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German Pages 331 [332] Year 2006
CQMMUNICATI(
)
Band 35
S t u d i e n z u r europäischen Literatur- u n d Kulturgeschichte
Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Markus Steinmayr
Menschenwissen Zur Poetik des religiösen Menschen im 17. und 18. Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Die Drucklegung der Dissertation erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Steinmayr Net Intelligence GmbH, Oberhausen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-63035-2 ISBN-10: 3-484-63035-3
ISSN 0941-1704
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Veronika Chakraverty, Köln Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Vorwort
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um meine Dissertation, die der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 2002/2003 vorgelegen hat. Sie ist für die Publikation leicht überarbeitet worden. Die Arbeit ist in den Jahren 1999 bis 2002 während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ästhetik und Literarische Medien am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum entstanden. Herrn Prof. Dr. Manfred Schneider möchte ich für seine großzügige Förderung des Projekts danken. Sein Engagement für die Sache der Dissertation und seine ständige Gesprächsbereitschaft hat das Verfassen der Arbeit leicht gemacht. Herrn Prof. Dr. Peter-Andre Alt möchte ich für die Übernahme des Koreferats danken. Herrn Prof. Dr. Alt hat das Projekt stets mit kritischer Aufmerksamkeit begleitet und war stets bereit, Fragestellung und Fortgang der Arbeit zu diskutieren. Danken möchte ich darüber hinaus Herrn Dr. Ingo Stöckmann, dessen insistierende Hartnäckigkeit in der Sache die Arbeit immer wieder vorangetrieben hat. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp und Herrn Prof. Dr. Fritz Nies für die Aufnahme meiner Arbeit in die Communicatio-Reihe. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Niemeyer-Verlags danke ich für die äußerst kooperative Zusammenarbeit. Frau Veronika Chakraverty hat mit Geduld und Achtsamkeit die technische Einrichtung des Manuskripts besorgt. Dafür danke ich ihr sehr herzlich.
Konstanz, im August 2005 Markus Steinmayr
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
I.
Die Lesbarkeit des Menschen
II.
Körper der Sünde(r) und Körperschaft der Kirche - Paulus 1. Die Umschreibung des Gesetzes 2. Spiritualisierung der Institution
III.
Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche - Augustinus 1. Medium und Öffentlichkeit 2. Geständnisse des Fleisches 3. S c h r i f t - B u ß e - Lektüre 4. Die zwei Körper des Autobiographen
IV.
Zeichen des Körpers - Körper der Zeichen: Das Beichtdekret von 1215 und seine Folgen 1. Die Anthropologie der Sünde 2. Die Semantik des Geständnisses
71 71 75
3. Transsubstantiation und Gemeinschaft der Kirche 4. Beichtkommunikation 5. Begehrende Körper
82 92 99
V.
VI.
17 . . . .
35 35 40
. . .
45 45 48 56 61
Die Reformation der Selbstthematisierung 1. Versprechen des Wortes und Zeichenökonomie der Sakramente 2. Bekenntnisenergien 3. Visitation und Glaubensverhör Die Neuordnung kirchlicher Souveränität
120
4.
129
Lektüre und die Erkennbarkeit Gottes
Puritanischer Aufschreibbefehl und die Zeichen des Gewissens . . . 1. Aporien der Selbsterkenntnis 2. Aufschreibbefehle
103 103 109
141 141 149
VIII
Inhaltsverzeichnis
3.
Die Zeugenschaft des Gewissens
4. Puritanischer Zeichenverkehr a) Strategien des Überlebens im sozialen Raum Thomas Hobbes b) Austauschverhältnisse
155 162 162 171
VII. Alte Anthropologie und neues Menschenwissen Pietismus im Kontext 1. Konzepte von Autorschaft a) Formen religiöser Autorschaft b) Selbstpoetiken 2. Pietistische Sozialität a) Konkurrenzen b). Herzensgespräche c) Gelegenheit 3. Anthropologie der Wiedergeburt a) Technologien der Wiedergeburt b) Seelenenergien 4. Mediologische Perspektiven um 1700 VIII. Ausblick (Herder, Moritz, Goethe) 1. Herders Journal meiner Reise a) Probleme der Sprache b) Herders Journal - Selbsttechnik im Schriftmedium c) Archive des Imaginären 2. Pädagogik der Verwaltung und die Testate der Innerlichkeit -
181 184 184 190 204 204 208 226 231 231 236 243 251 252 252 254 260
Moritz' Anton Reiser a) Anton Reisers Selbstversuche b) Auspizien der Ausdifferenzierung Bildung gegen Empfindsamkeit 3. Goethes Wilhelm Meister - Romane a) Vestimente des Wissens b) Erzähltes Leben
264 268 273 279 279 285
IX.
Ergebnisse und Perspektiven
293
X.
Literaturverzeichnis 1) Quellen 2) Forschungsliteratur
299 299 309
Einleitung
Die vorliegende Untersuchung erzählt unter dem Titel »Menschenwissen« die Geschichte des religiösen Wissens vom Menschen, das mit dem Übergang zur Moderne seine prägende kulturelle Kraft verlor. Das religiöse Wissen vom Menschen, wie es die christliche Theologie entwickelt hatte, war bis weit ins 18. Jahrhundert hinein außerordentlich stabil. Vor aller disziplinären Anthropologie war es vor allem die Theologie, die das Wissen über den Menschen prägte, ihm Form und Ausdruck verlieh. »Anthropologie« als Wissenschaft von der menschlichen Natur erscheint als ein von der Theologie unabhängiger Terminus zwar erstmals im 16. Jahrhundert 1 , die Definition der menschlichen Natur wird aber jenseits der christlichen Theologie gesucht. Es ging darum, den Menschen durch wissenschaftliche und hier vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden neu zu bestimmen. Hierin spielt die Medizin in ihrer humoralpathologischen Variante eine ebenso große Rolle wie eine sich formierende moderne Philosophie. 2 Menscheniuissen: Der Anthropologisierungsschub zum Ende des 18. Jahrhunderts hat mindestens zwei Gründe. Zum einen hinterläßt der Paradigmawechsel in der Medizin - die Umschreibung eines von Säften durchflossenen Gefäßleibs zu einem selbstreferentiellen Organismus - den anthropologischen Wissenschaften im Ausgang des 18. Jahrhunderts ein diskursives Problem. Denn das humorale Leibkonzept Alteuropas, das innerkorporal Stoffe und Säfte zirkulieren läßt, die in einem spezifischen, affektheoretisch zu bestimmenden Mischungsverhältniss stehen, ist ein Ansatz, der den Körper in einem Austauschverhältnis mit seiner Umwelt denkt. Der Mensch und sein Körper wird unter der Ägide der Humoralpathologie in seinen sozialen Zirkulationen beobachtet. Daß die sich dem Menschen widmende anthropologische Wissenschaft
1
Vgl. Mareta Linden: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts. Bern u.a. 1976, S. 1 und Margaret T. Hodgen: Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Century. Philadelphia 1964, Odo Marquard: Art. »Anthropologie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfricd Gründer. Bd. 1. Basel/Darmstadt 1971, Sp. 362 - 3 7 3 , Wilhelm E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie. Frankfurt/M./Bonn, 2. verb. u. erw. Auflage 1968.
2
Vgl. Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, S. 6ff.
2
Einleitung
im Ausgang des 18. Jahrhunderts zum »Bildungsmedium ersten Ranges«3 werden konnte, setzt zum einen eine neuartige Bewertung des Organismus voraus, der nunmehr als zirkulär geschlossen und selbstreferentiell begriffen wird, und zum anderen eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Regungen eines Körpers, der zu einer Leib/Seele-Einheit umgeschrieben wird. An diesen Umschreibungen beteiligen sich die anthropologischen Wissenschaften nicht nur subsidiär. Die Menschenkunde wirkt, so eine diskursanalytische Umschrift der literarischen Anthropologie, »am Konstitutionsprozeß dessen mit, was sie beschreibt.«4 Der Mensch wird paradoxerweise gerade durch seine Erfindung immer mehr zum bevorzugten Objekt der Wissenschaft. Es ist aber nicht nur die disziplinare Anthropologie, die an diesem »Konstitutionsprozeß« mitwirkt. Wissenschaften wie die Statistik erheben den Menschen zur Quelle des Wissens über den Staat, Wissenschaften wie die Erfahrungsseelenkunde erheben den Menschen zur Quelle der Psychologie.5 Die darin implizierte epistemologische Unsicherheit über den Stand, die Natur und das Wesen des Menschen führt zu einer - bedenkt man die dezidierte Schriftlichkeit der Anthropologie - Erschreibung des Menschen im Wortsinne. Dies hat unmittelbar Konsequenzen für die Subjekte bzw. für die Form ihrer Beobachtung und die Medien ihrer Selbstbeobachtung. Denn zum zweiten geht dieser Anthropologisierungsschub nicht zuletzt auf eine neuartige Form des Umgangs der Subjekte mit sich selbst zurück, der vor allem auf dem Selbstausdruck im Schriftmedium basiert. Die Schriftlichkeit ihrerseits ist aber keinesfalls ein mediales Apriori, das über die Subjekte herrscht und alle Fragen nach Semantik und Kultur als Epiphänomene technischer Standards betrachtet. Vielmehr ist dies das Ergebnis einer »im weitesten Sinne kulturell verhandelten Produktions- und Nachfragelogik«.6 Die neuen anthropologischen Wissenschaften wie die Erfahrungsseelenkunde fordern unablässig Selbstzeugnisse. Die mediologische Wendung der Anthropologie hat aber dennoch nicht dazu geführt, sich über die Genese dieser Aufwertung von Selbstbekenntnissen und Selbstzeugnissen eingehender Gedanken zu machen.7 Diese Funktion der autobiographischen Selbstthematisierung in den anthropologischen Wissenschaften
3
Fritz Hartmann/Kurt Haedke: Der Bedeutungswandel des Begriffs >Anthropologie< im ärztlichen Schrifttum der Neuzeit. In: Marburger Sitzungsberichte, Bd. LXXXV, H l, 1963, S. 3 9 - 9 9 , hier: S. 42.
4
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 9.
5
Vgl. Manfred Schncidcr: Der Mensch als Quelle. In: Pctcr Fuchs / Andreas Göbcl (Hgg.): Der Mensch-das Medium der Gesellschaft? Frankfurt/M. 1994, S. 2 9 7 - 3 2 2 .
6
Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S . l l .
7
Vgl. für diese Fragestellung: Manfred Schneider: Politik der Lebensgcschichtc um 1800 und das autobiographische Wissen im Theoriedesign des 20. Jahrhunderts. In: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 2 6 7 - 2 8 9 .
3 soll vor dem - größtenteils vergessenen - Hintergrund einer religiösen Thematisierung und Selbstthematisierung des Menschen befragt werden. Das anthropologische Wissen, wie es sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzt, übernimmt zum einen Techniken der religiösen Selbstbeobachtung bzw. der Beobachtungen von Selbstbeobachtungen, und zum anderen schreibt sie das Objekt dieser Techniken - den Menschen - zu einer Leib-Seele Einheit um. Diese Umschreibung hat nicht nur mit dem allmählichen Schwinden der anthropologischen Disposition der Erbsünde 8 zu tun; vielmehr ist es die Erschaffung einer zweiten Natur, die die erste substituiert. Die Natur des Menschen ist unter den Bedingungen des späten 18. Jahrhundert nicht mehr der Inbegriff einer fundamentalen Verderbnis, ein zu überwindendes Provisorium, als das sie in der christlichen Dogmatik des Sündenfalls verhandelt wurde.9 Das allmähliche Schwinden der Erbsünde als Ordnungswissen über den Menschen hat aber noch einen darüber hinaus gehenden Aspekt: Es geht um das Verfahren, das aus der ursprünglichen Verderbtheit des Menschen und seiner Affektnatur eine Psychologie macht. Für die Evolution und die Epistemologie der Anthropologie ist neben der Medizin das religiöse Wissen von großer Bedeutung. Das religiöse Wissen vom Menschen hat immer schon versucht, durch eine Kombination zwischen Medizin und Theologie ein Wissen vom Menschen herzustellen. Dies wird unter anderem daran ersichtlich, daß der Priester jahrhundertelang als »Seelenarzt« bezeichnet, die Sünde als »Krankheit der Seele« beschrieben wurde. Dieser Zusammenhang ist mehr als nur metaphorisch. Vielmehr beschreibt er eine Zirkulation von Zeichen, die teilweise in Konkurrenz, teilweise in Kooperation sowohl von der Medizin als auch von Theologie eruiert und gelesen wurden. Die Zusammenhänge zwischen Literatur und Religion, zwischen literarischer und religiöser Kommunikation lassen sich bis weit ins 18. Jahrhundert als ein Aus-
8
Siehe dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt/M. 1983. Nicht zuletzt zählen Reisebeschreibungen neben Autobiographien zum bevorzugten Material der sich
formierenden
Anthropologie, deren Lektüre Kant in seiner Anthropologievorlesung von 1798 zu den wesentlichen Mitteln der »Erweiterung der Anthropologie« zählt. (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6. Darmstadt 1998, S. 400) Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert. Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten. In: Carsten Zelle: »Vernünftige Ärzte«. Hallcschc Psychomcdizincr und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, S. 6 8 - 9 0 und Renate Schlesien Verdichtete Reiseberichte. Zur Geschichte des Homo viator. In: Gerhard Neumann / Sigrid Weigel (Hgg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000. S. 1 3 3 - 1 4 9 . 9
Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 444ff.
Einleitung
4
tauschverhältnis beschreiben. Der Austausch und die Interferenzen zwischen religiöser und literarischer Selbstthematisierung im Rahmen der Autobiographik können als epistemologisches Fundament des Menschenwissens beschrieben werden, das um 1800 die Schnittstelle zwischen Literatur und Anthropologie bearbeitet. 10 Poetik: Wissen - so Joseph Vogls Überlegungen zu einer Poetologie des Wissens 11 - generiert die ihm adäquaten Objekte und schafft eigene Formen der Inszenierung. So ist die in dieser Untersuchung aufgeworfene Frage nach der Poetik des religiösen Menschen keine Frage ausschließlich an die Theologie. Die Geschichte des religiösen Wissens vom Menschen ist keine Geschichte der theologischen Wissenschaft oder gar eine Geschichte der religiösen Anthropologie. Vielmehr hat dieses Wissen eine poetologische Dimension, in der »das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung« 12 verstanden werden kann. Das heißt, daß die Entstehung neuer Erkenntnisbereiche und -gegenstände weniger mit dem Fortschritt der Wissenschaft oder der Rationalität zu tun hat, sondern daß Wissen mehrere sogenannte »Disziplinen« durchqueren kann. 1 3 Die Form der Inszenierung religiösen Wissens vom Menschen ist von einer solchen Poetik des Wissens getragen, weil bestimmte, historisch zu bestimmende Figuren des Wissens - im Falle dieser Untersuchung Gnade, Erbsünde, Sünde, Geständnis, Wiedergeburt u.a. - zugleich tief in die »narrativen Strukturen« 1 4 der Texte eingreifen. Die Inszenierung des religiösen Wissens des Subjekts von sich, wie es in den Erbauungsbüchern, Tagebüchern und Autobiographien deutlich wird, zeitigt für die Form der Texte erhebliche Konsequenzen, die über Motivik, Metaphorik oder Topik weit hinausgehen.
10
Fast alle Einlassungen zur literarischen Anthropologie lassen die Anthropologisierung des M e n s c h e n um 1 7 5 0 beginnen. Vgl. den Forschungsüberblick von Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: I A S L , Forschungsreferate, 3. Folge, 6. Sonderheft, 1 9 9 4 , S. 9 3 - 1 5 5 . In den letzten Jahren ist es zu einer massiven Quellenaufarbeitung der sogenannten Halleschen Psychomediziner wie Krüger, Stahl u.a. g e k o m m e n , deren Potential aber vor allem darin gesehen wird, die Beschreibung des M e n s c h e n als einer L e i b / S e e l e - E i n h e i t vorzubereiten. Vgl. das Vorwort von Carsten Zelle in: ders. (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung.
11
Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: ders.
(Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, S. 7 -
19. Die Poetologie des Wissens verknüpft die »Herstellung v o n Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage n a c h deren Inszenierung und Darstcllbarkcit« (7) unter historisch differenten Bedingungen. 12
Vogl, Einleitung, S. 13.
13
V o r allem in Michael Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der H u m a n wissenschaften. F r a n k f u r t / M . 1993.
5 Es geht darum, die in religiösen Funktionszusammenhängen entstandenen Texte auf ihr implizites Wissen vom Menschen zu befragen. Die Untersuchung versteht sich von daher auch als ein Beitrag zu einer methodisch wie historisch noch immer nicht restlos profilierten und auch durch die Bemühungen um eine künftige Kulturwissenschaft nicht eingeholten literarischen Anthropologie.15 Gegen alle Substantialisierungen der immer schon anthropologischen Literatur soll es vor allem darum gehen, die Sozialdimension des anthropologischen Wissens zu betonen und die Texte auf ihre implizite Soziologie hin zu befragen. Insbesondere wird deutlich werden, daß die Genese der Anthropologie nicht mit der Entdeckung des »ganzen Menschen« zu verwechseln ist, sondern daß die Anthropologisierung des Menschen im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Veränderung in der Selbstbeschreibung von Kommunikation voraussetzt, die vor allem mit dem Verlust der Integrations- und Inklusionskraft religiöser Kommunikation zu tun hat. Darüber hinaus zieht die Frage nach einer Poetologie des Wissens die Frage nach dem literarischen Wissen vom Menschen nach sich. Denn die Frage nach der Poetik des religiösen Menschen, die diese Untersuchung in den Blick nimmt, impliziert immer auch die Frage nach den literarischen Inszenierungsformen, um von Gattungen nicht zu reden. Unter den Bedingungen einer noch nicht ausdifferenzierten Literatur ist es vor allem die Erbauungsliteratur, an der die Wechselverhältnisse zwischen nicht-literarischem Wissen und literarischen Inszenierungsformen nachgelesen werden können, deren Erforschung, wie Gerhard Sauder bemerkt, »nach wie vor dürftig«'6 ist. Genau diese von Sauder eingeforderte Untersuchung der Erbauungsliteratur möchte die vorliegende Untersuchung leisten. »[E]rbauliches Schreiben«, schreibt Franz Eybl in bezug auf das 17. Jahrhundert, muß »als integraler Bereich literarischer Autorschaft«17 verstanden werden. Die Selbstbeschreibungen von literarischer Autorschaft innerhalb der Erbauungsliteratur lassen sich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Poetik lesen. Denn nur die Umwelt der Poetik und ihre Beobachtung macht es möglich, eine eigenständige Kommunikation zu differenzieren. Gleichwohl ist diese Eigenständigkeit nicht mit der Autonomie der Funktionssysteme um 1800 14
Vogl, Einleitung, S. 15.
15
Vgl. dazu die Polemik in der S a c h e von Ingo S t ö c k m a n n : Traumleiber. Z u r Evolution des M e n s c h e n w i s s e n s im 17. und 18. Jahrhunderts. rischen
16
Mit einer Vorbemerkung zur litera-
Anthropologie. In: I A S L , 26, 2 0 0 1 , H.2, S. 1 - 5 6 , insb. S. 4 - 1 6 .
Gerhard Sauden Erbauungsliteratur. In: Horst Grimminger (Hg.): D e u t s c h e Aufklärung bis zur französischen Revolution 1 6 8 0 - 1 7 8 9 , M ü n c h e n 1 9 8 4 , S. 2 5 1 - 2 6 7 , hier: S. 2 6 1 . Im B l i c k auf langanhaltende Forschungsklischees hat Sauder bereits 1 9 7 4 die Erforschung der Erbauungsliteratur eingefordert. Vgl. ders. : Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 61.
17
Franz
Eybl: Predigt/Erbauungsliteratur.
In:
Albert
Meier
17. Jahrhunderts. M ü n c h e n 1999, S. 4 0 1 - 4 2 0 , hier: S. 4 0 7 .
(Hg.):
Die
Literatur
des
Einleitung
6
zu verwechseln. Es geht um Friktionen und wechselseitige Beobachtungsverhältnisse, die die Debatten um religiöse Autorschaft anschließbar an zeitgenössische Poetiken machen, an deren Umschreibung sie um 1700 »partizipieren«. Die vorliegende Studie optiert für eine Beobachtung historisch weitläufiger und semantisch subtiler Transformationen im anthropologischen Wissen selbst. Die Untersuchung der Quellen fragt vor allem danach, in welcher Form und aus welchen Gründen Kommunikationen den Menschen in den Blick nehmen, wie sie die leib-seelische Umwelt
des Menschen für den Aufbau des Wissens nutzen.
Neben der Erbauungsliteratur ist es somit vor allem die Autobiographie, die ein solches implizites Wissen vom Menschen ausagiert. Autobiographie ist in den letzten Jahren aufgrund ihres grundlegenden Charakters zu einem breiten Forschungsfeld geworden. 18 Dies hat nicht nur mit der Konjunktur der literarischen Anthropologie und ihrem Interesse an Selbstzeugnissen zu tun 19 , sondern auch mit der Entstehung der literarischen Autobiographie in der Spätaufklärung. Im Gegensatz zu einem Nachvollzug der Homogenese 2 0 in den Autobiographien soll deutlich werden, inwieweit die sich ändernden sozialen Bedingungen des Lebens eine Veränderung in der Selbstthematisierung bewirken bzw. wie diese Austauschverhältnisse zwischen einer Selbstpoetik und der Verfaßtheit des Sozialen zu denken sind. Autobiographien erfüllen vor dem Hintergrund sich wandelnder Lebens-, Selbst- und Sozialkonzepte des Menschen die unterschiedlichsten Funktionen. Genau aus diesem Grunde ist die Autobiographie theoriebedürftig; bildet die autobiographische Operation die Selbstbeobachtung - doch die Grundlage aller modernen Humanwissenschaften wie Anthropologie, Erfahrungsseelenkunde, Psychologie und Hermeneutik. 21 Es geht nicht um die Gattung
der Autobiographie, sondern darum,
welches Wissen vom Menschen die autobiographische
Selbstthematisierung
impliziert. Diese Selbstthematisierung hat eine lange Geschichte, die auf das
18
Ein detaillierter Forschungsüberblick erübrigt sich, da er bereits vorliegt. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Tübingen 2 0 0 0 . S i e h e für die Aufarbeitung der Quellen die Bibliographie in G ü n t e r Niggl: G e s c h i c h t e der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlage und literarische Entfaltung. Stuttgart 1 9 7 7 und Christoph Weiß: Quellen- und Forschungsbibliographie zur deutschsprachigen Autobiographie ( 1 9 7 4 - 1 9 8 4 ) in: Das A c h t z e h n t e Jahrhundert, 11, H . l , 1987, S. 4 5 - 6 2 . E i n Verzeichnis der publizierten Autobiographien findet sich in Jens Jessen: Bibliographie der Autobiographien, B d . 1: Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Tagebücher und Briefe deutscher Schriftsteller. M ü n c h e n 1992.
19
Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: I A S L , 6.Sonderheft, 1 9 9 4 , Forschungsreferate 3. Folge. S. 9 3 - 1 5 5 , hier: S. 137f.
20
Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre G e s c h i c h t e - a m Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987.
21
Vgl. dazu Schneider, Politik der Lebensgeschichte .
7 Engste mit der Geschichte der christlichen Religion verknüpft ist. Diese Friktion entwickelt eine immense Stabilität bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Die Untersuchung versucht, in einem breiten historischen Panorama diese Friktionen und Austauschverhältnisse zu beschreiben. Kapitel I bemüht sich zunächst um eine Klarstellung einiger zentraler methodischer und theoretischer Grundannahmen. Es geht um die Applikation eines um medien- und diskurshistorische Fragestellungen erweiterten systemtheoretischen Theorierahmens, der den spezifischen Bedingungen der Sozialstruktur und damit: der Kommunikation Alteuropas Rechnung tragen kann. 22 Alteuropa bezeichnet zunächst eine historische Differenz, die sich vor allem hinsichtlich des Differenzierungstypus beschreiben läßt.23 In diesem Differenzierungstypus, dessen Leitdifferenz »oben/unten« die Kommunikationen am sozialen Ort des Sprechenden ausrichtet und insofern die Wiederholung der Gesellschaftsstruktur in der Semantik darstellt, spielt das Religionssystem und die religiöse Kommunikation eine prominente Rolle. Die religiöse Kommunikation garantiert die Totalinklusion der Person. Dies führt über die Untersuchung der gesellschaftlichen Funktion der Religion, wie sie Luhmann untersucht hat, hinaus und gleichzeitig in interne Probleme der Systemtheorie hinein. Hinaus, weil die Untersuchung nicht primär am Code oder am Programm des sozialen Systems der Religion interessiert ist, hinein, weil sie versucht, religiöse oder besser: theologische Beschreibungen eines kommunikationstheoretischen Problems nachzuvollziehen: der Bearbeitung der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation. Wenn diese Differenz als Problem der Kommunikation beobachtet und infolgedessen systematisch bearbeitet wird, dann kann das evolutionäre Problem der Unzugänglichkeit bewußtseinsförmiger Intentionen und Motivlagen sein Potential für die Selbstbeschreibung literarischer Kommunikation im Ausgang des 18. Jahrhunderts entfalten. Denn die dramatisierte Differenz zwischen Individualität und Gesellschaft wird zum Potential der literarischen Kommunikation. 24 Dies hat zweitens unmittelbar Konsequenzen für die Rolle autobiographischer Selbstthematisierung in diesem Differenzierungstypus. Die Frage nach dem sozialen Ort der Selbsterkenntnis und der Erkennbarkeit des Menschen ist auf die Sozialstruktur bezogen. Denn der Stand garantiert die Eingebundenheit des Menschen in die soziale Ordnung. Bekenntnisse der Individualität im Sinne des späten 18. Jahrhunderts kommen nicht vor, denn ihnen fehlt die Lesbarkeit innerhalb einer Sozialordnung, der nicht daran gelegen sein konnte, Individualität zu
22
23 24
Vgl. erstmalig Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001. Vgl. Stöckmann, Vor der Literatur, S. 11, Anm.12. Vgl. Gerhard Plumpe: Kein Mitleid mit Werther. In: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hgg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen/Basel 1997.
8
Einleitung
exkludieren. In der Selbstbeschreibung religiöser Kommunikation lassen sich aber erste Anzeichen für einen allmählichen Umbau des kommunikativen Ordnungsmusters erkennen, die - obzwar noch religiös reformuliert - zeigen, daß der Versuch, Sozial- und Kommunikationsordnung durch geregelte Verfahren in Einklang zu bringen, durch einen generalisierten Begriff des religiösen Menschen ersetzt werden, der sich an sich selbst, an seinen Regungen, zu orientieren hat. Kapitel II und III widmen sich dem kirchengeschichtlichen und theologischen Hintergrund der Fragestellung. Die durch den Apostel Paulus vorgenommene Beschreibung der Sozialform »Gemeinde«, der Stiftung eines sozialen Imaginären durch die Vorstellung einer Körperschaft, stellt den Urtext christlicher Existenz dar. Es soll gezeigt werden, welche Riten und welche symbolischen Beschreibungen sich als Annäherung an den bzw. Entfernung vom sozialen Körper beschreiben lassen. An Augustinus läßt sich verdeutlichen, wie Schriftlichkeit in den Raum der Selbstbeobachtung eindringt und welche Konsequenzen diese Verschriftlichung des Selbst nach sich zieht. Gleichwohl zeigt die Engführung von individueller Selbstbeschreibung in den Bekenntnissen und institutioneller Selbstbeschreibung im Gottesstaat, daß die skripturale Bußübung somit Gemeinschaft mit dem Sozialen stiftet. Kapitel IV untersucht die Urform europäischer Menschenregierungstechniken - die Beichte. Die Institution der Beichte gibt der Selbstthematisierung eine neue Sprache und Form. Die Geburt der Psychologie oder der Beginn eines psychosomatischen Wissens ist vor allem ein semiologisches Problem. Denn die Frage, wie man über das Innere, die Schuld der Sünde sprechen und wie man deren Zeichen lesen kann, durchzieht die Beichthandbücher. Insbesondere durch den Zugriff auf die Regungen des Körpers versprach sich die Theologie ein Wissen über die Sünde, denn die Fragetechniken in den Beichthandbüchern entlocken dem Körper des Einzelnen Zeichen der Sünde, deren Existenz man als Bedrohung des Sozialkörpers empfand. Okkasionelle Selbstthematisierung in Form der Beichte wird damit zum Ort einer spezifischen Wissensproduktion über die Subjekte. Sieht sich der Sozialkörper der Kirche in seiner Stabilität bedroht, muß er versuchen, sich über die Bekenntnisse der Mitglieder zu stabilisieren bzw. spezifische Kommunikationsszenarien zu schaffen, in denen diese Bekenntnisse gefordert und einer Lektüre unterzogen werden. An diesen Szenarien, ihrer spezifischen Poetologie des Sozialen, läßt sich ein neues Wissen von den Leidenschaften und den Affekten ablesen. Kapitel V hat die Funktion eines Gelenkkapitels. Denn die Reformation bringt das System der Administration und der Semantik des Geständnisses innerhalb der Kirche zum Einsturz und ist gleichzeitig als historischer Umbruch in den religiösen Selbstbeschreibungen der Individuen anzusehen. Die antischolastischen Attacken der Reformation betreffen somit auch unmittelbar die Lehre von der Sünde, ihrem Geständnis und der Verwaltung durch die Kirche.
9 Vor allem der Kirchenbegriff und die, wie es treffend in einer protestantischen Dogmengeschichte heißt, Kritik einer vermeintlichen »Mechanisierung der Seelenleitung« 25 durch das 1215 institutionalisierte Buß-Sakrament sind es, die den furor reformationis begründen. Darüber hinaus betreibt die Reformation eine folgenschwere Politik der Substitutionen, die die Unterscheidungen der scholastischen Ekklesiologie und Büß- bzw. Beichtlehre durch neue ersetzt. Luther gründet die Beichte auf die allein seligmachende Kraft des Glaubens. Allein das Gewissen und nicht der institutionelle Sprechanreiz ist Motor des Bekenntnisses. Die damit bezweckte Internalisierung der Institution hat zur Folge, daß die Gewissenserforschung, die in der katholischen Beichte vorgesehen war, nun zu einer Sache wird, die aus der empfundenen Gewissensnot des Sünders selber emergiert, ohne daß es eines institutionellen Anstoßes bedürfte. Darüber hinaus betreibt die Reformation eine massive Politik des Medialen. 26 Buchdruck, Propaganda, Bildersturm, antizeremoniale Bestrebungen der Reformation lassen sich als spezifische Medieneinsätze beschreiben. Die Neudefinition der Kirche durch die Reformation wirft ein Problem auf: das der sozialen Kontrolle. Denn die Ausdifferenzierung zweier Sphären - des sogenannten privaten Lebens und des Lebens in der Kirche - bringt es mit sich, daß die Institutionen der Familie, der Ehe und nicht zuletzt die der Gemeinde neue Funktionen bekommen, die man als soziale Kontrollfunktion bezeichnen kann. Die Katechisierung der Bevölkerung und die Institutionalisierung der Kirchenzucht sind als Effekte dieser Umstrukturierungen anzusehen, die den Gläubigen über die Teilnahme an den Sakramenten hinaus disziplinieren und kontrollieren. Gleichzeitig zeigt sich in der Ausdifferenzierung einer Sphäre des Privaten, die in calvinistischer Lesart als Probe für den Heilsstand des einzelnen gesehen wird, die Entstehung einer Intimisierung der Individualität. Die Exerzitien der Selbstbeobachtung und -kontrolle werden zur religiösen Selbsttechnik par excellence. Kapitel VI versucht anhand des Puritanismus erste Konsequenzen für die Schriftlichkeit der Selbstthematisierung zu ziehen. An die Stelle der alten Riten der Erinnerung, 27 als die man die Funktion der Sakramente unter anderem
25
26
27
Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Vierter Band, erster Teil: Die Entstehung des protestantischen Lehrbegriffs. Leipzig 1933. Reprint Darmstadt 1974, S. 3. Vgl. dazu grundsätzlich Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Studie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M. 1998 und Uwe Geese: Sprache und Buchdruck als kultisches Instrumentarium in Luthers Brief an die Ratsherren von 1524, In: Imprimatur, Jb. der Gesellschaft der Bibliophilen, N.F., Bd. 14, 1991, S. 123-142. Vgl. Manfred Schneider: Remember mc! Mcdicngcschichte eines Imperativs. In: Gerburg Treusch-Dieter, Wolfgang Pircher, Herbert Hrachovec (Hgg.): Denkzettel Antike. Texte zum kulturellen Vergessen. Berlin 1989, S. 2 - 1 5 .
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Einleitung
bezeichnen kann, tritt durch die Abschaffung der Beichte als Sakrament und aufgrund ihrer Ersetzung durch die Technik des Glaubensverhörs das Erinnerungsritual des Tagebuchs. Das Tagebuch ist die Konsequenz aus einer ganzen Reihe von Verschiebungen und Transformationen, die nicht nur die Logik des Sakraments betreffen. Der hohe Stellenwert der Bibellektüre, späterhin der Erbauungsschriften und die damit zusammenhängende Verschriftlichung der Teilnahme an institutionellen Kommunikationen, die der Puritanismus einführt, läßt die Selbstbeobachtung der Subjekte im Schriftmedium als die Folge einer Entwicklung beschreiben, die man als die Evolution einer anthropologischen Registratur bezeichnen kann. Das spezifische Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb der Gemeindekommunikation wird daran deutlich, daß der Puritanismus Schriftlichkeit nicht nur verstärkt als Modus institutioneller Selbstbeschreibung einsetzt. Vielmehr ist der Einsatz der Schriftlichkeit in bezug auf die Selbstbeschreibung von Individuen das entscheidende Datum. Die Schriftlichkeit des Selbstverhältnisses ist als evolutionärer Prozeß beschreibbar, der auf Probleme innerhalb der Gemeindekommunikation reagiert. Denn die zunehmende Kontingenz der religiösen Biographie des einzelnen, die sich nicht mehr nur durch den sozialen Ort des Glaubenden allein bestimmen läßt, ist als Bezugsproblem bestimmbar, auf das die zunehmende Verschriftlichung der Selbstverhältnisse reagiert. Die Beobachtung der Interaktion in und durch die Schrift entlastet die Interaktion von der Aufgabe, das Gesamtgefüge des Sozialen zu symbolisieren. Die Aufwertung der Lektüre bleibt nicht bei den Katechismen stehen, sondern fortan wird immer mehr die Erbauungsliteratur gefördert, die Schrift und schriftliche Selbstbeobachtung und damit: Bekenntnisse auf eine ganz neue Art und Weise einsetzt. Einerseits sind die Selbstbeobachtungen vom Interaktionsparadigma her organisiert, andererseits ist die zunehmende Verschriftlichung des Wissens ein Datum, das sich auf eine bestimmte Art und Weise über die Interaktion schiebt. Schriftlichkeit bekommt dadurch einen Status zugewiesen, den man als Sekundärkommunikation bezeichnen könnte. Selbstbeobachtung geschieht immer noch vor dem Hintergrund von Interaktion. Sie ist die Vollzugsform des Sozialen, das die Parameter der Selbstbeobachtung organisiert. Doch erst der in protestantischen Frömmigkeitsritualen (Bibellektüre, Verschriftlichung der Selbstbeobachtung etc.) vorgesehene Rückzug aus den Interaktionsszenarien der Gemeinde führt zu einer Verstärkung der Frage nach dem sozialen Ort der Selbsterkenntnis. Vor dem Hintergrund calvinistischer Theologie und puritanischer Erbauungsliteratur taucht eine Frage mit aller Virulenz auf: Inwiefern läßt sich das stets prekäre Verhältnis zwischen Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, zwischen Selbstprüfung und Verschriftlichung bestimmen und vor allem: kontrollieren,
11 um es innerhalb der Gemeindeoperation kommunikativ operabel zu halten? Die Gnade - gleichsam Medium der Gotteserkenntnis und damit die Vorbedingung der Selbsterkenntnis - stellt semiotisch und kommunikationslogisch eine Aufgabe dar, der sich die Beobachtung der Kommunikation über Selbsterkenntnis, über die Täuschungen der Selbsterkenntnis in den puritanischen Szenarien widmet. Dies hat Konsequenzen für das Verhältnis Mensch-Gesellschaft, dessen Ontologie durch die Beschreibung von Kommunikationsszenarien ersetzt wird. In einem Exkurs, der sich mit der Sozialphilosophie des Thomas Hobbes beschäftigt, wird gezeigt, daß die neue politische Anthropologie, die den Menschen als einsam und fern der Gesellschaft stehend konzipiert, hinsichtlich der puritanischen Sozialkonzepte aufschlußreich ist. Ein Transfer der Probleme religiösen Wissens in die deutschen Lande leistet zweifelsohne der Pietismus, wie in Kapitel VII gezeigt werden soll. Seine bzw. die Innovationskraft der diversen pietistischen Strömungen, für die sich bei aller Differenz der Sammelbegriff »Pietismus« eingebürgert hat, in bezug auf die Entstehung der Literatur des späten 18. Jahrhunderts wird selten unterschätzt. Verinnerlichung und Transformation des Glaubens in einen Gemütsprozeß, die Auflösung statischer Barockrhetorik durch eine Sprache des Fluidialen und des Strömens, die Psychologisierung der eigenen Seele, die pietistische Sozialentwürfe der zueinander in Austausch stehenden Seelen, das Anschwellen sowohl des institutionellen wie individuellen Schriftverkehrs werden immer wieder als signifikante Merkmale des pietistischen Potentials benannt und aufgezeigt. Die am Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher werdende Übernahme pietistischer Selbstbeobachtungstechniken durch die psychologisierte Autobiographie 28 hat nicht unbedingt etwas mit der Säkularisierung eines ehemals religiösen Substrats zu tun, sondern läßt sich - mit aller Vorsicht - als Prozeß der Ausdifferenzierung beschreiben. Die kommunikativen Szenarien und die Selbstbeschreibungen pietistischer Kommunikation können unter der Problematik der Akkumulation und Produktion von Menschenwissens ihr Potential für eine Anthropologisierung des Menschen entfalten. Die Untersuchung plädiert für eine entschiedene Historisierung des pietistischen Phänomens. Historisierung bedeutet in diesem Sinne die Bemühungen, die Beobachtungen der zeitgenössischen Umwelten (insbesondere die Beobachtung der Poetik, der politischen Klugheit u.a.) nachzuvollziehen und gleichzeitig darin den Versuch zu sehen,
28
Die Legende will, daß diese Forschungsthese auf die in den dreißiger Jahren des letzen Jahrhunderts entstandene, doch schließlich erst in den 1970er Jahren in Druck gegangenen Schrift von Robert Minder zurückgeht. Vgl. Robert Minder: Glaube, Skepsis, Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Frankfurt/M. 1973.
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Einleitung
eine eigenständige Kommunikation zu differenzieren, die weit über die Dienstbarkeit für die Religion hinausgeht. Das heißt aber auch, die pietistischen »Poetiken«, Selbstbeschreibungen von Autorschaft und von Sozialität, in die zeitgenössische Ordnung der Texte und Dinge einzuordnen. Nicht nur für die Widersprüche und Probleme eines authentischen Ausdrucks im Medium der Poesie entwickelt der Pietismus eine erhöhte Aufmerksamkeit, sondern auch für jene Direktiven des Verhaltens und jene Strategien der Selbst- und Fremderkenntnis, die das Überleben des Subjekts im sozialen Raum des Hofes regulieren. Der Pietismus nimmt gegenüber diesen Verhaltenslehren eine differente bis ablehnende Haltung ein, indem er, wie die Begründer des Pietismus Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke, eine spezifische christliche
Klugheit forderte. Die Taktiken des Verhaltens und das von der
politischen Klugheit entwickelte Interaktionskalkül bekommt auf Seiten der Pietisten ein funktionales Äquivalent. Erbauung ist Verhaltensschulung und -beobachtung. Dies setzt permanente Beobachtung und Selbstbeobachtung voraus. Die Pflicht, das Leben der anderen Leute zu beobachten, Spuren der Bekehrung und der Wiedergeburt nachzuspüren, reagiert nun auf die ökologische Differenz zwischen Bewußtsein und Kommunikation, auf die Differenz zwischen den Motivlagen des einzelnen und dem sozialen System. Im Pietismus übernehmen die sogenannten collegia
pietatis
bzw. Banden
diese Funktion. Sie sind das Forum
der Gemeindeöffentlichkeit. Sie sind aber eine Form der Beobachtung von Interaktionen und somit anschließbar an zeitgenössische Diskussionen über das wohlanständige Verhalten. In der Beobachtung der galanten Kommunikation durch den Pietismus differenziert sich vielmehr eine eigene Kommunikationsund Konversationskultur aus. Aus diesem Grunde kann man den Pietismus als Beobachter von Kommunikation beschreiben, der auf diese Art und Weise wiederum die eigene Kommunikation ausdifferenziert. Denn auch der Pietismus entwickelt das Verständnis von Religion, von Gesellschaft über die Beobachtung von Kommunikationen. Das hat nicht nur Konsequenzen für die pietistische Selbstpoetik, sondern auch für die Auffassung des Sozialen. Gleichwohl ist die Opposition zwischen politischer Klugheit und Pietismus nicht so trennscharf, wie man meinen könnte. Es wird deutlich werden, daß die pietistische und frühaufklärerische tia cardiognostica
Pruden-
Lösungen für ein Problem anzubieten, das möglicherweise
ein Grundproblem der Kommunikation überhaupt ist: Simulations- und Dissimulationsstrategien und ihre methodische Bearbeitung sind nur dort möglich, wo eine Differenz zwischen Bewußtsein und Kommunikation, zwischen Regungen der Herzens und Regeln des Sprechens/Schreibens festgestellt worden ist. Anders formuliert: Wenn Einsicht in die kommunikative Unzugänglichkeit der Gefühle und Regungen des Herzens besteht, dann muß die Selbstbeschreibung
13
der Kommunikation darauf reagieren.29 Es müssen Zeichen gefunden werden, von denen angenommen werden kann, daß sie eine unkorrumpierte und unverstellte Semiotik bereitstellen, sofern sie denn nur möglichst scharfsinnig gelesen werden. Gebärden und Gesten bilden gerade wegen ihrer vermeintlichen Unwillkürlichkeit ein solches Potential jenseits der Sprache/Schrift. Doch genau aus diesen semiotischen Problemen heraus läßt sich die literarische Anthropologie des Pietismus rekonstruieren. Die Wiedergeburt, die man mit aller Vorsicht als »anthropologische Transformation« bezeichnen könnte, ist die prominente Figur eines sich anbahnenden neuen Menschenwissens. Sie kombiniert zeitgenössische Theorien der Medizin aus dem Hallenser Umfeld (Georg Ernst Stahl) mit theologischem Wissen, motiviert eine immense Textproduktion an Fallgeschichten und greift gleichzeitig tief in die innere Logik der Texte ein. Kapitel VIII sucht an verschiedenen kanonisch gewordenen Texten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Konsequenzen für das allmählich verschwindende Ordnungsgefüge der Stratifikation und der Selbstbeschreibung der Gesellschaft im religiösen Schema zu skizzieren. Was passiert, wenn einerseits die Bekenntnisse der Subjekte sich in ihrer Lesbarkeit vom Interaktionsparadigma verabschieden und andererseits die Erzählung eines möglichen Lebensverlaufes und die Narratologie des Sozialen zunehmend die Ausdifferenzierung selbst und das aus dieser Ausdifferenzierung entstehende Funktionsprimat thematisieren? Was geschieht, wenn die Romane dezidiert anthropologischen Datenhunger befriedigen, wie ist es zu verstehen, daß insbesondere der Bildungsroman die Anthropologisierung des Menschen selbst zum Gegenstand macht? Zunächst wird anhand von Herders Journal meiner Reise, dessen Rolle für die erste moderne Selbstbeschreibung der modernen Literatur unter dem Titel »Sturm und Drang« nicht unterschätzt werden darf, den epochalen Schriften über Erkennen und Empfinden, den Briefen zur Beförderung der Humanität und der Abhandlung über den Ursprung der Sprache gezeigt, daß Herders Versuche einer Neubegründung des literarischen und des anthropologischen Wissens einer aufschlußreichen Poetologie des Wissens folgen. Sodann wird, wie im Journal, der Begriff der Imagination umgeschrieben, der sich von allen Bindungen an die Poetik Alteuropas trennt, und sich als Weltschöpfungsphantasie inszeniert. Die daraus resultierenden anthropologischen Neuerfindungen, die sowohl den Affekthaushalt als auch die sprachliche Kommunikation betreffen, lassen Herders Schriften als Neugründung eines Men29
Vgl. Ursula G c i t n c r : Die S p r a c h c der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1 9 9 2 , S. 107ff. und Ingo S t ö c k m a n n : Die Orte des Gestischen. Galanterie und Gestik. In: Margret Egidi/Oliver S c h n e i d e r / M a t t h i a s S c h ö n i n g u.a. (Hgg.): Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2 0 0 0 , S. 1 0 3 - 1 1 5 .
Einleitung
14
schenwissens lesbar werden, dessen Daten vornehmlich aus Autobiographien und anderen Selbstzeugnissen stammen sollen. Dieses neue Wissen vom M e n s c h e n ist bei Moritz Bildungsroman geworden. Am Anton
Reiser
läßt sich zeigen, daß hier ein Wissen über den M e n s c h e n durchde-
kliniert wird, das auf das Engste mit den Selbstversuchen des Helden zusammenhängt. Die Ersetzung eines Repräsentationsverhältnisses zwischen Sozialem und Individuellem durch die prozessierte Differenz zwischen Bewußtsein und Kommunikation innerhalb des Schriftmediums macht die im Anton zenierte
Individualitätskommunikation
aufschlußreich.
Reiser
ins-
In einem Exkurs
zu
Goethes »Werther«, dessen Lektüre im Bildungsroman an prominenter Stelle auftritt, wird gezeigt, daß der G o e t h e s c h e Roman eine eigene Theorie der literarischen Kommunikation entwickelt, deren Kernpunkt in der Unmöglichkeit der Individualitätskommunikation im Medium der Literatur besteht. Die pädagogischen, anthropologischen und erfahrungsseelenkundlichen Direktiven, die sich durch den Roman ziehen, lassen den Roman selbst zu einem Archiv werden, ein Archiv, das das neue Wissen über den Menschen verschaltet und lesbar gestaltet. Selbsttechnologie erscheint hier zweifach: Zum ersten als autobiographische Techne des Helden, zum zweiten als pädagogisches, anthropologisches und erfahrungsseelenkundliches Testat. Abschließend wirft die Untersuchung einen Blick in Goethes Wilhelm
Meis-
ier-Romane. In der Gattung des Bildungsromans verschalten sie anthropologische Wissensformen um 1800: Autobiographien religiöser Provenienz, medizinische Dossiers und Anamnesebeschreibungen, Psychographien und Biographien treten in den Lehrjahren schaft« in den Wanderjahren.
auf, die politische Ö k o n o m i e und »PolizeywissenDiese Wissensformen beschreiben ein Spannungs-
feld oder ein Problemfeld, in und auf dem sich das Subjekt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert befindet. Dieses Spannungsfeld zieht eine veränderte Erzählung des Lebens nach sich. Bildungsromane sind demnach nicht zuletzt Modellierungen moderner Identität, der daran gelegen sein muß, sich immer neuen Situationen zu stellen und Prüfungen zu bestehen, um eine Identität mit sich selbst auszubilden, die prinzipiell zukunftsoffen sein muß und auch immer anders möglich wäre. Die Biographie des Einzelnen wird reine Potentialität. Nun betrifft die Bildung nicht nur das Subjekt, sondern vor allem die Art und Weise, wie das Subjekt in das Soziale »eingreift« und in welcher Form lität
der
Sozia-
die Person Gesellschaft erlebt. Und hier zeigt sich erneut die Modernität
des Goetheschen Romans, denn die Bildungsgeschichte Wilhelms erzählt die Geschichte einer grundlegenden Veränderung innerhalb der kommunikativen Betriebsenergie: die Romane erzählen die Ablösung von einer an Konversation und Geselligkeit orientierten Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Kommunikation durch eine an distanzierende Medien orientierte Kommunikation der Funktionssysteme. Dieser Abschied von Interaktion und Geselligkeit als Selbstbe-
15
schreibungsmodi der Gesellschaft ist im Roman selbst Programm. Denn die Bildungsgeschichte Wilhelms in den Lehrjahren läßt sich beschreiben als Abschied von Modellen der Geselligkeit und Mündlichkeit, in denen er zunächst Gesellschaft erlebt, hin zu Modellen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, die die ausdifferenzierten Funktionssysteme in den Blick nehmen. Das Individuum muß lernen, daß allein die Kommunikation unter Abwesenden und die Schrift Möglichkeiten bieten, sozial relevant zu handeln. Nicht nur aus diesem Grunde läßt sich der Wechsel von Wilhelms Lehr- zu seinen Wanderjahren als Steigerung des Schriftverkehrs lesen.
I.
Die Lesbarkeit des Menschen Buchstabensammlung
bringt mich zur Welt.
(Blumfeld)
Dem Menschen, so weiß man, traut niemand mehr, und er sich selbst am wenigsten. Unter den Bedingungen einer »irritierten Zurechenbarkeit« 1 in der Moderne wird der Mensch zum Gegenstand eines Wissens, das ihn so sehr zu dessen Gegenstand macht, wie er Bedingung dieses Wissens ist. Genau dieser Mensch genießt - trotz aller systemtheoretischen und diskursanalytischen Skepsis - uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Er wird zur letzten Bastion der Moderne und ihrer Theorien. Die literarische Anthropologie träumt vom oder feiert den »ganzen Menschen« 2 , der mit der unbefragt immer schon anthropologischen Literatur entsteht. Denn in der Literatur, so liest man in einer prominenten Gründungsschrift, wird »die Sprache der subjektiven Betroffenheit laut«, 3 die den Menschen erst zu sich selbst bringt. 4 Huldigungen des Menschen vergessen aber, daß der Mensch ohne »Formen der Aufgeschriebenheit« 5 niemals existierte. Ein Blick in die Archive des Menschen zeigt, daß die Frage nach dem Menschen, wie sie das späte 18. Jahrhundert mit aller Virulenz stellte, sowohl diskursgeschichtlich, evolutionstheoretisch als auch mediengeschichtlich nicht ganz so voraussetzungslos ist, wie die literarische Anthropologie es sich erträumt. 6 Es geht darum, die den Menschen betreffenden Diskurse und die ihnen zugrundeliegenden Regeln mit der Frage nach der medialen Basis dieses Wissens und seiner Inszenierung zu verbinden und Quellen in den Blick zu nehmen, deren Relevanz für die Anthropologieforschung bisher noch nicht thematisiert worden ist: Visitationstabellen und -berichte, Beichtverhöre und deren Beschrei-
1
2
3 4 5 6
Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt/M.2002, S. 364. Siehe den von Hans-Jürgen Schings herausgebenen Band: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994. Pfotenhauer, Literarische Anthropologie, S. 2. Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 9 und S. 230. Rieger, Die Individualität der Medien, S. 32. Vgl die Ausfälle von Wolfgang Riedel gegen Diskursanalyse und Systemtheorie in: Ders. Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 99 (Anm.7) und S. 147f. (Anm.104).
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Die Lesbarkeit
des
Menschen
bung in den Erbauungsbüchern, Beichthandbücher und -regularien. Diese Geschichte oder: Genealogie der Selbstthematisierungstechniken, die Frage nach der Beobachtung und kommunikativen Verarbeitung von Bekenntnissen des Menschen ist bisher nicht in den Fokus der literarischen Anthropologie gerückt. Im Gegenteil: Sie ignoriert, daß das »Wesen«, das im Mittelpunkt anthropologischer Forschungen steht, ein Wesen ist, das immer schon minutiös befragt und erschrieben ist. Die Gleichsetzung von Anthropologie mit Literatur und die Substantialisierung von Literatur als »Anthropologie sui generis« 7 oder gar als »umfassende, genaueste und [...] wahrste Anthropologie« 8 ist ihrerseits das Ergebnis einer massiven Umstellung des Wissens vom Menschen um 1800, die sowohl performativ als auch konstativ - an der Emergenz und der Entstehung des Menschen mitwirkt. 9 Die Etablierung eines so prekären Wissensobjekts, wie der Mensch es ist, bedarf sowohl einer wissenspolitischen wie medialen Aufrüstung, in deren Mittelpunkt der Mensch gerückt wird.
Der unablässig ergehende Befehl an die Subjekte, sich bis in die tiefsten Tiefen der eigenen Innerlichkeit zu beobachten und dies auch noch aufzuschreiben, setzt einen spezifischen Konnex zwischen Schriftlichkeit der Wissensverwaltung und skripturaler Selbstthematisierung voraus. Carl beschreibt diesen Zusammenhang satirisch in seiner geschichtsphilosophischen Skizze »Die Buribunken«: Jeder Buribunke wie jede Buribunkin ist verpflichtet, für jede Sekunde ihres Daseins Tagebuch zu führen. Die Tagebücher werden mit einer Kopie täglich abgeliefert und komraunalverbandsweise vereinigt. Die gleichzeitig vorgenommene Sichtung erfolgt sowohl nach Art eines Sachregisters wie nach dem Personalprinzip. Unter strengster Wahrung der an den einzelnen Eintragungen bestehenden Urheberrechte werden nämlich nicht nur die Eintragungen erotischer, dämonischer, satirischer, politischer und so weiter Natur zusammengefaßt, sondern auch die Verfasser distriktweise katalogisiert. Die alsdann vorgenommene Sichtung in einem Zettelkatalog ermöglicht es infolge eines scharfsinnigen Schemas, sofort die jeweils interessierenden Verhältnisse der einzelnen Personen zu ermitteln. Die so geordneten und gesichteten Tagebücher werden in regelmäßigen Monatsberichten dem Chef des Buribunkendepartements vorgelegt, der auf diese Weise eine ständige Kontrolle über den Gang der psychischen Entwicklung seiner Provinz hat und seinerseits einer Zcntralinstanz berichtet, die, unter gleichzeitiger Publi-
7 8 9
Pfotenhauer, Literarische Anthropologie, S. 1 Riedel, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 155 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 12f.
19 kation in der Esperantosprache, Gesamtkataloge führt und dadurch in der Lage ist, das gesamte Buribunkentum buribunkologisch zu erfassen. 10 D i e s e s Z i t a t a u s S c h m i t t s g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e m V e r s u c h k a n n als satiris c h e r K o m m e n t a r j e n e r s k r i p t u r a l e n T e c h n o l o g i e n d e r M a c h t u n d Literalisier u n g g e l e s e n w e r d e n , die sich a m E n d e d e s 18. J a h r h u n d e r t s in E u r o p a d u r c h s e t z t e n . Sie z e i c h n e n s i c h d u r c h » N o t i e r u n g s - , Registrierungs-, A u f l i s t u n g s - u n d T a b e l l i e r u n g s t e c h n i k e n « 1 1 aus, d e r e n E f f e k t d a r i n b e s t e h t , d a s n e u z e i t l i c h e S u b j e k t als e i n a u f l ö s b a r e s W i s s e n s o b j e k t z u k o n s t i t u i e r e n , d e s s e n S p u r e n sich in j e n e n » r u h m l o s e n A r c h i v e n « 1 2 f i n d e n , auf d i e z u g e g r i f f e n w e r d e n m u ß , w e n n es d a r u m geht, e t w a s ü b e r d e n M e n s c h e n z u w i s s e n . In d i e s e r H i n s i c h t ist die Frage, o b d i e Z u r e c h n u n g d e s W i s s e n s auf d e n M e n s c h e n , die m a n m i t L u h m a n n als A n t h r o p o l o g i s i e r u n g d e s W i s s e n s ü b e r d e n M e n s c h e n b e z e i c h n e n k a n n ' 5 , j e n e A n t h r o p o l o g i s i e r u n g also, die sich s c h l i e ß lich a m E n d e d e s 18. J a h r h u n d e r t s im H i n b l i c k auf d e n M e n s c h e n d u r c h s e t z e n wird 1 4 , n i c h t d u r c h e i n e v o n s y s t e m t h e o r e t i s c h e r Seite v o r g e s c h l a g e n e
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11
)2 15
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Unter-
Carl Schmitt: Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch. Zitiert nach Friedrich A. Kittler : Film-Grammophon-Typewriter, Berlin 1986, S. 345. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1994, S. 274. Ebd. Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, S. 11, S. 62 und passim. Auch in dieser Hinsicht berühren sich Evolutionstheorie und Diskursananalyse, die im Umbruch um 1800 einen für ihre Theorie signifikanten Zeitabschnitt sehen. Wenn hier und auch im folgenden von Evolutionstheorie die Rede ist, dann ist damit gleichzeitig angezeigt, daß die vorliegende Arbeit in der Operationalisierung systemtheoretischer Angebote darauf Wert legt, sich von den soziologisch orientierten Fragestellungen Luhmanns, die die Evolution der modernen Gesellschaft und der ihr adäquaten Soziologie im Blick haben, auf eine gewisse Art und Weise zu emanzipieren. Diese Emanzipation kann man als Annahme jener Angebote bezeichnen, die die Systemtheorie macht, aber von Luhmann selbst teilweise im Hinblick auf die Disziplin der Soziologie, teilweise im Hinblick auf die zunehmend theoriearchitektonischen Werke der >Spätphase< nicht weiterverfolgt wurden oder nicht weiter verfolgt werden konnten. So ist z.B. das Interesse der als Systemtheorie der Literatur betriebenen Literaturwissenschaft an Codes, Programmen und Funktionen der literarischen Kommunikation nicht die einzige Option, die systemtheoretische Fragestellungen innerhalb einer literaturwissenschaftlichen Methode nahelegen. Vgl. dazu Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992 und Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995. Vielmehr geht es um das kulturtheoretische Potential der Systemtheorie, das sich nicht in Fragen nach Code, Programm und Funktion erschöpft. Vgl. für einen ersten Versuch, die Fragestellungen der Systemtheorie für kulturtheoretische Themen handhabbar zu machen, die Beiträge in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hgg:): Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmanns. Berlin 1999.
20
Die Lesbarkeit
des
Menschen
Scheidung zu ersetzen wäre: jene von Bewußtsein und Kommunikation. Denn erst, wenn diese Differenz systematisch bearbeitet und beobachtet wird, sie also zum Thema der Kommunikation selbst wird, ist nach Auffassung der Systemtheorie eine Evolution des Wissens möglich. Unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten spielen mediengeschichtliche Transformationen eine bedeutsame Rolle.15 Sie sind es, die evolutionäre Prozesse begleiten. Zum Beispiel verstärkt der Buchdruck die kommunikative Tendenz, jenseits des sozialen Ortes Kommunikation zu ermöglichen und leitet somit die funktionale Ausdifferenzierung ein, die Kommunikation von ihrer Bindung an Stand und Geburt entwindet. Für Luhmann ist demnach von Bedeutung, inwieweit sich die mediengeschichtlichen Entwicklungen mit der Veränderung innerhalb der Sozialstruktur (Differenzierung nach Funktionssystemen substitutiert Stratification als primäres Ordnungsmuster) abgleichen lassen. Kommunikationstechnologien gewinnen ihre Bedeutung für die soziokulturelle Evolution dort, wo sie einerseits die soziale Reichweite der Kommunikation vergrößern und andererseits das Kommunikationsgeschehen von der Interaktion trennen und dadurch abstrakter werden lassen. Schrift erweitert das soziale »Kommunikationspotential in räumlicher und zeitlicher Hinsicht.« 16 Diese Erweiterung läßt die Einteilung der Gesellschaft in Schichten, deren Systemtypus der der Interaktion ist, allmählich schwinden und weicht einer Einteilung der Gesellschaft in Funktionssysteme, die, obzwar noch interaktionell zugänglich, sich nicht mehr ausschließlich durch die Beschreibung von Interaktionen fassen lassen: Die Kluft zwischen Interaktion und Gesellschaft ist unüberbrückbar breit und tief geworden. [...] Die Gesellschaft ist, obwohl weitgehend aus Interaktion bestehend, für Interaktion unzugänglich geworden. Keine Interaktion, wie auch immer hochgestellt die beteiligten Personen sein mögen, kann in Anspruch nehmen, repräsentativ zu sein für die Gesellschaft. Es gibt infolgedessen keine »gute Gesellschaft* mehr. Die in der Interaktion zugänglichen Erfahrungsräume vermitteln nicht mehr das gesellschaftliche Wissen, sie führen womöglich systematisch in die Irre. [...] Tatsache ist, daß keine Interaktion mehr in der Lage ist, für die Teilnehmer mit der Überzeugungskraft der Anwesenheit den Sinn der Gesellschaft zu vergewissern. 17
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16
17
Vgl. Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1985, S. 11-33. Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: ders. : Soziologische Aufklärung. Bd. 2, Opladen 1991, S. 170-192, hier: S. 173. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984, S. 585.
21 Die Gesellschaft hat nicht nur aufgehört, die Summe ihrer Interaktionen zu sein oder diesen zumindest zu ähneln. Vielmehr entzieht sich die Steuerbarkeit der Gesellschaft der Interaktion. Schriftlichkeit ist aber nicht nur Voraussetzung der funktionalen Differenzierung, sondern sie verändert auch die Selbstbeschreibung der Kommunikation. Denn nicht allein die Techniken sind es, die gesellschaftliche Prozesse steuern, sondern vielmehr geht um die gesellschaftliche Verhandlung mediengeschichtlicher Evolution, die hier versuchsweise mit dem heuristischen Term »Mediensemantik« beschrieben werden soll. Er kann die durch Medienentwicklungen ausgelösten Veränderungen innerhalb der »gepflegten Semantik« 18 einer Kultur beschreiben. Denn die Frage nach der »bewahrenswerte[n] Kommunikation« 19 , die innerhalb der gepflegten Semantik austariert wird, ist die Frage nach der Selbstbeschreibung einer Kultur, die sich ohne die Frage nach der Funktion von Medien und ihren Programmen nicht sinnvoll beschreiben läßt. Mediensemantik reflektiert einen Prozeß, der die kommunikationslogische Differenz zwischen Bewußtsein und Kommunikation in die Kommunikation wieder eintreten läßt. Mediensemantiken wären insofern als Figuren des ReEntry zu beschreiben. Sie sind somit Selbstbeschreibungen der Kultur durch die Beobachtung und Bewahrung von Kommunikationen, die Versuche darstellen, Medienentwicklungen, -einsätze und -funktionen als spezifische Form der Kommunikation von anderen zu differenzieren. Anhand der Auswirkungen von Schriftlichkeit lassen sich mediensemantische Veränderungen illustrieren. Schrift hat für die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation, von Operationen des Bewußtseins wie Gedanken, Motiven, Absichten einerseits und Beobachtung bzw. Bearbeitung derselben durch Kommunikation andererseits eine ganz besondere Bedeutung. Sie verstärkt die Frage nach der Differenz zwischen Bewußtsein und Kommunikation und kann dadurch zum Motor der Frage nach dem Menschen werden. Zieht man das systemtheoretische Kommunikationsmodell 20 zu Rate, so ergeben sich hieraus aufschlußreiche Konsequenzen. Das systemtheoretische Modell lebt von zwei Selektionen: der Selektion der Information und der Mitteilung. Verstehen ist die Einsicht in die Differenz dieser beiden Selektionen; die Einsicht in das Selektierte und in die Selektionsmodi. Ist im Sprechen idealerweise eine Kopräsenz der beiden Selektionen gegeben, so wird durch die Verschriftlichung der Kommunikation diese Kopräsenz gleichsam vom instantanen Akt des Aussprechens entkoppelt und damit temporalisiert. Die Entkoppelung hat aber ls
Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und semantische Tradition. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wisscnssoziologic der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt/M. 1981, S. 9 - 7 1 , hier: S. 19. w Ebd. 20
Vgl. dazu und zu allem Folgendem: Luhmann, Soziale Systeme, S. 193ff.
22
Die Lesbarkeit
des
Menschen
für die Mitteilung die Konsequenz, daß diese - kommunikationstheoretisch gesehen - nicht mehr nur als »Dienerin der Information« 21 fungiert. Sie kann, aber muß nicht zwangsläufig dieses Amt erfüllen. Die Mitteilung kann somit ganz andere Aufgaben erfüllen, als die Information zu repräsentieren oder zu übertragen: Erst die Schrift erzwingt eine eindeutige Differenz von Mitteilung und Information. Erst Schrift und Buchdruck legen es nahe, Kommunikationsprozesse anzuschließen, die nicht auf die Einheit von Mitteilung und Information, sondern gerade auf ihre Differenz reagieren. 22
Der Mitteilungsaspekt der Kommunikation ist es, der eine spezifische Mediensemantik in Gang setzt. Denn unter den Bedingungen der Schriftlichkeit ist der Mitteilungsaspekt zunehmend der Verdächtigung ausgesetzt, das, was eigentlich gesagt werden soll, zu verschleiern oder zu entstellen. Die daran anschließende Kommunikation ist »Artikulation eines Verdachts«, 23 denn in ihr geht es darum, den Hiatus zwischen Information und Mitteilung zu beobachten und für weitere Kommunikation anschließbar zu machen. Aus diesem Grunde zeigen Selbstbeschreibungen der Kommunikation in der frühen Neuzeit auch immer häufiger ein Interesse an unverstellten Zeichenpotentialen, denen zugetraut wird, die Information gleichsam unverfälscht zu übertragen. Luhmann hat dies folgendermaßen umrissen: Einmal in Kommunikationen verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück. Dies wird typisch am (erst für die Neuzeit aktuellen) Thema der Aufrichtigkeit vorgeführt. Aufrichtigkeit ist inkommunikabel, weil sie durch Kommunikation unaufrichtig wird. Denn Kommunikation setzt die Differenz von Information und Mitteilung und beide als kontingent voraus. Man kann dann sehr wohl auch über sich selbst etwas mitteilen, über eigene Zustände, Stimmungen, Einstellungen, Absichten; dies aber nur so, daß man sich selbst als Kontext von Informationen vorführt, die aber auch anders ausfallen könnten. Daher setzt Kommunikation einen alles untergreifenden, universellen, unbehebbaren Verdacht frei, und alles Beteuern und Beschwichtigen regeneriert nur den Verdacht. So erklärt sich auch, daß das Thema relevant wird im Zuge einer gesteigerten Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems, das dann mehr und mehr auf die Eigenart von Kommunikationen reflektiert. Die Unaufrichtigkeit der Aufrichtigkeit wird zum Thema, sobald man die Gesellschaft erfährt als etwas, was nicht durch Naturordnung, sondern durch Kommunikation zusammengehalten wird. 24
Wenn sich darüber hinaus auch die Medien der Kommunikation ändern, deren Rolle in der Selbstbeschreibung von Kommunikation immer wieder reflektiert wird, dann hat dies massive Konsequenzen für die Selbstbeobachtung der Sub-
21 22 25 24
Luhmann, Soziale Systeme, S. 223. Ebd. Ebd. Luhmann, Soziale Systeme, S. 207.
23 jekte. Die Interaktion als Form der Sozialität kennt andere Strategien der Selbstbeobachtung und -Inszenierung als jene, die unter den Bedingungen einer akkumulierten
Schriftlichkeit
beobachtbar
sind. Das Zusammenspiel
zwischen
Selbst- und Fremdreferenz in der Kommunikation funktioniert unter Interaktionsbedingungen vollkommen anders als unter den Bedingungen der Kommunikation unter Abwesenden. Denn die Simultanpräsenz von Selbst- und Fremdreferenz in der alteuropäischen Sozialität birgt ganz andere Möglichkeiten in sich, welche die Aktualisierung und Operationalisierung dieser Differenz betreffen. Die Orientierung am Stand und damit am sozialen Ort wird in der Kommunikation immer mitgeführt, was auch für den Selbstbefrager massive Konsequenzen hat. Denn die Möglichkeit, sich als exkludiert zu beschreiben, sich gleichsam als Sprechenden/Schreibenden jenseits seines sozialen Ortes zu erleben, besteht noch nicht bzw. sie wäre sozial irrelevant gewesen. Aus diesem Grunde kennt das 17. Jahrhundert weder Individualität noch das Drama zwischen Individualität und Gesellschaft, das Texte wie Goethes Werther oder Moritz' Anton Reiser inszenieren. Dieses Drama ist dem 17. Jahrhundert vollkommen verschlossen. Erst im allmählichen Aufbegehren des Bürgertums zu Beginn des 18. Jahrhunderts zeigt sich eine veränderte Semantik des Bekenntnisses. Es wird nicht mehr als Störung der höfischen Kommunikation empfunden, gleichsam als Dislokation des Sprechens 25 , sondern als Bedingung der Inklusion in soziale Systeme wie das der Liebe, der Ehe oder der Familie. Dadurch kann man den spezifischen Einsatz der Schriftlichkeit nun näher beschreiben. Die Selbstbeschreibungen der Kommunikation in der Schriftförmigkeit der gepflegten Semantik Alteuropas beobachten Mündlichkeit und Konversation oder allgemeiner formuliert: Kommunikationsszenarien der Interaktion. Die Mediensemantik entlastet aber auch gleichzeitig die Interaktion, da sie als Reflexionstheorie funktional zu arbeiten beginnt und von daher funktionale Ausdifferenzierung vorbereitet. Unter diesen Voraussetzungen kann Wissen über den Menschen in der Frühen Neuzeit eine »soziale Tatsache« 26 werden, d.h. eine Frage und einen Anspruch an Kommunikation artikulieren und darüber hinaus Eingang in die »gepflegte Semantik« finden. Im Hinblick auf diese Fragestellung dieser Arbeit ist es von besonderer Relevanz, daß insbesondere die religiöse Kommunikation Alteuropas einer der »Hauptverwalter«
anthropologischen
Wissens
und
seiner
Kommunikation
gewesen ist. Die Religion beziehungsweise die religiöse Kommunikation leistet 25
Dies zeigt sich auch an der veränderten Semantik der Einsamkeit im Ausgang des 18. Jahrhunderts. Der Einsame Alteuropas wurde mit einer Semantik des Verdachts überzogen, da das Zurückziehen aus den Interaktionsräumen der höfischen Gesellschaft konsequenterweise als Verweigerung der Kommunikation beobachtet wurde. Vgl. Koseborke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 1 6 0 - 1 6 8 .
26
Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 68.
24
Die Lesbarkeit
des
Menschen
unter den Bedingungen Alteuropas das, was man mit Luhmann Totalinklusion nennen könnte. Die Zugehörigkeit zum sozialen System der Religion, die Fähigkeit, religiös kommunizieren zu können, garantierte die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Die Funktion der Totalinklusion ist es, die im Laufe des 18. Jahrhunderts verloren geht. Gleichwohl zeitigt das gesellschaftliche Ordnungsmuster der Stratifikation - d.h. der Beschreibung des Sozialen mit Hilfe der oben/unten Leitdifferenz - Konsequenzen für das soziale System der Religion. Die stratifikatorische Ordnungssystematik wird religiös reformuliert. Im Rückblick zeigt sich rasch, daß Religion in vorneuzeitlichen Gesellschaften noch deutlich einen Status von gesamtgesellschaftlicher Relevanz besitzt. Sie bietet für alle Funktions- und Medienbereiche noch eine Art Grundsicherheit und Variationsschranke. 2 7
Die Differenzierung zwischen Klerus und Laien beispielsweise ist eine Abbildung stratifikatorischer Ordnungstypik, die die Ordnung des Sozialen in der Ordnung der Kommunikation wiederholt. Die funktional ausdifferenzierte Form des Sozialen - die unterschiedlich programmierte und codierte Systemkommunikation - findet unter den Bedingungen Alteuropas kein Pendant. Der primäre Systemtyp ist daher der der Interaktion, der »[seine] Einheit und [sein] Selektionsprinzip in der wechselseitigen Wahrnehmung von Anwesenden findet und [seine] Grenzbildung durch Anwesenheit markiert.« 28 Interaktion im Unterschied zu Organisation und Gesellschaft - ist dasjenige soziale System, das seine Operationen und die Kommunikation an die Anwesenheit bindet. Organisationen, die ihre Operationen ja durchaus über Interaktion reproduzieren, binden die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen, die die Ex- und Inklusion formell regulieren. Die Gesellschaft ist das umfassende, sowohl Interaktion und Organisation integrierende Sozialsystem, ohne daß die Beschreibbarkeit der Gesellschaft in einer Beschreibung der Interaktion oder Organisation restlos aufginge. Die Rolle der Interaktion für die Sozialität Alteuropas läßt sich kaum unterschätzen, ist es doch die Oberschichteninteraktion, die die Erhaltung und Stabilität des Differenzierungstypus der Stratifikation symbolisiert. 29 Die Interaktion in Oberschichten ist immer »repräsentativ[e] Interaktion.« 30 Genau diese Funktion ist es, die die Interaktion im Laufe der funktionalen Ausdifferenzierung verliert.
27 28 29
50
Niklas Luhmann: Die Funktion der Religion. Frankfurt/M. 1977, S. 102. Stöckmann, Vor der Literatur, S. 18. Vgl. Niklas Luhmann: Interaktion in Obcrschichtcn. Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 72-161. Andre Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt/M. 1999, S. 408.
25 Der Verlust der religiösen Integrationsleistung ist nur vordergründig mit dem Begriff der Säkularisierung zu beschreiben. 31 Der Ausdifferenzierungsprozeß des Religionssystems verursacht das allmähliche Schwinden einer religiösen Reformulierung sozialer wie individualer Identität und zieht damit den Verlust an sozialer Inklusionskraft durch Religion nach sich.32 Man hat in der Religion wesentliche Motivatoren der Evolution der modernen Gesellschaft gesehen. Ein wesentlicher Beitrag liegt in der Individualisierung der Motive und der damit ausgelösten Zurechenbarkeit devianten Verhaltens auf den Einzelnen, was dann ein gesellschaftliches und semantisches Potential für das System der Wirtschaft, der Kunst und der Liebe bereitstellen konnte. Die Ausdifferenzierung des Religionssystems setzt die Entdeckung der gesellschaftlichen, der polykontexturalen Umwelt voraus, zu der sich die Religion als different wahrnehmen muß. Diese Differenzierung erzeugt ein Bezugsproblem, an dem sich systeminterne Operationen ausrichten können. Die Religion entdeckt, daß ihr Potential nicht mehr hinreicht, die Person 33 vollständig zu inkludieren und sie in der Gesellschaft restlos zu verankern, daß die Exklusivität theologisch codierter Beschreibungen von gesellschaftlichen Teilsystemen angesichts eines zunehmenden Komplexität individualer wie sozialer Verhältnisse nicht mehr hinreichend ist. Die Funktion der Religion besteht in der modernen Gesellschaft in der kommunikativen Behandlung der Unterscheidung zwischen dem, was beobachtbar und dem, was unbeobachtbar ist.34 In jeder Kommunikation findet ein Verweis auf ein Unbeobachtbares statt, auf das, was man in der Systemtheorie den »Blinden Fleck« nennt. Der terminus technicus soll nichts anderes zum Ausdruck bringen, als daß jede Form, d.h. jede Unterscheidung eine Grenze zieht zwischen dem, was beobachtet wird und dem, was nicht beobachtet und von daher ausgeschlossen wird. Das Unbeobachtbare wird stets mitgeführt, aber nicht bezeichnet. »In dieser Hinsicht«, heißt es im Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, »impliziert alle Kommunikation Religion.«35 Religion macht die Differenz zwischen Beobachtbarem / Nicht-Beobachtbarem zu ihrem kommunikationslogischen Hauptbezugsproblem und verweist - paradoxerweise
31 32
33
34
35
Vgl. Luhmann, Die Funktion der Religion, S. 225-272. Vgl. Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung der Religion. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3., Frankfurt/M. 1989, S. 259-358, insb. S. 263ff. Vgl. Niklas Luhmann: Die Form Person. In: ders. : Soziologische Aufklärung. Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, S. 142-155. Vgl. Luhmann, Die Funktion der Religion., S. 9 - 7 2 und ders. : Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. Andre Kieserling. Frankfurt/M. 2000, S. 115ff. Claudio Baraldi/ Giancarlo Corsi/ Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer System. Frankfurt/M. 1999, S. 156.
26
Die Lesbarkeit
des
Menschen
und wohl als einziges Funktionssystem - in der Kommunikation immer wieder auf die Einheit jener Differenz. Diese spezifischen, aber auch gleichzeitig generalisierbaren Kennzeichen der religiösen Kommunikation sind für die vorliegende Untersuchung Anlaß genug, den kommunikativen Operationen in bezug auf den religiösen Menschen, der nach systemtheoretischer Auffassung in der Umwelt des sozialen Systems lokalisiert ist, eine theoretische wie historische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Man hat bisher den Selbstbeschreibungen der religiösen Kommunikation innerhalb dieser Problematik wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht. Denn die Evolution der religiösen Kommunikation läßt innerhalb der Gemeindeorganisation Beobachter von Kommunikation entstehen, die Selbstbeobachter beobachten, die wiederum durch die Pflicht zur Lektüre von Erbauungsbüchern mit einem Wissen über die Selbstbeobachtung versorgt werden. Die beobachtbare rekursive Anwendung dieses Wissens auf sich selbst macht diese Kommunikationsstrategien zu einem evolutionären Mechanismus in der Entstehung eines spezifisch neuzeitlichen Menschenwissens. 3 6 In ihrer Anthropozentrierung machen sie das religiöse Individuum zu einem »Trägerbegriff des Wissens« 37 , gleichsam zu einem Medium im Sinne der Theorie Stefan Riegers. 58 Darüber hinaus hat die Materialität dieser Kommunikation eine spezifische Pointe. Die »Verdatung« des Lebens und die Schriftförmigkeit des Wissens darüber beschreibt Foucault folgendermaßen: Es ist eine Anthologie von Existenzen. Es sind Leben von wenigen Zeilen oder etlichen Seiten, es sind Unglücke oder Abenteuer ohne Zahl, zusammengerafft in einer handvoll Wörter. Kurze Leben, angetroffen im Zufall der Bücher und der Dokumente. 3 9
Dieses Glück des Findens und die aufgefundenen »Anthologien« von vergessenen Existenzen hat Konsequenzen für die Autobiographieforschung, die diese scheinbare Banalität des aufgeschriebenen Lebens eher vernachlässigt und sich der Archivkultur des Autobiographischen bisher nur in Ansätzen genähert hat.40
56 37 38
39 40
Vgl. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 271-362. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 127. Die Tradition nimmt Stefan Rieger nicht in >Die Individualität der Medien« auf. Gleichwohl ist sein anthropologisches Konzept - das Individuum unter den Laborbedinungen der Psychiatrie und der Psychologie - ein spezifisch modernes, das sich erhofft, von der Institutionalisierung der Exklusion Aufschlüsse über die »Steigerung des Menschen« (12) durch Wissensakkumulation zu bekommen. Dieses Konzept ist aber nicht ohne weiteres auf alteuropäische Verhältnisse zu übertragen. Michel Foucault: Das Leben der infamen Mcnschcn, Berlin 1993, S. 7. Ausnahmen bestätigen die Regel. Vgl. die historisch-systematische Einleitung in Manfred Schneider, Die erkaltete Herzensschrift: Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München - W i e n 1986, S. 19. Vgl. William Haller: The Rise of Puritanism or,
27 Für den in dieser Arbeit hauptsächlich untersuchten Zeitraum gilt, daß das spezifische Verhältnis zwischen der Mündlichkeit der Gemeindekonversation bzw. der Geständnisse und des schriftlich produzierten Wissens besondere Aufmerksamkeit genießen wird. Die zunehmende Verschriftlichung des anthropologisch-religiösen Wissens durch den Protestantismus in Folge des Buchdrucks zeigt, wie eine Gesellschaft allmählich die Schrift über die Vorteilhaftigkeit eines schriftförmigen Gedächtnisses hinaus als prominentes Kommunikationsmedium nutzt und somit eine spezifische Mediensemantik in Gang gesetzt, die in den kommunikativen Szenarien Thema werden kann. Dies hat Konsequenzen für die Funktion und die Semantik des Bekenntnisses, die sich in folgende Frage fassen läßt: Welche Institutionen oder Organisationen überprüfen ihre Dogmatik und ihre kommunikativen Ordnungen anhand intimer Daten? Nun heißt Diskursivierung beileibe nicht Unterdrückung. Diskursivierung bezeichnet vielmehr das genaue Gegenteil: nämlich eine extensive Thematisierung von Körperlichkeit auf der Ebene des Diskurses, wie es Foucault in >Der Wille zum Wissen< gezeigt hat. Die Rede über den Körper wäre somit eine jener Reden, über die sich Foucault zufolge ein »viktorianisches Regime« 41 erhebt. Foucault hat bekanntlich darauf insistiert, daß jenseits der konventionellen »Repressionshypothese« 42 sich eine weitaus effektvollere Ökonomie des Sprechens/Schreibens etabliert, die das scheinbar Unterdrückte geradezu produziert und anreizt, indem diese Ökonomie unablässig beobachtet, aufschreibt bzw. aufschreiben läßt, klassifiziert und auswertet. Jene »Anreizung zu Diskursen« 43 ist also als strategische Operation lesbar, die das Verbotene detailliert und unaufhörlich beschreibt und befragt. Der Wille zum Diskurs ist somit, wie Foucault genau formuliert, ein Wille zum Wissen über den Menschen, der sich selbst restlos erkennen möchte, indem er sich - Objekt wie Bedingung von Wissen - unablässig und ständig befragen läßt. Daher wird man nicht davon sprechen können, daß die extensive Thematisierung von Körperzeichen »Ausdruck dessen sei, was Schreiben nachhaltig verweigert: Körperlichkeit, Körperempfindung und -ausdruck.« 44 Schönborns an der Fiktion einer unterdrückten Körperlichkeit operierende Körpergeschichte verkennt, daß die Thematisierung von Körperzeichen dem institutionellen Aufschreibbefehl des Protestantismus gehorcht.
T h e Way to the N e w Jerusalem as set forth in Pulphit and Press to J o h n Liburne and J o h n Miltorn, 1 5 7 0 - 1 6 4 3 , L o n d o n / N e w York 1965. 41
M i c h c l Foucault: D e r Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, F r a n k f u r t / M . 1 9 9 1 ,
42
Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 19ff.
43
Foucault, D e r Wille zum Wissen, S. 2 7 .
44
Ulrike S c h i m b o r n : Das B u c h der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und
S. 11.
Kunstperiode. Tübingen 1999, S. 19.
28
Die Lesbarkeit
des
Menschen
Die mit den unablässig fließenden Daten der Selbstprüfung angefüllten Archive des Protestantismus lassen es somit zu, mit Foucault von einer »politischen Anatomie des Körpers« 45 zu sprechen. Die Politiken nicht nur des Strafrechts durchziehen den Körper und vermessen sein Inneres. Die »politische Anatomie« und ihre Operationen definiert Foucault folgendermaßen: Aber der Körper steht auch im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn, sie umkleiden ihn, sie markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen. 46
Es kann also in gar keinem Falle die Rede von einem Apriori des Körpers sein. Der Körper der Einzelnen ist immer auch sozialer Körper, ein Faktum im Wortsinne. Man könnte von einer Politik des Körpers sprechen, die darin besteht, den Körper in eine soziale Tatsache zu verwandeln, ihn in eine semiotische Offenbarungsstätte umzuschreiben. Die von Foucault angeführte Verpflichtung zu Zeremonien und die Entlockung von Zeichen wären in diesem Sinne als eine Politischen immanente Technologien des Zeichens zu befragen. Es geht darum, wie man von diesen Zeichen auf der Oberfläche des Körpers auf den Zustand des Subjekts schließen kann. Die Zeichen auf der Oberfläche des Körpers sind prekär, weil sie uneindeutig und interpretationsanfällig sind. Allein auf der Ebene des Zeichenverkehrs kann geklärt werden, ob dieses oder jenes Zeichen (Erröten, Erbleichen o.a.) als Indiz für die Existenz einer Sünde gesehen wird. Foucault hat in seiner Arbeit >Der Wille zum Wissen< darauf hingewiesen, daß die christliche Pastoral dem Sex und dem Begehren die Rolle eines beunruhigenden Geheimnisses zugewiesen hat, dessen Existenzmodus der der »heimtückischen Präsenz« 47 sei. Um den Sex aus seiner heimtückischen Existenz in eine offenbare Präsenz zu überführen, muß man die Leute sprechen machen, ihnen Geständnisse entlocken. Wo vorher die Latenz der Sünde war, soll die Manifestation der Zeichen werden. Dies ist nur möglich, wenn man die seinen Sex betreffende Rede eines Subjekts als eine jener Strategien betrachtet, mit Hilfe derer es gelingt, aus Menschen Subjekte zu machen, Subjekte des Begehrens entstehen zu lassen und dieses Begehren gleichzeitig zu individualisieren. 48
45 46 47 48
Foucault, Überwachen und Strafen, S. 40. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 37. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 49. Dies schließt an Foucaults Arbeiten zu einer »Problemgeschichte« der Subjektivierungstechniken an: »Ich meine die Entwicklung von Machttechniken, die auf Individuen zielen und diese auf stetige und beständige Weise lenken sollen.« Michcl Foucault: Omncs et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft. In: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt/M. 1994. S. 65 -94, hier: S. 67.
29 Man wird aber zusätzlich und vielleicht auch über Foucault hinaus danach fragen müssen, hinsichtlich welcher Veriaßtheit von Gesellschaft, hinsichtlich welcher Verfaßtheit des Gesellschaftskörpers die Wahrnehmung des Individualkörpers ratifiziert wird. Der moderne Gesellschaftskörper ist nur unzureichend mit der von Foucault immer wieder aufgerufenen Disziplinargeseilschaft umschrieben - dies vor allem deswegen, weil das Drama der Disziplinierung scheinbar restlos die Welt Alteuropas ersetzt hat. Es geht in den an Foucault orientierten Analysen um Geneaologien dessen, was am Ende des 18. Jahrhunderts die Diskursregimes der Neuzeit gewesen sein werden. Gegenüber dieser Sicht der Dinge macht es sich die vorliegende Untersuchung zur Aufgabe, der Umstrukturierung der Gesellschaft semantisch dort nachzufolgen, wo es um die Funktion der Bekenntnisse geht. Die für die Evolution des Menschenwissens zunehmende Relevanz der Bekenntnisse einerseits und die internen Probleme der Kommunikation von Aufrichtigkeit andererseits verdeutlichen, daß man die Bekenntnisse strategisch im Sinne Foucaults und beobachtungslogisch im Sinne Luhmanns befragen kann. Strategisch deswegen, weil die Daten der Selbstprüfung, die unablässig ergehende Selbstbefragung und die stetig fließenden Federn der Selbstbeobachter im Rahmen des Protestantismus das rechte Beherrschen und Beobachten seiner selbst in den Mittelpunkt stellen und einen bestimmten Einsatz des Wissens des Subjekts von sich selbst fordern. Sie inszenieren und zeigen den Zusammenhang zwischen Sozialisationspraktiken und Textproduktion, ein Zusammenhang, der weit über die von Elias analysierte Entwicklung einer Selbstzwangapparatur hinausgeht. Beobachtungslogisch deswegen, weil der in den Erbauungs- und Verhaltenslehrbüchern des Pietismus und der Frühaufklärung thematisierte Modus der Beobachtung, die Art und Weise, sich selbst und andere zu beobachten und zu befragen, die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation reflektiert und mit der Einsicht in die kommunikative Unzugänglichkeit bewußtseinsförmiger Intentionen und Motive der Verdacht der Unaufrichtigkeit auftritt; jener Verdacht, der dazu führt, insbesondere solche Zeichen für wichtig zu halten, die unwillkürlich entstehen und somit ein durch die Kommunikationslogik und -rituale unkorrumpiertes und damit unverstelltes Potential bereithalten. Aufgrund dieses Potentials eignen sich diese Zeichenkonglomerate für anthropologische Lektüren. 49 Die zeichen- bzw. kommunikationstheoretischen Überlegungen sind auf weitreichende soziostrukturelle Veränderungen zu beziehen. Im Gegensatz zu alten
49 50
Vgl. dazu die Untersuchung von Geitner, Die Sprache der Verstellung, insb. S. 112-116. Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 158.
30
Die Lesbarkeit
des
Menschen
Entwürfen der Biographie, deren Struktur als Imitation stratifikatorischer Ordnungen bezeichnet werden kann, hat es die moderne Biographie mit dem Problem zu tun, daß die Parameter der Exklusion die Erzählbarkeit des eigenen Lebens bestimmen. 50 Das Individuum wird »sozial ortlos.« 51 Innerhalb der gesellschaftlichen Ordnungen der funktionalen Ausdifferenzierung findet das Individuum seinen Platz erst dann, wenn es die grundlegende Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft realisiert und als Medium für Formgewinnung nutzt, d.h. als transzendentale Bedingung der Erzählung seines Lebens in die Erzählung selbst mit einbezieht. Biographien, genauer: moderne Biographien stehen »nicht mehr im Zeichen einer gesellschaftlichen oder funktionalen Bestimmtheit.« 52 Individualität wird zur Auszeichnung und zum Anspruch: Dem Individuum wird jetzt zugemutet, sich durch Bezug auf seine Individualität zu identifizieren, und das k a n n nur heißen: durch Bezug auf das, was es von allen anderen unterscheidet. Selbstbeobachtungen u n d Selbstbeschreibungen k ö n n e n sich jetzt nicht mehr, oder allenfalls äußerlich, an soziale Positionen, Zugehörigkeiten, Inklusionen halten. Dem Individuum wird zugemutet, in Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung auf seine Individualität zu reagieren. 55
Das moderne Subjekt muß, wie es die Schmittsche Genealogie der politischen Romantik weiß, durch diese Zumutungen »Dombaumeister an der Kathedrale seiner eigenen Persönlichkeit« 54 werden. Dieses Herausfallen des modernen Individuums aus den Behaglichkeiten der Inklusion eröffnet für die Lebenserzählung einen Horizont des Unbestimmten und der Kontingenz, vor dem die Erzählbarkeit des Individuums steht. Diese Veränderung betrifft natürlich auch die Literatur und die Darstellung eines gelebten Lebens in ihr. Literarische Kommunikation ist in alteuropäischen Zeiten in einem heteronomen Feld gesellschaftlicher Kommunikation situierbar. Sie ist gebunden an die unterschiedlichen Wissensformen, von denen sie sich irritieren läßt und gegen die sie sich am Ende des 18. Jahrhunderts nach einem langen evolutionären Prozeß ausdifferenzieren wird - Theologie und Religion, Moral, Politik und politische Klugheit, Rhetorik, Poetik. Es geht in dieser Arbeit um die Irritations- und Kontaktverhältnisse, die zwischen theologischer bzw. protestantischer Dogmatil« zum einen und autobiographischer Selbstthematisierung und Schriftmedium zum anderen beobachtet werden können.
51
Niklas L u h m a n n : Liebe als Passion. Z u r Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982, S. 16.
52
Wilhelm Voßkamp: Individualität-Biographie-Roman. In: Lebensläufe um 1800, S. 2 5 6 261, hier: S. 256.
53
L u h m a n n , Individuum, Individualität, Individualismus, S. 154.
54
Carl Schmitt: Politische Romantik. Neusatz auf Basis der 1925 erschienenen zweiten Auflage. 6. Aufl. Berlin 1998, S. 21.
II.
31
D i e s e Irritationsverhältnisse h a b e n unmittelbar mit den strukturellen E i g e n h e i t e n v o r m o d e r n e r K o m m u n i k a t i o n zu tun. D e m stratifikatorischen Differenzierungstypus fehlen schlichtweg die M ö g l i c h k e i t e n , K o m m u n i k a t i o n e n gegeneina n d e r zu differenzieren. D i e Ordnungsleistungen des stratifikatorischen Differenzierungstypus, die sich a m sozialen Ort des S p r e c h e n d e n ausrichten, bewirk e n ein - im Vergleich zur f u n k t i o n a l e n Differenzierung - geringes M a ß an eigendirigierter K o m m u n i k a t i o n ; w a s zur Folge hat, d a ß alles, was literarisch gesagt wurde, unmittelbare R e s o n a n z e n im religiösen, m o r a l i s c h e n oder politis c h e n System erzeugt oder erzeugen k a n n . G l e i c h w o h l verliert dieses M o d e l l der S e l b s t b e s c h r e i b u n g v o n K o m m u n i k a t i o n im Laufe des evolutionären Prozesses a l l m ä h l i c h an Gültigkeit, den m a n als Ausdifferenzierung v e r s c h i e d e n e r F u n k t i onssysteme b e s c h r e i b e n k a n n .
Für die E v o l u t i o n u n d die E p i s t e m o l o g i e der A n t h r o p o l o g i e ist das religiöse W i s s e n v o n e n t s c h e i d e n d e r B e d e u t u n g . D i e Z u s a m m e n h ä n g e z w i s c h e n Literatur u n d Religion, z w i s c h e n literarischer K o m m u n i k a t i o n u n d religiöser K o m m u n i k a t i o n lassen sich bis weit ins 18. J a h r h u n d e r t als ein Verhältnis des Aust a u s c h e b e s c h r e i b e n . Z w a r lassen sich die e v o l u t i o n ä r e n M e c h a n i s m e n - Variat i o n , S e l e k t i o n , Stabilisierung u n d R e k o m b i n a t i o n s y s t e m i s c h e r E l e m e n t e 5 5 , die n a c h e v o l u t i o n s t h e o r e t i s c h e r Auffassung die Ausdifferenzierung v o n
Funkti-
o n s s y s t e m e n steuern u n d s o m i t eine K y b e r n e t i k s o z i o k u l t u r e l l e r E v o l u t i o n darstellen, bereits in den i n t e r n e n P r o b l e m e n des b a r o c k e n u n d frühaufkläreris c h e n p o e t o l o g i s c h e n W i s s e n s n a c h w e i s e n , d o c h die literarische K o m m u n i k a t i o n als eigendirigiert v e r f a h r e n d e s u n d v o r allem a u t o n o m e s S o z i a l s y s t e m existiert n o c h n i c h t . Aus diesem G r u n d e ist die E n t s c h e i d u n g für die B e o b a c h t u n g der religiösen K o m m u n i k a t i o n , die das A r c h i v m ö g l i c h e r S e l b s t b e s c h r e i b u n g e n a u c h der literarischen K o m m u n i k a t i o n e n enthält, darin begründet, d a ß Literatur respektive die A u t o b i o g r a p h i e als G a t t u n g des Literatursystems die religiösen K o m m u n i k a t i o n s m o d a l i t ä t e n u n d - b e s c h r e i b u n g e n im Z u g e der Ausdifferenzierung übern i m m t . Aus diesem G r u n d e b e s t e h t der Beitrag, den sich die U n t e r s u c h u n g zur T h e o r i e literarischer E v o l u t i o n zu leisten verspricht, aus d e m V e r s u c h ,
die
Heterogenität und H e t e r o t o p i e der literarischen K o m m u n i k a t i o n des 17. Jahrhunderts im H i n b l i c k auf die religiöse K o m m u n i k a t i o n zu b e s t i m m e n . M a n hat dies in der Literaturwissenschaft b i s h e r mit Hilfe des M o d e l l s der Säkularisierung b e s c h r i e b e n . In diesem L i c h t e r s c h i e n dann a u c h die G e s c h i c h -
55
Vgl. Stöckmann, Vor der Literatur, S. 363 - 3 7 3 .
32
Die Lesbarkeit
des
Menschen
te der Autobiographie als Geschichte der Säkularisierung ehemals religiöser Selbstbeobachtungstechniken durch eine zunehmend weltlich sich verstehende Literatur und Biographie. 56 Man hat dies vor allem am Pietismus zu zeigen versucht. Der pietistischen Tendenz zur Selbstbeobachtung wohnt gewissermaßen ein Drang inne, sich zum autobiographischen Bericht zu entwickeln - Werthers Leiden sind die säkularisierte Form des Bußkampfes im Medium der Liebe57, Anton Reisers Zerknirschung und Psychopathologie ein Bastard des pietistischen »Trauerbefehls« 58 , die Bekenntnisse einer schönen Seele in Wilhelm Meisters Lehrjahren zeigen die notwendige Ersetzung einer religiösen Bildungsgeschichte durch die säkulare Wilhelms. Die in der Forschung immer wieder angeführte Übernahme pietistischer Affektbeschreibungen und -modellierungen in Gellerts Schwedischer Gräfin von G***, Sophie La Roches Geschichte des Fräulein von Sternheim und Jung-Stillings Lebensgeschichte machen den Pietismus zum paradigmatischen Gegenstand der Säkularisierungsthese, die darin besteht, die pietististischen Techniken aus ihrem religiösen Funktionszusammenhang entwendet und sie in »rein weltliche« 59 verwandelt zu haben: Insofern bietet die Adaption der Affektkultur des Pietismus durch die Empfindsamkeit der (späten) Aufklärung ein höchst charakteristisches Beispiel für den Prozeß literarischer Säkularisierung im Zeichen der Umwertung religiöser Interpretamente und spiritueller Funktionszusammenhänge. 60
Nun wohnt diesen ideengeschichtlichen Perspektiven bei aller Richtigkeit der Einzelbefunde die Tendenz inne, die aus dieser »Umwertung« resultierenden Probleme wenig bis gar nicht zu belichten. Eine der profundesten Darstellungen zu diesem Thema ist die mittlerweise vor 40 Jahren in Erstauflage erschienene Studie Gerhard Kaisers >Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation.< Kaisers Studie geht davon aus, daß es nicht unbedingt die Ubernahmetechniken am Ende des 18. Jahrhunderts sind, die die Wirkungsmächtigkeit des Pietismus ausmachen, sondern viel-
56
57
Vgl. Fritz Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. In: ZS. f. dt. Philologie, 72, H.2, 1952, S. 144-158. In bezug auf die Säkularisierung als Interpretationskategorie der Neuzeit, in der gleichsam die Trauer über das Entwendete mitschwingt und von daher mit einer Entwendung ehemals genuin christlicher Fragestellungen und Antworten einhergeht, vgl. die epochale Schrift von Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/M. 1998. Vgl. auch für eine instruktive Zusammenfassung der Diskussion: Peter-Andre Alt: Aufklärung, StuttgartWeimar 1996, S. 4 9 - 5 1 .
Vgl. Herbert Schöffler: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte. Hg. v. G. von Seile. Güttingen 1958. 58 Schings, Melancholie und Aufklärung S. 137 59 Alt, Aufklärung, S. 44. Künste der Existenz< zu tun ist und die Foucault einschlägig beschrieben hat. Unter >Künste der ExistenzDie fleischlichen Verirrungen< nun sind aber - unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten - nicht einfach zu kommunizieren, gerade dann, wenn es sich um solche aus der Vergangenheit handelt. Information über die Verirrungen und Mitteilung derselben im Medium der autobiographischen Schrift sind niemals gleich ursprünglich. 11
Ebd.
12
Ebd.
15
Augustinus, Vom Gottesstaat. Bd. 2, S. 123.
14
Ebd. Vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 2, S. 124.
15 16
Ebd.
17
Augustinus, Bekenntnisse, S. 56.
50
Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
In einer Zeit, die die rousseauistische Unschuld des Kindes noch nicht kannte, steht auch der Jüngling inmitten der Ordnung des Fleisches, die als Folge der Erbsünde gesehen wird: [N]un stiegen Dünste auf aus dem Sumpf fleischlicher Begierden, dem Sprudel erwachender Männlichkeit, und umnebelten und verdunkelten mein Herz, daß es den Glanz reiner Liebe nicht unterscheiden konnte von der Düsternis der Wollust. 18
Die Zeichen des Begehrens sind nicht nur übelriechend; ihre Konsequenz ist entschieden schlimmer: sie verdunkeln die Herzensschrift, jene spirituelle Schrift der Wahrheit, die durch die Begierden in Gefahr steht, unleserlich zu werden. Dieser Verdunklung nachzugehen und sie in die claritas der Selbsterkenntnis zu verwandeln, ist Ziel der Confessicmes. Dies zeigt sich auch am berühmt gewordenen Geständnis des Birnendiebstahls, das als Beispiel für diese Sündenauffassung dient. Der Grund des Diebstahl ist nicht der Mangel' 9 , und auch nicht das Begehren nach Genuß 20 , sondern allein das Begehren nach dem Ubertritt des Verbots: »Sondern den Diebstahl selbst und die Sünde wollte ich genießen.« 21 Entscheidend ist aber die Erkenntnis des göttlichen Gesetzes, mit dessen Apologie die Passage eingeleitet wird: »Sicherlich straft der Diebstahl, Herr, dein Gesetz, auch jenes, das in der Menschen Herzen geschrieben ist, und das nicht einmal die Sünde austilgen kann.« 22 Die Einsicht in das Begehren des Verbots ist gleichzeitig Einsicht in die Wirksamkeit und die kardiologische Existenz des göttlichen Gesetzes. Die durch die Sünde verletzte Ordnung wird mit Hilfe der Erkenntnis des göttlichen Gesetzes wiederhergestellt: »Sieh mein Herz, ο Gott, sieh mein Herz!« 23 Die Bitte um Vergebung der Sünde ist der Wunsch nach Korrektur der angegriffenen Ordnung. Kurt Flasch schreibt in seiner Monographie über Augustinus diesbezüglich: Sündenvergebung hat im Augustinschen Interpretationsrahmen daher nicht den Sinn, daß der Zorn Gottes besänftigt würde, sondern daß der Mensch seinen Bezug zur Weltordnung korrigiert und einen Mangel los wird. 24
18 19
20
21 22 23 24
Augustinus, Bekenntnisse, S. 56. Augustinus, Bekenntnisse, S. 61: »Ich aber wollte stehlen und stahl auch, von keinem Mangel gedrängt [...]«. Vgl. ebd. wo es heißt, daß Augustinus »das gestohlene Gut auch nicht etwa genießen« wollte. Augustinus, Bekenntnisse, S. 61. Augustinus, Bekenntnisse, S. 61. Augustinus, Bekenntnisse, S. 62. Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart. 2.Aufl. 1994, S. 186.
Geständnisse
des
Fleisches
51
Ist aber das Begehren nach dem, woran es mangelt, gestoppt, so findet der Autobiograph seine Ruhe. Es ist das schlechte Begehren, die concupiscentia, die sich an einem Mangel entzündet. Demgegenüber hat Gott aber, so schreibt Augustinus in De spiritu et littera, das Begehren nach dem Guten (concupiscentiam bonum) dem Menschen eingepflanzt, jenes Begehren, das »er ausgießt in unseren Herzen.«25 Dieses Begehren ist jenes Begehren nach der Liebe Gottes, in der Ruhe herrscht. In diesem Sinne läßt sich der berühmte Satz aus den Confessiones lesen: »Denn zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.«26 Die Unruhe des Herzens ist somit auch ein Indiz für die Existenz der Sünde. In den Bewegungen der Affekte, in den Strukturen des Begehrens zeigt sich die Unruhe des Herzens, dessen Ziel es sein muß, in Gottes tranquillitas aufzugehen. Das Herz ist hier nicht nur Metapher der Innerlichkeit und somit ein übertragener Ort der Wahrheit, sondern es ist auch Schauplatz der Lesbarkeit der Wahrheit des Subjekts. Aus diesem Grunde entblößt der Autobiograph Augustinus an vielen Stellen sein Herz, er öffnet seinen Leib dem Haruspex: nämlich Gott. Aber auch die umgekehrte Variante findet sich. So heißt es inmitten der Episode, die sich um die Effekte der Predigten des Hl. Ambrosius dreht: »Jedenfalls bot sich keine Gelegenheit, bei diesem deinem heiligen Orakel, nämlich seinem Herzen, zu erfragen, das zu erfragen, wonach ich Verlangen trug [...].«27 Hier stellt sich die neue christliche Wahrheitstechnik ganz explizit in die Tradition der Haruspicien, also jener Technik, mit deren Hilfe aus den Innereien der Tiere Auspizien gelesen werden konnte. Selbstverständlich schaffte das Christentum diese und andere Techniken der Wahrheitsfindung ab. So heißt es im Codex Justinanus: Kein Sterblicher möge es wagen, aus der Untersuchung der L e b e r und der Eingeweide Hoffnung zu schöpfen oder, was n o c h schlimmer ist, künftige Erlebnisse durch frevelhaftes Befragen des Schicksals zu erfahren. 2 8
Die Befragung der Innereien als semiotische Offenbarungsstätte des Schicksals und der Zukunft wird vom Christentum individualisiert. Da die Zukunft der Ordnung der Vorsehung eingeschrieben ist, verbietet es sich von selbst, in anderen Texten als in denen der göttlichen Offenbarung die Zukunft zu
25
Augustinus, D e spiritu et littera 4, 6. In: PL, 4 4 , 2 0 4 . Beleg n a c h Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein D e n k e n . Stuttgart. 2.Aufl. 1994, S. 182, Anmerkung 15.
26
Augustinus, Bekenntnisse, S. 3 1 .
27
Augustinus, Bekenntnisse, S. 139.
28
Codex Justinianus 1, 11, 2. Ausgewählt und herausgegeben von Gottfried Härtel und F r a n k - M i c h a e l Kaufmann. Leipzig 1991.
52
Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
lesen.29 Die Transformation dieser Wahrheitstechnik erscheint nun als bedeutsam für eine institutionengeschichtliche Betrachtung der Innerlichkeit. Sowohl die Wahrheit des Fatums als auch die Wahrheit des Individuums ist nicht direkt zu haben, sie sind vielmehr an einem anderen Ort niedergelegt, in einem anderen Text, den die Nachträglichkeit der Lektüre entziffern muß. Was der Text des Fatums sagt, wird dem Orakelkunden gesagt. Anhand der Verschiebung vom >Buch des Lebens< in das >Buch der Leben< kann dies erneut verdeutlicht werden. Was im Buch eines jeglichen am Ende der Zeiten gestanden haben wird, wird vom Individuum in seiner autobiographischen Selbstbeobachtung gesagt, und somit kann der präexistierende Text ratifiziert werden.50 So heißt es inmitten der Erzählung über die Bekehrung im 8. Buch: »Du aber, Herr, drängest im Herzenskämmerlein auf mich ein, schlugst mich mit der doppelte Geißel von Furcht und Scham.«31 Die Penetration Gottes äußert sich wiederum nicht direkt, sondern im Affekt, in Furcht und Scham. Erst durch die Zeichenhaftigkeit, erst im Schmerz, den die >doppelte Geißel· der Affekte hervorgerufen hat, geschieht die Selbsterkenntnis. Diese Stelle zeigt, daß hier das Herz jenes Organ bezeichnet, mit dessen Hilfe Gott den Menschen ansprechen, ihn >bewegen< kann. Mit der Bewegung, die dieser kommunikative Penetrationsakt in Augustinus auslöst, ist eine religiös-rhetorische Dimension der Leiblichkeit eröffnet. Augustinus weist aber einer Verinnerlichung der Affektbewegung den Weg, indem er das willentliche Moment in den Affekten hervorhebt: Es k o m m t vielmehr auf die Beschaffenheit des m e n s c h l i c h e n Willens an. Ist er verkehrt, hat er auch diese verkehrten Regungen; ist er aber recht, werden sie nicht nur unschuldig, sondern auch lobenswert sein. D e n n in ihnen allen ist Wille, vielmehr allesamt sind sie nicht anders als Willenseinrichtungen. D e n n was ist Begierde und Lust anders als Wille, der bejaht, was wir wollen, was Furcht und Traurigkeit anders als Wille, der verneint, was wir nicht wollen. Äußert sich die B e j a h u n g im Streben n a c h dem, was wir wollen, n e n n e n wir's Begierde, äußert sie sich im G e n u ß dessen, was wir wollen, Lust. [...] Kurz, je nach der Verschiedenheit der Dinge, die man erstrebt oder flieht, bald angezogen, bald abgestoßen, wendet sich der Wille in diese oder j e n e G e m ü t s b e w e g u n g e n . 3 2
29
Die Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen hat dieser institutionellen Exekution paganer Wahrheitstechniken eine beeindruckende Studie gewidmet. Dort weitere zahlreiche Belege. Vgl. Marie Theres Fögen: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike. F r a n k f u r t / M . 1997.
30
In diese Richtung k ö n n t e auch eine Lektüre des 10. B u c h e s der Confessiones zielen. Die Theorie des Gedächtnisses, die ja besagt, daß die Erinnerung des Subjekts die nachträgliche Bestätigung dessen sei, was G o t t schon immer wußte, läßt sich in diesem Sinne lesen: » L a ß m i c h dich e r k e n n e n , der du m i c h kennst, erkennen, gleichwie ich erkannt bin. D u Kraft meiner Seele, kehr' bei ihr ein und m a c h sie dir gleich, daß sie dein eigen sei und bleibe o h n e Makel und F l e c k e n « (Augustinus, B e k e n n t n i s s e , S. 2 4 6 ) .
51
Augustinus, Bekenntnisse, S. 2 1 2 . (Hervorhebung, M . S . )
32
Augustinus, V o m Gottesstaat, Bd. 2, S. 164.
Geständnisse
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des Fleisches
Deutlich wird, daß Augustinus sich hier auf den innerlichen Akt der Zustimmung oder der Ablehnung kapriziert. Dieser innerliche Akt äußert sich aber nur in den Gemütsbewegungen, also in Zeichen, die zu lesen dem Subjekt aufgegeben sind. Die Frage ist aber, wo es etwas über die Gemütsbewegungen zu wissen gibt. Genau an dieser Stelle setzt die Frage nach der Leiblichkeit ein. D e n n der individuelle Körper ist überschrieben von Wissensordnungen der Leiblichkeit. Wie oben a n h a n d der Folgen der Erbsünde beschrieben wurde, geht es vor allem darum, die Leiblichkeit zu überwinden, um so der Möglichkeit teilhaftig zu werden, in das Reich der Gnade aufgenommen zu werden. Diese Möglichkeit zu eruieren, läuft über die intensive Thematisierung von Körperzeichen. Es geht auch dabei um die Referenz der Zeichen, w e n n m a n so will. Der Körper, seine sexuellen Regungen, seine Schmerzen werden zum Organ der Wahrheit. Doch weit aufschlußreicher scheinen die unwillkürlichen Zeichen zu sein, jene Zeichen der eloquentia
corporis,
von der die Rhetorik weiß. Es ist anzu-
nehmen, daß der Rhetoriklehrer darin geschult war. 33 An einer markanten Stelle aus den Confessiones
macht Augustinus auf die Perfomanz unwillkürlicher Zei-
chen aufmerksam. Im Bericht über seine Bekehrung im 8. Buch schreibt er: »Denn meine Stimme klang ganz ungewohnt, und Stirn, Wangen, Augen, Farbe u n d Tonfall brachten besser zum Ausdruck, was in mir vorging, als die Worte, die ich ausstieß.« 34 N u n ist der Tonfall u n d die Veränderung der Stimme seit jeher Objekt der rhetorischen Ausbildung und wurde in die actio- bzw.
promin-
f/afz'o-Lehre integriert. Gestaltung der Stimme, Haltung des Körpers, souveräner Einsatz der Gestik u n d Mienenspiel sind ein Zeichenpotential, das die Rede nicht substituieren soll, sondern deren Zweck vielmehr darin besteht, die kalkulierte Wirkung der Rede zu amplifizieren. Es ist ein signifikanter Unterschied, w e n n Augustinus im Bericht über die ersten Anzeichen seiner Bekehrung auf die Unwillkürlichkeit dieser Veränderung hinweist. In seinem Traktat De cloctrina Christiana35
weist Augustinus dar-
auf hin, daß der Ausdruck von Gefühlen über Gesten u n d Signale läuft, die er als sichtbare Worte oder gegebene Zeichen beschreibt. Diese Zeichen ermöglichen den Austausch der Seelen: Was die gegebenen Zeichen betrifft, so versteht man darunter jene, die sich lebende Wesen gegenseitig geben, um so gut als möglich ihre Gemütsbewegungen, Gefühle und Kenntnisse aller Art anzuzeigen, denn der einzige Grund, etwas anzudeuten, d.h. ein
33
34 35
Vgl. dazu Art. »Actio« in: Hist. Wb. d. Rhetorik, Bd. 1, Sp.43-47 und Art. »Gebärde« in: Hist. Wb. d. Rhetorik, Bd. 3, Sp.564-579. Augustinus, Bekenntnisse, S. 206. Den Hinweis auf diese signifikante Stelle verdanke ich: Horst Wenzel: Hören und Sehen. Zur Lesbarkeit der Zeichen in der höfischen Literatur. In: Helmut Brall/Barbara Haupt/Urban Küsters: Pcrsoncnbczichungcn in der mittelalterlichen Literatur. Düsseldorf 1994, S. 191 -219. hier: S. 207.
54
Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
Zeichen zu geben, liegt darin, das, was derjenige, der das Zeichen gibt, in seiner Seele trägt, hervorzunehmen und in die Seele eines anderen überzuleiten. 56
Von den gegebenen Zeichen unterscheidet er die Naturzeichen, die sich ohne das Wissen oder auch gegen die Intention des Menschen lesbar gestalten: Die Miene eines zornmütigen oder eines betrübten Menschen verrät seine Gemütsstimmung, auch ohne daß der Zornige oder der Betrübte es selbst will; auch andere Seelenbewegungen geben sich durch den Gesichtsausdruck kund, auch wenn wir es selbst nicht beabsichtigen. 37
Genau diese Zeichen sind es, die innerhalb der Institution des Gottesstaates eine signifikante Rolle spielen. Im Gottesstaat heißt es bezüglich der unwillkürlichen Zeichen, die als Zeichen der Wollust gedeutet werden: Aber die Geschlechtsteile hat die Wollust dermaßen mit Beschlag belegt, daß sie nicht bewegt werden können, wenn diese fehlt und nicht, sei es von selbst, sei es irgendwie angereizt, in Erregung versetzt sind. Das ist es, dessen man sich schämt und weswegen man errötend den Blicken anderer ausweicht. 38
Das Erröten als unwillkürliches Zeichen wird einer Lesbarkeit zugeführt, indem es als Indiz der Wollust und damit als Indiz der Sünde verstanden wird. 39 Sünde ist vor allem auf die Unfähigkeit zurückzuführen, die Wollust dem Souverän des Willens zu unterwerfen. In bezug auf die Bekehrung wird diese Ordnung jedoch entscheidend transformiert. Die Bekehrung als solche ist ja nicht abhängig von der Entscheidung des Subjekts. Sie ist vielmehr Entscheidung Gottes, die als solche souverän ist und somit eine Differenz einführt: die zwischen Unbekehrten denen nicht der Gnade Gottes zuteil wird, und Bekehrten, die der Gnade Gottes Die Semiotik der Bekehrung ist somit abhängig von der Gnadentheologie des Augustinus, auf die im folgenden etwas näher eingegangen werden soll. Für Augustinus ist die Gnade der Bereich göttlicher Willkür. Somit wählt Gott zur Errettung, wen er will: »Viele sind berufen, wenige auserwählt.« 40 Gott allein denkt, plant und wählt aus. Diese Auswahl aus einem im Prinzip offenen Möglichkeitshorizont macht die Selektion zu Gottes Prinzip. Die Rationalität göttlicher Entscheidungen ist vom Menschen nicht nachvollziehbar. Die Auswahl geschehe, so Augustinus, im Hinblick auf »ganz verborgene Verdienste (de 56
37 38 39
40
Augustinus Aurelius: De doctrina Christiana. In: Der Heilige Kirchenvater Augustinus. Ausgewählte Schriften Bd. VIII. Aus dem Lateinischen von P. Sigisbert Mitterer. München 1925, S. 50. Augustinus, De doctrina Christiana, S. 48. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 2, S. 195. Näheres dazu in bezug auf diese Problematik innerhalb des Beichtinstituts: Kap. IV/4 und 5. Flasch, Augustin, S. 174.
Geständnisse
des Fleisches
55
occultis meritis)«,*1 die den Heilszustand des einzelnen anzeigen können. Die Gnade ist Ausdruck und Mittel der Souveränität Gottes: »Nicht auf Grund ihrer Verdienste, sondern aus Gnade wählte er sie aus der in der Wurzel verderbten und darum verdammten Menschenmasse aus.« 42 Durch die Evidenz der nunmehr erlösten Menschennatur in der Gnade Gottes etabliert sich die »sichtbare Ordnung der Kirche, in der sie an ihren Gliedern handelt und nach der sie diese ihre Glieder einerseits handeln wissen will.»43 Damit ist dem Menschen die ursprüngliche Gottesebenbildlichkeit zurückgegeben, sein Leib ist nunmehr durch das Gnadenwirken Gottes erlöst. Die Entscheidung Gottes individualisiert. Sie hebt den einzelnen aus der Masse heraus. Diese Gnadentheologie ist Voraussetzung für die spezifische Form christlicher Machtausübung, die Foucault als »Pastorat« 44 bezeichnet hat. Es entsteht die kleine Gruppe der Erlösten, die allesamt Bürger des Gottesstaates sind, und jener große Rest der Verdammten, die noch in der Ordnung des Fleisches stehen. 45 Wie Flasch zeigen kann, lief die Ausarbeitung der Gnadentheologie und die Arbeit an den Confessiones parallel. 46 Der ihn im Zusammenhang mit der Verfassung beschäftigende Problemkomplex ist vielschichtig. Die Gnade ist ja dem Individuum unverfügbar. Wie soll man über ein der menschlichen Vernunft und der menschlichen Entscheidung entzogenen Vorgang innerhalb der eigenen Lebensbeichte berichten, ohne der Gefahr der Hybris zu erliegen, die darin liegt, zeigen zu wollen, daß man die Gnade verdient habe, und dieses Wirken gerade nicht als Heilswirken Gottes, das ja prinzipiell unverfügbar ist, zu identifizieren? 47 Augustinus löst dieses Problem elegant. Es sind erste Indizien der Bekehrung, Auspizien göttlicher Gnade, dessen Inszenierung das Aufschreiben betreibt. Das autobiographische Schreiben darüber erscheint in diesem Sinne als ein Akt der nachträglichen Interpretation dieser Veränderung als Zeichen der Bekehrung. In den einleitenden Sätzen zur Bekehrung heißt es:
41
42 45 44 45 46 47
De diversis quaestionibus, 68,4. In: PL, 40, 72: Beleg nach Flasch, Augustin, S. 199, Anm.49. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 2, S. 208. Ratzinger, Volk und Haus in Augustins Lehre von der Kirche, S. 55. Foucault, Omnes et singulatim, S. 67. Siehe unten, wenn es um die Ordnung der Körper im Gottesstaat geht. Flasch, Augustin, S. 175f. Vgl. Niklas Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt/M. 1977, S. 184ff. Luhmann weist darauf hin, daß durch die Entwicklung des „Duals Heil/Gnade" (ebd., S. 194), dem es gelinge, Notwendiges und Kontingentes miteinander zu verbinden, die Spezifik religiöser Kommunikation erkennbar werde. Vgl. jetzt Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. Andre Kieserling. Frankfurt/M. 2000, passim.
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Augustinus
Jetzt aber, da eindringende Betrachtung aus verborgenen Tiefen mein ganzes Elend hervorgezogen und mir vor das Seelenauge gerückt hatte, erhob sich ein gewaltiger Sturm und trieb einen gewaltigen Regenguß von Tränen herein 48
In dieser Passage läßt sich noch einmal studieren, welche Auswirkungen die Schriftlichkeit auf die Binnenstruktur autobiographischer Selbstbeobachtung hat. 49 Verschriftlicht man die inneren Erlebnisse, so tritt hier eine spezifische Differenz auf: Erst in der Evidenz der Innenschau (vor das Seelenauge gerückt) tritt das Ergebnis zutage. Es ist nicht direkt zugänglich und gleichsam zweifach verriegelt. Zum einen liegt das Ereignis in den verborgenen Tiefen der eigenen Vergangenheit und ist dem Bewußtsein unzugänglich, zum zweiten entsteht erst in der Erinnerung das Erlebnis der Sünde. Nun schließt die Verschriftlichung dieses Erlebnisses aber den Spalt zwischen dem Ereignis der Vergangenheit und der Intensität der Retrospektive.
3.
Schrift - Buße - Lektüre
Die Lektüre und die daraus folgende Selbstschrift spielt, wie Foucault zeigen kann 50 , eine große Rolle in der antiken Askese und ihrer christlichen Nachfolgeoperation, die bei aller oben angedeuteten Differenz diese Praktiken übernimmt. Nun muß man sehen, daß innerhalb der Confessiones so etwas geschieht wie eine Entdeckung des stillen Lesens. So heißt es von der Lektüreart des Ambrosius: Las er aber, so glitten seine Augen über die Seiten, und sein Herz ergründete den Sinn, Stimme und Lippe aber schwiegen. Oft, wenn wir anwesend waren [...], sahen wir zu, wie er so schweigend las, immer nur schweigend [...]. Auch fürchtete er vielleicht, sagten wir uns, daß ein eifriger aufmerksamer Hörer, ihn, hätte er laut gelesen, genötigt haben möchte, schwer verständliche Ausführungen des Schriftstellers zu erklären. 51
Augustinus beschreibt Ambrosius als einen, der sich zur Lektüre aus der Welt zurückzieht. Diese Erfahrung ist die Voraussetzung seiner Bekehrung. Die Entdeckung des stillen Lesens ist die Entdeckung der Möglichkeit einer Stimme ohne Körper, d.h. einer Stimme, die nicht mehr mit dem Verkörperungs- und Leiblichkeitsstrategien der Rhetorik in eins fällt. Die christliche, von Augustinus 48 49
50 51
Augustinus, Bekenntnisse, S. 215. Vgl. die Formulierung in Ong, Oralität und Literalität, S. 106: »Indem es den Wissenden vom Wissen trennte [...], ermöglichte das Schreiben in wachsendem Maße, Introspektivität zu artikulieren. Wie niemals zuvor öffnete sich die menschliche Psyche nicht nur der äußeren objektiven Welt, sondern auch erneut dem inneren Selbst, dem sich die Außenwelt darbietet. Die Schrift ermöglicht das Entstehen der großen introspektiven Religionen [...].« Vgl. Foucault, Michel: L'ecriture de soi. In: Corps ecrit, H.5. 1983, S. 3 - 2 3 . Augustinus, Bekenntnisse, S. 138.
Schrift - Buße -
Lektüre
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initialisierte L e k t ü r e a l l e r d i n g s v e r s t ä r k t d i e s e Strategie, in d e m sie die >Leiblichkeit< d e s B u c h s t a b e n s d u r c h die U n k ö r p e r l i c h k e i t d e s G e i s t e s o d e r d e s S i n n e s ersetzt. 5 2 S o m i t e n t s t e h t e i n e >Interiorisierung' d e r L e k t ü r e , w i e S c h n a p p z e i g e n kann.53 Augustinus hat dieser V e r ä n d e r u n g der Lektüretechnik das entspreche n d e S k r i p t geliefert: Siehe, da höre ich vom Nachbarhaus her in singenden Tonfall, ich weiß nicht, ob eines Knaben oder eines Mädchens Stimme, die immer wieder sagt: Nimm und lies, nimm und lies. [...] fl]ch stand auf und konnte es mir nicht anders erklären, als daß ich den göttlichen Befehl empfangen habe, die Schrift aufzuschlagen und die erste Stelle zu lesen, auf die meine Blicke träfen. Denn ich hatte von Antonius vernommen, daß er bei der Verlesung des Evangeliums, der er zufällig beigewohnt, sich durch ein Wort, als wär< es zu ihm gesprochen, hatte aufrufen lassen [...]. So kehrte ich schleunigst dahin zurück, wo Alypius noch saß, denn dort hatte ich, als ich fortging, die Schrift des Apostels liegen lassen. Ich griff sie auf, öffnete und las stillschweigend den ersten Abschnitt, der mir in die Augen fiel. 54 A n t o n i u s h ö r t , w i e a u s d e r Bibel g e l e s e n w i r d , u n d l ä ß t sich b e k e h r e n . A u g u s t i n u s h ö r t d a v o n u n d p r ü f t die W i r k u n g d e s L e s e n s d u r c h e i g e n e L e k t ü r e n a c h . S o e n t s t e h t h i e r ein R ü c k k o p p e l u n g s e f f e k t v o n L e k t ü r e n , auf d e r e n S t a t u s f ü r die A u t o b i o g r a p h i e M a n f r e d S c h n e i d e r a u f m e r k s a m g e m a c h t hat. 5 5 W a s a b e r d a m i t e r r e i c h t w i r d , ist die Substitution duktion
einer Kette
von
der Materialität
vcm Schrift
durch
die
Pro-
Schriftwirkungen,56
Wie k a n n der Leser aber der Materialität der Schrift e n t g e h e n ? Was gegenw ä r t i g t d a s L e s e n e i n e s s o l c h e n L e s e n s ? D e r U b e r s e t z e r W i l h e l m T h i m m e gibt
52
53
54 55 56
Dies wurde schon oben an Paulus gezeigt, als dessen Nachfolger Augustinus hier auftritt. »Wenn [...] der verborgene Sinn der heiligen Schriften erfahren und christliches Lesen überhaupt ermöglicht werden will, dann muß der Körper des Redners von der signifiying scene entfernt werden. Er muß der keuschen und devoten Disziplin eines anderen Körpers unterworfen werden, des geistlichen, verinnerlichten Körpers mit seinen unsichtbaren Augen, Ohren und Lippen. Dieser Körper spricht das Wort nicht aus, und bedient sich keinerlei Gestik. Im Gegenteil, der Tumor des Redners wird durch die innere Unterwerfung unter die heiligen Seiten und das andächtige Widerspiegeln der bescheidenen Oberfläche des Buchstabens geheilt. Die entscheidende Voraussetzung für Augustinus Bekehrung in die Entdeckung des stillen Lesens.« Schnapp, Lesestunden, Augustinus, Proba und das christliche Detournement der Antike, S. 36, zit. bei Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 337, Anmerkung 46. Augustinus, Bekenntnisse, S. 215. Vgl. Schneider, Die erkaltete Herzensschrift, S. 19. Ich folge hier den Ausführungen von Albrccht Koschorke, der die sozialanthropologisehe Beobachtung der Schrift (Havelock, Ong) gegen die dekonstruktivistische ins Spiel bringt und zeigen kann, daß die Entdeckung der Dekonstruktion - die Stimmhaftigkeit der Vernunft, des Logos - ihrerseits ein Effekt der Schriftkultur ist. Vgl. Körperströme und Schriftverkehr, S. 323ff.
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Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
eine Antwort: »Hier werden Urlaute der Religion vernehmbar.« 57 Die naturale akustische Substanz ist ein Lektüreeffekt, hinter dem sich das Phantasma reiner Spiritualität verbirgt. Dieses Phantasma ist aber der positive Effekt einer Durchstreichung der Materialität von Schrift. Das Medium erscheint von seinen Effekten gereinigt. Mit Ong kann man formulieren, daß hier die sekundäre Oralität aufscheint, eine Oralität, die Ong als Sekundärphänomen von Schriftwirkungen beschreibt. 58 Augustinus reoralisiert die Schrift, um das Medium gegenüber seinen vermeintlichen Effekten abzuschotten. Die Äußerlichkeit der Schrift, die körperliche Geste des Schreibens am Ausgang der Antike muß so in die Latenz rücken, um als Stimme wieder auferstehen zu können. Der Geist, der nicht schreibt, ist nur als Schrifteffekt beschreibbar. Somit muß man auch die Bekehrung des Augustinus als einen Schrifteffekt lesen. Der für die Bekehrung des Augustinus bedeutsame Antonius weist dem testierenden Notat der eigenen Innerlichkeit Athanasius zufolge eine signifikante Rolle zu: Folgendes soll noch ein Schutzmittel sein, um Sicherheit vor der Sünde zu erlangen: Ein jeder von uns soll die Handlungen und Regungen der Seele bemerken und aufzeichnen, als oh wir sie einander mitteilen wollten; und seid überzeugt, daß wir, wenn wir überhaupt uns scheuen, erkannt zu werden, aufhören zu sündigen, oder etwas Schlechtes nur zu denken. Denn wer will, wenn er sündigt, gesehen werden? Oder wer lügt nicht lieber, wenn er gesündigt hat, da er verborgen verbleiben will? Wie wir, wenn wir einander nicht sähen, nicht Unzucht treiben würden, so werden wir uns auch, wenn wir unsere Gedanken aufzeichnen, als ob wir sie einander mitteilen sollten, uns eher hüten vor schmutzigen Gesinnungen, da wir uns scheuen, erkannt zu werden. Die Aufzeichnung soll an die Stelle der Augen der Mitasketen treten, damit wir nicht einmal an Schlimmeres denken, da wir bei Schreiben erröten, als ob wir gesehen würden. 59
Man kann an diesem Zitat die Konsequenzen der Verschriftlichung sowohl für die Selbst- als auch für die Sozialtechnik der Buße erkunden: Die Schrift übernimmt die Rolle des Zeugen. Die Selbstanalyse im Schriftmedium übernimmt
57 58
59
Augustinus, Bekenntnisse, Einführung, S. 11. Explizit in bezug auf Augustinus Ong, Oralität und Literalität, S. 151. Mit einer systemtheoretischen Unterscheidung kann man diese Schriftwirkung auch als re-entry beschreiben. Luhmann zufolge ist die Form der Schrift die Unterscheidung zwischen Oralität und Visualität der Schrift. Der Effekt der sekundären Oralisierung wäre nichts anderes als der Wiedereintritt der Form der Unterscheidung in das Unterschiedene selbst. Vgl. Niklas Luhmann: Die Form der Schrift. In: Ludwig Jäger/Bernd Swittala (Hgg.). Schrift. München 1994, S. 4 0 5 - 4 2 5 und ders. : Gesellschaft der Gesellschaft, S. 249-291. Athanasius: Leben des hl. Antonius: In: Des heiligen Athanasius Schriften. Bd. 2. Aus dem Griechischen von Anton Stegmann u.a. Kempten und München 1911, S. 66f. Zit. in der französischen Übersetzung bei Foucault, L'ecriture de soi, S. 3f.
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Lektüre
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also die Funktion einer gleichwohl anonymisierten Zeugenschaft innerhalb des Prozesses der Sündendecouvrierung. In der Buße geschieht - so die Funktionsbeschreibung der Dogmatik - die »Reinigung der Kirche und des Sünders.« 60 In dieser Metaphorik bleibend, könnte man formulieren, daß das Bußgeschehen eine Katharsismaßnahme ist, die die Reinheit des Sozial- wie des Individualkörpers wiederherstellt. Die Sünde ist somit nicht nur individuelle Verletzung der göttlichen Ordnung, im Grunde also eine Wiederholung und Folge des Sündenfalls, sondern sie ist auch als aktuales Geschehen Schandfleck auf dem Körper der Kirche. Die Einrichtung der Kirche muß auf den Körper des Pönitenten zugreifen, auf der Oberfläche seines Leibes die Verunreinigung und Verletzung des Körpers der Kirche wiederholen. In den frühen Riten der Buße findet man Belege für diese Praxis. Sie läßt sich als ein geregeltes Verfahren der Stigmatisierung beschreiben. Bereits im zweiten Jahrhundert nach Christus heißt es beim lateinischen Kirchenvater Tertullian in seinem großen Traktat De poenitentia: Je mißlicher es also mit [...] der Buße steht, desto mühevoller ist es, sich darin zu bewähren, indem sie nicht bloß innerlich vorgenommen, sondern durch einen äußerlichen Akt abgeleistet werden muß. Dieser Akt, welcher häufig mit einem griechischen Wort benannt und bezeichnet wird, ist die Exomologesis, wodurch wir dem Herrn unsere Sünden bekennen, nicht zwar als wüßte er sie nicht, sondern insofern durch das Bekenntnis die Buße hervorgeht und durch die Buße Gott wiederum besänftigt wird. Daher ist die Exomologesis eine Anleitung für den Menschen, sich darnieder zu werfen und sich zu demütigen, welche ihm einen Lebenswandel auferlegt, der geeignet ist, die Erbarmung herabzurufen. In betreff der Kleidung und Nahrung gebietet sie, in Sack und Asche zu liegen, den Körper durch Vernachlässigung der Sauberkeit zu verunstalten, den Geist in Trauer zu versenken, als Speise und Trank aber nur Ungewürztes zu genießen [...] häufig die Gebete noch durch Fasten zu verstärken, zu seufzen, zu weinen, Tag und Nacht zum Herrn zu schreien, vor den Priestern niederzufallen, den Lieblingen Gottes die Knie zu umfassen und allen Mitbrüdern die Unterstützung unseres Anliegens anzuempfehlen. 61
Das Bußverfahren der Exomologesis 62 erstreckt sich auf die satisfikatorischen Werke, mit denen die Sünde abgegolten wird. Man sieht an diesem Zitat, wie der ganze Körper des Büßenden beteiligt wird - die Macht der Gemeinde manifestiert sich im Zugriff auf den Körper des Sünders. Sein Körper trägt die Makel der Sünde auf der Oberfläche. Die Entfernung aus dem Körper Christi - der
60
Bernard Piault: Was ist ein Sakrament? Aus dem Französischen von Johanna Isenbart OSB. Aschaffenburg 1964, S. 77 in bezug auf das Heilsgeschehen der Buße (Hervorhebung, M.S.).
61
Tertullian: Über die Buße. In: Tertullians ausgewählte Schriften. Bd. 1. Neu übersetzt mit Lebensabriss und Einleitung von Dr. Heinrich Kellner. Kempen und München 1912. S. 224 - 246, hier: S. 241f. Darstellung hier nach: Philipp Hughes: A history of the church. 3 Volumes. Vol. I: The church and the world in Which the church was founded. Chapter 4: The Crisis of the Third century. Part III: The Penitential Controversy. London 1932ff.
62
60
Die Zeichen
der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
Gemeinde - wird durch den Körper dokumentiert. Individual- und Sozialkörper befinden sich so gesehen einem Verhältnis der Repräsentation zueinander. An der Äußerlichkeit kann man den Sünder erkennen, ihn in der Gemeinde identifizieren. Das Verhältnis von Sünde und Buße läßt sich als Dialektik von Entfernung und Wiederannäherung an den Leib Christi beschreiben.63 Die Sünde ist eine Entfernung vom corpus christi, was sich unter anderem daran zeigt, daß dem Sünder der Eingang in die Gemeinde verwehrt oder er gar ins Exil geschickt wird. In der Buße geschieht wieder eine Annäherung. So muß der Pönitent lamentieren, weinen und klagen. In dieser Selbstanklage geschieht eine allmähliche Annäherung an den Leib. Der zweite Schritt besteht darin, daß die Sünder in Form der Predigt wieder in den Genuß des Wortes Gottes kommen. Der dritte Schritt verlangt eine liegende Stellung während jener Gebete, mit denen man Gottes Hilfe für den Büßenden erfleht. Der vierte Schritt erlaubt dann das Zusehen bei der Eucharistie, verbietet jedoch die direkte Teilnahme. Erst mit dem letzten Schritt, der Handauflegung, die von einem Bischof vollzogen werden mußte, ist das Bußverfahren abgeschlossen. Mit diesem Schritt ist die Annäherung an den Leib Christ wiederhergestellt. Der Sünder ist wieder vollständiges Mitglied der Körperschaft. Unter Umständen kann dieses Verfahren bis zu zehn Jahre in Anspruch nehmen. So erweist sich das Verfahren der Buße als Institut zur Regelung des Zugangs zum corpus christi. Die Buße ist ein Forum der interaktioneilen Öffentlichkeit. Die Bekenntnisse bleiben im Raum zwischen Priester/Gemeinde und Büßendem. Und so muß diese Interaktion peinlich genau darauf acht geben, daß die Beobachtung der Gesten, Gebärden und die Interpretation der Leib-Zeichen in diesem Raum verbleibt. Das historische Neue an der Schriftlichkeit der Buße im Falle des Augustinus ist der Status der Zeugenschaft, die in der Schrift als Imagination der Gemeinschaft der Mitasketen auftritt.64 Die Wahrheit der Sünde ist eine prekäre Wahrheit, und das Geständnis der Sünden eine nicht minder prekäre Angelegenheit, da sie - insbesondere im Schriftmedium - auf arbiträre Zeichen angewiesen ist. Um dieser Arbitrarität zu entkommen, muß es interpretierende Instanzen geben, 63
Ich folge hier der Darstellung von Oscar D. Watkins: A History of penance. 2 Volumes. London 1920. Vol. 1, S. 4 2 2 - 4 2 9 , S. 4 6 0 - 4 6 5 . Vgl. für eine geraffte Darstellung auch Thomas N. Tentler: Sin and Confession on the Eve of the Reformation. Princeton-New Jersey 1977 S. 3 - 6 .
64
Manfred Schneider hat der Geschichte der Kodifikation des Zeugen eine instruktive Studie gewidmet, die den Bogen von 1532 (Art. 71 in der Carolina) bis 1850 umspannt. Man könnte sagen, daß im Athanisius-Zitat eine Vorgeschichte dieser Zeugenschaft im Hinblick auf die Autobiographik gegeben ist - mit der entscheidenden Differenz allerdings, daß man von Interaktionskontrollen in der Kommunikation unter Anwesenden sprechen müßte, die unter den Bedingungen der Schriftlichkeit eine Kodifizierung der Zcugcnschaft fordert. Vgl. Manfred Schneider: Die Beobachtung des Zeugen nach Art. 71 der Carolina. DerAufbau eines Codes der Glaubwürdigkeit ( 1 5 3 2 - 1 8 5 0 ) . In: ders./
Die zwei Körper des
Autobiographen
61
die aus diesen arbiträren Zeichen wahrhaftige Zeichen der Sünde machen können. Das Aufschreiben und die Schrift soll die Glaubwürdigkeit des Gestehenden produzieren und feststellen, indem der Schreiber vor sich ein Forum der Interaktion imaginiert. Der Schrift gelingt es hier, Interaktion zu repräsentieren, ihre Qualitäten der jederzeit möglichen Fremdbeobachtung zu übernehmen. Ferner setzt sich das Individuum des Asketen hier in eine Beobachterposition zu sich selbst. Wie oben schon angedeutet, amplifiziert die Schrift die Introspektion. Da sie den Status eines Zeugen hat, dem es ja zukommt, die Handlungen des einzelnen zu beglaubigen oder des Betrugs zu überführen, muß der einzelne sich selbst vor dem Forum der anderen rechtfertigen, seine Selbstbeobachtung möglichst genau durchführen - in der Imagination der Fremdbeobachtung.
4.
Die zwei Körper des Autobiographen
Im Fortgang der Erzählung seiner Bekehrungsgeschichte kommt Augustinus immer wieder auf die Bewegungen seines Körpers zurück. Durch die Transposition des Erlebten in die Schrift gelingt die Interpretation: Und doch tat ich mit meinem Körper so mancherlei [...]. [I]ch raufte mir das Haar, schlug an die Stirn, umklammerte mit verschlungenen Händen mein Knie [...]. So vieles also tat ich, ohne daß doch Wollen und Tun dasselbe gewesen wären. 65
Augustinus schließt eine Entscheidung der Vernunft oder des Willens über seine Handlungen aus. Gerade dadurch, daß in diesem Falle die Bewegungen des Körpers der Entscheidung entzogen sind, sind sie authentisch und ein Indiz für das Wirken der Gnade, über die der Mensch nicht verfügen kann. Die Unwillkürlichkeit der Handlungen am Körper, die Emergenz von Zeichen auf der Oberfläche des Körpers werden als Indiz für die Bekehrung und den zu erwartenden Gnadendurchbruch interpretiert. Daß sie darüber hinaus im Kontext der Bekehrung angesiedelt sind und im nachträglichen Akt der Selbstschrift aufgezeichnet werden, macht diese Stelle signifikant: Sie verstärken das idiosynkratische und damit intersubjektiv nicht zugängliche Erlebnis der Bekehrung mit den Mitteln der Rhetorik und nutzen gleichzeitig auf elegante Art und Weise die Möglichkeiten der Schrift. An vielen Stellen verwendet Augustinus immer wieder auch die Metaphern der Heilung und der Medizin. So schreibt er:
65
Rüdiger Campe (Hgg.): Geschichten der Physiognomik. Text - Bild - Wissen. Freiburg/ Brsg. 1996, S. 153-182. Augustinus, Bekenntnisse, S. 207.
62
Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
Unter der heilenden Kraft deiner geheimnisvoll wirkenden Hand schwand mein Geschwulst dahin, und meines Geistes und getrübte und verdüsterte Hellsicht ward durch die scharfe Salbe heilsamer Schmerzen allmählich geheilt. 66
Gott ist Anatom und Arzt der Seele, eine weitreichende Tradition, die bis auf die Psalmen zurückgeht. 67 Krankheit wird im christlichen Sinne als Folge der Sünde gelesen. Die medizinische Semiotik liefert hier dem Autobiographen die Sprache. Was aber leistet nun in diesem Zusammenhang die autobiographische Schrift? Sie übernimmt eine derjenigen Aufgaben, die der Buße eine Art spirituelle Heilung zuschreiben. 68 So heißt es im 10. Buch von Gott, daß dieser ein »Seelenarzt« 69 sei, der die »Schwächen heilen« 70 werde. Der autobiographischen Schrift wird die Aufgabe zugewiesen zu erkennen, daß »die sogenannten leiblichen Schmerzen [...] Schmerzen der Seele am Leibe und im Leibe« 71 sind. Nun muß man aber darüber hinaus fragen, welche medizinische Konzeption des Körpers diese Rede trägt. Es ist die Konzeption der Humoralpathologie, 72 also jene Konzeption des menschlichen Leibes als ein Gefäß, in dem die Säfte zirkulieren. Die vier Körpersafte - schwarze Galle, Blut, Schleim und gelbe Galle - sind in ihrer Komplexion für die Gesundheit des Individuums entscheidend. Hat ein Saft Ubergewicht, so greifen die antiken Arzte auf ein System an Maßnahmen zurück, das mit Mitteln der Diätetik und Methoden der Abführung verdorbener bzw. überschüssiger Säfte, Therapie in Form von Aderlaß, Abführund Brechkuren vorsieht. Für die Kombination des Wissens von der Sünde und des Wissens vom Körper ist diese Stelle aufschlußreich. 73 Augustinus weist an einer Stelle auf die humoralpathologische Konzeption hin, wenn er vom »Drang der wilden Fluten« 74 spricht. Der »Drang der wilden Fluten< ist ein Reflex der humoralpathologischen Konzeption des menschlichen Körpers. Gesundheit wird
66 67
68
69 70 71 72 75
74
Augustinus, Bekenntnisse, S. 175. Vgl. Ps. 147,3: »Er heilt die gebrochenen Herzen und verbindet ihre schmerzenden Wunden.« Ein später Beleg, der die Wirkungsmächtigkeit dieser Metaphorik zeigt: Georg Köhler spricht in seiner Monographie Anleitung für Seelsorger in dem Beichtstuhle aus dem Jahre 1833 (Frankfurt/M.) davon, daß die Aufgabe des Beichtvaters darin bestehe, zu »richten, lehren und heilen« (S. 6). Der Beichtvater wird auch immer als geistiger Arzt bezeichnet (S. 56 und passim). Augustinus, Bekenntnisse, S. 247. Ebd. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd.2, S. 189. Vgl. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, insb. S. 12. Vgl. für weitere Belege Wolfgang Schadewaldt: Die Apologie der Heilkunst bei den Kirchenvätern. In: Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, N.F. 26, Stuttgart 1969. Augustinus, Bekenntnisse, S. 58.
Die zwei Körper des
Autobiographen
63
bekanntlich als Balance in der Zirkulation der Säfte verstanden. Nun war es zeitgenössische Auffassung, die Adoleszenz als das sanguinische Zeitalter zu betrachten, also als Herrschaft jenes Saftes, der für charakterologische Eigenschaften wie leichte Erregbarkeit und Leidenschaftlichkeit steht. Die Säfte in Ordnung zu halten, ihnen ihre Balance zu geben, war unter anderem Ziel und Zweck gewisser Selbsttechniken. So weiß Plutarch davon zu berichten, daß Diogenes in der Tonne onaniert habe, um seinen in Unordnung geratenen Säftehaushalt und dem dadurch verursachten Stau Entlastung zu verschaffen. 75 In diesem Sinne geht es um Verfügung über die Leidenschaften, die Ausdruck der antiken Selbsttechniken ist. Wenn Augustinus in diesem Kontext von der Herrschaft der Leidenschaften spricht, dann ist dies keinesfalls als eine Fortsetzung antiker Selbsttechniken zu verstehen, sondern bezeichnet eher den Bruch, den Foucault folgendermaßen beschreibt: Alle christlichen Prüf-, Beicht-, Lenkungs- und G e h o r s a m s t e c h n i k e n haben ein Ziel: Individuen zu veranlassen, ihr eigenes Absterben vor der Welt zu betreiben. Natürlich ist >Absterben< nicht der Tod, w o h l aber Verzicht auf diese Welt und Selbstverzicht. 7 6
Es geht damit nicht nur um die Beherrschung der Leidenschaft als eine Möglichkeit von Freiheit, sondern ganz gegenteilig auch um die Abtötung der Leidenschaften, die in der von Augustinus inkriminierten Ordnung des Fleisches stehen. Um dieser Ordnung zu entkommen, sie zu überwinden, muß das Individuum sich von der Welt trennen, sich in der Einsamkeit selbst prüfen, die Leidenschaften absterben lassen, um so in die Welt des Geistes, die die Welt der Kirche ist, eingehen zu können. Augustinus verhandelt diese Topik in der Erzählung des Badehausbesuches. Der Vater, hocherfreut über die »Zeichen schwellender Jugendkraft« 77 und »künftiger Enkel froh« 7 8 wird als jemand geschildert, der ganz in der Ordnung des Irdischen steht, also jener Ordnung, die mit Fortpflanzung und Leidenschaft gleichgesetzt wird. Demgegenüber erhebt sich die Ordnung der Mutter: A b e r in meiner Mutter Brust hattest du bereits b e g o n n e n deinen Tempel zu bauen, und G r u n d gelegt zu deiner heiligen B e h a u s u n g [...]. D a h e r erzitterte sie in frommer Herzensangst und bangte um mich [...]. Ich erinnere m i c h n o c h daran, wie sie einst in einer
75
Zit. bei Alois H a h n : Religiöse D i m e n s i o n e n der Leiblichkeit. In: ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der G e s c h i c h t e . Aufsätze zur Kultursoziologie. F r a n k f u r t / M . 2 0 0 0 , S. 3 8 7 - 4 0 7 , hier: S. 4 0 2 . Augustinus kritisiert dies scharf im Gottesstaat, in dem er Diogenes Ruhmsucht vorwirft. Vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 2, S. 196.
76
Foucault, O m n e s et singulatim, S. 78.
77
Augustinus, B e k e n n t n i s s e , S. 59.
™
Ebd.
64
Die Zeichen der Sünde und das Sein der Kirche -
Augustinus
stillen Stunde in schwerer Sorgo mich bcschwor, daß ich nicht der Unzucht verfallen und vor allern keines andern Frau verführen möge. 79
Nicht der Unzucht zu verfallen und keines anderen Frau zu verführen; was hier beschrieben wird, ist die Ordnung der Lüste, die Welt des Fleisches. Mit der Welt der Mutter wird allegorisch das bezeichnet, was der Gottesstaat als die Welt des Geistes sein wird: die Kirche. Die Zuwendung zum Körper, die Hinwendung zur eigenen Leiblichkeit droht in der Pubertät des Autobiographen zur Trennung von der Mutter zu werden. Die drohende Trennung von der Mutter ist somit allegorische Vorbereitung auf die jederzeit drohende Abtrennung vom Körper der Kirche in der Biographie des einzelnen. Die Sünde der Unzucht und der Begierde führt zu einer Trennung vom Körper der Kirche. Nur durch die Abtötung der Leidenschaften kann diese Trennung verhindert werden. Diese Spannung von Welt und Ich ist eine der wesentlichen Voraussetzungen der von Foucault hervorgehobenen neuen Todesart des Christentums. In dieser Anachorese, in der Entdeckung der Wüste der eigenen Innerlichkeit etabliert sich das Subjekt in der Thematisierung der Lustmöglichkeiten des Leibes als »Ausgangspunkt von Selbstthematisierungen«. 80 Die von Augustinus anthropologisch und kardiologisch fundierte Existenz von »zwei menschlichen Genossenschaften« 8 1 hat für die Selbsttechnologie des Autobiographen eine wichtige Konsequenz: Jener durch die Riten der Selbstkasteiung entstehende >geistige< Leib des Menschen hat hinsichtlich des Gottesstaates eine Inkarnationsfunktion. Im und durch das Absterben des eigenen Leibes etabliert sich der Astralleib des Gottesstaates, jener unsichtbare Körper der Institution. 82 Die Kirche, die der Leib Christi ist, ist nicht unmittelbar erreichbar. Ihr Körper liegt vielmehr im Bereich des Invisiblen, Ätherischen. Die Körperschaft der Kirche ist als solche unsterblich und überzeitlich, gleichzeitig Symbol des kommenden Christus und Sakrament seiner Gegenwart. So etabliert sich hier eine Paradoxie: Einerseits ist die Kirche als Körperschaft sichtbares Zeichen der Gegenwart Christi in der Gemeinschaft der Gläubigen und ist andererseits Institution, die sich als Anstalt
79 80 81 82
Augustinus, Bekenntnisse, S. 59f. Hahn, Religiöse Dimensionen der Leiblichkeit, S. 400. Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 2, S. 212. Ich folge hier der Darstellung von Ratzinger, Volk und Haus Gottes in der Lehre Augustins, S. 21 Iff. Vgl. auch Yves Congar.: Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum abendländischen Schisma. Freiburg - Basel - Wien 1971, S. 6f, der die civitas als eine »mystische Wirklichkeit« (S. 7) bezeichnet und zeigen kann, daß bei Augustinus die Verwendung von Kirche und Gottesstaat durchaus parallel läuft. Der Gottesstaat in seiner eschatologischen Ausrichtung berge die »Kirche in sich«, (ebd.)
Die zwei Körper des
Autobiographen
65
des Heils 83 versteht. Andererseits sind die Sakramente als »sichtbare Zeichen göttlicher Dinge« 84 Medien der Verehrung einer prinzipiell unsichtbaren Substanz. Der Körper Christi ist aber im Sakrament im Modus
der
Realpräsenz
gegenwärtig. Der einzelne verleibt sich im Sakramentenempfang den Körper Christ ein, wie Henri de Lubac formuliert: »Kommunizieren heißt, in sich das Gedächtnis der Passion empfangen, es heißt gewissermaßen, in sich das Kreuz des Herrn als Nahrung aufnehmen« 8 5 Der Gläubige ißt und wird dadurch zum Mitglied des Organismus der Kirche. Das Verzehren der Hostie als das Zeichen der Realpräsenz Christi, in dem im Gegensatz zu Differenztheorien des Zeichens Bezeichnetes u n d Bezeichnendes in eins fallen, ist gleichzeitig das Sich-Verzehren Christi (Opfer) u n d das Verzehren als elementarer Vorgang des organischen Lebens eines jeden (Empfang des Sakraments). So läßt sich mit Lubac sagen, daß
die
Eucharistie
die
Kirche
schafft,
aus
ihr
ein
»Wirkliches
mit
Innerlichkeit« 8 6 macht. Auf elementarer Ebene hat der einzelne mit seinem Körper teil am Heilsgeschehen. 87 Die Sorge um den Körper, von der oben die Rede war, ist n u n innerhalb dieser Logik beschreibbar. Es geht um das Absterben, um das Sich-Verzehren, um das Vergehen der Leidenschaften und der Begierden. Indem man das Fleischliche abtötet, k a n n man in den Gottesstaat eingehen. Um dies zu bewerkstelligen, m u ß m a n den eigenen Körper zum Opfer machen. Im Z e h n t e n Buch des Gottesstaates heißt es vom Opfer: »Das sichtbare Opfer ist also Sakrament, das heißt heiliges Zeichen eines unsichtbaren Opfers.« 88 In der Entblößung des eigenen Körpers als Ort der Begierden, als Eröffnung eines Schauplatzes, gestaltet sich der einzelne sichtbar, stellt sich in den Raum der Öffentlichkeit. Die Wahrheit des geschlechtlichen Körpers ist obszön, die nuda Veritas setzt Enthüllung voraus. 89
85
So Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd.3, S. 110.
84
Josef Finkenzeller: Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen. Von der Schrift bis zur Scholastik. Freiburg - Basel - Wien 1980, S. 41 Henri Lubac: Corpus mysticum. Kirche u n d Eucharistie im Mittelalter. Eine historische Studie. Aus dem Französischen übertragen von H a n s Urs von Balthasar. Einsiedeln 1969, S. 81.
85
86 87
Lubac, Corpus mysticum, S. 113. Ratzinger beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: »Die Vereinigung des Menschen mit Christus ereignet sich also nicht einfach zwischen dem Glaubenden u n d Gott, der Weg zum Geiste Christi ereignet sich niemals direkt, sondern immer n u r das Eingehen in den Leib Christi, in die Kirche. Das ist also nun die eigentliche Art, wie der Mensch eins wird mit Christus: Indem er eins wird mit der Kirche« (Ratzinger, Volk und H a u s Gottes in der Lehre Augustins, S. 210).
88
Augustinus, Vom Gottesstaat. Bd. 1, S. 471.
89
Vgl. für eine Metapherngeschichte der nackten Wahrheit H a n s Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologic. Frankfurt/M. 1998, S. 61ff.
66
Die Zeichen
der Sünde
und das Sein der Kirche -
Augustinus
In der Enthüllung des Fleisches soll sich die Seele nackt zeigen. Dementsprechend heißt es im 10. Buch der Confessiones von Gott, daß er in der Lage sei, das Subjekt in seiner Nacktheit zu sehen, in einem Zustand diesseits der Scham: »Dir freilich, ο Herr, vor dessen Augen offen liegt der Abgrund des menschlichen Herzens, was sollte dir in mir verborgen sein, auch wenn ich's dir nicht bekennen wollte.« 90 Allein in diesem Zustand liegt die Wahrheit des Subjekts offen dar. So ist der autobiographische Akt, den Augustinus hier durchführt, durchaus als Ent-Kleidung der Wahrheit zu sehen, die sich vormals unter dem Ornat der Rhetorik, des Manichäismus und der Ordnung des Fleischlichen bedeckt hielt. In der Ent-Blößung der Seele, durch die Ent-Kleidung des Subjekts etabliert sich die Wahrheit des Körpers und seiner Zeichen. Die Körperzeichen zu lesen, sie durch die autobiographische Lektüre in das Reich des Geistes, das der Gottesstaat ist, zu transponieren, sich in sein Gedächtnis einzuschreiben, erscheint als aufschlußreicher Bezugspunkt für den Zusammenhang zwischen Institution und Innerlichkeit. Zunächst aber muß geklärt werden, wie die Kommunikationsverhältnisse oder besser: die Medien der Kommunikation bei Augustinus organisiert sind. Um dies zu klären, wird es sinnvoll sein, auf die weitreichenden 91 Konsequenzen der Augustinischen Theorie des Spracherwerbs 92 einzugehen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Kommunikation des Bekenntnisses zu sehen ist. Die Publikation der Sünde, der Verfehlungen ist eine Technologie der Wahrheit, die Ratifikation der Wahrheit des eigenen Selbst vor Gott. Nun hat es diese Publikation mit Zeichen zu tun, also mit trügerischen, zwielichtigen und mehrdeutigen Medien. So muß die Autobiographie das Problem lösen, in einem arbiträren Medium zu arbeiten und gleichzeitig Testat der Wahrheit zu sein. Es geht hier noch einmal um Substitionsverhältnisse, d.h. darum, wie es dem Text gelingt, unter Leugnung oder Umgehung des arbiträren Charakters der Zeichen sich selbst zu ratifizieren. Zeichen des Körpers stehen unter Verdacht, in ihnen lauert der Betrug, da eine Äquivalenz zwischen Zeichen und Intention niemals herzustellen ist. Die exzessive Thematisierung dieser Zeichen dient dazu, diesen Verdacht in die Latenz verschwinden zu lassen. Augustinus führt in die Sprache eine Differenz ein: die zwischen einer Natursprache, die jedes Kind beherrscht, und einer Sprache der Dinge. Anhand seines eigenen Spracherwerbs beschreibt Augustinus die Natursprache wie folgt:
90 91
92
Augustinus, Bekenntnisse, S. 246. Noch Wittgenstein zitiert in seinen Philosophischen Untersuchungen das Augustinische Modell des Spracherwerbs als Gegenmodell zu seinem eigenen. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § § 1 ff. Darstellung hier n a c h Flasch, Augustin, S. 282ff.
Die zwei Körper
des
Autobiographen
67
[Ijch lernte es, als ich kraft der mir von dir, mein Gott, verliehenen Geistesgaben mit Seufzern und mancherlei Lauten und Gesten die Gefühle meines Herzens äußern wollte. 95
Augustinus lernt mit natürlichen Zeichen - mit Seufzern, mit Lauten und Gesten - sein Herz zu kommunizieren. Dies ist die Sprache der Natur, eine Sprache vor der Sprache. Die Sprache der Dinge lernt Augustinus aber im gleichen Medi-
Wcnn sie irgendeinen Gegenstand benannten und gleichzeitig eine entsprechende Körperbewegung machten, dann sah und erfaßte ich, daß mit solchem Wort ein bestimmtes Ding gemeint sei, das sie mir zeigen wollten. Daß sie eben dies wollten und meinten, war, wie gesagt, zu ersehen aus den Bewegungen des Körpers, gleichsam der natürlichen Sprache aller Völker, die durch Mienenspiel, Augenblinzeln sowie allerlei sonstige Gebärden und Laute die Regungen des Gemüts kundtut, das Gegenstände bald haben und behalten, bald von sich weisen und fliehen möchte. 9 4
Der Status der menschlichen Sprache ist also der folgende: Sie entspringt dem Körper und bezeichnet nur das, was entweder Objekt des Begehrens (haben und behalten) oder Objekt des Abscheus ist (von sich weisen und fliehen). Interessant ist aber der beiden gemeinsame Ursprung: die Ordnung des Leiblichen. Nun ist es aber gerade das Paradox der die Confessiones tragenden Zeichentheorie, daß auf dieser Referenz von Zeichen und Ding oder von Zeichen und Begriff nicht beharrt werden kann.95 Wenn Gottes Wort, das Wort der Bibel und schließlich das Wort der Autobiographie daran arbeiten, die Körper zu überschreiben, so können die verwendeten Zeichen weder in der Ordnung des Leibes noch in einem Verhältnis der Dinge gegründet sein. Wie löst Augustinus dieses Paradox? Im zehnten Buch heißt es: »Ohne allen Zweifel, in voller, klarer Gewißheit sage ich, Herr: Ich liebe dich. Du hast mein Herz mit deinem Wort getroffen, da hab ich dich lieb gewonnen.«96 Das Wort Gottes ist das spirituelle Liebespfand im Gegensatz zur Liebe der Menschen, die ja in der Ordnung des
95
Augustinus, Bekenntnisse, S. 40.
94
Augustinus, Bekenntnisse, S. 40.
95
Bereits in seiner Frühschrift De magistro
entwickelt Augustinus eine antisemitische
Zeichentheorie. Dort wird die Sprache als »Vokabelmasse« bezeichnet, die als solche zur Wahrheitserkenntnis nicht dienen könne. Die Sprache führe nicht zur Gewißheit der Wahrheit. Die Sprache diene allein dazu, die im Inneren des Subjekts anwesende Wahrheit »vielleicht durch Worte angeleitet, [...] zu befragen.« (De magistro 11, 38. In: PL, 32, 1206) In einem Kommentar zum Buch Genesis, der sich gegen die Manchiäer richtet, schreibt Augustinus, daß die Sprache bzw. die Vielfalt der Sprachen eine direkte Folge der Sünde sei. Vor dem Sündenfall sprach Gott direkt in den Intellekt der Menschen. Erst mit der Erfindung der Kommunikation, so könnte man formulieren, entsteht das Problem der Arbitrarität der Zcichcn. (Vgl. De Gcncsi contra Manichaeos II 4,5. In: PL 34, 198f.) Belege nach Flasch, Augustinus, S. 125, Anmerkung 65 und S. 126, Anmerkung 67. 96
Augustinus, Bekenntnisse, S. 251.
68
Die Zeichen
der Sünde
und das Sein der Kirche -
Augustinus
Fleisches steckt. Im weiteren kommt Augustinus auf das fetischisierte Objekt seiner Liebe zu sprechen. Zunächst aber erinnert Augustinus den Leser noch einmal an die Ordnung des Irdischen: Was liebe ich, wenn ich dich liebe? Nicht Körperschönheit und vergängliche Zier, nicht den Strahlenglanz des Lichts, so lieb den Augen, nicht köstlichen Wohllaut so vieler Instrumente, nicht den süßen Duft von Blumen, Salben und Spezereien, nicht Manna und Honig, nicht Glieder die zur Umarmung locken - nein, das liebe ich nicht, wenn ich dich liebe, mein Gott 97
Nachdem klar geworden ist, daß die Liebe zu Gott keineswegs in der Ordnung des Irdischen stehen kann, folgt eine überraschende Affirmation des Sinnlichen: Und doch ist's eine Art von Licht, von Stimme, von Duft, von Speise und Umarmung, wenn ich meinen Gott liebe, Licht, Stimme, Duft, Speise, Umarmung Menschen.
meines
inneren
Was da in meiner Seele leuchtet, faßt kein Raum, was da erklingt, verhallt
nicht in der Zeit, was da duftet, verweht kein Wind, was da mundet, verzehrt kein Hunger, was da fesselt, trennt kein Überdruß. Das ist's, was ich liebe, wenn meinen Gott ich liebe. 98
Das Dementi der Genüsse und des Begehrens, das Dementi der körperlichen Referenz der Lüste, aus denen ja die Menschensprache entsteht, bewirkt zugleich die Produktion einer Signifikantenkette, deren Funktion in einer Löschung aller Spuren des Begehrens besteht. Es geht um die Tilgung der
Refe-
renz des Körperlichen und die Substitution dieser Referenz durch einen spiritualisierten Zeichenbegriff. Die Liebe zu Gott ist der Entzug aller Genüsse, und gleichzeitig verspricht Gott, im Entzug des Genusses erst das wahre Genießen zu ermöglichen. Der Körper als Ursprung der Zeichenverwendung muß geradewegs überschrieben
werden, um als Testat einer göttlichen Schrift fungieren zu
können. Wer dies nicht tut oder nicht tun kann, ist nach Auffassung des christlichen Zivilgesetzes wahnsinnig. 99 An der Referenz des Körperlichen, des Materiellen und an der Gesetzeskraft des geschriebenen Wortes festhalten, bedeutet nicht nur den Ausstieg aus dem Gottesstaat im Sinne des Augustinus, sondern ist gleichzeitig Eintritt in die Ordnung des Wahnsinns. Nur durch die Substitution der Referenz hat die Schrift des Autobiographen teil an der Unschreibbarkeit von Gottes Macht. In seiner Schrift über die wahre Religion schreibt Augustinus: »Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die
97
Ebd.
98
Ebd. (Hervorhebung, M.S. )
99
Vgl. Pierre Legendre: Die Juden interpretieren verrückt. Gutachten zu einem klassischen Text. In: Psyche, 43, H . l , 1989, S. 2 0 - 3 9 .
Die zwei Körper des
Autobiographen
69
Wahrheit.« 100 Der Ort der Wahrheit ist die Innerlichkeit, an diesem Ort kann sie festgestellt werden. Wenn die schriftliche Buße oder genauer: das schriftliche Bußverfahren die Wahrheit der Sünde feststellen will, dann kann sie dies nur, wenn sie den Körper überschreibt, ihn in den Astralleib der Kirche eingehen läßt. Das Verhältnis von Einschreibung und Überschreibung läßt sich als Verhältnis von Erinnerung und Löschung beschreiben: Indem ich mich an die Ordnung des Fleisches erinnere, lösche ich die Zeichen des Fleisches auf der Seele.
100
Das lateinische Original lautet: »Noli foras ire, in tc ipsura redi; In interiore horaine Veritas habitat.« Augustinus, Aurelius: Von der Wahren Religion (De vera religione). In: ders.: Theologische Frühschriften: Vom freien Willen, Von der wahren Religion. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und erläutert von Wilhelm Thimme. Zürich u n d Stuttgart 1962, S. 3 6 5 - 5 5 5 , hier: S. 389.
IV. Zeichen des Körpers - Körper der Zeichen: Das Beichtdekret von 1215 und seine Folgen Die Seelenleitung
ist die Kunst unter den
Künsten.'
Im folgenden soll vor dem Hintergrund der paulinisch-augustinischen Tradition gezeigt werden, daß die Institutionalisierung der Pflichtbeichte durch das IV. Laterankonzil der Kirche ein Selbstbeschreibungsproblem hinterließ. Das neue, bis dahin noch unbekannte Verständnis der Kirche als corpus mysticum2 führt zu einer diskursiven Aufmerksamkeit für die Probleme der Mitgliedschaft in dieser Körperschaft, die insbesondere in der Debatte um die Beichte hervortritt. Die dogmatischen Fassungen des Verhältnisses von Person und Körperschaft, von individueller Sünde, der temporären Exklusion und immer wieder stattfindenden Inklusion durch die Beichte als Sakrament stellen Fragen an das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, an die Organisation von Kommunikation und ihrer Beobachtung, die man als ersten Versuch eines institutionell produzierten Menschenwissens beschreiben kann.
1.
Die Anthropologie der Sünde
Im neunten Gesang des Purgatoriums
liest man bei Dante:
Wir traten jetzt dorthin, zum ersten Steine:/Weißmarmorn war und so blankgeschliffen,/Daß er mein Bild auffing im Spiegelscheine. Schwarzpurpurn schien, ein Bruch auf rauhen Riffen,/Der zweite: voller Risse krumm und grader, Als hätte Feuersglut ihn stark ergriffen. Der dritte, aufgetürmt als hoher Quader,/Schien aus Porphyr und war so scharlachhelle/Als ob ein Blutstrahl spritze aus der Ader./Dem Engel diente der zur Ruhestelle/Für jeden Fuß; und bis zum tiefsten Kerne/Schien mir demanten, drauf er saß die Schwelle. Ich ließ mich über die drei Stufen gerne/Vom Führer ziehen. Der Sprach: Mit Demutsgrüßen/Erfleh es, daß er den Verschluß entferne. 3
1 2
3
Raymonde Forcvillc: Lateran I-IV. Mainz 1970, S. 420, c.27. Ernst Η Kantorowicz.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. 2. Aufl. München 1994, S. 207f. Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Italienisch-Deutsch. Aus dem Italienischen von Richard Zoozmann Augsburg 1994. S. 231. Der folgende Kommentar basiert auf einem Hinweis, den der Herausgeber Erwin Laaths in seinem Kommentar auf das katholische
72
Zeichen
des Körpers - Körper der
Zeichen
Die Sequenz zeigt Elemente des Beichtverfahrens, wie sie während des Mittelalters diskutiert worden und schließlich auf dem IV. Laterankonzil in das Institut der Pflichtbeichte gemündet sind. Die drei Schritte der Beichte - contritio cordis, confessio oris, absolutio operis - sind hier von Dante symbolisch in Szene gesetzt. Der erste Schritt (contritio) des Beichtverfahrens besteht darin, Reue zu zeigen. Diese zu zeigen, ist aber nur möglich, wenn vorher die Zerknirschung der Selbsterkenntnis erfahren und erlebt wurde. Dante beschreibt den Vorgang als Begegnung mit dem eigenen Bild im Marmor des Steins. Auf der weißen Oberfläche des Steins gegenwärtigt der Sünder sein Spiegelbild. Der Sünder ist dazu verpflichtet, sich von sich selbst zu trennen und sich im Bild zu betrachten. Dieser Aufruf ist als der Versuch einer okkassionellen Selbstthematisierung anläßlich des Beichtverfahrens beschreibbar. Der erste Schritt zeigt, daß es nötig ist, das Sündhafte der eigenen Taten im Imaginären anzusiedeln, dem Phantasma des eigenen Selbst im Spiegel zu begegnen und die dort auftauchenden Zeichen zu lesen. Der zweite Schritt (confessio), dessen Allegorie der schwarzpurpurne Stein (il secondu tinto) darstellt, besteht darin, das Bekenntnis abzulegen. Schwarzpurpurn, vor allem aber voller Risse (crepata) und aus rauhen Riefen bestehend, ist der zweite das Bekenntnis, weil er die Zeichen der Sünden, ihre Einschreibung in der Seele zeigt. Die Sünden sind keine schnell verschwindenden Zeichen, sondern sie hinterlassen eine Spur auf der Seele. Damit zeigt dieses Bild die mnemotechnische Funktion der Beichte. Diese »Spuren« zu lesen, ist Essential des Beichtverfahrens. Sie garantieren die Erinnerung der Sünde, ihre Einschreibung in die Seele. Schwarzpurpurn ist aber nicht nur der Stein, sondern auch die Tiefe der Seele: undurchsichtig, dunkel, jederzeit bereit, das Vergehen auf den Grund des Vergessens sinken zu lassen. Doch die Spuren verraten den Delinquenten. Ihrer Einschreibung nachzugehen, sie im besten Sinne des Wortes zu lesen, ist Ziel und Objekt des Bekenntnisses. Aus diesem Grunde sind auch Selbsterkenntnis und Erinnerung conditio sine qua non des Bekenntnisses. Der dritte Schritt der Wiedergutmachung schließlich, die aber nicht mit der Absolution zu verwechseln ist, findet sich in der Allegorie des quaderförmigen Steins, aus dessen Ader das Blut spritzt. Es weist auf das Erlösungswerk Jesu Christi, der nach christlicher Auffassung die Sünden der Menschen auf sich genommen und dessen Blut sie von der Schuld reingewaschen hat. Mit der Auffassung, daß Jesus Christus für die Sünden der Menschen gestorben ist, ist den Sündern gleichzeitig die Pflicht zur Erinnerung an dieses Erlösungswerk auferlegt. Der dritte Schritt schließlich, nämlich die Absolution, wird von Dante mit Hilfe der Verschlußmetaphorik in Szene gesetzt. Nun stellt sich die Frage, was verschlossen bleibt, wenn man im Zustand der Sünde verharrt, und wer in der
Bcichtverfahren gegeben hat, ohne daß die dogmatischen Einzelheiten und Probleme im einzelnen hervorträten. Vgl. Dante, Die göttliche Komödie, S. XXXllIf.
Die Anthropologie
der Sünde
73
Lage dazu ist, das Verschlossene wieder aufzuschließen. Dazu genügt ein Blick in die Dogmengeschichte. Die Kirche nimmt als Referenztext die folgende Bibelstelle: Und ich will dir des Himmelreiches Schlüssel geben: Alles, was Du auf Erden binden wirst, soll im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein. (Mt 16, 19)
Gemäß diesem Wort spricht sich die Kirche die Schlüsselgewalt zu, nämlich die Macht, für die Gläubigen den Zugang zum ersehnten Paradies zu öffnen oder eben zu verschließen. 4 Zugleich entlehnt man dieser Stelle aus dem MatthäusEvangelium auch die Metaphorik der Fessel, die den Sünder bindet. Diese zu lösen, den Sünder von den Fesseln der Sünde zu befreien, ist unter anderem Aufgabe des Beichtverfahrens. Mit dem Dogma der Schlüsselgewalt ist der entscheidende Schritt getan, um die Verwaltung der Sünden in die Hände der Institution Kirche zu legen. Lea faßt die Konsequenz folgendermaßen zusammen: Thus through sucessive steps and under varying conditions the power of the keys gradually established itself and the Church acquired the awful and mysterious power of regulating the salvation or perdition of her children. Theologians may among themselves admit that the keys can err and that the judgements passed on earth may not be ratified in heaven, but the plain people are taught that the priests hold their eternal destiny in his hands and that to them he is virtually God, for he has the power to convert guilt into innocence. 5
Die Metapher vom Verschluß des Himmelreiches ist möglicherweise nicht nur relevant für die Dogmatik des Sakraments, sondern erhält durch den medizinischen Kontext eine zusätzliche Pointe, die für die Dogmatik der Sünde und die Kombination von medizinischen und theologischem Wissen eine bedeutsame Rolle spielt. Denn das Himmelreich, das aufgrund der Sünden der Menschen metaphorisch verschlossen ist, aber durch die Schlüsselgewalt der Kirche aufgeschlossen werden kann, verweist darüber hinaus noch auf eine die somatische Semantik der Stockung. Der Druck, den die zirkulierenden Säfte auf den Körper ausüben, entlädt sich zuweilen, oder die Entladung, so die Vorstellung und Praktik der Diätetik, wird eigens herbeigeführt. 6 Die Metapher des Verschlusses artikuliert exakt das, was Albrecht Koschorke hinsichtlich des Verhältnisses von Individual- und Sozialkörper in der alteuropäischen Gesellschaft als die »Umbesetzung von sozialen in somatischen Druck« 7 nennt. Wenn es stimmt, daß die abendländischen Gesellschaften sich machttechnisch durch einen immensen Druck von oben nach unten auszeichnen, so 4
5 6 7
Vgl. Henry Charles Lea: A History of auricular confession and indulgences in the latin church. 3 Volumes. London 1896, Vol.1, S. 105-167. Lea, A History of Auricular Confession, Vol.1, S. 166f. Vgl. dazu Eleftheriadis, Die Struktur der hippokratischen Theorie der Medizin. Koschorkc, Körperströme und Schriftverkehr, S. 59.
Zeichen des Körpers - Körper der Zeichen
74
scheint sich dies in der Auffassung des menschlichen Körpers als des potentiell immer zu vollen Säftebehältnisses zu wiederholen. Der menschliche Körper ist das mikroskopische Bild der Gesellschaft und ist als Wiederholung sozialer Strukturen und Machtverhältnisse beschreibbar. Dies hat ganz unmittelbar mit dem mittelalterlichen Ordo-Denken zu tun. Der hierarchische Ordo-Gedanke, dessen Strukturen sowohl das physische wie das soziale Sein umfasst, betrachtet die Welt als Werk Gottes, das unveränderbar ist und galt von daher als unveränderbar. 8 Das auf Ordnung bedachte Gefüge kann nur dann bestehen, wenn innerhalb des Staatswesens und innerhalb des Individualkörpers die Tugend der temperantia
herrscht.
Nun ist das Gleichmaß der Säfte im Körper und der Mächte im Staat bestimmend für die Gesundheit des Einzelnen und des Staatskörpers. Der offene Körper der Humoralpathologie, dessen Säftehaushalt in einem intensiven Austausch mit der Umwelt steht, 9 macht den Körper zu einem bevorzugten Schauplatz der Analogie. Ins Zentrum des Analogiedenkens gerückt, erscheint der Mikrokosmos des Leibes als ein symbolischer Tauschwert für den universalen Makrokosmos. 1 0 Die vier Säfte (Phlegma, Schwarze Galle, Blut und Gelbe Galle) stehen in einem Korrespondenzverhältnis zu den kosmischen Elementen der Luft, des Wassers und der Erde. In ihrem einschlägigen Buch über die Melancholie zitieren Klibansky, Panofsky, und Saxl eine Kosmologie aus dem 12. Jahrhundert, die das humoralpathologische Korrespondenz- und Analogiesystem illustriert: Es gibt nämlich vier Säfte im M e n s c h e n , die die unterschiedlichen E l e m e n t e n a c h a h men: jeder nimmt in einer anderen Jahreszeit zu, jeder ist einem anderen
Lebensab-
schnitt vorherrschend. Das Blut ahmt die Luft n a c h , nimmt im Frühling zu und herrscht in der Kindheit vor. Die G e l b e G a l l e ahmt das Feuer nach, nimmt im S o m m e r zu und herrscht in der Jugend vor. Die S c h w a r z e Galle oder Melancholie ahmt die Erde nach, nimmt im Herbst zu und ist im Mannesalter vorherrschend. D a s Phlegma ahmt das Was-
8
Vgl.
Georges
Duby:
Die
drei
Ordnungen-
Das
Weltbild
des
Feudalismus.
F r a n k f u r t / M . 1 9 8 1 , S. 92f. 9
Im Gegensatz zum modernen Organismus, der als ein in sich geschlossenes Nervensystem, Umweltkontakt nur durch Selbstreferenz betreiben k a n n . Die Umwelt ist immer die Grenze des Nervensystems. D e r moderne Organismus ist a u t o n o m in seinen Operationen, jedoch nicht autark.
10
Vgl. Marian Kurdziatek: D e r M e n s c h als Abbild des Kosmos.
In: Albert Zimmer-
mann(Hg.): D e r Begriff der representatio im Mittelalter: Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild. Berlin 1 9 7 1 , S. 35 - 7 5 . G e o r g M i s c h beschreibt in seiner großangelegtcn, der Diltheyschen Hermeneutik verpflichteten Studie zur G e s c h i c h t e der Autobiographie diese gleichsam korporativ eingebettete Persönlichkeitsbildung als
»morphologische
Individuation« ( G c s c h i c h t c der Autobiographie. 4 B ä n d e . Bd. 3 / 1 , F r a n k f u r t / M . 1949, S. 21). Alle F o r m e n , mit denen ein Individuum sich selbst beschreiben k a n n , sind als Verkörperungen transindividueller Normen und Vorstellungen lesbar.
Die Semantik
des
Geständnisses
75
scr nach, nimmt im Winter zu und ist im Grcisenaltcr vorherrschend. Wenn sie weder in zu hohem noch zu geringem Maße fließen, ist der Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte."
Die traditionsbildende u n d bis in weit in die Neuzeit vorherrschende »dualistische Konzeption« 1 2 des Menschen läßt sich nach Duby wie folgt beschreiben: Jeder Mensch besteht aus Leib und Seele, aus Fleisch und Geist. Auf der einen Seite existiert die vergängliche, ephemere Materie, die dem Verfall unterworfen ist, die wieder zu Staub werden muß, aber zu Umkehr aufgerufen ist, um am Tage des Jüngsten Gerichts wieder auferstehen zu können. Auf der anderen Seite befindet sich die unsterbliche Seele. So zeigt sich folgende Topik. Auf der einen Seite erscheint das, was von der Bürde der Leiblichen niedergedrückt wird, auf der anderen Seite alles, was zur himmlischen Vollkommenheit strebt. D e m n a c h galt der Körper als gefährlich u n d selber der Gefahr ausgesetzt. Vom Körper, genauer: von seinen unteren Teilen, in denen der Sitz der Leidenschaften vermutet wurde, gingen böse u n d vor allem vom Geist nicht beherrschbare Triebe aus. In ihnen >wohnte< das Böse u n d die Verderbtheit. Der Körper wurde als Sitz ein begehrtes Objekt der sühn e n d e n u n d läuternden Strafe, denn man erhoffte sich, durch Riten der Kasteiung des Körpers die durch Sünde u n d Schande beschmutzte Seele zu reinigen. Die Seele schien durch ihre körperliche Hülle hindurch: der Leib war nicht mehr als die Wohnung der Seele, oder genauer: der Hof der Seele domestizierte also die Leidenschaften des Fleisches.
2.
Die Semantik des Geständnisses
Durch die Institutionalisierung der Pflichtbeichte tritt ein Problem auf, das man als Hypertrophie von Sündendaten beschreiben könnte. D e n n mit der epochalen Verinnerlichung von Schuld, wie sie sich an der Ethik
des Abaelard zeigen
läßt, rückt - im Gegensatz zu den am Wert der satisfikatorischen Werke orientierten Bußverfahren - die Befragung des einzelnen u n d das Geständnis in den Mittelpunkt. Wenn die je individuelle Sünde einen Schandfleck auf dem Immakulaten Körper der Kirche bedeutet, dann besteht die Aufgabe der Pflichtbeichte
11
12
Anonymus, De mundi constitutione, in: PL, Bd. XC. Zit. nach Raymond Klibansky/ Erwin Panonfsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt/M. 1998, S. 39. Georges Duby: Situationen der Einsamkeit: 1 1 . - 1 3 . Jahrhundert. In: Philippe Aries / Georges Duby(Hgg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach. Augsburg 2000, S. 471 584, hier: S. 484ff. Die folgende Darstellung und Rekonstruktion des Körperbildes in dieser Periode übernehme ich von Duby.
76
Zeichen des Körpers - Körper der
Zeichen
darin, nicht nur den individuellen, sondern auch den ewigen Körper der Institution von diesem Schandfleck zu reinigen. Um dieser komplexen Aufgaben Herr zu werden, erfindet die Kirche die neuartige Gattung der Beichthandbücher. In diesen geht es unter anderem um Strategien der Lektüre von Körperzeichen und um Fragetechniken zur Motivierung von Geständnissen. Den Beichthandbüchern geht es darum, den individuellen Fall in den Blick zu nehmen und das durch die Institutionalisierung der Pflichtbeichte gewonnene Material zu systematisieren. Ihre Aufgabe und Ziel bestand darin, de poenitentia jurisconsultorum modo scribere et juris principia ad forum poenitentiale ita, ut confessiarius in administrando sanctae poenitentiae sacramento qua jus praecipat, doceatur adhibere. 13
Die Beichthandbücher stellen somit einerseits ein Medium der Eruierung und der Verwaltung (administrando) von Erkenntnissen dar, die in den Beichtgesprächen gewonnen worden sind. Sie dienen der dogmatischen Erfassung möglicher Sünden, wie es das Kirchengesetz vorschreibt. Die Kasuistik der Summen, Manuale und Beichtspiegel erlaubt dem Beichtvater eine differenzierte Beurteilung in allen möglichen Bereichen des Lebens; die Verwandlung des Terrains des Lebens in eine Terrain der Kasuistik macht eine statistische Sammlung dieser Daten notwendig. Dies ist die institutionelle Seite. Darüber hinaus wird der Beobachtung des Beichtenden gleichzeitig eine Reihe von Schemata an die Hand gegeben, mit deren Hilfe die Selbstthematisierung beobachtet werden kann: Nicht-Sünde/Sünde, Erinnern der Sünden/Löschen durch die Absolution, Reden/Schweigen; all diese Kodierungen helfen im Sinne der systemtheoretischen Kommunikationstheorie dabei, das Medium der Sprache zu formieren und die Formen lesbar zu gestalten. 14 Die Frage ist, inwiefern Sünden, die vor allem eine Schuld der Seele voraussetzen, auf die Sozialstruktur bezogen werden können. Das frühe Mittelalter, war, wie Hahn mit Jacques Le Goff ausführt,
13
Fr. Joh. Schulte, Roberti Flamesburiensis Summa de Matrimonio et de Usuris ex Roberti Poenitentiali edid, Gissae 1868, p.VII. Zit. nach Johannes Dietterle: Die Summae confessorum (Sive de casibus conscientiae) von ihren Anfängen bis zu Sylvester Prierias unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bestimmungen über den Ablaß. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 24, 1903, S. 3 5 3 - 3 7 4 , S. 5 4 0 - 5 4 8 , 25, (1904), S. 2 4 8 - 2 7 2 , 26, (1905), S. 5 9 - 8 1 , S. 3 5 0 - 3 6 2 , 27, (1906), S. 7 0 - 8 3 , S. 166-188, S. 2 9 6 - 3 1 0 , S. 4 3 3 442, 28, (1907), S. 401 - 43, hier: 24, 1903, S. 353.
14
Vgl. die Formulierung in Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte. In: Ders. : Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt/M. 2000, S. 1 9 7 - 2 3 7 , hier: S. 207: »Der einzelne wäre bald am Ende mit seinem Blick ins Innere, wenn ihm keine Karte für seine Seclenlandschaft an die Hand gegeben würde.« (Hervorhebung, M.S.)
Die Semantik
des
Geständnisses
77
eine »extrovertierte Welt«,15 in der es nicht so sehr darum ging, in der Buße 16 private Intentionen zu offenbaren, sondern eher darum, Verhaltensweisen zu bekunden und sie in den interaktionellen Verkehr einzuspeisen. Es ist in dieser Hinsicht ein Bruch, wenn zumindest dogmatisch die Intention in den Mittelpunkt der Sündenlehre tritt, da sie an die Beobachtung große Probleme stellt. Die Riten der Bußen sind interaktioneil kontrollierbar, da sie den Sünder in den Raum der Öffentlichkeit stellen. Das Beichtverfahren hingegen funktioniert ja gerade unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Ethik des Abaelard gilt im allgemeinen als die diskursive Voraussetzung des neuen Sündenbewußtseins. 17 Nicht nur die Tat allein, sondern auch den innerliche Akt der Zustimmung hält Abaelard für bekenntniswürdig. Der Begriff der Gedankensünde als Voraussetzung der Sünde in Worten und Werken wird hier verschärft, denn, was sittlich gut oder böse ist, entscheidet der Wille, etwas zu tun oder zu unterlassen. Somit ist die Sünde eine Schuld der Seele. Abaelard schreibt in der Ethica: Laster ist also das, wodurch wir zum Sündigen bereit gemacht werden, d.h., wir werden geneigt in ein Tun oder Lassen einzuwilligen, das nicht recht ist. Diese Zustimmung nenn e n wir im strengen Sinne der Wortes >SündeSchuld der Seele< ist das, was Objekt des Wissens werden sollte. Der innere Akt der Zustimmung zur Tat der Sünde ist nun das Vergehen. Der, wie Flasch schreibt, durch Abaelard entdeckte »Innenraum der moralischen Reflexion« 19 öffnet einen Raum der Selbstthematisierung. In diesem Raum geht es darum, innerhalb der Beichte die Scham zu bekunden, jene immer wieder verlangte reuige Zerknirschung über die sündhafte Absicht kundzutun. Der dadurch initiierte Prozeß läßt sich mit Brunstein und Duby folgendermaßen zusammenfassen: Da die Sünde nun intimsten Winkeln zur Introspektion, wurde n a c h innen
15
nicht mehr in der Tat, sondern in der Absicht wurzelte und in den der Seele wohnte, signalisierte die neue Konzeption die Einladung zur Gewissenserforschung. Die Agentur der sittlichen Steuerung verlagert, in eine private Sphäre, die nichts m e h r mit der Gcmein-
Hahn, Z u r Soziologie der Beichte, S. 198.
16
Vgl. oben die Bemerkungen zur Tertullian u n d zu Augustinus.
17
Vgl. noch einmal H a h n , Z u r Soziologie der Beichte, S. 199f. und zu Abaelard die Darstellung in Kurt Flasch: Die Philosophie des Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart 1986, S. 2221
18
Petrus Abaelard: Ethica I. Zit. in der Übersetzung von Kurt Flasch. In: ders. : Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Bd. 2: Mittelalter. Stuttgart 1982, S. 2 7 0 - 2 7 9 , hier: S. 272.
19
Flasch, Die Philosophie des Mittelalters. S. 222.
78
Zeichen
des Körpers - Körper der
Zeichen
schaft verband. Der reuige Sünder reinigte sich vom Makel seiner Sünde durch Zerknirschung, durch den Wunsch n a c h Erneuerung, durch die Arbeit an sich selbst f...]. 20
Die eigentliche Vergebung erlangte der Sünder dadurch, daß er die innere Wirklichkeit der Sünde tilgt, indem er versuchen muß, die Intentionen vor das forum internum zu holen, um sie dort zu negieren. Für das Verfahren der Negation hat die Theologie der Beichte den Term >contritio cordis< eingeführt, der besagt, daß in der innerlichen Zerknirschung über die Wirklichkeit der Sünde die Schandtat der Sünde offenbar wird. Im Hinblick darauf, daß der Sünder sich seiner Taten und der ihr zugrundeliegenden Intentionen erinnern muß, bewirkt die Vergebung durch den Priester ein Vergessen, das aber wiederum keine individuelle, sondern eine institutionelle Angelegenheit ist. Der Priester löscht kraft seines Amtes, das ihm von der Kirche verliehen wurde, die Sünden. So zeigt sich hier eine institutionelle Dialektik zwischen Erinnern und Vergessen: Durch die in der Beichte geforderte Erinnerung des Einzelnen an seine Sünden, durch die Thematisierung vergangener Lebensbereiche entsteht so etwas wie ein autobiographisches Gedächtnis des Einzelnen, das sich mit Sündendaten füllen muß. Die erinnernde Selbstbeschreibung von Personen ist somit keineswegs eine Angelegenheit der Natur, sondern benötigt, wie Hahn zeigen kann, Biographiegeneratoren 21 für die Genese eines autobiographischen Gedächtnisses - das heißt Spezialinstitutionen, in denen das Subjekt sich selbst thematisieren, sich an vergangene Taten, an seine Vergangenheit erinnern muß. Alois Hahn und Cornelia Bohn fassen den Effekt der institutionell verankerten Selbstthematisierung folgendermaßen zusammen: »Die Sünde individuiert vor Gott und damit natürlich im Gedächtnis des Sünders, der sich in der Beichte seiner Schuld erinnert.« 22 In der Öffnung dieses Gedächtnisses und im Geständnis offenbart sich das Subjekt innerhalb der Institution der Beichte. Nun ist die Einrichtung der Pflichtbeichte vor dem Hintergrund der sowohl juristischen wie kirchenrechtlichen Innovation des IV. Laterankonzils lesbar. Der die Pflichtbeichte betreffende Kanon des Laterankonzils lautet wie folgt: Jeder Gläubige beiderlei Geschlechts, der die Unterscheidungsjahre erreicht hat, m u ß alljährlich wenigstens einmal seinen zuständigen Pfarrer seine Sünden treulich beichten, die ihm auferlegte Buße nach Kräften vollziehen und wenigstens an Ostern das Sakra-
20
Duby, Situationen der Einsamkeit: 1 1 . - 1 3 . Jahrhundert, S. 476f.
21
Hahn, Alois: Identität und Selbstthematisierung. In: ders./Volker Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/M. 1987, S. 9 24.
22
Alois H a h n / Cornelia Bohn: Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung. Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft. In: ders./ Herbert Willems (Hgg.): Identität und Moderne. Frankfurt/M. 1999, S. 3 3 - 6 2 , hier: S. 45.
Die Semantik
des
Geständnisses
79
ment der Eucharistie andächtig empfangen, es sei denn, daß der Priester aus guten Gründen den Empfang auf einige Zeit versagt hätte. Wer das nicht tut, wird von der Kirche ausgeschlossen und erhält, wenn er stirbt, kein christliches Begräbnis. Auch muß diese Verordnung häufig in den Kirchen verkündet werden, damit sich niemand mit Unwissenheit entschuldigen kann. [...1 Der Priester aber (der Beichtvater) muß vorsichtig und klug sein, in die Wunden Wein und Öl gießen und die näheren Umstände der Sünde und des Sünders genau erforschen, um zu finden, welchen Rat er geben, welches Mittel er anwenden müsse, um den Kranken zu heilen. Auch muß er sich sehr hüten, den Sünder durch irgendein Wort oder Zeichen zu verraten, und wenn er (wegen der Beichte) den Rat eines klügeren Geistlichen einholen will, so darf er dabei die Person nicht andeuten. Wer eine im Beichtgerichte ihm geoffenbarte Sünde bekanntmacht, soll nicht nur des priesterlichen Amtes entsetzt, sondern auch in ein strenges Kloster gesperrt werden, um Buße zu tun. 23
Nicht nur wird hier die Institution begründet, sondern es gelingt auch die Eröffnung eines Szenarios. Zunächst einmal wird sichergestellt, daß innerhalb der Kommunikationsstrukturen der Kirche durch die Mündlichkeit der Predigt das neue Institut auch verbreitet wird - jede Gemeinde hat dafür zu sorgen, daß das neue Institut überall bekannt gemacht wird. Niemand kann sich also durch Unwissenheit entschuldigen. Der Priester, dem ja die Lossprechung von den Sünden obliegt, wird nun auf eine ganz spezielle Weise adressiert. Die Anweisungen an ihn, >vorsichtig und klug< zu sein, also gerade sein eigenes Verhalten zu beobachten, um so die näheren >Umstände der Sünde und des Sünders< genau erforschen zu können, erscheint hinsichtlich eines bestimmten Forums und einer bestimmten Form der Kommunikation aufschlußreich. Vorsichtigkeit und Klugheit sind zwei Attribute, die sich auf das Beichtgericht beziehen lassen. Denn das rechte Maß in der Beurteilung der Vergehen und die Vorsicht hinsichtlich dessen, was es innerhalb des Beichtverfahrens zu eruieren gilt, sind sehr genaue Anforderungen an den Priester, die das Verfahren mit einem Beichtgericht, also einer rechtlich geregelten Form der Untersuchung zusammenbringen lassen. Doch der Zusammenhang betrifft nicht nur die Ebene der Übertragung im Symbolischen, sondern bezeichnet vielmehr einen Zusammenhang der juridischen mit theologischen Verfahren. In diesem Zusammenhang ist es von elementarer Wichtigkeit, daß das Laterankonzil auch den berühmten Inquisitionsprozeß einführte, der dem Geständnis ja auch eine neue Rolle zuwies. 24 Die Häresie wurde als ein »geistiges Verbre-
23 24
Foreville, Lateran I-IV, S. 417f, c.21. Das Folgende stützt sich auf Henry Charles Lea: Geschichte der Inquisition im Mittelalter. Autorisierte Übersetzung, bearbeitet von Heinz Wieck und Max Rachel. Revidiert und herausgegeben von Joseph Jansen. 3 Bände. Unveränderter Nachdruck der f905 bei Georgi, Bonn, erschienen Ausgabe. Ulm o.J, Bd. 1, Kapitel 9: Das Prozessverfahren der Inquisition, S. 445-480.
80
Zeichen des Körpers - Körper der
Zeichen
chen« 25 angesehen und als ein solches verurteilt. Dementsprechend ging es darum, dem der Häresie Verdächtigen »Anzeichen« 26 des Glaubenszweifel zu entlocken. Nun war aber der willentliche Entschluß zur Häresie, die innere Überzeugung des Glaubens an die Irrlehren allein Anlaß genug, jemanden zu verurteilen. Voraussetzung dessen war das Geständnis, denn niemand konnte verurteilt werden, wenn er nicht das Vergehen gestanden hatte. 27 Nun ist das Geständnis ein Ritual, in dem das sprechende Subjekt mit der Objekt der Aussage zusammenfällt, und zugleich ist es ein Ritual, das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet, denn niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist, die das Geständnis fordert, erzwingt, abschätzt und die einschreitet, um zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen; ein Ritual, in dem die Wahrheit sich an den Hindernissen und Widerständen bewährt, die sie überwinden mußte, um zutagezutreten; ein Ritual schließlich, wo die bloße Äußerung schon - unabhängig von ihren äußeren Konsequenzen - bei dem, der sie macht, innere Veränderung bewirkt: sie tilgt seine Schuld, kauft ihn frei, reinigt ihn, erlöst ihn von seinen Verfehlungen, befreit ihn und verspricht ihm das Heil. 28
Um aber das Geständnis vorzubereiten bzw. um die Glaubwürdigkeit des Gestehenden zu testen, galt es, die Zeichen auf der Oberfläche des Körpers wahrzunehmen und zu protokollieren. Um dies zu erreichen, wurde die Verhörspraxis intensiviert. 29 Scheinbar nebensächliche Zeichen wie eine zuversichtliche Miene, ein Lächeln, eine freudige oder allzu schnelle Antwort auf die Frage des Inquisitors, unwillkürliche Zeichen wie das Erbleichen während der Antwort auf eine bestimmte Frage, das Erheben der Augen gen Himmel, Stottern in der Antwort auf eine Frage wurden als Anzeichen einer möglichen Häresie gedeutet und aufgeschrieben; der Inquisitionsprozeß ist eine Maschinerie zur Produktion von Zeichen. Genauso wie das orale Geständnis der Sünde in der Beichte zunehmend wichtiger wird, spielt das Geständnis innerhalb des Inquisitionsprozesses eine prominente Rolle. Damit wird ein medialer Aspekt in der Umstellung der institutionellen Selbstbeschreibung deutlich, der das Rechenschaft-Ablegen innerhalb der spirituellen Bürokratie der Beichte als einen formalen Akt kennzeichnet und 25 26 27
28 29
Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, S. 446 Ebd. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, daß auf dem Laterankonzil der Akkusationsprozeß und das Gottesgericht abgeschafft und der Inquisitionsprozeß als prominenter Modus des Verfahrens installiert wurde. Vgl. Lea, Gcschichtc der Inquisition im Mittelalter, S. 447. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 79f. Die folgenden Beispiele entnehme ich der Darstellung eines Musterverhörs in Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, S. 458ff.
Die Semantik
des
Geständnisses
81
gleichzeitig der Definition der Kirche als eine juridischen Körperschaft vorbereitet. Unter dem Canon 38 des IV. Laterankonzils heißt es unter der Überschrift Über die schriftliche Abfassung von Akten zur Durchführung des Beweisverfahrens: Im ordentlichen wie im außerordentlichen Gericht soll der Richter immer - soweit möglich - eine amtliche Person oder wenigstens zwei geeignete Männer hinzuziehen, die gewissenhaft alle Vorgänge vor Gericht protokollieren, wie da sind Vorladungen und Aufschubgewährungen, Verweigerungen und Prozeßeinreden, Bitten und Antworten, Fragen und Geständnisse, Zeugenaussagen und Vorlage von Beweismitteln, Zwischenbescheide, Berufungen, Verzichtserklärungen, Parteivorbringungen. Dieses und alles übrige, was vorkommt, soll in gehöriger Ordnung protokolliert werden unter Angabe von Ort, Zeit und Person und soll dann den Parteien ausgehändigt werden, und zwar so, daß die Originale bei den Gerichtsschreibern hinterlegt werden. 50
Das Gericht wird hier als ein Ort installiert, an dem die Akten und die protokollierten Vergehen gespeichert werden und für die weitere Informationsverarbeitung anheimgestellt werden. Nun betrifft dies das forum externum. Die allmähliche Ausdifferenzierung einer Sphäre der kirchlichen Jurisprudenz führt zu einer umfangreichen Systematisierung der Kasuistik. Denn nun oblag dem Priester nicht nur eine pastoraltheologische Aufgabe, sondern seine Tätigkeit läßt sich als die Exekutive kirchlicher Jurisdiktion beschreiben. Die Herausbildung kirchenrechtlicher Quellenliteratur führt zum bürokratischen Bedürfnis nach Systematisierung der Informationsbeschaffung: A conscientious prelate, who sought guidance in dealing with nearly any common problem - such as, for example, marital incest, adultery, rape, prostitution, property rights for concubines, or grounds for divorce, needed a large library. He had to resign himself (or more likely his clerks to hours of tedious searching in order to unearth the relevant conciliar enactments, papal decrees, or patristic dicta. Information retrieval, to call by its twentieth century name, posed major and often insoluble problems for pastors. Church adminstrators, and ecclesiastical courts. 31
Innerhalb der Beichtverfahren bedeutet dies eine mögliche Transformation des Wissens von den Sünden. Die dem Priester in der Beichte entgegentretenden Gewissensfragen warfen nicht nur ethische Probleme auf, sondern auch solche der Jurisdiktion. Die sich entwickelnde Kasuistik hatte zur Folge, daß die »bedeutenden Juristen oft zugleich halbe Theologen und die Theologen meistens halbe Juristen«32
5» Poreville, Lateran I-IV, S. 426, c.38 31 32
Watkins, A history of penance, Vol. 2, S. 767. (Hervorhebung, M.S.) R. Stinzing, Geschichte der populären Litteratur des römisch-katholischen Rechts in Deutschland, Leipzig 1867, S. 492. Zit. nach Johannes Dietterle: Die Summae confessorum (Sive de casibus conscientiae) von ihren Anfängen bis zu Sylvester Prierias - unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bestimmungen über den Ablaß. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 24, 1903, S. 3 5 3 - 3 7 4 , hier: S. 355.
82
Zeichen des Körpers - Körper der
Zeichen
waren. Diese historische Epoche »institutioneller Innovationen«33 brachte es mit sich, daß man sich durch die Übernahme bürokratischer Maßnahmen an die Verwaltung des Realen machte. Die Verwandlung von Sünden in casus verlangt, wie gezeigt wurde, in ihrer Hypertrophie nach einer Systematisierung und Archivierung. In bezug auf die Beichte rankten sich die dogmatischen Debatten um die Frage, ob der Sünder, der ja per definitionem als Mitglied des corpus christi verstoßen wurde, da er nicht mehr an den Sakramenten teilnehmen durfte, auch aus der juridischen Körperschaft der Kirche entfernt werden mußte und damit möglicherweise der kirchlichen Jurisdiktion entging.
3.
Transsubstantiation und Geraeinschaft der Kirche einen politischen
Politik ist die Kunst, Körper zu erzeugen
Die Durchsetzung des Terminus corpus mysticum, der als solcher »keine biblische Tradition«35 hatte, brach mit der Dogmatil« und der liturgischen Tradition. Die Soziologisierung der mystischen Körperschaft der Kirche bezeichnet einen Akt der Selbstsäkularisierung der sozialen Existenz der Kirche. Gleichzeitig ist die Selbstsäkularisierung die notwendige Bedingung für den Ausbau des Beichtinstituts zu einem Ort oder besser: Schauplatz kirchlicher Jurisdiktion, auf dem über den Sünder Recht gesprochen werden kann. Der Ausdruck >corpus mysticurm bezeichnet den gesellschaftlichen Leib der Kirche. Die Organologie der Beschreibung ist nun keineswegs zufällig, denn sie zieht die Frage die Frage nach der Regierung und der Regierbarkeit dieses Körpers nach sich.36 Denn bis zu dieser epochalen Wendung in der Form institutioneller Selbstbeschreibung bezeichnete man allein Christus als Haupt des corpus mysticum, als Kopf jenes mystischen Körpers, der den Gläubigen in der Eucharistie gegeben wird.37
55
Keller, Hagen: V o m »heiligen Buch< zur >Buchführung< Lebensfunktion der Schrift im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien, 2 6 , 1 9 9 2 , S. 1 - 3 1 , hier: S. 6.
54
Joseph Vogl: Asyl des Politischen. Z u r Struktur politischer Antinomien. In: Rudolf M a r e s c h / N i e l s Werber (Hgg.): Raum-Wissen - Macht. F r a n k f u r t / M . 2 0 0 3 , S. 1 5 6 - 1 7 2 , hier: S. 156.
35
Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 2 0 7 .
36
Auch die Staatsbeschreibung nutzte die Organologie als Lieferant möglicher Beschreibungen. Vgl. dazu Tilman Struve: Die Entwicklung der organologischen
Staatsauffas-
sung im Mittclaltcr. Stuttgart 1 9 7 8 , Teil V. 57
Vgl. L u b a c , Corpus mysticum. S. 18: »Corpus mysticum diente zur Bezeichung des Sakraments und nicht zur B e z e i c h n u n g der Kirche. Trotzdem wurde diese bisher bei kei-
Transsubstantiation Das corpus
und Gemeinschaft
mysticum
der Kirche
83
ist der »sakramentale Leib« 3 8 Christi. In der karolingi-
schen Theologie wird der eucharistische Leib Christi im Gegensatz zu seinem corpus
verum
der Eucharistie als corpus
mysticum
bezeichnet. Nun ist dieser
corpus gleichsam die Einheit von drei Körpern, wie Lubac zeigen kann. 3 9 Der erste Leib ist jener von Maria geborene und zum Himmel aufgefahrene Leib der reale Körper. Der zweite Leib ist der täglich qua Eucharistie neugeschaffene und konsekrierte - der sakramentale Körper; der dritte Leib ist schließlich jener, den die Gläubigen
mit der körperlichen
Partizipation
am
sakramentalen
Geschehen der Eucharistie bilden - der Körper der Kirche. D o c h bei aller Differenz innerhalb der Trinität der Körper bilden sie doch einen einzigen Leib: »aliud specialiter, et tarnen naturaliter unum«. 4 0
Die
geweihte Hostie, in der Christus präsent ist, wird durch die Einheit der drei Leiber »Zeichen und Pfand der Einheit des Leibes«. 4 1 Der Hyperleib der Hostie, der bei aller Differenz die Einheit der drei Leiber in dem einen »Totalleib« 42 repräsentiert, zeigt die Verborgenheit und Heiligkeit des Opfervorgangs wie dessen sozialorganisatorische, erinnernde und eschatologische Dimension. Im Laufe des 12. Jahrhunderts kommt es zur allmählichen Vertauschung der zwei Bezeichnungen. Für die Eucharistie spricht man fortan exklusiv vom corpus verum
Christ< oder seinem corpus
naturale.
Die Bedeutung von
mysticum
verblaßt, der Bezug auf den Christusleib verschwindet gänzlich. Nun stellt sich die Frage, wie es der Kirche gelingen kann, die ja nun auch ein »adminstrativer Organismus« 45 ist, sich Attribute des Juridischen zuzuschreiben. Die allmähliche Entwicklung der Kirche zu einer Körperschaft führt zu einer Verdoppelung des Körpers: »Duo sunt corpora Christi. Unum materiale, quod sumpsit de virgine, et spirituale collegium, collegium ecclesiasticum.« 4 4 Zum natürlichen Körper Jesu Christi gesellt sich der Körper der heiligen Kollegien, die die Kirche bilden. Sie bilden eine eigenständige Körperschaft. Mit dieser Trennung kann die Kirche so etwas wie eine »Rechtssubjektivität« 4 5 ausbilden. Dies hat zur Folge, daß sie als juristische Person handeln kann und beschrieben werden muß. Durch das Prinzip der Stellvertretung, d.h. der Stellvertretung der n e m einzigen
Schriftsteller
des christlichen
Altertums und frühen Mittelalters
als
B e z e i c h n u n g der Kirche festgestellt.« 38
L u b a c , Corpus mysticum, S. 42.
39
Vgl. L u b a c , Corpus mysticum, S. 37ff.
40
Anonymus: Dicta cuiusdam sapientis de corpore et sanguine domine adversus Radbertum. Zitiert bei Lubac, Corpus mysticum, S. 40.
41
Lubac, Corpus mysticum, S. 28.
42
L u b a c , Corpus mysticum, S. 42.
43
Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 2 1 1 .
44
S i m o n von Tournai, Disputatio 71. Zit. bei L u b a c , Corpus mysticum, S. 133 (Hervorhebung, M . S . ) .
45
Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, B d . 3, S. 2 4 9 .
84
Zeichen des Körpers - Körper der
Zeichen
juristischen oder fiktiven Person der Kirche durch autorisierte natürliche Personen wie Priester, Bischöfe und, als Haupt des Ganzen, den Papst, der nicht umsonst vicarius dei genannt wird, gewinnt die Kirche eine Rechtsform, die es ihr erlaubt, als eine solche zu handeln. Sie wird eine Anstalt zur Adminstration des Heils. Mit der oben angeführten Unterscheidung zwischen den zwei Körpern Christi, die ja keine theologische, sondern eine soziologisch-juridische ist, kann sich die Kirche als eine weltliche Institution beschreiben, die in dieser Welt Aufgaben wie Jurisdiktion, Besitzerwerb u.ä. zu übernehmen hat, aber dennoch nicht von dieser Welt ist. Die korporationslogische Beschreibung der Kirche differenziert sich gegenüber einer rein christologisch zentrierten Beschreibung aus. Thomas von Aquin wird dieser korporativen Logik der Selbstbeschreibung die Weihe der Philosophie erteilen. Er wird schließlich Folgendes dekretieren: »Sicut tota Ecclesia dicitur unum corpus mysticum per similitudinem ad naturale corpus hominis.« 46 Die Anthropomorphologie des Vergleichs zwischen der Kirche und dem menschlichen Körper wird, wie Kantorowicz gezeigt hat, 47 um eine zusätzliche Vergleichsebene erweitert, die den Körper Christi als Entsprechung zum mystischen Körper der Kirche setzt. Der Leib Christi wird hinsichtlich seiner sozialorganisatorischen Funktion qua Analogie zum Vorbild des Kollektivleibs der Kirche: »Considerandum est quod corpus christi verum est exemplar corporis Christi mystici [...] Corpus Christi mysticum [...] ad similitudinem corporis christi veri.«48 Die allmähliche Ausdifferenzierung einer korporationslogischen Beschreibung des individuellen Körper Christi bedingt die entscheidende Substitution der theologischen Selbstbeschreibung durch eine juristische, d.h. körperschaftliche orientierte Selbstbeschreibung. Thomas v. Aquin wird schließlich das »Band mit dem Altar« 49 zerschneiden, wenn er den Körper Christi mitsamt Haupt und Glied als »persona mystica« 50 beschreibt. Die mystische Person ist aber vom corpus mysticum weit entfernt, denn in diesem Vorgang entpuppt sich das Verfahren der allmählichen Substitution der Theologie durch die Jurisprudenz als fiktionale Basis zur Feststellung einer Rechtsfähigkeit der Kirche, d.h. dem Recht der Kirche, Jurisdiktionsgewalt auszuüben. Durch die Ketzerbewegungen und durch die Auswirkungen des Investiturstreits ist eine Erhöhung sozialer Komplexität auf die Kirche zugekommen, auf die die Kirche reagieren
46 47 48
49 50
Thomas von Aquin, S. th.3, quaestio 8, art.l. Zit bei Lubac, Corpus mysticum, S. 139. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 212. Thomas v. Aquin in bezug auf den Epheserbrief. Zit. bei Lubac, Corpus mysticum, S. 140, Anm. 71. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 213. Thomas v. Aquin, S. th, 3.q, 48, a. 2: »Dicendum quod caput et membra sunt quasi una persona mystica.« Zit. bei. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 213, Anm. 24.
Transsubstantiation
und Gemeinschaft
der Kirche
85
muß. Die daraus resultierende Systemdifferenzierung läßt sich zum einen als Veränderung der institutionellen Bürokratie und zum anderen als Veränderung der Selbstbeschreibung deuten. Die Beschreibung der Kirche als mystische und die Aufheizung der kühlen Verfahren der kirchlichen Bürokratie durch eine Semantik des Mystischen hatte vor allem zur Folge, daß das Gedächtnis der liturgischen Semantik dazu instrumentalisiert wurde, an die liturgische Sphäre zu erinnern, um somit die Kirche als die wahre Körperschaft Christi ins Spiel zu bringen. Die von Gierke eingeführte Differenz zwischen spiritualistischer Selbstbeschreibung der Kirche und einer an Hierarchie orientierten Erscheinung im Empirischen 5 1 hat zur Folge, daß sich die Institution der Kirche hinsichtlich ihrer korporativen Existenz neu situieren muß bzw. dafür eine neue, effektvolle und rechtlich bindende Entscheidungsstruktur finden muß. Der Versuch, die Struktur der Kirche auch korporationslogisch zu erfassen, wird an der Fiktion des mystischen Körpers ersichtlich. Dogmatisch gefaßt wurde diese Fiktion in der berühmten Bulle >Unan sanctam< aus der Feder von Bonifaz III: V o m G l a u b e n gedrängt sind wir verpflichtet, an eine heilige Kirche, katholisch und auch apostolisch zu glauben, o h n e die es weder ein Heil n o c h eine Vergebung der Sünden gibt, die
einen
mystischen Leib darstellt, dessen Haupt Christus darstellt, und das
Haupt Christi ist Gott. 5 2
Der eine mystische Leib, den die Kirche darstellt, zieht die Frage nach der >Lebenskraft< dieses Leibes nach sich. Vor diesem Hintergrund wandelt sich die Theologie der Sakramente. Die Sakramente sind einerseits Mittel zur Herstellung dieses einen Körpers und andererseits sind sie Repräsentation der Macht des einen mystischen Körpers. Die Einführung des Dogmas der Realpräsenz und der Transsubstantiation hat eine neue Auffassung der Rolle der Sakramente im Hinblick auf die Inklusion der Gläubigen zur Folge. Jegliches Leben ist institutiertes Leben, ist Leben in den Sakramenten. Somit ist die Teilnahme an den Sakramenten ein Sein im Körper der Kirche. Die Sakramente sind so Agenten einer soziosomatischen Koppelung zwischen Individual- und Sozialkörper. Die Seelsorge und ihr besonderer Augenmerk auf die Teilnahme an den Sakramenten in der mittelalterlichen Kirche läßt es zu, das »Amt der Sakramentsverwaltung« 5 3 einzurichten, das in der Körperschaft der Kirche elementare Funktionen ausübt. Der das Dogma der Transsubstantiation institutierende Text lautet:
51
Vgl. Von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, B d . 3, S. 2 4 4 .
52
Zit. nach: Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 2 0 6 .
55
August Hardeland: G e s c h i c h t e der speciellen Seelsorge in der vorreformatorischen Kirche und der Kirche der Reformation. I. Hälfte. Berlin 1 8 9 7 , S. 2 2 1 .
86
Zeichen
des Körpers - Körper der
Zeichen
Es gibt nur eine allgemeine Kirche der Gläubigen. Außer ihr wird keiner gerettet, in ihr ist Jesus Christus Priester und Opfer zugleich. Sein Leib und sein Blut ist im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten, nachdem durch Gottes Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesensvcrwandclt sind. 54
Die Transsubstantiation bewirkt also folgendes: das Wesen oder die Substanz des dargebrachten Weines und des Brotes wird in das Wesen des Leibes Christi und des Blutes verwandelt. In der Terminologie der aristotelischen Substanzlehre formuliert: Die Substanz wird bei Wahrung der Akzidentien (Geschmack, Farbe, Aussehen etc.) verwandelt.55 Die Transsubstantiation ist hinsichtlich der Organisation und der Präsentmachung von gemeinschaftsstiftenden sozialen Energien ein entscheidender Punkt. In aufwendigen Riten wurde immer der Leib Christi gezeigt und ausgestellt.56 Der sozialorganisatorisiche Effekt läßt sich vielleicht mit einem anonymen Zitat beschreiben: Wenn der König Ottokar von Böhmen der Messe beiwohnte, wurde sein Kind von ihm oder den Seinen in die Alme genommen, damit sich seine Augen auf die Eucharistie, die ja gewissermaßen der Spiegel des Heils ist, heften konnten. 57
Das Zeigen des corpus verum zeigt den Grund der Macht, stellt ihn aus. Wenn aber nun die Scheidung des theologischen vom juristischen Wissen eine Juridifizierung kirchlicher Akte zur Folge hat und die Institutionalisierung der Pflichtbeichte als »the most important legislative act in the history of the church«58 bezeichnet werden kann, dann muß man sich fragen, wie sich diese Juridifizierung innerhalb des Beichtinstituts zeigt. Die Frage, die sich aus der allmählichen Umschreibung hin zur einer Körperschaft ergibt, ist die nach dem Verhältnis der Körperschaft zu ihren Organen, die in sich eine weitere Frage impliziert, nämlich die Frage danach, wie die Kirche als eine Körperschaft an ihren Mitgliedern rechtsverbindliche Handlungen vornehmen kann.
54
Foreville, Lateran I-IV, S. 401. Bei Von Hefele, Conciliengeschichte, Bd. 5, S. 879 findet sich der lateinische Originaltext: Una vero est fidelium universalis ecclesia, extra quam nullus omnio salvatur, in qua idem ipse sacerdos et sacrificium Jesus Christus, cuius corpus et sanguis in Sacramento alteris sub specicbus panis et vini veraciter continetur, transsubstantiatis pane in corpus et vino in sanguinem, potestate divina, ut ad perfiendum mysterium unitatis aeeipiamus ipsi de suo, quod aeeepit de nostro.« (Hervorhebung M.S.).
55
Vgl. zur dogmengeschichtlichen Vorbereitung Burkhard Neunheuser OSB: Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit. Freiburg - Basel - Wien 1963, S. 22ff.
56
1264 schließlich wurde das Fronleichnamsfest ein fester Bestandteil des Kirchenjahres.
57
Historia annorum, 1264 - 1 2 7 8 , Anonymus. Zit. nach Peter Browe SJ.: Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter. Sinzig 1990. Unveränderter Nachdruck der Originalausgabe Max Hueber Verlag München 1933, S. 57 in bezug auf den Ritus der Elevation. (Hervorhebung, M . S . )
58
Lea, A History of Auricular Confession, Bd. 1, S. 230.
Transsubstantiation
und Gemeinschaft
der Kirche
87
Durch die Festlegung der Grenzen zwischen Kirche u n d Nicht-Kirche sieht sich die Kirche genötigt, die Binnendifferenzierung des Religionssystems u n d seiner Institutionen weiter voranzutreiben. Da der Status >Glied der Kirche< nicht mehr ohne weiteres gegeben war, beschäftigte man sich eingehend mit der Definition der Mitgliedschaft innerhalb der Kirche und den Modalitäten der Eingliederung in die Kirche. Um gegen die spiritualistische Kirchenauffassung der Ketzerbewegungen vorzugehen, insistierte man darauf, daß die Kirche in ihren Sakramenten eine »sichtbare Wirklichkeit« 59 besitze. Diese sichtbare Wirklichkeit in Szene zu setzen, gelingt mit einer bestimmten Semiologik des sakramentalen Zeichens. Wenn das Sakrament ein Zeichen ist, dann hat es die Funktion, das Bezeichnete nicht nur zu bezeichnen, sondern das Bezeichnete oder die bezeichnete Sache einzusetzen. christanae
fidei schreibt Hugo
von St. Viktor: »In sacramento autem non sola significatio
In seinem wichtigen Traktat De sacramentis
est, sed etiam e f f i -
cia«.m Dem Sakrament kommt nicht nur Bezeichnungsfunktion zu, sondern es stellt erst das her, was es bezeichnet. Das signunt k a n n zwar eine Sache bezeichnen, doch funktional betrachtet hat das Zeichen über seine Bezeichnungsfunktion hinaus die Fähigkeit, das Bezeichnete >einzusetzenFreund< anzusprechen habe, die Frage negativ beantwortet, so Gerson weiter, sei er sofort der Lüge überführt, da es allgemein anerkanntes Wissen oder Überzeugung (statim convincitur mendacii) sei, daß dies des öfteren allen Jungen passiere, so sie denn nicht unter physischen Defekten leiden.110 Der Hinweis auf die natürliche Entladung verdankt sich wiederum der Kombination Theologie/Medizin. 111 Es geht ja darum, den Beichtenden der innerlichen Zustimmung, die ja den eigentlichen Tatbestand der Sünde ausmacht, zu überführen. Der Beichtvater muß durch intensive Befragung herausfinden, ob der Beichtende willentlich die Erektion herbeigeführt hat. Gerson schlägt zur Feststellung des willentlichen Aktes folgende Fragen vor: Amice, nunquid erat i n d e c e n s ? Quid ergo faciebas ut n o n erigeretur? Et dicatur h o c vulto tranquillo, ut appereat quod illud quod quaeritur non sit inhonestum vel silendum, sed quasi remedium contra praestatam erectionis praetensam inhonestatem 1 1 2
Die Anweisung an den Beichtvater, dies mit ruhiger Miene vorzutragen (multo tranquillo), zeigt sich somit als eine direkte Konsequenz der kanonischen Direktive des Beichtdekrets, in der es ja heißt, der Priester solle vorsichtig und
Anregungen, allerdings wird weniger auf die E h e und die B e k e n n t n i s s e der Ehegatten eingegangen. S i e h e zu diesem K o m p l e x auch Georges Duby: D i e Frau o h n e Stimme. Liebe und E h e im Mittelalter. Berlin 1989. ίο» Vgl Tentler, Sin and Confession at the eve of the reformation, S. 91, dem ich den Hinweis auf diese Quelle verdanke. 109
Joannis G e r s o n : Tractatus de m o d o inquirendi peccata in confessione qui vulgo dicitur: D e confessione mollitiei. In: ders.: Opera omnia, tomus secundus. edidit Louis Ellies du Pin. N a c h d r u c k der Ausgabe Antwerpen 1706, Hildesheim - Zürich - N e w Y o r k 1992. S p . 4 5 3 - 4 5 6 , hier: S p . 4 5 3 .
110
Ebd.
111
Foucault, D e r G e b r a u c h der Lüste, S. 141ff.
112
G e r s o n . Tractatus de m o d o inquirendi peccata. S p . 4 5 4 .
101
Begehrende Körper
klug sein.113 Denn zeigte er sein Erschrecken über die Sünde, so wäre die Kommunikation zwischen Beichtvater und Beichtiger gestört, da der Beichtiger dann wiederum annehmen könnte, alter wüßte schon, was ego getan habe. Die Regungen zu zeigen wäre hinsichtlich der institutionellen Anforderung somit ein Störfaktor. Gerson weist darauf hin, daß das, wonach gefragt worden sei, nicht Ehrenrühriges oder zu Verschweigendes sei, sondern im Gegenteil etwas, was gestanden werden muß, damit der Sünder von seinen Sünden freigesprochen werden kann. Das Heilmittel (remedium) des Geständnisses ist das, was dem Sündern in der Beichte gereicht werden muß. Wenn der Pönitent immer noch die Antwort verweigert, muß es mit seinem Vergehen direkt konfrontiert und auf die Konsequenzen hingewiesen werden: [A]mice, nunquid palpabas aut fricabas virgam tuam quemadmodum pueri solent? Si o m n i o dicat quod n u m q u a m tenuit in statu stall vel fricuit; non potest ultra progredi nisi admirando & dicendo quod n o n est credible, hortando quod fit m e m o r salutis suae, quod est coram deo, & quod est gravissimum in confessione mentiri, & similia. 1 1 4
In Referenz auf die >Lebenswelt< des beichtenden Jungen ( q u e m a d m o d u m pueri solent)
wird der Junge daran erinnert, daß dies doch vorkommen müsse.
Der Kommentar von Gerson ist erneut sehr aufschlußreich. Wenn es der Fall sein sollte, daß der Beichtende immer noch darauf besteht, daß er sein Glied niemals ( n u m q u a m ) gehalten (stali), noch gerieben (fricuit)
hat, muß der
Beichtvater seinem Erstaunen Ausdruck verleihen und sagen, daß dies nicht glaubwürdig (credible)
sei. Darüber hinaus muß der Beichtende an sein Heil
erinnert werden bzw. daran, daß sein Heil in den Händen der Anstalt zur Verwaltung genau dieses Heils liegt: nämlich der Kirche. Diese Anstalt bzw. ihr Repräsentant muß den Beichtenden daran erinnern, daß zu lügen oder ähnliches in der Beichte ein schweres Vergehen sei, die in letzter Konsequenz sein Heil bedrohe." 5 Wenn es durch diesen Hinweis zu einem Geständnis gekommen ist, dann versucht der Beichtvater, beichtdekretgemäß »die näheren Umstände«' 16 der Sünde und des Sünders genau zu eruieren: A m i c e b e n e credo, sed per quantum spatium? per horam, aut dimidiam? & utrum tamdiu quod virga non plus erigeretur? & proferatur h o c quali Confessor non repturaret h o c insolitum vel peccatum. Si respondeat confitens quod ita fecit, tunc habetur intentum quod talis veraciter commisit peccatum mollite, etiam si propter aetatem n o n fuerit sub-
113
Vgl. Foreville, Lateran I - I V , c.21, S. 4 2 0 .
114
Ebd.
115
Dies ist eine gute Illustration der T h e s e Delumeaus vom unmittelbaren Z u s a m m e n h a n g zwischen der Drohung vor dem möglichen Verlust der Heils und der dadurch erzeugten Angst und der Untersuchung der Sünde. Vgl. Jean Delumeau: Le p e c h e et la peur, La culpabilisation en Occident ( X l l l e - X V I I I e siecle). Paris 1 9 8 3 , S. 2 2 I f f .
ι « Foreville, Lateran I - I V . c.21, S. 4 2 0 .
102
Zeichen
des Körpers - Körper der
Zeichen
sccuta pollutio; quoniam ibi est complemcntum dclccationis illccbrosac, & forsan perdidit virginitatem, saltem animi, & magis perdidit quam si pro illa aetate ivisset ad midieres. 117
Gerson weist den Beichtvater an, sich so verhalten, daß dem Beichtenden suggeriert werden soll, daß nicht das Geständnis das Abscheuliche ist, sondern die begangene Tat. Mit einem Wort: Der Beichtvater darf keinesfalls seine Abscheu kundtun, sein Erschrecken ist ein Affekt, der dissimuliert werden muß. Den Abschluß des Verfahrens bildet das Geständnis, das von Gerson in Analogie zu den Verfahren des Inquisitionsprozesses als Beweis (habetur intentum) gedeutet wird. Damit instituiert die Kirche den Körper als Ort der Wahrheit. Es ist der übertragene Ort, an dem die Wahrheit der Sünde gelesen werden kann. Die Tropen dieser Lesbarkeit zur Verfügung zu stellen, kann man somit als eines der Anliegen der Beichthandbücher bezeichnen. Noch in Beichthandbüchern des 19. Jahrhundert finden sich allerorten Anweisungen zum Geständnis. Das dixit totus umfaßt alle »unreinen Berührungen, alle unreinen Blicke und alle unehrbaren Reden, alle unkeuschen Rede.«118 Man sieht an dieser lange währenden Tradition, daß die Diskursivierung des Sexes und die Institutionalisierung des Geständnisses zwei komplementäre Techniken bilden. Darüber hinaus wird in der exzessiven Thematisierung von Sünden, die am Körper begangen wurden, der Status des Sünders im Körper der Kirche problematisch.
117
Gerson, Tractatus de modo inquirendi peccata, Sp. 454.
118
A. von Ligurori: Sämmtliche Werke, 3. Abt. Band 7: Der Katechet oder populäre Begegnungen über die Beobachtung der zehn Gebote und über den würdigen Empfang der heiligen Sakramente für Priester, die mit der Unterweisung des Volkes beauftragt sind, Regensburg 1844. Zitiert in Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 32.
V. Die Reformation der Selbstthematisierung
1.
Versprechen des Wortes und Zeichenökonomie der Sakramente Was du bist, bist du nur durch
Verträge.1
Die Neuformulierung der Rolle des Bekenntnisses durch die Reformation und die Veränderung hinsichtlich seiner Funktion innerhalb der Kirche hat eine grundlegende Entritualisierung des Glaubens zur Voraussetzung, die die Sozial-anthropologin Mary Douglas als wirkmächtigsten Faktor der Reformation hervorhebt.2 Die Entritualisierung betrifft, wie Douglas zeigen kann, vor allem die Zeichen des Glaubens - nämlich die Sakramente und ihre von der Reformation heftig inkriminierte magische Wirkung. Douglas folgend, könnte man behaupten, daß die Reformation die äußerlichen Formen der Glaubensstabilisierung durch die Verinnerlichung der Gottesbeziehung als Ausweis der Religiosität ersetzt. Dies ist Grundtext der Reformatoren. Der Kampf der Reformation gegen die, wie Luther in seiner Kampfschrift Von dem Papsttum zu Rom aus dem Jahre 1520 schreibt, »äußerlichen Gebärden«,3 die nur einen »äußerlichen Gottesdienst«4 garantieren, attackiert nicht nur die Medien, sondern das ganze System der Vermittlung des Glaubens. Die Theatralität und Perfomanz, ja die multisensuelle Qualität des katholischen Gottesdienstes5 weichen der Kühle eines Gottesdienstes, in dem Predigt und Gesang an erster Stelle stehen. Die gesamte, von Luther und den Reformatoren inkriminierte »äußerliche Pracht römischer
1
Richard Wagner: Das Rheingold, II. Aufzug. In: D e r Ring des Nibelungen. Vollständiger Text mit Notentafeln der Leitmotive. Herausgegeben von Julius Burghold. M ü n c h e n 6. Aufl. 1994, S. 29.
2
Vgl. Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. F r a n k f u r t / M . 1 9 8 6 , S. 23.
3
Martin Luther: V o n dem Papsttum zu R o m wider den h o c h b e r ü h m t e n Romanisten zu Leipzig D. Martinus Luther, Augustiner ( 1 5 2 0 ) . In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Karin B o r n k a m m und Gerhard Ebeling. B d . 3, F r a n k f u r t / M . 1995, S. 7 - 6 6 , hier: S. 24.
+
Ebd.
5
Vgl. dazu die Darstellung in Horst Wenzel: Hören und Sehen - Schrift und Bild. Kultur und G e d ä c h t n i s im Mittelalter, M ü n c h e n 1995, S. 9 5 - 1 1 5 .
104
Die Reformation
der
Selbstthematisierung
Gewalt« 6 , deren Inszenierung im Selbstverständnis der katholischen Kirche eine wesentliche Rolle spielt, wird durch die Kühle des wortzentrierten Gottesdienstes verlassen. 7 Ganz in dieser Tradition schreibt der Literaturwissenschaftler Manfred Koch: Generell ersetzt die Reformation das gemeinsame rituelle Agieren, bei dem größte Sorgfalt auf die äußerlichen Details des mit der heiligen Substanz befaßten Zeremoniells gelegt wird, durch die aufmerksame Betrachtung der Verheißung, die im Wort liegt. [...] Die sinnlichen Einzelheiten des Handlungsvollzugs werden so mit der Betonung der inneren Glaubensstärke zu Äußerlichkeiten. 8
Die Abwertung der Äußerlichkeiten führt zu einer bedeutenden Verschiebung innerhalb der religiösen Kommunikation. Betrachtet man die Kommunikationsstruktur von Ritualen einmal genau, dann haben sie eine Stabilisierungsfunktion für Kommunikation, indem sie »dazu dienen, das Risiko aller Kommunikation, den möglichen Fehlgebrauch der Symbole zu kontrollieren bzw. als kontrolliert darzustellen.« 9 Genau dies ist es, was Luther an der römischen Messe inkriminiert: Zuerst, damit wir zum rechten und freien Wissen von diesem Sakrament [des Altars, M.S.] sicher und segensreich gelangen, ist vor allem dafür zu sorgen, daß wir alles, was durch menschlichen Eifer und Leidenschaften hinzugetan wurde zu der ersten und schlichten
Stiftung diese Sakraments, beiseite stellen - wie Meßgewänder,
Zierat,
Gesänge, Gebete, Orgelspiel, Lichter und all jene Pracht der sichtbaren Dinge [...]. 10
Für Luther ist das Ritual der katholischen Messe ein falscher Symbolgebrauch, da das Substrat des Rituals, nämlich die »reine Stiftung«, 11 verstellt wird. Die Entkleidung symbolischer Formen des Glaubens, die Luther vornehmen will, bewirkt zunächst, daß alle Formen, die zwischen Gott und Mensch vermitteln sollen (Heilige, Bilder, Rituale und Zeremonien) abgeschafft werden, um das Substrat - die reine Stiftung - freizulegen. Was aber ist die >reine Stiftung