist. Das Recht auf Würde und der Anspruch auf Schutz vor Verletzung sind zu konstitutiven Elementen des Alltags- und Rechtsbewusstseins von immer mehr Menschen geworden. Sie sind in individuellen Überzeugungsssystemen zu relativ stabilen moralischen Intuitionen internalisiert worden. Mit ihrem Status als moralische Intuition ist allerdings auch die Konkurrenz von Werteinstellungen verbunden, die in der Regel dem in sozialen Gruppen herrschenden Überzeugungssystem, dem für sie selbstevidenten common sense 20, entsprechen. Dies zeigt sich nicht zuletzt beim Umgang mit moralischen Dilemmata. Sollen wenige geopfert werden, um viele zu retten? Bei der Gruppe der Politiker, die ein Luftsicherheitsgesetz gegen terroristische Anschläge beschlossen, führte die sie leitende moralische Intuition zur Bejahung dieser Frage. Bei die Gruppe der Richterinnen und Richter am BVerfGE, die die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes feststellten, bestand die moralische Intuition im Prinzip der Nicht-Abwägbarkeit der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG. Soll zur Rettung eines Menschen Folter erlaubt sein? Bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich, dass die den Schutz vor Würdeverletzung anerkennende moralische Intuition nur relativ stabil ist: Zwischen einer verbreiteten öffentlichen Meinung zugunsten der Akzeptanz von ›Rettungs‹-Folter und der auf Art. 1 Abs. 1 verpflichteten Rechtsprechung klafft noch immer ein Abgrund.21 Hieraus ergibt sich, dass die Bildung und Erziehung zu Überzeugungen, Einstellungen und moralischen Intuitionen auf dem Niveau des Art. 1 GG eine permanente Aufgabe ist. Mit anderen Worten: Es geht darum, dass das Alltagsbewusstsein mit seinen moralischen Intuitionen von einem Rechts- und Unrechtsbewusstsein bestimmt ist, für das die Norm der Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Gebot, die Menschenrechte nicht zu verletzen, zum handlungsleitenden Tabu geworden ist.

20 21

Zur Kritik der Evidenzen des common sense vgl. Sandkühler 2009, Kapitel 8. Vgl. hierzu in diesem Buch Teil III, Abschnitt 9.2.

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4. ›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

In der deutschen Verfassungsgeschichte enthielt die nicht in Kraft getretene Verfassung des Deutschen Reichs von 1848 (›Paulskirchenverfassung‹) – neben § 139: »Ein freies Volk hat selbst bei dem Verbrecher die Menschenwürde zu achten« – zwar einen ›Abschnitt VI. Die Grundrechte des deutschen Volkes‹, doch der Würdebegriff entsprach in den §§ 68 und 69 noch der vormodernen Bedeutung des Wortes: »Die Würde des Reichsoberhauptes […] Diese Würde ist erblich im Hause des Fürsten, dem sie übertragen worden. Sie vererbt im Mannsstamme nach dem Rechte der Erstgeburt.« Noch die Verfassung des Deutschen Reiches (›Weimarer Reichsverfassung‹) von 1919 kannte das Würde-Prinzip nur indirekt; unter dem Titel ›Das Wirtschaftsleben‹ hieß es in Art. 151: »Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern.« In der deutschen Geschichte bedeutet das maßgeblich von der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ vom 10. Dezember 1948 geprägte, am 23. Mai 1949 in Kraft getretene ›Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland‹ (GG) 1 aufgrund der zentralen Stellung der Würdenorm »das Gegenprogramm zur totalitären Mißachtung Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100–1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11. Juli 2012 (BGBl. I S. 1478) geändert worden ist. »Der Parlamentarische Rat hat am 23. Mai 1949 in Bonn am Rhein in öffentlicher Sitzung festgestellt, daß das am 8. Mai des Jahres 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Woche vom 16. bis 22. Mai 1949 durch die Volksvertretungen von mehr als Zweidritteln der beteiligten deutschen Länder angenommen worden ist. Auf Grund dieser Feststellung hat der Parlamentarische Rat, vertreten durch seine Präsidenten, das Grundgesetz ausgefertigt und verkündet.« http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf. Vgl. die in der Bibliografie angegebenen GG-Kommentare.

1

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Zur Entstehung des Grundgesetzes

des Individuums«. 2 ›Gegenprogramm‹ – dies verweist darauf, dass der Norm der Unantastbarkeit der Menschenwürde das Faktum der Antastung vorausgegangen war: »Die mit der Verfassungsgarantie der Menschenwürde gesetzte Sollensnorm hat ihren Entstehungsgrund zunächst in der Seinstatsache als ihrer Voraussetzung, […] daß in dem Unrechts- und Machtstaat, aus dem wir herkommen, Anstastungen der Menschenwürde die ›Norm‹ im Sinne (des soziologischen Normbegriffs) der ›tatsächlichen Übung‹ war. Gerade diese geschichtlich erfahrenen Verletzungen und Gefährdungen der Menschenwürde sind es, die den Verfassunggeber dazu veranlaßt haben, sich mit diesem Faktum im Hinblick nicht nur auf unsere Vergangenheit, sondern im Blick auf Gegenwart und Zukunft ausdrücklich auseinanderzusetzen. Wie immer, so ist es auch hier das Unrecht, von dem das Recht sich abhebt.« 3

4.1 Zur Entstehung des Grundgesetzes Von Unrechtserfahrung ging auch der vom Ausschuss für Grundsatzfragen des ›Parlamentarischen Rates‹ am 18. Oktober 1948 in 1. Lesung angenommene, später verworfene Entwurf einer Präambel 4 für das GG aus: »Die nationalsozialistische Zwingherrschaft hat das deutsche Volk seiner Freiheit beraubt; Krieg und Gewalt haben die Menschheit in Not und Elend gestürzt. Das staatliche Gefüge der in Weimar geschaffenen Republik wurde zerstört. Dem deutschen Volk aber ist das unverzichtbare Recht auf freie Gestaltung seines nationalen Lebens geblieben. Die Besetzung Deutschlands durch fremde Mächte hat die Ausübung dieses Rechtes schweren Einschränkungen unterworfen.« 5 Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 41 f. Maihofer 1968, S. 25 f. 4 Zur kontroversen Debatte über die Präambel in der 6. Sitzung des Plenums am 20. Oktober 1948 vgl. Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, bearb. v. W. Werner, München 1996, S. 178–216. 5 http://www.verfassungen.de/de/de49/grundgesetz-entwurf1-48.htm. Zur Debatte über diesen am 18. Oktober 1948 in 1. Lesung angenommenen Entwurf vgl. Der Parlamentarische Rat: 1948–1949; Akten und Protokolle, hg. für den Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv unter Leitung v. K. G. Wernicke/H. Booms [im Folgenden: Der parlamentarische Rat], Bd. 5/1: Ausschuß für Grundsatzfragen, bearb. v. E. Pikart/ W. Werner, Boppard am Rhein 1993, S. 230 f., zum umstrittenen Begriff ›Zwingherrschaft‹ vgl. ebd., S. 238 f. 2 3

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›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Diese ›das deutsche Volk‹, das die ›Zwingherrschaft‹ doch mehrheitlich gestützt hatte, vom Unrecht entlastende Formulierung war ein Zeichen für die Art der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in der entstehenden Bundesrepublik Deutschland. Das ›Gegenprogramm‹ bedeutete in der endgültigen Fassung des Grundgesetzes in normativer Hinsicht eine rechts- und gesellschaftspolitische Zäsur: Es war das Signal »eines entschiedenen ›Neubeginns‹, dass Menschenwürde und Grundrechte nicht nur erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte optisch an der Spitze der Verfassung standen, sondern möglichst umfassend umgesetzt werden sollten. Der Rechtsstaat mit seiner klaren Bindung an ›Recht und Gesetz‹ sollte lückenlos sein.« 6 Carlo Schmid (SPD, Justizminister von Württemberg-Hohenzollern) erklärte im Parlamentarischen Rat, der mit der Erarbeitung des Grundgesetzes betraut war: »Wir wollen unter ›Staat‹ etwas verstehen, das zu dienen hat und nicht von sich aus da ist. Vor dem Staat soll der Mensch kommen. Wir vindizieren dem Menschen Rechte, die er für sich beansprucht, ehe er anfängt, dem Staat andere Rechte zuzuerkennen.« 7 Nachdem die Londoner Allierten-Außenministerkonferenz im Dezember 1947 gescheitert war, trafen die westlichen Alliierten mit den Benelux-Staaten von Februar bis Juni 1948 zur ›Londoner SechsMächte-Konferenz‹ zusammen, bei der die Gründung eines Weststaates ohne die sowjetische Besatzungszone beschlossen wurde. 8 Am 1. Juli 1948 beriefen die Westalliierten die Ministerpräsidenten der Länder in den Westzonen zu einer Konferenz ein und übergaben ihnen die sogenannten ›Frankfurter Dokumente‹ 9, die vehemente Kritik auslösten, so z. B. in einer ›Denkschrift des Deutschen Büros für FriedensStolleis 2012, S. 156. Zur Entstehung des GG vgl. Mayer/Stuby 1976. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 65. 8 Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 1: Vorgeschichte, bearb. v. J. V. Wagner, Boppard am Rhein 1975. Zum Schlusskommuniqué vom 7. Juni 1948 vgl. ebd., S. 1–17. 9 Vgl. ebd., S. XXV–XXVII. Zu den den Ministerpräsidenten von den Militärgouverneuren am vom 1. Juli 1948 vorgelegten ›Grundzügen‹ des Besatzungsstatuts vgl. Frankfurter Dokument Nr. III, in: Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. 33–36. Die Ministerpräsidenten berieten vom 8.–10. Juli 1948 in Koblenz über die Frankfurter Dokumente (vgl. ebd., S. 60–142) und legten als Antwort auf das Frankfurter Dokument Nr. III ›Leitsätze für ein Besatzungsstatut‹ vor (ebd., S. 148–150). Zur verärgerten Reaktion der Militärgouverneure auf die Koblenzer Beschlüsse vgl. ebd., S. 163–171; es wurde geltend gemacht, dass sie das Londoner Sechs-Mächte-Abkommen u. a. dadurch ge6 7

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Zur Entstehung des Grundgesetzes

fragen‹, einer Dokumentationsbehörde der Ministerpräsidenten von Bayern, Hessen, Württemberg-Baden und Bremen vom 5. Juli 1948: »Bei der Beurteilung der Frankfurter Vorschläge muß davon ausgegangen werden, daß das Besatzungsstatut auf unser öffentliches Leben und unsere Meinung eine unmittelbarere Wirkung haben wird als die ›Verfassung‹. Wenn das Besatzungsstatut so ausfällt, daß das deutsche Volk es als das Mittel zur rechtlichen Konsolidierung einer als lästig empfundenen Fremdherrschaft ablehnt, so wird es die Verfassung nur als ein Anhängsel des Besatzungsstatuts und als einen ›Importartikel‹ betrachten können. Besatzungsstatut und ›Verfassung‹ sollten deshalb im vollen Licht der Öffentlichkeit ausgearbeitet werden. Die vorgeschlagene Lösung krankt an dem Hauptfehler des Versailler Vertrags: Die Alliierten, unter sich uneinig, brauchen die Zustimmung des deutschen Volkes zu ihren Vereinbarungen, können sich aber nicht entschließen, von Anfang an mit uns zu verhandeln. Dadurch, daß es uns gestattet wird, einige Retuschen zu einem bereits festliegenden Text vorzuschlagen, von denen die Hälfte zurückgewiesen werden wird, kann eine deutsche Mitarbeit nachträglich nicht konstruiert werden.« 10 Die Ministerpräsidenten wurden von den Alliierten zur Einberufung einer ›Verfassunggebenden Versammlung‹ mit dem Ziel der Ausarbeitung einer ›demokratischen Verfassung‹ mit Garantien der ›individuellen Rechte und Freiheiten‹ 11 aufgefordert. Doch sie befürchteten negative Konsequenzen für die deutsche Einheit und stimmten nach kontroversen Beratungen nur der Bildung eines ›Parlamenarischen Rats‹ mit der Aufgabe zu, »a) ein Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebiets der Westmächte und ein Wahlgesetz für eine demokratische Vertretung auszuarbeiten, b) ein Wahlgesetz für eine auf allgemeinen und direkten Wahlen beruhende trizonale Volksvertretung zu erlassen.« 12 Die Ministerpräsidenten kamen überein, über das GG nicht durch Volksabstimmung (Referendum), sondern durch Abstimmung in den Landtagen entscheiden zu lassen. Ministerpräsident Karl Arnold

fährdeten, dass statt von der geforderten ›Verfassung‹ nur von einem ›Grundgesetz‹ die Rede sei (ebd., S. 167). 10 Ebd., S. 37. 11 Frankfurter Dokument Nr. I, in: ebd., S. 30 f. 12 Ebd., S. 123. Zur Rechtsgrundlage – »Schaffung eines Modellgesetzes für die Errichtung des Parlamentarischen Rates« – vgl. ebd., S. 283–290.

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(NRW, CDU) erläuterte am 22. Juli 1948 gegenüber den alliierten Verbindungsoffizieren den Grund für die Ablehnung des von den Westalliierten geforderten Referendums. Er wies darauf hin, »daß das Interesse an der Vermeidung eines Abstimmungskampfes über dieses Referendum ebenso sehr im Interesse der Alliierten als der Deutschen liege. Ein Abstimmungskampf würde den Kommunisten eine einzigartige Möglichkeit einer Propaganda geben. Kommunisten und Nationalisten würden sich in der Bekämpfung einer vorläufigen Verfassung und eines sogenannten Weststaates die Hände reichen, und im Effekt würde es zu einer Abstimmung gegen die Besatzungsmächte und all jene, die mit ihnen zusammenarbeiten, kommen. Auf jeden Fall würde durch die Entfachung eines solchen Kampfes ohne Not ein Unsicherheitsfaktor in eine immerhin bislang gute Entwicklung getragen werden. Nicht zu übersehen sei auch die Gefahr, daß durch bewußte Stimmenthaltung oder Interessenlosigkeit die Wahlbeteiligung gering sein könnte. Ebenso müsse die Möglichkeit einer Ablehnung erwogen werden. Die kleinsten Länder könnten die Ablehnung bewirken, selbst wenn die Mehrzahl aller Wähler sich für die Annahme entscheiden sollte. Eine Ablehnung würde aber nicht nur als eine Ablehnung der Koblenzer Vorschläge, sondern möglicherweise als Verwerfung der Londoner Beschlüsse durch das deutsche Volk gedeutet werden können. Während also psychologische, politische und praktische Gründe gegen die Veranstaltung eines Referendums sprächen, könnte der Volkswille auch auf anderem Wege zum Ausdruck gebracht werden. Dem Verlangen des Generals Clay, eine Zustimmung zum Grundgesetz auf breiter Volksbasis herbeizuführen, würde Genüge getan, wenn die Landtage der einzelnen Länder ihre Zustimmung zum Grundgesetz geben würden.« 13 Die Entscheidung, das GG ohne Volksabstimmung in Kraft zu setzen, stand in Kontrast zur Aussage der später beschlossenen Präambel, »das Deutsche Volk« habe sich »kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«. Im Parlamentarischen Rat wurde wiederholt dafür plädiert, dass das, was er schaffe – so Carlo Schmid –, »seiner Legitimität nach auf Grund eines gesamtdeutschen Mandats, eines Mandats des deutschen Volkes« 14 geschehe. Der CDU-Abgeord-

13 14

Ebd., S. 265; vgl. ebd., S. 274. Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 182.

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Zur Entstehung des Grundgesetzes

nete Adolf Süsterhenn erklärte, man sei sich »einig und im klaren, daß wir hier als Sachwalter des deutschen Volkes […] stehen«. 15 Doch die Präambel wirft Probleme der Volkssouveränität und politischen Repräsentation auf. Angesichts der fiktiven Anrufung des ›Volkes‹ könnte man in Analogie zu Kants Postulaten der praktischen Vernunft auch in Bezug auf die Präambel des GG von einem pragmatischen ›Als-ob‹ sprechen. 16

4.1.1 Der vorbereitende ›Verfassungskonvent‹ Den Beratungen des Parlamentarischen Rates ging ein ›Verfassungskonvent‹ voraus, dem laut Beschluss einer Konferenz der Ministerpräsidenten vom 21./22. Juli 1948 die Aufgabe übertragen wurde, »einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, der dem Parlamentarischen Rat als Vorlage dienen soll«. 17 Dieser ›Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen‹ befasste sich im Plenum und in drei Unterausschüssen vom 10. bis 23. August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee mit dem Entwurf zu einem GG »für einen Bund deutscher Länder«. Jedes Land entsandte einen Delegierten 18 und hochrangige Mitarbeiter 19 in den mit Verfassungsexperten Ebd., S. 187. Siehe hierzu in diesem Buch Teil I, Abschnitt 2.3 und zu Volkssouveränität und politischer Repräsentation Sandkühler 2013, S. 532–552. 17 Der Parlamentarische Rat, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. v. P. Buchter, Boppard am Rhein 1981, S. IX. Zum Verfassungskonvent vgl. BauerKirsch 2005. 18 Die Bevollmächtigten der Länder waren: Baden: Paul Zürcher, Freiburg i. Br., Präsident des Badischen Staatsgerichtshofs; Bayern: Josef Schwalber, München, Staatssekretär; Bremen: Theodor Spitta, Bürgermeister; Hamburg: Wilhelm Drexelius, Senatssyndikus (Staatssekretär); Hessen: Hermann Louis Brill, Wiesbaden, Staatssekretär; Niedersachsen: Justus Danckwerts, Hannover, Ministerialrat; Nordrhein-Westfalen: Theodor Kordt, Professor für Völkerrecht und Diplomatie in Bonn; Rheinland-Pfalz: Adolf Süsterhenn, Koblenz, Justiz- und Kulturminister; Schleswig-Holstein: Fritz Baade, Professor am Kieler Institut für Weltwirtschaft; Württemberg-Baden: Josef Beyerle, Stuttgart, Justizminister; Württemberg-Hohenzollern: Carlo Schmid, Tübingen, Justizminister. 19 Die Mitarbeiter der stimmberechtigten Bevollmächtigten waren: Baden: Theodor Maunz, Hermann Fecht; Bayern: Ottmar Kollmann, Claus Leusser; Bremen: Gerhart Feine; Hamburg: Johannes Praß; Hessen: Karl Kanka; Niedersachsen: Ulrich Jäger; Nordrhein-Westfalen: Hans Berger; Rheinland-Pfalz: Bernhard Hülsmann, Klaus-Berto 15 16

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besetzten Konvent. Die – zu vielen Problemen kontroversen20 – Beratungen begannen nicht in einer verfassungspolitischen ›Stunde Null‹ ; bereits zuvor hatte es in Parteien wie SPD und CDU sowie in einzelnen Ländern – wie etwa Bayern 21 – verschiedenste Überlegungen und Entwürfe zu einer neuen Verfassung gegeben. 22 In seiner Rede zur Eröffnung des Konvents wies Anton Pfeiffer, der Chef der bayerischen Staatskanzlei, nachdrücklich darauf hin, der Auftrag des ›Expertenausschusses‹ könne sich nicht auf eine ›Verfassung‹, sondern nur auf ein Provisorium beziehen, auf ein »Grundgesetz für die Verwaltung der drei vereinigten Westzonen«, weil nicht alle deutschen Länder beteiligt seien und das deutsche Volk durch Besatzung in seiner Souveränität eingeschränkt sei. 23 In den Plenarberatungen wurde kontrovers erörtert, ob ein GG für einen ›Staat‹ oder für ein ›Staatsfragment‹ 24 – für ein »Provisorium« 25 – zu erarbeiten sei. Im Abschlussbericht des Verfassungskonvents hieß es zum »Charakter des zu schaffenden Bundes«: »Der Begriff ›Grundgesetz‹ ist vieldeutig. Er kann nach dem Sprachgebrauch eine Verfassung bezeichnen, also das rechtliche Gefüge und die Grundnormen eines Staates. Es ist aber von Doemming; Schleswig-Holstein: Friedrich Edding; Württemberg-Baden: Otto Küster, Kurt Held; Württemberg-Hohenzollern: Gustav von Schmoller. 20 Neben verfassungsrechtlichen und staatsorganisatorischen Detailfragen (Zwei-Kammer-System, Stellung eines Bundespräsidenten etc.) wurde um eine föderale Staatsstruktur mit weitreichenden Spielräumen für die Länder bzw. um eine zentralistische Struktur gerungen. Carlo Schmid bilanzierte nach dem Ende des Konvents: »Die Mitglieder des Ausschusses waren […] zunächst Techniker des Verfassungsrechtes. Sie hatten aber auch eine wichtige politische Funktion zu erfüllen. Diese bestand in der Aufgabe, deutlich zu machen, durch welche Grundvorstellungen die politische Auseinandersetzung heute bestimmt wird. Neben Parteistandpunkten, die im wesentlichen in einer verschiedenen Beurteilung des spezifischen Gewichts des Faktors ›Land‹ und des Faktors ›Zentralgewalt‹ zum Ausdruck kamen, machten sich auch, zum Teil über eine Parteizugehörigkeit der Länderdelegierten hinweg, sehr verschiedene Standpunkte der einzelnen Länder geltend, die in dem Verlangen nach mehr oder weniger Föderalismus zum Ausdruck kamen.« (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. CXXIX). 21 Zum ›Bayerischen Entwurf eines Grundgesetzes für den Verfassunskonvent‹ vgl. ebd., S. 1–34. Es handelte sich um eine Art Staatsorganisationsgesetz ohne Nennung der Würdenorm und von Grundrechten. Dieses Defizit wurde durch eine ›Ergänzung zu den Bayerischen Leitgedanken für die Schaffung eines Grundgesetzes‹ behoben: »Die Freiheitsrechte gewährleisten Menschenwürde […]«. Vgl. ebd., S. 44. 22 Vgl. ebd., S. XXXV–LXII, und Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. XXVIII f. 23 Ebd., S. 55. 24 Ebd., S. 192, 508 f. 25 Ebd., S. 190.

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Zur Entstehung des Grundgesetzes

ebenso möglich, daß mit der besonderen Wahl dieser Bezeichnung – anstatt des präziseren Wortes ›Verfassung‹ – von den Ministerpräsidenten zum Ausdruck gebracht werden wollte, daß die Aufgabe des Parlamentarischen Rates nicht darin bestehen solle, die rechtliche Ordnung für einen Staat im vollen und strengen Sinn des Wortes zu schaffen, sondern für ein hoheitliches Gebilde, dem gewisse Merkmale fehlen, die nur Staaten im vollen Sinne des Wortes eigentümlich sind.« 26 In diesem Kontext wurde im Konvent kontrovers diskutiert, für welche Art Staat nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 ein GG gelten solle. Zwei Positionen trafen aufeinander: (i) »Mehrheitsansicht: Das gesamtdeutsche Reich besteht fort, ist aber desorganisiert.« (ii) »Minderheitsstandpunkt: Es besteht kein deutscher Staat mehr, sondern nur die (neugeschaffenen) deutschen Länder.« 27 Dem Vorschlag des Konvents zufolge sollte nach der Einigung darüber, dass »die aufzunehmenden Grundrechte im wesentlichen auf die klassischen Individualrechte zu beschränken seien« 28, ›Art. A‹ des Grundgesetzes lauten: »(1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.« 29

Ebd., S. 506. Es gab im Konvent kein Mehrheitsprinzip (vgl. S. 62, 67). Der abschließende ›Bericht‹ des Verfassungsausschusses (vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. 504–630) enthielt Mehrheits- und Minderheitsvoten zu Verfassungsproblemen, einen 149 Artikel umfassenden Entwurf für ein GG sowie Kommentierungen und Begründungen. Die Ministerpräsidenten und die im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien sahen sich an den Entwurf nicht gebunden. (Vgl. ebd., S. CXV–CXXIV; zur Kontroverse, ob der Bericht einen GG-Entwurf enthalten solle, vgl. ebd., S. 344 ff.). 27 Ebd., S. 509 f. 28 So im Bericht des mit Grundsatzfragen befassten Unterausschusses I, ebd., S. 216. 29 Ebd., S. 217. Die Mitglieder des hier interessierenden, mit den Grundrechten befassten Unterausschusses I für Grundsatzfragen waren: Dr. Josef Beyerle, Staatsminister der Justiz, Stuttgart, Vorsitzender; Dr. Fecht, Staatsminister der Justiz, Freiburg i. B.; Dr. Josef Schwalber, Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium des Innern, München; Dr. Gert Feine, Oberregierungsrat, Bremen; Dr. Wilhelm Drexelius, Senatssyndikus, Hamburg; Dr. Hermann Brill, Professor, Staatssekretär und Leiter der hessischen Staatskanzlei, Wiesbaden; Dr. Justus Danckwerts, Ministerialrat, Hannover; Dr. Theo Kordt, Universitätsdozent, Düsseldorf; Dr. Adolf Süsterhenn, Minister der Justiz und für Unterricht und Kultus, Koblenz; Dr. Fritz Baade, Professor, Kiel; Dr. Karl [Carlo] Schmid, Professor, Justizminister und stellvertretender Staatspräsident, Tübingen. 26

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›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

4.1.2 Der Parlamentarische Rat 19481949 Dem am 1. September 1948 konstituierten Parlamentarischen Rat gehörten unter Leitung von Konrad Adenauer (CDU) 65 stimmberechtigte Abgeordnete der westlichen Besatzungszonen und fünf nicht stimmberechtigte Abgeordnete aus Berlin (West) an: CDU/CSU und SPD (je 27 Abgeordnete), FDP (5), KPD 30, Zentrumspartei und Deutsche Partei (DP) (je 2). 31 Im Parlamentarischen Rat trafen Gegner und Opfer des Nationalsozialismus auf Abgeordnete mit NS-Vergangenheit aufeinander: Hermann Höpker-Aschoff (FDP, Chefjurist der Haupttreuhandstelle Ost), Hans-Christoph Seebohm (DP, Mitbegründer der Egerländer Bergbau AG, einer ›Auffanggesellschaft‹ zur Übernahme jüdischen Eigentums), Paul Binder (CDU, Arisierungsexperte der Dresdner Bank), Adolf Blomeyer (CDU, Reiter-SA), Lambert Lensing (CDU, SA) und Hermann von Mangoldt (CDU). 32 Der Vorschlag der Vertreter der KPD, die als einzige von den interfraktionellen Beratungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates ausgeschlossen waren, Verhandlungen mit dem von der SED dominierten ›Deutschen Volksrat‹ über die ›Bildung einer einheitlichen deutschen demokratischen Republik‹ aufzunehmen (zur Begründung der KPD vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 504–507), ist im Parlamentarischen Rat abgelehnt worden. Im 1. Deutschen Volksrat wurde unter dem Vorsitz von Wilhelm Pieck (SED) ein Verfassungsausschuss gebildet, der unter der Leitung von Otto Grotewohl (SED) eine Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik erarbeiten sollte. Der vom Ausschuss erarbeitete Entwurf wurde am 22. Oktober 1948 vom Volksrat gebilligt und am 19. März 1949 beschlossen. Der 2. Deutsche Volksrat nahm am 30. Mai 1949 den Verfassungsentwurf an, konstituierte sich am 7. Oktober 1949 als provisorische Volkskammer und erklärte die Gründung der DDR. Weder der Entwurf der SED für eine DDR-Verfassung vom 14. November 1946 noch die am 7. Oktober 1949 in Kraft getretene Verfassung – »Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit anderen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben« – enthielten unter den Grundrechten (Art. 6–18) die im GG verankerte Würdenorm. Zu einem 1950 verfassten Vergleich des GG mit der DDR-Verfassung vgl. Abendroth 2008a. 31 Zu den Beratungen im Parlamentarischen Rat vgl. Enders 1997, Feldkamp 2008, Krenberger 2008, S. 285–292, Goos 2011, S. 75–94; zur Entstehung der Menschenwürdegarantie im GG vgl. u. a. auch Starck 1981, S. 457 f. 32 H. v. Mangoldt hatte in Rassenrecht und Judentum. In: Württembergische Verwaltungszeitschrift, Nr. 3, 15. März 1939, der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung die Verfolgung ›hoher ethischer Ziele‹ zugeschrieben: »Die durch diese Gesetze gesicherte Reinerhaltung des Blutes ist nicht Selbstzweck, sondern wie der Führer im Kampf (S. 434) gesagt hat, ›ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die 30

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Wie angesichts der heterogenen Vergangenheit und Parteizugehörigkeit nicht anders zu erwarten, gab es eine Vielfalt konkurrierender Würdevorstellungen und Begründungen für Art. 1 Abs. 1 GG, die eine einvernehmliche Definition von ›Menschenwürde‹ nicht zulassen konnten. 33 Bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes konnte man sich auf Art. 100 der bayerischen Verfassung vom 2. Dezember 1946 beziehen: »Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege zu achten.« In der Verfassung des Landes Hessen vom 11. Dezember 1946 heißt es entsprechend in Art. 3: »Leben und Gesundheit, Ehre und Würde des Menschen sind unantastbar.« Art. 5 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 lautet: »Die Würde der menschlichen Persönlichkeit wird anerkannt und vom Staate geachtet.« Mit der Formulierung von Grundrechten, die im GG auf die »klassischen Grundrechte« (im Unterschied zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechten34) beschränkt sein sollten 35, mit den Bestimmungen zu den völkerrechtlichen Verhältnissen des Bundes und zum Verhältnis des Bundes zu den Ländern waren – gestützt auf vorbereitende Arbeiten von internen Redaktionsausschüssen – die zwölf Mitglieder des von Hermann v. Mangoldt geleiteten, seit dem 15. September 1948 arbeitenden ›Ausschusses für Grundsatzfragen‹ befasst; CDU und SPD hatten je fünf Stimmen, die FDP eine und DP, KPD und Zentrum gemeinsam eine Stimme. 36 Bei kontroversen Positionen Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde eines höheren Menschentums schaffen‹.«. Vgl. U. Vosgerau, Hermann von Mangoldt. In: G. Buchstab/H.-O. Kleinmann, In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948/49, Freiburg 2008, S. 271, 276. 33 Vgl. Lange 1993. 34 Zu Beratungen über eine Erweiterung der ›klassischen‹ Grundrechte vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 215–219. Zu einer Eingabe der KPD zu 28 Artikeln zu sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten vgl. ebd., S. 253–259, und Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 868–871. 35 Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. XXXIV f. Siehe in diesem Buch Abschnitt 8.2 Menschenwürde und soziale Menschen- und Grundrechte. 36 Vgl. ebd., S. X. Die CDU entsandte Hermann v. Mangoldt, Karl Sigmund Mayr, Anton Pfeiffer, Josef Schrage und Helene Weber, die SPD Ludwig Bergsträsser, Friederike Nadig, Carlo Schmid, Hans Wunderlich und August Zinn, die FDP Theodor Heuss, die DP Wilhelm Heile.

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wurde nicht abgestimmt, sondern es wurden dem ›Hauptausschuss‹ Alternativen unterbreitet. In der 2. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen berichteten Anton Pfeiffer und Carlo Schmid über den Herrenchiemsee-Verfassungskonvent 37, dessen Ergebnisse Carlo Schmid als »Arbeitshilfe« und als ein »Memorandum« bezeichnete, das »keine Vorlage« sei und »überhaupt keinen offiziellen Charakter« habe. 38 Anlässlich der Festsetzung der Beratungsthemen und nach dem Vorschlag von Schmid, sich zunächst »dem Kapitel zu[zu]wendenden, dem das logische Prius zukommt: den Grundrechten«, warf Theodor Heuss folgende »Vorfrage« auf: »Sollen die Grundrechte einen deklaratorischen oder aber einen juristisch verbindlichen Charakter haben? Darüber müßte man sich von Anfang an klar sein. Die Frage ist: Soll es sich bei den Grundrechten um Bekenntnisse handeln, zu denen wir uns hier zusammenfinden, oder wollen wir dem Staatsbürger im bürgerlichen Leben praktisch-juristische Handhaben geben, die einklagbar sind?« Es entspann sich eine längere Debatte: »Zinn: Ich meine, man sollte von allem absehen, was deklaratorischen Charakter, was den Charakter eines Bekenntnisses hat. Wir sollten uns darauf beschränken, nur jene Grundrechte aufzuführen, die reale Bedeutung haben. Auf diese Weise kommen wir am schnellsten voran. Vors. Dr. von Mangoldt: […] Zunächst müssen wir uns über den Umfang der Grundrechte klar werden. Sollen wir uns auf einen kurzgefaßten Katalog beschränken? Sollen wir nur gewisse Grundsätze in die Präambel aufnehmen? Oder sollen wir einen besonderen Grundrechtsteil schaffen? Man kann darüber streiten. Die einzelnen Grundrechte haben eine lange Geschichte, und man wird bei dem einen oder anderen Grundrecht wohl auf Einzelheiten eingehen müssen. Dr. Bergsträsser: Über die personellen klassischen Grundrechte liegt viel Material vor, das einer unmittelbaren Bearbeitung durchaus zugänglich ist. Man denke an das Recht auf Freiheit und Gleichheit. Außerdem liegt uns der Herrenchiemseer Bericht als Leitfaden vor. Ferner haben wir die übrigen Verfassungen zur Hand, neuerdings auch den Entwurf der UNO [zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte]. Die Formulierungen dürften zum großen Teil nicht strittig sein. Überdies sind die personellen Grundrechte mit den übrigen Fragen der Verfassung nicht unmit37 38

Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 3–9. Ebd., S. 6.

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telbar verzahnt, dürften also schnell klärungsreif sein. […] Dr. Schmid: Auch ich halte es für unnötig, über die Frage der Grundrechte umfassende Vorbesprechungen zu pflegen. Es tritt ja einigermaßen klar zutage, wo es sich im einzelnen Falle um ein echtes Grundrecht handelt, also um ein konkretes Recht, oder nur um eine Deklamation. Ich halte es überhaupt für sinnwidrig, Deklamationen und Deklarationen in die Verfassung aufzunehmen. Wohl aber ist es praktisch notwendig, einen Katalog jener Grundrechte aufzustellen, die bindendes Recht für die Gerichte sind und auf die sich der einzelne Bürger berufen kann, um einen konkreten Rechtsanspruch einzuklagen oder umgekehrt einen Eingriff des Staates in seine Freiheitssphäre abzuwehren. Man kann sich auch darüber verständigen, ob es sich verlohnt, die sogenannten Lebensordnungen, diese ›unechten‹ Grundrechte in den Katalog aufzunehmen. Ich meine, für unsere Verfassung ist das nicht notwendig. Sie ist nur ein Notdach, und zudem ist ein Drittel des Volkes zur Bestimmung dieser Lebensordnungen noch nicht zugelassen. […] Vors. Dr. von Mangoldt: So einfach liegt die Frage doch nicht. Wenn man von den Grundrechten spricht, dann ist die Garantie der Grundrechte in diesem unserem Staatswesen von wesentlicher Bedeutung. Sofort erhebt sich die Frage: Inwieweit können wir in diesem Staat die Grundrechte überhaupt garantieren? Diese Frage hängt mit der Staatsform unmittelbar zusammen. Es besteht die Gefahr, daß der Vorwurf, den man wegen der Festlegung der Grundrechte in den Verfassungen der süddeutschen Länder erhoben hat, in gleicher Weise uns gegenüber auftauchen wird, daß Freiheiten festgelegt werden, die praktisch nicht durchführbar sind, weil sie von der Stellungnahme der Besatzungsmacht abhängen. Vielleicht wäre es sogar zweckmäßig, besonders zu erklären, daß die Garantie der im Katalog aufgeführten Grundrechte weitgehend von dem Ermessen der Besatzungsmächte abhängig ist. Es gibt ja nichts Schlimmeres in unserer ganzen Entwicklung, als wenn man den Mangel an Vertrauen in das neue Recht noch verschärft […].« 39 Strittig war neben der Frage, ob man in das zu schaffende GG nur die ›klassischen‹ Grundrechte (negative Freiheitsrechte bzw. Abwehrrechte) aufnehmen solle oder auch soziale und wirtschaftliche Grundrechte, vor allem eine zweite Frage: Sollten die Grundrechte im Sinne des Naturrechts als vorstaatliche bzw. vorverfassungsrechtliche Rechte 39

Ebd., S. 9 f.

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verstanden und begründet werden, oder als Normen positiven Verfassungsrechts? 40 Der Liberale Th. Heuss glaubte »nicht an die von Natur aus eigenen Rechte«. An seine Frau schrieb er am 23. 9. 1948, er habe »die Genugtuung, das antistaatliche ›Naturrechts‹-Gerede enttarnt zu haben«. 41 Auch H. v. Mangoldt räumte ein, »daß mit dem Naturrecht allein […] bei der praktischen Verwirklichung der Rechte des einzelnen sehr wenig anzufangen ist«. 42 Als Berichterstatter vertrat der Hessische Minister für Justiz August Zinn (SPD) in der 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen die These, man könne die Grundrechte »in einem gewissen Umfang in das Staatsgrundgesetz aufnehmen, wenn man sie als vorverfassungsmäßiges Recht ansieht. Nach den Exzessen der staatlichen Macht in den vergangenen 12 Jahren haben auch die klassischen Grundrechte wieder eine evidente Bedeutung erlangt. […] Dabei kann es sich allerdings nur um einen beschränkten Kreis von Grundrechten, um die sogenannten klassischen Grundrechte handeln: das allgemeine Freiheitsrecht, das Recht der persönlichen Freiheit, das Recht der Gewissensund Glaubensfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, alles Rechte, die seither allgemeine Anerkennung gefunden haben.« 43 H. v. Mangoldt nahm das Thema ›vorverfassungsmäßige Rechte‹ unter dem Titel ›Naturrecht‹ auf 44: Es sei »richtig ausgeführt worden, daß die Grundrechte vielfach als Rechte anzusehen sind, die vor der Verfassung stehen. In der allgemeinen Aussprache im Plenum wurde wiederholt gefordert, daß wir zum Naturrecht zurück müßten. Dieser Ruf: Zurück zum Naturrecht! besagt: Vor dem geschriebenen Gesetz gibt es Rechtssätze, die, ohne geschrieben zu sein, allgemein bindenden Charakter haben. Vielfach hat man die Grundrechte nicht in die Verfassungen aufgenommen, weil man sagte, diese ungeschriebenen Rechtssätze lebten unmittelbar im Volke, im Volksbewußtsein, seien Allgemeingut, und deshalb brauche man sie nicht zu fixieren. Gerade die jüngere Vergangenheit hat uns aber gezeigt, wie notwendig es ist, Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. 821; Isensee/Kirchhof 2012, § 204, S. 21 f. Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe, Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie, Briefe 1945–1949, hg. u. bearb. v. E. W. Becker, München 2007, S. 409. 42 Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 68 und 72–75. 43 Ebd., S. 35. Hervorh. v. mir. 44 H. v. Mangoldts These lautete, »daß die Grundrechte auf vorstaatlichen Rechten beruhen, die von Natur gegeben sind«. (Ebd., S. 63). 40 41

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solche Grundrechte dem Volke ins Gedächtnis zurückzurufen, indem man sie in der Verfassung verankert. Man hat in der allgemeinen Aussprache im Plenum mehrfach gesagt, in den Grundrechten sei etwas festgelegt, was dem Naturrecht angehöre; damit verankre man etwas, was vorverfassungsrechtlich sei. Ich möchte nun gern die Auffassung des Ausschusses feststellen, ob es sich empfiehlt, die vorverfassungsrechtlichen Grundrechte von den anderen zu trennen. […] Wir müssen uns nun entscheiden, ob wir im Hinblick auf die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit solche vorverfassungsrechtlichenSätze aufnehmen wollen. Ich würde die Frage bejahen und in dieser Richtung keine Schranke annehmen. Erhebt sich Widerspruch? – Dann darf ich das als zweiten Beschluß des Ausschusses feststellen.« 45 H. v. Mangoldts Interpretation der Grundrechte stieß bei Th. Heuss auf Widerspruch: »Man hat heute viel vom Vorverfassungsrecht, von Naturrecht gesprochen. Wir sollten das nicht allzu stark betonen. Ich habe vor dem Naturrecht allen ihm gebührenden Respekt. Aber das Naturrecht ist wohl mehr eine moralisch-pädagogische These. Man kann ein Naturrecht nicht einklagen. Man muß auch die naturrechtlichen Grundpositionen in eine Form bringen, die zwar nicht die Enge, wohl aber die Klarheit des Juristischen hat. Wir werden bei zahllosen Formulierungen vor der Frage stehen, wie die Ordnung im einzelnen zu gestalten ist. Wir werden die Juristen, den Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die Verwaltung ansprechen; gleichzeitig wollen wir aber auch den Bürger als solchen ansprechen. Wir stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen juristischer Formulierung und moralisch-politischer Deklaration. Es gilt, die Dinge zu konkretisieren.« 46 In diesem Kontext und erst in der 3. Ausschusssitzung tauchte der Begriff ›Menschenwürde‹ auf. Th. Heuss erklärte: »Ich habe mir als Art. 1 ausgedacht: Die Würde des menschlichen Wesens steht unter dem Schutz staatlicher Ordnung. Das ist Proklamation, Deklaration und Rechtssatz.« 47 In der 4. Sitzung lag folgende von Bergstraesser, Zinn und v. Mangoldt vorbereitete Formulierung vor: »Art. 1 Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten. Das deutsche Volk erkennt sie erneut als Grundlage aller Ebd., S. 40; »keine Schranke annehmen« bedeutet, bestimmte Grundrechte nicht unter Gesetzesvorbehalt zu stellen. 46 Ebd., S. 44; vgl. ebd., S. 72. 47 Ebd., S. 52. 45

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menschlichen Gemeinschaften an. Deshalb werden Grundrechte gewährleistet, die Gesetzgebung, Verwaltungs- und Rechtspflege auch in den Ländern als unmittelbar geltendes Recht binden.« 48 H. v. Mangoldt erläuterte: »Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird.« 49 In der Debatte pro oder contra Naturrecht wandte C. Schmid ein: »Mir liegt daran, folgendes klarzulegen. Es handelt sich nicht darum, daß wir, von einem philosophischen Naturrechtsdenken ausgehend, sagen: da der Mensch wesensmäßig durch das und das determiniert ist, ergeben sich daraus die und die natürlichen Rechte. Vielmehr müssen wir von einem historischen Naturrechtsbegriff, der nur scheinbar eine contradictio in adjecto ist, ausgehen und sagen: In dieser Sphäre der geschichtlichen Entwicklung sind wir Deutsche nicht bereit, unterhalb eines Freiheitsstandards zu leben, der den Menschen die und die und die Freiheiten als vom Staate nicht betreffbar garantiert.« 50 In dieser Debatte begründete Th. Heuss seine vielzitierte Formulierung zur ›Menschenwürde‹ als »nicht interpretierte These« 51: »Der erste Satz muß sozusagen das Ganze decken. Ich habe da vor mir selber ein Gefühl der Unsicherheit. Ich möchte bei der Formung des ersten Absatzes von der Menschenwürde ausgehen, die der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen kann. Ich bin so zu folgender Fassung gekommen: Die Würde des menschlichen Wesens steht im Schutze der staatlichen Ordnung.« 52 Der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates, dem unter Leitung von Carlo Schmid 21 Mitglieder angehörten 53, hat sich erst von seiner 17. Sitzung am 3. Dezember 1948 an mit »Art. 1: Würde des Ebd., S. 62, Fn. 3. Einer vom Allgemeinen Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates in erster Lesung formulierten Fassung zufolge sollte Art. 1 lauten: »Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist heilige Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« (Der Parlamentarische Rat: 1948–1949; Akten und Protokolle, Bd. 5/2: Ausschuß für Grundsatzfragen, bearb. v. E. Pikart/W. Werner, Boppard am Rhein 1993, S. 578). Die in zweiter Lesung angenommene Fassung lautete: »Die Würde des Menschen steht unter dem Schutz der staatlichen Ordnung.« (Ebd., S. 784). 49 Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 64. 50 Ebd., S. 67. 51 Ebd., S. 72. Zu den weiteren Debatten über die Menschenwürdenorm in der 22., 23. und 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 584–604 und 910–913. 52 Ebd., S. 67. 53 Je 8 von CDU und SPD, 2 der FDP und je 1 der DP, der KPD und des Zentrums. 48

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Menschen« befasst. 54 In Abänderung seiner am 10. Dezember 1948 in erster Lesung angenommenen Fassung hat er am 20. Januar 1949 in zweiter Lesung folgende Fassung zu Art. 1 GG vorgelegt: »(1) Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Bereit, für die dauernde Achtung und Sicherung der Menschenwürde einzustehen, erkennt das deutsche Volk jene unverletzlichen und unveräußerlichen Freiheits- und Menschenrechte an, auf denen Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ruhen. (3) Diese Grundrechte, für unser Volk aus unserer Zeit geformt und niedergelegt, binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung des Bundes und der Länder als unmittelbar geltendes Recht.« 55 Der Allgemeine Redaktionsausschuss hat beanstandet, dass in Art. 1 Abs. 1 nicht zum Ausdruck komme, »dass die Würde des Menschen der Disposition des Staates, insbesondere des Gesetzgebers, entzogen sein sollte«. 56 Die SPD hat im April 1949 einen ›Vereinfachten Entwurf‹ zum GG vorgelegt, dem zufolge sowohl auf die Präambel als auch auf die Art. 1 und 2 verzichtet werden sollte. 57 Endgültig beschlossen 58 wurde die über die ersten Normierungen in Landesverfassungen hinausgehende Formulierung 59, die mit dem GG am 23. Mai 1949 in Kraft trat: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle. Bd. 14, Hauptausschuss, Teilbd. 14/1, bearb. v. M. F. Feldkamp, München 2009, S. 508. 55 Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle. Bd. 7, Entwürfe zum Grundgesetz, bearb. v. M. Hollmann, Boppard am Rhein 1995, S. 204. 56 Ebd., Anm. 1. 57 Der Parlamentarische Rat, Bd. 7, S. 462. Zu interfraktionellen Diskussionen über diesen Vorschlag der SPD, der von den anderen Parteien abgelehnt wurde, vgl. Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle. Bd. 11: Interfraktionelle Besprechungen, bearb. v. M. F. Feldkamp, München 1997, S. 208–210. 58 Das GG wurde im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 mit 53 Ja- bei 12 NeinStimmen angenommen. Sechs Abgeordnete der CSU, die Abgeordneten der DP, der Zentrumspartei sowie der KPD votierten mit ›Nein‹. Die Militärgouverneure, mit denen zähe Verhandlungen stattgefunden hatten (vgl. Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Bd. 8: Die Beziehungen des Parlamtentarischen Rates zu den Militärregierungen, bearb. v. M. F. Feldkamp, Boppard am Rhein 1995), genehmigten das GG am 12. Mai 1949 (vgl. ebd., S. 264–269) mit einigen in einem Schreiben der Militärgouverneure an Konrad Adenauer vom 12. Mai 1949 formulierten Vorbehalten, vor allem im Hinblick auf den Sonderstatus Berlins sowie den Vorrang des am 12. Mai 1949 von den drei Militärgouverneuren und Oberbefehlshabern förmlich verkündeten ›Besatzungsstatuts‹ vor der deutschen Gesetzgebung, das die Abgrenzung der Befugnisse und Verantwortlichkeiten zwischen der künftigen deutschen Bundesregierung und der Alliierten Hohen Kommission regelte. 59 Diese Formulierung entspricht der vom Allgemeinen Redaktionsausschuss des Par54

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»Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.«

Das GG ist ein normatives Gegenprogramm, in erster Linie gegen den Nationalsozialismus, aber unter den Bedingungen des beginnenden ›Kalten Krieges‹, der deutschen Teilung und der sich abzeichnenen Eigenstaatlichkeit der DDR auch gegen den ›Bolschewismus‹, gegen ›den Russen‹, gegen ›Pankow‹ – für Konrad Adenauer und die CDU, aber auch für die Sozialdemokratie und die Liberalen das Sinnbild des Bösen schlechthin. Das GG war trotz seines Kompromisscharakters und trotz des Fehlens detaillierter sozialer Grundrechte als Programm das Signal für einen wirklichen Neubeginn nach 1945. Doch der mit ihm verbundene Geltungsanspruch traf auf eine Faktizität, in der seine Akzeptanz auf Hindernisse stieß. Nicht nur, dass seine Legitimität und Repräsentativität von radikal föderalistischen Kreisen wie in Bayern, von noch bestehenden nationalistischen Parteien, von katholischen Organisationen und Institutionen sowie von Kommunisten bestritten wurde, die den ›Weststaat‹ als Instrument der ›imperialistischen USA‹ ablehnten; und nicht nur, dass das GG – wie zuvor die Nürnberger Prozesse – als Werk der Siegermächte denunziert wurde. Die eigentlichen Barrieren bestanden in der Mentalität großer Teile der Bevölkerung, für die Pluralismus, Parlamentarismus, Republik und Demokratie keine verinnerlichten Werte waren, die Weimarer Republik nichts als Scheitern bedeutete und ›unter Hitler nicht alles schlecht war‹. Das Unrechtsbewusstsein vieler Menschen war unterentwickelt; sie waren kaum bereit, sich zu ihrer Schuld zu bekennen. Für viele war angesichts von Hunger und Not selbstverständlich, was B. Brechts ›Ballade über die Frage: »Wovon lebt der Mensch«?‹ aussagte: »Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben/Und Sünd und Missetat vermeiden kann/Zuerst müßt ihr uns lamentarischen Rates am 13. Dezember 1948 vorgelegten Fassung (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 876), den vom Fünfer-Ausschuss für die dritte Lesung des GG im Hauptausschuss eingebrachten Änderungsvorschlägen (Der Parlamentarische Rat, Bd. 7, S. 298) sowie der vom Hauptausschuss in vierter Lesung angenommenen Fassung (5. Mai 1949, ebd., S. 532).

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was zu fressen geben/Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.« 60 In dieser Situation wurde die Politik des ›Schlussstrichs unter die Vergangenheit‹ in dem Maße mehrheitlich hingenommen oder begrüßt, wie das Schreckgespenst des Bolschewismus mobilisiert werden konnte und der zum ›Wirtschaftswunder‹ führende materielle Wiederaufbau als der eigentliche Neubeginn gefeiert wurde. In verschiedener Hinsicht hat diese Faktizität auch in den Beratungen über das GG ihre Spuren hinterlassen, etwa im Streit über Naturrecht vs. positives Recht. In dieser Situation innerer Zerrissenheit der Gesellschaft war es auch nicht zu erwarten, dass im GG die Würde des Menschen definiert worden wäre. Bereits im Parlamentarischen Rat hatte Theodor Heuss geltend gemacht, dass unterschiedliche Verständnisse der Würdenorm möglich seien und diese Differenzen deren normative Geltung nicht beeinträchtigten. Die Forderung, die Menschenwürde als ›von Gott gegeben‹ zu bestimmen, stieß auf seinen nachdrücklichen Widerstand; eine Würde-Definition lehnte er ab. Auch Hermann von Mangoldt, der in der 42. Sitzung des Hauptausschusses am 18. Januar 1949 erklärte, »daß für uns das Wichtigste, das am Anfang zu stehen hat, die Betonung der Menschenwürde ist«, pflichtete der Pluralität der Würdeverständnisse im Prinzip bei: »In den Grundrechten sollte […] das Verhältnis des einzelnen zum Staate geregelt werden, der Allmacht des Staates Schranken gesetzt werden, damit der Mensch in seiner Würde wieder anerkannt werde. Dabei wurden diese Rechte als vorstaatlich betrachtet, und zwar je nach dem weltanschaulichen Standpunkt als von Gott gegebene und angeborene oder als naturgegebene und unveräußerliche Rechte.« 61 Trotz mehrfacher Versuche, zu einer konsensfähigen Würdedefinition zu gelangen, blieb Art. 1 Abs. 1 GG undefiniert. »›Nicht interpretiert‹ ist das axiomatisch gesetzte Konstitutionsprinzip der Würde geblieben, weil die Interpretation im Sinne einer bestimmten Philosophie, Religion oder Weltanschauung den angestrebten Grundkonsens der Verfassunggebung verhindert und gegen die betreffende Neutralität des neu zu verfassenden Staates verstoßen hätte. Allerdings darf eine ›nicht interpretierte‹ These nicht als ›inhaltsleere‹ These mißverB. Brecht, Die Dreigroschenoper: der Erstdruck 1928. Mit einem Kommentar hg. v. J. Lucchesi, Frankfurt/M. 2004. 61 Zit. nach V. Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Düsseldorf 1971, S. 7. 60

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standen werden. Sie richtet sich nur gegen die Festlegung auf eine staatlicherseits bestimmte Ideologie.« 62 Carlo Schmid erklärte in der 2. Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 8. September 1948 zum Status und zur Funktion des GG: »Eine Verfassung ist die Gesamtentscheidung eines freien Volkes über die Formen und die Inhalte seiner politischen Existenz. Eine solche Verfassung ist dann die Grundnorm des Staates. Sie bestimmt in letzter Instanz, ohne auf einen Dritten zurückgeführt zu werden brauchen, die Abgrenzung der Hoheitsverhältnisse auf dem Gebiet und dazu bestimmt sie die Rechte der Individuen und die Grenzen der Staatsgewalt. Nichts steht über ihr, niemand kann sie außer Kraft setzen, niemand kann sie ignorieren. Eine Verfassung ist nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheit eines Volkes. Darin liegt ihr Pathos, und dafür sind die Völker auf die Barrikaden gegangen. […] Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muß man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen. […] In den modernen Verfassungen finden wir überall Kataloge von Grundrechten, in denen das Recht der Personen, der Individuen, gegen die Ansprüche der Staatsraison geschützt wird. Der Staat soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist, wenn er nur einen willfährigen Gesetzgeber findet, sondern der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können. Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren; sie dürfen nicht nur ein Anhängsel des Grundgesetzes sein, wie der Grundrechtskatalog von Weimar ein Anhängsel der Verfassung gewesen ist. Diese Grundrechte sollen nicht bloße Deklamationen, Deklarationen oder Direktiven sein, nicht nur Anforderungen an die Länderverfassungen, nicht nur eine Garantie der Länder-Grundrechte, sondern unmittelbar geltendes Bundesrecht, auf Grund dessen jeder einzelne Deutsche, jeder einzelne Bewohner unseres Landes vor den Gerichten soll Klage erheben können.« 63 Nach Carlo Schmid sprach Adolf Süsterhenn (CDU, Justiz- und Kultusminister von Rheinland-Pfalz). Bereits hier zeigten sich die zwi62 63

Gröschner 2008, S. 217. Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 21 ff.

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schen den Fraktionen – weniger in den Zielen als in den Begründungen – divergierenden Auffassungen: »Wir müssen wieder zurück zu der Erkenntnis, daß der Mensch nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist. […] Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit. Ihnen hat der Staat zu dienen, indem er die äußeren Voraussetzungen und Einrichtungen schafft, die es dem Menschen ermöglichen, seine körperlichen und geistigen Anlagen zu entwickeln, seine Persönlichkeit innerhalb der durch die natürlichen Sittengesetze gegebenen Schranken frei zu entfalten. Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen und der innerstaatlichen Gemeinschaften durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern. Der Staat darf nicht Selbstzweck sein, sondern muß sich seiner subsidiären Funktion gegenüber dem Einzelmenschen und den verschiedenen innerstaatlichen Gemeinschaften stets bewußt bleiben. Das ist aber nur möglich, wenn wir uns endgültig von dem Geiste des Rechtspositivismus abwenden, wonach der in ordnungsmäßiger Form zustandegekommene staatliche Gesetzesbefehl immer Recht schafft ohne Rücksicht auf seinen sittlichen Inhalt. Der Staat ist für uns nicht die Quelle allen Rechts, sondern selbst dem Recht unterworfen. Es gibt, wie auch der Herr Kollege Schmid heute vormittag hervorhob, vor- und überstaatliche Rechte, die sich aus der Natur und dem Wesen des Menschen und der verschiedenen menschlichen Lebensgemeinschaften ergeben, die der Staat zu respektieren hat. Jede Staatsgewalt findet ihre Begrenzung an diesen natürlichen, gottgewollten Rechten des einzelnen, der Familien, der Gemeinden, der Heimatlandschaften und der beruflichen Leistungsgemeinschaften. Es ist die Aufgabe des Staates, diese Rechte zu schützen und zu wahren.« 64 Es gab sowohl im vorbereitenden Verfassungskonvent als auch im Parlamentarischen Rat einen »Spannungsbogen zwischen christlicher imago-Dei-Lehre, rational-aufklärerischem Vernunftrecht und einem wie auch immer geläuterten Rechtspositivismus«. In diesem Spannungsfeld – so bilanziert E. Denninger – »vollzogen sich die langwierigen, von immer wieder veränderten Textvorschlägen begleiteten Diskussionen in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates zur Garantie der Menschenwürde und zur Verankerung und Bedeutung 64

Ebd., S. 55.

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der Menschen- und Grundrechte. Dabei wollte man etwas im Grunde Unvereinbares, der Quadratur des Kreises Ähnliches, nämlich dreierlei erreichen: Erstens sollte den Grundrechten und der Unantastbarkeit der Menschenwürde als der ›Quelle aller Grundrechte‹ – so heute Art. 14 der Sächsischen Verfassung – nicht bloßer Programmcharakter, sondern unmittelbare Rechtsgeltung, somit Anwendbarkeit und Vollziehbarkeit zukommen; zweitens wollte man aber dieses überaus kostbare positive Recht gegen ja gerade erst unter der Ns.-Diktatur erlittene Perversionen des sogar verfassungsändernden Gesetzgebers sichern und es deshalb in einer ›vorstaatlichen‹ oder ›überstaatlichen‹ Sphäre verankern; und drittens wollte man andererseits doch den unmittelbaren Einbruch naturrechtlicher Argumentationen in den juristischen Alltag verhindern, der endlose Streit unterschiedlicher Naturrechtspositionen sollte nicht die Interpretation des Grundgesetzes belasten, man wollte naturrechtliche Absolutheitsansprüche abwehren und verhindern, dass jedermann sich auf sein Verständnis von Naturrecht sollte berufen dürfen. So kam es, dass weder die frühe Fassung des Garantie-Satzes: ›Die Würde des Menschen beruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten‹ noch auch die spätere, von Süsterhenn formulierte Fassung: ›Die Würde des Menschen ist begründet in ewigen, von Gott gegebenen Rechten‹ die Zustimmung des Plenums fand. Das Fehlen jeglichen vor- oder überstaatlichen Bezuges auf Gott oder die Natur des Menschen im schließlich verabschiedeten Text wird in den heute maßgeblichen Kommentierungen des Garantie-Satzes […] übereinstimmend als Ausweis seiner Rechtspositivität verstanden.« 65 Gestützt auf seine Analyse der Debatten im Parlamentarischen Rat über die Menschenwürde und auf die Unterscheidung Carlo Schmids »zwischen der ›Würde‹ des Menschen – seiner inneren Freiheit – und der ›irdischen‹, äußeren Freiheit, die dem Galeerensklave verwehrt wird«, hat Ch. Goos eine Lesart von Art. 1 Abs. 1 GG vorgeschlagen, die dessen juridischen normativen Sinn auf eine einzige Bedeutungsimplikation reduziert und so verzerrt: »Die innere Freiheit des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Ver-

Denninger 2011. Zit. nach der Fassung seines Vortrags bei der Tagung ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹ am 11. 7. 2009 in der Evangelischen Akademie Tutzing: web.ev-akademie-tutzing.de/cms/get_it.php?ID=1076. Zur Naturrechtsdebatte im Parlamentarischen Rat vgl. Goos 2011, S. 86–90.

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Zur Entstehung des Grundgesetzes

pflichtung aller staatlichen Gewalt.« Gemeint ist »geistige Freiheit« 66, eine »Freiheit von Zwang, gegen seine Überzeugung zu handeln: Ein Staat, der mit der Würde des Menschen dessen innere Freiheit anerkennt, darf keinen Überzeugungszwang anwenden, da er damit die innere Freiheit des Menschen im Kern träfe.« 67 Damit nähert sich Goos – vermutlich ungewollt – einem nach 1945 von Persönlichkeiten der ›inneren Emigration‹ gehegten Topos an, den KZ-Häftlinge und durch Zwangsarbeit Ermordete kaum verstanden haben dürften. Dieser Topos findet sich z. B. in einem Gedicht des NS-kritischen katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider zum ›Fest der Erscheinung des hl. Erzengels Michael‹, dessen Untertitel das Datum »8. 5. 45« trägt: »In Ketten frei!« In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1956 hat Schneider dies mit den Worten variiert, »daß man einen innerlich freien und gewissenhaften Menschen zwar vernichten, aber nicht zum Sklaven machen kann«. 68 Ch. Enders hat in seiner Auswertung der Protokolle des Parlamentarischen Rates in Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung: zur Dogmatik des Art. 1 GG eine bemerkenswerte und problematische These zum Verzicht auf eine Würdedefinition im Grundgesetz vertreten: Art. 1 Abs. 1 bezeichne, »was den Menschen in seinem Wesen ausmacht und was daher auch in seiner besonderen Beziehung zum Göttlichen Ausdruck gefunden hat. Dies ist aber das letztlich Unaussprechliche, die Wahrheit selbst. Dadurch wird die Bestimmung des Rechtsgehalts der Menschenwürde erschwert.«69 Der Parlamentarische Rat habe »die Botschaft der Menschenwürde ganz im Sinne einer zunächst vorstaatlichen, allerdings an den Staat adressierten, und jeden-

Goos 2011, S. 139. Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 139: »Die ›Würde des Menschen‹ ist eine Chiffre für die ›innere Freiheit‹.« 68 Ein anderes signifikantes Beispiel für die politische Funktion des Topos ›In Ketten frei‹ ist eine Predigt Johannes Paul II. anlässlich einer Pastoralreise nach Rumänien am 8. Mai 1999: »Geliebte Brüder, eure Ketten, die Ketten eures Volkes sind die Ehre, der Stolz der Kirche: Die Wahrheit hat euch frei gemacht! Man hat versucht, eure Freiheit zum Schweigen zu bringen, sie zu ersticken, aber es ist ihnen nicht gelungen. Ihr seid innerlich frei geblieben, auch in Ketten; frei, auch in Leid und Entbehrung; frei, auch wenn eure Gemeinden geschändet und geschlagen wurden.« (http://www.vatican.va/ holy_father/john_paul_ii/homilies/1999/documents/hf_jp-ii_hom_19990508_bucarest _ge.html). 69 Enders 1997, S. 170. Diesen Hinweis verdanke ich Goos 2011, S. 14. 66 67

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falls näherer Definition unzugänglichen Verpflichtung« verstanden. 70 Enders These gipfelt in der Behauptung, die Menschenwürde stelle den »unhinterfragbaren und daher konsequenterweise undefinierten Ausgangspunkt« 71 der Verfassungsordnung dar.

4.2 Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹ In der verfassungsrechtlichen Literatur 72, in Grundgesetz-Kommentaren und in Entscheidungen des BVerfGE wird Art. 1 Abs. 1 als »Grundnorm«73, »tragendes Konstitutionsprinzip« 74 und »oberster Verfassungswert« 75, als »›höchster Rechtswert‹ innerhalb der Verfassungsordnung«76, als die »Wurzel aller Grundrechte« und »mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig« 77, als »die ›Schlüsselnorm‹ für das Verständnis des ganzen Grundgesetzes« 78 oder auch als Verfassungsgarantie mit »der Bedeutung eines höchsten Menschenrechtes« 79 bezeichnet. In einer anderen Variante erscheint die Menschenwürde als »absolute Stoppregel des Rechtsdiskurses«.80 Mit allen diesen Bezeichnungen verbunden ist die Annahme der »Durchdringungswirkung« des Menschenwürdegrundrechts »auf die anderen Grundrechte und die ihnen gleichgestellten Rechte«. 81 Die Menschenwürde ist durch Art. 1 Abs. 2 GG auf die Menschenrechte bezogen: »Abs. 2 verdeutlicht, dass die Grundrechte des Grundgesetzes ›auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind Enders 1997, S. 414. Ebd., S. 412. Spaemann 1987, S. 297, erklärte, das Wort ›Würde‹ sei »deshalb schwer zu fassen, weil es eine undefinierbare, einfache Qualität meint«. 72 Zu einer frühen, als ›kritischer Beitrag zur Verfassungswirklichkeit‹ verstandenen Arbeit zu ›Grundgesetz und Menschenwürde‹ vgl. Wertenbruch 1958. 73 Vgl. BVerfGE 27, 344 (351); 32, 273 (379); 34, 238 (245). 74 BVerfGE 6, 32 (36). 75 BVerfGE 109, 279 (115). 76 Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 4. 77 BVerfGE 93, 266 (116). 78 Hillgruber in Epping/Hillgruber 2009, Überblick (vor Rn. 1). 79 Maihofer 1968, S. 103. 80 Ladeur/Augsberg 2008, S. 29. »Ihr Einsatz als Unverfügbarkeitstopos hat die Funktion eines absoluten Stoppsignals, das alle anderen Operationen zum Stillstand und zumindest erneuter Reflexion des eigenen Handelns zwingt.« (Ebd., S. 10). 81 Hönig 2009, S. 33. 70 71

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und diese als Mindeststandard in sich aufgenommen haben‹ (BVerfGE 128, 326/369). Mit den Menschenrechten sind Grundrechte gemeint, die dem Menschen kraft seiner Natur zustehen […] und auch im Völkerrecht verankert sind […]. Abs. 2 macht zudem deutlich, dass Menschenrechte nicht nur ihrem Träger dienen, sondern als Grundlage jeder ›guten‹ menschlichen Gesellschaft und damit auch der durch das GG begründeten Ordnung verstanden werden müssen.« 82 »Die Person und ihre Würde sollen den Bezugs- und Grenzpunkt aller staatlichen Machtausübung bilden.« 83 Es ist dieses Prinzip, aus dem die Prinzipien des Rechts- und Sozialstaates 84 folgen. Die Rechtsund Staatsordnung muss im Horizont des Menschenrechte-Rechts bestimmte Garantien der Würde gewähren: (i) die Sicherheit des Lebens und Freiheit von Existenzangst; (ii) die Sicherheit vor Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse, Religion, Sprache und sozialer Herkunft; (iii) die freie Entfaltung der Persönlichkeit 85, die Freiheit der Meinung und des Glaubens; (iv) den Schutz vor willkürlicher Gewaltanwendung; und (v) die Achtung der Grundrechte auf Leben und körperliche sowie psychische Unversehrheit.86 Gegen einen Staat, der mit ihren Grundrechten auch ihre Würde verletzt, haben die Bürger ein Recht auf Widerstand. 87 Der Satz im Grundgesetz über die ›Unantastbarkeit der Menschenwürde‹ 88 ist ein unbedingt bindender Rechtssatz 89, der die »Selbstrelativierung rechtlich gebundener Herrschaft« zum Ausdruck bringt. 90 Er normiert die Beziehung zwischen Individuen als Achtungsund Schutzadressaten und dem Staat; aus ihm folgt insofern eine »un-

Jarras in Jarras/Pieroth 2012, Rn. 26. AK-GG-Denninger, vor Art. 1 1,2, Rn. 6. 84 Vgl. AK-GG-Kittner Art. 20 Abs. 1–3 IV; vgl. Hain 1999, S. 306–324. 85 Vgl. Benda 1994. 86 Vgl. AK-GG Podlech, Art. 1 Abs. 1, Rn. 18–22. 87 GG Art. 20 (4): »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« 88 Vgl. Gröschner/Lembcke 2009. 89 Vgl. Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 18: »Der Begriff ›Menschenwürde‹ ist ein Rechtsbegriff. Daß er in hohem Maße unbestimmt ist, nimmt ihm die Eigenschaft als Rechtsbegriff nicht.« Vgl. insgesamt zur Bedeutung und systematischen Stellung der Menschenwürde im GG Dreier 2005. 90 Herdegen, GG, GG Art. 1 Abs. 1. In: Maunz/Dürig, GG-K. 65. Ergänzungslieferung 2012, Rn. 1. 82 83

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mittelbare Drittwirkung« 91, als der Staat verpflichtet ist, auch Würdeverletzungen von Personen durch Personen rechtlich zu unterbinden bzw. zu ahnden. Dieser Rechtssatz beinhaltet die »Basisnorm für die nachfolgenden Grundrechte«. 92 Ob die Menschenwürde ein Grundrecht oder ein Grundprinzip bzw. Grundwert ist, dessen Normativität auf die ›nachfolgenden‹ Grundrechte ausstrahlt, ist umstritten. 93 Horst Dreier betont: »Die Einordnung des Unikats Menschenwürde in die Gattung der Grundrechte könnte […] ihrer unbeabsichtigten Relativierung Vorschub leisten. Die besseren Gründe streiten daher dafür, den Sonderstatus des Art. 1 Abs. 1 GG auch durch eine besondere normative Einordnung zu unterstreichen und zu bewahren: nicht als subjektives Grundrecht, sondern als Grundsatznorm mit durchgreifender regulatorischer Wirkung.« 94 Dreier betont, so gut wie unbestritten wie der Fundierungscharakter sei auch »der Rechtsnormcharakter des Art. 1 I GG. Es handelt sich nicht lediglich um einen bloßen Programmsatz oder ein rein ethisches Bekenntnis, auch nicht allein um eine feierliche Bekundung oder eine

So Herdegen 2005, Rn. 70. Hain 2006, S. 190. Vgl. BVerfGE 93, 266 (116), 10. 10. 1995 (›Soldaten sind Mörder‹) mit der Feststellung, dass »sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind«. Herdegen 2005, Rn. 19, problematisiert in seiner Kommentierung von Art. 1 Abs. 1 »dagegen die Ableitung von Grundrechten aus der Menschenwürde. Eine Deduktion von Grundrechten aus der Menschenwürde oder deren ›Präzisierung‹ durch einzelne Grundrechte überspannen den materiellen Gehalt der Menschenwürdegarantie und verkennen den Eigenwert der verfassungsrechtlichen Verbürgung von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Dynamische Grundrechtsexegese und die Änderung von Grundrechtsgarantien müssen keineswegs in dem Menschenwürdegedanken angelegt sein.« 93 Für Nipperdey 2008 [1954], S. 199, statuiert Art. 1 Abs. 1 GG »ein Grundrecht und damit subjektives öffentliches (und privates) Recht«, »nicht nur ein Grundrecht wie andere, sondern das materielle Hauptgrundrecht der Verfassung« (ebd., S. 201). Auch für Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 3, handelt es sich um ein »Grundrecht«. Für Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 121–127, ist die Menschenwürde hingegen »Grundsatz, nicht Grundrecht« (Rn. 125). Vgl. dagegen das ›Elfes-Urteil‹, BVerfGE 6, 32 (15), in dem die Menschenwürde als »selbständiges Grundrecht« bezeichnet wird, und Benda 1983, S. 111: »Art. 1 Abs. 1 GG begründet […] ein im Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzbares Grundrecht.« Vgl. auch Höfling 2003, Rn. 3–5a, S. 81 f. 94 Dreier, Grund- und Menschenrechte. In: Gröscher/Kapust/Lembcke 2013, S. 334: 91 92

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Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹

präambelartige Motivationserklärung, sondern um eine unmittelbar verbindliche Norm des objektiven Verfassensrechts.« 95 Der Rechtssatz über die Unantastbarkeit der Würde ist kein deskriptiver Satz. Dass die Menschenwürde unantastbar ist, entspricht der Form normativer Rechtssätze in Verfassungen: ›Sollen‹ wird als ›Sein‹ buchstabiert, und dies ist die stärkste Form von Normativität. 96 Ph. Kunig spricht von der »Feststellung des Seins als nachdrücklichste[r] Form einer Anmahnung des Sollens«. 97 A. Pollmann verkennt die normative Funktion des Indikativs ›ist unantastbar‹, wenn er ihn »als gezielte grammatische Ungenauigkeit« 98 deutet und ein »Paradox« mutmaßen zu können glaubt: »Wenn die Würde des Menschen faktisch unantastbar ist, wie kann die Mehrheit der Würdeinterpreten dann weiterhin unbeirrt davon ausgehen, dass alle Menschen gleichermaßen Würde besitzen?« 99 Weder das GG noch die durchgängig in der Verfassungsrechtslehre vertretene Auffassung gehen von ›faktischer‹ Unantastbarkeit der Würde aus und teilen dementsprechend auch nicht Pollmanns These »Nicht alle Menschen und nicht einmal alle Personen haben die volle [sic!] Würde, aber sie alle besitzen das gleiche universelle Schutzrecht«. 100 Ch. Menke und A. Pollmann verfolgen eine fal-

Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 44. Vgl. mit ähnlichem Wortlaut Dreier 2005, S. 33; vgl. hierzu auch Stern 1983, S. 632, der die Unterstellung eines bloßen »Programmcharakter[s]« des Art. 1 (1) ablehnt, weil er so »ohne Rechtsfolge« bliebe. 96 Vgl. Limbach 2001, S. 71: »Die deskriptive Fassung dieses normativ, also einen SollZustand beschreibend, gedachten Satzes soll dessen Unbedingtheit deutlich machen.« Die Worte ›soll/sollen‹ kommen im GG mit Ausnahme von Art. 14 Abs. 2 – »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen« – und von Art. 23 Abs. 6, Art. 36 Abs. 1 und Art. 90 Abs. 2 nicht vor. 97 Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 1. 98 Auch in Menke/Pollmann 2007, S. 132, ist von einer »offenbar nicht ganz ungewollten grammatikalischen Ungenauigkeit« die Rede. 99 Pollmann 2005, S. 611. Erste Hervorh. v. mir. Auch der marxistische Rechtsphilosoph Hermann Klenner hat in einer Polemik gegen den 2001 verfassten Entwurf eines Programms der ›Partei des Demokratischen Sozialismus‹ und gegen dessen Eingangsformulierung ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹, die er – obwohl Jurist – bewusst als deskriptive Aussage missdeutet, erklärt: »Mit einer Lüge sollte man kein Parteiprogramm beginnen. Jedenfalls nicht das einer sozialistischen Partei.« »Dass die Würde des Menschen nicht antastbar sei, ist eine Lüge, bei Gutmeinenden vielleicht eine fromme Lüge, aber das bessert’s auch nicht.« (H. Klenner, Würde, Werte und Gerechtigkeit. In: U.-J. Heuer/K. Pätzold (Hg.), Ein Programm sollte nicht mit einer Lüge beginnen. Wortmeldungen, Schkeuditz 2001, S. 61). 100 Pollmann 2005, S. 619. Zur Kritik an Pollmann vgl. Schürmann 2011, S. 43 ff. 95

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sche Spur, wenn sie eine »Merkwürdigkeit von Art. 1 Abs. 1 GG« feststellen zu können glauben: »In ihm wird die Menschenwürde etwas ›Unantastbares‹ genannt und damit zu einer Eigenschaft erklärt, die jeder Mensch unverlierbar besitzt. Und zwar einfach deshalb, weil er ein Mensch ist. Würde das Grundgesetz sagen, dass die Menschenwürde nicht angetastet werden soll, so würde es sofort zu der Rückfrage nach dem Warum einladen.« 101 Das ›Sollen‹ in ›ist unantastbar‹ begründete noch »kein Rechtsverhältnis mit Rechten und Pflichten«, wenn es ohne den Kontext von Art. 1, Abs. 1 Satz 2 GG gesehen würde, d. h. ohne das Rechtsverhältnis zwischen ›aller staatlichen Gewalt‹ und denen, deren Würde als unantastbar zu achten und zu schützen ist. R. Gröschner kommt am Ende seiner »systematischen Interpretation des Art. 1 Absatz 1 Satz 1 GG im Horizont seiner humanistischen Tradition« zu drei Antworten, »die dogmatisch – aus dem System des Grundgesetzes selbst – nicht hätten gegeben werden können. Erstens: Satz 1 GG ist entgegen dem ersten Eindruck kein deskriptiver Satz. Zweitens: Trotz seiner Stellung innerhalb des Grundgesetzes (und nicht etwa in der Präambel) ist er aber auch kein präskriptiver Satz im Sinne herkömmlicher positivrechtlicher Normativität. Und drittens: Seine eigensinnige Normativität besteht in dem Appell, die axiomatisch vorausgesetzte Menschenwürde als konstitutiv für das freiheitliche Verfassungssystem des Grundgesetzes anzuerkennen. Wer aus dem Adjektiv ›unantastbar‹ keinen Appell heraushört, möge sich in die Zeit der Beratung und Formulierung des Grundgesetzes zurückversetzen. Dann wird der Appell unüberhörbar, der den Gebrandmarkten, Gemarterten und Gemeuchelten galt.« 102 Der Rechtssatz, dass die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist, geht von keinem anderen Faktum als dem ihrer Verletzbarkeit aus. Wären die Menschen von Gott oder von der Natur so geschaffen, dass ihre Bedürfnisse, Interessen und Handlungen in universeller Harmonie miteinander verträglich wären, dann wäre der Schutz der Würde kein Thema. Würde wird zum Thema, weil Konflikte und Würdeverletzungen zur geschichtlichen Dynamik menschlichen Lebens gehören. Der Begriff der Würde hat die Funktion, in einer »Notlage

101 102

Menke/Pollmann 2007, S. 151 f. Gröschner 2008, S. 232.

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der Freiheit« 103 ein Zeichen »der Sehnsucht nach der Gewißheit, daß der Mensch entgegen aller historischen Erfahrung letztlich nicht zerstört werden kann« 104, zu setzen, – ein Zeichen dafür, dass die Würde sich nicht selbst schützt, sondern rechtlichen Schutzes bedarf. ›Menschenwürde‹ ist »eine Suchkategorie für Defizite an Humanität in der Faktizität.« 105 Die Würdenorm ist ein »Bollwerk gegen den Leviathan« 106 und ein Tabu 107 pluralistischer demokratischer Gesellschaften: »Diese Unantastbarkeitsgarantie regelt ein Tabu, das nicht berührt werden darf, wenn die Rechtsordnung nicht zusammenbrechen soll. Die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen ist das Axiom dieser Rechtsordnung, nicht mehr hinterfragbarer Ausgangspunkt, Denkgrundlage, ohne die das Denken in dieser Verfassung nicht möglich ist.« 108 Erst im Rechtssatz wird die Würde zur letzten Grundlage von Ansprüchen, auf die alle Individuen ein Recht haben 109 und deren Schutz von Staaten sowie inter-individuell und kollektiv, politisch, sozial und kulturell ohne Vorbehalt und einschränkende Bedingung garantiert werden muss. Die Geltung der Norm der Unantastbarkeit, der Achtung und des Schutzes der Würde bleibt vom Streit über ethische, theologische, natur- oder positivrechtliche etc. Begründungen in ihrem Kern unberührt. Verfassungsrechtlich ist sie in Deutschland durch die 103 Kühnhardt 2002, S. 76. Vgl. hierzu Will 2006, S. 32: »Die Menschenwürdekonzeption des Art. 1 GG beruhte im Parlamentarischen Rat durchaus auf einer bestimmten Anschauung, die Menschenwürde und Freiheit verband. Am deutlichsten wird dies bei der Erwiderung von v. Mangoldt auf die Kritik von Thoma zum Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten. Er stellte klar, ›dass diese Würde des Menschen irgendwie in engstem Zusammenhang mit den Freiheitsrechten steht‹, und fuhr fort: ›Ohne die Anerkennung einer verantwortungsbewussten und in sich freien Persönlichkeit gibt es keine Menschenwürde.‹« 104 Schlink 2003, S. 50. 105 K. Hilpert, ›Menschenwürde‹, in: LThK, Bd. 7, Sp. 135. 106 Bayertz 1995, S. 471. 107 Auch in Pieroth/Schlink 1994, Rn. 386, wird von der »Funktion der Menschenwürdeverbürgung als Tabugrenze« gesprochen; ebenso Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 23. 108 Kirchhof 2008, S. 41. 109 Zu Klagen vor dem BVerfGE sind auch Individuen berechtigt. Gem. Art. 93 (4a) GG entscheidet es »über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein«.

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›Wesensgehaltssperre‹ (›Ewigkeitsgarantie‹) der Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG geschützt, die dem verfassungsändernden Gesetzgeber unüberschreitbare Handlungsbegrenzungen auferlegen. 110 Dieses Prinzip gehört zu den wesentlichen Errungenschaften des Grundgesetzes. 111 Die Verfassungs-Grundentscheidungen sind »als konsistentes ›inneres System‹ des Grundgesetzes zu erfassen, welches auf der Basis der Menschenwürde« ruht. 112 Die Unbedingtheit der Würdegarantie schließt den Zugriff der Legislative auf diese Verfassungsnorm aus: »Würde ist Bedingung der Demokratie und daher ihrer Verfügung entzogen.« 113 ›Würde der menschlichen Person‹ ist zu einem Rechtsbegriff 114 geworden, um zu bezeichnen, was im Menschen menschlich und deshalb zu achten und zu schützen ist. 115 Drei Aspekte sind hervorzuhe110 Art. 19 (2) GG: »In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden« in Verbindung mit Art. 79 (3) GG: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« Hain 1999, S. 34, betont, dass »die verfassunggeberischen Grundentscheidungen als konsistentes ›inneres System‹ des Grundgesetzes zu erfassen [sind], welches auf der Basis der Menschenwürde und den von ihr beinhalteten Leitgedanken der Freiheit und der Gleichheit ruht, und dessen übrige Bestandteile entweder mit diesen Leitgedanken partiell identisch oder auf sie rückführbar sind«. Die in Art. 79 Abs. 3 GG erwähnten Grundsätze bestehen »um der Menschenwürde willen«. (Enders 1997, S. 106, zit. n. Hain, ebd.). Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen des Art. 79 Abs. 3 GG vgl. Hain 1999, S. 35–46. 111 Dreier in Dreier 2013, Art. 19 II, begründet, warum und wie dem »grundrechtsbeschränkenden Zugriff des Staates« Grenzen gesetzt sind und der Gesetzgeber »bei der Grundrechtseinschränkung an den primären Ausgangspunkt, die Freiheitsgewährleistung, zurückgebunden« ist (›Schranken-Schranken‹); er bezeichnet das Verhältnismäßigkeitsprinzip (Übermaßverbot) als die »mit Abstand wichtigste SchrankenSchranke«. (Dreier in Dreier 2013, Vorb., Rn. 144 f.) In seiner Kommentierung erscheint Art. 19 II GG als wesentlich für die »Sicherung der Grundrechtssubstanz vor einem unbeschränkten, ohne eine derartige Sicherungszone zur vollständigen Entleerung und praktischen Auslöschung des Grundrechts führenden Zugriff des einfachen (nicht: des verfassungsverändernden) Gesetzgebers«. (Rn. 7) Er betont jedoch auch, dass die Bedeutung der ›Wesensgehaltsgarantie‹ »aufgrund der Wirkmächtigkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips« (Rn. 18) abgenommen habe. 112 Hain 1999, S. 34. 113 AK-GG Podlech, Art. 1 Abs. 1, Rn. 16. 114 Ritschl 2002, S. 87, behauptet dagegen, »that ›human dignity‹ ist not a legal concept (it is this at best in a figurative sense)«. Er betont die »social dimension« des Begriffs, der ein »dialogical concept« genannt werden könne. 115 Vgl. Sandkühler 2010a. Die durch die Würdenorm geschützen moralischen Ansprü-

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ben: Der Begriff darf (i) nicht essenzialistisch als Substanzbegriff missverstanden werden; es handelt sich um einen Funktionsbegriff: Er fungiert als das Ganze der Teile der ›nachfolgenden‹ grundrechtlichen Konkretisierungen. Aus ihnen folgt, dass alles, was zur Entmenschlichung des Menschen führt, als Antastung und Verletzung der Menschenwürde gelten muss. Der Würdebegriff hat als ›Platzhalter‹ für diese Konkretisierungen die Funktion, den nicht hinnehmbaren Grad der Unmenschlichkeit von Verletzungen anzuzeigen. So zeigt sich, »welcher mögliche gute Sinn einer in das Recht integrierten Konzeption der Unverfügbarkeit der Menschenwürde zukommen kann. Insofern diese Frage positiv beantwortet werden könnte, verlöre die Debatte um den Status der Menschenwürde als ein entweder prärechtliches, religiös bzw. zumindest philosophisch geprägtes oder aber genuin positivistisch rein juristisches Konzept ihren provozierenden Stachel: auch und gerade als Setzung wäre sie erforderlich. Sie büßte zwar den metaphysischen Glanz des apriorisch Notwendigen ein, könnte jedoch im pragmatischen Gewand des a posteriori Gebotenen ihren wesentlichen Gehalt bewahren. Als rechtsimmanent verbleibende Perspektive unterstünde sie zudem nicht dem vorgeblichen Zwang, sich mit der Frage der juridischen Verarbeitung und Rezeption ethisch-moralischer Mehr- oder Minderheitsvorstellungen in der Gesellschaft auseinandersetzen zu müssen.« 116 Der Begriff ›Würde der menschlichen Person‹ muss (ii) so verwendet werden, dass er auf die Gattungszugehörigkeit des Menschen che und Rechtsgüter gehen weit darüber hinaus, »die Anforderungen an Justiziabilität insofern [zu erfüllen], als aus ih[r] Güter abgeleitet werden können, die man unter rechtlichen Schutz stellen kann, nämlich alle Sachverhalte, die notwendig sind, um Willensfreiheit zu bewahren oder zu fördern«, wie Tiedemann 2010, S. 275, behauptet (Hervorh. v. mir). Hieraus ergeben sich Konsequenzen auch für Entwicklungen in der biowissenschaftlichen und medizinischen Forschung, in Diagnostik, Prävention und Therapie. Die zu deren Beurteilung eingesetze Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages sollte diese Entwicklungen nicht nur »unter Einbeziehung ethischer, rechtlicher, sozialer und politischer Aspekte bewerten und Vorschläge für gesellschaftliches Handeln, insbesondere des Gesetzgebers, erarbeiten«, sondern auch »Grenzen medizinischen Handelns bei Forschung, Diagnostik und Therapie definieren, die sich aus dem verfassungsrechtlichen Gebot zur unbedingten Wahrung der Menschenwürde und der Grundrechte ergeben«. (Deutscher Bundestag. Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin. Hg. v. Sekretariat der Enquete-Kommission »Ethik und Recht der modernen Medizin«, Berlin, September 2004). 116 Ladeur/Augsberg 2008, S. 2 f.

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›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

abhebt und keine Einschränkungen impliziert, die sich aus besonderen, bestimmte Menschen ausschließenden Person-Theorien 117 ergeben – etwa bei Fehlen von Willensfreiheit, Vernünftigkeit, Autonomie und Verantwortlichkeit. Die Bezugnahme auf die Gattungszugehörigkeit wird oft als ein Speziesismus kritisiert, der andere Wesen a priori von Würdezuschreibung ausschließe. Dies kann, muss aber keineswegs der Fall sein. So wurde z. B. durch Volksabstimmung am 17. Mai 1992 mit Art. 120 Abs. 2 der Begriff der ›Würde der Kreatur‹ in die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft aufgenommen, deren Art. 7 lautet: »Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen«: »Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.« Der Verfassungsbegriff ›Menschenwürde‹ ist (iii) im Grundgesetz aus guten Gründen undefiniert und bedarf keiner Begründung: Der »voraussetzungslose Anerkennungsakt […] schneidet – und darin liegt seine besondere Normativität – definitiv die Begründungsfrage ab […]: Es soll von nun an unhinterfragbar und ohne wenn und aber die Menschenwürde als unantastbar gelten und damit die – mit der Aussage des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG umschriebene – Sonderstellung des Menschen anerkannt sein. Auf die Beweisbarkeit der Aussage, auf die Plausibilität einer wie auch immer gearteten Erklärung soll es auf dem Boden dieser Verfassung nicht (mehr) ankommen. Jeder Diskussion der Begründungsfrage, die das normative Datum der Unantastbarkeit sei es empirisch (historisch oder naturwissenschaftlich), sei es metaphysisch-religiös-weltanschaulich zu relativieren geeignet wäre, ist von Verfassung wegen der Boden entzogen.« 118 Der gegen Art. 1 Abs. 1 GG oft erhobene philosophische »Einwand mangelnder normativer Letztbegründbarkeit« ist irrelevant. Das Argument K.-E. Hains ist triftig: »Mag auch Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG bestimmte Prinzipien praktischer Philosophie in das Recht inkorporieren, so beruht diese Bestimmung doch auf einer Setzung durch den Verfassunggeber, die die Norm zu einem Bestandteil des geltenden positiven Rechts macht. Der Akt der Setzung könnte aus der praktisch 117 118

Vgl. u. a. Sturma 2001. Enders 2009, S. 71 f.; vgl. zum ›absichtsvollen Fehlen einer Begründung‹ ebd., S. 77 f.

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Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹

philosophischen Perspektive als Abbruch eines infiniten Begründungsregresses in bezug auf praktische Entscheidungen durch eine Dezision gedeutet werden, verfassungstheoretisch […] betrachtet könnte die verfassunggeberische Grundentscheidung durch eine andere ersetzt werden, im Rahmen der geltenden positiven Verfassungsordnung jedoch ist die Menschenwürde nicht weiter begründet und auch, sofern der Akt der verfassunggeberischen Setzung als für das positive Verfassungsrecht geltungsbegründend akzeptiert wird, weiterer materialer Begründung nicht bedürftig.« 119 Dies mag als rechtspositivistisches Argument oder als purer Dezisionismus erscheinen und bei denen Missfallen auslösen, die darauf bestehen, den theoretischen Streit über ›Begründungen‹ zu führen, auszufechten und einer Entscheidung zuzuführen. Wer seine Würde verletzt weiß und auf rechtlichen Schutz hofft, hat nicht die Zeit, auf eine solche Entscheidung zu warten. Dass die Menschenwürde aufgrund des Aktes der verfassunggeberischen Setzung als für das positive Verfassungsrecht geltungsbegründend und als akzeptiert unterstellt wird, ist aus pragmatischen Gründen unverzichtbar. Martina Hermann hat in ihrer überzeugenden ›pragmatischen Rechtfertigung für einen unscharfen Begriff von Menschenwürde‹ das triftige Argument formuliert: »Eine Auseinandersetzung um die normative Basis für einen intensional und extensional geteilten Begriff von Menschenwürde würde die bestehende Koalition schwächen, weil sie statt ihres gemeinsamen Zieles die Differenzen der Parteien in der Begründung dieses Zieles offen legt und betont. Dieses gemeinsame Ziel, die Ablehnung von Diskriminierung, Folter und Massenmord ist einer der wenigen normativen Fixpunkte internationaler Zusammenarbeit. Der gemeinsame Bezug auf ›Menschenwürde‹ stabilisiert die Zusammenarbeit zum Schutz von Menschen, auch mittels der Illusion einer gemeinsamen Wertbasis für das gemeinsame Ziel. Das ist gut, nicht weil sich unabhängig und objektiv zeigen ließe, dass man Menschen so nicht behandeln darf. Sondern es ist gut von jeder Wertbasis aus betrachtet, die eine Gruppe akzeptiert. […] Es ist der offensichtlichste pragmatische 119 Hain 1999, S. 228. Ähnlich betont Müller 2011, S. 120: »Eine Menschenwürde, die konsequent als selbst unabwägbarer Rechtfertigungsgrund für Menschenrechte konzipiert ist, stellt […] ein Axiom dar, das man nur noch explizieren, aber nicht mehr aus einem anderen Prinzip heraus rechtfertigen bzw. begründen muss. Hier mehr zu fordern hieße, den normativen Charakter der Menschenwürde letztlich elementar misszuverstehen.«

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Grund für die Beibehaltung des Begriffs der ›Menschenwürde‹, dass es der Koalition gegen Diskriminierung und Vernichtung von Menschen dient.« 120 Die in der Verfassungsnorm positivierte Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde entspringt menschlicher Willensbildung in der Sphäre des Rechts: Sie bedeutet, nicht mit sich darüber reden lassen zu wollen, ob Menschen Würde zugeschrieben werden kann oder nicht. Das Medium der Willenbildung ist der Rechts- und Sozialstaat. 121 Zu dieser zu unterstellenden Willensbildung gehört, »dass die Würde weder auf sozialer Zuschreibung noch auf natürlichen Eigenschaften von Personen, die in einer rein deskriptiven Sprache beschrieben werden können, beruht. Sie beruht vielmehr auf der Wichtigkeit, die das Recht, über essenzielle Bereiche des eigenen Lebens verfügen zu können, für das, was Personen sind, hat.« 122 Volker Schürmann argumentiert, es komme »den Mitgliedern der Gattung homo sapiens diese Würde nicht als ein gegebenes Bestimmungsmerkmal zu – weder qua Natur noch qua Gottesebenbildlichkeit noch qua Vernunft –, sondern eben als Zuschreibung, als politisch deklarierte und völkerrechtlich positivierte Verfasstheit. Dass Menschen gleich an Würde geboren werden, ist offenkundig eine metaphorische Bestimmung, die den deklarierten Willen hervorhebt, dass den Menschen deshalb gleiche Rechte und Würde zukommen, weil und insofern sie in die Gemeinschaft der Menschen hineingeboren werden. Weil und insofern sie wie Unsereiner sind, kommen allen Neugeborenen die gleichen Rechte und die gleiche Würde zu wie schon uns. Dieses Postulat ist jedoch notwendigerweise metaphorisch: zwar meint es gerade nicht ein angeborenes Merkmal im wörtlichen Sinne – so wie alle Menschen von Natur aus mit einer Nase geboren werden –; aber gleichwohl transportiert die Bestimmung des Geborenwerdens die kategorische, fraglose Geltung dieser Zuschreibung. Die Zuschreibung von Würde ist eine absolute Zuschreibung und nicht eine relative: eben Würde und kein ›Preis‹, um mit Kant zu reden. Die Menschenrechte deklarieren, dass den Menschen Würde zukommt, weil ihnen Würde Hermann 2003, S. 71. Vgl. Dreier 2001, S. 233: Die Menschenwürdegarantie bietet »dem Sozialstaatsprinzip einen Anspruch auf staatliche Gewährung eines materiellen Existenzminimums. Insofern weist die Norm eine soziale Komponente auf.« 122 Schaber 2010, S. 81. 120 121

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Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹

zukommt. Das ist hier, und das indiziert den Ort transzendentaler Gründung, keine Tautologie, sondern richtet sich gegen die Unterstellung, dass den Menschen lediglich aus guten Gründen Würde zukommt.« 123 Nichts anderes – und nicht etwa ein metaphysisches Konstrukt – bedeutet es, wenn die AEMR in naturrechtlicher Terminologie von ›inherent dignity‹ spricht und damit die jedem Menschen ›eigene‹ Würde meint. 124 Peter Schaber hat versucht, den Würdebegriff vor-juridisch aus dem Prinzip der Selbstachtung 125 und aus dem Selbstverfügungsrecht des Menschen zu begründen und durch das aus Kants Theorie abgeleitete Instrumentalisierungsverbot zu definieren, das sich aus der normativen Unmöglichkeit dessen ergibt, wozu Menschen vernünftigerweise ihre Zustimmung geben können. Ob derartige, im Bereich der Philosophie häufig anzutreffende Begriffsbestimmungen aus einem ethischen Prinzip mehr als eine Plausibilisierung der außerrechtlich nicht zu fassenden Würdenorm leisten, halte ich für fraglich. Diese Fragwürdigkeit bedeutet nicht, dass dem »positiven Recht (im Rechtsstaat)« keine »Moral- und Gerechtigkeits- bzw. Vernunftrechtprinzipien inkorporiert« wären. 126 Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Vorrang des allgemeinen öffentlichen Rechts vor der besonderen privaten Moral, die die Würde eines Menschen zu achten gebietet – oder eben nicht. Das Recht und Rechte sind »normative Relationen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten«. 127 Sie stammen letztlich aus zwei QuelSchürmann 2007, S. 168. Die deutsche Übersetzung ›angeborene Würde‹ anstelle von ›innewohnend‹ ist problematisch. 125 So auch Wetz 2011, S. 24: »Menschenwürde im Sinne moralisch qualifizierter Selbstachtung lässt sich als Zielpunkt persönlicher, politischer und rechtlicher Lebensgestaltung auch unabhängig von der Frage, ob es die Würde als Wesensmerkmal überhaupt gibt, in einer weltanschaulich pluralistischen und naturwissenschaftlich geprägten Kultur sowohl widerspruchsfrei denken als auch ethisch rechtfertigen. Nach Herauslösung des Würdebegriffs aus der strittigen Wesensphilosophie, der zufolge menschliches Leben einen Wert an sich darstellt, bleibt das existenzielle Fundament der Wesenswürde, nämlich die Bejahung des menschlichen Lebens als eines Wertes für sich – und das heißt: die ethisch qualifizierbare Selbstachtung –, übrig.« 126 Dreier 1981, S. 180. 127 Sieckmann 1995, S. 165: »Rechte sollen als normative Relationen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten in bezug auf einen Gegenstand definiert werden. Ihr Inhalt ist, 123 124

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›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

len: (i) aus etwas, das gesollt, aber selbst noch nicht rechtsförmig ist; gesollt und zu verrechtlichen sind die individuellen, in moralische Einstellungen integrierten Ansprüche auf Achtung und Schutz der Menschenwürde und von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Weil aber (ii) aus diesem Sollen, das im wohlverstandenen Eigeninteresse aller liegt, dessen Adressat aber in erster Linie Dritte sind, nicht zwangsläufig ein entsprechendes Verhalten und Handeln aller gegenüber allen folgt, werden moralische Ansprüche an das Recht delegiert. 128 Das moralische Sollen begründet als solches nur die Hoffnung, dass alle gegenüber den jetzt lebenden Menschen und auch gegenüber den zukünftigen Generationen 129 entsprechend ihren moralischen Ansprüchen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen handeln. Die Hoffnung drückt aus, dass es noch nicht so ist, wie es sein soll, aber so sein kann und sein soll. 130 Weil die Hoffnung auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde enttäuscht wird, verbindet sie sich mit der transindividuellen Idee, es müssten für alle gleiche Bedingungen ihrer Realisierbarkeit geschaffen werden: Möglichkeitsbedingungen, die mehr zu verbürgen geeignet sind, als angesichts der moralischen Schwäche der allein auf sich gestellten hoffenden Individuen erwartet werden könnte – Möglichkeitsbedingungen der Herrschaft des Rechts 131: »Durch vernünftiges Recht eine vernünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen – diese Hoffnung ist daß jemand (der Rechtsträger a) gegenüber einem anderen (dem Adressaten des Rechts b) ein Recht auf etwas (z. B. den Vollzug einer Handlung H) hat. Diesem Recht korreliert eine Verpflichtung des Rechtsadressaten gegenüber dem Träger des Rechts auf den Vollzug dieser Handlung. Die Struktur des Rechts kann mit RabH notiert werden, die der korrespondierenden Verpflichtung mit ObaH.« 128 Vgl. Sandkühler 2007a. 129 Zu Rechten zukünftiger Generationen vgl. Meyer 2010. 130 Schweidler 2012, S. 12, spricht in diesem Sinne zu Recht vom Würdeprinzip als »Brückenschlag zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹«. 131 Der Begriff ›Herrschaft des Rechts‹ klingt strukturalistisch und so, als ginge es um die Aufhebung des Begriffs ›Rechtssubjekt/Rechtsperson‹ in der Perspektive einer Autopoiese und Selbstreferenzialität des Rechts. Dieser Klang ist nicht beabsichtigt. Der Akzent liegt allerdings im Unterschied zu jedem Subjekt-Optimismus und zu überspannten Erwartungen an die Apriori-Vereinbarkeit privater Moral mit Rechtsansprüchen Dritter auf ›Rechtssubjekt/Rechtsperson‹. Dies war bereits in der ›Constitution of Massachusetts‹ (1780) gemeint, in der es in Art. XXX heißt: »government of laws, and not of men«. J. Habermas formuliert dies ähnlich: »Der Rechtskode ist Rechtssubjekten […] als die einzige Sprache, in der sie ihre Autonomie ausdrücken können, vorgegeben.« (Habermas 1994, S. 160). Vgl. auch McCrudden 2008.

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Art. 1 Abs. 1 GG als ›Grundnorm‹

ein Grundelement der politischen Tradition unserer modernen westlichen Gesellschaften.« 132 Die Möglichkeit der Herrschaft des Rechts und die vernünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse stoßen freilich gerade in dieser ›westlichen‹ politischen Tradition an eine Grenze – die Identifizierung der Rechtssubjekte mit dem ›Volk‹ 133 und dessen Identifizierung mit dem Nationalstaat. Wenn heute vom ›Volk‹ als dem Grund der Staatsgewalt und als dem Subjekt demokratischer Legitimation die Rede ist, dann sind damit im Nationalstaat 134 »die staatsangehörigen Bürger« gemeint 135; dies gilt für das BVerfGE selbst noch unter Bedingungen transnationaler Staatlichkeit. Es hat die Annahme zurückgewiesen, mit der Zunahme des Anteils an Migranten in Deutschland habe »der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren«. Die hieraus folgende Verfassungsinterpretation im Horizont des Begriffs ›Volk‹ wirft unter den Bedingungen pluralistischer, auch ethnisch pluraler Gesellschaften und supranationaler Verrechtlichung das Problem der Einbeziehung aller in einem Territorium lebenden Menschen in eine Rechtsgemeinschaft auf, nicht nur beim Wahlrecht: Die Unterstellung eines Bedeutungswandels im Begriff ›Volk‹ ist laut BVerfGE »im Ausgangspunkt zutreffend«, könne aber »nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen. Ein solcher Weg ist durch das Grundgesetz versperrt.« 136 Peters 1991, S. 12. Siehe hierzu kritisch Teil IV ›Demokratie‹, Abschnitt 9.6 ›Volkssouveränität‹, in Sandkühler 2013. 134 Zum Nationalstaat als ›politischem Mythos‹ der europäischen Moderne vgl. Fistetti 1992, S. 7–30. Vgl. Balibar 2006, S. 242–252; zur Volkssouveränität und zur Entwicklung der »Nationform« sowie zu den Folgen für die Subjektivität der Staatsbürger, die im »Syndrom der ›Ohnmacht des Allmächtigen‹« bestehen (ebd., S. 243); vgl. auch ebd., S. 256 f. zum »Zusammenbruch der klassischen Grundlagen staatlicher Souveränität« im Übergang zur europäischen Bürgerschaft. 135 BVerfGE, 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 (229). »Ausgangspunkt aller staatlichen Gewalt und damit Subjekt demokratischer Legitimation ist nach Art. 20 Abs. 2 das Volk. Volk in diesem Sinne ist nach ganz überwiegender Ansicht das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland. Das Staatsvolk wird grundsätzlich aus den deutschen Staatsangehörigen gebildet; hinzu kommen die Statusdeutschen nach Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 und 3.« (Grzeszick in Maunz/Dürig, GG-K, 63. Erg.lfg. 2011, Art. 20, Rn. 79). 136 BVerfGE 83, 37 (52). Zur Kritik an der Fixierung der Demokratie an ein Territorium 132 133

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›Menschenwürde‹ im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Mit dieser Auffassung bleibt das BVerfGE bei einem status quo ante stehen, den Jürgen Habermas in ›Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie‹ so beschrieben hat: »Die politische Mobilisierung der ›Untertanen‹ erfordert[e] […] eine kulturelle Integration der zunächst zusammen gewürfelten Bevölkerung. Dieses Desiderat erfüllt[e] die Idee der Nation, mit deren Hilfe die Staatsangehörigen […] eine neue Form kollektiver Loyalität ausbilden.« 137 Dieser status quo ante ist angesichts der Unteilbarkeit der Menschenwürde und der Universalität der Menschenrechte längst ein Anachronismus. Seine Veteidigung führt zu »Spannungen zwischen dem Universalismus der Menschenwürde und dem Partikularismus einer Staatsbürgerschaft«.138 Zu Recht erhebt Georg Lohmann im Kontext der von ihm vertretenen »republikanische[n] Deutung der Menschenwürde« die Forderung, »dass alle Menschen nicht nur als aktive Staatsbürger demokratisch ihre Menschenrechte mitbestimmen können, sondern auch, dass sie in transnationalen Bürgerschaftsrollen (regional, zum Beispiel als EU-Bürger, und global als Weltbürger) zunehmend ›gesetzt‹ und anerkannt werden.« 139 Im Rahmen einer weitergehenden Konstitutionalisierung des Völkerrechts hin zu einer weltrechtlichen Verfassung muss ein Staat auch »Menschen, die zufällig oder auch illegal sich auf seinem Staatsgebiet aufhalten, in ihren Rechten respektieren, schützen und unterstützen […]: a) weil dieser Staat politisch mit seiner Zustimmung zu den Menschenrechtspakten sich zur Achtung ihrer Menschenwürde verpflichtet hat, b) er rechtlich gegebenenfalls durch seine Verfassung dazu verpflichtet ist und c) weil er moralisch gesehen, auch unabhängig von einer solchen expliziten Zustimmung, dazu verpflichtet ist. ›Menschenwürde‹ fungiert hier als eine letzte, begründende Orientierung, die die rechtliche gleiche Behandlung von Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern fordert und auch, gemäß den Menschenrechtspakten, den Umfang ihrer jeweiligen Rechte bestimmt.« 140

und zur Notwendigkeit der »De-Territorialisierung« der Demokratie vgl. Fistetti 1992, S. 125 ff. 137 Habermas 1998, S. 99. 138 Lohmann 2012, S. 156. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 164 f.

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5. Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm

Wie im Bereich von Ethik und Theologie gibt es auch in der Verfassungsrechtslehre ein breites Spektrum von Würdeverständnissen. Wie jede Rechtsnorm ist auch die Würdenorm ein Deutungsschema. 1 Dies hat zur Folge, dass sie innerhalb und außerhalb des Rechts vom Konflikt der Interpretationen nicht ausgenommen ist. 2 M. Herdegen stellt in seiner Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG nüchtern fest: »Ein operabler Begriff der Menschenwürde harrt immer noch der Entwicklung. […] Der oft nur schwer einlösbare Evidenzanspruch von Konkretisierungsversuchen, der im Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde angelegt ist, erklärt Glanz und Elend der bisherigen Deutungsversuche.« 3 Weitgehende Übereinstimmung besteht allerdings in der verfassungsrechtlichen Literatur hinsichtlich des wesentlichen Gehalts der Garantie der Menschenwürde: Er besteht in der Anerkennung und Achtung jedes Menschen als Subjekt und als zu eigener Entfaltung und verantwortlichem Handeln freier Träger grundlegender Rechte so-

Kelsen 1992 [1960], S. 3: »Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigentümliche rechtliche Bedeutung erhält der fragliche Sachverhalt durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, der ihm die rechtliche Bedeutung verleiht, so dass der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema.« 2 »Das Recht, jederzeit gegenüber jedermann frei seine Meinung zu äußern, ohne dafür rechtliche Sanktionen befürchten zu müssen, ist ein Recht, dessen unbedingte Geltung strittig sein mag; der Inhalt dieses Rechts ist jedenfalls einigermaßen eindeutig und als solcher indifferent gegen seine Begründung. Anders ist es mit dem Inhalt von Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Der Inhalt dieses Artikels ist nicht in gleicher Weise immun gegen die Begründungszusammenhänge, in die er gestellt und von denen her er ausgelegt wird.« (Spaemann 1987, S. 296). Vgl. zu Konsens und Dissens bei der Interpretation der Menschenwürde Dreier 2001. 3 Herdegen 2005, Rn. 30. 1

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Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm

wie im Ausschluss von Entwürdigung und Instrumentalisierung 4 nach Art einer beliebig verfügbaren Sache. Jeder Mensch muss als Subjekt anerkannt werden; niemand darf zum bloßen Objekt sei es staatlichen, sei es privaten Handelns werden. Doch jenseits dieser Bestimmung ist der Streit über positivrechtliche oder naturrechtliche Würdekonzeptionen nicht ausgestanden. H. C. Nipperdey hatte schon 1954 betont: »Der Begriff der Würde des Menschen bedarf keiner weiteren juristischen Definition. […] Es handelt sich um den Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin.« 5 Art. 1 Abs. 1 GG war für ihn »ein naturrechtliches Elementarprinzip, er ist vorstaatliches, überpositives Recht«. 6 Damit nahm er einen nach 1945 geradezu selbstverständlichen Interpretations-Topos auf 7, den die Promotoren einer Renaissance des Naturrechts eingebracht hatten. Wegweisend waren in diesem Kontext vor allem Helmut Coings Grundzüge der Rechtsphilosophie (1950): »Die Rechtsidee ist das sittliche Ziel, dessen Verwirklichung jede Rechtsordnung dienen soll. Die Vorstellung von einem Naturrecht geht über die der Rechtsidee hinaus. Das Naturrecht soll nicht nur ein bestimmter sittlicher Inhalt sein, der in der Sozialordnung verwirklicht werden soll, sondern der Umriß einer Rechtsordnung, welche den sittlichen Forderungen der Rechtsidee genügt. Gegenüber der Rechtsidee – als reinem sittlichem Gehalt – soll das Naturrecht ein System von Rechtssätzen bestimmten Inhaltes sein, in denen die Rechtsidee Gestalt gewinnt und dadurch anwendbar wird. Vgl. Birnbacher 2008, S. 11, warnt davor, Instrumentalisierungen »pauschal unter die Verletzung der Menschenwürde zu subsumieren«, die nur dann vorliege, wenn es sich »sowohl im rechtlichen als auch im ethischen Sinn um ausgesprochen schwerwiegende Formen von Unrecht handelt«. 5 Nipperdey 2008 [1954], S. 189. Bezogen auf die Menschenwürde-Norm im GG stellt Poscher 2004, S. 8, die Überlegung an, dass materiale Definitionen aus Gründen des Tabu-Charakters dieser Norm vermieden werden. 6 Nipperdey 2008 [1954], S. 190; vgl. S. 195. 7 Kondylis 1992, S. 676 f. stellt fest, in den Mittelpunkt des Interesses sei »der Gegensatz von an sich würdiger Person und totalitärer, inhumaner sozialer Ordnung« gerückt: »›Würde‹ dient nunmehr als Gegenbegriff zu dieser letzteren. Der neue Sprachgebrauch wurde, zumal in Deutschland, außerordentlich gefördert durch die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, die eine Abkehr von älteren positivistischen Positionen zugunsten naturrechtlicher Auffassungen bewirkten. Das Wiederaufleben des naturrechtlichen Gedankens schlug sich sowohl in der Aufnahme des Würdebegriffs ins bundesdeutsche Grundgesetz als auch in der bundesdeutschen Rechtsprechung nieder.« Zu den Menschenrechten als »Kernstück der modernen Naturrechtslehre« vgl. ebd., S. 170 ff. 4

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Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm

Den allgemeinen Inhalt der sittlichen Werte, welche die Rechtsidee in sich begreift, wandelt das Naturrecht in eine Reihe bestimmter Rechtssätze um, welche, im sozialen Leben verwendbar, Gesetzgebung und Judikatur als Vorbild dienen können. Im Naturrecht wird die Rechtsidee praktikabel; sie wird in Grundsätze umgeformt, die in Gesetzen und Urteilen Verwendung finden können. Achte die sittliche Würde des Mitmenschen! Das ist eine ethische Forderung. Alle Gewalt, die Menschen über Menschen gegeben wird, muß inhaltlich begrenzt und kontrollierbar sein; das ist ein Satz des Naturrechts.« 8 Konrad Adenauer erklärte am 24. März 1946 in einer Rede in der Aula der Kölner Universität zu den Zielen der neu gegründeten CDU: »Die Auffassung von der Vormacht, von der Allmacht des Staates, von seinem Vorrang vor der Würde und der Freiheit des einzelnen widerspricht dem christlichen Naturrecht. Wir wollen die Grundsätze des christlichen Naturrechtes wiederherstellen. Nach der dem Programm der CDU zugrunde liegenden Auffassung ist die Person dem Dasein und dem Range nach vor dem Staat. An ihrer Würde, Freiheit und Selbständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze als ihre Orientierung. Freiheit der Person ist nicht Schrankenlosigkeit und Willkür, sie verpflichtet jeden beim Gebrauche seiner Freiheit, immer eingedenk zu sein der Verantwortung, die jeder einzelne für seine Mitmenschen und für das ganze Volk trägt.« 9 Adolf Süsterhenn erklärte in der Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 20. Oktober 1948 »Wenn der Herr Kollege [Carlo] Schmid soeben mit Recht das Wesen der Präambel dahin umschrieben hat, daß sie dem Grundgesetz die politische und juristische Qualifikation geben soll, werde ich noch einen Schritt weitergehen. Die Präambel müßte meines Erachtens dem Grundgesetz auch diese geistige Ausrichtung, diese letzten Endes sittliche, ethische Qualifikation geben, um damit gerade dem Geist der Verfassung, den ich nicht als ein Schlagwort ansehe, sondern durchaus als eine politische Realität betrachte, Ausdruck zu verleihen. Die alten Naturrechtslehrer der Scholastik haben einmal von der sogenannten vis directiva, der Direktionskraft, der sozialpsychologischen und sozialpädagogischen Wirkung eines guten Gesetzes gesprochen. Ich bin der Meinung, wir müssen auch dieses Verlangen haben, daß eine solche volkspädagogische, 8 9

Coing 1950, S. 151. In: H.-P. Schwarz (Hg.), Konrad Adenauer. Reden 1917–1967, Stuttgart 1975, S. 82.

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Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm

sozialpsychologische dirigierende Kraft von dem Gesetz auszugehen hat, das wir hier schaffen wollen. Diese dirigierende Kraft muß auch schon in der Präambel zum Ausdruck gebracht werden, und zwar in der Weise, daß wir auch in der Präambel dieses Grundgesetz bereits so sichern, den zentralen Gedanken dieses Grundgesetzes zu unterbauen, daß er nicht einfach durch einen Mehrheitsentscheid wieder weggefegt werden kann, sondern daß er seine fundamentalen Wurzeln letzten Endes auch im Metaphysischen findet. Deshalb sind wir der Meinung, daß sowohl in der Präambel wie auch in dem wesentlich mit der Präambel zusammengehörigen Artikel 1 eine solche metaphysische Verankerung der ewigen menschlichen Freiheitsrechte erfolgen müßte, eine Verankerung, die etwa in der Weise geschehen könnte, daß zu dem Artikel 1 der Grundrechte, wo es heißt: ›Sie – die Würde des Menschen – ist begründet in ewigen Rechten‹ etwa der Zusatz hinzugefügt wird: Die Würde des Menschen ist begründet in ewigen, von Gott gegebenen Rechten.« 10 Süsterhenns Redebeiträge ließen sich als Plädoyers für die katholische Staatslehre und für das Naturrecht als Gegengewicht zum Rechtspositivismus verstehen. 11 Noch in der Zehnten Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 wurde in den Beratung zum GG in 3. Lesung seitens der CDU im Kontext der Probleme des Staatskirchenrechts und des Elternrechts für eine enge Verbindung von Christentum, Naturrecht und Staat plädiert. In Auseinandersetzung mit Th. Heuss erklärte der CDU-Abgeordnete Finck im Kontext der GrundrechteDebatte, es handele sich »um nichts anderes als um die Begegnung zwischen Christentum und Staat, um die Berührung von Religion und Politik, von Staat und Kirche, die Berührung der Staatsrechte mit den elementarsten, natürlichen und unserer Ansicht von Gott gegebenen Menschenrechten. […] Es ist eine Naturnotwendigkeit und ge-

Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 185. Th. Heuss antwortete darauf, man müsse vorsichtig sein, »diese sehr diesseitigen Werke zu stark im Metaphysischen verankern zu wollen, weil man sich selber dann in eine quasi Nichtverantwortung begibt« (ebd., S. 196). 11 Zu denen, deren Grundrechtsverständnis sich auf die Prinzipien des christlichen Naturrechts gründete, gehörte auch die CDU-Abgeordnete Helene Weber, die enge Kontakte zu den Interessenvertretern der katholischen Kirche beim Parlamentarischen Rat wie z. B. zu Prälat Wilhelm Böhler, dem Beauftragten von Joseph Kardinal Frings, Erzbischof von Köln, pflegte. 10

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Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm

schichtliche Tatsache: Staat und Kirche begegnen sich, seit es einen Staat und seit es eine Kirche, seit es Religion und Politik gibt.« 12 Deshalb gelte es, den Kampf weiterzuführen »für ein neues, verbessertes Grundgesetz im Sinne eines christlichen Staatsgrundgesetzes«. 13 Der Tenor dessen, worum es hier ging, war bereits im Bericht des Herrenchiemsee-Verfassungskonvents an den Parlamentarischen Rat zu hören, in dem es um die Verortung der Grundrechte in der historischen Situation ging: »Der berechtigte Gesetzesglaube der Frühzeit wich auf Grund der Erfahrungen, die man mit einer steuerlosen oder sogar in den Dienst des Verbrechens gestellten Gesetzgebungsmaschine gemacht hat, dem heutigen tiefen Mißtrauen gegen einen bloßen Gesetzespositivismus. So entwickelte sich die Tendenz, die ursprüngliche Bedeutung der Grundrechte schrittweise wiederherzustellen.« 14 Die Renaissance des Naturrechts war verbunden mit dem gängigen – Selbstentlastung anzeigenden – Fehlurteil, der Rechtspositivismus habe mit seiner Naturrechts-Kritik die Weimarer Republik wehrlos gemacht und die nationalsozialistische Diktatur begünstigt 15; dies war ein Fehlurteil, weil gerade Gegner der Weimarer Republik antipositivistische Positionen vertreten hatten. Nicht der Rechtspositivis-

Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 573. Ebd., S. 576. 14 Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. 512. 15 Zur Kritik an dieser auch von marxistischer Seite vertretenen These vgl. P. Römer, Rechtspositivismus und Nationalsozialismus. Kritische Anmerkungen zur These von Hermann Klenner: ›Wohl als Individuum, nicht aber als Wissenschaftler hat Kelsen auch nur den geringsten Beitrag im Kampf gegen den Faschismus leisten können‹, in: Schöneburg 1987. Römer betont zu Recht, »daß es sicherlich unrichtig ist, wenn in der bundesrepublikanischen Lehre nach 1945 das Einordnen der Juristen in den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat und ihr problemloses Funktionieren innerhalb dieses Apparates zurückgeführt wird auf eine angeblich positivistische Grundhaltung dieser Juristen. Der Positivismus, auch der von Anschütz und Thoma und erst recht der Positivismus Kelsenscher Prägung war in der Weimarer Republik nicht mehr die vorherrschende Lehre. Vor allem aber ging der Kampf innerhalb der nationalsozialistischen Lehre ganz entschieden und eindeutig gegen den Liberalismus und den Positivismus […]. Im Gegenteil hätte eine positivistische Beurteilung bereits der ›legalen‹ Machtergreifung sowie der zahllosen rechtlosen Gewaltmaßnahmen eher zu einer Opposition gegen den Nationalsozialismus führen können.« (Ebd., S. 148). Zu Kelsen hebt Römer hervor, »dass innerhalb des bürgerlich-liberalen und des sozialdemokratischen Lagers Kelsens Verteidigungslinie der Weimarer Demokratie die am meisten realistische war« (ebd., S. 146; vgl. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932). In: ders., Demokratie und Sozialismus, Wien 1967, und hierzu Sandkühler 2013, S. 383–387). 12 13

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mus, sondern »die Gegnerschaft zum formalistischen Positivismus [hat] zur Delegitimierung ›Weimars‹ beigetragen«. 16 Ein typisches Beispiel für die Polemik gegen den Rechtspositivismus bietet der katholische Theologe J. Messner, der eng mit dem seit 1933 diktatorisch regierenden österreichischen E. Dollfuß (1933–1938) und dessen ständestaatlicher Konzeption liiert war. Er beantwortete noch 1974 im Kontext seiner Begründung der »Renaissance des Naturrechts« die Frage, »wie ein hochzivilisiertes Volk wie das deutsche unter die Herrschaft einer Regierung geraten konnte, die sich in Verbrechen gegen die Menschenrechte in besonderer Weise hervortat«, umstandslos so: »Kein anderer Grund ist dafür denkbar, als daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Rechtspositivismus, der keine Grundlage natureigener Menschenrechte anerkennen wollte, Rechtsqualität nur dem aus menschlicher Setzung entstammenden Recht zuerkannte, mit dieser Akzentsetzung die Rechtswissenschaft fast völlig beherrschte und auch im allgemeinen Rechtsbewußtsein eine ideologisch-pragmatische Rechtsauffassung (›Recht ist, was dem Volk nützt‹) begründen half.« 17 Im Parlamentarischen Rat hat Carlo Schmid derartigen Schuldzuweisungen widersprochen: »Die große Begeisterung für das Naturrecht, die sich heutzutage überall manifestiert, ist eine Gegenbewegung gegen die absolute Abneigung des deutschen juristischen Positivismus gegen das Naturrecht, den man für die Rechtsverleugnung unter dem Naziregime überhaupt verantwortlich macht, wobei ich mir nicht versagen möchte, darauf hinzuweisen, daß die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ›Naturrecht‹ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Naturrecht absolut zu setzen, ist eine gefährliche Sache. […] Wenn wir an dem Satz von dem naturgegebenen Recht festhalten, müssen wir uns darüber klar sein, daß wir damit jedermann freistellen, zu sagen, Naturrecht, wie ich es auffasse.« 18 Für die positivismuskritische Naturrechtsrenaissance in der Nachkriegszeit hat Martin Kriele eine in historischer Hinsicht nicht unplausible Erklärung gegeben: »Die nationalsozialistische Katastrophe hat einen Blick in derart dunkle Abgründe eröffnet, daß Schock und Ent16 17 18

Vollrath 1998, S. 48. Messner 2004, S. 219; entsprechend auch ebd., S. 228 und 298. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 64 f.

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setzen eine therapeutische Wirkung auslösten: das Erwachen eines klaren Unrechtsbewußtseins.« 19 Einen repräsentativen Beleg für Krieles These bietet das 1947 erschienene Buch Christentum und Menschenwürde des katholischen Theologen Joseph Höffner 20 zur spanischen Kolonialethik des Goldenen Zeitalters 21, in dem durch Francisco de Vitoria die Völkerrechtswissenschaft naturrechtlich 22 begründet worden sei. Höffner schrieb, es gebe »Zeiten, in denen man tiefer in die Abgründe des Menschenherzens schauen kann. Eine solche Zeit ist das Jahrhundert der Eroberung Mittel- und Südamerikas gewesen. Eine solche Zeit ist auch die unsere. Es ist deshalb kein Zufall, daß dieses Buch während des zweiten Weltkrieges in den Jahren 1940–1944 geschrieben wurde. Das Erlebnis der furchtbaren Entrechtung und Zertretung der Menschenwürde steht hinter ihm. Und doch ist sein tiefstes Anliegen nicht die Schilderung jener umheimlichen Taten, die enthüllen, wessen der Mensch fähig ist. Von etwas sehr Tröstlichem soll vielmehr berichtet werden. Beim Anblick der zertretenen Menschenwürde brach damals im Goldenen Zeitalter – und erlebten wir in unseren Tagen nicht Ähnliches? – ein Aufschrei aus dem christlichen Gewissen hervor, der nicht überhört werden konnte.« 23 Im Kontext seiner Festellung, im Mittelalter habe »die Ketzerverfolgung der Schaffung und Erhaltung der einheitlichen Weltanschauung des Orbis christianus, den man ohne Zweifel auch als ein politisches Gebilde ansehen muß«, gedient, hat Höffner gefragt, ob »die Kriele 2003, S. 163. Joseph Höffner, seit 1951 Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, von 1962 bis 1969 Bischof von Münster und von 1969 bis 1987 Erzbischof und Kardinal in Köln. 21 »Sie lag nicht nur im Kampf mit jenen, die aus der Knechtung der indianischen Rasse ein Geschäft zu machen suchten. Sie mußte sich auch mit dem geistigen Erbe des eben erst zu Ende gegangenen Mittelalters auseinandersetzen.« (Höffner 1947, Einleitung [S. 11]). 22 Zum Naturrecht, das die spanische Scholastik des Goldenen Zeitalters den »theokratischen Tendenzen« (ebd., S. 198) entgegengesetzt habe, und zu ihrer naturrechtlichen Staatsauffassung vgl. ebd., S. 198–204: »Für die Kolonialethik ergab sich aus der naturrechtlichen Staatsauffassung eine wichtige Folgerung: Die Staaten der Heiden sind ebenso rechtmäßig wie die der Christen.« (Ebd., S. 204). Dass Höffners historische Rekonstruktion auch eine Reaktion auf den Nationalsozialismus und dessen ›Untermenschen‹-Ideologie darstellt, darf vermutet werden. 23 Ebd., Einleitung [S. 11]. 19 20

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christliche Sozialethik dem Staate solche Rechte zugestehen« könne. »Wir worten: Es kann Ideen geben, die derart destruktiv sind, daß sie eine Todesgefahr die gesamte gottgesetzte Wertordnung und insbesondere für alle Formen des Gemeinschaftslebens darstellen, etwa Ideen, die zur Vernichtung von Staat und Familie oder zur Entpersönlichung, Vermassung und Versklavung der Menschen führen. Hier hat sogenannte Gewissensfreiheit in ihrem eigenen Interesse ein Ende. Die Menschenwürde muß jenseits von Rasse, Farbe, Religion und Lebensbedingungen heilig und unantast sein. Wird dieses Ideal verraten, so endet die Menschheit im Chaos. Ein sittlicher Staat darf es deshalb als seine ureigenste Aufgabe ansehen, zum Schutze seiner Bürger und zur Verteidigung der höchsten Güter der Menschheit gegen die Verbreitung solcher Ideen auch mit Gewalt vorzugehen. In besonders krassen Fällen gilt das selbst anderen Staaten gegenüber. Doppelt tragisch wird es nämlich für die Menschheit, wenn sich Staaten in den Dienst jener destruktiven Ideen stellen. Macht ist also notwendig in dieser Welt. Sie muß jedoch sittlich gebunden sein und im Dienste der gottgesetzten Ordnung stehen; denn es wäre verhängnisvoll, wenn man in diesem Äon zwischen Pfingsten und dem Jüngsten Tag die Gewalt bloß Mächten der Finsternis überlassen würde. Niemals freilich darf die Anwendung militärischer oder politischer Gewalt Aufgabe der Kirche Christi sein noch in den Dienst der Glaubensverkündigung treten.« 24 Es gab nach 1945 historisch-politische Gründe für eine Verortung der Menschenwürde in Christentum und Naturrecht. Doch in rechtssystematischer Hinsicht trägt die historische Erklärung nicht. Das GG hat – wie alle Verfassungen, die eine Würdenorm kennen – auf eine bestimmte weltanschauliche Würdedefinition verzichtet, um weder den Begriff einer in Gottesebenbildlichkeit gründenden ›Natur des Menschen‹ noch das Naturrecht bemühen zu müssen: »Das GG lässt […] offen und kann nicht entscheiden, ob es Naturrecht überhaupt gibt.« 25 Ebd., S. 304. Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 21. Das BVerfGE hat bereits in einem Urteil des Ersten Senats vom 29. Juli 1959 aus Anlass der Frage, »ob die Einheit der Familie die primäre Zuständigkeit des Vaters für die Konfliktentscheidung notwendig fordert« darauf hingewiesen, diese Frage sei »vielfach auf der Grundlage naturrechtlicher Vorstellungen erörtert worden«. Es hat festgestellt: »Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler

24 25

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M. Herdegen hat zu Recht auf die anti-juridische Funktion der neueren Berufungen auf das Naturrecht abgestellt: Die »neue Naturrechtslehre richtet sich im Kern gegen eine im säkulären Verfassungsstaat völlig banale These: nämlich die Annahme, dass die Leitbegriffe der Verfassung wie die Menschenwürde Begriffe des positiven Rechts sind. Der Angriff auf diese schlichte Erkenntnis dient – zuweilen ausdrücklich – dem Ziel, bestimmte Deutungsmuster der Spannbreite juristischer Exegese zu entziehen.« 26 Gegen den Verzicht auf eine Würde-Definition ist Widerspruch eingelegt worden: »Da das Grundgesetz die Menschenwürde für unantastbar erklärt und alle staatliche Gewalt verpflichtet, sie zu achten und zu schützen, muss dieses in der Verfassung an erster Stelle stehende Rechtsgut inhaltlich bestimmt werden können, wenn das Achtungsund Schutzgebot nicht leerlaufen soll.« 27 Über diese Forderung hinaus ist immer wieder auch die Frage aufgeworfen worden, ob man hinsichtlich der Menschenwürdegarantie überhaupt auf metaphysische Gründe verzichten könne. Katholische Philosophen und Juristen haben dies verneint. Der Philosoph Robert Spaemann hat erklärt: »Seine theoretische Begründung findet der Gedanke der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit allerdings nur in einer metaphysischen Ontologie, d. h. in einer Philosophie des Absoluten. […] Die Präsenz des Gedankens des Absoluten in einer Gesellschaft ist eine notwendige, nicht jedoch eine hinreichende Bedingung dafür, daß die Unbedingtheit der Würde auch jener Repräsentation des Absoluten zuerkannt wird, die Mensch heißt. Hierzu bedarf es weiterer Bedingungen und darunter der rechtlichen Kodifizierung. Eine wissenschaftliche Zivilisation bedarf – ihrer immanenten Selbstbedrohung wegen – dieser Kodifizierung mehr als jede andere.« 28 Für den Juristen Christian Starck stünden »die Worte des Grundgesetzes beliebiger Deutung offen«, wenn »die metaphysische Begrün-

Rechtsgrundsätze verlassen wird, und die sich vor allem bei der Erörterung der innerhalb der naturrechtlichen Diskussion selbst sehr bestrittenen Fragen des Verhältnisses ›Naturrecht und Geschichtlichkeit‹, ›Naturrecht und positives Recht‹ zeigt. Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht.« (BVerfGE 10, 59 (79)). 26 Herdegen 2008, S. 58 f.; vgl. entsprechend Herdegen 2009, S. 100 f. 27 Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck 2010, Rn. 1. 28 Spaemann 1987, S. 313.

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dung von Menschenwürde […] in Vergessenheit« geriete. 29 Diese Auffassung hat auch Martin Kriele geteilt: »Die Idee der Menschenwürde hat […] geistesgeschichtliche Wurzeln im stoischen Naturrecht und in der christlichen Lehre, daß alle Menschen Ebenbild Gottes sind, Söhne desselben Vaters, und insofern alle prinzipiell gleichberechtigte Brüder. […] Die Idee selbst ist […] ohne ihre metaphysischen und religiösen Wurzeln nicht zu begreifen.« 30 Er wandte sich gegen die Annahme einer Kollision zwischen der letztlich in religiösem Glauben gründenden »naturrechtlich geltenden« Menschenwürdenorm und Art. 4 Abs. 1 GG (»Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.«) und stellt sich mit diesem Argument gegen das von »Materialisten« verteidigte Gebot staatlicher Neutralität. 31 Auch er behauptet: Würde man »Art. 1 1 GG seines metaphysischen Gehalts entkleiden, dann würde Art. 1 1 GG zu einer sinnentleerten Formel«. 32 Diese Neigung, die weltanschauliche und religiöse Neutralität des GG zu untergraben, belegt auch G. Dürigs Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG. Im Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig vertrat er die These, Art. 1 Abs. 1 GG liefere »in der Staatseinrichtung […] den wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln; denn er bestimmt und beschränkt Staatszweck und Staatsaufgabe, und er beStarck 1981, S. 463. Vgl. Starck 2002, S. 185, mit der These, nicht-metaphysische, insbesondere nicht-christliche Auffassungen führten dazu, dass die Menschenwürdegarantie »simply a hollow phrase, able to provide an alibi for any given political ideology« sei. In seinem Menschenwürde-Artikel im Staatslexikon erklärt Starck die »auffällige Aktualität des M[enschenwürde]schutzes im gegenwärtigen Verfassungsrecht« aus ihren »Wurzeln in der christlich-antiken Rechtsüberlieferung, selbst wenn die M[enschenwürde] in ihrer säkularisierten Erscheinungsform gemeint ist, aus der die Relativität aller staatlichen Macht folgt.« (SL, Bd. 3, Sp. 1119). 30 Kriele 1986, S. 52 f. 31 Kriele 2003, S. 176. Kriele hat allerdings erläutert, die Annahme, »der Gedanke der Menschenwürde wäre an das Christentum gebunden«, sei »nicht richtig«: »Der Gedanke der Menschenwürde ist überall da verständlich und erlebbar, wo sich der Mensch in einer besonderen Beziehung zum Himmel weiß, gleich ob in Vater- oder Mutterreligionen, in monotheistischen oder polytheistischen Vorstellungen, in den Buchreligionen oder im Volksglauben der Naturvölker, ob in den Traditionen der Mysterien, der Theosophen, der Rosenkreuzer, der Kabbala, der Astrologie, der magischen Weltvorstellungen usw. Alle diese Religionen und Weltvorstellungen haben einen gemeinsamen Kern: Man hält etwas für wahr oder wahrscheinlich oder möglich, was rational nicht zu fassen und wissenschaftlich nicht zu beweisen ist.« (Ebd., S. 170 f.). 32 Ebd., S. 174. 29

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stimmt und beschränkt die Legitimität von Staat und Recht aus den Werten personaler Ethik«. 33 Dies wurde so erläutert: »Man sollte nicht um die Begriffe für diese Wertfundierung streiten. Man kann auch sagen, daß Art. 1 I das ›Naturrecht neuzeitlicher Prägung‹ rezipiert habe […] Niemals ist es jedoch unjuristisch, wenn man zur Interpretation des von der Verfassung rezipierten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christliche Lehren verwendet […] Die christliche Naturrechtsauffassung umspannt stets auch die gültige profane Lehre […] Sollte irgendwo das profane Naturrecht zu Abweichungen vom christlichen führen, so ist im Zweifel nichts anderes als die Überprüfung auf historische Abfälschungen nötig, um wieder auf die gemeinsame christliche Wurzel zu stoßen.« 34 Diejenigen, die – wie Ch. Starck – an metaphysische und naturrechtliche Quellen des Würdebegriffs erinnern, plädieren besonders intensiv dafür, den Begriff aus seiner Geschichte zu verstehen. Starck kommt zwar nicht umhin, festzustellen: »Menschenwürde ist ein Begriff des positiven Verfassungsrechts.« Aber diese Aussage stütze nicht »die Annahme, dass der Begriff ohne Rücksicht auf seine geistesgeschichtlichen Wurzeln verstanden und rechtsdogmatisch handhabbar gemacht werden kann. Viele Grundbegriffe des positiven (Verfassungs-)Rechts, die keine Schöpfungen des Augenblicks sind, können nur aus ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln und ihrer systematischen Stellung in der Verfassung richtig verstanden werden. Mit dem abwehrenden Hinweis auf ein von subjektiven Wertvorstellungen geleitetes Naturrecht kann man diese unverzichtbaren Interpretationsgrundlagen nicht beiseiteschieben.« 35 Die Geschichte, aus der der Würdebegriff zu verstehen sei, sei die des Christentums: »Die hohe Bewertung des einzelnen Menschen in der abendländischen Zivilisation unterscheidet diese von den anderen Hochkulturen. Da die abendländische Zivilisation entscheidend vom Christentum geprägt ist, liegt es nahe, die Wurzeln der Menschenwürdegarantie im Christentum zu suchen, freilich nicht in dem Sinne, dass dort der Rechtsbegriff der Würde des Menschen oder gar deren rechtliche Garantie aufzuspüren seien. Es geht vielmehr um die geistigen Voraussetzungen oder – bildlich gesprochen – Keime für die spätere Herausbildung der verfas33 34 35

Dürig in Maunz/Dürig, GG-K, Art. 1 Abs. 1, Rn. 15; Hervorh. v. mir. Ebd., Fußnote zu Rn. 15. Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck 2010, Rn. 3.

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sungsrechtlichen Menschenwürdegarantie. Diese Voraussetzungen sind im christlichen Menschenbild zu sehen.« 36 Der Verweis auf die historischen ›Wurzeln‹ sagt aber nichts über die Geltung von Verfassungsnormen: »Ihre heutige Geltung verdankt sich nicht dem Wahrheitsanspruch einer Religion oder der sakralen Anmutung bestimmter Institutionen und Rechtsfiguren, sondern ihrer prinzipiellen Funktionalität und Adaptionsfähigkeit für den modernen Verfassungsstaat. Die ursprüngliche christliche Prägung führt in der Geltungsfrage nicht zu einer weiterwirkenden Deutungshoheit derjenigen Kräfte und Motive, die einst bei der Schaffung der entsprechenden Regelungen maßgeblich waren; der religiöse Geltungsgrund wird durch die Normgebung des säkularen Staates ersetzt.« 37 Die Frage nach dem ›christlichen‹ Naturrecht als vor- bzw. überpositiver Quelle von Menschenwürde und Menschenrechten ist jedoch auch unter den Bedingungen des pluralistischen demokratischen Rechtsstaats nicht verstummt. Josef Seifert – katholischer Vertreter einer personalistischen Anthropologie und Ordentliches Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben – fragt: »[B]egründet gerade die Menschenwürde, in ihren vier Quellen, die jeweils verschiedene vier Reiche von Menschenrechten grundlegen, die Menschenrechte als echte ›Naturrechte‹ oder ›wertfundierte Rechte‹, die zwar in der Verfassung als unantastbar abgesicherte Grundrechte verankert sein sollen, aber doch jeder positiven Verfassung vorhergehen?« 38 Seine Antwort lautet: »Wir können das allgemeinste Fundament der Menschenwürde und der Menschenrechte unmöglich […] in einer Art von Konsens oder einer gesellschaftlichen Dimension irgendeiner Art erblicken, und auch nicht in einer Verfassung oder positiven Gesetzgebung, sondern ausschließlich in einer metaphysischen Grundlage im Wesen der Person selbst, und insbesondere in deren Geistigkeit und Substantialität. Eine wandelbare und nur durch den positiven Willen eines menschlichen oder auch göttlichen Gesetzgebers begründete Menschenwürde kann unmöglich einleuchtende und zeitlos gültige Menschenrechte begrünEbd., Rn. 5. Vgl. ebd., Rn. 7: »Diese theologisch-philosophische Tradition ist während der Beratungen im Parlamentarischen Rat und in seinen Ausschüssen sehr oft in Bezug genommen worden. Auch aus diesem Grund verbietet sich die Annahme einer vollständigen Zurückhaltung des Grundgesetzes im Hinblick auf christliche Vorstellungen vom Menschen.« 37 Dreier 2013a, S. 48 f. 38 Seifert 1997, S. 167. 36

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den.« 39 Seifert erklärt: »Auf Grund seiner Wesensmerkmale und Geistigkeit besitzt der Mensch einen die ganze übrige Schöpfung überragenden Wert. Die Würde des Menschen, die dem Menschen auf Grund seiner evidentzumachenden Erkenntnisfähigkeit, Freiheit und Bezogenheit auf das Ganze der Wirklichkeit (und das Absolute) zukommt, ist eine in sich ruhende Kostbarkeit der Person, die weder von deren eigenen noch von fremden Inklinationen und deren Erfüllung abhängt, sondern die Person in sich selbst positiv bedeutsam macht, und zwar in einer einzigartigen Weise, die aus der geistigen Natur der Person entspringt. Und dieser Wert wird als Würde bezeichnet. Diese ist also nicht nur ein objektiver Wert der Menschen, sondern jener besondere objektive Wert, der die Person von allen anderen Seienden abhebt.« 40 Auf dieser Grundlage benennt Seifert vier Quellen des Würdebegriffs: »Die erste Quelle der Menschenwürde ist einfach die Wesensnatur des Menschen – und zwar sowohl das, was der Mensch schon aktuell ist, als auch das, was prinzipiell in seiner geistigen Substantialität als Anlage und Potenz angelegt ist. […] Eine zweite Quelle der Menschenwürde liegt in der bewußten Aktualisierung der Person als solcher und ihrer bewußten intentionalen Relationen zur Welt, zum Du, zur Gesellschaft und zum absoluten Sein […] ›Moralische Würde‹ Drittens gibt es eine Menschenwürde, die erst aus den positiven und werthaften Aktualisierungen der Person entspringt. Von ihr gilt, daß sie eine Berufung und Eroberung, nicht ein unverlierbarer Besitz ist, wie Gabriel Marcel sagt. Sie wird gesteigert durch die wertmäßige Entfaltung all jener Fähigkeiten, wie des Denkens und Erkennens, die die Personwürde im ersten und zweiten Sinne begründen. […] Unterscheidende Gaben und Ämter Eine vierte Quelle der Menschenwürde und damit auch der Menschenrechte bezieht sich gleichermaßen auf eine verlierbare Wertdimension der Person, aber sie ist der Person durch Geschenke und nicht durch eigene Realisierung eigen. Man mag diese Würde schon in der Erkenntnis sehen, durch die die Welt die Person bereichert und die Wahrheit ihr eine neue Würde verleiht bzw. dieselbe aktualisiert. […] Hingegen zielt der theologische Gedanke jener Würde der Person, die ihr durch die Gnade Gottes zuteil wird, auf eine das tiefste ontologische Wesen der Person berührende, aber 39 40

Ebd., S. 172. Ebd., S. 178.

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Metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm

eine ihr ebenfalls geschenkte Würde, ab. Viele Dimensionen dieser Würde liegen jenseits eines rein philosophischen Begriffs der Menschenwürde und gehören einer theologischen Dimension der Menschenwürde an. […] Zur vierten Quelle und Dimension erworbener und zwar geschenkter Würde kann man auch alle jene besonderen Würden und Autoritäten rechnen, die einem Menschen aus seiner Rolle als Erzieher, als Eltern, als Kinder, als Inhaber politischer und anderer Ämter erwachsen. Diese begründen besondere Rechte, die auch als Menschenrechte im weiteren Sinn angesprochen werden dürfen, wie die Unabhängigkeit des Richters, die Elternrechte, Kindesrechte, Rechte der Regierung usf.« 41

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Ebd., S. 180–185.

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6. Das Neutralitätsgebot und die Religionen

Die Debatte über die Notwendigkeit einer metaphysischen und naturrechtlichen Begründung des Begriffs ›Menschenwürde‹ war und ist in zweifacher Hinsicht paradox. Zum einen steht der These der Fragwürdigkeit eines Würdebegriffs ohne Metaphysik der seit 1945 international zu beobachtende Prozess der Verrechtlichung 1 kultureller Taburegeln im Rechtsstaat entgegen, in dem die Bedeutungen des Begriffs konkretisiert werden. Zum anderen widersprechen religiöse und weltanschauliche Ansprüche auf Deutungshoheit der Neutralität 2, zu der Recht und Staat in der pluralistischen Demokratie verpflichtet sind: »Mit der Verbürgung der Menschenwürde ist die Aufoktroyierung von Würdekonzeptionen unvereinbar.« 3 Zu Recht betont Hasso Hofmann: »Die Ausübung individueller und kollektiver Religions- und Weltanschauungsfreiheit im religiös-weltanschaulich neutralen Staat setzt die Akzeptanz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und die Profanität seiner Moral ebenso voraus wie die Aufnahme des Anerkennungspostulats für andere in die eigene religiöse Verkündung. Aktivitäten jenseits dieser Grenze können dem fundamentalen Ordnungsanspruch des Staates nicht durch Berufung auf die Freiheit von Religion und Weltanschauung entzogen werden.« 4 Dem stimmt auch der evangelische Theologe Wolfgang Huber zu: »Der Verweis auf die Menschenwürde ändert nichts daran, daß die Grundrechte des modernen Verfassungsstaats ebenso wie die Menschenrechte des modernen Völkerrechts begründungsoffen formuliert werden müssen. Das verlangt die Religionsneutralität des Verfassungsstaats ebenso wie Vgl. Henkin 1979, Girard/Hennette-Vauchez 2005. Vgl. Schürmann 2011, S. 41 f.; Dreier 2013a, S. 25–33; vgl. auch Huster 2002, der ein Neutralitätsgebot begründet, das sich nicht auf die Wirkungen, sondern auf die Begründungen staatlichen Handelns bezieht. 3 Pieroth/Schlink 1994, Rn. 385. 4 Hofmann 2008, S. 27: 1 2

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Das Neutralitätsgebot und die Religionen

die Neutralität des Völkerrechts gegenüber den verschiedenen Traditionen, Religionen und Kulturen der Menschheit.« 5 Das Neutralitätsgebot ist eine notwendige Folge der Pluralität von Werteinstellungen und Moralen in der modernen Demokratie, in der eine »standortgebundene ›Aufladung‹ der Menschenwürde, ihre Besetzung mit partikulären ethischen Meinungen oder philosophischen Spekulationen« 6 vermieden werden muss. Der Menschenwürdenorm darf im Rechtssystem keine bestimmte Religion 7, keine bestimmte Weltanschauung und kein bestimmtes Menschenbild 8 – weder des Christentums noch des Islam noch des Buddhismus oder andere Religionen – unterlegt werden. Dies hat auch das BVerfGE so gesehen: »Das Grundgesetz legt auch nicht etwa einen ›ethischen Standard‹ im Sinne eines Bestandes von bestimmten weltanschaulichen Prinzipien fest, etwa ›nach den Maximen, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben‹ […]. Der ›ethische Standard‹ des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität.« 9 Moderne Gesellschaften sind durch einen faktischen Pluralismus von moralischen Einstellungen, Bedürfnissen, Interessen und individualisierten Kulturen charakterisiert, und mit dem Pluralismus geht de facto Relativismus einher. Pluralismus erlaubt Begründungsvielfalt; die Verschiedenheit der Meinungen, Präferenzen und Verhaltensweisen muss akzeptiert werden. Die Autonomie des Anderen ist zu respektieren, freilich nicht grenzelos, sondern in den Grenzen der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte. Für den Anspruch, dass nur eine Meinung alternativlos Geltung beanspruchen könne und Huber 1992, S. 581. Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 168. 7 Zum Würdeverständnissen in verschiedenen Religionen vgl. Huber 1992, S. 596 ff. Zum Menschenwürdekonzept in rabbinischer Perspektive vgl. Safrai 2002. 8 Zum ›Menschenbild des Grundgesetzes‹ vgl. u. a. Pawlas 1991, Huster 2002, Haeberle 2008, Hufen 2011, Rn. 16, Teifke 2011, S. 62–66. 9 BVerfGE 21, 49 (102). 5 6

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Das Neutralitätsgebot und die Religionen

durchgesetzt werden müsse, gilt das Akzeptantgebot nicht. Der Pluralismus hat eine epistemologische Dimension, die in Hilary Putnams ›inter-realistischer‹ Position zum Ausdruck kommt: »Objectivity and rationality humanly speaking are what we have; they are better than nothing.« 10 Das Menschenmaß-Prinzip ist jedoch kein Grund zu »moralischem Relativismus« oder »moralischem Skeptizismus«: »Der Glaube an ein pluralistisches Ideal ist nicht dasselbe wie der Glaube, daß jedes Ideal menschlichen Gedeihens ebenso gut ist wie jedes andere.« 11 Die Grenze für den mit dem Pluralismus verbundenen Relativismus ist das Recht. Vor den Folgen unserer Freiheit schützen wir uns im Recht, und deshalb kann aus dem faktischen Pluralismus und Relativismus kein normativer Rechtsrelativismus abgeleitet werden, der die Interpretation des Art. 1 Abs. 1 der Beliebigkeit anheimstellt. Vielmehr gilt: »Der Relativismus fordert den Rechtsstaat.« 12 Gustav Radbruch hat in Der Relativismus in der Rechtsphilosophie (1934) geltend gemacht, die Verfassung müsse die Kraft entfalten, »den Kampf der Überzeugungen« in Formen der Koexistenz konkurrierender Einstellungen und Interessen zu überführen. Im Rahmen dieser Koexistenz fungiert der Rechtsstaat als Entscheidungsorgan: »Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll.« 13 Radbruch hat den Relativismus nicht verteufelt, sondern als die »gedankliche Voraussetzung der Demokratie« bezeichnet: »Der Relativismus mit seiner Lehre, daß keine politische Auffassung beweisbar, keine widerlegbar ist, ist geeignet, jener bei uns in politischen Kämpfen üblichen Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken, die beim Gegner nur Torheit oder Böswilligkeit sehen will.« 14 »Die hier dargelegte Methode« – so begründet er – »nennt sich Relativismus, weil sie die Richtigkeit jedes Werturteils nur in Beziehung zu einem bestimmten obersten Werturteil, nur im Rahmen einer bestimmten Wert- und Weltanschauung, nicht aber die Richtigkeit dieses Werturteils, dieser Wert- und Weltanschauung selbst festzustellen sich zur Aufgabe macht. Der Relativismus gehört aber der theoretischen, nicht der praktischen Vernunft an. Er bedeutet Verzicht auf die wissenschaftliche Be-

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Putnam 1981, S. 54 f. Ebd., S. 200. Radbruch 1990, S. 19; Hervorh. v. mir. Vgl. hierzu ausführlich Sandkühler 2002. Radbruch 1993, S. 162. Radbruch 2003, S. 3 f.

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Das Neutralitätsgebot und die Religionen

gründung letzter Stellungnahmen, nicht Verzicht auf die Stellungnahme selbst.« 15 Ist damit einem Relativismus des anything goes Tür und Tor geöffnet? Dies ist nicht der Fall. Denn zu den mit der Menschenwürde verbundenen Rechten gehören nicht nur Abwehrrechte und Schutzrechte, bei denen der Staat das Individuum gegen Eingriffe anderer zu verteidigen hat, sowie politische Teilnahmerechte und soziale, das Existenzminimum sichernde Gewährleistungsrechte. Eine Schranke für den Relativismus besteht darin, dass sich der Rechtsstaat an Verfahrensrechte bindet, die den Umgang mit dem Recht – vor allem mit den Grundrechten 16 – regeln. Prozeduralisierung ist ein wesentliches Mittel gegen den Relativismus im Umgang mit dem Recht, gegen die Beliebigkeit von Norminterpretationen und gegen die Willkür staatlicher (und nicht-staatlicher) Herrschaft, die im Rechtsstaat domestiziert wird. Der Rechtsstaat hat – so Horst Dreier in seinem Kommentar zu Art. 20 GG – die Aufgabe, »politische und gesellschaftliche Macht im Gemeinwesen primär nach Maßgabe von Recht und Gerechtigkeit auszuüben, auch im Widerspruch zur politischen Opportunität der Macht. Rechtsstaatlichkeit prägt die Strukturen und die Ziele staatlichen Handelns, das nicht nur begrenzt, sondern auch gewährleistet wird«. 17 Verfassungsrechtlich gesehen »umfaßt der grundgesetzliche Rechtsstaat die Gesamtheit der Regeln, Grundsätze und Prinzipien, die […] als Ausprägung des Rechtsstaates gelten, indem sie staatliche Machtausübung rechtlich binden, organisieren und begrenzen«. 18 Die von Radbruch angesprochenen ›Stellungnahmen‹ zur Würdenorm sind zwar in ihrer Heterogenität zu respektieren, aber nicht jede ›Begründung‹ ist zur Deutung von Art. 1 Abs. 1 geeignet. So lässt sich z. B. die These nicht begründen, aus dem Neutralitätsgebot müsse bezüglich Art. 1 Abs. 1 die Schlussfolgerung gezogen werden, unter ›Menschenwürde‹ könne nur noch eine ethisch begründete »normative Leitidee« und ein »Gestaltungsauftrag mit dem Ziel, materielle Not, geistige Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen« 19, verstanden werden.

15 16 17 18 19

Ebd., S. 17 f. Zu einem prozeduralisierten Grundrechtebegriff vgl. Alexy 2010, S. 949 ff. Dreier in Dreier 2004, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 1. Ebd., Rn. 36. Wetz 2002, S. 15.

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Das Neutralitätsgebot und die Religionen

Die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Begründungsgrenzen gelten auch für konservative Grundgesetzkommentatoren, die für eine prilegierte, alternativlose christliche und naturrechtliche Deutung der Würdenorm plädieren – und dabei selbst ohne Privileg am pluralistischen Konflikt alternativer Interpretationen teilhaben. Bereits vor seiner Kommentierung des Art. 1 Abs. 1 GG im Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig 20 hatte Dürig 1952 erklärt: »Bis zum Nachweis des Gegenteils muß vermutet werden, daß bewußt oder unbewußt der christliche Persönlichkeitsbegriff in das GG rezipiert wurde. Dieser Persönlichkeitsbegriff aber, der vom Christentum (leider meist in zu zurückhaltender Vornehmheit) auch bereit gehalten wurde, als der seit der Aufklärung bedingungslos gewordene Mensch sich bald maßlos als Übermensch fühlte, bald angstvoll in das Kollektiv flüchtete, beinhaltet seit jeher […]: Der Mensch ›ist‹ Person (Individuum) kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, sich selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu gestalten.« 21 Von dieser christlichen Verortung der Würdenorm spannt sich ein weiter Interpretationsbogen bis dahin, dass im Kontext einer liberalen evangelischen Theologie die Menschenwürde zur »Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion« 22 erklärt wird. Dürig in Maunz/Dürig, GG-K, Art. 1 Abs. 1, Rn. 15. Dürig 1952, S. 250. 22 Unter dem Titel ›Die Erklärung der Menschenrechte – Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion?‹ hat Wilhelm Gräb, Theologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, im Januar 2013 erklärt: »Um den religiösen Charakter der Erklärung der Menschenrechte zu erkennen, genügt es, auf die unbedingte Geltung, die sie beansprucht, hinzuweisen. […] Der im Unbedingtheitshorizont formulierte Geltungsanspruch der Menschenrechte macht ihren implizit religiösen Gehalt aus. Das Religiöse an ihnen ist, dass sie den Menschen unveräußerlich zukommen. […] Erst dieser religiöse Charakter der Menschenrechte führt dann aber auch dahin, dass ihre Geltung universal beansprucht werden kann. Weil die Menschenrechte nicht auf Bedingungen gründen, die mit natürlichen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Gegebenheiten menschlichen Lebens verbunden sind, können sie unabhängig von all diesen Bedingungen, die Menschen zugleich immer auch voneinander unterschieden sein lassen, gelten. […] Die konkreten, partikularen Religionen können an die universale Religion der Menschenrechte anschließen. Sie können ihre eigenen Traditionen, ihre Lehren und Rituale mit ihnen verträglich machen. […] Die Interpretation des göttlichen Heilswillens im Lichte der Menschenrechte steigert die Motivation der Gläubigen, sich für die Durchsetzung dieser Rechte einzusetzen. Sie geht zugleich mit dem religiösen Charakter der Menschenrechte zusammen, der es macht, dass Menschen sich auch unabhängig 20 21

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Das Neutralitätsgebot und die Religionen

Dies widerspricht dem Neutralitätsgebot für Interpretationen der Würdenorm des Grundgesetzes und deren Funktion, als »eine der großen globalen Integrationsformeln […] unterschiedliche ethisch-politische Vorstellungen unter ein gemeinsames Dach zu bringen und bei allen noch so gravierenden Differenzen im Einzelnen eine Basis für Konsense und Kompromisse bereitzustellen. […] Das Prinzip der Menschenwürde ist für diese Rolle prädestiniert, weil es wie die platonische Idee des Guten über allen konkreteren Normen, Prinzipien und Idealen steht und diesen als letzter Bezugspunkt dient. Zusätzlich hat es den Vorzug, anders als die platonischen Ideen auf keine besondere metaphysische Begründung festgelegt zu sein. Wer dieses Prinzip akzeptiert, verpflichtet sich nicht, eine der vielen metaphysischen Anthropologien – etwa die stoische, christliche oder kantische – zu akzeptieren, die diesem Prinzip als Hintergrund gedient haben und weiterhin dienen. Im Gegenteil, gerade dadurch, dass es […] als ein an keine spezifische metaphysische oder theologische Begründung gebundenes Prinzip auftritt, vermag es seine zentrale politische Aufgabe einer letzten integrativen, orientierenden und alles Weitere fundierenden Instanz zu erfüllen.« 23 Im Unterschied zum Verfassungsgeber im säkularisierten Staat 24, der diese Freiheit nicht hat, sind die Individuen frei, ihr jeweiliges Verständnis der Würdenorm entsprechend ihren religiösen und sonstigen Präferenzen solange selbst zu bestimmen, wie sie die universelle juridische Geltung dieser Norm und die Rechte Dritter nicht unterlaufen. Mit dem Neutralitätsgebot sind nicht nur Würdeverständnissen Grenvon ihrer konkreten Religionszugehörigkeit auf religiös motivierte Weise für sie engagieren.« (http://religionsphilosophischer-salon.de/3150_die-erklaerung-der-menschen rechte-bekenntnisgrundlage-einer-universalen-religion-von-prof-wilhelm-graeb_fun damental-vernunftig-religios-aus-freier-einsicht-interviews-mit-prof-wilhelm-grab). 23 Birnbacher 2011, S. 77. Bezogen auf die Entstehung der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ zeigt Joas 2011, S. 21, dass die Menschenrechte »zwar auf kulturelle Traditionen wie die christliche zurückgreifen«, doch »Werte wie der der universalen Menschenwürde und Rechte wie die Menschenrechte nicht in eine bestimmte Tradition ›eingesperrt‹« sind (ebd., S. 21). 24 »Staats- und verfassungsrechtlich meint Säkularisierung […] die prinzipielle Trennung von Staat und Kirche, den Prozeß der Durchsetzung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, die Abkoppelung der Autorität des Rechts von der Autorität eines bestimmten Glaubens. Der säkularisierte Staat in diesem Sinne ist der weltanschaulich neutrale Staat mit umfassender Verbürgung der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit für seine Bürger.« (Dreier 2013a, S. 14 f.)

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zen gesetzt, sondern auch dem Staat selbst: »Der freiheitliche Verfassungsstaat kann und will […] keine Gewißheitsaussagen über – im wahrsten Sinne des Wortes – Gott und die Welt treffen, sieht von einer Totalbestimmung des Menschen gerade ab und spricht genau umgekehrt diesem das Recht auf freie Sinnsuche zu. Der freiheitliche Verfassungsstaat ist nicht der ›Hüter eines Heilsplanes‹, sondern organisiert die demokratische Legitimation und rechtsstaatliche Limitation der Ausübung von Staatsgewalt und sucht die politische wie private Freiheit aller Bürger zu garantieren.« 25 Die Freiheit zur Wahl eines bestimmten Würdeverständnisses drückt sich z. B. in Begründungen dafür aus, dass die Würdenorm vor allem in einem christlichen Horizont ihre Wirkung entfalten könne. Dies zeigt etwa die folgende Argumentation des Theologen Ulrich Barth: Er geht davon aus, dass die »Angehörigen des Geltungsbereichs von Art. 1 Abs. 1 […] von diesem selbst gar nicht direkt als Normadressaten angesprochen [werden]. Nun lebt aber die konkrete Verfassungswirklichkeit einer Menschenwürdegarantie davon, daß nicht nur die Staatsgewalten, sondern auch die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde als Prinzip staatlichen Zusammenlebens respektieren. Damit ergibt sich eine merkwürdige Diskrepanz: Auf der einen Seite wird jene Grundnorm zum letztgültigen Verfassungsprinzip erhoben, andererseits zeigt sich eine echte Lücke in der Benennung der von ihr betroffenen Normadressaten.« Es reiche »für die menschenwürdige Gestaltung eines Staatswesens nicht aus, diesem Prinzip den verfassungsmäßigen Rang einer Grundnorm zuzuweisen und seine konsequente Umsetzung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zu konSo Dreier 2013a, S. 32, mit Bezug auf BVerfGE 42, 312 (55): »Für die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religionsgesellschaften nach dem geltenden Verfassungsrecht ist grundlegend, daß das Grundgesetz – u. a. um der Würde und Freiheit des Menschen willen – der staatlichen Gewalt prinzipielle Grenzen setzt. Dies folgt aus der normativen Bedeutung der Freiheitsrechte des Grundgesetzes. Das Grundgesetz hat nicht eine virtuell allumfassende Staatsgewalt verfaßt, sondern den Zweck des Staates materialiter auf die Wahrung des Gemeinwohls beschränkt, in dessen Mitte Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen. Die Gewährleistung der Freiheitsrechte ist Ausdruck dafür, daß das Grundgesetz den Staat nicht als den Hüter eines Heilsplans versteht, kraft dessen der legitimiert erschiene, dem Menschen die Gestaltung seines Lebens bis in die innersten Bereiche des Glaubens und Denkens hinein verordnen zu dürfen. Dieser Gedanke hat zumal in Art. 4 GG seine verfassungsrechtliche Ausprägung gefunden; er verwehrt dem Staat den bestimmenden Zugriff auf die religiöse oder weltanschauliche Dimension des Menschen.«

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trollieren. Es muß vielmehr zugleich auch deren gesellschaftliche Anerkennung als Grundnorm sicher gestellt sein. […] Hier scheinen religiöse Überzeugungen, sofern ihnen die Ebene universalistischer Deutungsschemata erschwingbar ist, in einer günstigeren Lage zu sein. Die als Menschenwürdekonzept entfaltete Gottesebenbildlichkeitsvorstellung erfüllt diese Bedingung. Sie war ihrem Gehalt nach […] von Anfang an ein universalistisches Modell.« Heute sei aber durch die »staatsrechtliche Positivierung der Menschenwürde und Menschenrechte als geltende Verfassungsprinzipien« die durch das Naturrecht eröffnete Möglichkeit nicht mehr gegeben, »sich auf eine jeglichen partikularen Satzungen vorausliegende, vorstaatliche Gegebenheit beziehen zu können, die ihre eigene Allgemeinheitsevidenz besaß und so als Kriterium möglicher Rechtsordnungen in Anspruch genommen werden konnte«. Es könnten nun »religiöse Gehalte universalistischen Zuschnitts eine dem Naturrecht äquivalente Funktion übernehmen. Die religiöse Verankerung des Menschenwürdekonzepts ist der Form nach dem Naturrecht zwar darin unterlegen, immer nur aus der partikularen Perspektive einer bestimmten Religionsgemeinschaft sprechen zu können, aber sie besitzt dafür den Vorzug, die Menschenwürde nicht in einer gleichsam gegenständlichen Eigenschaft aufgehen zu lassen, sondern weiß um die Notwendigkeit einer entsprechenden Deutungskultur, worin jene allererst mentale Realität gewinnt. Ohne die wechselseitige Fremdzuschreibung von Subjektsqualität und die Habitualisierung und Institutionalisierung solcher Prozesse entbehrt die Idee der Menschenwürde jener öffentlichen Geltung außerrechtlicher Art, auf die auch eine wohl funktionierende Grundrechtsordnung nicht verzichten kann, nicht […] im Hinblick auf die innerrechtliche Begründungsstruktur, sondern ihrer sozialen Anerkennungsbasis wegen.« 26 Ähnlich argumentiert Paul Kirchhof im Handbuch der Katholischen Soziallehre: »Die Verfassungsgemeinschaft ist auf andere, von ihr unterschiedene Legitimationsinstanzen, insbesondere die Kirchen, als ›Überlebensbedingung‹ angewiesen, die diesen Humus des Verfassungsrechts pflegen und erneuern.« 27 Wer so argumentiert, lässt die unmittelbare Drittwirkung des Art. 1 Abs. 1 GG unberücksichtigt; sie besagt nicht nur, dass der Staat 26 27

Barth 2003, S. 363 ff. Kirchhof 2008, S. 43.

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Würdeverletzungen zwischen Individuen verhindern bzw. rechtlich ahnden muss, sondern macht die privaten Individuen zu Adressaten der öffentlich-rechtlichen Würdenorm. Es steht katholische Christen frei, anders als griechisch-orthodoxe Christen 28 ihr Würdeverständnis aus der Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen 29 und aus der Tradition des christlichen Naturrechts zu schöpfen – etwa aus der ›Pastoralen Konstitution Gaudium et spes. Über die Kirche in der Welt von heute‹. 30 In ihr hat Papst Paul VI. am 8. Dezember 1965 unter dem Titel ›Die Würde der menschlichen Person‹ verlautbart, die katholische Kirche könne eine Antwort auf die menschlichen Nöte geben, »um so die wahre Verfassung des Menschen zu umreißen und seine Schwäche zu erklären, zugleich aber auch die richtige Anerkennung seiner Würde und Berufung zu ermöglichen. Die Heilige Schrift lehrt nämlich, daß der Mensch ›nach dem Bild GotEmmanuel Clapsis, Erzbischof der Griechisch-orthodoxen Erzdiözerse von Amerika, hat hierzu erklärt: »Orthodox theologians have not addressed – or at least do not consider it being crucial to their concerns – the issue of human dignity and rights. The Orthodox critique of the human rights tradition focuses on its reduction, especially in affluent western countries, to a basis that fortifies the self, leads to self-centeredness, and legitimizes self-gratification. This undoubtedly contributes to social fragmentation that endangers human solidarity, love and communion – necessary elements and norms for a compassionate and just community. […] The Orthodox emphasis on communal life and the primacy of relations is also an equally important corrective to western individualism and social fragmentation. […] For Christian thought, human dignity is grounded on the biblical and patristic tradition that human beings are created in God’s image. […] Christian theological anthropology locates primarily the humanum not in the relationship of humans to themselves (i. e., capacity for reflection, self-consciousness) or in their relationship to the world, but in God, whose love as life-giving reality is extended unconditionally to all.« (http://www.goarch.org/ourfaith/human-dignity). 29 Vgl. hierzu Hilpert 2007, S. 44 und 47 ff. Mit der Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verbindet der Moraltheologe Hilpert eine moderne sozialethische Interpretation des »Gedankens von der Gleichheit vor Gott«: »Aber damit war die Wirkkraft des Gedankens von der Gleichheit vor Gott nicht erschöpft. Sobald die Menschen nämlich merkten, dass nicht nur Politik und Rechtsprechung, sondern auch die soziale Ordnung, das Recht und selbst die staatliche Verfasstheit Ergebnisse menschlichen Handelns, infolgedessen aber auch veränderbar sind, verloren die Ungleichheiten den Charakter des Unausweichlichen. Dann aber konnte Gleichheit vor Gott nicht mehr nur fürsorgliche Behandlung oder lgnorierung des sozialen Status bei der Übertragung eines kirchlichen Amts bedeuten, sondern konsequenterweise auch Abschaffung von institutionalisierten Formen der Ungleichheit.« (Ebd., S. 45). Zur Geschichte der Idee der Gottesebenbildlichkeit vgl. Graf 2009, S. 83–102. 30 Vgl. auch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils ›Dignitatis Humanae‹ über die Religionsfreiheit vom 7. Dezember 1965. 28

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tes‹ geschaffen ist, fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von ihm zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt (1), um sie in Verherrlichung Gottes zu beherrschen und zu nutzen (2). […] Daher verlangt die Würde des Menschen, daß er Gott in seinem Leibe verherrliche und ihn nicht den bösen Neigungen seines Herzens dienen lasse. […] Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird (9). Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist (10). […] Die Würde des Menschen verlangt daher, daß er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt sowie sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in angestrengtem Bemühen verschafft. Die Freiheit des Menschen, die durch die Sünde verwundet ist, kann nur mit Hilfe der Gnade Gottes die Hinordnung auf Gott zur vollen Wirksamkeit bringen.« Die katholische Kirche hält, wie Benedikt XVI. deutlich gemacht hat, bei ihrer Interpretation der Menschenwürde und der Menschenrechte an der naturrechtlichen Tradition fest. »Immer wenn das Naturrecht und die Verantwortlichkeit, die es einschließt, geleugnet werden, wird auf dramatische Weise der Weg zum ethischen Relativismus auf individueller Ebene frei und der Weg zum staatlichen Totalitarismus auf der politischen Ebene. Die Verteidigung der allgemeinen Menschenrechte und der Grundsatz vom absoluten Wert und Würde der Person erfordern ein Fundament. Ist dieses Fundament nicht gerade das Naturrecht mit seinen unverbrüchlichen Werten, auf die es verweist?« 31 Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., hatte am 1. April 2005 in einem Vortrag im Kloster Santa Scolastica erklärt: »[T]he splendor of being an image of God no longer shines over man, which is what confers on him his dignity and inviolability, and he is left only to the power of his own human capacities. He is no more than the Benedikt XVI., Das Naturrecht ist das Fundament der Menschenrechte und der Menschenwürde. Zweite Katechese zum heiligen Kirchenlehrer Thomas von Aquin (2010); http://www.zenit.org/article-20813?l=german.

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image of man of what man? […] Thus, even the rejection of the reference to God, is not the expression of a tolerance that desires to protect the non-theistic religions and the dignity of atheists and agnostics, but rather the expression of a conscience that would like to see God cancelled definitively from the public life of humanity, and relegated to the subjective realm of residual cultures of the past.« 32 In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 hat Benedikt XVI. erklärt: »In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. […] Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.« 33 Die Freiheit der Wahl ihres Würdeverständnisses gilt ebenso auch für Muslime. Und auch im Islam gibt es nicht ›die‹ eine Deutung des Würdebegriffs. Muslime können sich z. B. auf die vier islamischen bzw. http://www.catholiceducation.org/articles/politics/pg0143.html. http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede. html.

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arabischen ›Menschenrechtserklärungen‹ beziehen, etwa auf die 1981 vom Islamrat für Europa in Verbindung mit der konservativen Muslim World League verabschiedete ›Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam‹. 34 Diese Erklärung versteht sich als »Niederlegung ewiger Rechte, von denen nichts abgestrichen, geändert, aufgehoben oder ausgesetzt werden darf«. Sie entspricht der »für die Muslime« geltenden »Pflicht, alle Menschen vom Aufruf (da’wa) zum Islam in Kenntnis zu setzen, im Gehorsam gegenüber dem Auftrag ihres Herrn: ›Aus euch soll eine Gemeinschaft (von Leuten) werden, die zum Guten aufrufen, gebieten, was Recht ist, und verbieten, was verwerflich ist‹ (Koran 3, 104)«. Diese Erklärung reklamiert den besonderen Auftrag des Islam in »Erfüllung des Rechts der Menschheit gegen sie als aufrichtiger Beitrag zur Rettung der Welt aus allen Übeln, die sie befallen haben, und als Befreiung der Völker von mannigfaltigen Plagen, unter denen sie stöhnen«. Sie geht aus von der »vorbehaltslosen Anerkennung der Tatsache, dass der menschliche Verstand unfähig ist, ohne die Führung und Offenbarung Gottes den bestgeeigneten Weg des Lebens zu beschreiten«, sowie von »unserer richtigen Vorstellung vom Begriff der Gemeinschaft der Muslime (umma), die die Einheit der Muslime trotz ihrer unterschiedlichen Länder und Völker verkörpert«. Bei den islamischen bzw. arabischen Erklärungen handelt es sich um aus dem Gottesrecht begründete Pflichtenerklärungen, in denen das Interesse der Stabilisierung autoritärer Regime offensichtlich ist. Muslime haben aber auch Alternativen, deren Ausdruck z. B. die Revolution in Tunesien ist: »Die revoltierende Bevölkerung hat an nichts anderes als an Freiheit und Würde gedacht. In diesem Fall hat die Veränderbarkeit der Identität den Weg in Richtung eines neuen Sinns eingeschlagen, den Weg dessen nämlich, der seinen Anteil an Universalität einklagt. Der Rückzug in eine falsche Identität, zu dem seitens des nationalistischen Dogmatismus und religiösen Fundamentalismus ermutigt wurde – eines Fundamentalismus, der immer als Zurückweisung des Anderen funktioniert hat, dessen Lebens- und Denkweisen verteufelt werden –, hat in dieser Revolution nicht stattgefunden; sie wurde nicht von ihrem vorrangigen Ziel, nicht von der Sehnsucht nach Freiheit abgelenkt. Diese Revolution entwickelt einen anderen Typus von Identität, […] der sich nicht mehr durch ethnische oder religiöse Vgl. zur Vorgeschichte der Erklärung Hummer/Karl 2008, S. 1125 ff.; vgl. auch Duncker 2006, S. 40–62.

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Zugehörigkeit definiert; Zugehörigkeit wird zur bloßen Matrix für ein Projekt des Zusammenlebens in Würde.« 35 Fathi Triki – Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (für die arabische Welt) in Tunis – hat weiter erklärt: »Das Konzept der Freiheit beinhaltet über die rationale Lebensgestaltung hinaus eine Individualisierung, die dem Menschen seine ursprüngliche Würde verleiht. Individualisierung ist der Ausdruck größerer Autonomie der Individuen und begründet den Willen zur Selbstbestimmung. In diesem Sinne drückt sie weder eine Isolierung des Individuums aus, noch ist sie ein Zeichen seines Egoismus. Dass es gegenüber dem Ganzen eigene, abweichende Wege wählt, gründet in diesem Selbstbestimmungswillen. Deshalb ist es das erste Recht des Individuums, einen eigenen Intimbereich zu haben, ein Eigenes im Verhältnis zur Gemeinschaft und zur Totalität. Dieses Eigene ermöglicht es ihm in gewissem Maße, der Manipulation zu entgehen. Wir wissen, dass das Gegenstück zur politischen Totalität die Disziplin ist, das ›normalisierte‹, kontrollierte, beherrschte und instrumentalisierte Individuum. Deshalb besteht die Befreiung des Individuums vor allem darin, gegenüber der Totalität ein Besonderes und Eigenes zu sein, von ihr abweichen zu können und über seinen Intimbereich zu verfügen, der seinem Leben Sinn verleiht. Ein Zusammenleben ist nur dann als demokratisch zu bezeichnen, wenn seinen Mitgliedern Sicherheit und Lebensfreude durch Legalität garantiert ist, ohne dass seine Grundfreiheiten eingeschränkt sind.« 36 Buddhisten können »each individual life as a manifestation of a universal life force« verstehen und davon überzeugt sein, dass die Menschenwürde »is rooted in the idea that we are able to choose the path of self-perfection. We can, in other words, consistently make those difficult choices for creativity, growth and development. This state of self-perfection – a condition of fully developed courage, wisdom and compassion – is described as Buddhahood or enlightenment. The idea that all people – all life, in fact – have this potential is expressed by the concept, stressed particularly in the Mahayana tradition, that all living beings possess Buddha nature.« 37 Triki 2011, S. 13. Zu Trikis Kritik an der Kairoer Islamischen Menschenrechtsdeklaration (1990), vgl. ebd., S. 218 ff. 36 Ebd., S. 140 f. 37 http://www.sgi.org/buddhism/buddhist-concepts/buddhism-and-human-dignity. html. Vgl. H. Waldenfels, Buddhismus. In: Gröschner/Kapust/Lembcke 2013, S. 236 f. 35

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Die hier genannten religiösen und weltanschaulichen, private Moralen bestimmenden Überzeugungen stehen der säkularen verfassungsrechtlichen Menschenwürdenorm solange nicht entgegen, wie sie sich unter den Bedingungen der pluralistischen Demokratie als mögliche Interpretationen verstehen und keinen Anspruch auf Universalität und Universalisierung durch den Staat erheben. Ein solcher Anspruch liegt jedoch vor, wenn J. Isensee behauptet: »Die dignitas humana hat keine andere Begründung als den christlichen Glauben«. 38 Es handelt sich hier um ein Bekenntnis, nicht aber um eine deskriptiv zutreffende Aussage. Die weitergehende Behauptung, die Menschenwürde sei »unmittelbares Derivat des Christentums, von jeher Lehre der Kirche« 39, hält keiner Prüfung Stand. 40 Auch von theologischer Isensee 1987, S. 165. Ebd. Dass damit »das Konto weit überzogen« ist, wird auch von theologischer Seite eingewandt: »Es ist nicht zu bestreiten, daß das europäische Menschenwürdekonzept genuin biblische Wurzeln hat, aber ebenso unzweifelhaft ist, daß deren Ausgestaltung zu einem expliziten Menschenwürdekonzept das Resultat einer langen Entwicklung ist, die weithin außerhalb der offiziellen Kirchenlehre und teilweise sogar in Opposition zu ihr verlief.« (Barth 2003, S. 346). Graf 2009, S. 178 f., bezeichnet Isensees Behauptung als »wahrlich steile These« und meldet als evangelischer Theologe »theologiehistorische Zweifel« an: »Christliche Kirchen und Theologen schreiben sich gerne einen Erkenntnisgewinn zu, der ihnen genau gesehen nicht zusteht – ein kurzer Blick in die einschlägigen Lexika und Handwörterbücher genügt. Das Kirchliche Handlexikon von 1912 kennt zwar einen Artikel ›Menschenrechte‹, aber keinen Eintrag zur Menschenwürde. Dies gilt auch für die zweite, neubearbeitete Auflage, erschienen 1935 bei Herder als Lexikon für Theologie und Kirche. Selbst dessen zweite, völlig neu bearbeitete Auflage aus den sechziger Jahren kennt die Menschenwürde noch nicht. Erst Ende des zwanzigsten Jahrhunderts findet sich in der dritten, völlig neubearbeiteten Auflage ein Menschenwürde-Artikel […]. Auch das bekannte Staatslexikon der Görres-Gesellschaft hat die Menschenwürde sehr spät entdeckt. Erst die sechste, völlig neu bearbeitete Auflage bietet in Band 3 (1960) einen eigenen Artikel ›Menschenwürde‹ […] Kaum haben die in der Görres-Gesellschaft organisierten Vordenker des deutschen Laienkatholizismus die Menschenwürde entdeckt, erklären sie sie zum ideenpolitischen Privateigentum der Christen […]. Auf protestantischer Seite sieht es nicht anders aus. Die alte Real-Encyklopädie für Theologie und Kirche kennt in allen drei Auflagen weder des Menschen Rechte noch seine Würde. Und ›die RGG‹, das bekannte Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart, hat selbst in ihrer dritten, völlig neu bearbeiteten Auflage aus dem Jahr 1960 zwischen ›Menschensohn‹ und ›Menstruation‹ für die ›Menschenwürde‹ keinen Platz.« Zu ›Verfassungswerten und christlich-weltanschaulichen Traditionen‹ vgl. auch Hofmann 2008. Zu ›Catholicism and the Grundgesetz‹ vgl. Rosen 2012, S. 90–100. Zur derzeitigen evangelischen Position vgl. C. Schellenberg, ›Menschenwürde, Menschenrechte (Th.)‹ in EStl, Sp. 1525–1530. 40 Zur Kritik an Isensees Position vgl. Dreier 2013a, S. 80 ff. 38 39

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Seite wird als »unläugbare Tatsache« eingeräumt, »dass sich das moderne Menschenrechtsethos gegen den erbitterten Widerstand vor allem der katholischen Kirche durchgesetzt hat« 41, und zu Recht wird eingewandt: »wer sich exklusive Genesis zuschreibt, will nur Geltung allein verwalten«. 42 Mit anderen Worten: Im Konflikt der Interpretationen geht es oft darum, ungeachtet des Neutralitätsgebots im säkularen Staat für eine bestimmte Weltanschaung die Deutungshoheit über die Basisnorm der Verfassung zu erringen. 43 Dies aber lässt Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu. Denn die Menschenwürde ist der Maßstab, »der allgemeine Nenner […], der das ethische Grundanliegen der modernen Welt zum Ausdruck bringt und auf den alle Forderungen nach Humanität bezogen werden können. Die Menschenwürde will den für das geordnete Zusammenleben notwendigen Konsens herstellen. Weil sie für den Menschen als solchen gilt – also unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Weltanschauung, politischen Überzeugungen, gesellschaftlicher Stellung, Gesundheitszustand, Geschlecht und wodurch sich sonst noch Menschen unterscheiden mögen –, kann sie grundlegend für alle politisch-gesellschaftlichen Ordnungen sein.« 44 Die Säkularisierung der Idee der Menschenwürde hat freilich ihren Preis – den »Abstieg vom Göttergeschenk zum legislativen Produkt« 45: »Sie kommt von ganz oben, die Menschenwürde. Als ›Göttergeschenk der menschlichen Vernunft‹ und ›Ebenbild Gottes im Menschen‹ oder ›verpflichtende Gabe Gottes‹ entspringt ihre theologisch-philosophische Idee dem Jenseits. Seit ihrer Geburt versucht sie, sich rechtlich im Diesseits einzurichten. Dazu muss sie freilich, unter dem Zeichen der Säkularisierung, zunächst ihre sakrale Robe ablegen. Der erste Entzauberungsschritt führt von Gott zur teleologisch gedeuteten menschlichen Natur. Der zweite lokalisiert den Sitz Schockenhoff 2008, S. 61. Graf 2009, S. 194. 43 So auch Hofmann 2008, S. 15: »Es geht stets auch um ein Stück Interpretationsmacht über die Verfassungswerte. So ist immer wieder behauptet worden, die Menschenwürde sei ein genuin christlicher Gedanke, folglich könne die entsprechende Verfassungsgarantie auch nur von daher authentisch interpretiert werden.« Den Ausgangspunkt des christlichen Anspruchs hat Messner 2004, S. 245, lapidar so formuliert: »Die Antwort auf die Frage, was Menschenwürde ist, hat der Mensch von Gott selbst erhalten.« 44 Reiter 2004. 45 Frankenberg 2003, S. 211. 41 42

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der Menschenwürde nunmehr in der Vernunft. Kant eröffnet die moderne Würde-Zeitrechnung.« 46 Der Preis eines Zurück hinter den so erreichten Stand wären die Exklusion der jeweils von einem ›Selbst‹ her definierten ›Anderen‹ aus dem Kreis der Würde-Träger und im – immer wieder auftretenden – Extremfall der fundamentalistische Religions- bzw. Weltanschauungskrieg. Genau dies belegen Fundamentalismen, die – wie im Islamismus oder in entsprechenden ›christlichen‹ Bewegungen etwa in den USA – religiöse Einstellungen politisch instrumentalisieren. Religionen, Weltanschauungen, politische Überzeugungen und private Moralen haben in der pluralistischen Demokratie keinen privilegierten Anspruch auf die Bestimmung dessen, was ›Menschenwürde‹ bedeutet. Diese Bestimmung kommt allein der Verfassung zu. »Nachdem Religion und Moral ihre gesellschaftliche Allgemeinverbindlichkeit verloren haben und das souveräne sic iubeo des ›geschlossenen Nationalstaats‹ im Rahmen einer vertikal und horizontal vernetzten offenen Staatlichkeit seine Selbstverständlichkeit eingebüßt hat, ist dem Recht und hier für die staatlichen Gemeinwesen in erster Linie der Verfassung eine umfassende Friedens-, Integrations- und Legitimationsfunktion zugewachsen. Die demokratische Verfassung reagiert auf diese Herausforderung durch die Institutionalisierung von inhaltlichen und prozeduralen Prinzipien und Regelungen, die eine friedliche Verständigung auch über hochkontroverse Fragen ermöglichen sollen.« 47

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Ebd., S. 210. Rinken 2007, S. 25 f.

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7. Die Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde ›vom Eingriff her‹

Jenseits der Rechtssphäre ist eine Schlichtung des Streits zwischen konkurrierenden bzw. miteinander unverträglichen Menschenwürdeverständnissen nicht erwartbar. Kritiker des Würdekonzepts wenden ein, dass der Würdebegriff auch im Verfassungsrecht nicht definiert und deshalb ›vage‹ sei. Doch die Kritik verkennt den Status der Würdenorm des Art. 1 GG. Die definitorische Enthaltsamkeit der Verfassung eröffnet zwar de facto weite Spielräume für Kontroversen, in denen Positionen pro und contra der absoluten Geltung der Würdenorm einander unversöhnlich gegenüberstehen. 1 Aber Verfassungen vermeiden es aus guten Gründen, die Menschenwürde material zu definieren 2: Materiale Definitionen müssten auf Prinzipien von Moralen bzw. Ethiken zurückgreifen, zu denen in pluralistischen Gesellschaften ein allgemeiner Konsens weder besteht noch erzwungen werden darf. Der Grund der definitorischen Enthaltsamkeit »liegt darin, dass die Die problematische Auffassung, dass andere Verfassungswerte (z. B. der Schutz des Staates) oder die Grundrechte Dritter einen (schwerwiegenden) Eingriff in die Menschenwürde rechtfertigen können, vertritt z. B. Robert Alexy: »Das MenschenwürdePrinzip kann in verschiedenen Graden realisiert werden. Daß es unter bestimmten Bedingungen mit hoher Sicherheit allen anderen Prinzipien vorgeht, begründet keine Absolutheit des Prinzips, sondern bedeutet lediglich, daß kaum umstoßbare verfassungsrechtliche Gründe für eine Vorrangrelation zugunsten der Menschenwürde bei bestimmten Bedingungen existierten. Eine derartige Kernpositionsthese aber gilt auch für andere Grundrechtsnormen. Sie berührt den Prinzipiencharakter nicht. Es kann deshalb gesagt werden, daß die Menschenwürde-Norm kein absolutes Prinzip ist. Der Eindruck der Absolutheit ergibt sich daraus, daß es zwei Menschenwürde-Normen gibt, eine Menschenwürde-Regel und ein Menschenwürde-Prinzip, sowie daraus, daß es eine Reihe von Bedingungen gibt, unter denen das Menschenwürde-Prinzip mit hoher Sicherheit allen anderen Prinzipien vorgeht.« (Alexy 1996, 96 f.). 2 Maurer 1999, S. 42, bilanziert eine auch in Frankreich langanhaltende Debatte über die Definierbarkeit von ›Menschenwürde‹ lakonisch mit dem Satz: »La dignité, concept dynamique ne peut se définir.« (Die Menschenwürde – dieses dynamische Konzept – ist nicht definierbar.). 1

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Die Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde ›vom Eingriff her‹

Gewährleistung der Rechte der einzelnen Personen es verbietet, diese Einzelnen auf eine Begründung von Menschenwürde festzulegen, weil eine solche Begründung stets in den Bereich der subjektiven Überzeugungen hineinreichen würde, also das Suchen und Sich-VerpflichtetWissen gegenüber einer letzten Wahrheit berühren würde. Diese von außen verpflichtend gemachten Überzeugungen aber wären mit dem Recht als etwas, das auf für alle verbindliche Regulierbarkeit, äußere Kontrollierbarkeit und Erzwingbarkeit angelegt ist, nicht vereinbar.« 3 Der Verzicht führt insofern nicht zu Schwierigkeiten, als sich aus dem Gesamt der menschenrechtlich zu interpretierenden Grundrechtsnormen ergibt, was die basale Würdenorm bedeutet: »Jeder Eingriff in den Schutzbereich ist verfassungswidrig, die Frage nach seiner ausnahmsweisen Legitimation falsch gestellt.« 4 Wie verbindlich zu interpretieren ist, ergibt sich in Deutschland bzw. in Europa aus Urteilen des BVerfGE 5, des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) 6 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Verfassungsrechtlich werden im Rahmen der Wertordnung, in der subjektive Rechte 7 interpretiert und konkretisiert werden, Grenzen gezogen, bei deren Überschreitung eine Verletzung der Menschenwürde festgestellt werden kann. 8 In der verfassungsgerichtlichen Praxis wird ex negativo 9, d. h. ›vom Eingriff her‹ 10, und in Prüfung des Einzelfalls 11 Hilpert 2007, S. 42. Zu Hilperts Plädoyer für die Begründungsoffenheit des Menschenwürdebegriffs vgl. ebd., S. 49. Aus seinem Argument zur Unvereinbarkeit von partikulären Überzeugungen mit dem allgemeinen Recht folgt ein Veto gegen theologische Thesen wie diese: »Menschen sind würdig der Versöhnungstat Gottes in seiner Menschwerdung. In diesem Sinne können wir theologisch von der ›Begründung‹ der Menschenwürde reden, nach der in den gegenwärtigen Debatten oft gefragt wird. Die Würde des Menschen gründet in der Herrlichkeit Gottes.« (Heuser 2004, S. 18). 4 Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 4. 5 Vgl. Geddert-Steinacher 1990. 6 Zum wegweisenden EuGH-Urteil v. 9. 10. 2001 – RS C-377/98 zur Rechtmäßigkeit der ›Biopatent-Richtlinie‹ 98/44/EG, in dem die Menschenwürde als Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts anerkannt wird, vgl. Rau/Schorkopf 2002. 7 Zu Menschenwürde und subjektiven Rechten vgl. Menke 2009. 8 Vgl. BVerfGE 30, 1 (25). 9 Einen Grund hierfür nennt Huber 1992, S. 578: »Seine Eindeutigkeit erhielt dieser Begriff [der Menschenwürde] zunächst aus dem Faktum seiner Negation. Aus den massiven Angriffen staatlicher Gewalt auf Leben, Freiheit und Integrität ungezählter Menschen gewann die Menschenwürde eine unbestreitbare Evidenz. Als evident galt damit auch, daß die menschliche Würde nur dort anerkannt wird, wo sie keinem menschlichen Wesen abgesprochen wird.« 3

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definiert, was unter dem Schutz der Menschenwürde zu verstehen ist. Festzustellen ist auch, dass die Würdenorm nie allein eine Entscheidung begründet, sondern als ›Platzhalter‹ ihre Rolle immer ›i. V. m.‹, in Verbindung mit Normen spielt, die sie menschen- und grundrechtlich konkretisieren: »Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht in einem Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit darstellt.« 12 Zum Verständnis des Schutzgehalts des Art. 1 Abs. 1 GG sind auch Bestimmungen des Strafgesetzbuches 13 heranzuziehen: § 129b StGB stellt ›Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland‹ unter Strafe, die »gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen«. § 130 StGB sanktioniert ›Volksverhetzung‹ und die Verherrlichung und Rechtfertigung nationalsozialistischer Gewalt- und Willkürherrschaft: »(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass »Die Auslegung vom Verletzungstatbestand her vermeidet die Gefahr einer statischen, die wechselnden Bedrohungen der Menschenwürde verfehlenden Definition.« (Vitzthum 1985, S. 202). Diese Gefahr übersieht Tiedemann 2010, S. 83, in seiner Kritik: »Die Deutung ›vom Verletzungsvorgang her‹ ist Ausdruck einer Kapitulation. Die Juristen sehen sich genötigt, mit dem Begriff der Menschenwürde zu operieren, weil er in der Verfassung steht, aber sie wissen nicht in einer rationalen Weise damit umzugehen.« Zur Kritik am ex-negativo-Zugang vgl. auch Adorno 2011, S. 135 f. Vgl. dagegen Pieroth/Schlink 1994, Rn. 389: »So kann nur versucht werden, die spezifischen Gefährdungen der Menschenwürde nach Bereichen, in denen sie – besonders nach historischer Erfahrung – auftreten, zu konkretisieren. Hierbei ist der […] Zusammenhang der Menschenwürde mit Gleichheits- und Freiheitsrechten, dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip zu berücksichtigen.« 11 Teifke 2011, S. 25, sieht in der Einzelfallentscheidung eine »Relativierung der absoluten Geltung« der Würdenorm, »da es nicht nur feststehende Positionen gibt. Es können jederzeit Ausnahmen zur Regel hinzugefügt werden«. Vgl. auch ebd., S. 120 f. 12 BVerfGE 1, 14 (32). 13 Das deutsche StGB schützt neben der Menschenwürde mit § 132a auch ›Würden‹ im klassischen Sinne von Rang und Stellung. 10

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er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. Schriften (§ 11 Absatz 3), die zum Hass gegen eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung odergegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder ihre Menschenwürde dadurch angreifen, dass sie beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden […]. (3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. (4) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.« 14 1956 hat Günter Dürig die Frage nach dem Gehalt der Menschenwürde-Schutznorm aufgrund der Erfahrungen mit Unrechtssystemen im 20. Jahrhundert mit der kantianischen ›Objektformel‹ 15 ex negativo beantwortet: »Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.« 16 Art. 1 Abs. 1 GG soll den Menschen davor Vgl. auch § 131 StGB (Gewaltdarstellung). Zu Kants Würdebegriff siehe Teil II, Abschnitt 5.1 in diesem Buch. 16 Dürig 1956, S. 127. Vgl. entsprechend Dürig in Maunz/Dürig, GG-K, Art. 1, Abs. 1, Rn. 28. Zur »Objektformel« und zu »Universalität«, »Justiziabilität« und »intuitive[n] Kompatibilität« als Kriterien, denen ein Menschenwürdebegriff genügen muss, vgl. Tiedemann 2005, S. 360 f. Zur Kritik an der Objektformel vgl. Dreier in Dreier 2013, Art. 1 I, Rn. 55, und Herdegen 2005, Rn. 33 f. Zur ›Konkretisierungsbedürftigkeit der Objektformel‹ vgl. Will 2006, S. 36 ff. Gegen Dürigs Objektformel ist eingewandt worden, dass sie Verletzungen der Menschenwürde, die nicht darin bestehen, Menschen zu Mitteln herabzuwürdigen, nicht erfasst. Ein häufig genanntes Beispiel ist, dass die Folter und Vernichtung von Juden im NS-Staat keinen anderen Zweck hatte als eben den der Folter und Vernichtung von Juden. 14 15

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schützen, »dass er durch den Staat oder durch seine Mitbürger als bloßes Objekt, das unter vollständiger Verfügung eines anderen Menschen steht, als Nummer eines Kollektivs, als Rädchen im Räderwerk behandelt und dass ihm damit jede eigene geistig-moralische oder gar physische Existenz genommen wird«. 17 Es verstößt gegen die Menschenwürde, wenn der Mensch instrumentalisiert 18 und einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Die Menschenwürde ist angetastet durch Folter, Sklaverei, Ausrottung bestimmter Gruppen, Geburtenverhinderung oder Verschleppung, Unterwerfung unter unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung, Brandmarkung, Vernichtung so genannten unwerten Lebens und Menschenversuche. 19 Diese Auflistung von Tatbeständen ist nicht als abgeschlossener Katalog zu verstehen. Vielmehr wird von Entscheidung zu Entscheidung der Verfassungs- und Menschenrechtsgerichtsbarkeit 20 die Liste dessen vollständiger, was als Verstoß gegen die Menschenwürde zu verstehen ist. 21 So werden die Bedeutungsimplikationen des Rechtsbegriffs der Menschenwürde permanent erweitert. 22 Die These von Stark, Art. 1 in von Mangoldt/Klein/Dürig, GG-K, München 2005, Rn. 17. Zum kantischen Instrumentalisierungsverbot vgl. Schaber 2010. 19 Vgl. zu einer ähnlichen Auflistung ›eklatanter Verletzungen der Menschenwürde‹ Dürig in Maunz/Dürig, GG-K, Art. 1 Abs. 1, Rn. 30. 20 Vgl. Denninger 2011. Zur Menschenrechtsgerichtsbarkeit im Vergleich (europäische Ebene sowie Deutschland, Italien und Spanien) vgl. Bourgorgue-Larsen 2010. 21 Hönig 2009, S. 38, betont, bei Entscheidungen des BVerGE werde »der Begriff der menschlichen Würde nicht nur negativ, vom Verletzungsvorgang her, bestimmt, sondern durchaus auch mit positiven Inhalten versehen«: »Das Letztere geschieht, wenn das Gericht davon spricht, der Verpflichtung des Staates, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, liege die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, dem Würde kraft seines Personseins zukomme und das darauf angelegt sei, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten. Positiv ist auch die Aussage, der Mensch, der immer ›Zweck an sich selbst‹ bleiben müsse, sei im Hinblick auf seine Würde eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ›Persönlichkeit‹, deren möglichst weitgehende Entfaltung um dieser Würde willen gesichert werden müsse.« (Ebd., S. 39). Auch Kirste 2008, S. 188, der die Beschränkung von Dürigs ›Objektformel‹ kritisiert, weil sie nur den Abwehrrecht-Aspekt berücksichtige, bestimmt die Menschenwürde als »Grundlage positiver, aktiver wie negativer Freiheitsrechte« und als »Potential der poietischen Fähigkeiten des Menschen zur Selbstund Sozialgestaltung«. 22 1971 hat G. Dürig zwar die Notwendigkeit der Konkretisierung der Objektformel eingeräumt, aber das ex-negativo-Prinzip bekräftigt: »Die positivrechtlich gebotene Ausfüllung dieser Wertbegriffe ist auch in unserer pluralistischen Gesellschaft viel 17 18

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Goos, »eine Definition vom Verletzungsvorgang her« lade »zu Subjektivismen geradezu ein« 23, ist unzutreffend, weil (i) die ex-negativoMethode gar nicht auf ›Definition‹, sondern auf Normauslegung und -anwendung zielt und (ii) keine Auslegung ohne subjektive Überzeugungen zu haben ist; dem entspricht gem. BVerfGG § 30 (1) das Prinzip, dass das BVerGE »nach seiner freien, aus dem Inhalt der Verhandlung und dem Ergebnis der Beweisaufnahme geschöpften Überzeugung« entscheidet. 24

exakter möglich als manche behaupten. […] Es gibt einen sehr exakten Konsensus, wie eine Staats- und Gesellschaftsordnung nicht aussehen soll. Diese gleichsam negative Interpretationsmethode ist im Verfassungsrecht durchaus legitim. […] Natürlich sollte man sich nicht anmaßen, das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren, aber man kann sagen, was dagegen verstößt.« (Dürig 1971, S. 41 und 44 f.). 23 Goos 2011, S. 29. Goos versteigt sich gar zu der These, durch den in Badura 1964 vertretenen Ansatz, die Bedeutung der Würdenorm »durch eine Kasuistik klarer Verletzungstatbestände« zu sichern, sei »die ›Würde des Menschen‹ zum bedeutungslosen Rechtsbegriff geworden« (ebd., S. 217). 24 In § 261 StPO heißt es: »Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.«Zur ›freien richterlichen Überzeugung‹ vgl. Sandkühler 2009, S. 130–156.

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8. Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Entscheidungen des BVerfGE 1 zeigen, dass das Verständnis der Menschenwürde Kontexte hat. Das Jeweils der Zeitlichkeit und Kontextualität des Verfassungsrechts lässt eine allgemeine substanztheoretische, die Besonderheiten der Funktionen des Rechts in Zeit und Raum vernachlässigende Würde-Definition nicht zu. Denn ›Recht‹ bezeichnet »eine Menge von Regeln, Prinzipien, Grundbegriffen und anderen symbolischen Elementen, die für eine Rechtsgemeinschaft Gültigkeit haben«. 2 Was für eine Rechtsgemeinschaft Gültigkeit hat, verändert sich im gesellschaftlichen Wandel, vor allem in pluralistisch verfassten Gesellschaften. Gegen den mit dem Pluralismus de facto verbundenen Relativismus von Werteinstellungen hat das BVerfGE 1958 mit seiner wertrealistischen These, das GG sei keine »wertneutrale Ordnung«, sondern eine auf alle Bereiche des Rechts ausstrahlende »objektive Wertordnung« 3, eine Brandmauer aufzurichten versucht. Mit dem Vgl. hierzu u. a. Geddert-Steinacher 1990, Hönig 2009. Zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vgl. Niehues 2009. 2 Peters 1991, S. 23. Hervorh. v. mir. 3 Diese Formel hat das BVerfGE auch später – z. B. in seinem ›Soraya‹-Urteil vom 14. Februar 1973 (1 BvR 112/65) – verwendet und dabei problematische wertrealistische und zugleich gegen den Rechtspositivismus gerichtete Schlussfolgerungen für die richterliche Rechtsprechung gezogen: »Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an ›Gesetz und Recht‹ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen 1

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›Lüth-Urteil‹ 4 hat es Verfassungsrechtsgeschichte geschrieben und eine noch immer anhaltende Kontroverse5 ausgelöst. Der erste Leitsatz des Urteils lautete: »Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.« Im Urteil hieß es weiter: »Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. Dem entspricht es, daß der Gesetzgeber den besonderen Rechtsbehelf zur Wahrung dieser

zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ›fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‹ (BVerfGE 9, 338 [349]).« (BVerfGE 34, 269 (39)). Zur Kritik vgl. H. Ridder, Die neueren Entwicklungen des ›Rechtsstaats‹, in: Schöneburg 1987, S. 116–134. 4 Im Verfahren ging es um die Zulässigkeit eines Boykottaufrufs des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth gegen die Nachkriegs-Wiederaufführung des von Veit Harlan als Drehbuchverfasser und Regisseur verantworteten antisemitischen, 1940 als NS-Propaganda erstaufgeführten Films ›Jud Süß‹. 5 Vgl. zur ›objektiven Wertordnung‹ kritisch u. a. Hofmann 2003, S. 11–14, Cremer 2003, S. 195–223.

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Rechte, die Verfassungsbeschwerde, nur gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährt hat.« 6 Zwischen den Aussagenteilen »in erster Linie Abwehrrechte« und »aber auch eine objektive Wertordnung« besteht ein Spannungsverhältnis, das vom BVerfGE zu Lasten des subjektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte nicht problematisiert wurde. Es hat festgestellt, im GG komme als objektiver Wertordnung »eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck«, und dieses »Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.« 7 H.-J. Papier hat das Lüth-Urteil so kommentiert: »Das in der Lüth-Entscheidung zum Ausdruck kommende Verständnis des Grundgesetzes als einer objektiven Wertordnung hat den Widerspruch zwischen der Objektivität und Rationalität des Rechts und der Subjektivität und Relativität von Werten damit jedenfalls gedanklich zunächst einmal überwunden. Indem es die objektive Wertordnung auf das Subjekt und dessen Personsein zurückführt, nimmt es einen Teil der Objektivität der Wertordnung wieder zurück. Der Rückbezug auf die Person scheint die subjektiven Werte des Einzelnen und den objektiven Geltungsanspruch der Rechtsordnung miteinander zu versöhnen. Dieser Rückbezug auf die Person funktioniert in der Rechtspraxis uneingeschränkt allerdings nur, soweit lediglich die Interessen einer einzelnen Person zu berücksichtigen sind. Die Lebenswirklichkeit im dicht bevölkerten Verfassungsstaat nicht erst des 21. Jahrhunderts sieht allerdings anders aus. Unsere Zeit ist von einer Vielzahl von konfligierenden Interessen und Werten geprägt, die nicht alle gleichermaßen Verwirklichung finden können, die mitunter sogar diametral zueinander verlaufen und einander nachgerade ausschließen. In diesem Konfliktfall ist der Rechtsordnung der neutrale Rückzug auf die Position des jeweils Betroffenen versperrt. Die Rechtsordnung muss jetzt ›Farbe bekennen‹. Sie muss die subjektiven Werte des Einzelnen auf ihre Anerkennungswürdigkeit durch die Gemeinschaft prüfen und ihrerseits ›be– werten‹. Die unterschiedlichen Werte der verschiedenen Teilnehmer 6 7

BVerfGE 7, 198 (25 f.). Ebd., (27).

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am Rechtsverkehr müssen gegeneinander abgewogen und ins rechte Verhältnis gesetzt werden.« 8 Das Konzept ›objektive Wertordnung‹ wurde in der Rechtsprechung des BVerfGE nach und nach durch Varianten verändert, in denen der strenge Wertrealismus 9 modifiziert wurde: Einerseits wird dem in der Gesellschaft faktisch existierenden Pluralismus subjektiver Werteinstellungen stärker Rechnung getragen, und andererseits wird die allgemein verpflichtende Normativität des Rechts vor Wertrelativismus bzw. Wertsubjektivismus geschützt. Den Grund für dieses Schutzinteresse benennt Th. Gutmann zutreffend unter Berufung auf N. Luhmanns Das Recht der Gesellschaft: »Das Rechtssystem ist […] insoweit normativ geschlossen, als es sich ›gegen die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen‹ differenzieren und sich von diesen anhand rechtseigener Kriterien unterscheiden muss – schon weil sich die Pluralität und mangelnde Konsensfähigkeit der in der Gesellschaft vorfindlichen Moralprogramme und ihre Kriterien für die Unterscheidung von gut und schlecht (oder würdig und unwürdig) nicht mit dem Ziel hinreichender Konsistenz rechtlichen Entscheidens vertragen. Der Gehalt der Menschenwürde als Rechtsbegriff lässt sich mithin nicht dadurch gewinnen, dass man im breiten Angebot der moralphilosophischen Tradition eine Schublade aufzieht und deren Inhalt an das Recht heranträgt.« 10 Im Urteil des BVerfGE zum Verbot der ›Sozialistischen Reichspartei‹ vom 23. Oktober 1952, das im Lüth-Urteil wertrealistisch verschärft worden war, war zunächst nur die Rede von »oberste[n] Grundwerte[n] des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates« 11 und von einer ›wertgebundenen Ordnung‹ : »Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz inner-

Papier 2007, S. 3: Leist 2005, der zwischen ›Menschenwürde‹ als »Wertbegriff« und »Menschenrechten« als »Normbegriffe[n]« unterscheidet (ebd., S. 598), ist der Auffassung, die »Fundierungs-Vorstellung«, dass Normen durch existierende Werte begründet sein müssten, präge auch »die besondere Stellung des Art. 1 GG« (ebd., S. 599). Leist setzt diesem »realistischen Fehlschluss« (ebd., S. 600) die These entgegen, Würde könne »nichts anderes sein als ›kontingente‹ Würde«. Er übersieht dabei, dass Würde gerade keine Eigenschaft des Menschen ist, die wie »[a]lle Eigenschaften von Menschen« zu den »kontingente[n] Eigenschaften« zu rechnen wäre (ebd., S. 602). 10 Gutmann 2010, S. 2 f. 11 BVerfGE 2, 1 (37). 8 9

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halb der staatlichen Gesamtordnung der ›verfassungsmäßigen Ordnung‹ als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt. […] Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.« 12 Das KPD-Verbotsurteil des BVerfGE vom 17. August1956 wandte sich u. a. gegen die marxistisch-leninistische These, die Diktatur des Proletariats repräsentiere die »objektiven Interessen des Volkes […], und zwar so, wie die maßgebende Arbeiterklasse diese sieht; denn für die Arbeiterklasse allein wird der Besitz eines unwiderlegbaren Wissens um diese Interessen beansprucht«.13 Hierzu stand die Behauptung eines Systems ›absoluter Werte‹ in bemerkenswertem Kontrast: »Wenn das Grundgesetz so einerseits noch der traditionellen freiheitlich-demokratischen Linie folgt, die den politischen Parteien gegenüber grundsätzliche Toleranz fordert, so geht es doch nicht mehr so weit, aus bloßer Unparteilichkeit auf die Aufstellung und den Schutz eines eigenen Wertsystems überhaupt zu verzichten. Es nimmt aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen, die in den politischen Parteien Gestalt gewonnen haben, gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung heraus, die, wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt und deshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen.« 14

12 13 14

BVerfGE 2, 1 (37–38). Hervorh. v. mir. BVerfGE 5, 85 (519). Ebd., 246. Hervorh. v. mir.

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Im ›Elfes-Urteil‹ des BVerfGE vom 16. Januar 1957 wurde aus der Würdenorm, »die im Grundgesetz der oberste Wert ist« 15, abgeleitet, dass Art. 1 GG »mit dazu bestimmt sei, das Menschenbild des Grundgesetzes zu prägen«. 16 Diesem Urteil zufolge hat das »Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die die öffentliche Gewalt begrenzt. Durch diese Ordnung soll die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden«. 17 Dieses Menschenbild ist – wie ein anderes Urteil belegt – auf problematische Weise ›gemeinschafts‹-zentriert: »Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.« 18 Dass mit diesem Menschenbild eine Abwertung der individuellen Menschenrechte als Abwehrrechte gegen den Staat verbunden sein kann, ist offensichtlich. Der Wandel im Wertverständnis des BVerfGE zeigt sich nach fünfzig Jahren Judikatur u. a. im Urteil zum ›Luftsicherungsgesetz‹ vom 15. Februar 2006 19, in dem Begriffe wie ›objektive Wertordnung‹, ›Wertsystem‹ oder ›absolute Werte‹ nicht mehr vorkommen. Hierin spiegelt sich in gewissem Maße auch ein Überzeugungswandel bei Richterinnen und Richtern zu einem liberaleren Verständnis des Grundgesetzes. Gegen § 14 Abs. 3 des ›Luftsicherheitsgesetzes‹, das die Streitkräfte ermächtigen sollte, als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzte Luftfahrzeuge durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt abzuschießen, war Verfassungsbeschwerde eingelegt worden. Die Einlassung der Beschwerdeführer lautete, der »Staat dürfe eine Mehrheit seiner Bürger nicht dadurch schützen, dass er eine Minderheit – hier die Besatzung und die Passagiere eines Flugzeugs – vorsätzlich töte. Eine Abwägung Leben gegen Leben nach dem MaßBVerfGE 6, 32 (32). Im Verfahren ging es um die Zulässigkeit der Versagung eines Reisepasses, wenn gem. § 7 Abs. 1 lit a des Passgesetzes vom 4. März 1952 der »Antragsteller als Inhaber eines Passes die innere oder die äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland oder eines deutschen Landes gefährdet«. 16 Ebd., (15). 17 Ebd., (32). Hervorh. v. mir. 18 BVerfGE 4, 7 (15 f.); vgl. Benda 1983, S. 109–113. 19 BVerfGE 1 BvR 357/05. 15

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Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

stab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite betroffen seien, sei unzulässig. Der Staat dürfe Menschen nicht deswegen töten, weil es weniger seien, als er durch ihre Tötung zu retten hoffe.« 20 Das BVerfGE stellte fest: »Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.« 21 »§ 14 Abs. 3 LuftSiG steht darüber hinaus im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG […] auch materiell mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in Einklang, soweit er es den Streitkräften gestattet, Luftfahrzeuge abzuschießen, in denen sich Menschen als Opfer eines Angriffs auf die Sicherheit des Luftverkehrs im Sinne des § 1 LuftSiG befinden.« 22 Die wesentliche, der ›Objektformel‹ 23 und der Konkretisierung der Menschenwürdegarantie ›vom Eingriff her‹ entsprechende Urteilsgrundlage lautet: »Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschewürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert […]. Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status […]. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt […]. Das gilt unabhängig auch von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens.« 24 »Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimEbd., (38). Ebd., Leitzsatz 3. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG lautet: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« 22 Ebd., (118). 23 Das BVerfGE hat die scheinbar absolut geltende Normativität der Objektformel allerdings 1970 im ›Abhörurteil‹ relativiert: »Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss.« (BVerfGE 30, 1 (101)). 24 BVerfGE, 1 BvR 357/05 (118 f.). 20 21

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men und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden […], schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen […]. Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt […], indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt […]. Wann eine solche Behandlung vorliegt, ist im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann.« 25

Ebd., (121); Hervorh. v. mir. Zulässig seien aber Maßnahmen ohne Aufopferung Unbeteiligter: »Wer, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt […], wenn der Staat sich gegen den rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und ihn in Erfüllung seiner Schutzpflicht gegenüber denen, deren Leben ausgelöscht werden soll, abzuwehren versucht. Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt.« (BVerfGE, 1 BvR 357/05 (141)).

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9.1 Menschenwürde als Grund der Menschenrechte und ihre Konkretisierung in den Menschenrechten Im GG sind die Menschenwürde und die Menschenrechte 1 untrennbar miteinander verbunden: »Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« 2 Die menschliche Würde und die Herrschaft des Rechts der Menschenrechte sind durch das ›Darum‹ aufeinander bezogen 3: Die Menschenwürde »kann nicht verletzt werden, ohne dass gleichzeitig ein Menschenrecht verletzt würde, und umgekehrt kann kein Menschenrecht angetastet werden, ohne dass gleichzeitig die Würde des MenVgl. hierzu ausführlich Sandkühler 2010b. Zur Debatte im Parlamentarischen Rat über die Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 587–601 und 913–918. 3 Stepanians 2003, S. 82, erläutert, ›»dass es der Zweck der Menschenrechte ist, die Menschenwürde zu schützen. Im Zentrum jedes Menschenrechts steht jeweils ein Aspekt oder Ausschnitt der Menschenwürde insgesamt. Wir erwerben den Menschenwürdebegriff, indem wir uns vor Augen führen, welcher Wert durch die Menschenrechte in ihrer Summe geschützt wird. Da es die Menschenwürde ist, die den Menschenrechten ihre Pointe verleiht und deren Anerkennung erforderlich macht, kann sie als ›Wurzel‹, ›Grund‹ oder ›Fundament‹ der Menschenrechte bezeichnet werden.« Der Annahme, dass die Menschenwürde der rechtfertigende Grund für die Menschenrechte sei, widerspricht Ladwig 2010, S. 64: Die Menschenwürde spiele »keine die Menschenrechte begründende Rolle. Sie scheint ein grundsätzlich redundanter, wenn auch rhetorisch anziehender Ausdruck dafür zu sein, dass wir eine Menge von (Anspruchs-)Rechten besitzen. Sie steht abkürzend und motivational gewinnend für den moralischen Status, ein Recht auf Menschenrechte zu haben. Und menschenwürdig lebt, wer im sicheren Genuss aller für ihn nützlichen Menschenrechte lebt.« 1 2

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schen litte«. 4 Die Würde ist die Bedingung der Möglichkeit des – als ›richtiges‹, d. h. gerechtes Recht verstandenen – Rechts 5; und ohne richtiges, die positivierten Menschenrechte in der Demokratie 6 implementierendes Recht gibt es keinen Schutz der Menschenwürde7: »Gemäß der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist Würde die Quelle der Menschenrechtsnormen, und die Hauptaufgabe der Menschenrechte besteht darin, die Menschenwürde zu schützen. Die Menschenwürde bildet zwar den Kern und das Fundament der Menschenrechte, die Würde wird aber durch die Verwirklichung der Rechte geschützt. Diese Wechselwirkung zwischen Würde und Rechten konkretisiert sich vor allem in den Prozessen der Verwirklichung der Menschenrechte.« 8 Dies spiegeln internationale Dokumente wie die ›Wiener ErkläHerzog 1987, S. 25. Zu ›Menschenrechtsverletzungen‹ vgl. Sandkühler in Gröschner/ Kapust/Lembcke 2013, S. 316–318. 5 Tiedemann 2010, S. 528: »Die wichtigste Bedeutung, die die Menschenwürde für das Recht hat, besteht darin, dass nur da, wo sie anerkannt wird, Recht überhaupt möglich ist. Die Achtung der Menschenwürde ist also, um es in der etwas sperrigen Ausdrucksweise Immanuel Kants zu sagen: eine Bedingung der Möglichkeit von Recht. In diesem Sinne ist die Menschenwürde ein Konstitutionsprinzip jeder Rechtsordnung.« Die Unterscheidung zwischen ›Recht‹, das – formal gesehen – auch in Unrechtssystemen gesetzt sein kann, und ›richtigem Recht‹, ist im Kontext der Menschenwürde zwingend. Insofern greift die Behauptung zu kurz: »Ein Rechtssystem kann schlechterdings keine Rechtsmacht zur Verletzung von Menschenwürde erzeugen.« (Ebd., S. 532). 6 Haller 2012 begründet im Anschluss an Kant, warum die Verwirklichung der Menschenrechte als individuelle Rechte Demokratie voraussetzt. E.-W. Böckenförde hat dagegen die »Auffassung, die Demokratie sei eine notwendige Forderung der Menschenrechte wie auch eine notwendige Voraussetzung für ihre praktische Geltung«, in Frage gestellt, weil dann »Demokratie ebenso universal verwirklicht sein [müsse] wie die Menschenrechte«. Weil aber soziokulturelle, politisch-strukturelle und ethische Bedingungen der Demokratie (»ein gewisses Maß an Emanzipation der Gesellschaft«, »Abwesenheit theokratisch-fundamentalistischer Religionsformen«, ein bestimmtes Maß »an gemeinsamen Grundvorstellungen« und ein »Bewußtsein der Zusammengehörigkeit (sogenannte relative Homogenität) sowie »ein Mindestmaß an demokratischem Ethos bei den Bürgern und Amtsträgern«) nicht überall existierten, verbiete es sich, Demokratie »als universales politisches Ordnungsprinzip zu proklamieren«. Sie könne »auch nicht mit den Menschenrechten so verknüpft werden, dass sie als notwendiger Teil der Gewährleistung der Menschenrechte erscheint, es sozusagen ein immer und überall geltendes Menschenrecht auf Demokratie als politische Ordnungsform gibt«. (Böckenförde 1996, S. N6). 7 »Die Menschenwürde bildet den Kern, die Menschenrechte die schützende Schale.« (Stepanians 2003, S. 89). 8 Berma Klein-Goldewijk, Die Agenda für menschenwürdige Arbeit und die globalen 4

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rung und Aktionsprogramm‹ der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 »in Anerkenntnis und Bejahung der Tatsache, daß sich alle Menschenrechte aus der Würde und dem Wert herleiten, die der menschlichen Person innewohnen, und daß die menschliche Person das zentrale Rechtssubjekt der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist und daher auch ihr Hauptnutznießer sein und an der Verwirklichung dieser Rechte und Freiheiten aktiv teilnehmen soll«. 9 Dass die Menschenwürde der Grund der Menschenrechte ist und sie in diesen geschützt wird, bedeutet nicht, der Menschenwürdebegriff sei »redundant«. 10 Es folgt daraus vielmehr: Erst im Rechtssatz, im Begriff der Menschenwürde als Grund der Menschenrechte und als Grund-Norm der Verfassung, ist ein angemessenes Verständnis dessen möglich, was durch die Garantie der Würde geschützt werden soll: die Gleichheit und Freiheit aller, die Menschen sind. Menschen sind als Individuen Menschen. Wenn Existenzaussagen mit dem Verb ›sein‹ an die empirische Welt gebunden sind, dann gibt es weder den Menschen noch die Person, noch das Subjekt, noch die Gesellschaft. Es gibt dieses Individuum. Ein Mensch, jeder Mensch hat das Recht auf die Achtung und den Schutz seiner Würde. 11 Zugleich ist Gemeingüter: Die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte. In Peccoud 2005, S. 94. 9 Dok. Nr. A I CONF.157123 v. 12. Juli 1993. In: Gleiche Menschenrechte für alle. Dokumente zur Menschenrechtsweltkonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993, hg. v. der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1994, S. 13. 10 »Mit Blick auf die gewöhnliche menschliche Begabung zu einer personalen Lebensführung können wir noch weiter gehen: Alle Menschenrechte, sofern sie nötig sind, unsere Integrität als selbstbewußt wertende und handelnde Lebewesen zu wahren, müssen als Minimalbedingungen vernünftiger moralischer Zustimmung gelten, und in diesem Sinne auch als Gehalte der Menschenwürde. Diese wird so zum Inbegriff der generellen Rechte, die Menschen im Rahmen einer Moral gleicher Achtung zukommen. Ohne diese Rechte hat kein mündiger Mensch einen Grund, ein System von Regeln und Grundsätzen als verbindlich anzuerkennen. Auch die Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz läßt sich so verstehen: Alle einzelnen Grundrechte sind demnach in ihrem Wesensgehalt immer auch Konkretisierungen des Würdeschutzes, der ihnen zugleich als Fundamentalgrundrecht vorausgeht. Wenn aber der Würdebegriff ohne Bedeutungsverlust durch den der elementaren Rechte ersetzt werden kann, so ist er redundant.« (Ladewig 2003, S. 47). Vgl. dagegen Stepanians 2003, S. 91 f. 11 »Die Menschenwürde jedes Einzelnen ist geschützt, nicht lediglich die Würde ›der‹ Menschen, also ›der Menschheit‹.« (Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 17).

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›Würde‹ ein Relationsbegriff 12, in den normativ die wechselseitige Achtung aller Individuen eingeschrieben ist. Der ›Menschheit‹, von der Philosophen gesprochen haben und sprechen, kann keine Würde genommen werden. Genommen wird sie diesem Individuum, dieser Person. Ist die Behauptung richtig, dass nur der Anspruch auf Achtung und Schutz der Menschenwürde verletzbar ist? Die Behauptung mancher Ethiker und Theologen, Juristen und Politiker, ja selbst in Entscheidungen des BVerfGE 13, nur der Anspruch auf Achtung der Würde könne angetastet werden, nicht aber die Würde selbst, ist sophistisch. Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Armut, Ausgrenzung, Folter – sie zeigen die Verletzlichkeit der Menschen; sie berauben sie ihres Rechts auf ihr menschenwürdiges Leben. »Es gab einen Mann aus Bosnien; sie haben ihm einmal die rechte Hand gebrochen und beim zweiten Mal die linke Hand. Einer hieß Seddeeq und stammte aus Turkmenistan; sie packten seine beiden Beine und verdrehten sie in Richtung Rücken. […] Es gab einen Mann aus Nordafrika, ich weiß nicht mehr aus welchem Land; sie schlugen ihm auf ein Auge und er verlor dieses Auge.« 14 Entwürdigung ist möglich; es gibt sie weltweit. 15 Der Widerstand gegen Unrecht und die Einsicht in die Notwendigkeit der Verrechtlichung der Menschenrechte bilden den geschichtlichen Horizont der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ (AEMR) 16 vom 10. Dezember 1948: »Art. 1 Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Art. 2 Jeder Mensch hat auf die in dieser Erklärung verkündeVgl. Hörnle 2011, S. 62 f. So BVerfGE 87, 209 (228): Die Würde »kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist nur der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.« Vgl. hiermit übereinstimmend Kirchhof 2008, S. 48. 14 Khalid Mahmoud al-Asmar, Gefangener in Guantánamo. In: Hier spricht Guantánamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge, Frankfurt/M. 2006, S. 57. Vgl. zu Guantanamo: United Nations Human Rights Experts Express Continued Corncern About Situation of Guantanamo Bay Detainees. UN-Press Release HR/4812, 4/2/2005, http:// www.un.org/News/Press/docs/2005/hr4812.doc.htm. 15 Vgl. die Länderberichte von Amnesty International (http://www.amnesty.de/laender berichte) und die jährlichen Reporte; vgl. zu 2012: http://www.amnesty.de/amnestyinternational-report-2012. 16 Zur Entstehung der AEMR vgl. die detaillierte Darstellung in Krenberger 2008, S. 142–218, und Sandkühler 2013, S. 141–148. 12 13

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ten Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum oder sonstigen Umständen.« Unrechtserfahrung17 war der Grund dafür, dass in der Präambel der AEMR zwei für das Verständnis der Menschenwürde wesentliche Aspekte miteinander verknüpft werden: (i) Die Menschenrechte werden erklärt, »da die Anerkennung der angeborenen Würde [inherent dignity] und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Redeund Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt«; (ii) die Aussage zur ›inherent dignity‹ könnte im essenzialistischen Sinne einer Metaphysik der Würde missverstanden werden, stünde sie nicht im Kontext gleicher unveräußerlicher Rechte; weil die Menschenwürde sich nicht aus eigener Kraft garantiert, ist es notwendig, sie – nicht anders als die Menschenrechte – »durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen«. 18 Ein dritter Aspekt bleibt zu berücksichtigen: Wenn die Menschenrechte aus Unrechtserfahrung entstanden sind, dann begründet dies ihre Zeitlichkeit und Unabgeschlossenheit. Sie haben sich entwickelt, sie werden sich entwickeln. 19 Joas 2009, S. 5: »Die Betonung der Einheit der Menschengattung in Artikel 1 ist bewußt gegen die rassentheoretische Zerstörung des Universalismus gerichtet. Die Betonung auf dem ›right to life‹ in Artikel 3 ist ebenso bewußt auf die nationalsozialistische Euthanasie an Behinderten bezogen. Artikel 4 richtet sich gegen Sklaverei und ›servitude‹, um die Zwangsarbeit von Angehörigen besiegter Völker wie während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland zu geißeln. Artikel 5 spricht nicht nur ein Verbot der Folter aus, sondern auch von anderem ›cruel, inhuman, or degrading treatment or punishment‹, um damit Verbrechen wie die medizinischen Experimente nationalsozialistischer Ärzte an Lagerinsassen und Behinderten auszuschließen.« 18 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN-Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, Präambel. 19 »Die konkreten inhaltl[ichen] Ansprüche, über deren menschenrechtl[iche] Qualität inzwischen weltweit weitgehendes Einverständnis besteht, stellen Antworten auf kollektive Erfahrungen hist[orischen] Unrechts dar; daher kann es keine erschöpfende und zeitlos gültige Liste v[on] M.[enschnrechten] geben. Gleichwohl haben sich bestimmte 17

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Der AEMR war eine ›Erklärung über die Ziele und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation‹ (ILO) vom 10. Mai 1944 vorausgegangen, die sich auf die Verfassung der ILO von 1919 20 stützte, in deren Präambel es heißt: »Der Weltfriede kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden.« Zum sozialpolitischen Ausgangspunkt der Verfassung wurde in der Präambel erklärt, es bestünden »Arbeitsbedingungen, die für eine große Anzahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, daß eine Unzufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdet«. Die ILO-Erklärung von 1944 wurde vor allem durch folgende Prinzipien wegweisend für die AEMR: »a) Alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts, haben das Recht, materiellen Wohlstand und geistige Entwicklung in Freiheit und Würde, in wirtschaftlicher Sicherheit und unter gleich günstigen Bedingungen zu erstreben. b) Die Schaffung der hierfür notwendigen Voraussetzungen muß das Hauptziel innerstaatlicher und internationaler Politik sein.« 21 Menschenrechte sind – in ihrer Einheit als bürgerliche und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – »Rechte, welche einem jeden Menschen ungeachtet aller seiner sonstigen Eigenschaften allein kraft seines Menschseins zukommen (sollen).« 22 Diese Definition klingt einfach, doch bereits mit dieser allgemeinsten Begriffsbestimmung verbinden sich Probleme. Sie ergeben sich daraus, dass das, was ›zukommt‹, zugleich ›gesollt‹ ist. Kommen – wie metaphysisch-naturrechtlich gedacht – den Menschen ihre Würde und Rechte ›von Natur aus‹ 23 und unveränderbar zu? Oder sollen sie ihnen Bedrohungen durch staatl[iche] u[nd] gesellschaftl[iche] Mächte als so tief verletzend, als immer wiederkehrend od[er] als latent vorhanden gezeigt, daß sie als typisch zu Katalogen ›der‹ M[enschenrechte] zusammengefaßt, d. h. als Erkenntnis fixiert wurden, hinter die die Menschheit auf ihrem weiteren Weg ›nie mehr‹ zurückfallen darf.« (K. Hilpert, ›Menschenrechte‹, in: LThK, Bd. 7, Sp. 120). 20 Auch die Gründung der ILO im Jahre 1919 stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Unrechtserfahrung des Ersten Weltkrieges. Die bis 1974 mehrfach modifizierte Verfassung der ILO wurde im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz vom ›Ausschuß für internationale Gesetzgebung‹ erarbeitet und als Teil XIII Bestandteil des Friedensvertrags von Versailles. 21 http://www.ilo.org/berlin/ziele-aufgaben/verfassung/WCMS_193728/lang–de/ index.htm. 22 Tomuschat 1992, S. 1. 23 »Wenn wir […] auch in der überkommenen Redeweise sagen könnten, daß die Men-

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– wie juridisch und politisch-pragmatisch gedacht – durch Verrechtlichung sich historisch wandelnder moralischer Ansprüche zukommen und ihnen dann als positivierte Rechte zustehen? Als Weg zwischen der Skylla des voraufklärerischen metaphysischen Naturrechts24 und der Charybdis eines Recht und Moral strikt trennenden ›harten‹ Rechtspositivismus bietet sich ein ›transzendentales‹ Argument im Sinne der Kelsen’schen Begründung der ›Grundnorm‹ an. Es hat zwar kein empirisches Korrelat, muss aber als Bedingung der Möglichkeit einer vertretbaren Begründung des Rechtssystems gedacht werden: Die Menschen räumen sich die nicht erst im Staat verliehenen – aber auch nicht vor-staatlich 25 existierenden – Menschenrechte wechselseitig ein, um sich vor unterdrückender staatlicher Macht und Gewalt und vor Verletzung durch Individuen und Gruppen zu schützen. Die Rechte von Menschen für Menschen existieren in eben dem Sinne juxta-staatlich (neben dem Staat), wie das Individuum als Juxtastruktur zur Gesellschaft existiert, auf die es nicht reduziert werden kann. Dies gilt auch für die Menschenwürde. Zu dieschenwürde den Menschen von Natur zukomme und zustehe, so müssen wir doch erkennen, daß sich der Zustand der Gesellschaft, in dem die Menschenwürde des Menschen gewährleistet ist: der Kulturzustand, keinesfalls ›von Natur‹ herstellt; es im Gegenteil der äußersten Anstrengung des Menschen selbst bedarf, ihn herbeizuführen und aufrechtzuerhalten.« (Maihofer 1968, S. 28) 24 Die Würde- und Menschenrechtskonzeption des Naturrechts der Aufklärungszeit hingegen verfolgte – wie Ingeborg Maus betont hat – den Zweck, der »Natur des Menschen Rechte zuzuordnen, die den politischen Institutionen vorhergingen. Gerade die Abstraktionen dieser naturrechtlichen Argumentation dienten der Qualifizierung aller Freiheitsrechte als vorstaatlicher Rechte. Bei der Begründung von Menschenrechten beabsichtigt die Naturrechtstheorie der Aufklärung mitnichten eine Deskription gesellschaftlich-politischer Zustände (diese liefert sie in kritischer Absicht in empirischen Partien ihrer Werke), sondern eine Aussage über die Allokation des naturrechtlichen Arguments: aus dem vorstaatlichen Charakter der Menschenrechte folgt, daß kein überpositivrechtliches Argument jemals von Seiten der Staatsapparate gegen die Individuen geltend gemacht werden kann, sondern daß der Durchgriff auf überpositives Recht ausschließlich denen zukommt, die nicht politische Funktionäre, sondern ›nur‹ Menschen sind.« (Maus 1994, S. 10). 25 Der ›vorstaatliche‹ Charakter der Grund- und Menschenrechte wird häufig behauptet; vgl. z. B. Enders 1997, S. 501 ff.; vgl. dagegen Dreier in Dreier 2013, Vorb., Rn. 70: Er betont, ›Vorstaatlichkeit‹ dürfe nicht im Sinne »eines ontologischen Tatbestandes mißdeutet werden. Auch geht es nicht um historische Vorgängigkeit kraft einer naiven Naturzustandsvorstellung.« Unter ›Vorstaatlichkeit‹ könne nicht anderes verstanden werden, als »daß Grundrechte nicht zur freien Disposition des Staates stehen, sondern ihren Sinn und Zweck in sich tragen«.

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sem transzendentalen Argument gehört, dass im demokratischen Rechtsstaat, der »die grundrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte um der Menschenwürde des einzelnen willen« 26 zu schützen verpflichtet ist, unterstellt werden muss: Das Recht auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde ergibt sich daraus, dass es alle für alle anerkennen. Was Hegel für den Prozess des Selbstbewusstseins gesagt hat, gilt auch hier: »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.« 27 In der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 folgt entsprechend auf Art. 7 Abs. 1 – »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Grundlage jeder solidarischen Gemeinschaft« – Abs. 2 »Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde.« Für ›Menschenwürde‹ als Resultat eines Anerkennungsprozesses plädiert auch Seelmann: »[D]ieser Anerkennungsprozess wäre nicht einfach kontingenter Art, so dass man ihn auch unterlassen könnte, sondern er wäre für diesen Zweck der Existenz eines Rechtsstaates unverzichtbar. Der Vorgang des wechselseitigen Anerkennens würde münden in ein die Rechtsordnung konstituierendes wechselseitiges und immer auch auf Dritte sich erstreckendes Anerkennungsverhältnis. Die wechselseitige Zuerkennung der Kompetenz zum Innehaben von Rechten wäre Voraussetzung eben des geschützten Innehabens von Rechten. In einer gewissen Parallele zu Hans Kelsens hypothetischer Grundnorm als Geltungsgrund einer jeden Rechtsordnung könnte man insoweit von einem vorauszusetzenden Grund-Rechtsverhältnis sprechen.« 28 Forst zufolge »erkennen Menschen einander als Wesen an, die Gründe ›brauchen‹, als vernunftbegabte und doch endliche, verletzbare Wesen; dies bedeutet zugleich die Anerkennung der vorgängig – durch die Erwartung anderer – bestehenden menschlichen Verantwortung, sich moralisch gerechtfertigt zu verhalten. So ›konstruieren‹ autonome Personen eine moralische Welt von Normen, aber sie wissen, dass sie dies als Rechtfertigungswesen einander schulden, ohne weiteres Warum. Die Würde anderer zu sehen heißt, sie als Mitglieder eines gemeinsamen Rechtfertigungsraums zu sehen, als Mitglieder einer umfassenden moralischen Rechtfertigungsgemeinschaft,

26 27 28

Dreier in Dreier 2004, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 37. Hegel, Phänomenologie des Geistes, HW 3, S. 147. Seelmann 2009, S. 172.

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der man immer schon angehört. Das Anerkennen dieser Mitgliedschaft ist die entscheidende moralische Einsicht.« 29 Das Recht auf ihre Achtung und ihren Schutz ist weder vor-staatlich noch über-positiv, wie dies z. B. Paul Kirchhof behauptet: »Die Entstehungsquelle für den Rechtssatz des Art. 1 Abs. 1 GG ist überpositiv, die Erkenntnisquelle im Text des Grundgesetzes positiv.« 30 Der Aussage, niemand verdanke »seine menschliche Würde dem Einverständnis und der Zustimmung der anderen« 31, wird man nicht widersprechen. Doch der christlich-theologische, naturrechtlich motivierte Folgesatz ergibt sich hieraus nicht zwingend: Die menschliche Würde werde »in einer humanen Rechtsordnung nicht gegenseitig zuerkannt und gewährt, sondern als das allen vorausliegende Fundament anerkannt.« 32 Christliche Theologen sehen sich vor einem Dilemma, wenn das »Verhältnis von universaler Geltung und christlicher Begründung« der Menschenrechte bestimmt werden soll: »Dem Rückgriff auf den Gedanken des Naturrechts steht die Einsicht in die Geschichtlichkeit aller menschlichen Rechtserkenntnis entgegen. Einer exklusiv christlichen Begründung widerspricht die Tatsache, daß der Begriff der Menschenrechte selbst nur ernst genommen wird, wenn der Zugang aller Menschen, unabhängig von ihren religiösen oder politischen Überzeugungen, zu ihnen offengehalten wird. Der Verzicht auf jede theologische Begründung scheitert daran, daß die Würde jeder menschlichen Person aus Gründen der profanen Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden kann. Am ehesten ermöglicht das Modell von Entsprechung und Differenz aus der Perspektive christlicher Theologie so zum Verständnis der Menschenrechte beizutragen, daß zugleich deren Begründungsoffenheit geachtet wird.« 33 Die universellen Menschenrechte sind Konkretisierungen des fundamentalen moralischen Wertes und der basalen Rechtsnorm der Unantastbarkeit der Menschenwürde: »Ein (institutioneller) Akteur y mißachtet die Würde eines Menschen x genau dann, wenn y ein Menschenrecht von x verletzt. […] Menschenrechte konkretisieren Men-

29 30 31 32 33

Forst 2005, S. 595 f. Kirchhof 2008, S. 45. Hervorh. v. mir. Schockenhoff 2008, S. 65. Ebd. Hervorh. v. mir. Huber 1992, S. 593.

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schenwürde durch deren geschichtsbezogene Kontextualisierung. Die Menschenwürde ist ein abstraktes (nämlich von konkreten soziohistorischen Umständen und Gegebenheiten absehendes) moralischpolitisches Ideal, das – unter Voraussetzung der Existenz des demokratischen Rechtsstaates – zu subjektiven Rechten transformiert wird.« 34 Die Menschenrechte sind auch dann mit mittelbarer Drittwirkung – also über die Staaten hinaus auch Individuen und Gruppen – verpflichtende Normen, wenn sie nicht im innerstaatlichen Recht positiviert sind. Sie verlangen ein Verhalten, das sich auf die Anerkennung und Achtung der Menschenwürde und der Ansprüche aller auf ein menschenwürdiges Leben erstreckt. Das Recht der Menschenrechte umfasst Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie Gerechtigkeits- und Solidaritätspflichten. Es wird durch Sanktionen geschützt. Zu sanktionieren sind die Verweigerung bzw. Verletzung dieser Rechte durch Staaten und bei individuellem und kollektivem Missbrauch sowie bei Verstößen gegen die Pflichten, die sich aus den Rechtsnormen zwingend ergeben. Pflichten sind den Menschenrechten – wie allen Rechtsnormen – eingeschrieben; wer eine ›Erklärung von Menschenpflichten‹ für notwendig hält, verkennt dies; eine solche Erklärung ist überflüssig.

9.2 Menschenwürde und soziale Menschen- und Grundrechte In der Sphäre des Rechts bedeutet ›Menschenwürde‹ nicht nur, Abwehrrechte gegen den Staat zu haben, sondern auch den Bruch »mit der dem liberalistischen Optimismus entstammenden Doktrin, daß den Staat die Würde des Menschen nichts angehe«. 35 Die Anerkennung der in der Menschenwürde gründenden Rechte erfordert gesellschaftliche Verhältnisse, in denen ihr Schutz sowohl durch den Rechtsstaat als auch durch den Sozialstaat institutionell gesichert ist – gesellschaftliche Verhältnisse ohne Armut und Hunger, ohne soziale Exklusion und Diskriminierung. 36 Die sozialstaatliche Verpflichtung des Rechtsstaates war bereits Kettner 1999, S. 76 f. Dürig 1956, S. 118. So auch Dürig in Maunz/Dürig, GG-K, Art. 1 Abs. 1, Rn. 2, Fn. 1. 36 Dies ist das Ziel auch des Projekts »Human Dignity and Social Exclusion« (HDSE), einer 1994 vom Europarat initiierten paneuropäischen Initiative. 34 35

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eine der wesentlichen Forderungen der Republikaner in der Zeit des Vormärz. Dies belegt z. B. der 1847 in Rotteck/Welckers Staats-Lexikon erschienene Artikel ›Menschenrechte‹ des radikaldemokratischen Revolutionärs Gustav von Struve: »Der Mensch hat […] das ewige und unveräußerliche Recht, von dem Staate, dessen Mitglied er ist, zu verlangen, sich so zu organisieren, daß jeder Mensch ohne Unterschied des Standes, des Alters und des Geschlechts diese Voraussetzungen des Lebens [gesunde Nahrung, eine schützende Wohnung und hinreichende Kleidung] habe. Solange die ärmeren Klassen des Volkes Not leiden an den unvermeidlichen Bedürfnissen des Lebens, haben sie daher ein vollgültiges Recht, zu verlangen, daß die reicheren Klassen ihnen von ihrem Überflusse so viel abgeben, als zu diesem Behufe erforderlich ist. Alle Gesetze des Staats, zumal die Steuergesetzgebung, das Privatrecht und das Prozeßverfahren, müssen von diesem Grundsatze ausgehen.« 37 Sozialstaatlichen Prinzipien war die für die Entstehung der AEMR wegweisende ›Erklärung über die Ziele und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation‹ vom 10. Mai 1944 verpflichtet: »Die Konferenz anerkennt die feierliche Verpflichtung der Internationalen Arbeitsorganisation, bei den einzelnen Nationen der Welt Programme zur Erreichung folgender Ziele zu fördern: a) Vollbeschäftigung und Verbesserung der Lebenshaltung, b) Beschäftigung der Arbeitnehmer in Berufen, in denen sie die Befriedigung haben können, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in vollem Umfang zu entfalten und das Beste zum Gemeinwohl beizutragen, c) Vorkehrungen als Mittel zur Erreichung dieses Zieles, um die Ausbildung und den Arbeitsplatzwechsel einschließlich der Wanderungsbewegung zur Erlangung von Beschäftigung und zwecks Siedlung zu ermöglichen, wobei allen Beteiligten angemessene Sicherheit zu bieten ist, d) Gewährleistung eines gerechten Anteils aller an den Früchten des Fortschritts hinsichtlich der Löhne und des Einkommens, der Arbeitszeit und anderer Arbeitsbedingungen sowie eines lebensnotwendigen Mindestlohnes für alle 37 Struve 1847, S. 205. In seinem Politischen Taschenbuch für das deutsche Volk. Erster Jahrgang (Frankfurt/M. 1846) kritisierte v. Struve den deutschen Polizeistaat und schrieb: »Der Polizeimann lacht über Menschenrechte und Verfassung« (ebd., S. 337). Weil »der Staat nicht besteht, um dem Unrechte, sondern dem Rechte den Sieg zu verschaffen«, sei »Niemand auf dieser Welt« verpflichtet, »sich Unrecht gefallen zu lassen, vielmehr hat er das Recht der Selbstvertheidigung gegen jeden ungerechten Angriff« (ebd., S. 187 f.).

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Arbeitnehmer, die eines solchen Schutzes bedürfen, e) tatsächliche Anerkennung des Rechts zu Kollektivverhandlungen, Zusammenwirken von Betriebsleitung und Arbeitskräften zur ständigen Steigerung der Produktivität sowie Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei der Vorbereitung und Durchführung sozialer und wirtschaftlicher Maßnahmen, f) Ausbau von Maßnahmen der sozialen Sicherheit, um allen, die eines solchen Schutzes bedürfen, ein Mindesteinkommen zu sichern, und um umfassende ärztliche Betreuung zu gewährleisten, g) angemessener Schutz für das Leben und die Gesundheit der Arbeitnehmer bei allen Beschäftigungen, h) Schutz für Mutter und Kind, i) angemessene Ernährungs- und Wohnverhältnisse und Möglichkeiten zur Erholung und zur Teilnahme am kulturellen Leben, j) Gewährleistung gleicher Gelegenheiten in Erziehung und Beruf.« Die Konferenz hat bekräftigt, »daß die in dieser Erklärung niedergelegten Grundsätze für alle Völker der Welt volle Geltung haben«. Doch bereits in dieser Erklärung wurde der die Verwirklichung der Grundsätze hemmende pragmatische Vorbehalt formuliert, die »Art ihrer Anwendung« müsse sich »nach der von jedem Volk erreichten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufe richten«. 38 Die ›Europäische Sozialcharta‹ (ESC) vom 18. Oktober 1962 verpflichtet die Staaten, den »wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern, insbesondere durch die Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten« (Präambel). Im ›Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte‹ (IPwskR) vom 16. 12. 1966 verpflichten sich die Vertragsstaaten »in der Erwägung, dass nach den in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Grundsätzen die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräusserlichkeit ihrer Rechte die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet«, und »in der Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten«, »einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit, insbesondere wirtschaftlicher und technischer Art, unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten http://www.ilo.org/berlin/ziele-aufgaben/verfassung/WCMS_193728/lang–de/ index.htm.

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Rechte zu erreichen«. 39 In dem mit Resolution 63/117 am 10. Dezember 2008 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten, die Individualklage ermöglichenden ›Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte‹ wird erneut erklärt, »dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind«. 40 Die Würdenorm und die sie konkretisierenden Grundrechte verpflichten »die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung dazu, auch im Bereich der Gesellschaft für die Verwirklichung der Grundentscheidungen zu sorgen, die der Verfassungsgeber durch Normierung der Grundrechte getroffen hat. […] [D]er Staat selbst [ist] als primärer Adressat der Grundrechtsartikel verpflichtet, diese Bindungen der Staatsgewalt auch bei der rechtlichen Regelung, Überwachung und Lenkung der Gesellschaft zu beachten. Was aber für die Grundrechte gilt, trifft auch auf die Grundprinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zu. Auch sie sind verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts.« 41 Werden die Grundrechte zu Lasten sozialer Grundrechte auf politische Bürgerrechte beschränkt, dann ist dies eine nicht akzeptable selektive Konkretisierung dessen, was nicht nur aus Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 GG, d. h. aus der Würdenorm und aus dem Bekenntnis zu den Menschenrechten, folgt, sondern auch aus der 1961 von der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats beschlossenen und am 26. Februar 1965 mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit in Kraft getretenen, 1996 erweiterten 42 ESC und aus dem seit 1976 geltenden IPwskR. Die ESC IPwskR, Tl. II, Art. 1 Abs. 2. Hervorh. v. mir. Auf dieser Grundlage hat sich Tomuschat 2009, S. 164, gegen die Trennung von bürgerlichen und politischen Rechten und sozialen Menschenrechten gewandt: »Klassische Freiheitsrechte auf der einen Seite, wirtschaftliche und soziale Grundrechte auf der anderen Seite sind nicht wie durch eine Brandmauer voneinander getrennt, obwohl sie dem Idealtypus nach unterschiedliche Anforderungen an den verpflichteten Staat stellen. Die Trennungslinie wird nicht allein durch die Kategorisierung als Abwehrrecht oder als Leistungsrecht gezogen, vielmehr stützt sich die Unterscheidung in weitem Umfang auch auf pragmatische Erwägungen der Verfassungstradition.« 41 AK-GG-Stein Art. 20 Abs. 1–3 II Rn. 46–49. 42 Die Erweiterung betrifft zum einen das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung, das Recht auf Wohnung und Kündigungsschutz, das Recht auf Arbeitslosenunterstützung, das Recht auf Schutz vor sexueller Belästigung und anderen For39 40

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und der IPwskR wurden von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. 43 Sie müssen im Interesse eines umfassenden Schutzes der Menschenwürde berücksichtigt werden, wenn nach der Verbindung des Rechtsstaats- und des Sozialstaatsprinzips in Deutschland und nach dem Schutz sozialer Rechte gefragt wird. 44 Das auf Hermann Hellers Staatslehre (1934) zurückgehende Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes 45 ergibt sich aus Art. 20 Abs. 1: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Und Art. 28 Abs. 1 GG spricht von den »Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates«. Beide Artikel sind durch Art. 79 Abs. 3 in ihrem Wesensgehalt geschützt. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, »für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung« 46 zu sorgen. Landesverfassungen wie z. B. die Bayerns (Art. 166 ff.), Bremens (Art. 37 ff.) oder Hessens (Art. 27 ff.) haben nach 1945 soziale Grundrechte normiert. men der Belästigung am Arbeitsplatz, das Recht der Arbeitnehmer mit Familienpflichten auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung und Rechte der Arbeitnehmervertreter im Betrieb. Weitere Änderungen betreffen die Stärkung des Diskriminierungsverbots, Verbesserungen der Gleichbehandlung von Mann und Frau in allen durch den Vertrag abgedeckten Bereichen, des Mutterschutzes und des sozialen Schutzes der Mütter, des sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen im Arbeitsleben und außerhalb der Arbeit sowie den besserer Schutz von Behinderten. 43 Das am 10. Dezember 2008 mit Resolution A/RES/63/117 von der Generalversammlung der UN beschlossene Fakultativprotokoll zum IPwskR (Optional Protocol to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights) eröffnet gem. Art. 2 – nach Ausschöpfung des Rechtsweges – die Möglichkeit der Individualbeschwerde beim ›Committee on Economic, Social and Cultural Rights‹ : »Mitteilungen können von oder im Namen von der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaats unterstehenden Einzelpersonen oder Personengruppen eingereicht werden, die behaupten, Opfer einer Verletzung eines der im Pakt niedergelegten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte durch diesen Vertragsstaat zu sein.« Die Bundesrepublik Deutschland hat, obwohl seit 1993 Vertragsstaat des IPwskR, das Fakultativprotokoll bis heute nicht ratifiziert. Mit dem Inkrafttreten des Fakultativprotokolls am 5. Mai 2013 steht die Justiziabilität der sich aus dem IPwskR ergebenden Individualrechte nicht mehr in Frage. 44 Vgl. hierzu u. a. Frank/Jenichen/Rosemann 2001. 45 »Entscheidendes Kennzeichen der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist es […], daß sie die eines ›sozialen‹ Rechtsstaates ist.« (Hesse 1995, Rn. 207) Vgl. zur Geschichte und Bedeutung des Sozialstaatsprinzips auch AK-GG, Kittner, Art. 20 Abs. 1–3 IV, Rn. 1–91. 46 BVerfGE 22, 180 (22).

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Doch im GG sind sie nur marginal verankert 47, und sie werden nach wie vor »nicht als bestehendes Normprogramm, sondern als politisches Programm gehandelt. 48 Das Sozialstaatsprinzip des GG ist eine allgemeine, weitgehend abstrakte Norm und ein Postulat, eine Staatszielbestimmung, deren Inhalt unterbestimmt ist. Es ist laut BVerfGE »ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip« 49, und »ein im Einzelfall bestimmbares Rechtsprinzip« 50: »Das Sozialstaatsprinzip begründet die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen […]. Der Staat hat diese Pflichtaufgabe auf der Grundlage eines weiten Gestaltungsfreiraumes zu erfüllen, weshalb bislang nur in wenigen Fällen konkrete verfassungsrechtliche Handlungspflichten aus dem Prinzip abgeleitet wurden. Der Staat hat lediglich die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu schaffen […]. Das Sozialstaatsprinzip stellt dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, mit welchen Mitteln diese Aufgabe im Einzelnen zu verwirklichen ist.« 51 Doch die Kriterien einer ›gerechten Sozialordnung‹ ergeben sich durchaus aus dem GG: »Aufgrund der durch Art. 79 Abs. 3 festgelegten gleichrangigen Normhöhe können dies nur die Würde des Menschen (Art. 1) und das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1) als inhaltliche Werte sein, wozu die grundsätzliche Anerkennung eines Systems von Grundrechten, also der Wert des Rechtsstaatsprinzips kommt.« 52 »Das dem Grundgesetz zugrunde liegende demokratische Verfassungs- und Grundrechtsverständnis trägt daher notwendig zugleich sozialstaatlichen Charakter.« 53 Ausnahmen sind die GG-Artikel zur Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3), zur freien Berufswahl (Art. 12), die Gemeinwohlbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2) und die Möglichkeit zur Sozialisierung der Produktionsmittel (Art. 15). Aus dem Sozialstaatsprinzip sind nur wenige subjektive Rechte ableitbar, z. B. das Recht auf das Existenzminimum (vgl. BVerfGE 82, 60 (80)). 48 Paech/Stuby 2013, S. 651. 49 BVerfGE 5, 85 (198). Zur rechtlichen Operationalisierung des Sozialstaatsprinzips vgl. AK-GG, Kittner, Art. 20 Abs. 1–3 IV, Rn. 46–51. 50 AK-GG, Kittner, Art. 20 Abs. 1–3 IV, Rn. 24. 51 BVerfGE 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 (257). 52 Ebd., Rn. 26. 53 AK-GG Stein, Einl. II, Rn. 33. So auch Eichenhofer 2009, S. 233 f.: »Eine der Garantie der Menschenwürde verpflichtete Verfassung ist ohne Sozialstaat nicht zu haben; der Sozialstaat seinerseits hat im Dienste der Menschenwürde zu stehen. […] Die Menschenwürde-Garantie hat eine zentrale und elementare sozial(rechtlich)e Dimension!« 47

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Um so auffälliger ist es, wie in der verfassungsrechtlichen Literatur und in Grundgesetzkommentaren das Sozialstaatsprinzip als ›Leerformel‹ diskreditiert, seine Entwicklungsbedürftigkeit und -offenheit heruntergespielt bzw. eine Kollision sozialer Rechte mit Freiheitsrechten behauptet wurde und wird. In der schon bald nach dem Inkrafttreten des GG – vor allem in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer – vehement geführten Sozialstaats-Debatte sah Ernst Forsthoff, der in der Zeit des Nationalsozialismus den ›totalen Staat‹ propagiert hatte 54, 1954 in Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats in der Sozialstaatsklausel nicht nur eine Leerformel, sondern die ›Gefahr‹, sie könne Bestandteil von Rechtstexten werden 55: »Die Entscheidung für das soziale Element wird notwendig dazu führen, dass das Grundgesetz seine Gewährleistungsfunktion nur im Rahmen dessen ausübt, was von der jeweiligen Mehrheit und ihrer Regierung als sozial verstanden wird […]. In diesem Fall wäre die Formel sozialer Rechtsstaat ein Mittel für unübersehbare Diskriminierungen und Verwirkungen. Das wäre die Vernichtung des Rechtsstaats.« 56 Forsthoff behauptete: »Die Formel sozialer Rechtsstaat ist kein Rechtsbegriff.« 57 Der »zweimalige, adjektivische

Ernst Forsthoff – Schüler Carl Schmitts und 1933 Nachfolger des zur Emigration gezwungenen H. Heller an der Universität Frankfurt/M. – verfasste 1933 Der totale Staat mit dem Ziel, »aus dem Sinn der Geschichte, aus den Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts und den Ereignissen der neuesten Zeit heraus das Ziel der nationalsozialistischen Revolution in dem totalen Staat zu fixieren«. (Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, S. 29) Der ›totale Staat‹ war für ihn das Gegenteil des liberalen Minimal-Staates, der »zum Raub des gesellschaftlichen Pluralismus« geworden sei. (Vgl. ebd., S. 13 und 34 ff.) Forsthoff hat zu denen gehört, die das Grundgesetz feindselig kommentierten. Mit Brief vom 3. Dezember 1949 hat er Carl Schmitt seinen Aufsatz ›Die deutsche Staatskrise und das Grundgesetz‹ (erschienen in der Monatsschrift Zeitwende) zugeschickt und dazu geschrieben: »Die aktivsten Feinde des Grundgesetzes sind […] wohl die Bonner Parlamentarier. Es ist leicht vorauszusehen, daß sich das Verfassungsleben schneller als erwartet in eine Serie von Verfassungsstreitigkeiten auflösen wird und wenn wir erst den Verfassungsgerichtshof haben, wird das Tribunal schnell zur Szene werden. Früher als gedacht wird dann der ›Hüter der Verfassung‹ eine besondere Aktualität gewinnen und wenn die Weimarer Verfassung an der Untreue zugrunde ging (was man ja heute behauptet), so hat das Grundgesetz alle Aussicht, an der Verfassungstreue zu sterben« (Reinthal, A./R. Mußgnug/D. Mußgnug (Hg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt 1926–1974, Berlin 2007, S. 60). 55 Forsthoff 1954, S. 8. 56 So im Wiederabdruck des Textes von 1954 in Forsthoff 1968, S. 187. 57 Ebd., S. 191. 54

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Gebrauch des Wortes sozial in den Art. 20 und 28 [GG] als solcher würde schwerlich die Vermutung wachrufen können, daß damit eine Aussage über die Gesamtstruktur der Verfassung gegeben werden solle«. 58 Das »sozialstaatliche Bekenntnis (sic!)« berühre »die strukturelle Verfassungsform der Bundesrepublik nicht«. 59 Der ebenfalls aus der Zeit des NS-Regimes belastete GG-Kommentator Th. Maunz stellte fest, »der Begriff ›sozial‹« sei zunächst »als Aussage über eine Eigenschaft oder sogar über ein Wesensmerkmal des als Bundesrepublik existenten Staates und als Bekenntnis zu diesem Wesensmerkmal aufgefaßt worden«. »[N]unmehr« solle er »den Charakter eines Verfassungsauftrags an den Gesetzgeber erhalten«, und hierdurch werde »angestrebt, die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen durch Sozialreformen als verfassungsrechtliche Pflicht und die Gegenpositionen als verfassungswidrige Unterlassungen zu deuten. Der Sozialstaat, so wird mitunter argumentiert, müsse erst geschaffen werden. Der Rechtsstaat müsse zum Sozialstaat weiterentwickelt werden. So erlange der Begriff ›sozial‹ die Eigenschaft einer Staatszielbestimmung.« Der »Normativbegriff ›sozial‹« enthält aber für Maunz nur »angeblich« einen »Verfassungsauftrag«. 60 Die radikale Gegenposition hierzu vertrat der Jurist und sozialistische Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth 61, für den das Ende der Weimarer Republik historisch bewiesen hatte, »dass auf lange Sicht in unserer Zeit Demokratie als bloß formale Demokratie nicht mehr möglich ist, und dass mit der formalen Demokratie auch die durch den Liberalismus entwickelten kulturellen Werte verschwinden müssen, wenn es nicht gelingt, durch Umwandlung der formalen Demokratie des Staates in die soziale der Gesellschaft einer positiven Lösung zuzusteuern«. Seine Gegenposition lautete: »Das entscheidende Moment des Gedankens der Sozialstaatlichkeit im Zusammenhang des Grundgesetzes besteht also darin, dass der Glaube an die immanente Gerechtigkeit der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufgehoben ist, und dass deshalb die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Gestaltung durch diejenigen Staatsorgane unterworfen wird, in deForsthoff 1954, S. 8. Forsthoff 1968, S. 191. 60 Maunz in Maunz/Dürig, GG-K, Lfg. 30, Art. 28, Rn. 25. 61 Vgl. vor allem Abendroth 1967 [1954]. Vgl. zu Abendroth und Forsthoff in der Sozialstaatsdebatte der 1950er Jahre Thurn 2012. 58 59

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nen sich die demokratische Selbstbestimmung des Volkes repräsentiert.« 62 In jüngerer Zeit hat K. Hesse erklärt, Gewährleistungen »wie etwa das Recht auf Arbeit, auf ein angemessenes Arbeitsentgelt oder das Recht auf Wohnung« seien »von gänzlich anderer Struktur als die der klassischen Grundrechte«. Sie ließen »sich nicht schon dadurch realisieren, daß sie ausgestaltet, respektiert und geschützt werden«, sondern verlangten »staatliche Aktionen zur Verwirklichung des in ihnen enthaltenen sozialen Programms, die regelmäßig ein Tätigwerden nicht nur des Gesetzgebers, sondern auch der Verwaltung erfordern«. Anders als bei den klassischen Grundrechten habe »der Staat die Voraussetzungen der Erfüllung dieses Programms nicht ohne weiteres in den Händen; die Verwirklichung sozialer Grundrechte kann zudem oft zu einer Beeinträchtigung der Freiheitsrechte anderer führen. Derartige Rechte können daher nicht, wie dies für die Grundrechtsauffassung des Grundgesetzes wesentlich ist, unmittelbare, gerichtlich verfolgbare Ansprüche des Bürgers begründen.« 63 Bezogen auf die Menschenwürdegarantie hat Ch. Starck betont, sie stelle »kein Sozialprogramm dar. Deshalb darf die Menschenwürdegarantie nicht mit Standards aufgeladen werden, die heute durchschnittlich für das menschliche Dasein in der westlichen Welt bestehen. Vielmehr geht es nur um Schutz und Achtung elementarster Belange des Menschen. […] Ebenso wenig wie harte und unangenehme oder den Menschen stark versachlichende Arbeit gegen die Menschenwürde verstößt, so wenig kann gegen fehlende Arbeitsplätze (also Arbeitslosigkeit) mit der Menschenwürde ins Feld gezogen werden.« 64 M. Herdegen räumt zwar ein: »Auch im Hinblick auf die Gewährleistung menschenwürdiger Existenzbedingungen begründet Art. 1 Abs. 1 GG (in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip) ein subjektivöffentliches Recht.« Aber auch er schränkt ein: »Das Maß menschenAbendroth 2008, S. 343. Hesse 1999, Rn. 208. Vorbehalte wurden auch auf parlamentarischer Ebene formuliert: »Als Gründe gegen eine verfassungsrechtliche Normierung einklagbarer sozialer Grundrechte nennt der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates, dass eine solche die Leistungsfähigkeit des Staates überfordern würde, und dass sich soziale Grundrechte nur im Rahmen einer zentralen Verwaltungswirtschaft und somit nur ›um den Preis der Freiheit‹ einführen ließe.« (Schneider 2004, S. 36). 64 Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck 2010, Rn. 15 f. 62 63

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würdiger Existenzstandards entzieht sich einer unabänderlichen Fixierung; denn es wird sowohl von sich wandelnden gesellschaftlichen Anschauungen als auch von der technologischen Entwicklung und der schwankenden Leistungskraft des modernen Sozialstaats bestimmt.« 65 Es ist zwar de facto zutreffend, dass der Staat die Voraussetzungen der Realisierung des Sozialstaatsprinzips (noch) nicht in den Händen hat. Aber hieraus zu schließen, er könne und werde oder solle sie nicht in Händen haben, wäre ein merkwürdiger Schluss vom Sein aufs Sollen. Vielmehr muss jeder Staat »zumindest den Kerngehalt jedes Rechtes unmittelbar umsetzen, und diese Verpflichtung wird auch nicht durch den ›Ressourcenvorbehalt‹ gemäß Art. 2 Abs. 1 [IPwskR], wonach der Staat ›unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten‹ die Paktrechte umzusetzen hat, ausgesetzt. Eine Norm aus einem innerstaatlich geltenden völkerrechtlichen Vertrag ist unmittelbar anwendbar, wenn aus ihr Rechtsfolgen für konkrete Einzelfälle abgleitet werden können. Dies liegt dann vor, wenn die inhaltliche Bestimmtheit der Norm zur Rechtsanwendung ausreichend ist.« 66 Mit F. Nullmeier ist zu betonen, dass der Sozialstaatsbegriff »die Gesamtheit staatlicher Einrichtungen, Steuerungsmaßnahmen und Normen innerhalb eines demokratischen Systems« bezeichnet, »mittels derer Lebensrisiken und soziale Folgewirkungen einer kapitalistischmarktwirtschaftlichen Ökonomie aktiv innerhalb dieser selbst politisch bearbeitet werden. […] Sozialstaat bezeichnet zugleich die Ausrichtung staatlichen Handelns auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, auf die Sicherung eines sozialen Existenzminimums für alle sowie die Milderung der ökonomischen Ungleichverteilung und der sozialen (Klassen-, Schichten-, Gruppen-)Gegensätze. Als generelle Sozialbindung staatlichen Handelns fordert Sozialstaatlichkeit die politisch-demokratische Überformung der Marktprozesse nach Maßstäben sozialer Gerechtigkeit.« 67 Angesichts der normativen Verbindlichkeit der ESC und des IPwskR ist es eine abstrakte Frage, ob es notwendig sei, das GG durch soziale Grundrechte zu erweitern. Und es ist irreführend, »umfassende staatliche Sozialmaßnahmen« zu problematisieren, »die die Selbstverantwortung des Einzelnen aufheben, ihn zum Objekt staatlicher Be65 66 67

Herdegen 2005, Rn. 114. Mahler 2013, S. 246. Frank Nullmeier, Sozialstaat, in: Andersen/Woyke 2003.

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treuung und Bevormundung machen« und damit »die durch das Rechtsstaatsprinzip gezogenen Grenzen überschreiten«. 68 Es spricht hingegen viel dafür, dass aus der Würdenorm des Art. 1 GG und gem. ESC und IPwskR zumindest umfassendere als gegenwärtig in Deutschland verbürgte soziale Rechte ableitbar sind. Es gibt »noch sozialstaatliche Defizite in Hülle und Fülle«. 69 Der Schutz der Menschenwürde verlangt in einem Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, d. h. nicht nur nach politischer Rechtssicherheit und Verbürgung politischer Freiheitsrechte, sondern auch nach sozialer Gerechtigkeit. Auch soziale Rechte sind Freiheitsrechte. Der Rechtsstaat ist intrinsich Sozialstaat. Dies bedeutet: Die Bürger sind im Staat nicht nur formal ›vor dem Gesetz‹ gleich, sondern haben als im Recht Gleiche auch Anspruch auf den Schutz vor sozialer Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit. Das Ziel des Sozialstaates ist der Abbau diskriminierender sozialer Unterschiede und die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards für alle Teile der Bevölkerung. Gemäß Urteilen des BVerfGE wird das Sozialstaatsprinzip ausgefüllt u. a. durch die Fürsorge für Hilfsbedürftige, die Schaffung sozialer Sicherungssysteme 70, die Herstellung von Chancengleichheit und einer gerechten, für Ausgleich der sozialen Gegensätze sorgenden Sozialordnung. 71 Mit anderen Worten: Der Sozialstaat ist sowohl Staatsziel (soziale Gerechtigkeit) als auch Staatsstrukturmerkmal (sozialer Mindeststandard).

»Der Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes geht […] über die formellen Merkmale, die bereits weitgehend die Staatsauffassung des Liberalismus im 19. Jahrhundert prägten, weit hinaus. Er ist mehr als ein bloßes System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit. Der Rechtsstaat beinhaltet nicht nur eine formelle, sondern zugleich eine materielle Ordnung, die vor allem durch die die staatlichen Gewalten unmittelbar bindenden Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) bestimmt ist. […] Oberstes Ziel des Rechtsstaates ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Darin berührt sich das Rechtsstaats- mit dem Sozialstaatsprinzip; nicht zufällig verwendet das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 die Formel vom ›sozialen Rechtsstaat‹. Umfassende staatliche Sozialmaßnahmen, die die Selbstverantwortung des Einzelnen aufheben, ihn zum Objekt staatlicher Betreuung und Bevormundung machen, würden indes die durch das Rechtsstaatsprinzip gezogenen Grenzen überschreiten. Der Rechtsstaat muss daher stets sowohl in seiner sozialen als auch in seiner freiheitlichen Dimension begriffen und verwirklicht werden.« (Avenarius 2002, S. 22). 69 AK-GG, Kittner, Art. 20 Abs. 1–3 IV, Rn. 31. 70 Vgl. BVerfGE 28, 324 (348 ff.). 71 Vgl. BVerfGE 22, 180 (204). 68

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Menschenwürde und soziale Menschen- und Grundrechte

Ernst Bloch hat in Naturrecht und menschliche Würde hervorgehoben, »daß weder menschliche Würde ohne ökonomische Befreiung möglich ist noch diese, jenseits von Unternehmern und Unternommenen jeder Art, ohne die Sache Menschenrechte. Beides geschieht nicht automatisch im selben Akt, sondern ist wechselseitig aufeinander angewiesen, bei ökonomischem Prius, humanistischem Primat. Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte.« 72 De facto steht der Sozialstaat unter den gegegeben Bedingungen vor der paradoxen Aufgabe, die mit der ›freien‹ Marktwirtschaft verbundene Tendenz zur Ungleichheit auszugleichen und zugleich die bestehende Wirtschaftsordnung zu stabilisieren. 73 Im Gegensatz zur Würdegarantie zerstört »eine Politik, die vorgibt, den Bürgern ein selbstbestimmtes Leben primär über die Gewährleistung von Wirtschaftsfreiheiten garantieren zu können, […] das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kategorien von Grundrechten. Die Menschenwürde, die überall und für jedermann ein und dieselbe ist, begründet die Unteilbarkeit der Grundrechte.« 74 Nicht die Würde ist an den Verhältnissen zu messen, sondern die Verhältnisse an der Würde. Gelingt dies nicht, trägt dies wesentlich zur Legitimitätskrise von Staat und Politik bei, wie Konrad Raiser als Generalsekretär des ›Ökumenischen Rats der Kirchen‹ betont hat: »Die Unfähigkeit der Staaten, die Probleme der Arbeitslosigkeit und des Ausschlusses anzugehen, die Unfähigkeit der Regierungen, das umzusetzen, was in bezug auf grundlegende Rechte und insbesondere soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte vereinbart und erreicht worden ist, war einer der wichtigsten Gründe für die Erosion der Legitimität von Regierungen. Es ist nicht allein die Tatsache, daß die Globalisierung der neuen Wirtschaft den Handlungsspielraum auf der Ebene nationaler Regierungen zunehmend einschränkt und die traditionellen Vorstellungen nationaler Souveränität aushöhlt. Tatsächlich stellt dies die Legitimität der

Bloch 1961, S. 13. Auf diese Ambivalenz hat Eduard Heimann bereits 1929 in Soziale Theorie des Kapitalismus hingewiesen; er sprach vom »konservativ-revolutionäre[n] Doppelwesen«, der »Doppelstellung der Sozialpolitik als Fremdkörper und zugleich als Bestandteil im kapitalistischen System« (Heimann 1980, S. 168). 74 Habermas 2010, S. 347. 72 73

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Menschenwürde und Menschenrechte

staatlichen Strukturen in Frage, sei es auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene.« 75 Die Frage der Verwirklichung der sich aus dem IPwskR ergebenden Rechte stellt sich nicht allein auf innerstaatlicher Ebene. Auf globaler Ebene sind extraterritoriale Staatenpflichten zu berücksichtigen. Gem. den ›Maastrichter Prinzipien zu den extraterritoriale Staatenpflichten im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte‹ (2011) haben »[a]lle Staaten […] die Verpflichtung, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, einschließlich der bürgerlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres Territoriums« (Ziff. 3). Diese extraterritorialen Staatenpflichten sind »a) Pflichten in Bezug auf die Handlungen oder Unterlassungen eines Staates innerhalb oder außerhalb seines Territoriums, die Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte außerhalb des Territoriums dieses Staates haben; und b) Verpflichtungen von globalem Charakter, die in der Charta der Vereinten Nationen und in Menschenrechtsinstrumenten festgelegt sind, einzeln und gemeinsam in internationaler Zusammenarbeit Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschenrechte weltweit zu verwirklichen.« (Ziff. 8) »Ein Staat hat Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in allen Situationen, a) in denen er Staatsgewalt oder tatsächliche Macht ausübt, ob dies nun in Übereinstimmung mit internationalem Recht erfolge oder nicht; b) bei denen Handlungen oder Unterlassungen des Staates vorhersehbare Auswirkungen auf den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach sich ziehen, sei dies innerhalb oder außerhalb seines Territoriums; c) in denen der Staat einzeln oder gemeinsam mit andern Staaten in der Lage ist, durch seine exekutive, legislative oder judikative Gewalt und in Obereinstimmung mit internationalem Recht entscheidenden Einfluss auszuüben oder Maßnahmen zu ergreifen für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte außerhalb seines Territoriums.« (Ziff. 9) Ein wesentliches Element der Menschenwürdegarantie sind Gewährleistungsrechte zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz.

K. Raiser, Sich widersprechende Werte: Dialog der Kulturen über menschenwürdige Arbeit. In Peccoud 2005, S. 17.

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Menschenwürde und soziale Menschen- und Grundrechte

Dies entspricht Art. 28 der ›Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‹ : »Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.« Dem entspricht auch das Urteil des Ersten Senats des BVerfGE vom 9. Februar 2010 zu Hartz IV. In den Leitsätzen heißt es: »1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. 2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.« 76 Im Urteil wird zu bestimmten Hartz-IV-Regelungen 77 festgestellt, sie seien mit »dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar«. Dies ist mit Verweis auf frühere Urteile 78 u. a. so begründet: »Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen […]. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen […]. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat BVerfGE, 1 BvL 1/09 vom 9. 2. 2010. »§ 20 Abs. 2 1. Halbsatz, Abs. 3 Satz 1 SGB II a.F. und § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 1. Alt. SGB II a.F., jeweils in Verbindung mit § 20 Abs. 1 SGB II a.F.«. 78 Ebd., (133): »vgl. BVerfGE 40, 121, 133; 45, 187, 228; 82, 60, 85; 113, 88, 108 f.; Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u. a. –, juris, Rn. 259«. 76 77

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Menschenwürde und Menschenrechte

im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt […] und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.« 79 Nur der demokratische Rechts- und Sozialstaat, in dessen Verfassung die Menschenwürde der oberste Wert ist und der die Menschenrechte auf ihrem juridisch höchstentwickelten Niveau garantieren muss 80, hat die Kraft, allen Individuen auf die ihnen angemessene Weise die Einheit von Gleichheit und Freiheit unter Bedingungen der Gerechtigkeit zu garantieren und so in der Gesamtheit aller Grundund Menschenrechte die individuelle Würde zu schützen: Die »Grundrechte [sind] insgesamt Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde«. 81 Dass der Rechtsstaat in vielen Gesellschaften gar nicht oder nur teilweise verwirklicht ist, ist unbestreitbar. Die faktische Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte mindert aber die Geltung der Rechtsnormen nicht. Ihre Geltung begründet überhaupt erst die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kritik an Normverletzungen. Wer Verletzungen beklagt, setzt einen Maßstab voraus. Der im Unterschied zu moralischen Intuitionen angemessene Maßstab sind die Rechtsnormen.

9.3 Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung Eng mit sozialen Menschenrechten als Konkretisierungen der Menschenwürde verbunden ist das Gebot nachhaltiger Entwicklung. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Gerecht behandelt zu werden und gerecht Ebd., (134). Alexy 2010, S. 951, betont, dass »der Anspruch auf menschenrechtliche Richtigkeit den Verfassungsgeber und die Verfassungsinterpreten zur dauernden Suche nach der besten Menschenrechtskonzeption« verpflichtet. 81 BVerfGE, 1 BvR 426/02 vom 11. 3. 2003 (26); Hervorh. v. mir. 79 80

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Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung

zu handeln, ist ein moralischer Anspruch, den nicht die Natur an uns stellt, sondern Menschen gegenüber Menschen. Moralische Ansprüche mögen noch so legitim sein; doch sie sind hinsichtlich ihrer Durchsetzung schwach und müssen deshalb verrechtlich werden. Denn das Recht ist die Form, in der sich im Konflikt der Ansprüche alle vor allen schützen. Gewiss sind Recht und Gerechtigkeit oft nicht in Übereinstimmung, denken wir etwa an verletzte Geschlechtergleichheit oder an Defizite sozialer Gerechtigkeit, die das bestehende Rechtssystem nicht verhindert. Zu sprechen ist deshalb nicht von Recht schlechthin, sondern von ›richtigem‹ Recht, von gerechtem Recht, von Recht nach menschenrechtlichem Maß. Rechtlich geschützt werden sollen nicht nur die jetzt, sondern auch die zukünftig Lebenden. Hieraus ergibt sich die Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung, die in verbindlichen völkerrechtlichen Konventionen verankert wird. Den normativen Rahmen, an dem sich politisches und gesellschaftliches Handeln für Nachhaltigkeit orientieren muss, bilden die Menschenrechte – nicht als Ideal oder gar als Utopie, nicht als etwas, an das zu appellieren wäre, sondern als einklagbares positives Recht. In der Hierarchie der Rechtsnormen bildet die Menschenwürdenorm ihre Basis; aus ihrer Gesamtheit und Einheit ist zu verstehen, was ›Menschenwürde‹ bedeutet. Es ist genau dieser Zusammenhang, der seit dem Beginn der Weltkonferenzen der Vereinten Nationen über die menschliche Umwelt auf der Tagesordnung steht: Ohne die Achtung und den Schutz der menschlichen Würde durch gerechtes Recht ist nachhaltige Entwicklung nicht denkbar. Den Beginn der in diesem Sinne verstandenen Entwicklung des Umweltvölkerrechts hat die 1972 in Stockholm durchgeführte ›Weltkonferenz über die menschliche Umwelt‹ markiert. Sie hat als Prinzip Nr. 1 formuliert: »Der Mensch hat das Grundrecht auf Freiheit, Gleichheit und angemessene Lebensbedingungen in einer Umwelt, deren Qualität ein Leben in Würde und Wohlbefinden erlaubt.« 82 Auf dieses Prinzip – auf die Einheit von Würde und Recht – hat sich 1987 der unter dem Titel ›Our Common Future‹ veröffentliche, als ›Brundtland-

United Nations, Report of the United Nations Conference on the Human Environment, document A/CONF.48/14/Rev.1, Chapter 1, New York 1972. Meine Übersetzung.

82

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Menschenwürde und Menschenrechte

Bericht‹ bekannte ›Report of the World Commission on Environment and Development‹ bezogen. 83 Im Brundtland-Bericht wurde das Konzept ›nachhaltige Entwicklung‹ in der Perspektive der Generationengerechtigkeit präzisiert und auf zweifache Weise definiert: (i) »Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.« 84 Und (ii) »Im wesentlichen ist dauerhafte Entwicklung ein Wandlungsprozeß, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.« 85 In der Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung von 1992 forderten die Vereinten Nationen die Bekämpfung der Armut, eine angemessene Bevölkerungspolitik, den Abbau nicht nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen und die umfassende Einbeziehung der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse. Den Hintergrund dieser Forderungen bilden zwei zentrale Einsichten: Erstens haben alle Menschen aufgrund ihrer Würde und ihres Anspruchs auf Gerechtigkeit ein Recht auf ein Leben im Einklang mit der Natur, und zweitens darf die heutige Entwicklung die legitimen Bedürfnisse sowohl der gegenwärtigen als auch der zukünftigen Generationen nicht untergraben. Intragenerationelle und intergenerationelle Solidarität dürfen keinen Gegensatz bilden. Diese Zielsetzungen sind gut begründet, und doch sind die Wege zu ihrer Verwirklichung umstritten. Dies kann nicht überraschen, denn was unter Gerechtigkeit, einem Leben im ›Einklang mit der Natur‹ und dementsprechend unter ›Naturschutz‹ zu verstehen ist, welche Entwicklungs- und Umweltbedürfnisse legitim sind und was aus dem subjektiv-öffentlichen Recht auf Achtung der Menschenwürde folgt – dies alles hat Kontexte im Pluralismus von Kulturen, Religionen, WeltUnited Nations, A/42/427, Report of the World Commission on Environment and Development Our Common Future, Abs. 81. 84 Volker Hauff (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, S. 51; Abs. 49 und S. 54 Abs. 1 85 Ebd., S. 57, Abs. 15. Vgl. auch die von der 29. UNESCO-Generalkonferenz im Jahre 1997 verabschiedete ›Erklärung über die Verantwortung der heutigen Generationen gegenüber den künftigen Generationen‹ (http://www.unesco.de/446.html). 83

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Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung

anschauungen, Moralen, Wertepräferenzen und politischen Systemen. 86 Das Ziel nachhaltiger Entwicklung ist kultur-kontextuell mit Vorstellungen eines ›guten Lebens‹ verbunden. Die eine wahre Vorstellung vom ›guten Leben‹ gibt es so wenig wie die eine wahre Vorstellung von Gerechtigkeit. Private Moralen und einzelne der miteinander konkurrierenden ethische Konzeptionen sind weder dazu legitimiert, alle Menschen auf ihre Perspektive zur Lösung globaler Probleme zu verpflichten, noch dürfen sie mit Zwangsmitteln universalisiert werden. Universalisierbar sind nur Normen allgemeinen Rechts. Zwar ist der öffentliche zivilgesellschaftliche Gerechtigkeitsdiskurs, der sich auch im Rahmen der Ethik entfaltet, für die Rechtsentwicklung unverzichtbar, aber nur im Rahmen des Rechts und jenseits besonderer Moralen ist eine intra- und transkulturelle Verständigung über Nachhaltigkeits-Ziele und die zu ihrer Verwirklichung notwendigen Verfahren, Institutionen und Mechanismen möglich. Was Recht und Gerechtigkeit sein sollen, ergibt sich ex negativo, aus Unrechtserfahrung, aus dem, was nicht sein soll – aus der Verletzung der Würde der Menschen und ihrer Ansprüche auf Gerechtigkeit. 87 Gerechtigkeit soll das Fundament des Rechts und der Maßstab zur Beurteilung dessen sein, was nicht rechtens ist. Im pluralistischen demokratischen Rechtsstaat können allerdings nicht alle individuellen Gerechtigkeitsansprüche juridisch garantiert werden, sondern nur diejenigen, zu denen ein allgemeiner Konsens der Normadressaten erreicht werden kann bzw. aus Gründen des Würdeschutzes unterstellt werden muss. Gerechtigkeit als Fundament des Rechts erstreckt sich in erster Linie auf Chancengleichheit und -gerechtigkeit, auf Verteilungsgerechtigkeit und auf prozedurale Gerechtigkeit, d. h. auf faire Verfahren im Rechtsstaat. »Gerechtigkeit«, so Ulpians wegweisende Definition im Corpus Diese Problematik thematisierte auch der ›Brundtland-Bericht‹, United Nations, A/ 42/427, Report of the World Commission on Environment and Development Our Common Future, Chairman’s Foreword: »The differences of perspective seemed at the outset to be unbridgeable, and they required a lot of thought and willingness to communicate across the divides of cultures, religions, and regions.« 87 Ich formuliere dies in Analogie zur Würdenorm, die in Verfassungen bewusst nicht definiert wird, sondern deren Bedeutung von der Verfassungs- und Menschenrechtsgerichtsbarkeit ex negativo in der Prüfung des Verletzungs-Einzelfalls konkretisiert wird. 86

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Menschenwürde und Menschenrechte

Iuris Civilis in den Digesten, dem Hauptwerk des römischen Rechts aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., »ist der stetige und fortwährende Wille, jedem das Seine zukommen zu lassen« 88 – und zwar unter Berücksichtigung schützenswerter Ungleichheit. 89 Übersetzt man dies in der Perspektive der Generationengerechtigkeit, dann geht es um den stetigen und fortwährenden Willen, auch zukünftigen Generationen das zukommen zu lassen, was ihr menschenwürdiges Leben sichert. Mit der Forderung nach Gerechtigkeit ist freilich ein Problem verbunden. Gerechtigkeit ist eine Tugend und eine Norm. Aber nicht alle Menschen handeln immer aus Tugend gerecht, weder gegenüber jetzt lebenden Menschen noch gegenüber zukünftigen Generationen. Zwar sollen alle die Regeln gerechten Verhaltens befolgen, aber könnte es nicht im eigenen Interesse günstiger sein, dass alle der Norm gehorchen, außer man selbst? Weil es in pluralistischen Gesellschaften konkurrierende Gerechtigkeitsvorstellungen gibt, von denen keine ein Privileg genießt, ist aus pragmatischen Gründen dem allgemeinen Recht Vorrang vor partikulären Moralen einzuräumen. Das moralische Sollen begründet nur die Hoffnung, dass alle gerecht handeln. Die Hoffnung drückt aus, dass es noch nicht so ist, wie es sein soll, aber dass es so sein kann. Weil die Hoffnung auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und der aus ihr folgenden menschenrechtlichen Verpflichtungen immer wieder enttäuscht wird, gibt es die Kultur des Rechts, in der Bedingungen geschaffen werden, die geeignet sind, mehr zu verbürgen, als angesichts der moralischen Schwäche der Individuen erwartet werden kann – Bedingungen der Herrschaft gerechten Rechts. Im Recht, das auf Gerechtigkeit verpflichtet, kann die Befolgung der Norm, alle Menschen aufgrund ihrer Würde als gleichwertig zu achten, mit Sanktionen durchgesetzt werden. ›Recht‹ bezeichnet die Grenze, die dem de facto mit Pluralismus verbundenen Relativismus des anything goes gesetzt ist. Das Recht, das über nationale und kulturelle Grenzen hinweg den weitestgehenden Konsens auf sich vereinigt und zugleich universelle Moral ist, ist das Menschenrechte-Recht. Spricht man über Nachhaltigkeit 90, dann spricht man über den Ulpian, Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1,10: »Iustitia est perpetua et constans voluntas ius suum cuique tribuendi.« 89 Zu berücksichtigen sind etwa Unterschiede zwischen Alten und Jungen, Gesunden und Kranken, Behinderten und Nichtbehinderten, und legitime Minderheitenrechte. 90 Vgl. Lange 2010. 88

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Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung

Stoffwechselprozess zwischen Gesellschaft und Natur. Hier ergibt sich ein zweites Problem. Ernst Cassirer hat es so formuliert: »›Natur‹ bezeichnet nicht eine bestimmte Art der Gegebenheit der Dinge als solcher; sie bezeichnet vielmehr eine Grundrichtung der Betrachtung.« 91 Wenn das Wort ›Natur‹ eine Art der Betrachtung, eine Perspektive ist, dann folgt daraus, dass die Natur nichts ist, was uns auf die Weise gegeben wäre, die wir natürlich nennen im Unterschied zu dem, was wir kulturell nennen. Vielmehr wird das Buch der Natur immer wieder neu und auf verschiedene Weise in Sprachen der Kultur geschrieben. Dies zeigt sich, wenn Natur entweder unter dem Aspekt bloßer Nützlichkeit und unendlicher und kostenloser Ressourcen oder aber im Wertesystem ›Naturschutz‹ als etwas verstanden wird, das um seiner selbst und um unserer selbst willen ›nachhaltig‹ schützenswert ist. Das, was wir ›Natur‹ nennen, diktiert uns nicht, wie es geschützt werden will. Mit anderen Worten: Die Natur selbst ist keine Fundierungsinstanz von Handlungsnormen. Nachhaltigkeit und Naturschutz sind eine moralische Verpflichtung, und diese Pflicht muss rechtlich verankert werden, um durchsetzbar zu sein. Deshalb wurde das GG um Art. 20a ergänzt: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.« Diesen Schutzauftrag erteilt die Verfassung in der Perspektive einer gegenwärtig und zukünftig menschenwürdigen Welt. Er leitet sich ab aus Art. 1 Abs. 1 GG: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieses verfassungsrechtlich als Basisnorm für alle Grundrechte und im internationalen Menschenrechte-Recht garantierte Achtungsund Schutzprinzip hat die Funktion, uns als heutige Individuen und die Individuen der Zukunft vor jeglicher Verletzung dessen zu bewahren, was uns als Individuen und Rechtspersonen in gleicher Freiheit konstituiert. Damit ist der Horizont des Rechts auf nachhaltige Entwicklung in der Hierarchie der Rechtsnormen eröffnet. Der Satz ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹ entfaltet nicht nur für die Gegenwart eine Personen, Gruppen, Gesellschaften und Staaten zwingend verpflichCassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis. In: ECN, Bd. 2, Hamburg 1999, S. 157.

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Menschenwürde und Menschenrechte

tende Wirkung. Er gebietet, dass das gegenwärtige Handeln zukünftige Träger der Menschenwürde nicht schädigt, d. h. ihnen die für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Ressourcen nicht entzieht. Die aus der Würdenorm abgeleiteten menschenrechtlichen Forderungen nach Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und menschenwürdiger Zukunft aller Menschen zielen auf nachhaltig gesicherte weltbürgerrechtliche Lebensverhältnisse. Werden die Menschenrechte nicht in ihrer Gesamtheit, d. h. auch als wirtschaftliche und soziale Rechte verwirklicht, bleibt nachhaltige Entwicklung eine Illusion. Dies gilt auch umgekehrt. Denn einerseits ist Nachhaltigkeit ein Entwicklungsmaßstab, der an den Menschenrechten zu messen ist, und andererseits müssen die Menschenrechte – dies ist das mit Nachhaltigkeit verbundene geschichtlich Neue – (i) unter Berücksichtigung der Begrenztheit natürlicher Ressourcen, also der vom Naturhaushalt gesetzten Grenzen, und (ii) im generationenübergreifenden Bezugsrahmen der Rechte zukünftiger Generationen verwirklicht werden. Die Verpflichtung zu Generationengerechtigkeit folgt aus der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte. Die Verwirklichung dieser Verpflichtung setzt die Verrechtlichung der folgenden drei Ziele voraus: (i) Jede Generation soll die Diversität der natürlichen und kulturellen Ressourcenbasis bewahren, so dass sie die verfügbaren Optionen zukünftiger Generationen nicht ungebührlich beschränkt und die Vielfalt vergleichbar ist mit jener, die vorherige Generationen angetroffen haben. (ii) Jede Generation soll die Qualität der Erde aufrechterhalten, so dass sie in keinem schlechteren Zustand weitergegeben wird als demjenigen, in dem sie übernommen wurde, und sie soll ihrerseits auch das Recht auf eine Umweltqualität haben, vergleichbar mit jener, die frühere Generationen genossen haben. (iii) Jede Generation soll ihre Mitglieder mit fairen Rechten des Zugangs zum Erbe der vorhergehenden Generationen ausstatten und diesen Zugang für zukünftige Generationen bewahren. 92 Aus der Einsicht, dass moralische Appelle ein Handeln in der Perspektive nachhaltiger Entwicklung nicht garantieren, ergibt sich, dass die Rahmenbedingungen des politischen und gesellschaftlichen Handelns für nachhaltige Entwicklung dringend einer internationalen und nationalen prozeduralen und materiellen Verrechtlichung dessen be-

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Vgl. Brown Weiss 2002, S. 1 und 5–6.

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Menschenwürde, Rechte zukünftiger Generationen und nachhaltige Entwicklung

dürfen, was in den eingangs erwähnten Deklarationen nur den Status von ›soft law‹ ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit hat. Rechte wie etwa das Recht auf sauberes Wasser 93 können bereits aus UN-Pakten wie dem ›Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte‹ von 1966 abgeleitet werden. Neu ist, dass in der Perspektive nachhaltiger Entwicklung – wie in der als Entwicklungsauftrag zu verstehenden Agenda 21 – das unter Ressourcengesichtspunkten Zumutbare und Machbare in Übereinstimmung gebracht werden soll und die Aufmerksamkeit des politischen Handelns konkreter auf Fragen wie die gelenkt wird, über wie viel Wasser wir wo verfügen, unter welchen Bedingungen es verfügbar bleibt, für wen es zugänglich und wer davon bislang ausgeschlossen ist bzw. in Zukunft ausgeschlossen sein könnte. Die Normierung von Menschenrechten ist für Entwicklungen in dem Maße offen, wie neue Problemfelder von existenzieller Bedeutung für Menschen entstehen werden. Eine heute wesentliche menschenrechtlich relevante Aufgabe besteht in nachhaltiger Entwicklung und Naturschutz. Mit der menschenrechtlichen Begründung nachhaltiger Entwicklung ist allerdings ein drittes Problem verbunden. Seit der ›Erklärung über das Recht auf Entwicklung‹ – Resolution 41/128 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 4. Dezember 1986 – ist »unter Hinweis auf den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte« 94 das vor allem von Staaten der so genannten Dritten Welt eingeklagte Recht auf Entwicklung und Selbstbestimmung anerkannt. Die Erklärung geht davon aus, »dass Entwicklung ein umfassender wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Prozess ist, der die ständige Steigerung des Wohls der gesamten Bevölkerung Vgl. The human right to water and sanitation, 27. Juli 2010; UN-Dokument A/64/ L.63/Rev.1. 94 In den beiden Pakten heißt es gleichlautend in Art. 1: »(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. (2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.« 93

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Menschenwürde und Menschenrechte

und aller Einzelpersonen auf der Grundlage ihrer aktiven, freien und sinnvollen Teilhabe am Entwicklungsprozess und an der gerechten Verteilung der daraus erwachsenden Vorteile zum Ziel hat«. Art. 1 der Erklärung lautet: »(1) Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht, kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, in einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können, teilzuhaben, dazu beizutragen und daraus Nutzen zu ziehen. (2) Das Menschenrecht auf Entwicklung bedingt auch die volle Verwirklichung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, wozu vorbehaltlich der entsprechenden Bestimmungen der beiden Internationalen Menschenrechtspakte auch die Ausübung ihres unveräußerlichen Rechts auf uneingeschränkte Souveränität über alle ihre natürlichen Reichtümer und Ressourcen gehört.« Dies ist nach dem Zeitalter des Kolonialismus unbestreitbar ein Fortschritt. Er hat allerdings seinen Preis. Die Kosten bestehen in der seitdem anscheinend unaufhaltsamen Tendenz, (i) die Individualrechte zugunsten von Kollektivrechten zu schwächen, damit (ii) die negativen Freiheitsrechte, die Abwehrrechte der Individuen gegen Staaten, und die sozialen Gewährleistungsrechte zugunsten von Pflichten gegenüber Kollektiven zurückzunehmen und (iii) diese Kollektive durch Tradition und/oder Religion, das heißt durch kulturelle Identität zu definieren. Werden kollektive Entwicklungsrechte einseitig betont, dann muss dies zu einer Verletzung des in Art. 2 (1) der Erklärung – allerdings mit abstraktem Verweis auf den ›Menschen‹ anstatt auf das Individuum – bekräftigen Kerns der Menschenrechte führen: »Der Mensch ist zentrales Subjekt der Entwicklung und sollte aktiver Träger und Nutznießer des Rechts auf Entwicklung sein.« Nicht das Recht auf Entwicklung ist umstritten, sondern die aus ihm zu ziehenden Konsequenzen. Nachhaltige Entwicklung ist zwar eine Aufgabe, die ohne Staaten, Staatengemeinschaften und gesellschaftliche Kollektive nicht zu bewältigen ist. Aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist keine Garantie dafür, dass die Verantwortlichen entsprechend der Nachhaltigkeitsperspektive politische Konzepte für die als Einheit verstandene Welt entwickelt und umsetzen. Eine Entwicklung, die kollektive Rechte favorisiert und die Menschenrechte als individuelle Abwehr- und Gewährleistungsrechte aus dem Blick verliert, wird weder für heutige noch für künftige Generationen im Sinne menschenwürdiger Lebensbedingungen nachhaltig sein. 302 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

10. Menschenwürde – abwägbar?

10.1 Die Menschenwürde ist nicht abwägbar Für das BVerfGE steht aufgrund der inneren Logik des Grundgesetzes, in dem alle Grundrechte aus der absoluten Menschenwürdegarantie folgen, außer Frage, dass die Würde nicht abwägbar ist: »[D]ie »Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig«. 1 Th. Gutmann stellt hierzu fest: »In seinem Anwendungsbereich statuiert Art. 1 Abs. 1 GG ein absolutes Verletzungsverbot. Die Würde des Menschen unterliegt nach dem nahezu unangefochten herrschenden verfassungsrechtlichen Verständnis keinen Grundrechtsschranken und entzieht sich als rechtliche Regel jeder Abwägung mit anderen Rechten oder Rechtsgütern, auch mit solchen von Verfassungsrang. Sie umschreibt m. a. W. ein striktes, unbedingtes Gebot, das sich aus der Vorstellung nährt, dass der Einzelne einen auch in Konfliktfällen immer vor Verletzung geschützten und niemals fungiblen Anspruch auf Respekt vor seiner Rechtsperson hat. […] Die Würde im Rechtssinn ist kein kollisionsfähiges Gut. Sie ist zunächst und vor allem eine Verbotsnorm, die sich nicht werttheoretisch in der Begrifflichkeit der Vorzugswürdigkeit von Gütern formulieren lässt, die nach Verwirklichung streben und um Vorrang konkurrieren. […] Die sich zunehmender Beliebtheit erfreuende Rede von ›Menschenwürdekollisionen‹ – etwa zwischen der Würde des zu folternden mutmaßlichen Entführers und der seines Opfers – ist deshalb normlogisch falsch und eine irreführende façon de parler.« 2 BVerfGE, 93, 266 (116). So auch Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 4: »Der Menschenwürdeschutz ist abwägungsresistent.« Dies vertreten u. a. auch Hönig 2009, S. 48 f., und Enders 2009, S. 114: »Eine Abwägung ›Würde gegen Würde‹ scheidet […] aus.« Art. 1 Abs. 1 fungiert »gleichsam als subjektivierte gebündelte Schrankenschrankenklausel« (ebd., S. 114). 2 Gutmann 2010, S. 7 f.; vgl. nahezu gleichlautend Gutmann 2010a, S. 20. Zu einem 1

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Menschenwürde – abwägbar?

Dem widerspricht u. a. N. Teifke; er behauptet, »der abstrakte absolute Vorrang der Menschenwürde [sei] im Hinblick auf konkrete Fälle zu relativieren. Denn ohne Fallbezogenheit gibt es keine Kollisionen und damit keine einander widersprechenden Ergebnisse. Das Gewicht von Prinzipien ist letztlich nicht absolut bestimmbar. Trotz des hohen abstrakten Gewichts der Menschenwürde bleibt die Möglichkeit bestehen, daß in einem extremen Fall die Wichtigkeit eines gegenläufigen Prinzips größer ist als die Wichtigkeit der Menschenwürde. Deshalb kann von einem abstrakten prima facie-Vorrang der Menschenwürde gesprochen werden. Dieser prima facie-Vorrang wird zwar dadurch verstärkt, daß aufgrund des hohen abstrakten Gewichts der Menschenwürde eine Argumentationslastregel zu ihren Gunsten begründet wird. Diese Argumentationslastregel negiert aber nicht die Notwendigkeit, im konkreten Fall die Vorrangbedingungen jeweils festzulegen.« 3 Die Debatte über die Abwägbarkeit der Menschenwürdegarantie wird neben jener über die Zulässigkeit von Folter auch im bioethischen und medizinischen Kontext über die Stammzellenforschung, das Klonen, die Präimplantationsdiagnostik und ähnliche Themen geführt. So stellt z. B. D. Birnbacher fest: »Eine funktionale Rechtfertigung des schwachen Menschenwürdebegriffs begründet, warum wir weder mit menschlichen Embryonen noch mit menschlichen Leichen beliebig verfahren dürfen. Sie begründet zugleich, warum der durch diesen Begriff geforderte Schutz vor Instrumentalisierung begrenzt und gegen hochrangige konkurrierende Ziele abwägbar ist.« 4 F. Hufen plädiert für Abwägung mit dem ›Argument‹, die »in einer bestimmten historischen Situation formulierte Menschenwürdegarantie« sei »nicht auf den Stand von 1949 zu fixieren«, sondern müsse »auf Grund neuer Herausforderungen fortentwickel[t] werden«: »Immer mehr wird erkannt, dass die Menschenwürde als abstraktes Prinzip sich gegen den Menschen selbst richten kann, wenn sie als Blockade für Forschung und Medizin eingesetzt und gegen die Selbstbestimmung des Menschen ausgespielt wird«. 5 Überblick über Pro- und Contra-Argumente zur Abwägung vgl. u. a. Schütze 2007, S. 248–254; zur »Abwägbarkeit menschlichen Lebens im Spannungsfeld von Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie« vgl. Jäger 2008. 3 Teifke 2011, S. 127. 4 Birnbacher 2005, S. 32; vgl. ders. 2004 und Hilgendorf 1999. 5 Hufen 2004, S. 313.

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Die Menschenwürde ist nicht abwägbar

Auch in der verfassungsrechtlichen Kommentierung melden sich Stimmen zugunsten von Abwägung zu Wort. In der 42. Ergänzungslieferung (Februar 2003) zum GG-Kommentar von Maunz/Dürig hat Matthias Herdegen eine viel diskutierte Neukommentierung des ursprünglich von G. Dürig bearbeiteten Art. 1 Abs. 1 GG verfasst. Für Dürig war die Garantie der Menschenwürdegarantie ein »sittlicher Wert«, ein »naturrechtlicher Anker« vor dem positiven Verfassungsrecht, um das Achtungs- und Schutzgebot der Menschenwürde als unantastbar und keinen Abwägungen zugänglich zu begründen. Dem widerspricht Herdegen mit Gründen, die der pluralistischen Verfasstheit der demokratischen Gesellschaft Rechnung tragen: »Für die staatsrechtliche Betrachtung sind […] allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich. Wer dies bestreitet, kann nur auf das Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen. Verfassungsauslegung mit prognostizierbaren Ergebnissen lässt sich so nur in einer religiös und weltanschaulich homogenen Gemeinschaft erreichen – oder mit Intoleranz gegenüber allen, denen der rechte Zugang zu den Gewissheiten einer überpositiven Wertordnung versagt ist.« 6 Eine wesentliche Schlussfolgerung, die Herdegen bezüglich des Status und der Funktion der Menschenwürdenorm zieht, ergibt sich allerdings hieraus nicht. Er spricht zwar von Menschenwürde als »ein[em] Höchstwert der Verfassung« und stellt fest, ihr Vorrang wirke »vor allem in der von der ganz herrschenden Meinung zu Recht postulierten Abwägungsfestigkeit der Menschenwürde im Konflikt mit anderen Rechtsgütern«. 7 Aber er behauptet: »Im Gefüge der grundrechtlichen Wertordnung sichern die Position an der Spitze des Grundrechtsteils, die Erklärung zum ›unantastbaren‹ Rechtsgut, die explizite Schutzpflicht (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) und die grundsätzliche Tabuisierung nach Art. 79 Abs. 3 GG eine herausgehobene Wertigkeit. Dieser besondere Rang ist aber nicht mit absoluter Dominanz gegenüber anderen Grundrechtswerten gleichzusetzen.« 8 Herdegen in Maunz/Dürig/Herzog, GG-K, 42. Lfg. 2003, Art. 1, Rn. 17. (Lfg. 55, Mai 2009, Rn. 20). 7 Herdegen, GG, GG Art. 1 Abs. 1. In: ebd., 65. Erg.Lfg. 2012, Rn. 4. Hervorh. v. mir. 8 Ebd., Rn. 22, vgl. Rn. 45 ff. 6

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Menschenwürde – abwägbar?

An anderer Stelle hat Herdegen diese Auffassung bekräftigt und erklärt, bei der Grundlegung des »Verletzungsurteils« gehe »es nicht um eine Abwägung der Menschenwürde mit anderen Grundrechten und Grundwerten, sondern um eine situationsgeprägte und insoweit abwägungsoffene Begründung des Würdeanspruches. Der einmal so ermittelte Würdeanspruch ist dann abwägungsfest. Die Würde aller Menschen bleibt dabei gleich. Differenzierungen entfalten sich nur bei der in einer bestimmten Situation gebotenen Ableitung eines bestimmten Anspruches auf Achtung und Schutz. Hier wirken gradierbare Faktoren wie Verantwortlichkeit des Einzelnen, Gefährdung Dritter oder individuelle Schuld als urteilsleitende Kriterien.« 9 Herdegen formuliert immer wieder ein ›Zwar-Aber‹ bzw. ›Einerseits-Andererseits‹, um die Abwägungsresistenz der Würdenorm zu relativieren, indem er auf die Notwendigkeit der »Berücksichtigung konkurrierender Würdeansprüche Dritter oder des Lebens« verweist. Einerseits räumt er ein, diese Berücksichtigung könne »nicht dazu führen, daß der in einer konkreten Situation bestehende Würdeanspruch des Einzelnen, d. h. das situativ von seiner Würde Geforderte noch einmal mit anderen Grundwerten der Verfassung abgewogen wird. Denn mit dem Anspruch der Menschenwürde auf ›Unantastbarkeit‹ und dem dahinter stehenden Leitbild des personalen Achtungsanspruches wäre es schlechthin unvereinbar, eine ›Verletzung‹ der Menschenwürde mit anderen Grundwerten der Verfassung zu rechtfertigen.« Andererseits »gebietet es die Einheit der Verfassung als in sich stimmige Wertordnung, daß die Konkretisierung der Würdegarantie, d. h. der individuelle Würdeanspruch in einer bestimmten Lage auch auf Würde und Leben Dritter Bedacht nimmt. Insoweit erschließt sich der konkrete Inhalt der menschlichen Würde als das in einer bestimmten Situation verfassungsrechtlich Gebotene in einer Art Wechselwirkung zwischen der Menschenwürde des Einzelnen und anderen Grundwerten der Verfassung. Schutz und Gefährdung der Würde oder des Lebens anderer und insoweit bestehende Verantwortlichkeiten des Einzelnen prägen also das Maß des seiner Würde im konkreten Fall Geschuldeten mit. So läßt sich überhaupt schlüssig begründen, weshalb langjährige Freiheitsentziehung (Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung, physischer Zwang, Ausforschen des Intimbereiches oder gar Tötung von hoher Hand) in bestimmten Fällen Würdeverletzungen darstellen und 9

Herdegen 2008, S. 63.

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Die Menschenwürde ist nicht abwägbar

in anderen würdekonform sind. Mit dieser Deutung sind wir freilich bereits bei der zentralen Streitfrage der Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Würdegarantie. Festgehalten sei hier nur, daß gerade der absolute Geltungsanspruch zu einer situationsbezogenen Differenzierung bei der Formulierung des konkreten Würdeanspruches drängt.« 10 Letztlich wird so die Würdenorm – diese Norm, bei der eine Eingriffsrechtfertigung kategorisch ausgeschlossen ist – zu einer Norm unter anderen herabgestuft. Das Problem besteht nicht darin, dass damit »die Restheiligkeit aus unserem konstituierenden Text« – dem GG – getilgt wird. 11 Es besteht vielmehr darin, dass mit der Relativierung der Absolutheit der Würdenorm auch die in dieser Norm gründende Absolutheit von Verletzungsverboten – vor allem des Folteverbots – im Interesse von Abwägungen relativiert wird. 12 »In der Logik der Abwägung liegt« – so Bernhard Schlink –, »dass Herdegen 2009, S. 95; vgl. auch ebd., S. 100. Haltern 2006, S. 123. 12 Zu einer vehementen Kritik an Herdegen vgl. Böckenförde 2004. Zur Kritik an der »Logik der Abwägung« vgl. Schlink 2003, S. 54. Zur Auseinandersetzung mit Herdegen vgl. Gutmann 2010, S. 11–14. Zu einem Plädoyer für die Abwägbarkeit bei gleichzeitiger Kritik an Herdegen vgl. Hain 2006; zur »Inkonsistenz der ›Unabwägbarkeitsthese‹« vgl. ebd., S. 200–2004, und Hain 2007, S. 95 ff. Im Rahmen seines Plädoyers für »eine Umkehrung des Blicks« von einer ›wertorientierten‹ (kantianischen) zu einer ›interessenorientierten‹ »Begründung der Menschenrechte« (2010, S. 63) kommt auch B. Ladewig zu einer Relativierung des Abwägungsverbots (vgl. ebd., S. 65 ff.): »Unsere ›Würde‹ steht abkürzend für unseren gültigen Anspruch auf starke Rechte. Starke Rechte sind unter normalen Umständen weder abwägbar noch abstufbar. Sie schützen uns vor konsequentialistischen Kalkülen auf Kosten unserer menschenrechtlich zentralen und grundlegenden Interessen. Sie bewahren uns zum Beispiel vor einer Verrechnung von Leben gegen Leben. Aber sie tun dies nicht absolut: In Grenzfällen unserer Rechtsordnung und Rechtswirklichkeit wie gerechtfertigten Kriegen könnten Abwägungen erlaubt oder sogar geboten sein, die unter normalen Umständen kategorisch verboten blieben. Wo genau diese Grenzen zu ziehen sind, wird womöglich immer umstritten bleiben. Auch die Annahme eines absoluten Werts kann diesen Streit nicht schlichten. Allenfalls macht sie ihn unkenntlich, um ihren Anhängern ein unverdient gutes Gewissen zu geben.« (Ebd., S. 68) Zu seiner »interessenkonzentrierten Konzeption« vgl. Ladewig 2003, S. 44 ff. H. M. Heinig nähert sich in seinem Artikel ›Menschenwürde (J.)‹ im EStl einer Lockerung des Abwägungsverbots an: »Auch die Möglichkeit einer zu abwägungsangeleiteten Vorrangbestimmungen nötigenden Würdekollision lässt sich schwerlich leugnen. Schließlich legt sich in zahlreichen einschlägigen Konfliktkonstellationen der Verdacht nahe, dass die Güterabwägung unter der Hand auf die Ebene der von mannigfaltigen Wertungen abhängigen Bestimmung einer Verletzung der M[enschenwürde] vorverlagert und damit invisibilisiert wird.« (EStl, Sp. 1519). 10 11

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Menschenwürde – abwägbar?

sie alles und auch jedes Tabu verflüssigt und verflüchtigt. Eine Menschenwürdegewissheit festhalten heißt, sie der Logik der Abwägung zu entziehen.« 13

10.2 Die ›Logik der Abwägung‹ und das Folterverbot Im ›Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe‹ der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984 ist festgelegt, »dass niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf« (Präambel). Art. 1 (1) lautet: »Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ›Folter‹ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden«. In Art. 7 des ›Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte‹ heißt es: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Insbesondere darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden.« 14 Der Deutsche Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: »Artikel 1 Dem in New York am 20. September 2006 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Fakultativprotokoll vom 18. Dezember 2002 zum Übereinkommen vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unSchlink 2003a, S. 54. Vgl. das ›Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe‹, abgeschlossen in New York am 18. Dezember 2002.

13 14

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Die ›Logik der Abwägung‹ und das Folterverbot

menschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (BGBl. 1990 II S. 246) wird zugestimmt.« 15 Und doch findet die ›Logik der Abwägung‹ in Deutschland Befürworter. 16 Welche Konsequenzen sie hat – zumindest haben kann –, zeigt die neuere Debatte, in der die Abwägungsresistenz des absoluten Folterverbots als zwingender Völkerrechtsnorm (ius cogens) selbst dann ›jenseits des Rechts‹ zur Disposition des Staates gestellt wird, wenn die Abwägungsresistenz der Menschenwürde betont wird. So versteht sich Paul Kirchhof zu der geradezu absurden These: »Hier macht das rechtliche Tabu in Art. 1 Abs. 1 GG bewusst, dass nicht alle Anfragen an den Verfassungsstaat rechtlich vorgezeichnet und beantwortet sind. Das Staatsorgan darf nicht foltern, ebenso aber nicht die ihm anvertrauten Menschen durch Untätigkeit töten. Dieser Konflikt dürfte einer weiteren rechtlichen Klärung nicht zugänglich sein. Das Staatsorgan entscheidet in einer Verantwortlichkeit jenseits des Rechts.« 17 Eine solche Auffassung widerspricht diametral der Absolutheit des Folterverbots, wie sie z. B. auch die Wiener ›Weltkonferenz über die Menschenrechte‹ 1993 in ihrer Aussage hervorgeboben hat, »daß zu den schrecklichsten Verstößen gegen die Menschenwürde die Folter zählt, deren Folgen die Würde der Opfer zerstören und ihre Fähigkeit zur Weiterführung ihres Lebens und ihrer Arbeit beeinträchtigen. Die Weltkonferenz über die Menschenrechte hält fest, daß nach den Menschenrechtsbestimmungen und nach dem humanitären Völkerrecht die Freiheit von Folter ein Recht ist, das unter allen Umständen zu schützen ist, und zwar auch in Zeiten innerer oder internationaler Unruhen oder bewaffneterKonflikte.« 18 Nahtlos von der Verneinung der Absolutheit der Menschenwürdenorm zur Verneinung der Absolutheit des Folterverbots 19 führt die BGBl. 2008 II Nr. 23, S. 854. Zu Plädoyers für die Lockerung des Folterverbots vgl. Brugger 1999, S. 411–428, Brugger 2000 und Beiträge in Lenzen 2006. 17 Kirchhof 2008, S. 55. Hervorh. v. mir. 18 Dok. Nr. A I CONF.157123 v. 12. Juli 1993. In: Gleiche Menschenrechte für alle. Dokumente zur Menschenrechtsweltkonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993, hg. v. der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1994, S. 37 f. 19 Vgl. dagegen Herdegen, GG Art. 1 Abs. 1. In: Maunz/Dürig, GG-K. 65. Erg.Lfg. 2012, Rn. 51, der diese Konsequenz ablehnt. Poscher 2004 führt N. Luhmanns ›Tickingbomb-Szenario‹ als Beispiel für Begründungen der Einschränkung des Folterverbots an: »Ein gefangener Terrorist weigert sich, das Versteck einer mit einem Zeitzünder ver15 16

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Argumentation Winfried Bruggers: Die Unantastbarkeitsnorm sei angesichts der sich »im politischen und auch rechtlichen Diskurs« zeigenden »Dynamik und Offenheit […] kaum durchzuhalten«. Deshalb müsse der »Konstruktion des Art. 1 Abs. 1 als subjektives öffentliches Recht« eine »Alternativsicht« entgegengesetzt werden. Deren Unterschied zur herrschenden Meinung ergebe sich »auf der Schrankenebene«. Es gebe im Grundgesetz weitere Grundrechte – wie die Religionsund Meinungsfreiheit sowie die Kunstfreiheit – ohne Schrankenbestimmung, bei denen aber anerkannt sei, »daß sie immanenten Grundrechtsschranken unterliegen«. Brugger plädiert dafür, dies auch für die Menschenwürdegarantie gelten zu lassen und die Auslegung dieser Norm »auf brutalste Erniedrigungen [zu] beschränken«. 20 In seiner ›Alternativsicht‹ ist »die Menschenwürde als leitendes objektives Verfassungsprinzip einzustufen, das in der Auslegung der konkreten Grundrechte zur Geltung zu bringen ist, im Rahmen der allgemeinen Schrankenlehre«, und dies nicht mit »unmittelbarer«, sondern nur »mittelbarer Bindung«. 21 Die »letztlich entscheidende Schwäche der Einstufung der Menschenwürde als absolut geschütztes Grundrecht« besteht für Brugger in der »verfehlte[n] Vorstellung, man könne ohne Hinsehen auf alle Umstände und alle betroffenen Interessen kategorisch Unrechtsurteile abgeben und demgemäß absolute Grundrechte verbürgen«. Es sei vielmehr manchmal »notwendig und legitim, im konkurrierenden öffentlichen oder privaten Interesse einen Grundrechtsträger in seine sehenen Atombombe zu verraten. Luhmanns These: Gegenüber einem politischen System, das mit weitreichenden terroristischen Bedrohungen konfrontiert ist, lassen sich ›unverzichtbare Normen‹ des Rechtssystems nicht durchhalten. Auch wenn es Luhmann soziologisch nur um eine adäquate Beschreibung der Szene als einen Grenzfall der funktionalen Differenzierung ging, empfahl er für das von ihm gebildete Beispiel: ›[…] ungeachtet aller legalistischen Bedenken […] Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung‹. Luhmann sah in diesem ironisierend präsentierten Vorschlag zu Lasten der Menschenwürdegarantie ›keine sehr befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert‹.« Vgl. Ladeur/Augsberg 2008, S. 34–41, Poscher 2006, Beestermöller/Brunkhorst 2006, Hong 2006, Bielefeldt 2007. Vgl. auch Amnesty International, Document publique, Index AI: AMR 51/146/2004, EFAI, London, 27. Oktober 2004. 20 Brugger 1999, S. 391 ff. 21 Ebd., S. 395. Hervorh. v. mir.

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Die ›Logik der Abwägung‹ und das Folterverbot

Schranken zu weisen, um die Grundrechte für alle zu effektivieren«. 22 In Bruggers Sicht ist die »vorgeschlagene Lösung, den Art. 1 Abs. 1 als höchstes, aber nicht absolutes oder allumfassendes Verfassungsprinzip zu interpretieren, […] besser geeignet, die Komplexität der Menschenund Rechtswelt wie die Kontextabhängigkeit der Entscheidung konkreter Probleme zu thematisieren als die Auffassung, die Menschenwürde stelle ein absolutes, nie einschränkbares subjektives Recht aller Menschen bzw. eine ebensolche Pflicht aller Staaten dar«. 23 Diese ›Alternativsicht‹ stellt die rechtstheoretische Grundlage der Forderung dar, das elementare Folterverbot nicht »zu expansiv« zu deuten. 24 Brugger zufolge ist die Auffassung, Folter sei, »weil sie einen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 darstellt, nie zu rechtfertigen«, »zweifelhaft, wenn man an den Fall denkt, in dem ein Mensch andere Menschen foltert und die Rettung der Gefolterten nur durch einen staatlichen Eingriff in die Würde des Folterers möglich ist – etwa durch eine Aussagenerpressung. Wenn Würde gegen Würde steht und eine Entscheidung getroffen werden muß, spricht mehr für als gegen einen Eingriff in die Würde des Rechtsbrechers, wenn nur dadurch das Leben und die Würde rechtstreuer Bürger gerettet werden können.« 25 Mit dieser Art. 1 Abs. 1 GG relativierenden und zugleich für andere Zwecke instrumentalisierenden Position wird der wesentliche Fortschritt der Rechtskultur dementiert: Er besteht darin, dass nur jenseits der ›Logik der Abwägung‹ die verfassungsrechtliche Würdegarantie in ihrer Absolutheit und Universalität der Grund der Menschenrechte ist, die ihrerseits in ihrer Entwicklung zur konkreten Grundlage der Feststellung von Würdeverletzungen geworden sind. Die ›Logik der Abwägung‹ reicht über die verfassungsrechtliche Diskussion hinaus. Sie zeigt sich auch in Irritation und Verunsicherung einer Öffentlichkeit, deren (Grund- und Menschen-)Rechtswissen mangelhaft und deren Rechts- und Unrechtsbewusstsein unterentwickelt ist: Das ›gesunde Volksempfinden‹ nimmt die mit uneingeschränktem Grundrechteschutz verbundene Rechtssicherheit als justizielle Unmoral und als ›Störung des Rechtsfriedens‹ wahr. In abstracto Ebd., S. 396 f. Ebd., S. 405. 24 Ebd., S. 395. 25 Ebd., S. 393. Bruggers Bejahung der Frage »Darf der Staat ausnahmsweise foltern?« schließt sich unmittelbar an seine Ausführungen zur ›Alternativsicht‹ der Menschenwürdegarantie an, vgl. ebd., S. 411–428. 22 23

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Menschenwürde – abwägbar?

wird die Absolutheit der Menschenwürdegarantie zwar anerkannt, in concreto aber zur Disposition gestellt. Dies gilt – wie spontane Reaktionen im ›Fall Gäfgen‹ belegen 26 – nicht zuletzt hinsichtlich der Absolutheit des Folterverbots. So hieß es etwa in einem Leserbrief an die ›Frankfurter Rundschau‹ vom 8. 8. 2011: »Es ist nicht zu verstehen, was in unserem Rechtssystem möglich ist […] Dieser Herr Gäfgen dürfte […] keinerlei Menschenrechte besitzen.« Eine Online-Umfrage dieser Zeitung ergab am 8. 8. 2011, dass nur 44% der Position »Ja, die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch für einen Mörder« zustimmten. Bemerkenswert und besonders problematisch war, dass sich auch die Gewerkschaft der Polizei der Urteilsschelte anschloss: »Die Rechtsprechung ›Im Namen der Bürgerinnen und Bürger‹ ist weit entfernt vom öffentlichen Magnus Gäfgen wurde 2003 rechtskräftig als Entführer und Mörder eines Kindes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. (LG Frankfurt/M., Urteil vom 28. Juli 2003 – Az. 5/22 Ks 2/03 3490 Js 230118/02). Bei den Ermittlungen hatte der damalige Frankfurter Polizeivizepräsident W. Daschner angeordnet, durch Folterandrohungen eine Aussage zum Aufenthaltsort des Kindes zu erzwingen. Für diese Folterandrohung musste er sich strafrechtlich verantworten. Er wurde wegen Verleitung eines Untergeben zu einer Nötigung im Amt für schuldig erkannt. Im Juni 2005 legte Gäfgen wegen Verletzung der Art. 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Art. 6 (faires Verfahren) der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Am 30. Juni 2008 wies der EGMR die Beschwerde Gäfgens zunächst als unbegründet zurück. (EGMR Nr. 22978/05 (5. Kammer) – Urteil vom 30. Juni 2008 (Gäfgen vs. Deutschland)). Gäfgen sei zwar Opfer einer Verletzung von Art. 3 EMRK geworden, habe aber den Opferstatus bei Einleitung des Verfahrens vor dem EGMR verloren, weil die deutschen Gerichte – allen voran das BVerfGE – die Vernehmungsmethode als Verstoß gegen Art. 3 EMRK anerkannt hätten. Gegen diese Entscheidung rief Gäfgen die Große Kammer des EGMR an, die am 1. Juni 2010 entschied, die Drohungen gegen ihn seien zwar keine Folter, wohl aber eine durch Art. 3 EMRK verbotene unmenschliche Behandlung gewesen. Gäfgen könne weiterhin geltend machen, das Opfer eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK zu sein. (Vgl. NJW 43/2010, 3147) Im Dezember 2005 verklagte Gäfgen das Bundesland Hessen und forderte in einem Amtshaftungsverfahren eine Entschädigung. Am 4. August 2011 sprach ihm das Landgericht Frankfurt/M. 3.000 Euro zu, weil Beamte des Landes die Menschenwürde des Klägers »in eklatanter Weise schuldhaft verletzt« hätten. In den ›Schriftlichen Urteilsgründen‹ führte das Gericht u. a. aus: »Bei dieser Beurteilung ist es gänzlich unerheblich und darf schlechthin nicht berücksichtigt werden, dass der Kläger zuvor eine Straftat begangen hat. Das Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden, mag er sich auch in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen die Werteordnung der Verfassung vergangen haben.« Dieses Urteil löste zahlreiche Proteste aus.

26

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Die ›Logik der Abwägung‹ und das Folterverbot

Empfinden über deren Gerechtigkeitssinn. Auch unsere Kolleginnen und Kollegen zeigen großes Unverständnis über das Urteil des Frankfurter Landgerichts, das einem Kindsmörder nun auch noch finanzielle Entschädigung zuspricht. Das Opfer und die gemeine Tat des Magnus Gäfgen rücken immer weiter in den Hintergrund. ›Wenn ein Täter das System Rechtsstaat ›benutzen‹ kann, um seinen Willen durchzusetzen und auch noch in der medialen Darstellung ein Podium erhält, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob das Urteil pro Gäfgen etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat‹, so Peter Wittig von der GdP Hessen. Wir als Gewerkschaft der Polizei verurteilen zutiefst diese Entscheidung zugunsten des Täters.« 27 Auch in der Philosophie gibt es Stimmen, die zwischen Folter und ›Folter‹ zu unterscheiden vorschlagen. Im Falle Daschner habe es sich – so Wolfgang Lenzen –»um eine Maßnahme [gehandelt], die allenfalls als ›Folter‹, d. h. als Folter-in-Anführungszeichen, bzw. noch besser als (Versuch einer) Aussageerzwingung zur Rettung von Menschenleben bezeichnet werden sollte«. 28 Die Unterscheidung zwischen Folter und ›Folter‹ sei »mehr als nur rhetorische Spitzfindigkeit. Auch wenn sich eine von Staats wegen angeordnete Zufügung von Schmerzen zur Erpressung einer Information je nach nationalem oder internationalem Recht juristisch unter die Rubrik Folter subsumieren lässt, fehlt der von Daschner ins Auge gefassten Maßnahme ein entscheidendes moralisches Merkmal, durch das sich echte Folter definiert: Es war niemals intendiert, den mutmaßlichen Täter zu erniedrigen oder zu demütigen. Die Androhung von Gewalt diente einzig dem Zweck, ein unschuldiges Menschenleben zu retten.« 29 Für Lenzen steht »gerade zur Debatte, ob in gewissen, klar umrissenen Ausnahmesituationen eine ›Folter‹ zur Rettung von Menschenleben moralisch erlaubt bzw. sogar moralisch geboten ist und deshalb auch gesetzlich erlaubt werden dürfte bzw. eventuell sogar erlaubt werden müsste.« 30 Diese sophistische Unterscheidung zwischen Folter und ›Folter‹ ist ein Beispiel für eine bei Philosophen nicht seltene verfassungsrechtliche Inkompetenz. Sie ist ein Indiz für ein Argumentationsmuster bei Presseerklärung der Gewerkschaft der Polizei, Wiesbaden, 4. August 2011: Urteil im Schmerzensgeldprozess des Kindsmörders Gäfgen. Empörung und Unverständnis über die Rechtsprechung »Im Namen des Volkes«. 28 Lenzen 2006, S. 7. 29 So im Werbetext des Mentis-Verlags zu Lenzen 2006. 30 Lenzen 2006, S. 8. 27

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Menschenwürde – abwägbar?

manchen Ethikern, die glauben, eine Moral gegen das Recht ausspielen zu sollen. Wer so argumentiert, trägt dazu bei, dass Folteropfer gegenüber Staaten – unter ihnen Israel und die USA31 – wehrlos sind, in denen ›unterhalb der Folter-Schwelle‹ physische Gewalt zur Erpressung von Information legalisiert ist. Der Begriff der Achtung der Menschenwürde, in dessen Perspektive der Schutz vor dem Staat Vorrang vor dem Schutz durch den Staat hat 32, ist zwar offen für moralische Reflexion, nicht aber für einen Relativismus der Beliebigkeit gegenüber dem positiven Verfassungsrecht. Das »Folterverbot und die staatliche Achtungspflicht für die Menschenwürde sind ›abwägungsfest‹.« 33 Bei der Normanwendung muss nicht mehr »im Einzelfall abgewogen werden. Das absolute Folterverbot ist bereits das Ergebnis einer Abwägung, die der Verfassungsgeber vorgenommen hat. Wenn hier von ›absoluter‹ Geltung die Rede ist, dann ist damit positivrechtliche Notstandsfestigkeit gemeint. […] Der Grad der [positiv-rechtlichen] Sicherheit ist […] so hoch, dass man von einem klaren Ergebnis, im Fall des völkerrechtlichen Folterverbotes sogar von Eindeutigkeit sprechen kann. Die völkerrechtlichen Verbote sind so eindeutig formuliert, dass man mit dem bisherigen Sprachverständnis bewusst brechen muss, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen.« 34

Vgl. Poscher 2006, S. 84. Vgl. Hong 2006, S. 31. 33 Vgl. zur Absolutheit des Folterverbots und zur Unabwägbarkeit der Menschenwürde Bielefeldt 2006, Tiedemann 2010, S. 316–327. 34 Hong 2006, S. 34. 31 32

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Personenregister

Abendroth, W. 287 Adam 61, 69, 80, 85 Adenauer, K. 162, 198, 205–206, 229 Agamben, G. 151 Alexy, R. 244, 257, 294 Alfarabi 80 Arendt, H. 147, 149 Aristoteles 63, 68, 71, 79 Arnold, K. 193 Augustinus 61, 69, 71, 74, 84 Averroes 71, 80 Avicenna 69, 71, 80 Badura, P. 262 Balibar, E. 225 Baranzke, H. 54, 108 Barth, U. 247–248, 254 Baudelaire, Ch. 130 Bauer, B. 133 Bauer, F. 133, 162–163, 195 Bayertz, K. 17–20, 71, 148, 217 Benedikt XVI. 250 Benhabib, S. 168–170 Bergsträsser, L. 199–200 Best, W. 160–161 Bielefeldt, H. 35, 108, 310, 314 Birnbacher, D. 35, 40, 228, 246, 304 Bloch, E. 58, 62, 291 Boaistuau, P. 76 Boaistuaus, P. 70, 76 Böckenförde, E.-W. 272, 307 Borchers, D. 42 Brecht, B. 136, 206 Brugger, W. 309–311

Brunkhorst, H. 166–167 Bruni, L. 69 Buck, A. 67, 70–71, 76, 78, 83 Burckhardt, J. 67 Burke, E. 102 Cancik, H. 51, 55 Cassirer, E. 67, 76–77, 79, 81 Cayla, O. 39 Christus 60–62, 88–89, 91 Cicero, M.T. 11, 22, 26, 53–58, 71, 73, 75 Clapsis, E. 249 Coing, H. 228 da Braga, A. 70 Dahl, E. 42 De Baets 19 Denninger, E. 209–210, 213, 261 Diesterweg, A. 127 Dietz, G. 51 Dollfuß, E. 232 Dreier, H. 32, 63, 66, 213–215, 222– 223, 227, 242, 244, 260, 277–278 Dürig, G. 44, 236, 245, 260–261, 280 Eichenhofer, E. 285 Eike von Repgow 65 Empedokles 71, 82 Enders, Ch. 186, 198, 211–212, 218, 220, 277, 303 Engels, F. 132–133 Epikur 69 Erasmus von Rotterdam 87, 89

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Personenregister Facio, B. 69 Fichte, J.G. 116–121, 129 Ficino, M. 69, 78 Fistetti, F. 225–226 Forst, R. 278 Forster, G. 104–105 Forsthoff, E. 286–287 Fraenkel, E. 148 Frankenberg, G. 255 Freudenberger, S. 40 Frowein, J.A. 19, 183 Gäfgen, M. 312–313 Geddert-Steinacher, T. 258, 263 Geiger, W. 161 Giese, B. 28 Glaap, O. 71 Glensy, R.D. 100 Globke, H. 161 Goldschmidt, W. 151 Goos, Ch. 198, 210–211, 262 Gräb, W. 245 Graf, F.W. 30, 58, 104, 249, 254–255 Grimm, D. 146 Gröschner, W. 35, 67, 208, 213, 216, 253, 272 Gutmann, Th. 34–35, 108, 111, 113, 266, 303, 307 Habermas, J. 32, 43, 168, 224, 226, 291 Hain, K.-E. 32, 213–214, 218, 221, 307 Hamilton, A. 100–102 Hayek, F.A. v. 36 Hegel, G.W.F. 22, 111, 113, 121–129, 132, 134, 278 Heimann, E. 291 Heller, H. 284, 286 Herdegen, M. 22, 213–214, 227, 235, 260, 288–289, 305–307, 309 Herder, J.G. 104 Hermann, M. 221 Hesse, K. 284, 288 Heuser, S. 38, 86, 258

Heuss, Th. 199–200, 202–204, 207, 230 Hieronymus 26 Hilarius von Poitiers 26 Hilpert, K. 217, 249, 258, 276 Hoerster, N. 40 Höffe, O. 40 Hoffmann, J.M. 185 Höffner, J. 63, 233 Hofmann, H. 32, 34, 85, 241, 254– 255, 264 Holówka, J. 38 Homer 125 Hörnle, T. 274 Huber, W. 17, 64, 75, 85, 241–242, 258, 279 Hufen, F. 242, 304 Hugo von St. Victor 60 Hume, D. 106–108 Huster, S. 241–242 Innozenz III. 61, 70 Isensee, J. 24, 202, 254 James, W. 25–26 Jaspers, K. 147, 149 Jay, J. 100–102 Jefferson, T. 102 Joas, H. 246, 275 Johannes Scotus Eriugena 60 Kant, I. 11, 20, 22, 24, 45–47, 100, 106–116, 118, 120–122, 136, 168, 222, 256, 272 Kapust, A. 17, 214, 253, 272 Kelsen, H. 227, 231, 277 Kirchhof, P. 248, 279, 309 Klein, E. 167 Klein-Goldewijk, B. 272 Klenner, H. 215, 231 Kobusch, Th. 27 Kofi Annan 170–172 Kohl, B. 182 Kondylis, P. 22, 37, 58, 63, 65, 69, 86, 97, 108, 228 Kraus, K. 138

340 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Personenregister Krenberger, V. 198, 274 Kreuter-Kirchhof, Ch. 174 Kriele, M. 232–233, 236 Kruhöffer, G. 58 Kunig, Ph. 31, 34, 37, 212–215, 217, 234, 258, 273, 303

Nauwerck, K. 127–129 Neumann, U. 35 Nietzsche, F. 11, 41, 132, 136–138 Nipperdey, H. C. 214, 228 Nullmeier, F. 289 Nyssa, G. v. 59

Ladewig, B. 108, 183, 273, 307 Laktanz 71, 74 Lassalle, F. 22, 129 Leist, A. 266 Lenzen, W. 309, 313 Leo der Große 61 Leutheuser-Schnarrenberger, S. 174, 184 Limbach, J. 31, 215 Locke, J. 97, 100 Lohmann, G. 145, 226 Luhmann, N. 31, 310 Luther, M. 60, 84–87, 89–91

Odysseus 125

Macklin, R. 39 Madison, J. 100–102 Maihofer, W. 191, 212, 277 Manetti, G. 19, 22, 61, 71–72, 74–76, 78–79, 81, 97 Mangoldt, H. v. 198–204, 207, 217, 235, 237, 261, 288 Marcel, G. 33, 239 Martinet, J.-L. 93 Marx, K. 132–136 Mastronardi, Ph. 19 Maunz, Th. 287 Maurer, B. 183, 257 Maus, I. 277 Menke, Ch. 215–216, 258 Menthon, F. de 152 Messner, J. 232, 255 Michelet, J. 67 Mittelstraß, J. 25 Mohr, G. 21, 84, 106, 108, 110, 112, 118 Montaigne, M.E. de 93–94 Moses 79 Müller, J. 37, 221

Paine, T. 102–103 Papier, H.-J. 265–266 Pascal, B. 94–95 Patrizzi, F. 69 Paul VI. 249 Paulus 62 Pawlas, A. 242 Perels, J. 160 Pérez de Oliva, F. 70 Pétain, Ph. 180 Peters, B. 225, 263 Petrarca 70 Pfeiffer, A. 196, 199–200 Picker, E. 39 Pico della Mirandola, G. 19, 22, 27, 61, 69–70, 76–84, 97 Pinker, S. 40 Platon 58, 68, 71, 78–79 Plotin 69 Podlech, A. 22, 213, 218 Pollmann, A. 215–216 Poscher, R. 228, 309–310, 314 Pöschl, V. 22, 53, 57–58 Pourhiet, A.-M. 181 Proudhon, P. J. 127, 130–131 Pufendorf, S. v. 19, 22, 97–99 Putnam, H. 243 Quante, M.

28–29

Radbruch, G. 156–158, 163, 243–244 Raiser, K. 291 Ratzinger, J. 250 Reiter, J. 17, 90, 198, 255 Ridder, H. 264 Rinken, A. 256

341 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Personenregister Römer, P. 231 Rosenberg, A. 154 Schaber, P. 32, 35–37, 222–223, 261 Schäfer, W.A.M. 155 Schelling, F.W.J. 116, 121 Schiller, F. 103, 105 Schirach, B. v. 153 Schlink, B. 31–32, 35, 217, 241, 259, 307–308 Schmid, C. 192, 194–197, 199–201, 204, 208–209, 229, 232 Schmitt, C. 286 Schmitz-Moormann 33 Schneider, R. 211 Schneider-Flume, G. 58, 60–61 Schockenhoff, E. 255, 279 Schopenhauer, A. 37 Schürmann, V. 33, 43–44, 215, 222– 223, 241 Schweidler, W. 224 Scipio Aemilianus 58 Seelmann, K. 121, 278 Seifert, J. 41, 238–239 Seneca 57, 71 Sensen, O. 108, 110, 114 Sieckmann, J.-R. 223 Skinner, B.F. 39 Smirnow, N.L. 152 Sorgner, S.L. 41–42, 136 Spaemann, R. 28, 212, 227, 235 Starck, Ch. 39, 198, 235–237, 288 Stepanians, M. 271–273 Stern, F. 185 Stoecker, R. 38 Stolleis, M. 192

Struve, G. v. 281 Stuckart, W. 161 Süsterhenn, A. 195, 197, 208, 210, 229 Teifke, N. 43, 242, 259, 304 Theophilos von Antiochien 59 Thomas von Aquin 22, 61–64, 250 Thumfart, A. 26, 74 Tiedemann, P. 19, 31–32, 37, 43, 145, 182, 219, 259–260, 272, 314 Timaios 79 Triki, F. 253 Trinkaus, Ch. 19, 67, 70 Ulpian

297

Valla, L. 69 Vitzthum 31, 259 von der Pfordten, D.

108

Washington, G. 103 Weber, H. 230 Welzel 20, 97 Wesche, T. 146 Wesel, U. 97 Wetz, F.J. 35–36, 43, 53, 61, 71, 94, 104, 223, 244 Wildfeuer, A.G. 37 Will, R. 30, 34, 217, 260 Yacoub, J.

17

Zinn, A. 199–200, 202–203 Zollikofer, G.J. 104 Zúñiga, G.L. 44

342 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Sachregister

›Als-ob‹-Postulate 45–46, 195 Abwägbarkeit von Grundrechten 13, 259, 268, 303–309, 311, 314 Abwehrrechte 201, 244, 264–265, 268, 280 Achtung 9, 12, 18, 30, 32, 35, 42, 53, 56, 98–99, 110, 112–116, 122, 131, 179, 183, 213, 217, 224, 226–227, 242, 272–274, 278, 293, 306, 312, 314 AEMR 223, 274–276, 281 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 38, 43, 246, 272, 274–275 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam 252 Amerika 99, 128 Ämterwürde 102 Anerkennung 32, 34, 53, 114, 116– 117, 121, 127, 133, 227, 249, 275, 278, 282 Antike 11, 17–18, 24, 27, 51, 53, 68, 125 Aristokratie 138 Armut 41, 103, 124, 274, 280, 283 Art. 1 Abs. 1 GG 11–12, 23, 30, 52, 142, 214, 216, 236, 245, 269, 293– 294, 305 Aufklärung 10–11, 19, 27, 51, 97, 106, 108–110, 120, 245, 277 Auschwitz 150–151, 163 Autonomie 11, 20–22, 24, 28, 52, 67– 68, 80, 84, 86, 90, 112–113, 118, 121–122, 220, 224, 242, 253

Besatzungsstatut 192–193 Bild Gottes 59, 75, 84, 250 Bio- und Medizinethik 39 Bioethik 40 Böse, das 32, 62, 82, 85, 111, 147 Bourgeoisie 133 Brüderlichkeit 33, 117, 180, 274 Brundtland-Bericht 296–297 bürgerliche Gesellschaft 123, 133– 134, 136 Bundesverfassungsgericht 13, 17, 39, 41, 163–164, 185, 212–214, 217, 225–226, 234, 242, 258–259, 263, 265–270, 274, 284–285, 290, 293– 294, 303, 312 Charta der Grundrechte der Europäischen Union 185 Charta der Vereinten Nationen 12, 145, 282, 292 Christentum 58, 61, 69, 230, 234, 236–237, 245, 251 Corpus Iuris Civilis 298 Demokratie 12–13, 54, 136, 146, 154, 164, 169–170, 174, 183, 202, 206, 208, 218, 225–226, 231, 241–243, 254, 256, 272, 283, 287 Demokratiebegriff 173 Demokratieprinzip 173 Dialektik 67, 81 dignatio 20, 53, 97, 99 dignitas 18, 23, 26, 53–57, 61–62, 64–65, 67, 69–71, 76, 86, 99, 108, 113–115, 254

343 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Sachregister Diskriminierung 146, 213, 221, 274, 280, 308 Drittwirkung 12, 214, 280 Ebenbild Gottes 19, 60, 64, 86, 236, 255 Egalitarismus 33 Ehre 18, 53, 56, 60, 80, 83, 85, 90, 93, 124, 136, 138, 178 Elend 61, 67, 70–71, 74, 95, 128, 191, 227, 276 Elfes-Urteil 268 Emanzipation 120, 133, 135, 272 Europäische Menschenrechtskonvention 158, 182–185, 312 Engel 77, 82, 89, 101, 104 Entmenschlichung 219 Entrechtlichung 9, 42 Erbsünde 11, 52, 61, 64, 85–86 erga omnes 175 Erhabenheit 19, 74, 114 Erlösung 61, 64 Europäische Sozialcharta 282–283, 289 Ethik 28, 39, 43–44, 71, 113, 151, 219, 227, 237, 297, 305 Europäischer Gerichtshof 13, 184, 258 excellentia 54–56, 58, 62, 69, 71 Federalist Papers 100, 102 Flughafenverfahren 40 Folter 35, 187, 221, 261, 274–275, 304, 308–313 Folterverbot 41, 308, 311, 314 Forschungsfreiheit 39 freier Wille 90 Freiheit 9, 11, 19, 21, 24, 30, 32, 39– 40, 42, 45–46, 51, 53–54, 58, 68, 76, 81–84, 86–87, 101, 109–110, 112– 113, 115–116, 118–123, 125–126, 128–129, 140, 177–180, 185, 198, 200, 202, 205, 209, 211, 213, 218, 224, 229, 239, 243, 247, 250, 267, 269, 273, 275–276, 282, 288, 290, 294, 299

–, der Forschung 39 –, innere 210 freiheitliche demokratische Grundordnung 266 Frieden 69, 82, 109–111, 152, 177, 198, 205, 275, 282 Generationengerechtigkeit 296, 298, 300 Gerechtigkeit 21, 59, 63, 73, 88, 131, 157, 164, 169–170, 177–178, 180, 190, 198, 205–206, 215, 224, 244, 271, 275–276, 282, 289–290, 294, 296–298, 300, 313 Geschichte des Würdebegriffs 11, 20, 22–23, 139, 141 Gesellschaftsvertrag 46 Gesetzespositivismus 164, 231, 263 Gewalt 12, 34–35, 58, 63–64, 82, 91– 92, 100, 145–146, 191, 204, 217, 229, 234, 268, 277, 313–314 Gewaltverbot 170, 174–176 Gewissen 91, 153, 250, 274 Glauben 11–12, 21, 33, 52, 69, 84, 86, 91, 236 Gleichheit 9, 11, 20, 24, 32–33, 42, 51, 56–57, 62, 100, 113, 117, 131, 154, 177, 180, 185, 200, 202, 218, 224, 249, 251, 267, 273, 282, 294, 299 Globalisierung 291 Glück 58, 81, 101, 105 Glückseligkeit 82 Gnade 11, 52–53, 56, 64, 84–86, 88– 89, 93, 239, 250 Gott 19–20, 31–33, 45, 59–60, 62, 64–65, 68–69, 72–76, 82, 86, 88–96, 98–99, 104, 116, 119, 124, 137, 154, 207, 210, 216, 230, 249–251, 255 Gottesebenbildlichkeit 22, 58–60, 65, 67, 76, 84–87, 222, 234, 249 GRCh 185, 187–188 Grundfreiheiten 183, 185 Grundgesetz 9, 11–12, 18–19, 22–24, 27, 29, 31, 35, 39, 41, 44, 51, 65, 106, 115, 147–148, 158–159, 190–199,

344 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Sachregister 201, 205–208, 211–218, 220, 225, 228–231, 234–237, 242, 244–246, 255, 257, 259–261, 263, 265–269, 271, 273, 277, 279–280, 283–290, 293, 303, 305, 307, 309–311 Grundgesetz-Kommentare 22 Grundnorm 12, 208, 212, 247, 277– 278 Grundrechte 9, 12, 19, 31, 146, 177, 179, 184–185, 187–188, 192, 197, 199–206, 208, 210, 212–214, 217, 219, 230–231, 238, 241, 257, 264– 265, 273, 280, 283–284, 288–291, 294, 303, 310 Grundrechtsschranken 34, 303, 310 Hartz IV-Urteil 293 Herrschaft des Rechts 224–225, 271 Historiografie 25–26 human dignity 51, 99, 218, 249 Humanismus 67, 69, 77, 83, 93, 177 humanitäre Interventionen 170–171, 175 Humanität 104, 130, 137, 154, 217, 255 ICISS-Report 172–173 imago dei 33, 58, 60, 93 Individualismus 33 Individualrechte 197, 284 Individuum 9, 32, 78, 81, 93, 99, 125, 134, 244–245, 273, 277, 299 Instrumentalisierungsverbot 223, 261 Internationale Arbeitsorganisation 276, 281 Internationaler Militärgerichtshof für den Fernen Osten 150 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 282–283, 289, 292 –, Fakultativprotokoll zum IPwskR 284 Internationales Recht 167 Islam 242, 251 ius cogens 167, 170, 175

Juden 62, 64, 154, 159 Kairoer Islamische Menschenrechtsdeklaration 253 kategorischer Imperativ 111, 115 Kirche 61–62, 64, 76, 79, 106, 211, 230, 234, 249–250, 254 Kollektivrechte 302 Konstitutionalisierung des Völkerrechts 175 Konstruktion 11, 24, 26, 112 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 183 Konzentrationslager 148, 150–151 Konzepte der Menschenwürde 32 Kosmopolitismus 168–170 Krieg 82, 146, 191 Kriegsverbrechen 150, 156 künftige Generationen 296, 302 Leerformel 36–37, 286 Leistungstheorie 31 Liebe 80, 85–86, 98, 119–120, 154 Lüth-Urteil 264–266 Maastrichter Prinzipien 292 Magie 39, 79 Medizinethik 39 Medizintechnik 41 Menschenbild 238, 242, 268 Menschengattung 108, 111, 275 Menschenmaß-Prinzip 243 Menschenrechte 9, 12–13, 19, 30, 41, 44, 46, 51, 97, 104, 106, 109, 133, 140, 146, 149, 158, 165–167, 170, 174, 176, 179, 183, 185, 200, 205, 212–213, 221–222, 226, 232, 238– 239, 241–242, 248, 250–251, 258, 268, 271–277, 279–281, 291–292, 294, 307, 311–312 Menschenrechtsbeschwerde 188 Menschenrechtserklärungen 19, 252 Menschenrechtsnormen 170 Menschenrechtsschutz 166

345 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Sachregister Menschenrechtsverletzungen 170– 171, 188, 272 Menschenversuche 151, 261 Menschenwürde 176 –, als Postulat der praktischen Vernunft 45 –, als Prinzip 21 Menschenwürdegarantie 11, 22, 142, 145, 198, 214, 222, 235–237, 247, 269, 292, 303–305, 310–312 Menschheit 69, 98, 104–105, 111– 116, 119, 121, 129, 133, 139, 191, 252, 273–274, 276 menschliche Natur 20, 59, 84, 98 Menschsein 10, 44, 112, 147, 151 Metaphysik 12, 27, 44, 68–69, 111, 275 Minderheit 188 miseria 11, 52, 61, 67, 70–71, 74, 84, 86, 93, 95 Mitgifttheorie 31 Moral 20, 38, 43–44, 93–94, 96, 110, 137, 223–224, 256, 273 Moralische Ansprüche 295 Moralphilosophie 81–82, 106, 110 Muselmann 151 Nachhaltigkeit 295, 298–300 Nationalsozialismus 145, 157, 198, 206, 228, 231, 233, 260 Nationalstaat 32, 166, 170, 225 Nationalstaatlichkeit 169 NATO 170, 174 Natur 299 –, des Menschen 54, 85, 96, 112, 210, 228, 234, 277 Naturphilosophie 79, 81 Naturrecht 12, 27, 97, 122, 202–204, 207, 210, 228–230, 232–238, 248, 250 Naturrechtslehre 63, 97, 228, 235 Naturschutz 296, 299, 301 Neutralität des Staates 12, 207, 236, 241–242 Nichts, das 95 NSDAP 153, 160

nullum crimen, nulla poena sine lege 157–158 Nürnberg-Klausel 158 Nürnberger Prinzipien 155, 166 Nürnberger Prozess 150, 152, 158 Objekt der Staatsgewalt 269 Objektformel 115, 260–261, 269 objektive Wertordnung 263, 265– 266, 268 Obrigkeit 90–91 Ontologie 44, 235 Parlamentarischer Rat 190–192, 194–200, 202, 204–206, 208, 211, 230–232, 271 Paulskirchenverfassung 190 Person 22, 33, 44, 53–54, 57, 62, 85, 87, 113, 115, 117, 121–123, 131, 183, 213, 218–219, 228–229, 238–239, 245, 265, 269, 273, 279 Personen 12, 32, 39, 58, 63, 108, 113, 118, 121, 157, 215, 222, 258, 278 Persönlichkeit 12, 29, 68, 114, 119, 123, 126, 178, 209, 213, 217, 242, 261, 265 Pflichten 54, 58, 72–73, 98, 106, 113, 123, 126, 138, 179, 280 Philosophiegeschichte 20–21 Platonismus 69, 76, 79 Pluralismus 29, 179, 206, 242–243, 266–267, 286 Prädestination 89 ›Preis‹ und ›Würde‹ 114 Proletariat 135 Prozeduralisierung 244 Radbruchsche Formel 157, 163 Rationalität 67 Recht 9–10, 12–13, 18–20, 26, 29– 30, 34, 36–38, 40, 43–44, 46, 51, 55, 57, 63–65, 88, 91, 97, 110–111, 113, 118, 121–125, 131, 134–136, 140, 147, 157, 163, 207, 209–210, 213, 223, 227, 235, 241, 243–244, 256,

346 https://doi.org/10.5771/9783495807910 .

Sachregister 263, 269, 276–277, 280, 285, 292, 310, 312–313 –, auf Entwicklung 301–302 –, auf Leben 187 –, auf Würde 23 –, der Menschenrechte 43, 280 –, positives 207, 210 –, überpositives 228 Rechte zukünftiger Generationen 294, 300 Rechtfertigungslehre 85 Rechts- und Sozialstaat 222, 294 Rechtsbegriff 10–11, 22–24, 27, 43, 145, 160, 213, 218, 237, 262, 266 Rechtskulturen 185 Rechtsordnung 10, 42–43, 146, 185, 217, 228, 251, 263, 265, 272, 279 Rechtspersonen 34 Rechtsphilosophie 110, 118, 124, 135 Rechtspositivismus 209, 230–231, 263, 277 Rechtsprechung 34, 159, 183, 228, 263, 266, 312 –, des Bundesverfassungsgerichts 263 –, vom Eingriff her 257–258, 269 Rechtssatz 11–12, 141, 203, 213, 215, 217, 273, 279 Rechtssicherheit 157, 170, 264, 290, 311 Rechtsstaat 136, 159, 163, 192, 223, 241, 243–244, 278, 280, 287, 290, 294, 297, 313 Rechtsstaatsprinzip 170 Rechtssubjekte 168, 170, 223–224 Rechtstheorie 97, 110, 123 Reformation 11, 52, 84, 86 Regierung 101–102, 109, 180 Relativismus 242–244, 250, 314 Religion 94, 96, 106, 125–126, 131, 147, 230, 241–242, 245, 256, 302 Religionsgeschichte 59 Renaissance 10–11, 18–19, 22, 24, 27, 51, 61, 67, 69, 71, 76–77, 84, 93– 95, 231 Repräsentation 25

responsibility to protect 170–174 Rio-Deklaration 296 Rückwirkungsverbot 164 rule of law 172 Sachsenspiegel 65 Säkularisierung 75, 108, 255 Sanktionen 168 Scholastik 69, 79, 84, 87, 229, 233 Schutzauftrag 34 Schutzpflicht 34, 270, 305 Schutzverantwortung 170, 172, 174 Selbstachtung 98, 116, 120, 151, 223 Selbstbestimmung 20, 22, 32, 119, 242, 253, 304 Selbstgesetzgebung 112 Selbstherrschaft 11, 51 Sicherheitsrat 171, 173 Sittlichkeit 109, 111, 123, 125–126, 128 Sklaven 10, 24, 57, 62–63, 125, 133, 138, 211 Sklaverei 54, 57, 62, 102, 125, 133, 138, 180, 188, 261, 275 Solidarität 178, 185 Souveränität 166, 170–171 Souveränitätsprinzip 171 soziale Grundrechte 283, 288 Sozialität 98 Sozialpolitik 291 Sozialstaat 280, 285, 287, 289–291 Sozialstaatlichkeit 283, 289 Sozialstaatsprinzip 222, 259, 284– 286, 288, 290, 293 Speziesismus 220 Staat 192, 197, 208, 229, 281, 285 Staatenimmunität 166 Staatenpflichten, extraterritoriale 292 Staatsbürger 156, 168 Staatsbürgerschaft 146, 179, 226 Staatsgewalt 35, 208–209, 225, 263, 278, 283, 292 Stoa 10, 22, 54, 58 Straffreiheitsgesetz 159, 161 Strafgesetzbuch 259

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Sachregister Subjekt 33, 68, 81, 112, 116, 131, 224–225, 227, 273 Subjektivität 125, 225 Sünde 58, 61–62, 64, 84–85, 87–88, 250 Sündenfall 85 Sündhaftigkeit 61, 64 Tabu 189, 217, 228, 308–309 Theologie 9, 27–28, 58, 61–62, 68, 75, 81, 83, 85–86, 103, 227, 279 Tod Gottes 137 totaler Staat 286 Tugend 53, 56, 58–59, 86, 103, 107, 126 Überlegenheit des Menschen 107 Umweltvölkerrecht 295 UN-Charta 166, 170, 172, 174, 176 UN-Generalversammlung 175 Unabwägbarkeit 34, 314 Unantastbarkeit 10, 12, 17, 34, 191, 210, 213, 215, 217, 227, 235, 251, 279, 306 Ungerechtigkeit 10, 24, 57, 244, 274, 276, 290 Ungleichheit 11, 18, 51, 136, 290– 291 Universalismus 226, 275 Unrecht 135, 157, 161, 163–164, 191, 228, 274 Unrechtserfahrung 12, 142, 145–147, 150, 157, 191, 275–276, 297 Unrechtsstaat 163 Unsterblichkeit 45, 59, 71, 104, 124 Unvernunft 98 Verantwortung für die künftigen Generationen 299 Verbrechen gegen die Menschenwürde 153 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 150, 152, 156, 158, 171 Vereinte Nationen 170–172, 188 Verelendung 124, 132 Verfahrensrechte 244

Verfassung 9, 11–12, 19, 39–40, 42, 55, 99–102, 142, 146, 192, 196, 198, 208, 215, 235, 243, 256–257, 259, 285–286, 312 Verfassung der Französischen Republik 180 Verfassungskonvent Herrenchiemsee 195, 200, 209 Verfassungsrecht 12, 181, 215, 221, 236, 257, 262, 314 Verfassungsrechtslehre 227 Vergebung 61 Verletzung 9–10, 18, 24, 32, 42, 44, 98, 182, 216, 219, 228, 258, 277, 299, 303, 306–307, 312 Vernunft 19, 45, 54, 56, 58, 60, 63, 67, 77, 84, 86, 89, 94, 96–97, 99, 104–105, 109, 113, 116, 119–120, 122, 131–132, 195, 222, 243, 255, 264, 274, 279 Verrechtlichung 148, 175, 184, 241, 274, 277, 300 Verrechtstaatlichung 23 Vico-Welt 26 Virginia Bill of Rights 20, 99 Völkergewohnheitsrecht 174 Völkermord 176 Völkerrecht 20, 99, 149, 156–157, 166–167, 172, 195, 213, 309 Völkerrechtsrevolution 167 Völkerrechtssubjekte 168 Völkerstrafrecht 157 Vormärz 127, 281 Waffen-SS 162 Weimarer Reichsverfassung 190 Weimarer Republik 157, 206, 231 Weisheit 58, 72–73, 79, 88, 103, 107 Weltbürger 169, 226 Weltbürgerrecht 109, 168 Weltrecht 156, 168 weltrechtliche Verfassung 226 Weltstaat 166 Wertrealismus 266 Wertrelativismus 266 Wesensgehaltssperre 218

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Sachregister Widerstandsrecht 163 Wiener ›Weltkonferenz über die Menschenrechte‹ 309 Wiener Erklärung und Aktionsprogramm 273 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge 167, 175 Willensfreiheit 32, 87, 99, 219–220 Willkür 111, 116, 122–123, 126, 170, 229, 244, 264 Würde der Kreatur 42, 220 Würde der Menschheit 113–114, 117 Würde des Menschen 185 Würde-Paradigmata 31 Würdebegriff 10–11, 17–18, 22, 26, 29, 35, 37, 39, 42, 44, 47, 51, 53, 56, 100, 103, 108, 110, 117, 132, 153, 223, 237, 257, 260, 273 Würdebestimmung ex negativo 10, 13, 23, 110, 258, 260

Würdedefinition 207, 211, 234 Würdegarantie 34, 39–40, 179, 218, 291, 306, 311 Würdenorm 9, 11–13, 19, 30, 35, 38– 39, 43–44, 51, 99, 115, 136, 141, 175, 181, 190, 198, 207, 217–218, 223, 227, 234, 244–247, 257–259, 268, 283, 290, 306–307 Würdeprinzip 32, 34, 40, 224 Würdetheorie 106 Würdeträger 56 Würdeverletzungen 12, 44, 214, 306, 311 Zivilgesellschaft 169 Zwang 34, 46, 63, 112, 119, 122, 211, 306 Zweck an sich selbst 111–113, 115, 261

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