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German Pages XXI, 251 [266] Year 2021
Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis
Verena Bader
Mensch-TechnikVerflechtung Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis Reihe herausgegeben von Stephan Kaiser, Neubiberg, Deutschland
Die Reihe „Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis“ beinhaltet ausgewählte Schriften, die sich mit Theorien, Konzepten und Instrumenten für fortschrittsfähige Organisationen beschäftigen. Das Themenspektrum wird dabei durch die drei Eckpunkte, Personal-Organisation-Strategie, aufgespannt. Das Fundament der Schriftenreihe bilden wissenschaftlich fundierte Dissertationsschriften mit Anspruch auf Praxisrelevanz. Angereichert wird die Reihe durch für wertvoll erachtete Sam melbände aus Wissenschaft und Praxis. Die Verfasser wollen sowohl die Wissenschaft als auch die Führungspraxis mit Interesse an zukunftsfähiger Unternehmensführung ansprechen. Reihe herausgegeben von Prof. Dr. Stephan Kaiser Universität der Bundeswehr München
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13620
Verena Bader
M ensch-TechnikVerflechtung Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation Mit einem Geleitwort von Univ.-Prof. Dr. Stephan Kaiser
Verena Bader Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften Universität der Bundeswehr München Neubiberg, Deutschland Dissertation, Universität der Bundeswehr München, Neubiberg 2020 mit dem Titel: „Mensch-Technik-Verflechtung: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation“
ISSN 2570-0219 ISSN 2570-0227 (electronic) Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis ISBN 978-3-658-31669-3 (eBook) ISBN 978-3-658-31668-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort
Die heutige, stark digitalisierte Arbeitswelt ist in vielen Bereichen und im hohen Ausmaß durch immer intelligenter werdende Softwarelösungen geprägt. Diese werden in die Arbeitshandlungen durch den Menschen inkorporiert, es kommt zu einer regelrechten Mensch-Technik-Verflechtung. Interessant wird dies insbesondere dadurch, dass den intelligenten Softwaretechnologien und den darin verborgenen Algorithmen die Eigenschaft von Akteuren zugesprochen wird. Zum Teil nehmen diese uns sogar Entscheidungen ab und schreiben uns in der täglichen Arbeit vor, wie wir zu handeln haben. Insgesamt kommt es damit zu sogenannten hybriden Handlungskapazitäten und zu hybrider Intelligenz. Frau Bader nimmt sich diesen sehr aktuellen Herausforderungen der modernen Organisationsforschung an und kann dabei basierend auf zwei Fallstudien drei Ziele erreichen. Erstens kann sie die Entstehungsweise hybrider Handlungskapazität näher beleuchten. Zweitens werden die Mechanismen der Handlungshybridisierung selbst genauer betrachtet, so dass sich die Entstehung und Verstetigung besser erklären lässt. Drittens werden veränderte Praktiken als Folge der Handlungshybridisierung näher betrachtet. Die inhaltsreiche Arbeit leistet damit einen wichtigen Beitrag für Zukunftsfähigkeit von Organisationen und Arbeit in der Data Society. Frau Bader gelingt es, wichtige Erkenntnisse zum hybriden Handeln im Sinne der Verflechtung von Menschen und Technik zu liefern. Ihre Konzepte, wie z. B. das der „Verhedderung“, bereichern die wissenschaftliche Diskussion, in der das Zusammenwirken von Menschen und Technik aus einer praxistheoretischen Perspektive betrachtet wird. Die Untersuchung von Frau Bader ist aber auch für die Unternehmenspraxis interessant, da sich aus ihr Managementimplikationen ableiten lassen. So gelingt es in der Arbeit beispielsweise auf die Bedeutung der Entwicklung von Vorstellungswelten zur intelligenten Software hinzuweisen, damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Black Box „Algorithmus“ besser verstehen. Hierzu empfiehlt die Verfasserin etwa Narrative zu nutzen, die durch das Management in die Organisation getragen werden.
VI
Geleitwort
Es ist der vorliegenden Arbeit sehr zu wünschen, dass sie von Entscheiderinnen und Entscheidern in der Unternehmenspraxis und von Organisationsforscherinnen und -forschern, die sich für moderne Arbeitswelten und Technologie interessieren, aufgegriffen wird. Verena Bader liefert in ihrer Arbeit wichtige Erkenntnisse, um die mit intelligenten Techniklösungen verflochtene menschliche Arbeit in Organisationen besser zu verstehen und darauf aufbauend Gestaltungsempfehlungen vorzuschlagen. Somit leisten die Arbeit und die Verfasserin einen wichtigen Beitrag zur Forschung und Praxis zukunftsfähiger Unternehmensführung. München
Univ.-Prof. Dr. Stephan Kaiser
Vorwort
Ä$OLFHODXJKHGÃ7KHUHҲVQRXVHWU\LQJҲVKHsaid. ‚OQHFDQҲWbelieve impossible thingsҲ Ã,GDUHVD\\RXKDYHQҲWKDGmuch SUDFWLFHҲVDLGWKH4XHHQÃ:KHQ,ZDVyour age, I always did it for half an hour a day. Why, sometimes IҲve believed as many as six impossible things before breakfast.“ Carroll (1992, S. 210 f.)
Diese Arbeit geht darüber, wie wir Menschen untrennbar mit Technik verflochten sind und unser Handeln immer aus dem Zusammenwirken mehrerer miteinander in Beziehung stehender Elemente entsteht. Auch das vorliegende Buch und seine Inhalte entstanden logischerweise nicht losgelöst von meiner Umwelt, von mich umgebenden Menschen und Technik. All denen, die zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich an dieser Stelle danken. Großer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Stephan Kaiser. Er hat mich im Rahmen meiner Promotionszeit begleitet und den Kerngedanken meiner Arbeit mit geprägt, indem er mich auf Artefakte als Akteure aufmerksam gemacht hat und damit mein Interesse für einen anderen theoretischen Blickwinkel auf unsere digitalisierte Welt geweckt hat. Drei Dinge, die ich in dieser Zeit besonders an ihm geschätzt habe, sind: dass er stets und immer ansprechbar war, dass er mir Geduld und Gelassenheit vorgelebt hat, und, dass er mich mit Freiheit und Mitteln ausgestattet hat, meine Forschung auf Konferenzen und bei einem Auslandsaufenthalt weiterzuentwickeln. Prof. Dr. Bernhard Hirsch danke ich für die konstruktive Zweitbetreuung meiner Arbeit. Meinen beiden Betreuern, ebenso wie den weiteren Mitgliedern meiner Prüfunskommission, danke ich insbesondere, dass sie sich während der Corona-Pandemie für ein digitales Promotionskolloquium bereit erklärt und mir somit eine zügige Verteidigung ermöglicht haben. Praxistheoretische Forschung lebt davon, zu analysieren, was organisationale Akteure in ihren alltäglichen Praktiken tun. Ein großer Wert der vorliegenden Arbeit liegt deshalb in den reichhaltigen qualitativen Daten, die ich im Rahmen mehrerer Feldbesuche im Unternehmen sammeln konnte. Ich danke allen Beteiligten aus der Unternehmenspraxis, die mir einen Zugang zum Praxisunternehmen ermöglicht haben. Allen Ansprech- und Interviewpartnerinnen und -partern im Unternehmen danke ich für ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, mit mir zu teilen, wie sie Technik und ihre digitalisierte Arbeitswelt tagtäglich erleben. Ihre Geschichten stellen das Herzstück qualitativer Forschung und dieser Arbeit dar. Mein Dank gilt auch meinen ehemaligen und aktuellen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl: Dr. Maximilian Eberl, Andreas Jager, Benjamin Krack, Johannes
VIII
Vorwort
Lohwasser, Federico Mentzel, Ricarda Rauch, Linda Schmidt, Anna-Lisa Schneider, Dr. Armand Treffer, Christina Werner; allen voran Bianca Littig für die verlässliche Zusammenarbeit und das ein oder andere Einspringen in anstrengenden Zeiten. Ebenso gebührt Prof. Dr. Arjan Kozica und Sabine Hofinger ein Dankeschön. Sie haben meine Ideen und Kompetenzen zu Beginn meiner Lehrstuhlzeit geprägt. Frau Barth hat mir mit ihrer tiefen Kenntnis über unsere Universität stets weitergeholfen, ihre Worte haben mich in schwierigen Zeiten aufgeheitert. Des Weiteren danke ich allen Kolleginnen und Kollegen an der VU Amsterdam (KIN Center for Digital Innovation, inbesondere Prof. Dr. Marleen Huysman und Prof. Dr. Maura Soekijad) die mit ihren konstruktiven Fragen zur Weiterentwicklung meiner Gedanken beigetragen haben. Innerhalb der Fakultät danke ich ganz besonders Erna Herzfeldt, Nicole Alexy und Dr. Michael Schlattau – für den Spaß beim gemeinsamen Erschließen der Welt von Academia. Außerdem Martin Giehrl, Maria Manolia, Dr. Johannes Müller, Dr. Sebastian Ulrich und Dr. Tobias Röser für die stets erheiternden Kaffeepausen und Abende. Für die umfangreiche Unterstützung bei der Korrektur dieser Arbeit danke ich Elena Ankner, Daniela Bader, Judith Blumenschein, Verena Laub, Dr. Georg Loscher, Dr. Tobias Loscher, Dr. Johannes Müller, sowie Paul Kallert und Kilian Nebe. Sie alle hatten viel Arbeit und wenig Zeit. Ihre hilfreichen Korrekturvorschläge haben erheblich zur Verbesserung der Arbeit beigetragen. Aus vollem Herzen bedanken möchte ich mich für die Unterstützung, die ich im privaten Umfeld für meine Arbeit erhielt. Meinen Freundinnen und Freunden danke ich für ihre Geduld, soziale Entbehrungen und ihre mentale Unterstützung. Die Reisen und gemeinsamen Abenteuer mit Judith Blumenschein ebenso wie ihr positives Wesen haben mich mit durch die Zeit getragen. Gespräche mit Thomas Wächter und Stefan Jackermeier sowie den Passauer Mädels haben mich immer aufgeheitert und gefreut. Ganz besonders möchte ich Elena Ankner Danke sagen, dafür, dass sie mich stets in allen Belangen, mit offenem Ohr und messerscharfem Verstand begleitet. Meinen Freundinnen Lilli Laber sowie Viktoria Rapp und ihren Familien, ganz besonders Felix, danke ich für unsere lange und treue Freundschaft. Tiefsten Dank verspüre ich gegenüber meinen Eltern und meiner Schwester und ihrer Familie. Sie haben meinen Weg für diese Arbeit weit vor ihrem Beginn geebnet, waren mir Vorbild und Förderer. Sie schenken mir bedingungslose Rückendeckung, den Mut, Dinge anzugehen und das notwendige Durchhaltevermögen, um sie zu Ende zu bringen. Gerade zum Ende meiner Promotion hin haben Helena und Leonora für Freude gesorgt und zum Abschluss angespornt. Am Ende bleibt noch Dr. Georg Loscher, den ich in besonderer Weise erwähnen möchte. Er hat mich von Beginn meiner Arbeit an der Universität begleitet. Ohne ihn wäre meine Dissertation vermutlich nicht in dieser Form entstanden. Verena Bader
Inhalt
Geleitwort .......................................................................................................... V Vorwort .........................................................................................................VII Abbildungsverzeichnis ................................................................................... XV Tabellenverzeichnis ..................................................................................... XVII Abkürzungsverzeichnis................................................................................ XIX 1
Einleitung ............................................................................................1 1.1 Technische Durchdringung menschlicher Arbeit........................1 1.2 Organisationstheoretische Konzepte der Verflechtung als Perspektive und Forschungsdefizite............................................3 1.3 Zielsetzung, Beiträge und Aufbau der Arbeit ..............................6
2
Technik, Organisation und hybrides Handeln.................................9 2.1 Verortung der Studie im Materiality Turn der Organisationsforschung..............................................................9 2.2 Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Mensch und Technik...............................................................................11 2.2.1 Perspektiven auf den Handlungsbereich von Mensch und Technik ...................................................................12 2.2.2 Ontologische Grundannahmen ......................................15 2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln ..........18 2.3.1 Zum Handlungsbegriff ..................................................18 2.3.1.1 Menschliche Handlungskapazität ......................19 2.3.1.2 Materielle und algorithmische Handlungskapazität ...........................................20 2.3.1.3 Mensch vs. Technik und erste Vorstellungen von hybridem Handeln ......................................25 2.3.2 Zur Verortung von Handlungskapazität ........................30
X
Inhalt
2.3.2.1 Entanglement .....................................................31 2.3.2.2 Imbrication.........................................................33 2.3.2.3 Relationale Affordance ......................................34 2.3.2.4 Digitale Formation und Information ..................36 2.3.3 Zur Freisetzung von Handlungskapazität ......................37 2.3.3.1 Dynamische Rekonfiguration ............................37 2.3.3.2 Praktiken als Ort der Verflechtung ....................40 2.3.3.3 Performativität als Konfiguration von Handlungskapazitäten........................................42 2.3.4 Diskussion der Konzepte ...............................................44 2.4 Zusammenfassung der Überlegungen .......................................48 3
Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext .......................................................51 3.1 Methodologische Anforderungen zur qualitativen Analyse soziomaterieller Praktiken ........................................................51 3.2 Methodik ...................................................................................53 3.2.1 Qualitative Fallstudien und Kontrastierung ...................54 3.2.1.1 Forschungsprozess .............................................55 3.2.1.2 Fallauswahl ........................................................56 3.2.2 Datenquellen und Datensammlung ................................58 3.2.2.1 Semi-strukturierte Interviews ............................59 3.2.2.2 Beobachtung von Technologies-in-Use .............60 3.2.2.3 Informelle Gespräche.........................................61 3.2.2.4 Visuelle Daten ...................................................61 3.2.3 Datenauswertung und Theoriebildung ...........................62 3.2.4 Angewandte Qualitätskriterien ......................................66 3.3 Einführung in den Forschungskontext: Telekommunikationsunternehmen.............................................70 3.3.1 Tools und traditionelle Algorithmen im Personalmanagement .....................................................71 3.3.2 Analytics in Marketing und Vertrieb .............................73
4
Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation .....................................................................................75 4.1 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen .....................................................................................76
Inhalt
XI 4.1.1 Konfiguration materieller Handlungskapazität ..............77 4.1.1.1 Technische Darstellung .....................................77 4.1.1.2 Nutzungskontrolle..............................................85 4.1.1.3 Zusammenfassung: Konfiguration .....................89 4.1.2 Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen ..........90 4.1.2.1 Blackboxing .......................................................90 4.1.2.2 Narrative über Ersetztwerden oder Unterstützung und Merchandising .....................98 4.1.2.3 Technikzentrierte Sozialität .............................108 4.1.2.4 Zusammenfassung: Herausbildung einer Vorstellungswelt ..............................................113 4.1.3 Zwischenfazit ..............................................................113 4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung .........................................................................115 4.2.1 Integration....................................................................118 4.2.1.1 Erschließung der Funktionsweise und Gebrauchmachen .............................................119 4.2.1.2 Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken ..........................................................125 4.2.1.3 Zusammenfassung: Integration........................132 4.2.2 Neuausrichtung ............................................................133 4.2.2.1 Identitätsarbeit .................................................133 4.2.2.2 (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten.......141 4.2.2.3 Zusammenfassung: Neuausrichtung ................145 4.2.3 Orchestrierung .............................................................146 4.2.3.1 Übersetzung digitaler Informationen und Abbildung von Realität ....................................147 4.2.3.2 Wechselseitige Ausbesserung von Unzulänglichkeiten ..........................................153 4.2.3.3 Zusammenfassung: Orchestrierung .................157 4.2.4 Zwischenfazit ..............................................................158 4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln ......................162 4.3.1 Neuer Inhalt: Veränderungen von Aktivitäten in der Praktik .........................................................................163 4.3.1.1 Qualität der Aufgabenverrichtung und Entwicklungspfade von Leistung ....................164 4.3.1.2 Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion .......................................................171 4.3.1.3 Zusammenfassung: Inhaltliche Veränderungen von Praktiken .........................176
XII
Inhalt
4.3.2 Neue Form: Veränderung der Organisation der Praktik .........................................................................176 4.3.2.1 Leistungserbringung und -reflexion im Hybrid ..............................................................177 4.3.2.2 Veränderte Rollen und Zusammenarbeit innerhalb der Organisation ..............................183 4.3.2.3 Zusammenfassung: Veränderung der Organisation der Praktik ..................................188 4.3.3 Zwischenfazit ..............................................................188 5
Diskussion der Ergebnisse und Beiträge ......................................193 5.1 Synthetisierung der Ergebnisse in einem theoretischen Framework zu hybridem Handeln...........................................193 5.2 Theoretische Reflexion der Ergebnisse ...................................198 5.2.1 Soziale Dynamiken und Generativität der Inbezugsetzung für die Positionierung materieller und Repositionierung menschlicher Handlungskapazität ...198 5.2.2 Hybride Handlungsformen als Folge einer Verhedderung zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität .....................................................202 5.2.3 Hybridisierung als Antrieb für die Transformation von Praktiken ...............................................................207 5.3 Limitationen und Generalisierbarkeit der Ergebnisse ............211 5.4 Implikationen für die Forschung und weiterer Forschungsbedarf ...................................................................213 5.4.1 Beiträge zur Forschung zu lernenden Algorithmen im Arbeitskontext: Anthropomorphismus und neue Managementpraktiken .................................................214 5.4.2 Beiträge zur Mensch-Technik-Verflechtung: Verheddert – auf dem Weg zu einem Verständnis über die Entstehungsweise und Verstetigung von Mensch/Technik-Hybriden ..........................................215 5.4.3 Beiträge zur Praxistheorie: Der Wandel von Praktiken durch (dynamische) materielle Handlungskapazität .....................................................217 5.5 Implikationen für die Unternehmenspraxis.............................218
6
Schlussbetrachtung ........................................................................223
Inhalt
XIII
Literaturverzeichnis .......................................................................................225 Anhang ............................................................................................................247 Anhang 1: Interviewleitfaden .......................................................................247 Anhang 2: Übersicht über die Interviewpartner ..........................................249 Anhang 3: Dreistufiges Kodierschema.........................................................251
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11:
Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29:
Theoretischer Handlungsbereich von Mensch und Technik................................................................................15 Dynamische Handlungskapazität in datenbasierten Handlungen .........................................................................24 Gradualisierter Handlungsbegriff nach Rammert................29 Arbeit mit Repräsentationen................................................38 Prozess der Datenerhebung .................................................57 Auswahl und Verwendung der Fälle ...................................59 Vorgehensweise bei der Datenauswertung ..........................63 Analytischer Rahmen zur Datenauswertung .......................65 Soziale Dynamiken – Überblick..........................................76 Vereinfachte Übersicht über die technische Darstellung von IBM Interact .................................................................84 Plakat zur Erläuterung der Funktionsweise von IBM Interact im Schulungsraum ...............................................................97 Tiger-Logo auf dem GUI ..................................................102 Notizbuch mit Tiger-Logo ................................................103 Tiger-Statue im Innenhof ..................................................103 Tiger-Pokal auf dem Bürotisch .........................................104 Tiger-Figur im Step-Up .....................................................105 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen ......................................................................114 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung – Überblick ...........................................................................118 Sales Funnel, neue Messbarkeiten durch IBM Interact .....130 Visuelle Integration von Tiger in das Verkaufsgespräch ..131 Verhedderung ....................................................................158 Bündel von Kernmechanismen zur Verhedderung ............160 Veränderte Praktiken – Überblick .....................................163 3x3 Potential-Performance-Raster ....................................178 Veränderte Auffassung von Leistungsträgerschaft ...........181 Angebot-Verkaufs-Matrix und neue Leistungsbeurteilung ........................................................................183 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln..................190 Theoretisches Framework zu hybridem Handeln ..............194 Implikationen für die Unternehmenspraxis .......................222
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9:
Vergleichende Gegenüberstellung relationaler und substantieller Ontologie ......................................................18 Zusammenfassende Übersicht über Verflechtungskonzepte ..............................................................................46 Übersicht über die Datenquellen .........................................62 Übersicht über Qualitätskriterien qualitativer Forschung ...69 Übersicht über den Einsatz von SF .....................................72 Übersicht über den Einsatz von IBM Interact .....................74 Illustrative Daten zu den sozialen Dynamiken ..................115 Illustrative Daten zu den Kernmechanismen der Handlungshybridisierung ..................................................160 Illustrative Daten zu den veränderten Praktiken ...............190
Abkürzungsverzeichnis
ANT bzw. CEO d. h. GSHD GUI H HCM HR HRM IBM
i. d. R. IT M NBA NBO SAP
S-a-P SF STS THD z. B.
Akteur-Netzwerk-Theorie beziehungsweise Chief Executive Officer das heißt General Sales Help Desk Graphical User Interface (deutsch: Graphische Benutzerschnittstelle) human (deutsch: menschlich) Human Capital Management (deutsch: Humankapitalmanagement) Human Resources (deutsch: Personal) Human Resources Management (deutsch: Personalmanagement) International Business Machines Corporation (Unternehmensname des US-amerikanischen Informationstechnikherstellers und Beratungsunternehmens) in der Regel Informationstechnik material (deutsch: materiell) Next Best Action (deutsch: „Nächste beste Handlung“, die dem Callcenter-Agenten über IBM Interact angezeigt wurde) Next Best Offer (deutsch: „Nächstes bestes Angebot“, das dem Callcenter-Agenten über IBM Interact angezeigt wurde) Systeme, Anwendungen und Produkte in der Datenverarbeitung Societas Europea (SAP SE, Unternehmensname des deutschen Softwareherstellers) Strategy-as-Practice SAP Success Factors Science and Technology Studies (deutsch: Wissenschafts- und Technikforschung) Technical Help Desk zum Beispiel
1 Einleitung
„You are different with a gun in hand; the gun is different with you holding it“ Latour (1994, S. 33) Who or what is responsible for the act of killing?
1.1
Technische Durchdringung menschlicher Arbeit
Algorithmen, Analytics, Künstliche Intelligenz – digitale Technik durchdringt immer mehr Bereiche unseres Lebens (von Krogh 2018). Im Arbeitskontext herrschen seit der Einführung von Computern vor allem zwei dominante Deutungsmuster (Orlikowski und Gash 1994): Zum einen das Bild der intelligenten Maschine (Goffey 2008; Morton 1989; Prasad 1995; Turing 1950; Weizenbaum 1966) und zum anderen die Automatisierungsbedrohung, in der menschliche Arbeit 1 durch Technik ersetzt wird (Ekbia und Nardi 2014; Fleming 2019). Beide Deutungsmuster verstärken sich mit dem Fortschritt technischer Kapazität und deren stetigen Annäherung an menschliche Fähigkeiten (Barrat 2013). Dabei verwischen die Grenzen zwischen menschlicher und technischer Handlungsfähigkeit in sozialen Praktiken zunehmend (Beer 2017): War Technik lange Zeit als separates Gerät und Werkzeug an menschlicher Arbeit beteiligt, durchdringt sie diese aufgrund ihrer digitalen Form zunehmend und wird inkorporiert. Diese Durchdringung kann als eine Art Mensch-Technik-Verflechtung 2 beschrieben werden. 1
2
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in der vorliegenden Arbeit weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen. Die vorliegende Arbeit nutzt den Begriff Mensch-Technik-Verflechtung, wobei Mensch hier als Überbegriff für das Menschliche steht. In der Literatur zu Soziomaterialität werden Mensch und Soziales dabei oft austauschbar verwendet. Ebenso werden die Begriffe Technik und Materialität synonym verwendet (Cecez-Kezmanovic et al. 2014). Faulkner und Runde (2012, S. 51) bezeichnen als „technisches Objekt (. . .) jedes Artefakt oder auf natürliche Art und Weise aufkommende Objekt, das eine oder mehrere ihm zugeschriebene Handlungsfunktionen hat“. Es sei an dieser Stelle auch angemerkt, dass das englischsprachige Wort Technology im Rahmen der Arbeit durchwegs mit dem deutschsprachigen Begriff Technik übersetzt wird und nicht mit dem
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3_1
2
1 Einleitung
Digitale Technik repräsentiert den gesellschaftlichen Fortschritt, fungiert als Spiegel der sozialen Welt und greift zunehmend aktiv in diese Welt ein. Die Inhalte sozialer Medien beispielsweise legen Zeugnis über den derzeitigen technischen Fortschritts- und Wissensstand ab, sie hinterlassen aber auch ein digitales Abbild menschlicher Praktiken und ihre technischen Funktionen, beispielsweise ort- und zeitunabhängige vernetzte Kommunikation und Wissensaustausch (Kaiser et al. 2007; Kaiser und Müller-Seitz 2008), verändern, wie diese Praktiken ausgeführt und organisiert werden. In diesem Sinne stellt jedes von Menschenhand gefertigte Artefakt eine materialisierte Bündelung von menschlichem Wissen und vorausgegangener Arbeit dar. Wenngleich an diesen Beispielen eine direkte Wirkung von digitaler Technik auf menschliches Handeln nicht erkennbar ist, so finden sich in zunehmendem Maße auch direkte Eingriffe der Technik in menschliche Arbeit, sehr offensichtlich beispielsweise durch Push-Nachrichten (Orlikowski 2007). Aber auch weniger bis nicht sichtbare und kaum spürbare Wirkungen von digitaler Technik lassen sich erkennen, indem Algorithmen beispielsweise vorselektierte Informationen und Rankings bereitstellen und damit nicht nur menschliches Verhalten, sondern auch organisationale Realität beeinflussen (Orlikowski und Scott 2014). Die zumeist nicht direkt ersichtliche Aktivität von digitaler Technik erzeugt somit sichtbare und bisweilen unbeabsichtigte Konsequenzen in Organisationen und deren Praktiken (Orlikowski 2005). Das in der organisationstheoretischen und -soziologischen Forschung überwiegend als ein dem Menschen vorbehaltlich zugeschriebene Handeln kann somit nicht zuletzt mit Blick auf digitale Technik zunehmend als hybrides Handeln in Folge eines Zusammenwirkens zwischen menschlichen und materiellen Handlungskapazitäten verstanden werden. Allegorisch für hybrides Handeln gilt – wenngleich nicht im Sinne einer körperlich verschmolzenen Einheit – das Bild eines Cyborgs, in dem ein menschlicher Organismus durch technische Funktionen erweitert ist (Haraway 1998). In der wissenschaftlichen Diskussion wird zunehmend anerkannt, dass Handeln zunehmend nicht mehr nur ein Produkt menschlicher Intention ist (Nyberg 2009), und dass (digitale) Technik keine losgelöste Einheit ist, sondern nur in Verbindung mit Menschen im Hybrid funktioniert (Mazmanian 2019; Nyberg 2009; Pope et al. 2014). Trotzdem ist die Forschung zur Hybridität von Handeln im Sinne einer gemeinsamen Handlungskapazität zwischen Mensch und Technik noch in ihren Anfängen (Aanestad et al. 2018). In Anbetracht der Tatsache, dass sich organisationale Praktiken und Arbeit beim Gebrauch digitaler Technik fundamental verändern (Faraj et al. 2018; Sergeeva et al. 2015), wird umso wichtiger,
häufig umgangssprachlich verwendeten Begriff Technologie, der im Deutschen ursprünglich die „Wissenschaft von der Technik“ meint (Ropohl 2009, S. 31).
1.2 Organisationstheoretische Konzepte der Verflechtung als Perspektive und Forschungsdefizite
3
das empirische Phänomen einer Durchdringung menschlicher Arbeit durch digitale Technik genauer zu verstehen. Neue konzeptionelle Sichtweisen, die von einer Verflechtung zwischen Mensch und Technik ausgehen, stellen einen aussichtsreichen Zugang zu diesem empirischen Phänomen dar. 1.2
Organisationstheoretische Konzepte der Verflechtung als Perspektive und Forschungsdefizite
Die bisherige Organisationsforschung und die traditionelle Forschung zu Informationssystemen gingen überwiegend von isolierten Wirkeffekten zwischen Mensch und Technik als voneinander gesondert zu betrachtenden Entitäten aus (Müller-Seitz 2018; Orlikowski und Scott 2008). 3 Dabei dominieren zwei Positionen die bisherigen Studien: humanzentrierte Ansätze (a) und technikzentrierte Ansätze (b) (Orlikowski 2005). Perspektiven der Verflechtung (c) stellen eine vielversprechende Alternative dar, das empirische Phänomen zunehmend technischer Durchdringung zu erklären, weisen aber als relativ junge Konzepte Forschungsdefizite auf, an die die vorliegende Arbeit anknüpft. (a) Humanzentrierte Ansätze: Einerseits hat die organisationstheoretische Forschung Materialität, d. h. Objekte, Artefakte, Technik, lange Zeit nicht in den Analysen berücksichtigt (Orlikowski und Scott 2008). Insbesondere mit dem sogenannten Discursive Turn in der Organisationsforschung verschob sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf die konstitutive Rolle von Diskursen, Symbolen und Ideen für Organisation und Arbeit (Davies und Riach 2018). Greifbares Material im Sinne von Objekten und Artefakten, wie beispielsweise Gebäude, Möbel, Körper, Nahrungsmittel und nicht zuletzt Technik gerieten in den Hintergrund und wurden – wenn überhaupt – als schlecht fassbarer und schwer untersuchbarer Kontext in die Analysen miteinbezogen. Barad (2003) wies auf dieses Defizit hin: „Language matters. Discourse matters. But there is an important sense in which the only thing that does not seem to matter anymore is matter“ (Barad 2003, S. 801), und weckte damit zunächst ganz grundlegend Ideen darüber, dass Materialität eine unterschätzte Rolle in täglichem Handeln und zeitgleich einen zu geringen Stellenwert innerhalb wissenschaftlicher Forschung einnimmt. (b) Technikzentrierte Ansätze: Auf der anderen Seite werden sowohl in wissenschaftlichen als auch in praxisorientierten Diskussionen Algorithmen immer häufiger eine überwiegende Handlungsmacht zugesprochen, beispielsweise indem 3
Klassische Analyseansätze aus der Organisationforschung rücken Mensch, Technik und Organisation als Analyseeinheiten in den Vordergrund (Strohm und Escher 1997). Traditionelle Ansätze aus der Wirtschaftsinformatik unterscheiden bei Analysen häufig zwischen IT-Artefakt, IT-Nutzer, und IT-Aufgabe (Riemer und Johnston 2017).
4
1 Einleitung
sie in ihrer Fähigkeit, menschliche Kognition zu erweitern (Kallinikos 2007), betrachtet werden. Insbesondere im Kontext einer Entscheidungsunterstützung steht deshalb oft die Auffassung im Vordergrund, dass Algorithmen spezifische Macht haben, diese Entscheidungen weitgehend zu übernehmen (Kallinikos et al. 2012; Newell und Marabelli 2015). (c) Konzepte der Verflechtung als Alternative: In Reaktion auf die zuvor beschriebenen gegenläufigen Positionen – nämlich, dass Technik auf der einen Seite kaum (humanzentrierte Position), auf der anderen Seite eine dominierende Handlungsmacht gegenüber der menschlichen einnimmt (technikzentrierte Position) – wächst der wissenschaftliche Zuspruch für eine Zwischenposition, die eine relationale Sichtweise zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität vertritt. Aufbauend auf Giddens(ތ1979, 1986) Strukturationstheorie, nach der organisationale Strukturen sowohl Medium für als auch Ergebnis von sozialem Handeln sind, entwickelte sich ein Forschungszweig, der sich entlang der Schnittstelle zwischen Organisationstheorie und Forschung zu Informationssystemen bewegt. Den Verflechtungsperspektiven liegt ein praxistheoretisches Verständnis zugrunde (Schatzki et al. 2001), indem die Techniknutzung Dreh- und Angelpunkt für die Veränderungen von Praktiken ist. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine relativ junge und aufstrebende Vorstellung der Rolle von Technik in organisationalem Handeln handelt, weisen die aktuellen wissenschaftlichen Diskurse drei zentrale Forschungsdefizite dieser Konzepte auf:
Fehlende Beachtung sozialer Dynamiken zur Freisetzung algorithmischer Handlungskapazität: Die Verflechtungskonzepte bieten sich für die Untersuchung einer Assemblage (DeLanda 2016), d. h. einer Kombination von menschlicher und algorithmischer Handlungskapazität, bei der Einführung digitaler Technik und insbesondere für neue algorithmische Phänomene an. Dabei wurde die Handlungskapazität von Algorithmen bislang zu wenig diskutiert (Faraj et al., 2018). Sie sind als „[d]igitale Artefakte insofern eingebettet in umfangreichere, sich stetig verändernde Ökosysteme, dass sie zunehmend veränderbar, interaktiv, reprogrammierbar und verteilbar“ (Kallinikos et al. 2013, S. 357).
Die genannte Offenheit von Algorithmen legt nahe, dass menschliche Nutzung und die begleitenden sozialen Dynamiken (mit)bestimmen, wie Algorithmen ihre Handlungskapazität im Gebrauch entfalten und wie dabei die Beziehung zu Menschen und Grenzen der Handlungskapazitäten ausgehandelt werden (Mazmanian et al. 2014; Suchman 2007). Diesen sozialen Dynamiken wurde in der Forschung bislang zu wenig Beachtung geschenkt.
1.2 Organisationstheoretische Konzepte der Verflechtung als Perspektive und Forschungsdefizite
5
Mangelnder Fokus auf die Entstehungsweise und Verstetigung der MenschTechnik-Verflechtung: Die Forschungslandschaft, die sich mit der Verflechtung zwischen Mensch und Technik beschäftigt, ist hinsichtlich des ontologischen Verständnisses von Technik zerklüftet. Starke soziomaterielle Ansätze (Introna 2016; Orlikowski 2007; Orlikowski und Scott 2008) betrachten Mensch und Nicht-Mensch als Einheit und haben bei den Analysen deshalb bislang weniger auf die Entstehungsweise von Hybriden fokussiert (Mazmanian 2019; Nyberg 2009). Gegenpositionen (Leonardi 2011) halten an einer separaten Betrachtung sozio-materieller Assemblagen zwischen Mensch und Technik fest (Riemer und Johnston 2017). Letztere beinhalten zwar eine prozessuale Sichtweise, greifen aber trotzdem in ihren Erklärungen zu kurz, wie genau menschliche und materielle Handlungskapazität zum Hybrid werden und wie sich dieses Hybrid auf einen längere Zeitdauer verfestigt.
Vernachlässigung der Untersuchung von Veränderungen organisationaler Praktiken: Praxistheoretische Ansätze gründen auf dem Verständnis, dass Organisation durch eine Abfolge wiederholter Praktiken konstituiert wird (Leonardi 2013). Obwohl sie physische Materialität und Artefakte explizit als relevanten Bestandteil einer organisationalen Praktik verstehen, beispielsweise die Rolle von Whiteboards beim Abhalten von Meetings, stellen digitale Technik und Algorithmen noch immer einen vernachlässigten Untersuchungsgegenstand dar. Laut Reckwitz (2003) dominieren in praxistheoretischen Studien humanzentrierte Perspektiven. Diese humanzentrierte Sichtweise betrachtet zwar, wie Menschen Artefakte nutzen. Die Frage, wie Artefakte aber im Gebrauch, d. h. innerhalb von Praktiken, eine eigene materielle Handlungskapazität entfalten, wurde bislang weniger untersucht. Neben der generellen Vernachlässigung aktiver materieller Handlungskapazität in praxistheoretischen Studien gibt es daneben bislang immer noch wenige Analysen, die erklären, wie es zu einem Wandel von Praktiken kommt und spezifischer, welche Rolle Materialität bei derartigen Veränderungen spielt (Schatzki 2019).
Die gegenständliche Ausarbeitung knüpft an die beschriebenen Forschungsdefizite an. Für eine Erklärung von technischer Durchdringung von Arbeit greifen die beschriebenen theoretischen Annäherungen auf die Auswirkungen von Technik auf organisationale Praktiken, die eine human- oder technikzentrierte Perspektive einnehmen, zu kurz. Die theoretischen Perspektiven der Mensch-Technik-Verflechtung stellen deshalb den Startpunkt für die vorliegende Arbeit dar. Die Problemstellungen, die in den bestehenden Studien dieses relativ jungen Forschungsgenres noch nicht ausreichend problematisiert wurden, werden im Laufe dieser Arbeit adressiert.
6
1.3
1 Einleitung
Zielsetzung, Beiträge und Aufbau der Arbeit
Das zentrale Anliegen der Arbeit besteht darin, die bestehenden Konzepte der Mensch-Technik-Verflechtung in Anknüpfung an die oben erläuterten Forschungsdefizite zu erweitern. Insbesondere verfolgt die Arbeit drei Ziele: 1.
2.
3.
Erstens soll die Entstehungsweise hybrider Handlungskapazität näher untersucht werden. Hierfür ist es notwendig, zunächst die sozialen Dynamiken, die eine Hybridisierung von Handlungskapazitäten aktivieren, genauer zu untersuchen. Daran anschließend sollen die zugrundeliegenden Mechanismen der Handlungshybridisierung selbst (Cunha und Carugati 2018) genauer betrachtet werden, um die Entstehung und Verstetigung von hybrider Handlungskapazität besser zu erklären. Aus den vorhergehenden Zielsetzungen ergibt sich schließlich eine dritte, in der veränderte Praktiken (Faraj et al. 2018) als Folge der Handlungshybridisierung untersucht werden.
Um diese theoriegeleiteten Ziele zu erreichen, analysiert die Arbeit die Zusammenhänge zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität innerhalb softwaregestützter Praktiken am Arbeitsplatz. Die Analyse gründet auf einem explorativen Vorgehen im Rahmen eines qualitativ-empirischen Fallstudiendesigns. Dabei wird die Einführung und Nutzung zweier Arten von moderner Software, nämlich basierend auf klassischen und lernenden Algorithmen, kontrastiert. Auf Basis der empirischen Ergebnisse wird ein konzeptionelles Framework für hybrides Handeln innerhalb softwaregestützter Praktiken erstellt. Das Framework erfasst die aus der empirischen Analyse abgeleiteten konzeptionellen Dimensionen und bildet ihre möglichen Wirkungszusammenhänge ab (Osterloh und Grand 1995; Porter 1991). 4 Dabei knüpft die Arbeit an die beschriebenen Forschungsdefizite der Mensch-Technik-Verflechtung an und erweitert diese noch relativ junge und aufstrebende Forschungsperspektive in dreierlei Hinsicht:
Zunächst schärft die vorliegende Arbeit das Verständnis über die Besonderheiten von lernenden Algorithmen am Arbeitsplatz, indem sie anthropomorphische Handlungskapazität als neues Konzept identifiziert.
4
Laut Osterloh und Grand (1995) sind Frameworks ein Zusammenspiel aus deduktiv gebildeten Modellen und induktiv generierten Erkenntnissen aus Einzelfallstudien. Letztere sind deshalb nützlich, da neue, praktisch relevante Probleme enthüllt werden. Dabei sind die Variablen innerhalb eines Frameworks nicht gesetzartig aufgestellt, sondern es werden vielmehr die möglichen Beziehungen zwischen bestehenden Konzepten abgebildet.
1.3 Zielsetzung, Beiträge und Aufbau der Arbeit
7
Außerdem trägt die Arbeit zu Konzepten der Verflechtung bei, indem genau aufgezeigt wird, wie hybrides Handeln zwischen Mensch und Technik überhaupt entsteht und wie es verstetigt wird. Es werden drei Kernmechanismen für Handlungshybridisierung identifiziert (Integration, Neuausrichtung, Orchestrierung) und aufgezeigt, warum Mensch und Technik im Hybrid langfristig verflochten sind, was als Verhedderung bezeichnet wird. Im Rahmen der Arbeit zeigt sich zuletzt, wie die dynamische materielle Handlungskapazität von lernenden Algorithmen ein praktisches Verständnis hat und im Zusammenspiel mit dem Menschen, also im Hybrid, Praktiken verändern kann.
Um diese Beiträge aufzuzeigen, geht die Arbeit in sechs Schritten vor. Im gegenwärtigen einleitenden Kapitel 1 wurde beschrieben, weshalb die Untersuchung hybriden Handelns innerhalb digitaler Arbeit und Organisation sowohl als empirisches Phänomen als auch aus forschungstheoretischer Sicht relevant ist. Ebenso wurden die Defizite der bislang existierenden organisationtheoretischen Studien benannt und die Vorteile, wie eine theoretische Bezugnahme auf moderne Konzepte der Mensch-Technik-Verflechtung dabei unterstützen kann, ein grundlegendes Verständnis für hybrides Handeln am digitalen Arbeitsplatz zu schaffen. Das nachfolgende Kapitel 2 legt die theoretischen Grundlagen und damit Forschungskoordinaten für die empirische Untersuchung. Zunächst wird die Arbeit in die theoretische Strömung des Materiality Turns eingeordnet. Anschließend wird der aktuelle Forschungsstand zur Verflechtung zwischen Mensch und (digitaler) Technik aufgearbeitet. Es wird dabei anhand existierender Literatur aufgezeigt, wo Handlungskapazität verortet wird und wie sie freigesetzt wird. Dabei wird auf die klassischen Konzepte der Soziomaterialität und Sozio-Materialität, aber auch auf alternative Konzepte, wie die relationale Affordanz, (digitale) Formation und Information sowie dynamische Rekonfiguration eingegangen. Die dargestellten Konzepte bilden die Koordinaten für die empirische Analyse, deren Gang im darauffolgenden zweiten Teil genauer erläutert wird. Kapitel 3 der Arbeit fokussiert auf die Darstellung des eigenen Forschungsdesigns. Hierbei wird die gewählte Forschungsmethode kontrastierender qualitativer Fallstudien ausführlich dargelegt. Dabei wird zunächst das eigene Vorgehen erläutert, indem die Fallauswahl und die Kontrastierung der Fälle begründet werden. Nachfolgend werden die Datenquellen und die Datensammlung sowie das Vorgehen bei der Analyse genau beschrieben. Am Ende werden die im Forschungsprozess angewandten Qualitätskriterien erörtert, bevor anhand der Fallbeschreibungen in den Forschungskontext eingeführt wird. Auf die Erreichung der Forschungsziele arbeitet Kapitel 4 hin, in dem die Ergebnisse der empirischen Fallstudien präsentiert werden. Die Darstellung erfolgt systematisch entlang der Forschungsziele, indem die sozialen Dynamiken für die
8
1 Einleitung
Freisetzung materieller Handlungskapazität, die Kernmechanismen der Hybridisierung und die veränderten Arbeitspraktiken beschrieben werden. Kapitel 5 ordnet die gewonnenen empirischen Erkenntnisse in die bestehende Literatur ein. Hierfür wird als Erstes das aus den empirischen Ergebnissen abgeleitete theoretische Framework zu hybridem Handeln dargestellt. Im Anschluss werden die Ergebnisse anhand der existierenden Literatur reflektiert und die Limitationen ihrer Generalisierbarkeit aufgezeigt. Daraufhin wird noch einmal spezifisch darauf eingegangen, welche Beiträge die Arbeit zu den bestehenden Diskursen um Mensch-Technik-Verflechtung leistet und welche Anknüpfungspunkte sie für zukünftige Forschungsbestrebungen bietet. Ferner wird erläutert, welche praktischen Implikationen die Studienergebnisse für das Management von Technologies-in-Use vorschlagen. In Kapitel 6 rekapituliert die Arbeit die zentralen Ergebnisse und schließt mit einem kurzen Ausblick über ihre Relevanz im Hinblick auf sich andeutende zukünftige Entwicklungen.
2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
Die Perspektive der Mensch-Technik-Verflechtung entwickelte sich gegen Mitte der 2000er Jahre und kann deshalb als relativ junges Forschungsgenre betrachtet werden. Aufgrund der noch nicht ausgereiften Definitionen und Begrifflichkeiten stellt sich das gegenständliche Kapitel der Herausforderung, ein soziomaterielles Verständnis organisationaler Praktiken zu entwickeln. Hierfür werden die vorliegende Studie im sogenannten Materiality Turn der Organisationsforschung verortet und die Kernideen dieser Strömung dargelegt (vgl. Abschnitt 2.1). Im Anschluss wird ein Blick auf die historische Entwicklung der Rolle von Technik in der Organisationsforschung sowie auf die Wurzeln der Idee einer Mensch-Technik-Verflechtung geworfen (vgl. Abschnitt 2.2). Insbesondere werden die theoretischen Perspektiven auf den Handlungsbereich von Mensch und Technik ihre ontologischen Fundierungen erörtert. Nachfolgend werden dann die kontemporären Konzepte von Verflechtung und Handeln entlang der wissenschaftlichen Literatur erklärt (vgl. Abschnitt 2.3). Es wird dabei darauf eingegangen, was menschliche und materielle Handlungskapazität auszeichnet und wie die Forschung die Fragen nach der Verortung von Handlungskapazität sowie nach deren Freisetzung beantwortet. Die Konzepte werden kurz diskutiert bevor die theoretischen Überlegungen schließlich noch einmal zusammengefasst werden (vgl. Abschnitt 2.4). 2.1
Verortung der Studie im Materiality Turn der Organisationsforschung
Immer mehr Wissenschaftler heben die Bedeutung von Forschung zu Artefakten sowie deren Einfluss und Formung menschlicher Handlungen hervor (Boxenbaum et al. 2014; Jarzabkowski et al. 2013; Jarzabkowski und Pinch 2013; Mazmanian 2019; Orlikowski und Scott 2014; Whittington 2014; Zammuto et al. 2007). Diese Forderung liegt im sogenannten Materiality Turn (auch: Material Turn) (Vaujany und Mitev 2018) begründet. Die theoretische Bewegung hat in den 1990er Jahren Eingang in die Organisationswissenchaften gefunden und steht eng im Zusammenhang mit anderen Wenden, wie dem Practice Turn (Nicolini 2012; Schatzki et al. 2001) und dem Ontological Turn (Introna 2013; Kelly 2014; Vaujany und Mitev 2018).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3_2
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
Materialität wird dabei als essentieller Erklärungsfaktor für organisationale Phänomene gesehen. 5 Studien im Materiality Turn betrachten Objekte, Artefakte, Instrumente und Embodiment (im Sinne von Verkörperung und Gestalt). Dabei bewegen sich die Analysen entlang des Dreiecks Organisation – Artefakte – Praktiken (Vaujany und Mitev 2018). Die aktuellen Ideen im Material Turn wurzeln unter anderem in Marxismus-Studien (Olsen 2013))RXFDXOWތVFKHQ$QDO\ sen (Foucault 1982), in aktivitätstheoretischen Studien zu Materialität, Kultur und Psychologie 9\JRWVNLƱXQG&ROH und insbesondere der Wissenschafts- und Technikforschung (STS) (Law 1986; Vaujany und Mitev 2018). Konkret beziehen sich die bestehenden Arbeiten oft auf Theoretiker und Soziologen wie Heidegger (2010), Callon (1984) und Latour (1992, 1994, 2005), die alle die Bedeutung physischer Materialität und Technik in ihren Arbeiten betonen. Intuitiv wird Materialität meist aufgrund von Körperlichkeit und physischer Gestalt wahrgenommen. Diese intuitive Wahrnehmung erlebt derzeit einen Umbruch. Inspiriert von Studien zu Informationssystemen (Orlikowski 1992; Orlikowski und Barley 2001) wenden Organisationsforscher den Materialitätsbegriff auch auf scheinbar nicht-materielle (im Sinne nicht-physischer) Objekte an, die die digitalisierte Arbeitswelt umgeben (Leonardi 2010; Pink et al. 2016; Yoo 2012). Yoo (2012, S. 137) beschreibt Digitalisierung als „Verschlüsselung analoger Informationen in ein digitales Format und die möglichen nachfolgenden Rekonfigurationen des sozio-technischen Kontexts, in dem die Produktion und der Konsum von Produkten und Services stattfindet.“
Digitale Materialität wird dabei zum Teil ähnlich wie physische Materialität verstanden: Tische, Wände, Aufzüge formen täglichen menschliche Praktiken, indem sie es erlauben, bestimmte Handlungen auszuführen, und gleichzeitig an der Ausführung anderer Handlungen hindern (Leonardi 2012; Zammuto et al. 2007). Leonardi (2012, S. 42) definiert Materialität umfassend als „Arrangement der physischen und/oder digitalen Materialien eines Artefakts in bestimmte Formen, die über Unterschiede in Ort und Zeit hinweg Bestand haben und wichtig für ihre Nutzer sind.”
Bis zu einem gewissen Grad gilt also die auf festen Eigenschaften beruhende Definition von Materialität auch für digitale Artefakte. Trotzdem zeichnen sich letztere aus durch „höchst generative und dynamische Entwicklungsmuster“ (Yoo 5
Hierzu zählen etwa Emergenz, Persistenz und Wandel von organisationalen Routinen (D’Adderio 2011), Strategien (Jarzabkowski und Kaplan 2015), Innovationen (Boxenbaum et al. 2014; Orlikowski und Scott 2015) und Organisation an sich (Clegg et al. 2013).
2.2 Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Mensch und Technik
11
2012, S. 137). Digitale Materialität wird vor allem bestimmt durch ihre „praktische Instanziierung und Bedeutung“ (Leonardi 2010, § 1). Es stehen also nicht nur die Eigenschaften und Funktionsweisen einer Technik im Vordergrund, sondern vielmehr die Konsequenzen, die die Technik in „Mittäterschaft“ (Kallinikos et al. 2012, S. 9) von Menschen hervorbringt. In diesem Sinne wird im Materiality Turn (digitale) Materialität in ihrem Zusammenspiel mit Menschen untersucht. Die Bewegung schließt damit unmittelbar an den Practice Turn (Schatzki et al. 2001) an. Empirische Studien befassen sich beispielsweise mit Online-Bewertungen und Rankings (Espeland und Sauder 2007; Orlikowski und Scott 2014), Softwareprogrammen (Introna 2016) und Strategie-Tools (Jarzabkowski und Kaplan 2015). Das theoretische Erkenntnisinteresse gilt unter anderem der Regulierung und Steuerung durch Materialität (Lanzara et al. 2016; Vaujany et al. 2013; Fomin und Vaujany 2007), den räumlichen Dimensionen von Materialität, die beispielsweise durch Co-Working Spaces oder mobiles Arbeiten entstehen (Vaujany und Mitev 2018) und der Historizität und Zeit, die – sozusagen in Materialität gegossen Organisationen – prägen (Vaujany et al. 2014). Unweigerlich eng verknüpft mit der Forschung um Organisation – Artefakte – Praktiken ist die Frage nach der ontologischen Grundannahme über Materialität, d. h., was genau Objekte und Artefakte sind (Riemer und Johnston 2017; Vaujany und Mitev 2018). In diesem Sinne schließt der Materiality Turn an den Ontological Turn an und legt unterschiedliche ontologische Sichtweisen zu Grunde (Vaujany und Mitev 2015). Die vorliegende Studie bewegt sich innerhalb dieses beschriebenen Materiality Turns, genauer an der Schnittmenge zwischen Organisationsstudien und Forschung zu Informationssystemen und entlang der skizzierten Forschungskoordinaten zwischen Organisation – Artefakte – Praktiken. 2.2
Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Mensch und Technik
Obwohl Artefakte und Technik seitdem Organisationen existieren im Zentrum alltäglichen Handelns und Organisierens stehen, wurden sie in der organisationstheoretischen Forschung vernachlässigt oder als Instrumente und separate Entitäten gesehen (Orlikowski und Scott 2008). Diese Trennung ist zum Teil auf die Charakteristika von Technik selbst zurückzuführen und ihre jeweilig entsprechende Betrachtungsweise in der wissenschaftlichen Literatur. Die folgenden Abschnitte haben das Ziel, einen kurzen Überblick zu geben, wie organisationswissenschaftliche Forschung Technik definiert und behandelt hat.
12
2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
2.2.1
Perspektiven auf den Handlungsbereich von Mensch und Technik
Bislang existiert in der Literatur keine einheitliche Definition des Begriffes Technik. Das Verständnis hängt von der jeweiligen ontologischen und epistemologischen Grundannahme ab. Mit dem Fortschritt von Technik haben sich auch unterschiedliche wissenschaftliche Sichtweisen darauf entwickelt, wie Organisation (im Sinne von Organisieren) stattfindet und wie sich der Handlungsbereich von Mensch und Technik in diesem Zusammenhang definiert. Die Tatsache, dass Technik in Organisationen eine Rolle spielt, wurde dabei bereits in frühen organisationstheoretischen Arbeiten anerkannt (Aldrich 1972; Blau et al. 1976; Orlikowski und Scott 2008). Diese eher „praktische“ (Leonardi 2013, S. 60) Forschung bezog sich jedoch meist auf spezifische Organisationsbereiche, in denen Technik offensichtlich stark in den Arbeitsprozess einbezogen war, beispielsweise in der Produktion. Obwohl Technik jedoch im Allgemeinen einen hohen Stellenwert in Organisation und Arbeit einnimmt, ließ die organisationstheoretische Forschung sie weitgehend außer Acht. Orlikowski und Scott (2008) erstellten einen umfassenden Literature Review über die organisationstheoretische Forschung, die Technik explizit in den Fokus rückte. Sie identifizierten drei Forschungsstränge, die Technik und deren Relation zum Menschen unterschiedlich definieren. (1) Kontingenztheoretische Perspektiven: Keine Relationalität Der erste Forschungsstrang, insbesondere vorherrschend bis Anfang der 1990er Jahre, behandelt Mensch und Technik als vollkommen getrennt voneinander existierende Entitäten (Orlikowski und Scott 2008). Die Forschung stützte sich bis dahin hauptsächlich auf die Ideen der Kontingenztheorie (auch: Situativer Ansatz), die die bestmögliche Organisation als Produkt optimierter Strukturen und Einflussfaktoren sieht (Kieser 2006; Leonardi 2013). Befürworter des sogenannten „technologischen Imperativs“ (Orlikowski 1992, S. 400) beziehungsweise des „technologischen Determinismus“ (Leonardi und Barley 2008, S. 171) „behandeln Technik als unabhängigen Einflussfaktor auf menschliches Verhalten und organisationale Eigenschaften, der einen unidirektionalen, kausalen Einfluss auf Menschen und Organisationen hat“ (Orlikowski 1992, S. 400). 6 6
Diese Denkweise setzt eine Messbarkeit und Vorhersehbarkeit aller Variablen der organisationalen und individuellen Dimensionen voraus, die von der Nutzung von Technik betroffen sein könnten. Demnach kann Technik sich sowohl auf organisationale Dimensionen, wie Struktur, Größe, Performance, Zentralisation/Dezentralisation auswirken, als auch auf Dimensionen der individuellen Ebene, wie Jobzufriedenheit, Aufgabenkomplexität, Kompetenzniveaus, Kommunikationseffektivität, und Produktivität (Orlikowski und Scott 2008).
2.2 Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Mensch und Technik
13
Der Definition von Technik lag hier eine instrumentelle und praktische Sichtweise zugrunde, welche sie an sich als passiv betrachtete (Attewell und Rule 1984; Huber 1990). Die kontingenztheoretische Auffassung darüber, wie Technik und Organisation zusammenhängen, folgt dabei grundsätzlich einem Varianzansatz. Technik wird in unterschiedlicher Weise entweder als unabhängiger Einflussfaktor (z. B auf Arbeitsqualität, Beschäftigungsraten, Entscheidungszentralität und Macht) behandelt oder als moderierende Variable für organisationale Charakteristika (z. B. Struktur, Größe, Kultur, Lernen oder interorganisationale Beziehungen). 7 (2) Strukturationstheoretische Perspektiven: Schwache Relationalität Neben der zugrundeliegenden Betrachtung von Technik und Mensch als getrennte Einheiten etablierten sich etwa ab Mitte der 1980er Jahren strukturationstheoretisch inspirierte Sichtweisen (Leonardi 2013). Diese wandten sich vom Technikdeterminismus ab und ihre Definition von Technik implizierte einen ersten aktiveren Aspekt, indem eine duale Sichtweise von Technik zu wachsen begann. Zu dieser dualen Sichtweise leitete spätestens Barley (1986) über, indem er Giddens( ތ1976, 1979) Strukturationstheorie auf die Rolle von Technik übertrug (Leonardi 2013). Gemäß der strukturationstheoretischen Idee des StrukturAgency-Dualismus ist organisationale Struktur sowohl ein Medium für Handeln als auch dessen Ergebnis (Walgenbach 2006; Whittington 1992). Analog argumentierte Barley, dass die Einführung neuer Technik als Gelegenheit für organisationale Akteure dienen kann, vorhandene organisationale Strukturen zu überdenken und Re-Organisationen anzustreben. Barley (1986) fasst unter Technik technische Artefakte und die entsprechend dazugehörigen Handlungen, innerhalb derer Menschen mit diesen Artefakten nach ihrem Willen umgehen. In diesem sogenannten Voluntarismus (Leonardi und Barley 2008) wird Technik als Drehund Angelpunkt zwischen Struktur und Handeln (Leonardi 2013), als physisches Artefakt und soziales Objekt (Orlikowski und Scott 2008) betrachtet. Technik wird als Teil eines komplexen Prozesses gesehen, durch den sich Organisation vollzieht (Orlikowski und Scott 2008). Forschungsarbeiten in dieser Denklogik erkennen weder
7
Zu den Moderatorgrößen zählte die Forschung bis dahin im Allgemeinen Vorteile von (Informations-)Technik wie die 1) Vernetzung und Befähigung von Mitarbeitern, 2) Festschreibung einer Wissensbasis, 3) Erweiterung von grenzüberschreitender Kommunikation, 4) Verbesserung von Informationsverarbeitung, und 5) Verbesserung von Zusammenarbeit und Koordination (Dewett und Jones 2001).
14
2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
„abhängige noch unabhängige Variablen [an], sondern nehmen eher eine Prozesslogik ein, in der Interaktionen und Ergebnisse als gegenseitig voneinander abhängig, integrativ und gleichzeitig über die Zeit hinweg entstehen“ (Orlikowski und Scott 2008, S. 446).
Im Fokus der an die Strukturationstheorie angelegten Forschung zu Informationssystemen standen vorwiegend Aspekte der gegenseitigen Anpassung von Technik und Organisation, wie sie auch von Poole und DeSanctis (1990) in ihrer Adaptiven Strukturationstheorie verfestigt wurden. 8 (3) Praxistheoretische Perspektiven: Starke Relationalität Orlikowski (1992) veränderte das Feld in ihrem Modell zur Dualität von Technik grundsätzlich, indem sie die Techniknutzung selbst als Handeln konzeptualisierte und Handeln nicht mehr, wie die vorausgehenden Ansätze, als rein menschlichen Bereich anerkannte. In diesem Verständnis entfaltet Technik ihre Wirkung also nur in der Techniknutzung (Technologies-in-Use) selbst. In ihren späteren Arbeiten brachte Orlikowski (2000, S. 407) dann den Begriff „technologies-in-practice“ hervor. Technologies-in-Practice sind definiert als eine „bestimmte Struktur von Techniknutzung“ (Orlikowski 2000, S. 407). Diese Struktur ergibt sich, indem Menschen situativ „ihre Interpretationen anstellen, wie die technischen Funktionen dazu dienen, mit anderen sozial zu interagieren oder Arbeit zu verrichten“ (Leonardi 2013, S. 64). Die Betonung von Technologies-in-Practice für Organisation kulminierte in den Jahren zwischen 2007 und 2010 (Orlikowski 2007; Orlikowski und Scott 2008) und brachte – unter der Wortneuschöpfung Soziomaterialität – eine neue Denkweise über den Zusammenhang zwischen dem Sozialen und Technik in die Organisationsforschung. Der Grundgedanke des Konzepts ist der einer konstitutiven Verflechtung zwischen Technik und Sozialem. Technik selbst wird hier Handlungskapazität zugesprochen und nimmt mit dem Menschen eine maßgebliche Rolle für die aus dem Zusammenspiel hervorgebrachten Dynamiken innerhalb von Organisation ein. Handeln wird also bei der Nutzung von Technik in Kraft gesetzt, d. h., in rekursiven Praktiken (Orlikowski und Scott 2015).
8
Orlikowski und Scott (2008) führen unter anderen folgende Beispiele an: organisationales Sensemaking bei der Einführung neuer Technik (Prasad 1993), den Einfluss von Normen und Kultur auf die Techniknutzung (Markus 1994), die Veränderung von Arbeit im Allgemeinen als Antwort auf Technikdesign und -nutzung (Morton 1989), Formen der elektronischen Überwachung und neue Teamdynamiken (Sewell 1998), die Rolle von Führungskräften bei der Nutzung neuer Technik (von Hippel 1994) sowie die Restrukturierungsauswirkungen der Einführung neuer Technik (Walsham 1993).
15
2.2 Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Mensch und Technik
Abbildung 1 zeigt die erläuterten Sichtweisen auf Struktur und Handeln als Handlungsbereich von Mensch und Technik aus kontingenz-, strukturations- und praxistheoretischer Perspektive. Kontingenztheorie
Struktur
Strukturationstheorie
Praxistheorie
M
M
M
Nutzung von Technik
Organisation
Interpretation
H
Handeln
H
H
H = Mensch M = Materialität/Technik
Abbildung 1: Theoretischer Handlungsbereich von Mensch und Technik (eigene Darstellung)
Die gegenständliche Arbeit schließt an diese praxistheoretischen Ideen an und betrachtet Technik immer in Relation zu Mensch und Sozialem. Dabei hat sie eine eigene Handlungskapazität, die im Zusammenhang mit dem Menschen konstitutive und dynamische Folgen in der Organisation haben kann. 2.2.2
Ontologische Grundannahmen
Mit dem wachsenden Interesse an der Beantwortung der Frage, wie Soziales und Materialität zusammenhängen, gelangte auch die Frage darüber, was Technik im Vergleich zu Mensch und Sozialem ist, stärker in den Fokus der Forschung zu Informationssystemen (Leonardi und Barley 2008). Die jeweils zugrundeliegende Auffassung darüber, was Menschsein und Nicht-Mensch-Sein bedeutet, prägt die unterschiedlichen Untersuchungen zu Soziomaterialität in Organisationen (Vaujany und Mitev 2018). Zwei fest etablierte ontologische Grundüberzeugungen dominieren den aktuellen Diskurs über Mensch und Technik: die relationale Ontologie (1), und die substantielle Ontologie (2). (1) Relationale Ontologie des agentialen Realismus Die erste, die relationale Ontologie, ist im agentialen Realismus (Barad 2003), begründet und geht davon aus, dass weder der Mensch noch Materialität inhärente
16
2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
Eigenschaften haben, sondern dass sich diese Eigenschaften nur in der Verschränkung der beiden, d. h. in soziomateriellen Praktiken, entwickeln. Orlikowski begründete ihren Begriff der Soziomaterialität 9 auf der Arbeit des feministischen Materialismus, insbesondere und überwiegend auf der Arbeit von Barad (2003), die auf feministischen Studien und der Quantenphysik beruht. 10 Barad (2003) kritisiert dabei die dominierende anthropozentrische, also humanzentrierte, Weltsicht. Laut ihr besteht zwischen Mensch und Nicht-Mensch eine „primäre ontologische Einheit[, sie] besteht nicht aus unabhängigen Gegenständen mit vorgegebenen Grenzen und Eigenschaften, sondern vielmehr aus Phänomenen“ (Barad 2003, S. 815). Diese im agentialen Realismus begründete relationale Ontologie gilt als Gegenentwurf zur getrennten Sichtweise von Mensch und Nicht-Mensch, welche sich im sogenannten kritischen Realismus finden lässt (Barad 2003). Sie betrachtet Organisation als „konstituiert durch Beziehungen, die Verbindungen sowohl mit menschlichen als auch mit nicht-menschlichen Handlungskapazitäten bilden“ (Orlikowski und Scott 2008, S. 458). Die relationale Ontologie liegt in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), insbesondere nach Latour (2005), begründet. Die ANT informiert das soziomaterielle Denken vor allem im Hinblick auf die zugrundeliegende Idee der relationalen Soziologie (Latour 1996a). Latour (1996a) plädiert dafür, Objekte als Partner zu betrachten, die mit Menschen verbunden sind. Innerhalb der Denkweise des agentialen Realismus werden Temporalität und somit auch Prozesse nicht berücksichtigt. In einer ausschließlichen Betrachtung von Praktiken wird die Frage nach einem Start- oder Endzeitpunkt für Organisieren obsolet und die Frage nach dem Sein einer Technik rückt in den Vordergrund. Im agentialen Realismus wird dabei von einer sehr starken Inbezugnahme zwischen Sozialem und Technik ausgegangen, welche als relationale Ontologie bezeichnet wird (Cecez-Kecmanovic et al. 2014; Orlikowski 2007). Beide Pole stehen innerhalb einer Einheit intern miteinander in Beziehung, es handelt sich 9
10
Auch in der Schreibweise machen sich die unterschiedlichen ontologischen Sichtweisen bemerkbar: im agentialen Realismus wird die Untrennbarkeit von Mensch und Nicht-Mensch in Soziomaterialität ausgedrückt, während im kritischen Realismus Sozio-Materialität die getrennte Sichtweise auf die beiden Entitäten widerspiegelt. Diese Ideen werden im nachfolgenden Abschnitt sowie in den Abschnitten 2.3.2.1 (Entanglement) und 2.3.2.2 (Imbrication) näher beschrieben. Barad (2007) stützt sich hier insbesondere auf die epistemologischen Ansichten von Bohr (1935, 1987, 2010) und seine im Komplementaritätsprinzip gründende Annahme, dass Phänomene nicht von sich aus sind, sondern erst in ihrer Beobachtung werden, genauer durch „die Intra-ANWLRQGHVÃ2EMHNWVދPLWGHQÃ+DQGOXQJVNDSD]LWlWHQGHU%H REDFKWXQJދ³ (Barad 2007, S. 202).
2.2 Theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Mensch und Technik
17
also um eine Form interner Relationalität. Materialität und Soziales gibt es folglich in dieser Sichtweise nicht, sie sind nur miteinander, „es gibt nur das Soziomaterielle“ (Leonardi 2013, S. 65). Untersucht werden soziomaterielle Praktiken, die wiederum immer eine soziomaterielle Leistung, d. h. eine gemeinsame Ausführung durch Mensch und Technik, darstellen. Durch diese soziomateriellen Praktiken werden Handlungskapazitäten in Kraft gesetzt. Handlungskapazität ist in diesem Sinne keine Eigenschaft und kann nicht zugeschrieben werden, sie wird in soziomateriellen Praktiken hervorgebracht, durch „Intra-Aktion“ (Barad 2003, S. 810) von Mensch und Sozialem innerhalb ihrer Verflechtung. In einer bestimmten Zusammensetzung der Intra-Aktion trennen sich die beiden Entitäten und es kommt zur Handlung, was als „agentialer Schnitt“ (Barad 2003, S. 815) bezeichnet wird. Weil Handeln in einem internen und lokalen Vorgang geschieht, wird in den auf dem agentialen Realismus gründenden Studien auf gewisse Weise „willkürlich“ (Leonardi 2013, 65) zugeschrieben, ob ein Mensch oder NichtMensch handelt. (2) Substantielle Ontologie des kritischen Realismus Die zweite ontologische Sichtweise, die substantielle, liegt im kritischen Realismus begründet. Es wird hier davon ausgegangen, dass der soziale Kontext und Materialität getrennt voneinander existieren, sie sich aber prozessual überlagern, was Sozio-Materialität beschreibt (Leonardi 2011). Aus einer substantiellen ontologischen Perspektive heraus betrachtet, sind Mensch und Nicht-Mensch Substanzen, also „selbstexistente Entitäten, die ‚vorgeformt ދkommen“ (Emirbayer 1997, 283) und sich dann gegenseitig involvieren (Cecez-Kecmanovic et al. 2014). Untersucht werden menschliche und nicht-menschliche Handlungskapazitäten in Praktiken, wobei letztere als Raum gelten, innerhalb dessen sich Handlungskapazität entfaltet (Leonardi 2013). Das Forschungsinteresse gilt diesbezüglich Fragen, wie und warum Soziales und Materielles verflochten sind und über den Zeitverlauf bestehen. Soziales und Materialität existieren also substantiell unabhängig voneinander, stehen jedoch in (schwacher) Beziehung zueinander (Slife 2004), sie verfügen über Handlungskapazitäten, die sie in ihrer Interaktion hervorbringen. Tabelle 1 stellt die erörterten ontologischen Fundierungen des agentialen und kritischen Realismus gegenüber. Schließlich kann trotz der vorangegangenen Erläuterungen und Kritik gesagt werden, dass die theoretischen Ausführungen zu einem erstaunlichen Aufschwung in der Forschung über Informationssysteme geführt haben. Letztere Disziplin hat sich von einem eher praxisorientierten Bereich zu einem Feld entwickelt, in dem theoretische Fundierungen zu einem Wunsch geworden sind (Leonardi 2013). Als Reaktion auf die deterministische ebenso wie auf dualistische Ansichten über Technik in Organisation haben Orlikowski (2007) und Orlikowski und Scott (2008) Soziomaterialität als „theoretische Perspektive“ oder
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
„Forschungsgenre“ (Faulkner und Runde 2012, S. 50) eingeführt. Einige den Diskurs dieses Genres dominierende Konzepte sollen im nächsten Abschnitt beleuchtet werden. Tabelle 1: Vergleichende Gegenüberstellung relationaler und substantieller Ontologie (in Anlehnung an Leonardi, 2013, S. 74) Ontologische Grundannahme
Agentialer Realismus Relationale Ontologie: Soziale Interaktion ist nicht getrennt von Materialität, es gibt nur Soziomaterialität
Relationalität
Stark, interne Relationalität
Epistemologie
Untersuchung des Soziomateriellen und willkürliche Unterscheidung, was sozial und materiell ist (agentialer Schnitt) Soziomaterielle Praktiken
Analyse-Objekt
Praktik
Soziomaterielle Vollbringung oder Leistung
Handlungskapazität
Keine Zuschreibung, keine Eigenschaft, Inkraftsetzung durch Intra-Aktion
2.3 2.3.1
Kritischer Realismus Substantielle Ontologie: Sozialer Kontext und Materialität existieren getrennt voneinander, Sozio-Materialität entsteht durch Überlagerung Schwach, externe Relationalität Untersuchung wie und warum Soziales und Materielles verflochten werden und über den Zeitverlauf bestehen Substanz (Dinge, Lebewesen) ĺ0HQVFKOLFKHund materielle Handlungskapazität Raum, innerhalb dessen sich Handlungskapazität entfaltet Eigenschaft, Inkraftsetzung durch Inter-Aktion
Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln Zum Handlungsbegriff
Der dieser Arbeit zugrundeliegende Handlungsbegriff findet sich in der englischsprachigen Literatur unter dem Begriff Agency. Agency wird in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen diskutiert und unterschiedlich interpretiert (Emirbayer und Mische 1998; Kallinikos et al. 2010; Rose et al. 2003). Im
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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deutschsprachigen Raum wird Agency mit den Begriffen Handlungskapazität, -fähigkeit oder -trägerschaft beschrieben (Rammert 2016; Rammert und Schulz-Schaeffer, 2002a). Im nachfolgenden Abschnitt soll der Handlungsbegriff im Sinne von menschlicher, materieller und spezifisch algorithmischer Handlungskapazität zunächst genauer beleuchtet werden. Daraufhin werden erste in der Literatur diskutierte konzeptionelle Vorstellungen und empirische Beispiele von hybridem Handeln im algorithmischen Zeitalter dargestellt. 2.3.1.1 Menschliche Handlungskapazität Im Allgemeinen werden Handlungskapazität, -fähigkeit und Handeln selbst in erster Linie mit Menschen in Verbindung gebracht. Um menschliche Handlungsfähigkeit begreifen zu können, ist es jedoch zunächst notwendig, ein Verständnis dafür zu skizzieren, was menschliche Akteure auszeichnet. Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um menschliche Handlungskapazität beziehen sich auf den Menschen als homo sapiens (Schatzki 2002). Demnach handelt es sich um menschliche Akteure, die lebendig sind, die handeln können, die geistige Fähigkeiten haben, die sich ihrer Identität bewusst sind, über die sie nachdenken können (Kozica et al. 2015), und die an ihren physischen Körper mit dessen Fähigkeiten und Einschränkungen gebunden sind (Kallinikos et al. 2012; Schatzki 2002). Grundsätzlich wird also unter menschlicher Handlungskapazität zunächst verstanden, dass menschliche Akteure in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten so zu steuern, dass sie ihre Ziele und Ambitionen verwirklichen (Halgin et al. 2018). Emirbayer und Mische (1998) setzten sich umfassend mit menschlicher Handlungsfähigkeit und ihrer mannigfaltigen und uneindeutigen Verwendung in der Sozialtheorie auseinander. Emirbayer und Mische (1998, S. 963) konzeptualisieren menschliche Handlungskapazität „als zeitlich eingebetteten Prozess des sozialen Engagements, durch die Vergangenheit (als Aspekt der Gewohnheit), aber auch durch die Orientierung an der Zukunft (als Fähigkeit, sich alternative Möglichkeiten vorzustellen) und in Richtung der Gegenwart (als Fähigkeit, Gewohnheiten aus der Vergangenheit und zukünftige Projekte innerhalb der Möglichkeiten des Augenblicks zu kontextualisieren)“.
In der Literatur wird häufig über ein menschliches Verfügen über Handlungskapazität im Sinne von Wille oder Motivation geschrieben (Emirbayer und Mische 1998). Jedoch ist Handlungsträgerschaft „keine stabile Wesenseigenschaft des Menschen“ (Rammert 2016, S. 34) und lässt sich auch nicht direkt mit Verhalten gleichsetzen. Als relevant für die Ausübung von Handlungskapazität werden – je nach Forschungsdisziplin – die Dimensionen „Routine, Zweck und Beurteilung“
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
(Emirbayer und Mische 1998, S. 963) gesehen. Aus praxistheoretischer Sicht definieren beispielsweise Habitus (Bourdieu 1977) und routinisierte Praktiken (Giddens 1986) Handlungskapazität als „gewohnheitsmäßig, repetitiv und selbstverständlich“ (Emirbayer und Mische 1998, S. 963). Phänomenologen und Vertreter der Rational Choice-Theorie fokussieren bei der Begründung von Handlungskapazität auf menschliche Intention und zweckorientiertes Handeln, während Vertreter des Feminismus ihrem Verständnis von menschlicher Handlungskapazität eher Determinismus und Urteilsvermögen zugrunde legen (Emirbayer und Mische, 1998). Weitere Überlegungen, unter anderem aus der Forschung zu Informationssystemen, verweisen auf die Rolle von struktureller Einbettung in Netzwerke, wie etwa soziale Netzwerke, für menschliche Handlungskapazität (Boudreau und Robey 2005; Fuchs 2001). Berücksichtigt man die Dimensionen Routine, Zweck, Beurteilung sowie soziale und zeitliche Einbettung als handlungsrelevant, lässt sich menschliche Handlungskapazität also eher als Ausdruck einer nuancierten Kombination aus Verhalten und Verhaltensabläufen beschreiben. 11 Da Technik als weitere handlungsrelevante Dimension betrachtet werden kann, soll im nachfolgenden Abschnitt noch kurz auf ihre Wesensart und mit ihr verbundene Handlungskapazitäten materieller und insbesondere algorithmischer Akteure eingegangen werden. 2.3.1.2 Materielle und algorithmische Handlungskapazität Dinge, Objekte und Artefakte sind nicht-lebendige Wesen, und während die beiden ersteren über natürliche Existenz verfügen, sind die letzteren – Artefakte – „Produkte menschlichen Handelns“ (Schatzki 2002, S. 22). 12 Mit der Etablierung von digitalen Artefakten und intelligenten Maschinen hat sich das Spektrum materieller Handlungskapazität erweitert und umfasst nun neben materiellen im Sinne von physischen, auch immaterielle Artefakte (Yoo 2012). Zu diesen immateriellen Artefakten zählen insbesondere auch digitale Objekte, die sich immer häufiger durch ihre generativen Eigenschaften auszeichnen: sie sind „editierbar, interaktiv, offen oder reprogrammierbar und verteilt“ (Kallinikos et al. 2010, § 48). Im digitalen Zeitalter und bei der zunehmenden Nutzung 11
12
Im Bereich der Forschung zu Informationssystemen und in der Organisationsforschung zu Technik bezieht sich die Verwendung des Begriffs der menschlichen Handlungskapazität überwiegend auf diejenigen menschlichen Akteure, die als (End-)Nutzer einer Technik gelten, und weniger auf andere wie etwa die Designer und Entwickler der Technik (Leonardi und Barley 2010). Schatzki (2002, S. 179) unterscheidet zusätzlich zu intelligenten Maschinen zwei weitere Arten von Artefakten: 1) Fabrikationen: Dinge aus der Natur dienen als Material, 2) Kreuzungen: ehemals natürliche Phänomene, zu denen Menschen veränderte Dinge oder künstlich produzierte (nicht-natürliche) Dinge hinzugefügt haben.
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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von Informationssystemen scheint auch zunehmend die Kategorie der intelligenten Maschinen relevant zu werden. Laut Schatzki (2002, S. 179) sind intelligente Maschinen „jene Produkte menschlicher Kunstfertigkeit, die (1) kognitive Funktionen ausführen oder übernehmen, die zuvor mit Menschen in Verbindung gebracht oder von ihnen ausgeführt wurden, und/oder (2) in irgendeiner Weise in der Lage sind, sich selbst zu produzieren (z. B. durch Technik oder Lernen)“.
In der Kategorie der intelligenten Maschinen werden aktuell insbesondere (lernende) Algorithmen und deren spezifische Charakteristika diskutiert (Ananny 2016; Andersen et al. 2016; Baumer 2017; Glaser 2014). Algorithmen können definiert werden als „eine Reihe von Anweisungen, die zur Lösung eines genau definierten Problems genutzt werden“ (Introna 2016, S. 21). Bei traditionellen Algorithmen ist ihr automatisch generierter Output von Menschen meist nachvollziehbar, da die menschlichen Anweisungen auf einfachen Regeln basieren. Lernende Algorithmen stellen in diesem Zusammenhang eine neue Klasse dar, da sie sich von den bisherigen Formen unterscheiden und neue Qualitäten der Automatisierung mit sich bringen. Als lernende Algorithmen bezeichnen Faraj et al. (2018, S. 62) „eine aufstrebende Kategorie von Technik, die auf maschinellem Lernen, Berechnung, und statistischen Methoden basieren, und sich auf große Datensätze stützen, um Antworten, Klassifizierungen oder dynamische Vorhersagen zu treffen.“
In vielen Forschungsarbeiten werden die Hauptmerkmale sowohl traditioneller als auch lernender Algorithmen, die am Arbeitsplatz eingesetzt werden und Arbeit unterstützen, metaphorisch als Blackbox zusammengefasst (Introna 2016; Pasquale 2015). Der Ausdruck „Blackboxing“ 13 (Latour 1999, S. 304) kann dabei auch als blinde Akzeptanz gut funktionierender Technik, deren Arbeit sich Menschen oft nicht bewusst sind (Eslami et al. 2015), beschrieben werden. Entsprechend lassen sich auch viele wissenschaftliche Studien finden, die sich weniger mit der Komplexität der technischen Seite als mit dem Umgang menschlicher Akteure mit dieser Blackbox beschäftigen (Lowe 2001; Lowrie 2017). Im Fall 13
Latour (1999, S. 304) definiert Blackboxing als einen „Ausdruck aus der Wissenschaftssoziologie, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie wissenschaftliche und technische Arbeit durch den eigenen Erfolg unsichtbar gemacht werden. Wenn eine Maschine effizient läuft, wenn eine Tatsache geklärt ist, muss man sich nur auf seine Ein- und Ausgänge konzentrieren und nicht auf seine interne Komplexität. Also, paradoxerweise, je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und unklarer werden sie.“
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
von lernenden Algorithmen jedoch kommt zu dieser vernachlässigten Beschäftigung mit Technik noch die tatsächlich vorhandene oder von menschlichen Akteuren beabsichtigte Undurchsichtigkeit hinzu (Burrell 2016; Dourish 2016; Zarsky 2016). Die algorithmische Blackbox entsteht insgesamt durch Faktoren wie
Automatisierung (Gillespie 2014), Unsichtbarkeit, Opazität und unbewusste Eingliederung in Handeln (Eslami et al. 2015; Introna 2016) sowie Undurchsichtigkeit und Unergründlichkeit (Dourish 2016; Faraj et al. 2018).
Diese Faktoren verstärken sich mit zunehmendem Fortschritt der Technikkomponenten, die etwa Rechenleistung oder Methoden der Datensammlung und -verarbeitung beinhalten. Daten spielen eine maßgebliche Rolle nicht nur für die Ergebnisse algorithmischer Analysen, sondern im Kontext lernender Algorithmen auch für deren Qualität (McFarland und McFarland 2015; Nisbet et al. 2009). Daten nehmen an Quantität, Produktionsgeschwindigkeit und Vielfalt zu (Volumen, Geschwindigkeit, Vielfalt) – drei Fortschrittskomponenten, die unter dem Schlagwort Big Data zusammengefasst werden (McAfee und Brynjolfsson 2012). Private oder öffentliche Institutionen erheben Daten über Subjekte, d. h. Kunden, Beschäftigte oder Bürger, und klassifizieren sie anhand der Informationen (Fourcade und Healy 2013; Stohl et al. 2016). Neben besseren Rechnerleistungen und größeren Datenmengen gibt es auch neue Datenquellen und neue Formen der Datenerhebung, z. B. Online Analytical Processing, bei dem z. B. das Online-Verhalten von Kunden analysiert werden kann (Shim et al. 2002). Betrachtet man fortschreitende Technikkomponenten und Blackbox-Komponenten, ist davon auszugehen, dass die Undurchsichtigkeit von Algorithmen mit ihrer zunehmenden (Lern-)Fähigkeit deutlich ansteigt. Materielle und algorithmische Handlungskapazität treten in Kraft, sobald die Technik „die Hände der Entwickler verlassen hat und in einen spezifischen organisationalen Kontext eingeführt wird“ (Leonardi 2013, S. 69). In ihrem jeweiligen Kontext passiert es, dass „Benutzer oft etwas zu den technischen Eigenschaften hinzufügen oder ändern (z. B. die Installation neuer Software, Peripheriegeräte, oder das Hinzufügen von Daten, etc.), also aktiv das Artefakt formen oder gestalten, so dass es zu ihren spezifischen Anforderungen oder Interessen passt“ (Orlikowski 2000, S. 409).
Die Übertragung menschlicher Handlungskapazität auf materielle Artefakte wird oftmals als „verinschriftlichte“ (Lanzara und Morner 2005, S. 79; Latour 1996b, S. 238; Orlikowski 2000, S. 409) menschliche Handlungskapazität bezeichnet.
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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Gerade im Zeitalter von (lernenden) Algorithmen wird jedoch deutlich, dass menschliche Handlungskapazität nicht immer direkt auf materielle Artefakte übertragen werden kann. Yoo (2012) geht in diesem Kontext näher auf die generativen Eigenschaften digitaler Technik ein. Laut ihm ist digitale Technik „immer sozial konstruiert, einige der digitalen Artefakte werden bewusst unvollständig gemacht und den Nutzern überlassen“ (Yoo 2012, S. 135). Obwohl digitale Technik also zu bestimmten Zwecken und mit bestimmten Funktionen entworfen wird, entwickelt sie sich „oft über die Absicht und Vorstellungskraft der ursprünglichen Designer hinaus“ (Yoo 2012, S. 135). Introna (2016, S.18 f.) fasst diese dynamische Handlungsträgerschaft von Algorithmen zusammen: „Zusammen bilden diese algorithmischen Akteure eine komplexe und zu verschiedenen Zeiten interpenetrierende soziomaterielle Assemblage, die diffus, verteilt, fragmentiert und vor allem ‚IOXLGH(ތBauman und Lyon 2013) ist.“
Deutlich wird also, dass materielle und algorithmische Handlungskapazität dynamisch sind und eng in Bezug zu menschlichen Handlungen stehen. Lernende Algorithmen entwickeln sich sogar in der Interaktion und auf Basis von sozial generierten Daten, die vergangene menschliche Handlungen widerspiegeln, weiter. So wird die in Form von Handlungsanweisungen verinschriftlichte materielle Handlungskapazität über den Zeitverlauf hinweg angereichert, verändert und bilden wieder die Grundlage für menschliche Handlungen (Newell und Marabelli 2015). Abbildung 2 veranschaulicht dieses dynamische Zusammenspiel zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität in datenbasierten Handlungen. Zusätzlich zu der Unterscheidung und Frage nach der Wesensart von Materialität in Form von Dingen, Objekten und verschiedenartigen Artefakten wie traditionellen bzw. lernenden Algorithmen, spielt auch der analytische Standpunkt des Forschers oder der Akteure im Feld eine Rolle dabei, welche Handlungskapazität eine Technik haben kann. Rammert (2016, S. 134 ff.) unterscheidet zweierlei analytische Positionen für materielle Handlungskapazität: (a) Technische Handlungskapazität als Zuschreibung: Zum einen kann die Analyse als eine Zuschreibung zu oder Beschreibung von Handlungskapazität von Technik erfolgen, die entweder durch menschliche Akteure, die mit der Technik interagieren oder durch den Wissenschaftler erfolgen kann. Als Beispiel nennt Rammert (2016) das Computerprogramm ELIZA (Weizenbaum 1966), dem nicht nur Intelligenz zugeschrieben wurde, sondern das von den Nutzern auch als sozial handlungsfähig eingestuft wurde. Die tatsächliche Handlungskapazität im Sinne der technischen Funktionen rückte also in dem Moment in den Hintergrund, in dem menschliche Akteure das Programm als menschlich und sozial wahrnahmen.
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
Handlung
M
H
Handlung
M
H
verändert
verändert
Daten
Daten
Zeit
H = Mensch M = Materialität/Technik
Abbildung 2: Dynamische Handlungskapazität in datenbasierten Handlungen (Quelle: eigene Darstellung)
Rammert (2016, S. 141) folgert daraus: „D.h. gesellschaftlich wirksam wird die Handlungsträgerschaft von Technik in diesen Fällen allein dadurch, dass sich menschliche Akteure auf der Grundlage der von ihnen bewusst oder unbewusst vorgenommenen Handlungszuschreibungen im Umgang mit Technik anders verhalten als es sonst der Fall wäre.“
(b) Technische Handlungskapazität als beobachtbare Eigenschaft: Die zweite Herangehensweise folgt einer normativen Perspektive und berücksichtigt tatsächliche materielle Handlungskapazität, die entweder direkt beobachtbar oder bei ihrer Konstruktion sichtbar wurde. So verfügen beispielsweise Roboter über Handlungskapazität, die in ihrer Tätigkeit beobachtbar ist und algorithmische Handlungskapazität kann bei deren Programmierung und Anpassung (zumindest in Teilen) sichtbar werden. Bei einer Betrachtung algorithmischer Handlungskapazität kann schließlich deren Funktion bereits erste Hinweise auf den Grad der Handlungsübernahme im Zusammenspiel mit Menschen geben. Bei (algorithmischen) Analysetools wird grundsätzlich unterschieden zwischen
deskriptiven (beschreibend), prädiktiven (Vorhersagen anstellend) und präskriptiven Analysen (Handlungsvorschläge bereitstellend) (Loscher und Kaiser 2019).
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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Während beschreibende und prädiktive Analysetools oft bloße Informationen bereitstellen und dabei immer noch eine ausgesprochene menschliche Aktivität in Form von Interpretation und Wissensgenerierung verlangen, zielen prädiktive und vor allem präskriptive Analysetools bereits darauf ab, optimierte Handlungen für Menschen vorzugeben (Bader und Kaiser 2019). Die zur Verfügung gestellten Informationen lassen sich daher als Ansammlung vorgelagerter sozialer und algorithmischer Dynamiken interpretieren. Wie diese Ansammlung sozialer und materieller Dynamiken hybrides Handeln bedingt, soll im nächsten Abschnitt genauer betrachtet werden. 2.3.1.3
Mensch vs. Technik und erste Vorstellungen von hybridem Handeln
Auf die Frage nach der Handlungshoheit zwischen Mensch und Technik lassen sich in der Literatur unterschiedliche Sichtweisen finden, die entweder eine menschliche Überlegenheit suggerieren oder in einer hybriden Logik argumentieren. In diesen Argumenten lassen sich erste Hinweise auf die Verortung von Handlungskapazität (wer oder was hat die Handlungshoheit?) und der Inkraftsetzung hybrider Handlungsweisen (wie wird hybride Handlungskapazität freigesetzt?) finden, die im Folgenden beschrieben werden. Zunächst geht eine Vielzahl an Autoren davon aus, dass menschliche Handlungskapazität dominiert und Menschen sich immer den technischen Handlungsaufforderungen widersetzen können (Boudreau und Robey 2005; Leonardi 2011; Leonardi 2012). Aufgrund des zunehmenden Einsatzes avancierter Technik jedoch lassen sich immer mehr Studien finden, die von der humanzentrierten Sichtweise abweichen oder ihr sogar gegenüber stehen und eine technische Handlungskapazität zumindest implizieren (Gherardi 2012). In diesem Kontext betonen Wissenschaftler auf der einen Seite eine Verinschriftlichung menschlicher Handlungskapazität in Artefakte (Lanzara und Morner 2005). Hierunter fällt im weiten Sinne die Auffassung, dass Technik als Medium fungiert, das zur Standardisierung, Fernsteuerung oder sogar Kontrolle für menschliches Handeln dient (Bailey et al. 2012). In diesem Sinne ist Technik also ein Werkzeug, über das eine bestimmte von Menschen gewünschte Ausübung von Tätigkeiten über Distanzen hinweg sichergestellt werden kann. Auf der anderen Seite existieren Sichtweisen, die menschliche Handlungskapazität durch materielle erweitert und ergänzt sehen und letzterer eine aktivere Rolle zuschreiben. Diese Auffassung der Mensch-Technik-Kombination kann als Assemblage (DeLanda 2016; Deleuze und Guattari 1987) bezeichnet werden und vermittelt ein erstes Verständnis für die Hybridisierung und die Beantwortung der Frage nach dem Wie? einer Verflechtung der Handlungskapazität. So kann z. B. eine bestimmte Technik in Kombination mit Menschen eine erweiterte „fortgeschrittene Kognition“ (Kallinikos et al. 2012, S. 10) hervorrufen. Unter diesem Gesichtspunkt fungiert materielle Handlungskapazität als „generative Ressource“
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
(ebd.), „indem sie die Fähigkeit besitzt, menschliche Wahl und Handlungskapazität zu ermöglichen” (ebd.). Insbesondere seit den 1980er Jahren und dem Aufkommen der Ideen der ANT (Callon 1984, 1998; Latour 1996a) lassen sich zunehmend Forschungsarbeiten finden, die Handlungshoheit als zusammengesetzt aus menschlichen und nichtmenschlichen Handlungsträgern begreifen. Für eine Vielzahl von aktuellen Forschungsarbeiten, die sich mit Handlungskapazität und hybridem Handeln beschäftigen, dienen insbesondere die Gedanken der ANT als Inspiration (Latour 1996a). Latour bezeichnet menschliche und nicht-menschliche Akteure als Aktanten und gleichwertige Entitäten, was auch als (ontologische) Symmetrie beschrieben wird (Latour 2004). In Latours Konzeption von Handeln gibt es keine Handlungskapazität, die rein menschlich oder rein materiell ist, Handeln ist immer hybrid oder auf mehrere Aktanten verteilt. Dabei entsteht Handeln nicht zusammenhanglos, sondern im Fluss und in Verbindung, also in einem Netzwerk, mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten (Rammert und Schulz-Schaeffer 2002a). Innerhalb dieses Netzwerkes müssen die Identitäten und Rollen der menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten wieder (neu) definiert werden, um Beziehungen zwischen ihnen zu etablieren und zu stabilisieren. Dieser Prozess der Definition, Etablierung und Stabilisierung von Identitäten der Aktanten wird in der ANT auch als Übersetzung (Translation) bezeichnet (Callon 1984). Die Theorie der Übersetzung kann dazu dienen, das Zustandekommen von verteiltem Handeln innerhalb eines Netzwerks von Aktanten genauer zu erklären, indem verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bei der Analyse gefolgt wird (Latour 2005). 14 Hervorgebracht wurde die Theorie der Übersetzung von Callon (1984) in seinem Artikel „Some elements of a sociology of translation: domestication of the scallops and the fishermen of St Brieuc Bay“. Er untersuchte dabei den Prozess, in dem Forscher die Erhaltung einer Kammuschel-Population in Frankreich verfolgten. Zuvor hatten sie ähnliche Projekte in Japan beobachtet. Der Prozess der Übersetzung wird in diesem Fall laut Callon (1984) innerhalb der folgenden vier Komponenten vollzogen: 1. Problematisation: Innerhalb der Problematisierung finden die beiden Schritte Interdefinition sowie Festlegung „obligatorischer Übergangspunkte“ (Callon, 1984, S. 196) statt. Ein Initiator im Netzwerk definiert ein vorhandenes Problem, es werden die Rollen der Aktanten genau definiert sowie die aufzubringenden Ressourcen. Obwohl die Aktanten unterschiedliche eigene Interessen haben, verständigen sie sich auf das gemeinsame Hinarbeiten auf die notwendige Lösung des bestehenden Problems. 14
Für Studien auf Basis der ANT ist „follow the actors“ (Latour 2005, S. 12) ein Leitgedanke.
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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2. Interessement: Beteiligung beschreibt die Phase, innerhalb derer die Identität der Akteure, die der Problematisierung zugestimmt haben, (neu) definiert wird. So erweckt beispielsweise Aktant A das Interesse bei Aktant B, der infolgedessen zu B in der aktuellen Form wird und seine (möglichen und vielleicht unsichtbaren) Verbindungen zu anderen Aktanten D, E, . . ., löst. Die Beteiligungsphase legt damit einen Grundstein für die nächste Phase. 3. Enrolment: Die Erzeugung von Übereinstimmung bezeichnet das Verfahren, in dem die Rollen der miteinander in Verbindung stehenden Akteure definiert werden und von diesen eine Akzeptanz für die neue Konstellation geschaffen wird. Diese Übereinstimmung kann ein natürlicher Schritt nach bzw. eine Folge von der Beteiligung sein. Enrolment beinhaltet auch eine politische Dimension, die beispielsweise multilaterale Verhandlungen, Machtausübung oder Überlistungen beinhalten, die der Initiator im Sinne der Zielerreichung an den Tag legt und zum Erfolg der Problemlösung führen. 4. Mobilisation: Am Ende des Übersetzungsprozesses steht die sogenannte Mobilisierung, innerhalb derer das Netzwerk stabilisiert wird. Durch die Mobilisierung werden die Verbindungen zwischen den Aktanten irreversibel, ihre Verbindung wird unsichtbar und das Netzwerk funktioniert als Blackbox. Die Theorie der Übersetzung wird in verschiedenen Forschungsbereichen zur Analyse von Wandelprozessen und Praktiken genutzt, z. B. im Accounting (Lowe 2001; Robson und Bottausci 2018) oder bei IT-Einführungen (Dery et al. 2013). Dery et al. (2013, S. 225) erklären anhand der Theorie z. B., wie gesteckte Ziele zur Transformation des Personalmanagements (HRM) innerhalb der Einführung von Informationssystemen im Personal (HR) bei der Übersetzung verloren gehen, also „lost in translation“ sind. Die Idee der Etablierung von Verbindungen von Mensch und Nicht-Mensch wurde in der nachfolgenden Forschung noch stärker im Hinblick auf eine Hybridisierung von Handlungskapazitäten ausgearbeitet. In Pickerings (1995) Konzeption der Mangel der Praktik (Mangle of Practice) ergeben sich menschliche und nicht-menschliche Handlungskapazität z. B in einem wechselseitigen Austausch innerhalb von Praktiken, der sich durch Widerstand und Übereinkunft auszeichnet (Orlikowski und Scott 2008). Ein weiterer bildhafter Gedanke, der als Vorläufer für aktuelle Vorstellungen hybriden Handelns gesehen werden kann, ist die Produktion und gleichzeitige Nutzung von Technik. Jones (1998, S. 299) nutzt den Begriff „doppelter Tanz von Handlungskapazität“ und beschreibt dieses
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gleichzeitige Machen und Nutzen von Technik sogar als „doppelte Mangel“ (Orlikowski und Scott 2008, S. 459). 15 Für eine Analyse, wie stark der Anteil des menschlichen gegenüber dem materiellen Wirkungsgrad in hybriden Handlungszusammenhängen ist, eignet sich Rammerts (2016, S. 148) „gradualisierter Handlungsbegriff“. 16 Die Fähigkeit, eine wirksame Veränderung eines oder mehrerer bisheriger Zustände hervorzurufen, ist demnach die erste Stufe von Handeln (Kausalität). Auf der zweiten Stufe lässt sich die Kapazität der Wahl, d. h. auch anders handeln zu können, verorten (Kontingenz). Auf dritter Ebene findet sich die Fähigkeit von Akteuren, bestimmtes Handeln in einer Art Metaprogramm (Rammert 2016, S. 155) zu beabsichtigen und zu reflektieren (Intentionalität) (Rammert und Schulz-Schaeffer 2002b). 17 Abbildung 3 illustriert den gradualisierten Handlungsbegriff nach Rammert (2016). Ein Hinterfragen des potentiellen Wirkungsgrades der jeweiligen Technik macht Sinn im Hinblick auf die Frage, wie stark die Beeinflussung bzw. ein Kontrollverlust von menschlichen Individuen in der jeweiligen Mensch-Technik-Assemblage ist. Dabei wird die höchste Ebene des Wirkungsgrads, also die Fähigkeit zu intentionellem und reflektiertem Handeln, typischerweise als Grenze für materielle Handlungskapazität gesehen. Spätestens ab diesem Punkt wird von menschlicher Überlegenheit ausgegangen. Leonardi (2013) unterscheidet an dieser Stelle z. B. materielle von menschlicher Handlungskapazität durch die fehlende Intentionalität und sieht an dieser Stelle ebenfalls die ontologische Unterscheidung zwischen den beiden begründet. 18
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Aktuellere Studien wenden mittlerweile des Öfteren eine pragmatischere Sichtweise auf hybride Handlungskapazität an. Im Rahmen eines Konferenzsymposiums (Shaikh et al. 2017), bezeichnete Yoo beispielsweise die initiierende Arbeit von Designern bei der Kreierung von elektronischen Chips und die darauffolgende autonome Ausführung des Designs durch Algorithmen als „gemeinsame Handlungskapazität“. Rammert (2016) gründet diese Unterscheidung auf *LGGHQV ތhEHUOHJXQJHQ mehrerer Ebenen von Handlungskapazität. Rammert (2016, S.153 f.) nennt als Beispiel für verändernde Wirksamkeit und einem schwachen Handlungsbegriff Latours und Roßlers (1996) Bild des beschwerten Schlüssels mit Aufforderung um Rückgabe beim Hotelpersonal. Auf der zweiten Ebene der Wahlmöglichkeit fallen etwa Computerspiele, bei denen sich der Spielverlauf in Abhängigkeit des Spielverhaltens ändert. Auf der Ebene der Intentionalität lassen sich zum Teil bereits lernende Algorithmen und sogenannte BDI-Agenten (belief, desire, intention) einordnen. Simon (2019), hingegen, schreibt mit seiner Auffassung von Zweckgerichtetheit Artefakten sogar eine Form menschlicher Intentionalität hinzu, da sie von Menschen hergestellt seien, um bestimmte Funktionen zu erfüllen, die zur Erreichung bestimmter Ziele verwendet werden können.
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2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
Wirkung
1) Kausalität Verändernde Wirksamkeit
Wahl
2) Kontingenz Auch-anders-handeln-Können
Metaprogramm
3) Intentionalität Absicht und Reflektion
Abbildung 3: Gradualisierter Handlungsbegriff nach Rammert (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Rammert 2016, S. 152 ff.)
Rammert (2016, S. 155) veranschaulicht am Beispiel intelligenter Schachprogramme eine differenziertere Sichtweise auf materielle Intentionalität und Reflexionsfähigkeit: „[S]ie lassen sich – wenn wir eine stärker operative Auffassung von Intention und Reflexivität verfolgen – so interpretieren, als ob sie eine intentionale Struktur besäßen, die alle ihre Operationen in eine bestimmte Richtung treibt, und als ob sie ein Metaprogramm aufrufen könnten, das in Rekurs auf die Reaktionen anderer Agenten die Rahmen für die eigenen Programme verändert.“
In Zusammenfassung der vorangegangenen Überlegungen zu menschlicher und materieller Handlungskapazität lässt sich sagen, dass menschliche Handlungskapazität sich aufgrund der vorhandenen Fähigkeiten zu Intention und Reflexion in vielen Fällen von der bis dato produzierten Technik unterscheidet. Der mögliche
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Wirkungsgrad zunehmend avancierter Technik, wie beispielsweise lernender Algorithmen, nähert sich jedoch dem menschlichen Wirkungsgrad immer mehr an. Frühe Auffassungen von hybridem Handeln folgten den Ideen der Verinschriftlichung menschlicher Handlungskapazität in materielle oder des verteilten Handelns. Die Theorie der Übersetzung erzeugte erste Vorstellungen über die Etablierung von Relationen zwischen Mensch und Nicht-Mensch und es stellt sich die Frage, wo innerhalb dieser Relationen Handlungskapazität zu verorten ist. Der folgende Abschnitt widmet sich deshalb der Frage nach der Lokalisierung von Handlungskapazität und skizziert die in der kontemporären Literatur häufig diskutierten Konzepte. 2.3.2
Zur Verortung von Handlungskapazität
Wo Handlungskapazität zu finden und wo Handeln zu lokalisieren ist, stellen zentrale Fragen in den Forschungsarbeiten zu Technik und insbesondere in den Konzepten zur Verflechtung dar (Shaikh und Vaast 2016). Ein Beispiel, das in diesem Zusammenhang angeführt werden kann, ist das Bild eines Menschen und einer Schusswaffe, die jeweils „Handlungsprogramme“ (Latour 1994, S. 32) haben, die durch die Kombination in Kraft gesetzt werden können. Kommt es zur Tötung eines anderen Lebewesens, ist in dieser Assemblage bei einer gleichberechtigten Sichtweise auf Mensch und Nicht-Mensch nicht klar, wo die Täterschaft liegt, denn weder der Mensch allein noch die Waffe allein könnten ohne die jeweils andere Entität zu einer Erschießung fähig sein. Mensch und NichtMensch sind in ihrem Handeln also sozusagen verflochten. Während die Verwendung der Idee einer Verflechtung zwischen Mensch und Nicht-Mensch in Publikationen zwar weiterhin steigt, entwickelten sich diverse bildhafte Vorstellungen und Metaphern über die Funktionsweise der Bezugnahme und der Verortung von Handlungskapazität innerhalb dieser Verflechtungen. Neben Entanglement und Imbrication, die in der Literatur oft beide auch unter dem Schlagwort Soziomaterialität zuzuordnen sind, finden sich mittlerweile auch Begriffe, wie Relationale Affordance (Faraj und Azad 2012), Dynamische Rekonfiguration (Mazmanian et al. 2014) und Digitale Formation und Information (Kallinikos 2007; Latham und Sassen 2009), um Mensch-Technik-Verflechtungen und Formen von hybridem Handeln zu beschreiben. Im Folgenden soll ein grundlegendes Verständnis über die in der Forschung diskutierten Motive der Verflechtung und ihrer Auffassung über Handlungskapazität erarbeitet werden. Konkret sollen zunächst die Fragen, wo Handeln verortet werden kann und wie Mensch und Technik dabei zusammenhängen, beantwortet werden.
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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2.3.2.1 Entanglement Ab Orlikowskis (2007) Artikel „Sociomaterial practices: Exploring technology at work“ erlebte die Perspektive der Verflechtung als theoretische Annäherung an die Rolle von Artefakten bei der Arbeit einen Aufschwung. Der Begriff der Soziomaterialität, schuf als sogenanntes Koffer- und Kunstwort auf anschauliche Weise eine neue Kategorie darüber, was in den Sozialwissenschaften bereits lange diskutiert wurde und wirft große Teile der bisherigen Überlegungen über Bord. 19 Als Kernidee für die Ausgestaltung der Mensch-Technik-Verflechtung nutzen Soziomaterialitätsforscher den metaphorischen Begriff Entanglement, was sich ins Deutsche mit Verwicklung oder Verstrickung übersetzen lässt und eine gegenseitige Interpenetration bedeutet. Die Forschungsarbeiten orientierten sich insbesondere an den Ideen der STS und der relationalen Denkweise der ANT (Callon 1984, 1998; Latour 2004, 2005; Law 1986). Faulkner und Runde (2012, S. 52) identifizierten drei zentrale Themen von Entanglement: (a) Relationalität: Die beiden Entitäten Mensch und Materialität werden durch ihre Beziehung und durch die entstehende gegenseitige Bezugnahme zueinander gebildet. (b) Gegenseitige Durchdringung: Mensch und Materialität erwerben „Form, Attribute und Fähigkeiten durch ihre gegenseitige Durchdringung“ (Orlikowski und Scott 2008, S. 455 f.), ihre Eigenschaften ergeben sich nur innerhalb dieser sogenannten Interpenetration. (c) Agentiale Schnitte: In der Intra-Aktion gibt es handlungsrelevante Brüche. Diese sogenannten agentialen Schnitte markieren die Grenze zwischen Mensch und Materialität und sind performativ, d. h. die Intra-Aktion zieht in der Realität wirksame Konsequenzen nach sich. 20 Das Soziale und das Materielle sind demnach innerhalb von Praktiken „konstitutiv verstrickt“ (Orlikowski und Scott 2008, S. 463), es gibt keine Privilegierung des Sozialen oder des Materiellen gegenüber dem anderen. Die Grundlage dafür ist, dass Menschen und Nicht-Menschen ontologisch gleichgesetzt und nicht 19
20
Das Kofferwort Soziomaterialität vereint das Soziale mit Materialität – auch buchstäblich, indem kein Bindestrich die beiden Worte trennt, um damit ihre Fusion zu symbolisieren (Orlikowski und Scott 2008). Siehe auch den späteren Abschnitt 2.3.3.3 zu Performativität als Konfiguration von Handlungskapazitäten.
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
trennbar sind. 21 Keine von beiden Entitäten trägt inhärente Eigenschaften, sie entwickeln sich nur im Verhältnis zueinander. Unter den Gesichtspunkten des agentialen Realismus wurden die deterministischen und sozio-technischen strukturationstheoretischen Annahmen ersetzt. Der Handlungsbereich beschränkt sich bei Entanglement auf Organisation selbst, die den Raum für Praktiken darstellt (Leonardi 2013). Organisation als Prozess ist somit ausschließlich einer Sequenz von Praktiken zuzuschreiben (Leonardi 2013). Die Praktik ist der Bereich für die Ausübung soziomaterieller Handlungskapazität und der Ort, an dem Organisation geschieht. In soziomateriellen Studien, die auf dem agentialen Realismus basieren, ist eine Untersuchung von Organisation selbst also deshalb erschwert, weil es keinen Bereich für Struktur gibt, der zusammen mit Handeln Organisation vollziehen könnte. Organisation, im agential-realistischen Sinne, ist also eine Art „Reflexion von Praktik“ (Leonardi 2013, S. 72). Die Analysen soziomaterieller Praktiken sind meist theoretischer Natur oder beziehen sich auf empirische „Momentaufnahmen“ der Durchdringungen des Sozialen durch Online-Artefakte wie Suchalgorithmen, beispielsweise dem Google Page Rank (Orlikowski 2007), Online-Tools wie der Turnitin Plagiatserkennungssoftware (Introna 2016), oder Online-Bewertungsportale wie TripAdvisor (Orlikowski und Scott 2014). Als einer von wenigen Wissenschaftlern bezieht sich Nyberg (2009) bei seiner Analyse von Callcenter-Agenten als Cyborgs auf die Kernideen der Intra-Aktion und des agentialen Realismus. Er sieht die kontinuierliche umfassende Verflechtung im Fluss der täglichen Arbeitspraktiken. Laut Nyberg (2009) hebt sich an diesem Beispiel der Subjekt-Objekt-Dualismus auf, Grenzen verwischen und es herrscht bloße Intra-Aktion, da keine der menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten (Callcenter-Agenten und Technik) ohne die andere handelt. Außerdem deuteten Nybergs (2009, S. 1193) Ergebnisse auf einen Beziehungsaufbau der menschlichen gegenüber den nichtmenschlichen Akteuren hin, indem menschliche Akteure den Computer vermenschlichten, ihn im Englischen nicht als „it“ („es“), sondern „he“ („er“) bezeichneten und letztlich auch als ebenbürtigen Akteur anerkannten. Zu den Ergebnissen kam Nyberg (2009) in einer umfassenden ethnographischen Studie, innerhalb derer er menschliche und nicht-menschliche Handlungskapazität beobachtete. Insgesamt wird die Umsetzbarkeit der empirischen Untersuchungen jedoch oft dadurch erschwert, dass Materialität in Form von Technik, Objekten, Artefakten zwar als gleichwertig angesehene Komponente der Verstrickung betrachtet, jedoch nicht in gleicher Weise wie Menschen untersucht, z. B. befragt werden kann.
21
Siehe auch Abschnitt 2.2.2. (Ontologische Grundannahmen).
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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2.3.2.2 Imbrication Der Begriff Imbrication beschreibt im ursprünglichen Sinne eine Überlappung zweier Entitäten und kann auch mit dem Ausdruck Schuppenmuster übersetzt werden. In diesem Verständnis ist Handeln das Produkt der Überlagerung menschlicher und nicht-menschlicher Handlungskapazitäten (Berthod und Müller-Seitz 2018). In diesem Sinne sind beide Entitäten nach dem kritischen Realismus 22 getrennt voneinander beständig. 23 Eine Reihe von Sozio-Materialitätsforschern – allen voran Leonardi (2011; 2012) – bauen ihre Arbeit auf den Ideen sozio-technischer Systeme auf, die Mensch und Technik als sich gegenseitig bedingende Einflussgrößen sieht. Im Mittelpunkt der Forschung zu sozio-technischen Systemen steht, dass „die Technik, die in ihrer Definition sowohl Maschinen als auch die dazugehörige Arbeitsorganisation umfasste, nicht der bestimmende Faktor bei der Einführung neuer Arbeitssysteme sein durfte. Es muss gleichermaßen darauf geachtet werden, eine qualitativ hochwertige und zufriedenstellende Arbeitsumgebung für die Mitarbeiter zu schaffen.“ (Mumford 2006, S. 318)
Im Gegensatz zum relationalen Denken von ANT verfolgt die sozio-technische Systemforschung einen substantiellen Ansatz. Darüber hinaus treibt die SozioMaterialität die Forschung voran, die unter den Errungenschaften sozio-technischer Systeme durchgeführt wurde, indem sie eine Praxisperspektive hinzufügt oder, konkreter gesagt, indem sie sich auf Praktiken statt auf Technik konzentriert (Gaskin et al. 2014). Leonardi (2012, S. 42) definiert seine im kritischen Realismus fundierte Auffassung von Sozio-Materialität als die „Inkraftsetzung eines bestimmten Sets an Handlungen, die Materialität mit Institutionen, Normen, Diskursen und allen anderen Phänomenen, die wir typischerweise als ‚VR]LDOތGHILQLHUHQYHUVFKPHO]HQ³
In seiner Auffassung von Sozio-Materialität betont Leonardi (2011; 2012) eine Prozessperspektive, indem er die Metapher der Überlappung nutzt, um zu beschreiben, wie Mensch und Materialität über den Zeitverlauf hinweg miteinander verflochten sind. Mensch und Nicht-Mensch stehen hier in Relation zueinander, 22 23
Vgl. auch die ausführliche Darlegung der verschiedenen ontologischen Sichtweisen in Abschnitt 2.2.2. Diese getrennte Betrachtung spiegelt sich auch oft in der Schreibweise durch den Binde- bzw. Trennstrich im Begriff Sozio-Materialität wider. In der Literatur lässt sich die eindeutige Trennung zwischen Soziomaterialität (begründet auf agentialem Realismus) und Sozio-Materialität (begründet auf kritischem Realismus) auf Basis dieser eingehaltenen Schreibweise jedoch nicht finden.
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
indem sie interagieren (schwache Relationalität). Konkret stehen die Überlagerung menschlicher und materieller Handlungskapazität und deren Entfaltung innerhalb sozio-materieller Praktiken im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses. Leonardi (2012) sieht sozio-technische Systeme als übergeordneten Zusammenhang, der sich auf Organisation insgesamt bezieht und grenzt sie insofern von soziomateriellen Praktiken (als sozio-technisches Sub-System) ab, als dass letztere „ein rekursives (nicht gleichzeitiges) Formen von abstrakten sozialen Konstrukten und einer technischen Infrastruktur“ (Leonardi 2012, S. 42) bilden. Die vorhandenen Studien, denen Imbrication als Mensch-Technik-Verflechtungsdynamik zugrunde liegt, sind konzeptioneller (Baden-Fuller und Haefliger 2013) oder empirischer (Leonardi 2011) Natur. Letztere beziehen sich häufig auf Veränderungsprozesse bei der Einführung neuer Technik und auf damit verbundenen Wandel in organisationalen Strukturen oder Routinen (Barley 1986; Leonardi 2011). Als Herausforderung für empirische Analysen sozio-materieller Praktiken kann die in der Regel notwendige Beobachtung von Techniknutzung über einen Zeitverlauf hinweg genannt werden. 2.3.2.3 Relationale Affordance 24 Das Konzept der relationalen Affordance ist zunächst nicht als Schlüsselbegriff in soziomateriellen Studien zu finden, hat sich jedoch zu einem bevorzugten Ansatz für die Untersuchung soziomaterieller Praktiken am Arbeitsplatz entwickelt (Faraj und Azad 2012; Jarzabkowski und Kaplan 2015; Jarzabkowski und Pinch 2013). Die darin enthaltene Verflechtungsdynamik lässt sich als wechselseitige Beziehung zwischen dem Aufforderungscharakter technischer Funktionen und der interpretativen Nutzung durch Individuen beschreiben. Die Idee der relationalen Affordance greift in diesem Zusammenhang zum einen auf das sogenannte Affordance-Konzept, zum anderen auf Ideen der kognitiven Psychologie zurück. Das Konzept der technischen Affordance stellt in der Forschung zu Informationssystemen bereits seit Langem einen beliebten Ansatz für die Analyse von Techniknutzung dar (Pozzi et al. 2014). Das Konzept schließt an den Gedanken des Dualismus zwischen Subjekt und Objekt (wer nutzt was? was nutzt wen?) an, der bereits sehr lange die Grundlage für wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Technik in Organisationen bestimmt (Faraj und Azad 2012). Im ursprünglichen Sinn werden als technische Affordances „Handlungsmöglichkeiten und Chancen, die sich aus der Auseinandersetzung von Akteuren mit einer bestimmten Technik ergeben“ (Faraj und Azad 2012, S. 238), bezeichnet.
24
Der Abschnitt ist eine überarbeitete Übersetzung eines Passus aus dem Artikel „Autonomy and control? How heterogeneous sociomaterial assemblages explain paradoxical rationalities in the digital workplace” (Bader und Kaiser 2017, S. 343).
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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Mit der wachsenden Verwendung des Begriffs innerhalb verschiedener Forschungsdisziplinen und -diskurse haben sich Definitionsvariationen und verschiedene Konnotationen angesammelt. Eine Reihe von Studien (Faraj und Azad 2012; Fayard und Weeks 2007; Jarzabkowski und Kaplan 2015; Orlikowski und Scott 2008) jedoch greift auf die Definition von Zammuto et al. (2007, S. 752) zurück, dass „die Materialität eines Objekts eine bestimmte Reihe von Nutzungen begünstigt, formt oder einlädt und gleichzeitig andere beschränkt“. Insbesondere der Angebotscharakter und das „Einladen“ (Withagen et al. 2012, S. 250) der materiellen Beschaffenheit zum Handeln begünstigt demnach die Freisetzung materieller Handlungskapazität. Latour (1994, S. 31) beschreibt einen Teil technischer Mediation mit dem Affordance-Konzept und weist sogar auf eine Form auferlegten Zwangs durch Materialität hin: „[J]edes Artefakt hat seine Skripten, seine ‚$IIRUGDQFHތVHLQ3RWHQWLDO3DVVDQ ten zu ergreifen und sie zu zwingen, Rollen in seiner Geschichte zu spielen”.
In Leonardis (2012, S. 42) Verständnis hingegen wird materielles Handeln wieder „aktiviert, da der Mensch sich der Technik mit bestimmten Absichten nähert und entscheidet, welche Elemente seiner Materialität er zu einem bestimmten Zeitpunkt nutzen will“.
In diesem Zusammenhang wird der Schwerpunkt auf den interpretativen Aufforderungscharakter der Technik gelegt, d. h. wie die Akteure die Technik kontextabhängig und auf ihre eigene „kreative und unvorhersehbare“ Interpretation hin anwenden (Jarzabkowski und Kaplan 2015, S. 539). Affordance ist in diesem Verständnis also relational zwischen Mensch und Materialität und erfordert eine Neubewertung der bevorzugten Annahme der Existenz eines „generischen Nutzers“ und der „Technik als Bündel von Funktionen“ (Faraj und Azad 2012, S. 255). Die verinschriftlichten Handlungsprogramme können als feste Eigenschaften der Materialität verstanden werden. Diese festen Eigenschaften sind je nach lokalem Auftreten der Technik verteilt und unabhängig von Raum und Zeit (Leonardi 2012). Als feste Funktionen können sie menschliches Handeln ermöglichen oder einschränken. Deshalb werden in der Regel einerseits die technischen Funktionen und anderseits die interpretative Anwendung durch individuelle Nutzer analysiert. Im Gegensatz zu den bereits erläuterten Konzepten des Entanglement und Imbrication 25 wird materielle Handlungskapazität auf eine zugängliche Art erfasst. So werden in der Regel technische Funktionen mit bestimmten erlaubenden bzw. beschränkenden Tätigkeitsworten beschrieben. Das Affordance-Konzept 25
Vgl. die beiden vorangegangenen Abschnitte 2.3.2.1 (Entanglement) und 2.3.2.2 (Imbrication).
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
wird deshalb in der Organisationsforschung bereits als pragmatischer Ansatz zur Untersuchung von Materialität und Soziomaterialität angesehen (Jarzabkowski und Pinch 2013; Meyer et al. 2018). Darüber hinaus lässt die Perspektive der relationalen Affordance Raum, Entwicklungen der Beziehung zwischen Mensch und Technik über die Zeit hinweg zu betrachten. 2.3.2.4 Digitale Formation und Information Während die vorangegangen Konzepte und Verflechtungsdynamiken sich in den zurückliegenden Jahren meist auf die soziale Welt und digitale Technik beziehen, etablierte sich innerhalb der Forschungslandschaft zunehmend das Konzept der digitalen Formation, welches sich, wie der Begriff bereits zeigt, ausschließlich auf digitale Objekte bezieht. Digitale Formation beschreibt dabei „Kommunikations- und Informationsstrukturen, die sich überwiegend im elektronischen Raum herausbilden“ (Latham und Sassen 2009, S. 1). Mit Formation ist auch die Herausbildung neuer interaktiver Praktiken, die in neuen Räumen, über organisationale (oder nationale) Grenzen hinweg entstehen, gemeint (Latham und Sassen 2009). Die Idee der digitalen Formation ist von den soziomateriellen Perspektiven inspiriert und beschreibt die gegenseitige Überlagerung von sozialen und digitalen Welten. Orlikowski und Scott (2008) erklären digitale Formation als „soziodigitalisierte Strukturen, die soziale und technische Handlungskapazitäten mit neuen Konsequenzen überlagern“ (Orlikowski und Scott 2008, S. 458). Während Latham und Sassen (2009) insbesondere transnationale digitale Räume in den Blick nehmen, können in die Kategorie derjenigen Konzepte, die sich Verflechtungen auf der Ebene von Kommunikations- und Informationsstrukturen ansehen, noch weitere verwandte Konzepte angeführt werden. Kallinikos (2009), erweitert das Verständnis, indem er auf die technische Information hinweist – etwa als ein „rechnerisches Abbild der Wirklichkeit, das Organisationen in unterschiedlichen Formen rekonstituiert“ (Orlikowski und Scott 2008, 458). So spiegeln sich in digitalen Räumen z. B. Datenbanken und -brücken, aber auch in Kommunikationsportalen, Informationen wider. Eben diese Vorstellung des rechnerischen Abbilds von Wirklichkeit greift Ideen der sogenannten Repräsentationstheorie (Burton-Jones und Grange 2012) auf, die auf eine klassische Funktion von IT hinweist, nämlich Daten und Informationen automatisch zu erfassen (Cunha und Carugati 2018; Morton 1989; Zammuto et al. 2007). Dourish und Mazmanian (2013, S. 100) definieren die „Materialität von Informationsrepräsentation“ als „die Konsequenzen von gegenständlichen Darstellungen der Materialität digitaler Formen“. Neben der automatischen Dokumentation und Repräsentation von Wissen, gibt es jedoch auch Formen, in denen Menschen bei der Dokumentation ihrer
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Daten und der Interpretation von digitalen Informationen mitwirken. Ein Verständnis von Verflechtung innerhalb digitaler Formation verlangt also auch nach einer wechselseitigen Betrachtung zwischen menschlichen Handlungen individueller Akteure auf der einen und nicht-menschlicher Handlungskapazität auf der anderen Seite. So verstanden, ist ein Teil organisationaler Wirklichkeit zunächst begründet in denjenigen Tätigkeiten, in denen Menschen Daten produzieren oder Informationen dokumentieren. Außerdem ist ein Blick darauf wichtig, wie menschliche Akteure auf digital geschaffene Informationen reagieren, ihr Verhalten anpassen und dabei (organisationale) Realität formen. Cunha und Carugati (2018, S. 874) sprechen in diesem Sinne von einer Art „Verklärungsarbeit“ (Transfiguration Work): „Verklärungsarbeit ist diejenige Arbeit, die unternommen wird, um die Daten, die Mitarbeiter nutzen, um ihren Job zu erledigen, in Informationen zu verwandeln, die sie in der IT der Organisation dokumentieren.“
Empirische Beispiele für digitale Formationen sind etwa elektronische Märkte oder Open-Source Softwareentwicklung (Latham und Sassen 2009). Verwurzelt in der Repräsentationstheorie, stellt die Forschung zu digitalen Formationen und Informationen jedoch auch bewusst die (visuelle) Darstellung sowie die Ver- und Aufarbeitung von Daten in digitaler Technik (z. B. Tabellen als Output von und Input für menschliches Handeln) dar (Dourish und Mazmanian 2013). Abbildung 4 fasst die Überlegungen noch einmal zusammen und stellt die Arbeit mit Repräsentationen (automatische Aufzeichnung, manuelle Datenpflege sowie Interpretation) bei der Überlagerung von sozialer Realität und digitalem Abbild dar. 2.3.3
Zur Freisetzung von Handlungskapazität
Unmittelbar an die beschriebenen Konzepte, die sich der Gewinnung der Erkenntnis widmen, wo Handlungskapazität lokalisiert werden kann, schließt sich die Frage danach an, wie genau innerhalb dieser Verflechtungen Arrangements zwischen Mensch und Nicht-Mensch entstehen, die Ergebnisse von hybrider Handlungskapazität freisetzen. Nachstehend wird anhand der aktuellen Literatur zur Verflechtung der Forschungsstand skizziert, wie es zu einer Freisetzung von Handlungskapazität in hybriden Arrangements kommen kann. 2.3.3.1 Dynamische Rekonfiguration Während die bereits beschriebenen Konzepte nach Verortung von Handlungskapazität fragen, haben sich bisher wenige Studien der Frage gewidmet, wie Handlungskapazität an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik dargestellt und durch diese Darstellung eine Konfiguration (als Handlungskapazität) des Sozia-
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
automatische Datenaufzeichnung manuelle Datenpflege
Soziale Realität
Repräsentation
Digitales Abbild
visuelle Darstellung Interpretation
Abbildung 4: Arbeit mit Repräsentationen (Quelle: eigene Darstellung)
len und Materiellen oder des Soziomateriellen erreicht wird. Suchman (2007) brachte in diesem Zusammenhang den Begriff der dynamischen Rekonfiguration auf und begründet die Motivation ihrer Studie, indem sie sich auf Caspers (1994) folgende Überlegungen stützt: „Ich teile die Auffassung Caspers (1994), (. . .) in der Besorgnis darüber, dass die breitere Anerkennung von ‚QLFKWPHQVFKOLFKHU+DQGOXQJVNDSD]LWlWތLQQHU halb der Science und Technology Studies bettelt nach der Frage‚ wie Entitäten vor XQVHUHU$QDO\VHDOVPHQVFKOLFKXQGQLFKWPHQVFKOLFKNRQILJXULHUWZHUGHQތ (ibid.: 4).“ (Suchman 2007, S. 1)
Dynamische Rekonfiguration geht im Kern davon aus, dass „[d]ie Grenzen zwischen Personen und Maschinen diskursiv und materiell ausgeführt werden” (Orlikowski und Scott 2008, S. 458). 26 Seine Wurzeln hat das Konzept der dynamischen Rekonfiguration in STS und feministischen Studien (Haraway 1998; 26
Diskursive Praktiken werden hier multimodal (Höllerer et al. 2019; Iedema 2007; Stigliani und Ravasi 2012) verstanden. Multimodalität bedeutet, dass nicht nur eine diskursive Aushandlung über Sprache, sondern auch über visuelle und materielle Formen wie Bilder und Technik stattfindet.
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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Suchman 2007). Suchman (2007, S. 242) macht ebenso deutlich, dass die Idee der dynamischen Rekonfiguration sich nicht mehr nur mit der Verortung von Handlungskapazität befasst, sondern mit den „Arrangements, die effektive Formen von Handlungskapazität herstellen“. Diese Arrangements treten in Arbeitspraktiken hervor (Mazmanian et al. 2014). Soziomaterielle Handlungskapazität stellt in diesem Verständnis eine Konfiguration dar, eine „anhaltende, wechselnde und ergebnisoffene Arbeit, um das Soziale und das Materielle und die Beziehung zwischen ihnen voneinander abzugrenzen und zu definieren“ (Mazmanian et al. 2014, S. 832).
Im Hinblick auf Handlungskapazität führen Mazmanian et al. (2014, S. 832) weiter aus: „Rekonfiguration bezeichnet also den Prozess, in dem neue Assemblagen von Handlungskapazitäten entstehen.“ Drei Aspekte veranlassen in ihrer (Mazmanian et al. 2014, S. 845) Konzeption die Herausbildung von Handlungskapazität: 1. Figuration (Darstellung der Welt in Repräsentationen), 2. Kon-figuration (Zusammenspiel der Figurationen), 3. und Re-Konfiguration (wiederholtes Zusammenspiel der Figurationen). Dabei erzeugen „andauernde Handlungen der Dokumentation, Abbildung, Vorstellung von der Welt – graphisch, mathematisch, numerisch, digital, physisch, organisational – (. . .) die Realität durch dynamische Rekonfiguration zwischen soziomateriellen Phänomenen und über sie hinweg“ (Mazmanian et al. 2014, S. 846).
Mazmanian et al. (2014, S. 846) weisen auf die gegenseitigen Repräsentationen und Darstellungen sowie auf bestimmte Vorstellungen (Imagining) zwischen dem Materiellen und dem Sozialen hin. Die soziale Konstruktion von Technik ist bereits seit Langem anerkannt in der Forschung zu Technik (Oudshoorn und Pinch 2003). So entwickelt sich die Nutzung von Technik etwa auch durch bestimmte vorhandene kognitive Deutungsrahmen über sie – durch sogenannte „[T]echnological [F]rames“ (Orlikowski und Gash 1994, S. 174). Darüber hinaus greifen die menschlichen Akteure bei ihrer Interpretation (Leonardi und Barley 2010) auf bestehende Deutungsmuster aus ihrem sozialen Umfeld zurück, etwa aus ihrer beruflichen Identität (Nelson und Irwin 2014). Suchman (2007) betrachtet innerhalb von dynamischer Rekonfiguration auch das Imaginäre, das Mensch- und Nicht-Mensch im Hinblick auf Gleichheit und Unterschiedlichkeit kategorisch beschreibt. Diese Kategorien entstehen in einer Vorstellungswelt. Im Englischen taucht in dem Zusammenhang der Begriff Imaginary auf, der im Gegensatz zu Imagination (Vorstellung) auch Fantasie und Fiktion beinhaltet (Suchman 2007,
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S. 1). Empirisch wird dabei untersucht, wie bestimmte Kategorisierungen innerhalb diskursiv-materieller Praktiken mobilisiert werden und in bestimmten Handlungsfeldern aktiviert werden (Suchman 2007). Unabhängig von der genannten Literatur zu Verflechtung und dynamischer Rekonfiguration führt Bucher (2017, S. 31) den Begriff „algorithmic imaginary“ ein. Sie beschreibt, wie Menschen auf Algorithmen (in ihrem empirischen Fall: Facebook-Algorithmen) treffen, sie wahrnehmen, sich deren (unsichtbarer) Anwesenheit bewusst werden, in dieser Wahrnehmung hin affektiv auf Algorithmen reagieren und sie durch dieses reaktive Verhalten neu formen. Wenngleich nicht explizit, macht die Studie die dynamische Rekonfiguration zwischen Mensch und Nicht-Mensch am Beispiel von lernenden Algorithmen deutlich. Dynamische Rekonfiguration zieht also die materiell diskursiven Praktiken in Betracht, innerhalb derer Verflechtung stattfindet. Dabei lassen sich in den konzeptionellen und empirischen Studien sowohl Fundierungen im kritischen als auch im agentialen Realismus finden. In Richtung der letzteren gehen auch neuere Studien von Mazmanian (2019) über die Nutzung von Smartphones und Mensch/Smartphone-Hybride, die in materiell-diskursiven Praktiken ins Leben gerufen werden. Wie Handlungskapazität innerhalb von Praktiken ins Leben gerufen wird, soll im nachstehenden Abschnitt anhand der vorhandenen Literatur genauer beleuchtet werden. 2.3.3.2 Praktiken als Ort der Verflechtung Die Inbezugnahme bzw. der Beziehungsaufbau von menschlicher und nichtmenschlicher Handlungskapazität tritt in Kraft, d. h. sie werden „vermischt – hybridisiert – in der Praktik“ (Czarniawska 2014, S. 52). Unter diesem Gesichtspunkt stellen Praktiken einen Raum für Handlungsverflechtung dar. Verflechtungskonzepte sind eng mit den Ideen, die den sogenannten Practice Turn in der Organisationsforschung ausmachen (Gherardi 2012; Nicolini 2012; Schatzki 2005a), verbunden. In Anlehnung an Pickering (1995) argumentiert Rammert (2016, S. 131) diesbezüglich: „Wenn jetzt die Handlungsträgerschaft von Technik in den Vordergrund gerückt wird, impliziert das eine pragmatische Wende. Erst die Praktiken vermögen den Sachen Sinn und den Bedeutungen einen Sachverhalt zu geben.“
Die Praxistheorie kann als eine weitgehend akzeptierte Fundierung für die Analyse soziomaterieller Praktiken und Mensch-Technik-Verflechtungen gesehen werden. Feldman und Orlikowski (2011, S. 1240) beschreiben die Praxistheorie dabei als „eine spezifische Herangehensweise zum Verständnis der Welt.“ Der Kern einer praxistheoretischen Konzeptualisierung der Zusammensetzung der
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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Welt ist die grundlegende Annahme, dass das soziale Leben innerhalb von Praktiken verwirklicht wird (Leonardi 2015) und, dass „das soziale Leben eine kontinuierliche Produktion ist und deshalb durch die wiederkehrenden Handlungen von Menschen hervorgebracht wird“ (Feldman und Orlikowski 2011, S. 1240).
Reckwitz (2003) fasst drei Grundannahmen der Praxistheorie zusammen: 1. Praktiken basieren auf einer impliziten und informellen Logik und das Soziale basiert auf praktischem Wissen. 2. Praktiken haben eine inhärente Materialität, die auf Verkörperungen und Artefakten basiert (soziomaterielle Praktiken). 3. Praktiken zeigen Elemente sowohl von Routinen als auch von Unvorhersehbarkeit, die sich aus dem Umfeld ergeben. Ähnlich wie organisationale Routinen treten Praktiken als rekurrierende kollektive Handlungen auf. Sie definieren sich durch „Routinisiertheit einerseits, der Unberechenbarkeit interpretativer Unbestimmtheiten andererseits“ (Reckwitz 2003, S. 284). Die Praxistheorie bildet auch die Grundlage für die Analyse von Materialität und Artefakten. Dabei rücken Praxistheoretiker deren Kapazität zu Handeln unterschiedlich stark in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. So existiert eine schwache Artefakttheorie (Schatzki 2002), welche Artefakte eher als Instrument für menschliches Handeln und in einer untergeordneten Rolle sieht. Eine starke Artefakttheorie, hingegen, lässt sich in den sogenannten post-humanistischen praxistheoretischen Ansätzen, die Artefakte als Akteure und neben menschlicher auch materielle sowie hybride Formen von Handlungskapazität anerkennen (Reckwitz 2003), finden. Gleichzeitig tun sich jedoch auch post-humanistische Ansätze schwer, „die Konzepte des praktischen Wissens und Verstehens nicht nur auf humane Träger von Praktiken, sondern auch auf nicht-humane Träger anzuwenden (vgl. auch Preda 2000)” (Reckwitz 2003, S. 298). Die STS hat einen „praxeologischen Blick“ (Reckwitz 2003, S. 284) schon sehr früh auf die Untersuchungen der Techniknutzung angewendet und informieren dadurch eher Perspektiven, die von einer starken Handlungskapazität von Artefakten ausgehen und letztere mit in den Mittelpunkt empirischer Untersuchungen stellen. Zu den einflussreichsten Theoretikern in diesem Zusammenhang gehören Latour und die ANT (Latour 1994, 1996a), Pickering mit seinem Konzept der Mangel der Praktik (Pickering 1995) und Knorr-Cetina, etwa in ihrer Konzeption der objektzentrierten Sozialität (Knorr-Cetina 1997). Aktuelle Studien fragen in diesem Zusammenhang nach der Veränderung von Praktiken in der Nutzung neuer Technik:
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
„Wenn traditionelle Medien ersetzt werden oder mit neuen kombiniert, kann eine lang etablierte Praktik gestört oder sogar durch diese Diskontinuität unterbrochen werden.“ (Lanzara 2016, S. 196)
Die Idee, die Rolle von Artefakten in täglichem organisationalem Handeln zu untersuchen, wurde bald auf verschiedenste Facetten von Materialität ausgeweitet und insbesondere in der Routinenforschung (D’Adderio 2008, 2011) und der Strategy-as-Practice-Forschung (S-a-P) berücksichtigt, bei denen StrategieTools wie Balanced Scorecards, Whiteboards (Werle und Seidl 2015), oder Microsoft PowerPoint (Jarzabkowski und Kaplan 2015) im Zentrum der Untersuchung standen. Wie Vaara und Whittington (2012, S. 4) in diesem Kontext feststellen, „tragen die materiellen Ressourcen für menschliche Tätigkeit, zum Beispiel Kommunikations- oder Computertechnik, bestimmte implizite Praktiken in sich, deren Zwänge und Möglichkeiten ständig nach unmittelbaren Zwecken ausgehandelt werden müssen“.
Hinsichtlich des Inhalts, der durch die Verflechtung in Praktiken hervorgebracht oder verändert wird, lassen sich laut Feldman und Orlikowski (2011) in der Literatur unterschiedliche Auffassungen finden, die beispielsweise soziale Strukturen (Giddens 1986), Feld und Habitus (Bourdieu 1977) oder Aktivitätenbündel (Schatzki 2002) umfassen. Im Gegensatz zu verwandten Disziplinen, z. B. der Routinenforschung (D’Adderio 2008), berücksichtigen Praxistheoretiker Dynamik, Beziehungen und deren produktive Ergebnisse für die soziale Welt (Loscher 2016; Loscher et al. 2019). 27 Auf welche Weise diese Praktiken produktiv sein können, soll im nachfolgenden Abschnitt über Performativität kurz beleuchtet werden. 2.3.3.3 Performativität als Konfiguration von Handlungskapazitäten Unmittelbar verbunden mit der theoretischen Frage nach Handlungsträgerschaft, Handlungsmacht und Handlungskapazität ist die Frage, wie Mensch-TechnikVerflechtungen soziales Leben, also Wirklichkeit, hervorbringen. Dieses Bild der Inkraftsetzung der Ergebnisse von Praktiken schließt sich an bestehende Forschung zu Performativität an, die beschreibt, wie soziale Interaktio-
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Feldman und Orlikowski (2011) nennen außerdem drei Aspekte, die eine praxistheoretische Untersuchung ausmachen sollten: 1) einen empirischen Fokus darauf, was Menschen in organisationalen Kontexten tun, 2) einen theoretischen Fokus darauf, wie gehandelt wird, d. h. auf die Beziehungen zwischen menschlichen Handlungen und organisationalen Strukturen und 3) einen philosophischen Fokus darauf, wie organisationales Handeln durch Praktiken konstituiert wird.
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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nen unsere soziale Wirklichkeit konstituieren (Marti und Gond 2018). Seinen Ursprung hat das Konzept in Austins (1975) Theorie der Sprechakte (Gond et al. 2016), d. h. der Inkraftsetzung von Wirklichkeit durch bestimmte Aussagen (z. B. „ich taufe dich auf den Namen“, „wir ernennen Sie zum Direktor“). Das Konzept von Performativität wurde in der Organisations- und Managementforschung bisher von unterschiedlichen theoretischen Perspektiven beleuchtet (Gond et al. 2016; Orlikowski und Scott 2015). Dabei kam es zuvorderst in der Wissenschaftssoziologie zur Anwendung (Callon 1998). Pickering (1995) beschäftigt sich in diesem Kontext mit der Performativität von wissenschaftlichen Praktiken und hinterfragt die Rolle menschlicher Handlungskapazität (in diesem Fall die des Wissenschaftlers) in wissenschaftlichen Grundannahmen. Dabei sieht er „Produktion, Bewertung und Nutzung wissenschaftlichen Wissens als strukturiert von den Interessen und Einschränkungen auf Seiten realer menschlicher Agenten“ (Pickering 1995, S. 9). Die Darstellungen von Wissen, etwa durch die Wissenschaft, stellt demnach eine „bestimmte Konfiguration menschlicher Agency“ (Pickering 1995, S. 10) dar. Am Beispiel eines Diskurses lässt sich das Konzept verdeutlichen: Ein Diskurs ist dann performativ, wenn er zur Realität dessen, was er beschreibt, beiträgt (Callon 1998; Orlikowski und Scott 2008). Einige Wissenschaftler aus der STS (Callon 1998; Pickering 1995) haben die Idee der Performativität genutzt, um „sociomaterial mattering [Hervorhebung im Original]“ (Gond und Cabantous 2015, S. 443) zu erklären, und meinen damit etwa, dass die Verflechtung von menschlicher und materieller Handlungskapazität für die Realität etwas ausmacht. Soziomaterielle Studien beziehen sich insbesondere auf Barads (2003) und Butlers (2010) Verständnis von Performativität. Letztere beschreibt Performativität als „eine Menge an Prozessen, die ontologische Effekte hervorrufen, das heißt, die es schaffen, bestimmte Arten von Wirklichkeiten zum Leben zu bringen, oder (. . .) die zu bestimmten Arten sozial bindender Konsequenzen führen.” (Butler 2010, S. 147)
Der Begriff Performativität (Performativity) steht dabei etymologisch eng mit dem englischen Wort Performance, übersetzt Leistung, in Verbindung. Eine Leistung impliziert ein aktives Handeln von Akteuren. Performativität, hingegen, meint eher eine Form von geschehenem Handeln (Orlikowski und Scott 2014). Soziomaterielle Studien bauen in diesem Zusammenhang auf „einen performativen Ansatz[, der] die Praktiken identifiziert, die die Welt konstituieren und in ihr verwickelt sind“ (Orlikowski und Scott 2014, S. 873). In diesem Sinne sind das Menschliche und Nicht-Menschliche innerhalb von Praktiken verflochten und „die Realität wird durch [ihre] Leistung in Kraft gesetzt“ (Orlikowski und Scott 2014, S. 873). Die Beziehungen zwischen Menschen und Technik sind letztlich
44
2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
nicht fest, sondern ihre Grenzen werden innerhalb von Praktiken immer wieder neu instanziiert. 2.3.4
Diskussion der Konzepte
Die vorangegangenen Erläuterungen in Kapitel 2 geben den Stand der Forschung wieder und zeichnen anhand der Literatur erstens die Verortung von Handlungskapazität und zweitens die Freisetzung von Handlungskapazität nach. Soziomaterialität ist dabei ein aufkommendes Konzept, das sich aufgrund seiner Neuartigkeit in einem unreifen Zustand befindet, was die Konsistenz der theoretischen und ontologischen Grundlagen betrifft (vgl. Abschnitt 2.2.2). Wie der Name schon sagt, drückt Soziomaterialität verbal das Interesse an der Frage aus, wie das Soziale (oder auch das Menschliche) und Materialität (oder auch Technik) zusammenhängen. Über die Tatsache der Existenz dieser Relation besteht in der gegenwärtigen Forschung Konsens (Leonardi und Barley 2008). Die Fragen, welchem Muster die Wechselbeziehungen zwischen dem Sozialen und dem Materiellen folgen und welches ontologische Grundverständnis vorherrscht, bleiben jedoch hoch umstritten. Leonardi (2013, S. 59) beschreibt in diesem Zusammenhang Soziomaterialität als „eines der beliebtesten, am häufigsten zitierten, am häufigsten diskutierten und kritisierten Themen in den Bereichen Informationssysteme und Management“. Dabei sind es gerade die ausgeprägte Theoretisierung und zum Teil auch abstrakte Verwendung der Konzepte, die deren Kernaussagen verschleiern. Aufgrund dieser Abstraktheit bleiben theoretische Interpretationen und ihr Nutzen für ein weiteres Verständnis darüber, wie Mensch und Technik miteinander verflochten sind, oftmals nicht voll ausgeschöpft. Obwohl die Anzahl der veröffentlichten Artikel zu Soziomaterialität in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, gibt es erhebliche Kritik am Konzept. Konkret bedeutet eine soziomaterielle „Perspektive (. . .) den Versuch, eine ontologische Dimension in eine vom Sozialkonstruktivismus dominierte Literatur einzubringen“ (Faulkner und Runde 2012, S. 49). Diese Theoretisierung hat in der Forschungsgemeinschaft heftige Kontroversen hervorgerufen, die sich auf die unterschiedlichen ontologischen Perspektiven und ihrer inkonsistenten Verwendung beziehen. Eine Vielzahl der Studien – darunter selbst diejenigen, die von Vertretern der einen oder anderen Perspektive verfasst wurden – verwendet die unterschiedlichen Ansätze inkonsistent, was zu heftigen Kritiken, beispielsweise im Rahmen des Artikels „Sociomateriality at the royal court of IS“ (Kautz und Jensen 2013) führte. Insbesondere die im agentialen Realismus und ihre in Teilen metaphysische Verankerung der von Orlikowski (2007) geprägten Soziomaterialität (Entanglement) rufen Kontroversen hervor. Entanglement hat seine Wurzeln in Traditionen wie „Ethnomethodologie; STS, Poststrukturalismus, Postmoderne und feministischen Technowissenschaften“ (Cecez-Kecmanovic et al. 2014, S. 813). Direkter
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
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gesagt, stammt es von der Forschung zu ANT und Praxistheorie ab. Die Kernidee für die Verflechtung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Handlungskapazität ist die Verwicklung, Verstrickung oder gegenseitige Interpenetration. Ontologische Ausgangsbasis ist eine Symmetrie und Relationalität zwischen Mensch und Nicht-Mensch, die untrennbar miteinander intra-agieren, ohne die andere kann keine der Entitäten existieren. Starke soziomaterielle Perspektiven nehmen Abstand von einem asymmetrischen Ansatz. Die Verankerung des Soziomaterialitätskonzepts in verschiedene größere Theorien macht es sehr schwierig, es auf empirische Phänomene anzuwenden. Insbesondere deshalb kritisieren Vertreter des kritischen Realismus wie Mutch (2013) und Leonardi (2013) die Studien im agentialen Realismus. Konzepte der ANT und Soziomaterialität sind ihrer Ansicht nach nicht operationalisierbar, ohne dass Mensch und Technik vorher getrennt voneinander betrachtet werden. Wenn Mensch und Nicht-Mensch nicht separat untersucht werden, kann nur schwierig erklärt werden, wie ihre Relation entsteht, sich verändert und reale Konsequenzen nach sich zieht (Leonardi 2013). Darüber hinaus vernachlässigt der agential-realistische Ansatz Zeit und prozessuale Abläufe. Unter diesem Gesichtspunkt lässt es der agentiale Realismus nicht zu, empirische Phänomene zu untersuchen, die anfällig für zeitliche Dynamiken sind, beispielsweise die Entwicklung von Praktiken oder organisationale Veränderungen. Infolge der zunehmenden Kritik am agentialen Realismus und der empirisch schwierigen Operationalisierbarkeit, nehmen die meisten Studien zur Soziomaterialität eine humanzentrierte Perspektive ein, die eher von einer Bezugnahme von Mensch und Technik in Form von Inter-Aktion anstatt von Intra-Aktion ausgehen. Jarzabkowski und Pinch (2013), obwohl sie Soziomaterialität als eine vielversprechende Perspektive würdigen und sie zur Beurteilung menschlich-materieller Zusammenhänge in Organisationen vorschlagen, warnen buchstäblich vor der „philosophischen Falle, die Materialität zu verfolgen, indem sie neue Formen GHU2QWRORJLHXQG:HJHGHUÃ,QWHUDNWLRQތRKQH0HQVFKHQSRVWXOLHUHQ³(Jarzabkowski und Pinch 2013, S. 581). Jarzabkowski und Pinch (2013, S. 588) üben Kritik an Barad (2003), attestieren ihr eine Unterwerfung der Soziologie unter die Physik, und rufen die Managementforschung dazu auf „Exkursionen (. . .) in esoterische Quantenmechanik (. . .) [zu] vermeiden“. Das Konzept, das Entanglement (Soziomaterialität) am nächsten steht, sich jedoch ontologisch im kritischen Realismus verorten lässt, ist Imbrication (SozioMaterialität). In Anlehnung an die existierenden Studien zu sozio-technischen Systemen werden Mensch und Technik in ihrer wechselseitigen Beeinflussung über die Zeit hinweg betrachtet und Handlungskapazität befindet sich in einer Überlagerung der beiden Entitäten. Die beiden Konzepte lassen sich unter Soziomaterialität subsumieren – ein neues Wort, das insgesamt stark auf bereits bestehenden Theorien aufbaut (Mutch 2013). In diesem Zusammenhang kritisiert Mutch (2013, S. 28) Studien, die im
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
soziomateriellen Ansatz „falsch abbiegen“ und Technik nicht mehr im Detail beschreiben. Das Konzept der relationalen Affordance fokussiert auf eben diese Beschreibung der technischen Funktionen und analysiert deren Interpretation und Gebrauch durch individuelle Nutzer. Es bezieht sich damit auf Aspekte der kognitiven Psychologie und individuelle Motivstrukturen von Nutzern. Die beschriebenen Konzepte Entanglement, Imbrication, relationale Affordance sowie digitale Formation und Information lassen in erster Linie nachvollziehen, wo Handlungskapazität verortet sein kann. Darauf, wie diese Handlungskapazität freigesetzt wird, gibt das Konzept der dynamischen Rekonfiguration nähere Hinweise, indem es zuvorderst an der Formung der Beziehungen zwischen Mensch und Nicht-Mensch und den materiell-diskursiven Praktiken in der Interaktion interessiert ist. Ausgangspunkt für deren Untersuchung kann sowohl der agentiale als auch der kritische Realismus sein. Herausforderungen bei der Untersuchung dieser Praktiken und wechselnden Handlungsträgerschaften können Dynamik, Fluidität, Kurzlebigkeit und zum Teil Einzigartigkeit von soziomateriellen Arrangements sein. Schließlich gibt es eine Reihe neuerer Studien, die sich an die Konzepte anlehnen, sie aber in Bezug auf ontologische Annahmen insgesamt weniger streng anwendet (Cunha und Carugati 2018; Curchod et al. 2019). Viele dieser Studien befassen sich mit soziomateriellen Arrangements unter einem wechselseitigen Ansatz, bei dem entweder die Technik oder der Mensch im Laufe der Untersuchung zur Zielmarke wird. Tabelle 2 fasst die zentralen Elemente der diskutierten Konzepte hinsichtlich der Verortung von Handlungskapazität (wie hängen menschliche und nicht-menschliche Handlungskapazität zusammen?) sowie der Freisetzung von Handlungskapazität (wie entstehen Arrangements, die effektive Handlungskapazität freisetzen?) noch einmal übersichtsartig zusammen. Tabelle 2: Zusammenfassende Übersicht über Verflechtungskonzepte (Quelle: eigene Darstellung) Erkenntnisinteresse
Verortung von Handlungskapazität
Konzept
Entanglement
Imbrication
Relationale Affordance
Verwandte Konzepte und Wissenschaftstraditionen
ANT, STS
Sozio-Technische Systeme, Mangle of Practice, Informatik
Affordanz, kognitive Psychologie
Digitale Formation und Information Repräsentationstheorie, Informatik
Freisetzung von Handlungskapazität Dynamische Rekonfiguration Konfiguration, feministische STS
47
2.3 Kontemporäre Konzepte der Verflechtung und Handeln
Erkenntnisinteresse
Verortung von Handlungskapazität
Konzept
Entanglement
Imbrication
Relationale Affordance
Kernidee der MenschTechnikVerflechtung
Verwicklung, Verstrickung, gegenseitige Interpenetration
Überlagerung
Ontologische Grundannahme
Relationalität
Theoretische Fundierung
Agentialer Realismus
Substantivismus (in Form von „schwacher” Relationalität) Kritischer Realismus
Wechselseitige Beziehung, Interpretation technischer Funktionalitäten Substantivismus
Analyseeinheit
Praktiken
Menschliche und materielle Handlungskapazität
Technische Funktionen und interpretative Nutzung
Beiträge
Konzeptionell und zum Teil empirisch Mangelnde Umsetzbarkeit empirischer Untersuchungen, Vernachlässigung zeitlicher Entwicklungen
Konzeptionell und empirisch
Konzeptionell und empirisch
Notwendigkeit von empirischen Untersuchungen über einen längeren Zeitverlauf hinweg
Mangelnde Generalisierbarkeit von empirischen Erkenntnissen: interpretative Affordanz kann bei unterschiedlichen Individuen variieren, aber auch bei einem Individuum (z. B. andere Zeit, Ort)
Herausforderungen und Kritikpunkte
Kritischer Realismus
Digitale Formation und Information Überlagerung von digitalen Repräsentation en und organisationaler Realität i.d.R. Substantivismus
i.d.R. Kritischer Realismus Digitale und soziale Informationen
Konzeptionell und zum Teil empirisch Viele, oftmals schwer oder nicht nachvollziehbare (digitale und soziale) Informationen notwendig
Freisetzung von Handlungskapazität Dynamische Rekonfiguration Diskursiv-materielle Festlegung von Handlungsgrenzen
Relationalität oder Substantivismus
Agentialer oder kritischer Realismus Menschliche und materielle Handlungskapazität, soziale diskursive Dynamiken Konzeptionell und empirisch
Berücksichtigung der Dynamik, Fluidität, Kurzlebigkeit und zum Teil Einzigartigkeit von soziomateriellen Arrangements
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2 Technik, Organisation und hybrides Handeln
Erkenntnisinteresse
Verortung von Handlungskapazität
Konzept
Entanglement
Imbrication
Relationale Affordance
Ausgewählte Autoren
Orlikowski (2007) Orlikowski und Scott (2008) Nyberg (2009) Introna (2016)
Barley (1986) Leonardi (2015)
Faraj und Azad (2012) Jarzabkowski und Pinch (2013) Werle und Seidl (2015)
Digitale Formation und Information Latham und Sassen (2009) Kallinikos (2007) Dourish und Mazmanian (2013)
Freisetzung von Handlungskapazität Dynamische Rekonfiguration Suchman (2007) Mazmanian et al. (2014) Mazmanian (2019)
Bei genauer Betrachtung der derzeit verwendeten Konzepte für Mensch-TechnikVerflechtungen wird schließlich deutlich, dass unterschiedliche Metaphern oder Grundmotive verwendet werden, um die Verflechtung und deren Handlungsfreisetzung bildlich zu beschreiben. Die Konzepte vermitteln ein zumeist theoretisches Verständnis darüber, wie die Verflechtung aussehen kann und wo sich Handlungskapazität zwischen Mensch und Nicht-Mensch finden lässt. In Studien, die dem Substantivismus zuzuordnen sind, wird darüber hinaus deutlich, dass die Grenzen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem innerhalb von Praktiken ausgehandelt werden. 2.4
Zusammenfassung der Überlegungen
In den vorangegangenen Abschnitten wurde die Forschungslandschaft zu Technik in Organisationen und deren Beziehung zum Menschen skizziert. Bisher wurde Technik in der organisationstheoretischen Forschung entweder bei Analysen von Handeln vernachlässigt oder sie wurde als getrennte Entitäten und als Werkzeug für menschliches Handeln betrachtet (vgl. Abschnitt 2.2.1). Insbesonders neue digitale Technik wie lernende Algorithmen jedoch scheint menschliches Handeln in der Arbeitswelt aufgrund ihrer stärkeren Wirkmächtigkeit, z. B. indem Algorithmen auch anders handeln können (vgl. Abschnitt 2.4.1.3), immer mehr zu durchdringen. Neue Konzepte der Verflechtung geben in diesem Zusammenhang einen vielversprechenden Ausblick in Richtung eines neuen Verständnisses darüber, in welcher Form sich diese Durchdringung menschlicher Arbeit durch Technik darstellen kann (vgl. Abschnitt 2.4.2) und es gibt erste Hinweise darauf, wie hybrides Handeln durch eine interaktive Festlegung neuer Identitäten entstehen kann (vgl. Abschnitt 2.4.1). Aus den vorangegangenen Überlegungen zu den neuen Perspektiven der Verflechtung, ergeben sich für die vorliegende Arbeit drei theoriegeleitete Forschungsziele.
2.4 Zusammenfassung der Überlegungen
49
Gemäß der Technologies-in-Use-Perspektive entfaltet eine Technik ihre materielle Handlungskapazität in Relation zum Menschen (vgl. Abschnitt 2.2.1). Weiter lassen die theoretischen Ausführungen über materielle Handlungskapazität (vgl. Abschnitt 2.3.1.2) vermuten, dass avancierte Technik sich in der Wirkmächtigkeit immer mehr an menschliche Handlungskapazität annähern. Es bedarf folglich einer genaueren Untersuchung der sozialen Dynamiken, die die Beziehung zwischen Mensch und Nicht-Mensch etablieren und die der Entfaltung materieller Handlungskapazität von digitalen Tools und lernenden Algorithmen zugrunde liegen. Ein weiterer Aspekt, der sich aus den theoretischen Ausführungen ableiten lässt, ist die interpretative Nutzung von Technik in Praktiken (vgl. Abschnitt 2.2.1). Dabei kann Handlungshybridisierung als eine Wechselwirkung zwischen zwei Seiten verstanden werden: auf der einen Seite steht die Frage, wie menschliche Akteure am Arbeitsplatz von neu implementierten digitalen Tools und lernenden Algorithmen tatsächlich Gebrauch machen innerhalb deren Angebote und Begrenzungen. Auf der anderen Seite ist fraglich, wie der Anteil von Technik an hybridem Handeln entsteht (vgl. Abschnitt 2.4.1.3). Insbesondere die Arbeit mit Repräsentationen und die Existenz digitaler Welten weisen auf eine zunehmende Einflussnahme auf organisationale Realität hin (vgl. Abschnitt 2.4.2.2). Dabei gibt es bislang keine tiefgreifenden empirischen Untersuchungen darüber, wie sich Handlungshybridiserung bei der Einführung und Nutzung unterschiedlich weit fortgeschrittener Technik vollzieht. Zu untersuchen sind somit zugrunde liegende empirische Sachverhalte, die bei der Nutzung (digitaler) Tools und lernender Algorithmen auf eine Handlungshybridisierung hinwirken. Schließlich weisen die vorhandenen Theorien der Verflechtung darauf hin, dass hybrides Handeln performative Konsequenzen in Form von veränderten Praktiken hat (vgl. Abschnitt 2.3.3.3). Insbesondere bei der Einführung von Tools und Algorithmen, deren Funktionsweise als Blackbox in alltägliches Handeln eingeht (vgl. Abschnitt 2.3.1.2), liegen bislang kaum empirische Erkenntnisse dazu vor, was nun hybrides Handeln tatsächlich in der Arbeitswelt verändern kann. Das dritte Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit gilt somit der Performativität der Verflechtung in Form veränderter Praktiken.
Die sozialen Dynamiken, die der Aushandlung von Beziehungen und Grenzen zwischen Mensch und Technik unterliegen, die Mechanismen der Handlungshybridisierung und veränderte Praktiken
bilden das analytische Gerüst für den methodischen Zugang und die Arbeit mit den empirischen Daten. Das nächste Kapitel folgt diesen Gedanken und stellt das Forschungsdesign und den Kontext für die empirische Analyse von Technologiesin-Use vor dem Hintergrund soziomaterieller Praktiken dar.
3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext
Die leitende Forschungsfrage dieser Arbeit ist, wie menschliche und materielle Handlungskapazität miteinander verflochten sind und wie sich dadurch organisationale Praktiken verändern. Technologies-in-Use zu untersuchen, bedeutet, zu analysieren, „was die Leute tatsächlich tun mit dem technischen Artefakt in ihren wiederholten, situativen Praktiken“ (Orlikowski 2000, S. 408). Zur Analyse soziomaterieller Praktiken werden deshalb tiefgehende qualitative Daten benötigt (Mazmanian et al. 2014). In den nachfolgenden Abschnitten wird das methodische Vorgehen der empirischen Erhebung im Detail geschildert. Es wird dabei zunächst auf die allgemeinen spezifischen Anforderungen zur Analyse soziomaterieller Praktiken eingegangen (vgl. Abschnitt 3.1). An diesen Anforderungen orientiert sich die Methodik der vorliegenden Arbeit, die im Anschluss beschrieben wird (vgl. Abschnitt 3.2). Es werden die Gründe für die Wahl der kontrastierenden Fallstudienmethodik und der Fälle erklärt und darauffolgend die Datensammlung, die verschiedene Datenquellen beinhaltet. Folglich werden detailliert deren Auswertung sowie die Theoriebildung beschrieben und wichtige Qualitätskriterien, wie sie im Laufe des Forschungsprozesses angewandt wurden, werden diskutiert. Das Kapitel leitet zur Darstellung der empirischen Ergebnisse über, indem es am Ende in den Forschungskontext einführt und grundlegende Informationen über die untersuchten Fälle und Softwarelösungen darlegt (vgl. Abschnitt 3.3). 3.1
Methodologische Anforderungen zur qualitativen Analyse soziomaterieller Praktiken
Die Analyse von Technologies-in-Use bringt mehrere Besonderheiten mit sich, die vor und während der Datensammlung berücksichtigt werden müssen. So sind technische Artefakte an sich, also wenn sie nicht in Anwendung oder in Zusammenhang mit menschlichen Akteuren stehen, nicht zwangsläufig konstitutiv, sondern entfalten erst dadurch organisationale Konsequenzen, dass sie von Menschen auf eine spezifische Weise genutzt werden (Feldman und Orlikowski 2011). Sie werden also konstitutiv in ihrer Beziehung mit Menschen. Diese Beziehung wird in Praktiken etabliert. Gerade in diesem Zusammenhang jedoch lässt sich in der bestehenden Forschung bisher weder eine einheitliche Definition dessen, was eine empirisch untersuchbare Praktik ausmacht, noch eine feste © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3_3
52 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext Grenze einer Praktik, erkennen. So untersuchen Faraj und Xiao (2006) beispielsweise Koordinationspraktiken, Orlikowski bezeichnet in ihrem Artikel mit Feldman (2011) einen Teil ihrer Studien, etwa zur Nutzung von E-Mails oder PowerPoint, als Forschung zu Kommunikationspraktiken, Suchman (1995) schreibt allgemein über Arbeitspraktiken und S-a-P-Forscher sehen das Abhalten von Strategiemeetings als Praktik (Jarzabkowski und Seidl 2008). Weiterhin sind Praktiken und Technologies-in-Use keine abgeschlossenen Analyseeinheiten. Vielmehr lassen sie sich als Evolution von Assemblagen in Form „soziomaterieller Flüsse” (Davies und Riach 2018, S. 137) verstehen, durch die sich ganze „Netze von Beziehungen“ (ebd.) ergeben können. Eine Untersuchung derartiger „Praktik-Anordnungs-Bündel“ (Schatzki 2005b, S. 474) schließt bei der Untersuchung auch die Berücksichtigung von Zeit und Ort mit ein (Loscher 2016; Loscher et al. 2019; Schatzki 2002). Durch die Dynamik und die konstanten Rekonfigurationen wird deutlich, dass es sich bei der Untersuchung soziomaterieller Praktiken um das Einfangen situativer Zustände handelt (Davies und Riach 2018), die zwar routineartige Wiederholungen aufweisen, sich aber innerhalb unterschiedlich ausgedehnter Zeitabstände und Raumdimensionen ändern können. Ein weiterer Aspekt, der bei der Analyse soziomaterieller Praktiken zu berücksichtigen ist, ist in ihrer theoretischen Fundierung begründet. 28 Die Untersuchung von Technologies-in-Use entlang einer Praxisontologie (Feldman und Orlikowski, 2011) beinhaltet deshalb in der Regel auch die Beobachtung (Beane und Orlikowski 2015; Mazmanian et al. 2014) sowohl menschlicher als auch nicht-menschlicher Handlungskapazitäten, die in Praktiken organisationale Realität hervorbringen. Studien im agentialen Realismus betrachten Handlungskapazität als gesamtheitlich zwischen Mensch und Materie verrichtet; eine Verortung der eigenen Position im kritischen Realismus lässt es zu, menschliche und nicht-menschliche Handlungskapazität zu betrachten und innerhalb des Untersuchungsprozesses zwischen den beiden Polen Mensch und Nicht-Mensch hin und her zu wechseln. Während für die Untersuchung von menschlichen Akteuren auf eine Vielzahl anerkannter und erprobter Methoden aus der empirischen Sozialforschung und Ethnographie zurückgegriffen werden kann (z. B. Interviews und Befragungen), bedarf die Beobachtung von Objekten genauerer Überlegungen. Da ein Artefakt, wie z. B. eine Software, in der Regel nicht reflektiert (etwa über ihr eigenes Handeln) auf wissenschaftliche Forschungsfragen antworten kann, können hier „multiple Beweisquellen“ (Yin 2013, S. 42) zu Rate gezogen werden. Materielle Handlungskapazität kann am ehesten durch Zuschreibungen seitens 28
Genaue Ausführungen zu den unterschiedlichen theoretischen Grundannahmen finden sich in Abschnitt 2.2.
3.2 Methodik
53
der Feldakteure, beispielsweise in Interviews oder Beobachtungen im Feld untersucht werden. 29 Dabei handelt es sich jedoch bei Technik oftmals um „sanfte und oft nicht sichtbare“ (Czarniawska 2004, S. 775) Artefakte. Gerade bei unsichtbarer Software können menschliche Akteure in Interviews deshalb schwer deren Handeln reflektieren. In Anlehnung an die Routinenforschung scheint deshalb die Heraufbeschwörung von „narrativen Netzwerken“ (Pentland und Feldman 2007) zwischen Aktanten geeignet, indem die Befragten Assoziationen zwischen ihnen und den technischen Aktanten hervorrufen. Hauptaugenmerk kann sowohl in Interviews als auch in Beobachtungen auf den performativen Moment der Objekte, also die handlungsrelevanten Ergebnisse durch die Techniknutzung gelegt werden (Gherardi 2012). Insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie die Techniknutzung durch bestimmte Bilder und Artefakte gelenkt wird, ist visuelles Material (z. B. Fotografien) wertvoll für die tiefgreifende Analyse (Boxenbaum et al. 2014). Die vorliegende Arbeit nutzt multiple Datenquellen und untersucht menschliche und materielle Handlungskapazität in softwaregestützten Praktiken. Die methodische Vorgehensweise in Fallstudien, die Datensammlung sowie deren Auswertung werden im folgenden Abschnitt genau dargelegt. 3.2
Methodik
Die Methodik der vorliegenden Studie richtet sich nach der Fragestellung, die nicht nur auf menschliche, sondern auch auf materielle Akteure blickt: ein qualitatives Forschungsdesign, das sich auf unterschiedliche tiefgehende qualitative Daten stützt, anhand derer (im Vergleich zu quantitativen Studien) genau untersucht werden kann, wie sich Arbeitspraktiken verändern. Für die Untersuchung wurde deshalb ein qualitatives Fallstudiendesign gewählt. Fallstudienforschung wird auch dem Anspruch gerecht, neue Phänomene und bisher wenig erforschte Thematiken zu analysieren (Eisenhardt 1989). Somit ist das qualitativ-explorative Vorgehen für die Analyse von avancierter Technik im Zusammenspiel mit Menschen auch deshalb geeignet, da es bisher nach wie vor wenig empirische Studien zu soziomateriellen Praktiken gibt. Außerdem eignen sich Fallstudien aufgrund der reichhaltigen empirischen Einblicke insbesondere bei der Beantwortung von Wie?- oder Warum?-Fragen (Yin 2013). Dabei wurden die für qualitative Forschung üblichen Methoden der Durchführung von semi-strukturierten Interviews sowie Beobachtung angewandt (Azad und Faraj 2015; Beane und Orlikowski 2015; Mazmanian et al. 2014). In diesem Abschnitt wird das Forschungsdesign für die Studie im Detail darge-
29
Vgl. auch die Erläuterungen zur Feststellung materieller Handlungskapazität nach Rammert in Abschnitt 2.3.1.2.
54 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext stellt. Es wird skizziert, welche Anforderungen an qualitative Fallstudien berücksichtigt wurden, welche Daten wie gesammelt wurden und wie der gewonnene Datensatz ausgewertet und dabei die existierenden Theorien der Verflechtung erweitert wurden. Schließlich werden die angewandten Qualitätskriterien für eine stringente qualitative Methodik reflektiert. 3.2.1
Qualitative Fallstudien und Kontrastierung
Mit dem Design von Fallstudien geht die Notwendigkeit einer Entscheidung über die Anzahl und der Auswahl von Fällen sowie der Definition der Analyseeinheit(en) einher. Für explorative Fallstudien eignen sich Einzel- oder Mehrfachfallstudien (Yin 2013). Multiple Fallstudien sind dabei aufgrund der möglichen Analysevorteile wie Replikation, Vergleich oder Kontrastierung weniger angreifbar, da analytische Schlussfolgerungen unabhängig voneinander in zwei oder mehreren Fällen auftreten (Yin 2013). Die Auswahl der Fälle, d. h. die Sampling-Strategie, bei qualitativen Fallstudien bezieht sich im Vergleich zur Sampling-Logik bei quantitativen Studien weniger auf die Anzahl der Fälle denn auf ihre theoretische Tiefe (Yin 3013). So können bereits zwei Fallstudien im Kontrast ergiebiger sein als Einzelfallstudien. Silverman (2013, S. 151) nennt drei Hintergründe für theoretisches Sampling: „ 1. die Auswahl von Fällen in Bezug auf die Theorie, 2. die Auswahl ‚abweichender ދFälle und 3. die Veränderung der Größe des Samples während des Forschungsprozesses.“ Neben der Auswahl der Fälle ist auch die Auswahl von geeigneten Analyseeinheiten relevant für das Design guter Fallstudien. Die Analyseeinheit wird in der Regel durch die Forschungsfrage bestimmt und kann sehr konkret (z. B. Analyse von Individuen) oder eher abstrakt (z. B. wie im vorliegenden Fall softwaregestützte Praktiken) sein (Yin 2013). Qualitative Fallstudienforschung gewinnt schließlich hinsichtlich Theoriebildung und theoretischem Beitrag oft insbesondere deshalb an Qualität, weil das Design im Voraus nicht endgültig ist und der Forschungsprozess, die Fallauswahl und die Art der gesammelten Daten im Zeitverlauf während des Forschungsprozesses flexibel handhabbar sind. Eisenhardt (1989, S. 539) schreibt in diesem Zusammenhang:
3.2 Methodik
55
„[Ü]berschneidende Datenanalyse und -erhebung geben dem Forscher nicht nur einen Vorsprung in der Analyse, sondern, was noch wichtiger ist, es ermöglicht es den Forschern vor allem, einen Nutzen aus flexibler Datenerhebung zu ziehen. In der Tat ist die Freiheit, während des Datenerhebungsprozesses Anpassungen vorzunehmen, ein Schlüsselelement der theoriebildenden Fallstudienforschung.“
Wie sich der Forschungsprozess sowie die Fallauswahl in der vorliegenden Arbeit gestaltet haben, wird in den nächsten Abschnitten ausführlich erläutert. 3.2.1.1 Forschungsprozess Die Datenerhebung erfolgte im Jahr 2016 in mehreren Phasen. Das anfängliche Forschungsziel bestand darin, die Nutzung neuer, avancierter Technik in Form von Business Intelligence Software oder Analysesoftware (Analytics) zu untersuchen, die auf Basis lernender Algorithmen arbeiteten. Bei den Recherchen über damals neue und hochmoderne Softwarelösungen fiel das Augenmerk auf SAP Success Factors (SF), da diese Lösung zum einen technisch sehr weit fortgeschritten war und zum anderen als von SAP neu gekaufte Lösung weltweit in vielen Unternehmen eingeführt und angewandt wurde. SF besteht aus insgesamt neun Software-Paketen, die das Management von Personal im gesamten Mitarbeiterzyklus abdecken können: Recruiting, Performance and Goals, Learning, Talent Discovery, und Workforce Analytics. Vor allem das letztere Workforce Analytics-Paket war eines der ersten Softwareangebote für People Analytics, also Analysesoftware für das Personalmanagement, in dem auch lernende Algorithmen zum Einsatz kommen. Über eine Kundenveranstaltung eines IT-Beratungsunternehmens, das selbst SAP-Lösungen weltweit implementiert, entstand der Kontakt zu einem großen Telekommunikationsunternehmen mit Sitz in Europa. Das Unternehmen war ein ehemaliger Kunde, bei dem die Beratung eine eigene Wissensmanagementsoftware, die mit SF verknüpft wurde, eingeführt hatte. Der Zugang zum Fallunternehmen erfolgte über eine IT-Beratung, die eigene Software herstellt und SAP-Lösungen weltweit implementiert. Die Beratung vermittelte den Kontakt zu einem ihrer kürzlichen Kunden in Europa. Zu Beginn der Studie lag das Forschungsinteresse auf der teilweise noch andauernden Einführung und Nutzung von SF sowie des Wissensmanagementsystems, das das Beratungsunternehmen selbst herstellt und einführt. Zu diesem Zeitpunkt halfen diese Gespräche und auch die Teilnahme an Webinaren des Beratungsunternehmens und von SAP, um die Funktionsweise von SF zu verstehen. Das Fallstudienunternehmen war in der Telekommunikationsindustrie tätig und beschäftigte zum Zeitpunkt der Untersuchung am europäischen Hauptsitz rund 1.500 Mitarbeitende. Im Jahr 2005 wurde das Unternehmen von einem amerikanischen Konzern übernommen und ist seitdem Teil mehrerer konzernweiter
56 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext Software-Standardisierungsprozesse, die unter anderem mit der Implementierung neuer Software wie SF verbunden waren. Im Verlauf der ersten und zweiten Datenerhebungsphase wurde deutlich, dass die Einführung der Workforce Analytics nicht stattfinden würde, so dass sich die erste Untersuchungsphase auf die Einführung und Nutzung von vier Software-Paketen, die auf traditionellen Algorithmen basierten, bezog: SF Recruiting (Personalrekrutierung), SF Talent Discovery (Talentmanagementsoftware), SF Performance and Goals (Mitarbeiterbeurteilungssoftware) und SF Learning (E-Learning zur Mitarbeiterentwicklung). Nachdem das zentrale Forschungsinteresse der Untersuchung soziomaterieller Praktiken im Umgang mit lernenden Algorithmen galt, wurde im Unternehmen nach dem Zeithorizont des Einsatzes intelligenter Systeme im Personalmanagement oder anderen Bereichen gefragt. Auf diese Frage hin wurde auf die zu diesem Zeitpunkt stattfindende Pilotierung einer Marketing-Analytics-Software für die Verkaufsunterstützung im Callcenter hingewiesen. Das Unternehmen gewährte auf Anfrage hin einen einzigartigen Zugang zu diesem Projekt und die Möglichkeit, Daten über die Einführung und Nutzung von IBM Interact in seinem Callcenter zu erheben. Dies markierte den Start für die zweite Fallstudie. Abbildung 5 gibt einen Überblick über den zeitlichen Verlauf, über die Ziele und das Vorgehen bei der Datenerhebung sowie über die Vielfalt an unterschiedlichen Datentypen. 3.2.1.2 Fallauswahl Die vorliegende Arbeit gründet auf empirischen Daten zur Implementierung und Nutzung von zwei Softwarelösungen, die täglich verrichtete Arbeitspraktiken unterstützen und deren Funktionsweise sich hinsichtlich ihres Grads an intelligenten Algorithmen unterscheiden. Während die erste Software (SF) auf traditionellen Algorithmen basiert, verfügt die zweite (IBM Interact) über lernende Algorithmen (in Form von dynamischer Vorhersage). Die Daten über die Einführung und Nutzung der Software wurden im Rahmen einer qualitativen Studie in einem Telekommunikationsunternehmen in Europa erhoben. Ziel der Studie war es, (lernende) Algorithmen im Gebrauch zu analysieren. Die Datenerhebungsphase im ersten Fall (traditionelle Algorithmen) erfolgte im konstanten Abgleich mit der Literatur (Eisenhardt 1989) zur Verflechtung (Leonardi 2011; Orlikowski 2007; Suchman 2007) und der unterschiedlichen Wirkmächtigkeit verschieden avancierter Technik (Rammert 2016). Während des Abgleichs mit der Literatur stellte sich die theoretisch abgeleitete Frage, ob und gegebenenfalls wie Nutzer unterschiedlich mit verschiedenen Arten von Software hinsichtlich des Grads ihrer (wahrgenommenen) Intelligenz umgingen. Aus diesem Grund wurde noch während der ersten Datenerhebungsphase nach einem zweiten Fall gesucht, in dem fortgeschrittenere Software auf Basis lernender Algorithmen
57
3.2 Methodik
Januar/Februar 2016
Fall 1: März 2016
Vorbereitungsphase: • Formlose Telefongespräche mit Beratungsunternehmen • Teilnahme an Webinaren von Beratungsunternehmen und SF • Dokumentensammlung bei SAP über SF (auf Anfrage zur Verfügung gestellt) Ziel: Einführung in die Funktionsweisen, theoriegeleiteter Überblick über empirisches Phänomen, Identifikation des Falls und potentieller Fallstudienpartner
Auswahl der Fallstudie: SF • Erste formlose Telefongespräche mit dem Fallstudienpartner Ziel: Kennenlernen des Kontexts
April 2016
Mai 2016
Erste Datenerhebung: • Drei Telefoninterviews mit Nutzern im Bereich Learning Ziel: Kennenlernen der Funktionsweise und Nutzung der Software Zweite Datenerhebung: • Zwölf persönliche Interviews • Beobachtung: vor Ort Ziel: Analyse der Verflechtung mit Fokus auf performative Aspekte, Identifikation eines weiteren Falls Dritte Datenerhebung: • Telefoninterview mit HR Technology Manager Ziel: Verständnis der technischen Hintergründe, Einführungsgründe und Einführung aus „globaler“ Sicht
Auswahl der zweiten Fallstudie: IBM Interact Fall 2: (zwei überschneidende Interviewpartner) Mai 2016
Mai 2016
Juni 2016
Erste Datenerhebung: • Sechs persönliche Interviews • Beobachtung vor Ort Ziel: Kennenlernen des Kontexts, Analyse der Verflechtungsentstehung beim Trainieren der Software Zweite Datenerhebung: • Ein Telefoninterview mit dem Projektleiter der Einführung von IBM Interact Ziel: Verständnis der technischen Hintergründe und Einführungsgründe Dritte Datenerhebung: • Neun Interviews • Beobachtung vor Ort • Dokumentensammlung (interne Dokumente, Fotomaterial) Ziel: Analyse der Verflechtung beim Roll-Out
Abbildung 5: Prozess der Datenerhebung (Quelle: eigene Darstellung)
verwendet wurden. Dieses theoriegeleitete Suchen nach einer zweiten Fallstudie führte dann zur Auswahl der Marketing-Analytics-Software. Der Gebrauch der Analytics-Software wurde im Datenerhebungs- und Auswertungsprozess im Sinne eines theoretischen Samplings mit dem Gebrauch der auf traditionellen Algorithmen basierenden Software kontrastiert. Die beiden Softwarelösungen unterschieden sich hinsichtlich ihrer Funktionsweise und des Kontextes ihrer Anwendung (Abteilung, Nutzer). Im Interesse der Forschung stand deshalb die Untersuchung der unterschiedlichen Ausmaße und Auswirkungen der Mensch-Technik-Verflechtung bei zwei Softwarelösungen, die unterschiedlich funktionierten. Dieses Vorgehen, den Gebrauch zweier Softwarelösungen, die mit unterschiedlich fortgeschrittenen Algorithmen ausgestattet sind, zu kontrastieren, gleicht den Empfehlungen für vergleichende Fallstudienforschung (Eisenhardt 1989; Eisenhardt und Graebner 2007). Schultze und Brooks (2019, S. 707) haben in ihrer Analyse, wie menschliche Akteure virtuelle Agenten „wahrhaftig machen“ deren soziale Interaktionen mit zwei Arten von Technik untersucht, die sich im Grad der „sozialen Präsenz“ unterschieden.
58 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext Auf ähnliche Weise wird auch in der vorliegenden Analyse zwischen den Fällen kontrastierend vorgegangen. Das Auswahlkriterium der Fälle für diesen Kontrast war nicht das Ziel einer Replikation, indem beispielsweise die Anwendung gleichartiger Technik in gleichen oder unterschiedlichen Settings miteinander verglichen wird, sondern die Auswahl abweichender Fälle in Bezug auf die Theorie. Konkret folgte das theoretische Sampling der Frage, wie mit Software basierend auf lernenden Algorithmen anders umgegangen wird – im Kontrast zu traditioneller Software. Im Zentrum der Analyse stand also der Umgang mit Analytics-Software (Fall 2, im Kontext von Kundenverkaufsgesprächen im Callcenter), der Umgang mit traditioneller Software (Fall 1, im Kontext Personalmanagement) wurde kontrastiert. Die Analyseeinheiten waren jeweils softwaregestützte Praktiken (einzelner) Nutzer, die sich innerhalb der Fälle repliziert analysieren ließen. Kontrastierung eignet sich besonders, um Unterschiede zu erkennen und neue Theorie zu generieren (Eisenhardt 1989; Geels und Kemp 2007; Yin 2013). Eisenhardt und Graebner (2007, S. 27) beschreiben das Vorgehen folgendermaßen: „Eine besonders wichtige Auswahlstrategie beim theoretischen Sampling ist ‚SRODUH7\SHQތEHLGHUHLQ)RUVFKHUH[WUHPH)lOOH] B. in der Leistung sehr hoch und sehr schwach) auswählt, um kontrastierende Muster in den Daten einfacher zu beobachten. Obwohl ein solcher Ansatz die Gutachter überraschen kann, weil die daraus resultierende Theorie so konsequent durch die empirischen Beweise unterstützt wird, führt diese Auswahl zu einer sehr klaren Mustererkennung der zentralen Konstrukte, Beziehungen und Logik des zentralen Phänomens.“
Durch die Möglichkeit, neben der Nutzung der auf traditionellen Algorithmen basierenden Humankapitalmanagmentsoftware auch noch eine Analytics-Software in einem anderen Bereich zu analysieren, ergaben sich durch die fortläufige Kontrastierung verschiedene, sich ergänzende Aspekte bestimmter Thematiken und dadurch neue Erkenntnisse (Eisenhardt 1991). 30 Abbildung 6 veranschaulicht die Auswahl und die Verwendung der beiden Fälle in der vorliegenden Arbeit. 3.2.2
Datenquellen und Datensammlung
Die Ergebnisse der Arbeit gründen auf empirischen Daten, die als „vielfache Beweisquellen“ (Yin 2013, S. 42) bezeichnet werden können. Die Nutzung verschiedenartiger Datenquellen steigert bei Fallstudien die Wahrscheinlichkeit, 30
Eisenhardt (1991) weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass mehrere Fallstudien auch komplementäre Dimensionen eines Phänomens aufzeigen können.
59
3.2 Methodik
dass die generierte Theorie „akkurat, interessant und prüfbar ist“ (Eisenhardt und Graebner 2007, S. 26). In den nachfolgenden Abschnitten sollen die Datenquellen und die Vorgehensweise bei der Datensammlung genauer dargelegt werden. Kontext 1
Kontext 2
Theoretisches
Eingebettete Analyseeeinheit 1
Replikation
Sampling
Fall 2
Eingebettete Analyseeeinheit 1
Kontrastierung
Eingebettete Analyseeeinheit 2
Eingebettete Analyseeeinheit n
Replikation
Fall 1
Eingebettete Analyseeeinheit 2
Eingebettete Analyseeeinheit n
Abbildung 6: Auswahl und Verwendung der Fälle (Quelle: eigene Darstellung)
3.2.2.1 Semi-strukturierte Interviews Tiefgehende Interviews sind für die Analyse soziomaterieller Praktiken die wertvollste Datenquelle. Insgesamt wurden im Zeitraum von April bis Juni 2016 28 halbstrukturierte Interviews geführt, in denen 30 Personen befragt wurden. Auf Basis der in Kapitel 2 erarbeiteten theoretischen Grundlagen wurde ein Interviewleitfaden (vgl. Anhang 1) erstellt, an dem sich die gestellten Fragen in den semi-strukturierten Interviews orientierten. Um einen ersten Überblick zu erhalten und nicht von vornherein spezifische Vorannahmen in den Gesprächen zu haben, wurden die Fragen zu Beginn sehr offen gestellt, im Verlauf des Forschungsprozesses wurden diese dann konkretisiert (Corbin und Strauss 1990). Die Interviews dauerten zwischen 20 und 133 Minuten. Die Interviewpartner waren Angestellte aus der Personalabteilung oder im Bereich Learning Management sowie Führungskräfte, die SF als Personalmanagementsoftware nutzen auf der einen, und Mitarbeiter im Callcenter, Manager und das Projektteam um die Einführung von IBM Interact auf der anderen Seite. Zusätzlich wurden Gespräche mit dem HR Technology Manager sowie dem Leiter der Marketing Intelligence, die für das Design und die Einführung der Softwarelösungen zuständig waren, geführt.
60 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext Die Interviewpartner wurden über den eigenen persönlichen Hintergrund sowie über die Motivation und die hauptsächlichen Fragen des Forschungsvorhabens im Vorhinein per E-Mail oder zu Beginn des Gesprächs informiert. Während des Interviews wurden die Interviewpartner ermutigt, über ihre Nutzung der und über ihre Interaktion mit der Software zu erzählen. Im Spezifischen wurden Fragen adressiert, wie die Software beispielsweise die individuellen Ziele unterstützte und wie ihre eigenen Rollen, Praktiken und Entscheidungen sich veränderten und wie sie unterschiedliche Software nutzen. Da die Interaktion und Integration der Systeme erst nach einer längerfristigen Dauer beobachtet werden kann (Clark et al. 2007), wurden die Interviewpartner zum einen so ausgewählt, dass sie die Software bereits seit längerem nutzen oder sie wurden in den ersten Tagen der Nutzung befragt, damit beide Gruppen über ihre Erfahrungen berichten konnten. Nach den Interviews wurde jedes Gespräch reflektiert, indem Memos über die vorangegangene Interviewsituation geschrieben wurden (Eisenhardt 1989). 3.2.2.2 Beobachtung von Technologies-in-Use Im Allgemeinen sind qualitative Feldstudien gebräuchlich, um soziomaterielle Assemblagen zu untersuchen (Jarzabkowski und Kaplan 2015; Mazmanian et al. 2014) und um Technologies-in-Use „in einem natürlichen Umfeld” (Eisenhardt und Bourgeois 1988, S. 739) zu beobachten. Deshalb wurden zusätzlich zu dem Interviewmaterial Beobachtungsdaten von „Technologies-in-Use vor dem Hintergrund soziomaterieller Praktiken untersucht” (Gherardi 2012, S. 79). Während der Interviews oder direkt im Anschluss wurden die Interviewten gebeten, einen Einblick in ihren individuellen Umgang mit den unterschiedlichen Softwarelösungen zu geben. Im Callcenter wurde an sogenannten Life-Call-Listenings teilgenommen und dabei beobachtet, wie die Agenten während des Verkaufstelefonats mit der IBM Interact Software und anderen Tools interagierten. Life-Call-Listenings sind Bestandteil des Qualitätsmanagements im Kundenservice und werden im Callcenter täglich durchgeführt. Für gewöhnlich tragen Supervisoren oder Teamleiter Headsets, sitzen direkt neben dem Callcenter-Agenten, um das Verkaufsgespräch mit dem Kunden am Telefon in Echtzeit zu verfolgen und um hinterher ein Feedback zu geben. In der Feldstudie war die Forscherin selbst in dieser Rolle und beobachtete in Echtzeit, wie die einzelnen Agenten mit unterschiedlichen Tools und Softwarelösungen innerhalb ihrer täglichen Praktiken der Kundenberatungsgespräche interagierten. Während des Roll-Outs von IBM Interact nahm die Forscherin an Trainings zur Nutzung der Software in Schulungsräumen teil. Das sogenannte „Step-Up“ war ein planmäßiges Training, das jeder Verkaufsagent absolvieren musste. Während des ersten Step-Ups zu IBM Interact unterrichtete die Trainerin in einer persönlichen Übungsstunde die Funktionalitäten und Vorteile der Software.
3.2 Methodik
61
In diesem Teil des Trainings stellen die Agenten auch Fragen zu Software (z. B. Features) und zur Nutzung (z. B. Nutzungspflicht). 3.2.2.3 Informelle Gespräche Ein kleinerer Teil der Untersuchung stützt sich auf informelle Gespräche, die während der Feldforschung und Beobachtung mit Akteuren (Callcenter-Agenten, Managern) geführt wurden (Gephart 2004). Diese Gespräche hatten einen eher spontanen Charakter und sie wurden deshalb nicht aufgezeichnet. Stattdessen wurde deren Inhalt in Feldnotizen und Memos festgehalten (Eisenhardt 1989; Yin 2013). Diese informellen Gespräche halfen insbesondere, um eigene Beobachtungen und subjektive Eindrücke noch einmal zu reflektieren und zu bestätigen. Daneben gaben sie Aufschluss über sensibleres Kontextwissen über firmeninterne Prozesse und die damit zusammenhängende Nutzung der neuen Technik. 3.2.2.4 Visuelle Daten Des Weiteren wurden visuelle Daten (Anschauungsmaterial) im Callcenter gesammelt, die für ein Verständnis der Rolle von Materialität und Temporalität sowie für rekursive Praktiken für notwendig erachtetet wurden. Im Forschungsdesign wurde bei der Verwendung von visuellen Daten ein Ansatz verfolgt, den Meyer et al. (2013, S. 502) als „Praxisansatz“ bezeichnen und der es erlaubt, nicht nur die soziale Bedeutung von Anschauungsmaterial zu beschreiben, sondern auch dessen Entwicklung über den Zeitverlauf hinweg. Im Praxisansatz sind Bilder deshalb relevant, weil sie „gesellschaftlich bedeutsam[e] materielle Objekte [sind], die in organisationalen Kontexten kreiert, eingesetzt und verändert werden, was sie zu einem wesentlichen Bestandteil sozialer Praktiken macht“ (Meyer et al. 2013, S. 505).
Anstatt jedoch lediglich Fotografien zur Dokumentation zu machen, wurden Fotografien der Arbeitsbereiche oder Artefakte eher produziert, in der Form, wie sie nach der Reflexion der Interviews als von den interviewten Feldakteuren als wichtig erachtet wurden. Dabei wurden auch die „veränderten Phasen des analytischen Verständnisses“ (Banks 2007, S. 75) berücksichtigt, die sich im Verlauf der drei Interviewrunden manifestierten. Bevor die Fotografien am Arbeitsplatz aufgenommen wurden, wurden die Feldakteure um Erlaubnis gebeten und die Anonymitätswahrung wurde versichert, etwa indem keine Frontalfotografien von den Personen aufgenommen wurden oder eine Veröffentlichung nur unter Anonymisierung (z. B. Verpixelung) von Personen vereinbart wurde. Um die visuellen Daten zu unterstützen, wurde die visuelle Umgebung auch in den Feldnotizen beschrieben (Banks
62 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext 2007). Um die Anonymisierung des Fallunternehmens und der Feldakteure zu wahren, werden die Fotografien in diesem Buch verpixelt oder skizzenartig dargestellt. Zusätzlich werden die Fotografien und Feldnotizen in der Darstellung der Ergebnisse (Kapitel 4) detailliert beschrieben. Tabelle 3 verleiht einen Überblick über die verschiedenen Datenquellen. Tabelle 3: Übersicht über die Datenquellen Datenquelle
Datentyp
Anzahl
Interviews
Halbstrukturierte Interviews mit Nutzern von Technik
Beobachtung
Feldnotizen von Life-Call-Listenings, Trainings, Ortsbegehungen und informellen Gesprächen Fotos von Ortsbegehungen (Arbeitsräume, Trainings, GUI, etc.) Intranet-Einträge, E-Mails, öffentliche Dokumente, Image-Videos von Software-Anbietern etc.
28 Interviews, 30 Interviewpartner (20-133 Minuten) ࡱ 40 Stunden
Fotomaterial Dokumente
3.2.3
32 Stück >200
Datenauswertung und Theoriebildung
Der Forschungsprozess, der dieser Arbeit zugrunde liegt, kann als inkrementelles Vorgehen beschrieben werden, innerhalb dessen sowohl die Forschungsfragen als auch deren Beantwortung induktiv und iterativ erschlossen wurden (Beane und Orlikowski 2015; Strauss und Corbin 1991). Es wurde dabei ein Theorie generierender Ansatz verfolgt, der in der Fallstudienforschung gebräuchlich ist und innerhalb dessen durch eine zeitlich überlappende Datenerhebung und -auswertung neue theoretische Erkenntnisse bzw. ein Beitrag zur existierenden Theorie generiert werden kann (Eisenhardt 1989). Creswell (2014) erarbeitete eine Übersicht über die Vorgehensweise bei der Analyse qualitativer Daten, die die Datenauswertung und Theoriebildung in der vorliegenden Arbeit leitete. Abbildung 7 stellt diese Vorgehensweise in Anlehnung an Creswell (2014) überblicksartig dar. Der Datenauswertungsprozess teilte sich in mehrere Schritte ein, die sich in Anlehnung an Creswell (2014) erörtern lassen. (a) Vorbereitung der Rohdaten: Die Rohdaten, wie etwa die Audiodaten, die Textdokumente und visuellen Daten, wurden nach der Erhebung (wo möglich) transkribiert und in die Analysesoftware NVivo eingepflegt. Daraufhin wurden die Daten gesichtet, gelesen und organisiert (z. B. Zuordnung der Transkripte zu Fällen) (Bazeley und Jackson 2013).
63
3.2 Methodik
(b) Beginn des Kodierzyklus: Im Anschluss daran begann der Kodierungsprozess, der sich weniger als linear denn als inkrementell und interaktiv (Creswell 2014) bezeichnen lässt. Zu Beginn lautete die Forschungsfrage, die die Auswertung leitete, wie neue digitale Technik Entscheidungen beeinflusst. Im Verlauf der Vorbereitung der Rohdaten (Textdokumente, Fotos, Transkripte, etc.) und erstes Lesen
Kodie rzyklus
Genauigkeit der Informationen validieren
Empirische Beschreibungen
T heoretische Themen
Verknüpfung von theoretischen Themen und empirischen Beschreibungen
Interpretation der Bedeutung von theoretischen Themen und empirischen Beschreibungen (aggregierte Dimension)
Abbildung 7: Vorgehensweise bei der Datenauswertung (Quelle: verändert übernommen aus Creswell 2014, S. 197)
ersten Analyse und im stückweisen Abgleich mit den theoretischen Publikationen zum Thema der Verflechtung, verfeinerte sich allmählich das Forschungsverständnis darüber, dass Technik und Mensch nicht getrennt voneinander untersucht werden können. Es wurde klar, dass diese Fragestellung, die eine (losgelöste) Technik als Einflussfaktor auf menschliches Verhalten implizierte, sehr technikdeterministisch formuliert war und somit ein vertieftes Verständnis soziomaterieller Praktiken eher verhindert, als dass sie es fördern könnte. Entsprechend wurde die
64 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext Forschungsfrage angepasst, indem untersucht wurde, wie menschliche und materielle Handlungskapazität in Arbeits- und Entscheidungspraktiken in Bezug zueinander standen. (c) Verknüpfung von theoretischen Themen und empirischen Beschreibungen: Es wurde im Verlauf des Forschungsprozesses mit den empirischen Daten „theoretisch sensibilisiert“(Glaser 1978) 31 gearbeitet, indem aus dem empirischen Material wissenschaftliche Daten, Konzepte und letztlich Theorie erarbeitet wurde (Strübing 2011). Ziel der Untersuchung war, die relativen Handlungskapazitäten bei der Einführung neuer Tools und digitaler Technik zu untersuchen. Ähnlich wie Suchman (2007) wurde während der Arbeit mit den Daten und der Literatur ein simpler analytischer Rahmen ausgearbeitet, der die Datenauswertung leitete. Dieser analytische Rahmen ergab sich während der Auswertung der Daten (Kodierung), indem die Analyse ständig zwischen theoretischen Themen und empirischen Beschreibungen der Daten wanderte. Zunächst bestand der Rahmen aus menschlicher Handlungskapazität auf der einen Seite und materieller Handlungskapazität auf der anderen Seite. Dabei wurden die Daten zunächst in einem Denken vom Ende her durchsucht, das nach den manifesten Auswirkungen in der Realität fragt. Dieses Vorgehen geschah, indem die materiellen und interpretativen Leistungen sowie die Bewegung der materiellen und menschlichen Handlungskapazitäten betrachtet wurden. Durch den ständigen symmetrischen Perspektivenwechsel zwischen den Protagonisten Mensch vs. Materialität konnten die Asymmetrien der Handlungskapazitäten zwischen Mensch und Materialität entdeckt werden. Letztlich deuteten immer mehr empirische Daten darauf hin, wie sich die Beziehungen und Grenzen zwischen Mensch und Technik innerhalb diskursiver Praktiken verfestigten. Nach dem erneuten Abgleich mit der Literatur wurde diese Frage nach Grenzen und Beziehungen als neue Dimension in den Analyserahmen mit aufgenommen. (d) Interpretation der Bedeutung von theoretischen Themen und empirischen Beobachtungen: Um der allgemeinen Kritik an Studien zu Soziomaterialität, der sich auf die asymmetrische Analyse bezieht, d. h. entweder die Fokussierung auf menschliche oder materielle Handlungskapazität, zu überwinden, wurde ein analytischer Ansatz verfolgt, der ein symmetrisches Denken fördert. Es wurden Praktiken untersucht, innerhalb derer sich menschliche und nicht-menschliche 31
Strübing (2011) verweist im Kontext mit dem von Glaser und Strauss geprägten Begriff der Theoretical Sensitivity über die unterschiedlichen Auffassungen darüber, ob Theorie entweder nur aus empirischem Material selbst oder auch aus dem Nachdenken über dieses Material entlang im Voraus bekannter theoretischer Begriffe entsteht. Auch Eisenhardt (1989, S. 536) beschreibt, dass „a priori-Spezifizierungen von Konstrukten“ gerade zu Beginn eines Forschungsprozesses bei Theoriebildung hilfreich sein können.
65
3.2 Methodik
Handlungskapazität trafen, Grenzen und Beziehungen zwischen ihnen hervortraten, eine Hybridisierung von Handlungskapazität zwischen den Entitäten stattfand und sich dadurch performative Ergebnisse in Form veränderter Praktiken manifestierten. Abbildung 8 veranschaulicht den analytischen Rahmen für die Arbeit mit den Daten. Handlungshybridisierung
Menschliche Handlungskapazität (Nutzer, Manager)
Festlegung von Beziehungen und Grenzen
Materielle Handlungskapazität (Tools und Algorithmen)
Veränderte Praktiken
Abbildung 8: Analytischer Rahmen zur Datenauswertung (Quelle: eigene Darstellung)
(e) Kodierung: Auf der Grundlage des analytischen Rahmens wurden die Daten analysiert und es wurde ein Kodierschema entwickelt. Dabei wurde der Datensatz in drei Schritten kodiert. Dazu gehörten offene, axiale und selektive Kodierung (Corbin und Strauss 1990, S. 12 ff.):
32
Innerhalb der offenen Kodierung wurden die Daten zunächst „bottom-up“ (Eisenhardt 1989, S. 547) analysiert, d. h. es wurden mehrfach auftretende Schlüsselbegriffe oder Themen, die sich als solche zusammenfassen ließen, als empirische Themen (Kodes) erfasst (van Maanen 1979). Diese empirischen Themen waren beispielsweise Blackboxing, Narrative über Ersetztwerden oder Unterstützung, Merchandising und technikzentrierte Sozialität. Anschließend wurden diese Kodes in der sogenannten axialen Kodierphase in Konzepte zweiter Ordnung zusammengefasst, z. B. Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen. Zuletzt wurden diese Konzepte selektiv kodiert. Ähnlich dem sogenannten „Kodierungsparadigma“ (Corbin und Strauss 1990, S. 13) 32 wurden die Daten nach dem eigenen analytischen Rahmen gesichtet. Die Unterkategorien wurden Kategorien zugeordnet, die sich mit Beziehungen und Grenzen der Handlungskapazitäten, der Handlungshybridisierung, und veränderten Praktiken befassen. Diese dritte Stufe der selektiven Kodierung der Daten Corbin und Strauss (1990, S. 13) entwickelten das „Kodierungsparadigma“ als eine Art Analysegerüst für die induktive Arbeit mit qualitativen Daten. Dieses Analysegerüst beinhaltet die Kategorien: Bedingungen, Kontext, Strategien, Konsequenzen. In der vorliegenden Arbeit wurde der eigene Analyserahmen (vgl. Abbildung 8) verwendet.
66 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext orientierte sich dabei an den Forschungszielen. So wurden in diesem letzten Kodierungsschritt die Konzepte anhand der Forschungsziele (soziale Dynamiken, Mechanismen der Handlungshybridisierung, veränderte Praktiken) zu aggregierten Dimensionen zusammengefasst. Anhang 3 stellt das gesamte Kodierschema der Daten in den drei Schritten tabellarisch dar. Nach der manuellen Auswertung wurden die Analyseergebnisse noch mit den Ergebnissen einer automatisierten Datenauswertung durch NVivo abgeglichen (Bazeley und Jackson 2013). Die automatisierte Kodierung kann als eine Form quantitativer Ergänzung in der Arbeit mit den Daten gesehen werden, durch die sich in dem Forschungsprozess noch einmal spezifische Eindrücke schärften. So zeigte die automatisierte Auswertung in der getrennten Kodierung beispielsweise noch einmal deutlich die Trennung von „Tiger“ und „Tools“ im Callcenter und im HR-Bereich, was die Theoriebildung über spezifische Interaktion mit lernenden Algorithmen im Vergleich zu traditionellen Algorithmen unterstützte. Weiter schärfte die automatisierte Auswertung die Eindrücke der Dynamik bei der Nutzung von IBM Interact im Callcenter (Häufigkeit des Codes „Zeit“) im Vergleich zu längerfristigen Zeithorizonten bei der Nutzung von SF im Personalmanagement (Häufigkeit des Codes „Prozess“). (f) Validierung: Der Prozess der Datenauswertung wurde konstant begleitet durch die Validierung der Informationen. Welche weiteren Maßnahmen zur Sicherstellung der qualitativen Güte der angewendeten Methoden im Rahmen der Arbeit berücksichtigt wurden, wird im nächsten Abschnitt erörtert. 3.2.4
Angewandte Qualitätskriterien
Qualitative Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer Flexibilität und Kreativität im Forschungsprozess neue Konzepte und Ideen generieren kann (Gioia et al. 2013). Trotzdem muss der qualitative Forschungsprozess – gerade bei einer Kombination von induktiver und deduktiver Theoriebildung, wie sie auch in dieser Arbeit maßgeblich war – von Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zur Sicherstellung „qualitativer Rigorosität“ (Qualitative Rigor) begleitet werden (Gioia et al. 2013, S. 15). Diese qualitative Stringenz zieht nach sich, dass die Interpretation der Daten und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen „plausibel“ und „verteidigungsfähig“ sind (Gioia et al. 2013, S. 15). Deshalb stellte die Sicherstellung von methodischer Strenge, Richtigkeit und Glaubwürdigkeit der Ergebnisse einen wichtigen Baustein bei der Durchführung der vorliegenden qualitativen Studie dar. Die beiden zentralen Gütekriterien zur Erreichung methodischer Strenge in der Fallstudienforschung, die in der vorliegenden Arbeit verfolgt wurden, sind Validität und Reliabilität (Yin 2013). Validität bedeutet, dass die Daten und die
3.2 Methodik
67
abgeleiteten Theorien glaubwürdig sind, dass sie die empirischen Phänomene bei der Sammlung und Interpretationen der Daten richtig erfassen und dass die Schlussfolgerungen korrekt sind. Das Gütekriterium Validität wurde innerhalb des Forschungsprozesses sichergestellt und bezog sich auf Konstruktvalidität, interne Validität und externe Validität. Konstruktvalidität beschreibt die Sicherstellung, dass die Maßnahmen, mit denen geforscht wurde, die richtigen waren, um das Analyseobjekt richtig zu erfassen. Diesbezüglich wurde in der vorliegenden Arbeit insbesondere bei der Datenerhebung darauf geachtet, dass mehrere Beweisquellen in Form von unterschiedlichen Datentypen ein umfassendes Bild über menschliche und materielle Handlungskapazität widergaben. So wurden die Anforderungen an die Analyse soziomaterieller Praktiken 33 berücksichtigt, indem Interview-, Beobachtungs-, Dokumenten- und visuelle Daten für die Erarbeitung einer Beweiskette genutzt wurden. Interne Validität ist im Speziellen für erklärende Fallstudien relevant. Da in der vorliegenden Arbeit nach Mechanismen für die Handlungshybridisierung gefragt wurde, war auch dieses Kriterium bei der Analyse berücksichtigt, indem eine Kontrastierung zwischen den Fällen stattfand um sogenannte „cross-case-patterns“ (Eisenhardt 1989, S. 540) zu finden. Durch den Kontrast konnten Muster gefunden (z. B. für die unterschiedliche Sozialität gegenüber verschiedenen Arten von Software) und unterschiedliche Erklärungen in der Analyse problematisiert werden (z. B. was führte zu dieser unterschiedlichen Sozialität?). Durch die Kontrastierung zweier Fälle und durch fallinterne Replikation konnte letztlich auch die externe Validität sichergestellt werden. Eisenhardt und Graebner (2007, S. 27) weisen darauf hin, dass aus Mehrfachfallstudien in der Regel eine „robustere, generalisierbarere und eher testbare Theorie“ abgeleitet werden kann. Das zweite zentrale Gütekriterium qualitativer Forschung ist Reliabilität. Reliabilität beschreibt das Aufzeigen, dass eine erneute Analyse der Daten zu denselben Ergebnissen führen würde (Yin 2013). Zum einen wurde hier gemäß Yin (2013) und Lincoln und Guba (2007) der Forschungsprozess dokumentiert, indem eine Fallstudien-Datenbank angelegt, die Daten (z. B. Rohdaten, Transkripte, Dokumente etc.) gespeichert und die Vorgehensweise bei den Fallstudien (z. B. über Beschreibungen, Listenführung zu Interviewpartnern etc.) protokolliert wurden. Für gewöhnlich werden diese Daten dem Leser jedoch aufgrund der Wahrung der Anonymität der Feldakteure nicht zugänglich gemacht (Silverman 2013). Um die Ergebnisse trotzdem für den Leser möglichst nachvollziehbar zu machen, wurde in der vorliegenden Arbeit, gemäß Gioia et
33
Vgl. auch Abschnitt 3.1.
68 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext al. (2013), auf eine ausführliche Beschreibung der Datenauswertung und Theoriebildung geachtet 34 und eine übersichtliche und logische Darstellung dieser induktiv-deduktiven Theoriebildung erarbeitet. 35 Tracy (2010) bringt zusätzlich zu den genannten unter anderem noch den Wert der Thematik, Richtigkeit bzw. Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit als Qualitätsmerkmale für qualitative Forschung auf. Die vorliegende Arbeit verfolgt ein Thema mit hohem Wert, da die Nutzung immer intelligenter Technik in der Arbeitswelt voran schreitet und kaum empirische Studien über deren theoretische und praktische Implikationen existieren, so dass sowohl praktische als auch theoretische Relevanz und die Aktualität des Themas gegeben sind. Richtigkeit und Ehrlichkeit wurden in der vorliegenden Arbeit zum einen durch verschiedene Datenquellen, aber auch durch Reflexion der subjektiven Eindrücke während des Forschungsprozesses (z. B. in informellen Gesprächen mit Feldakteuren) sowie durch einen transparenten Umgang mit Problemen und Herausforderungen im Forschungsprozess erreicht. 36 Auf Glaubwürdigkeit wurde insbesondere in der dichten Beschreibung der Ergebnisse hingearbeitet. Tabelle 4 fasst die Qualitätskriterien zusammen und zeigt die Maßnahmen, die in der vorliegenden Arbeit umgesetzt wurden, um die Qualität der Arbeit zu sichern. Schließlich weist Tracy (2010, S. 539) noch auf einen „bedeutenden Beitrag“ und Eisenhardt (1989, S. 548) auf „gute Theorie“ als Bewertungskriterium für qualitative Fallstudienforschung hin, die auf empirischen Daten begründet wird, denn: „Letztendlich ist das Kernziel eine starke Theorie – klarere Konstrukte, ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen ihnen, oder reichhaltigere Prozesse – über wichtige Phänomene, die auf empirischen Daten beruht“ (Eisenhardt et al. 2016, S.1114 f.).
Bevor das nachfolgende Kapitel 4 sich deshalb der eingehenden Beschreibung der empirischen Daten und der Ergebnisse widmet, soll im nächsten Abschnitt noch kurz in den Forschungskontext des Telekommunikationsunternehmens eingeführt werden.
34 35 36
Vgl. Abschnitt 3.2.3. Anhang 2 stellt eine tabellarische Übersicht über die Inhalte des 3-stufigen Kodierschemas zur Verfügung. Für eine ausführliche Beschreibung des Forschungsprozesses siehe Abschnitt 3.2.1.1.
69
3.2 Methodik
Tabelle 4: Übersicht über Qualitätskriterien qualitativer Forschung Qualitätskriterium
Gütekriterium
Maßnahmen im Rahmen der Arbeit
Methodische Strenge
Konstruktvalidität
Verwendung multipler Datenquellen Erarbeitung einer Beweiskette Pattern-Vergleich Erarbeitung von Erklärungen Problematisierung rivalisierender Logikmodelle Replikation
Interne Validität
Externe Validität Reliabilität
Fallstudien-Datenbank Nachvollziehbarkeit der Datenauswertung und Theoriebildung
Wert der Untersuchung des Themas
Relevanz Aktualität
Richtigkeit und Ehrlichkeit
Verwendung multipler Datenquellen Selbstreflexion der Forscherin Transparenz über Probleme und Herausforderungen Verwendung multipler Datenquellen Dichte Beschreibung
Glaubwürdigkeit
Betroffene Phase innerhalb des Forschungsprozesses Datensammlung
Datenanalyse
Forschungsdesign Datensammlung Datenauswertung Verfassen des Manuskripts Entwurf des Forschungsdesigns und der Forschungsfrage Datensammlung Datenauswertung Verfassen des Manuskripts
Datensammlung Datenauswertung Verfassen des Manuskripts
70 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext
3.3
Einführung in den Forschungskontext: Telekommunikationsunternehmen
Das Fallstudienunternehmen war in der Telekommunikationsindustrie tätig und beschäftigte im Jahr 2016 37 am europäischen Hauptsitz rund 1.500 Mitarbeitende. Der globale Markt der Telekommunikationsanbieter war hart umkämpft und auch das Fallstudienunternehmen hatte Mühe, seinen führenden Marktanteil zu halten. Im Jahr 2005 war das Unternehmen von einem amerikanischen Konzern übernommen worden. Seit der Übernahme war das europäische Unternehmen immer wieder in konzernweite Software-Standardisierungsprozesse eingebunden. Auch das Personalmanagement war von neuen konzernweiten, aber auch regionalen Softwareeinführungen betroffen. Unter diesen Neueinführungen war die HCM-Software SF, die die Personalarbeit in vielerlei Hinsicht prägte. 38 Neben Softwareimplementierungen im Personalmanagement wurden auch andere Bereiche in dem Telekommunikationsunternehmen hinsichtlich technischer Neuerungen weiterentwickelt. Ein Kerngeschäft am europäischen Hauptsitz ist der administrative Betrieb, insbesondere durch die Kundenbetreuung in Callcentern. Neben dem Callcenter in der Zentrale des Unternehmens waren auch viele Callcenter in andere, insbesondere osteuropäische und afrikanische Länder outgesourct. Während einer Fusionierungsphase mit einem europäischen Schwesterunternehmen im Jahr 2015 hatte das Unternehmen eine größere Umstrukturierung vorgenommen, bei der auch in den Callcentern Manager und Mitarbeiter, insbesondere Callcenter-Agenten entlassen wurden. Daneben waren Fehlzeiten und Fluktuation in den Callcentern typischerweise sehr hoch, da viele die Tätigkeit als Übergangsbeschäftigung (z. B. bei einem Berufswechsel) oder während einer Ausbildungszeit (z. B. Studium) nutzten. Die Arbeit im Callcenter war insgesamt sehr technisiert, so dass die einzelnen Callcenter-Agenten während ihrer Kundengespräche am Telefon mit einer Vielzahl an verschiedenen Tools und Softwareprogrammen hantierten. Um den Callcenter-Agenten den Verkauf von Produkten in Kundengesprächen zu erleichtern und das Verkaufsvolumen zu steigern, wurde IBM Interact als Marketing-Analytics Software eingeführt. Im Einklang mit dem Forschungsziel der vorliegenden Arbeit, den Umgang mit Analytics im Kontrast zu traditionellen Tools und Algorithmen zu untersuchen, wurden die Pilotierung, Einführung und Nutzung der HCM-Software, basierend auf traditionellen Algorithmen, und der Analytics-Software, basierend auf optimierenden Algorithmen, in den beiden Bereichen Personalmanagement 37 38
Hierbei handelte es sich um den Zeitpunkt der Datenerhebung. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass das Unternehmen über keine Form von betrieblicher Mitbestimmung verfügte. IT-Einführungen bedurften deshalb keiner Prüfung und Zustimmung durch den Betriebsrat.
3.3 Einführung in den Forschungskontext: Telekommunikationsunternehmen
71
und Kundenberatung bzw. Verkauf im Callcenter begleitet. In den nachstehenden Abschnitten werden die Ergebnisse, die ein Framework für hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation beschreiben, dargestellt. Das Augenmerk liegt dabei vorrangig auf der Implementierung und Nutzung von IBM Interact zur Unterstützung der Verkaufspraktik von Callcenter-Agenten. Die Daten zur Implementierung von SF auf Basis traditioneller Algorithmen werden genutzt, um zunächst ein grundlegendes Verständnis von Einführung und Nutzung digitaler Technik zu erlangen und die Erkenntnisse hin und wieder zu kontrastieren und zu beleuchten, wie die Theorie über die Besonderheiten von lernenden Algorithmen in Form von anthropomorphischer Handlungskapazität, Verhedderung und hybride Praktiken (z. B. neue Reflexionsfähigkeit) entstanden ist. 3.3.1
Tools und traditionelle Algorithmen im Personalmanagement
Im Rahmen der Akquisition durch einen internationalen Konzern fanden im Fallstudienunternehmen mehrere Softwarestandardisierungen und -einführungen statt. Einer dieser Einführungsprozesse betraf mehrere Softwarelösungen des Softwarepakets SF. SF ist eine weltweit breit angewendete, cloudbasierte HCM-Software, deren Lösungen den gesamten Humankapitalzyklus abbilden und die Funktionen des Personalmanagements von der Akquisition bis zur Freisetzung unterstützen (SAP Success Factors 2019). Im Fallstudienunternehmen wurde die Einführung und Nutzung von vier Lösungen der HCM-SoftwareSuite SF betrachtet, die unterschiedlich eingesetzt wurden: 1. SF Performance and Goals wurde zum Management von Zielvereinbarungen und Leistungsbeurteilungen eingeführt und obligatorisch von allen Beschäftigten im Unternehmen, d. h. Manager und Mitarbeiter, genutzt. 2. SF Recruiting wurde zum Bewerbermanagement im gesamten Rekrutierungsprozess von der Stellenausschreibung bis zur Einstellung eingesetzt und in erster Linie von Personalmanagern genutzt. 3. SF Succession and Development wird zum Finden und Fördern von Talenten („Talent Discovery“) und Aufbau eines Talentpools zur Nachfolge- und Relokationsplanung verwendet. Die Lösung wird von der Leiterin für Leadership und Development sowie den Chief Executive Officern (CEOs) als auch von deren direkten Executive Managern genutzt. 4. SF Learning wurde zum Management von Online- und Blended-Learning(Kurse, Tests, Zertifikaten) eingesetzt. Die Software wird von Mitarbeitern im Learning-Bereich administriert und in erster Linie von Trainern, Callcenter-Agenten sowie deren Supervisoren genutzt.
72 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext SF Performance and Goals (1) und SF Recruiting (2) wurden global im Konzern eingeführt und ersetzten im nationalen Unternehmen eine seit vielen Jahren etablierte und maßgeschneiderte HCM-Lösung, für die das Unternehmen auch den individuellen Namen „Huma“ nutzte. Alle Prozesse und Strukturen, wie sie in der Realität stattgefunden haben, wurden in der Software spezifisch maßgeschneidert abgebildet. Somit konnten auch strukturelle oder prozessuale Änderungen in der Personalarbeit durch den engen Austausch mit einem Programmierer abgebildet werden, indem die Software an diese Änderungen angepasst wurde. Huma wurde deshalb als ein Instrument zur Unterstützung der Arbeit, so wie sie ausgeführt wurde, gesehen (z. B. Interview 9). Das strukturierte Talentmanagement und entsprechend die Talentmanagementsoftware (3) wurden global und am Standort neu eingeführt. Die Lernmanagementsoftware (4) wurde nur auf nationaler Ebene eingeführt, und das Lernmanagement wurde bis dahin in Bezug auf Planung, Organisation und Dokumentation überwiegend über Excel gehandhabt. Tabelle 5 stellt eine Übersicht über die Reichweite von SF und die betroffenen softwaregestützten Praktiken dar. Tabelle 5: Übersicht über den Einsatz von SF Eingeführte Software Praktik
Reichweite der Einführung Vorherige Tools und Software
Nutzer
SAP Success Factors SF Performance and Goals Leistungsbeurteilung
SF Recruiting
Recruiting
SF Succession and Development Talententdeckung
SF Learning
Global
Global
Global
Lernen und Lernmanagement Regional
Individuell angepasste HCM software (SAP) „Huma” Alle Beschäftigen (Manager und Mitarbeiter)
Individuell angepasste HCM software (SAP) „Huma” Personalmanager, Linienmanager, externe Bewerber oder Arbeitsagenturen
Keine
Excel
Leiterin für Leadership und Development, CEOs, 56 Executive Manager
Mitarbeiter der Abteilung für Learning, Teamleiter im Callcenter und CallcenterAgenten
3.3 Einführung in den Forschungskontext: Telekommunikationsunternehmen
3.3.2
73
Analytics in Marketing und Vertrieb
Die zweite Analyseeinheit war IBM Interact, das im Fallstudienunternehmen „Tiger“ genannt wurde. IBM Interact ist „eine interaktive Maschine, die auf personalisierte Angebote für Besucher eingehender Marketingkanäle abzielt“ (IBM 2019). Die Software wurde in der betrachteten Pilotphase im sogenannten Inbound-Betrieb des Callcenters eingeführt. Das Inbound-Callcenter in dem Unternehmen gliedert sich in den General Sales Help Desk (GSHD) und den Technical Help Desk (THD). Im Gegensatz zu Outbound-Callcentern, in denen Callcenter-Agenten selbst Kunden anrufen, um neue Produkte zu verkaufen, rufen die Kunden in den Inbound-Bereichen typischerweise selbst an. Die Inbound-Kanäle sind entweder dem Zweck gerichtet, eingehende Bestellungen von Kunden anzunehmen oder Hilfe und Beratung bei administrativen (z. B. Rechnungen) oder technischen (z. B. Störungen mit der WLAN-Verbindung) Angelegenheiten zu bieten. Die vom Kunden früher typischerweise per Anruf beim Telekommunikationsanbieter getätigten Bestellungen gehen in der Anzahl deutlich zurück und geschehen vermehrt über Online-Kanäle. Damit ist der telefonische Kundenkontakt, den der Telekommunikationsanbieter für Verkäufe nutzen kann, zunehmend auf die Kundenberatungsbereiche übergegangen. Während Kunden also mit dem Ziel, einen administrativen oder technischen Service in Anspruch zu nehmen, anrufen, werden die Callcenter-Agenten in allen Inbound-Bereichen in erster Linie durch die Manager und Teamleiter angewiesen, in diesen Beratungstelefonaten Produkte zu verkaufen. Typischerweise verwenden die Callcenter-Agenten dann während der Interaktion mit dem Kunden spezifische Fragetechniken, um den potenziellen Bedarf an Produkten oder Upgrades bei bestehenden Verträgen, die verkauft werden könnten, zu ermitteln. Dieses Vorgehen wird als „manuelle Bedarfsanalyse“ bezeichnet, für die es auch Leitfäden gibt. Da die Mehrheit der im Callcenter tätigen Mitarbeiter keine ausgebildeten Verkäufer sind, werden sie von der Onboarding-Phase im Callcenter an und während der gesamten Arbeit im Verkauf geschult. IBM Interact setzt an diese Bedarfsanalyse und den Verkauf an, indem es die bisherige manuelle Bedarfsanalyse der Callcenter-Agenten automatisiert und dem Agenten für den individuellen Kunden spezifische Angebote vorschlägt. IBM Interact analysiert Kundendaten (Kaufhistorie, Produktnutzungsverhalten, Homepageklicks) aus verschiedenen Datenquellen, zum Teil in Echtzeit, und stellt dem Callcenter Agenten, der mit einem Kunden telefoniert, sogenannte „Next Best Offers“ (NBOs) 39, also für den Kunden individuell am besten geeignete Verkaufsoptionen, zur Auswahl. Da die entsprechenden Verkaufsangebote 39
In den Daten finden sich zwei unterschiedliche Bezeichnungen für die algorithmisch berechneten Angebotsvorschläge von IBM Interact, die den Callcenter-Agenten über
74 3 Empirische Analyse soziomaterieller Praktiken: Qualitatives Forschungsdesign und Kontext durch zunehmende Mengen an Kundendaten im Laufe der Zeit optimiert werden, wird IBM Interact nur für Bestandskunden eingesetzt. 2016 wurde IBM Interact auf der Homepage als kognitives System bezeichnet (Memo). 40 Die Softwarelösung verfügt über ein lernendes Modul, das unterschiedlich stark von Data Scientists gesteuert werden kann (IBM 2015). Im vorliegenden Fall umfasste es die Kombination aus dynamischen Algorithmen, die für Vorhersagemodelle optimiert wurden und manuelle Anpassungen durch die Data Scientists. Um eine Robustheit der Vorhersagemodelle für NBOs zu erreichen, wurde vor allem in der Pilotphase und zu Beginn der Einführung eine große Menge an verlässlichen Daten benötigt, die durch die Interaktion und Nutzung durch die Callcenter-Agenten erreicht werden musste. Diese Interaktion und die darauffolgende Optimierung der Algorithmen und Modelle wurden von IBM und im Unternehmen als „Lernen“ bezeichnet, in unternehmensinternen Präsentationsfolien zu Planung und Kommunikation findet sich auch kontinuierlich der Begriff „selbstlernend“ (z. B. Präsentation Tiger Steering, S. 9), wobei hier entschieden wurde, kein unbeaufsichtigtes Lernen zuzulassen. Tabelle 6 zeigt einen kurzen Überblick über den Einsatz der Analytics-Software. Tabelle 6: Übersicht über den Einsatz von IBM Interact Eingeführte Software
IBM Interact
Praktik Reichweite der Einführung Vorherige Tools und Software
Kundenberatungs- und Verkaufsgespräch
Nutzer
40
Regional Etwa 20 andere Softwarelösungen und Tools, Gesprächsleitfäden zur manuellen Bedarfsanalyse Mitarbeiter im Callcenter: Agenten, Supervisoren, Teamleiter
das GUI angezeigt wurden: „Next Best Offer“ (NBO) und „Next Best Action“ (NBA). Die Begriffe werden von den Feldakteuren synonym verwendet. Die unterschiedliche Bezeichnung der Software lässt sich auch mit der Schnelllebigkeit der Technik erklären. 2019 verwendet IBM den Begriff kognitiv nur noch in Verbindung mit IBM Watson. 2018 verkündet IBM auch erstmals auf der Homepage, dass IBM Interact, gemeinsam mit einer Reihe anderer Softwarepakete an ein anderes Technikunternehmen verkauft wird und keine weiteren Updates für IBM Interact mehr zur Verfügung gestellt werden.
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Wie entsteht hybride Handlungskapazität und wie wird sie dauerhaft angelegt, also verstetigt? Wie verändern sich Arbeitspraktiken in einer neu entstandenen hybriden Handlungskapazität? Welche Besonderheiten lassen sich bei zunehmend avancierter Technik, die auf lernenden Algorithmen basiert, finden? Das gegenständliche Kapitel gibt Antworten auf diese Fragen, indem es die Ergebnisse aus den empirischen Fallstudien anhand von drei Aspekten präsentiert: 1. Zunächst werden die sozialen Dynamiken (vgl. Abschnitt 4.1) beschrieben, aus denen hybrides Handeln entsteht. Es wird aufgezeigt, wie in visuell-materiell-diskursiven Praktiken zwischen menschlichen Akteuren und der Technik Beziehungen ausgehandelt, und wie dabei auch Grenzen zwischen den beiden gezogen werden. Die Aushandlung geschieht einerseits in der (faktischen) Konfiguration der Technik und andererseits in einer (bisweilen fiktiven) Vorstellungwelt über die Fähigkeiten von Tools und Algorithmen. Hierbei schärft die vorliegende Arbeit insbesondere das Verständnis über die Besonderheiten von lernenden Algorithmen am Arbeitsplatz, indem gezeigt wird, wie menschliche Akteure für Algorithmen eine Art anthropomorphische Handlungskapazität schaffen. 2. Im Anschluss werden anhand der Fallstudien drei Kernmechanismen der Handlungshybridisierung (vgl. Abschnitt 4.2) erläutert. Dabei wird herausgearbeitet, wie Integration, Neuausrichtung und Orchestrierung auf die längerfristige Verflechtung zwischen Mensch und Technik hinwirken. Im Wesentlichen wird dabei eine Verhedderung von Mensch und Technik deutlich, die eine schwer revidierbare Relation zwischen den beiden bezeichnet. 3. Als letztes wird entlang der Fallstudienergebnisse spezifiziert, wie sich im Mensch/Technik-Hybrid die ehemals etablierten Arbeitspraktiken verändern können (vgl. Abschnitt 4.3). Veränderte Praktiken manifestieren sich hier sowohl in veränderten Aktivitäten in Praktiken (Struktur) als auch in veränderter Organisation der Praktiken (Form).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3_4
76
4.1
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
In den Fallstudien ließ sich erkennen, wie soziale Dynamiken die Hybridisierung von Handeln aktivierten. Bei der Ankunft digitaler Technik stellten die involvierten menschlichen Akteure einen Bezug zur Technik her. Auf diese Weise wurden Beziehungen und Grenzen für die Ausübung ihrer jeweiligen Handlungskapazität ausgehandelt. Es ließen sich zwei große Bereiche identifizieren, in denen diese Aushandlung geschah:
Zum einen wurde materielle Handlungskapazität im technischen Sinne konfiguriert. Diese Konfiguration materieller Handlungskapazität beinhaltete die technische Darstellung sowie die Nutzungskontrolle der Technik in verschiedenen Maßnahmen. Zum anderen entwickelten die Akteure in materiell-visuell-diskursiven Praktiken bestimmte Vorstellungen über die Fähigkeiten der Technik. Bestimmend für die Herausbildung einer Vorstellungwelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen waren Blackboxing, Narrative über ein Ersetztwerden oder Unterstützung und Merchandising sowie unterschiedliche Formen von technikzentrierter Sozialität.
Abbildung 9 gibt einen Überblick über die Inhalte der sozialen Dynamiken. In den nachstehenden Abschnitten werden diese Inhalte anhand der empirischen Ergebnisse dargestellt und dabei aufgezeigt, wie sich die Aushandlung von Beziehungen und Grenzen in diesen beiden Bereichen gestaltete. T echnische Darstellung Konfiguration materieller Handlungskapazität Nutzungskontrolle
Soz iale Dynamiken Blackboxing He rausbildung e iner Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen
Narrative über Ersetztwerden oder Unterstützung und Merchandising T echnikzentrierte Sozialität
Abbildung 9: Soziale Dynamiken – Überblick
4.1 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
4.1.1
77
Konfiguration materieller Handlungskapazität
Bei der Einführung und anfänglichen Nutzung neuer Technik wurde erst einmal deren materielle Handlungskapazität in der Nutzung hervorgebracht und konfiguriert. Konkreter gesagt, musste algorithmische Handlungskapazität zunächst (technisch) festgeschrieben werden und sodann deren Nutzung kontrolliert werden. Diese Konfiguration soll im Folgenden genauer beschrieben werden. 4.1.1.1
Technische Darstellung
Damit materielle Handlungskapazität sich überhaupt erst entfalten konnte, musste sie in der technischen Darstellung festgeschrieben und eingestellt werden. Diese technische Darstellung algorithmischer Handlungskapazität unterschied sich zwischen SF und IBM Interact ganz offensichtlich im Grad der Mitwirkungsmöglichkeiten an der Ausgestaltung der Software durch die Projektmitglieder, aber auch durch die Nutzer selbst. Während SF als gebrauchsfertiges Produkt im Unternehmen ankam, lieferte IBM mit Interact eine Plattform, die die Leistungsfähigkeit der Software erst durch Interaktion und (Be-)Nutzung in Bewegung brachte. Wie sich die technische Darstellung materieller Handlungskapazität im Falle von traditionellen Algorithmen einerseits und lernenden Algorithmen andererseits konkret gestaltete und wie dabei menschliche Inbezugnahme der involvierten Akteure aussah, wird in diesem Abschnitt ausgeführt. SF Ein zentraler Aspekt bei der Einführung von SF im Unternehmen bestand darin, dass die Lösungen in weiten Teilen gebrauchsfertig im Unternehmen ankamen und ein Mitwirken in der technischen Darstellung seitens der Nutzer und des Einführungsteams nicht beziehungsweise nur in begrenztem Maße möglich war. SF bot in diesem Fall eine Komplettlösung an, die sehr standardisiert Personalprozesse abbildete. Anpassungen waren im Fallunternehmen zeitaufwendig und bedurften intensiver Abstimmungen mit dem Softwareanbieter. Im Fallstudienunternehmen kam hinzu, dass SF im Bereich Recruiting, Leistungsbeurteilung und Talentmanagement als konzernweite Standardsoftware eingeführt wurde und regionale Besonderheiten weniger berücksichtigt wurden (Interviewpartner 14, Interviewpartner 6). Durch die standardisierte Lösung aus der Cloud, gab es wenig Spielraum, sie auf eigene Prozesse oder Strukturen anzupassen. So beschrieb ein Personalcontroller die mühsame und langwierige Abstimmungsnotwendigkeit mit Programmierern und SF folgendermaßen: „[D]ie Prozesse sind teilweise gegeben, konnten nur wenig beeinflusst werden. Und wenn jetzt ein Änderungswunsch ist, dann geht es Monate bis Jahre, bis es umgesetzt ist. Beim alten Tool konnte man sagen, ging es Tage bis Monate für
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
die Umsetzung einer Änderung. Das ist natürlich auch ein Vorteil eines lokalen Tools.“ (Interviewpartner 14) 41
Diese eingeschränkte Adaptierbarkeit wurde, wie im vorangehenden Zitat bereits erkennbar, im Unternehmen umso deutlicher, da die Mitarbeiter immer einen Vergleich zur vorherigen Software „Huma“ zogen. Huma war maßgeschneidert auf die Bedürfnisse und Prozesse des Personalmanagements angepasst. Der Personalcontroller nannte weitere Vorteile von Huma in diesem Zusammenhang: „Die ganze Bedienerfreundlichkeit, die Amortisation, der ganze Approval-Prozess konnten wir so abbilden, wie wir es uns vorstellten und nicht, wie es sich jemand anders vorstellt. Mir ist schon klar, dass ein solches Tool, das global eingesetzt wird, immer auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gemacht wird. Wir waren hier einige Schritte voraus.“ (Interviewpartner 14)
Außerdem berichtete er in Beispielen, wie in Huma die eigene Arbeitsweise ganz genau abgebildet werden konnte, was auch auf positive Rückmeldungen zum Bewerbungstool seitens der Bewerber geführt hatte: „Wir haben gänzlich auf das verzichtet und im Prinzip den Bewerber darauf hingewiesen, dass wir die Datenhaltung ein halbes Jahr machen und anschließend löschen. Das Einzige, was wir dann gespeichert hatten, waren Name und Geburtsdatum zur Selektion, wenn er wiederkommt. Und das hatte den Vorteil, dass man im Prinzip eine Bewerbung, wenn man seine Dossiers hatte, innerhalb von fünf Minuten erledigt hat. Sei es vom Handy oder sei es auf dem PC. Und wir wurden verschiedentlich gerühmt, dass es wirklich eine schlanke, spontane, gute Plattform ist. Und das ist jetzt weg.“ (Interviewpartner 14)
Auch die Leiterin für Leadership und Development, die bei der Einführung der Recruiting-, Talentmanagement- und Leistungsbeurteilungslösung eng eingebunden war, beklagte den Wechsel von maßgeschneidert zu standardisiert und die Überzeugungsarbeit, die das Einführungsteam leisten musste, um die Mitarbeiter an die neue Software heranzuführen und ihre Akzeptanz zu sichern: „Und für uns war es halt auch eine komplette Umstellung. Wir haben ein eigengestricktes Tool, also wir haben über die letzten Jahre immer mit einem Tool gearbeitet, das wirklich speziell für unsere Bedürfnisse entwickelt war. Und jetzt mussten wir halt mit einem Tool dann klarkommen und unsere Mitarbeiter dahin führen, dass sie damit klarkommen, das einfach, ja, Standard ist in dem Sinn.“ (Interviewpartner 6)
41
In der Darstellung der empirischen Zitate aus den Interviewdaten wird die Kursivschrift zur Hervorhebung von Passagen genutzt, die für die Interpretation besonders bedeutend sind.
4.1 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
79
Im Gegensatz zu den konzernweiten Einführungen wurde die Lernmanagementsoftware nur am regionalen Standort eingeführt. Als erste Lernmanagementsoftware in dieser Abteilung war sie nicht mit vorangehenden Softwarelösungen vergleichbar. Nichtsdestotrotz zielte die technische Darstellung auf eine Standardisierung der Wissensvermittlung und -verbreitung ab, wie eine Administratorin von SF Learning erzählte: „Also dass schlussendlich jeder an jedem Standort jederzeit das E-Learning bzw. einfach die Wissensvermittlung in der gleichen Qualität erhält. Beispielsweise bei Classroom-Trainings ist es ja immer ein bisschen (. . .) komplexer. Also unsere Trainingsabteilung macht ja regelmäßige Conference Calls, um sich dann abzugleichen, um alle offenen Fragen zu klären. Aber wie es halt so ist, wenn man über mehrere Instanzen gehen muss, ist halt der Wissenstransfer nicht so stabil gewährleistet, dass auch jeder das Gleiche mitbekommt wie bei den ELearnings. Also wir haben eher weniger E-Learnings verwendet vorher“ (Interviewpartner 1)
Ein Teil der technischen Darstellung von SF beschränkte sich auf die Visualisierung der Benutzeroberfläche. Konkret wurde die Darstellung der Software auf unterschiedlichen technischen Endgeräten diskutiert. Im Fokus der Diskussion standen sowohl die bestmögliche Erreichung unterschiedlicher Kategorien von Nutzern als auch die Visualisierung und Benutzerfreundlichkeit. Da auch hier technische Anpassungen relativ schwer umzusetzen waren, fokussierte die Learning-Abteilung auf diesen Bereich. Eine tiefgreifende Anpassung in Form dynamischer Anzeigen von individuellen Lerninhalten war hier noch nicht denkbar. Die oben bereits zitierte Administratorin meinte in diesem Zusammenhang: „Also die Software wird angepasst und eben, was die Schwierigkeit ist halt im Unterschied von Tablets und Smartphones und PC: Ein PC hat immer die gleiche Auflösung und das gleiche Format. Das macht es relativ einfach. Wir können sagen: Dieses Element ist immer an der Stelle und ist immer gleich groß. Da muss man sich vorstellen: Wenn man jetzt einfach auf dem PC-Bildschirm im Prinzip eins zu eins das Gleiche, was man auf dem PC sieht, man auch mit dem Handy darstellen würde, würde man nichts mehr erkennen können. D. h. dort muss man mehr mit dynamischen Elementen arbeiten, die dann praktisch erkennen: Was für ein Endgerät benutzt der Lernende und ich muss das entsprechend auch anpassen können. Weil man muss ja z. B. auch das mobile Gerät drehen können und das muss sich dann auch anpassen. Und eben diese dynamische Anpassung, diese verschiedenen Varianten, die man dann erstellen müsste, damit das geht, können so noch nicht erstellt werden. Das ist einfach eine Variante und die ist halt fix so vom Aufbau her. Und die Elemente im E-Learning können sich nicht dynamisch den Bedürfnissen anpassen. D. h. man würde schon vom Aufbau her schon schauen, dass die inhaltlichen Ziele so bleiben, aber es geht dann mehr um den grafischen und gestalterischen Aspekt, dass der viel dynamischer sein muss, damit man das überhaupt gewährleisten kann, dass das auch noch
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
lesbar und anwendbar ist auf so einem kleineren Endgerät. (. . .) Es geht mehr rein um die darstellerischen Optionen, die wir haben, eben dass das Format auch in dem Sinn zumutbar ist. Stellen Sie sich vor: Das Format, das normalerweise auf einem hoch auflösenden Bildschirm gut aussieht und gut leserlich ist, auf einem Handy kann mit man so einem Format nicht viel anfangen.“ (Interviewpartner 1)
Die technische Darstellung von SF erfolgte durch den Softwarehersteller vorrangig außerhalb des Fallunternehmens sowie in Abstimmung mit der konzernweiten IT-Abteilung. Somit war die technische Darstellung der Einführung im Unternehmen vorausgelagert und fand räumlich und zeitlich weitgehend getrennt vom Handlungsspielraum der eigentlichen Nutzer statt. Drei Aspekte beschrieben die technische Darstellung bei SF: erstens ging die Programmierung der Software der Einführung voraus, da eine gebrauchsfertige Software eingekauft wurde, zweitens zielte die Software auf Standardisierung ab und drittens schränkte die standardisierte Software die Handlungskapazität der Nutzer ein. IBM Interact Die technische Darstellung bei IBM Interact wurde vom Projektteam sehr langfristig geplant und erforderte das Mitwirken einer Reihe von Personen. Zu Beginn stand die Identifikation der Problemstellung, dass in Zukunft Produkte mit einem höheren Gewinnvolumen anstatt möglichst viele Produkte verkauft werden sollten. Danach erfolgten die Vorbereitung von Hardware und das Design des Predictive Modeling. Das Telekommunikationsunternehmen stellte die internen Data Warehouses für die On-Premise-Lösung von IBM zur Verfügung und es wurde definiert, welche externen Datenbanken für die Modellierung integriert werden mussten. IBM selbst stellte dem Unternehmen die Software zur Verfügung, half bei der Installation seiner Anwendungen auf den Servern und stellte Updates zur Verfügung. Die lokale IT-Abteilung war bei der Anbindung an interne und bestehende Datenbanken beteiligt. Gleichzeitig wurden externe IT-Berater zu Rate gezogen. Der Leiter der Marketing Intelligence beschrieb die Berater und deren Rolle als Schnittstelle zu externem Wissen über den allgemeinen Nutzen und die Probleme, die mit der Implementierung von Analysesoftware in Callcentern einhergehen können: „Ja, das sind die Leute, ja, die Capgeminis, die Deloittes, Infosys, ja, die großen weltweiten IT-Unternehmen, die diese Art von Implementierungen bereits mit anderen Telcos auf der Welt durchgeführt haben, so dass Sie auch ihre Erfahrung nutzen können.“ 42 (Interviewpartner 23)
42
Originalzitat auf Englisch.
4.1 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
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IBM Interact arbeitet auf der Grundlage von prädiktiver Modellierung. Dies bedeutete für das Fallunternehmen, dass sehr viele Datenbanken und Akteure involviert wurden, um die Kundenprofile zu erstellen. Unter den Akteuren waren zunächst einmal die Kunden selbst, die Daten zur Verfügung stellten oder hinterließen. Zu Beginn des Projekts zählten die Data Scientists über 200 Variablen, zu denen Daten integriert werden sollten. Unter diesen Variablen waren beispielsweise demographische Daten, das vergangene und gegenwärtige Kaufverhalten, aber auch die Internetnutzung sowie das Verhalten auf der Webseite des Telekommunikationsunternehmens. Dieses Kundenprofil war schlussendlich ausschlaggebend für die vorgeschlagenen Verkaufsoptionen für den CallcenterAgenten. Der Leiter der Marketing Intelligence erzählte genauer über das erstellte Kundenprofil: „Ja GLH GLH 6DFKH LVW LVW QDWUOLFK GLH 9LVLRQ ZLH Ã'X 'X ދDOV 3HUVRQ ZLU wissen, was für ein Profil Du hast. Wir wissen auch, welches vergangene Verhalten du hast, welches Nutzungsverhalten du hast. Und daraus berechnen wir (. . .) das, was wir prädiktive Modelle nennen. D. h. wir können vorhersagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass du ein anderes Produkt von uns kaufen würdest, oder wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass du dein aktuelles Produkt auf ein höheres Produkt upgraden würdest. Gleichzeitig auch, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du es tun würdest, Kundenabwanderung, was bedeutet, dass du dein Abonnement kündigen würdest, auch basierend auf dem bisherigen Verhalten, das du gezeigt hast. Dinge wie, du hast ein bestimmtes Produkt bestellt, wir wissen, dass bestimmte Produkte nicht (fehlerfrei) sind, ab und zu haben wir Hinterwäldler, ja, in der (. . )Box. Und wenn wir dann sehen, hey, du bist mit Internet und DTV auf der (. . .)Box, mit nur einem, was wir ein (. . .) nennen, was nur den (. . .)Recorder und kein separates Internet-Modem bedeutet, und du hast den Customer Care ganz regelmäßig wegen Problemen angerufen, z. B. über den WIFI-Bereich, und du hast z. B. (. . .) Wir senden auch jede Woche Kundenzufriedenheitsumfragen raus, sogar jeden Tag im Moment. Wenn du den Kundenservice angerufen hast, erhältst du automatisch eine E-Mail mit einem Fragebogen über deine Zufriedenheit. Und wenn du uns in diesem Fragebogen mit auch konkreten Gründen schlecht bewertet hast, dann wissen wir, hey, dieser Kunde ist in Gefahr. Im nächsten Moment, in dem du anrufen wirst, brauchen wir dich also nicht mit einem Verkaufsangebot zu beauftragen. Wir müssen uns auf dieses spezielle Thema konzentrieren, das du hast.“ 43 (Interviewpartner 23)
Bei ihrer Kundenprofilerstellung arbeiteten die Marketing- und Vertriebsabteilung eng zusammen, um sich hinsichtlich der aktuellen Ziele der Verkäufe abzustimmen. Hierfür war die Form der Zusammenarbeit sehr wichtig und das Projektteam hat
43
Originalzitat auf Englisch.
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
„ein ganzes Governance-Modell definiert: wie werden wir zwischen Marketing und Vertrieb zusammenarbeiten?“ (Interviewpartner 23)
Die Marketingabteilung regulierte die Verkaufszahlen nun mit, indem sie IBM Interact an ihren eigenen Produktkampagnen ausrichteten. Der Leiter der Abteilung Marketing Intelligence beschrieb anschaulich den Einfluss der Marketingund Vertriebsabteilungen: „Weil die Sache natürlich ist, dass wir Änderungen am Tool vornehmen können, können wir sagen, okay, Jungs, wir wollen dieses Angebot mehr als dieses Angebot vorantreiben, wir wollen uns mehr auf die Value-Komponente konzentrieren oder wir wollen dieses und dieses Segment schließen. Jede Änderung, die wir in der Konfiguration des Tools vornehmen, wirkt sich auf den Umsatz des nächsten Tages aus, auch wenn wir keine Fehler machen. Aber wir können, ja, wir können beeinflussen, okay, Jungs, weniger Volumen, mehr Wert. Es beeinflusst den Umsatz.“ 44 (Interviewpartner 23)
Daneben waren auch einige Callcenter-Agenten selbst an der technischen Darstellung von IBM Interact beteiligt. Während der Pilotphase von Tiger wurde eine Reihe von Key Usern auf der Grundlage ihrer bisherigen Verkaufsleistung ausgewählt. Diese Gruppe von Callcenter-Agenten mit hohen, mittleren und niedrigen Verkaufsleistungen wurde in unterschiedlichen Stufen vergrößert und auf unterschiedliche Bereiche und Sprachen ausgeweitet. Die Key User testeten die Software und trainierten die Algorithmen, indem sie während ihrer Kundeninteraktionen Daten in IBM Interact einspeisten. Während der gesamten Konfigurationsphase von IBM Interact, d. h. während der Phase der Programmierung der lernenden Algorithmen, mussten sie Feedback und detaillierte Informationen über ihre eigene Problemlösung und Entscheidungsfindung darüber, welche Produkte sie dem Kunden anbieten würden, geben. Die Callcenter-Agenten waren also während der Pilotphase von IBM Interact maßgeblich in die technische Darstellung eingebunden: zum einen in der Gestaltung der Benutzeroberfläche, zum anderen in der Dateneinspeisung durch Interaktion und die damit zusammenhängende Optimierung der Algorithmen. In der Pilotphase standen die Key User in direktem Kontakt mit der IT-Abteilung der Gruppe. Eine Agentin, die sich durch hohe Produktverkaufszahlen auszeichnete, erklärte ihren engen Austausch mit der IT, um IBM Interact zum Lernen zu bringen: „[W]ir haben auch immer wieder mal Sitzungen und Meetings hierfür. Und wegen dem‚ was interessiert und was nicht interessiert für den Kunden, da gibt es zwei, die daran arbeiten und die das eben mit unserem (. . . ) [Report], wie wir das auch nutzen, das ausrechnen. Die werden das anschauen, die machen ihre Analysen hierfür. Ich verstehe es selbst manchmal nicht. Wenn ich in so einem 44
Originalzitat auf Englisch.
4.1 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
83
Meeting bin, denke ich: Okay. (. . .) die [IT] sind so intensiv. Einmal war schon ein Livegespräch mit IT von neun Stunden am Telefon. Also dass die neun Stunden nur an dem gearbeitet haben, ausgerechnet haben. (. . .) Ja, dann klickt man dort, klickt man da. Das ist dann ein Gespräch mit fünf, sechs Personen am Telefon. Und dann macht man das, kriegt man dort, versucht man es so; neun Stunden oder so. Oder manchmal ist man auch einfach nur hier, weil die müssen eben über unseren PC, über unser Programm müssen die. Weil IT arbeitet ja nur im Hintergrund und wir sind ja im Vordergrund am Arbeiten mit Tiger. Und die müssen dann auch über den Vordergrund, dann müssen die das bei uns machen live, hier. Und deshalb muss man das dann so machen, dann können die im selben den Hintergrund, den Vordergrund korrigieren, machen und tun.“ (Interviewpartner 16)
Neben der Hintergrundarbeit von und zu IBM Interact spielte auch das Internet als nicht-menschlicher Akteur eine Rolle, weil die Kunden ihre Daten dort hinterließen. Außerdem nutzten die Agenten es immer wieder, um bei der manuellen Bedarfsanalyse Sonderangebote zu finden. Dies deutet darauf hin, dass auch die lokale Materialität, d. h. Hard- und Software sowie deren Funktionalitäten einen Einfluss auf die technische Darstellung von IBM Interact hatten. Unter diesen nicht-menschlichen Akteuren waren zuerst die Funktionen von IBM Interact. Diese Funktionen hatten besonders am Anfang des Öfteren Störungen. Diese Störungen führten dazu, dass die Agenten auf andere verfügbare Hard- und Software auswichen. Auf diese Weise lenkte die umgebende Hard- und Software die technische Darstellung von IBM Interact mit. Die Agenten konnten beispielsweise keine Kundenanrufe auswählen, da die Zuordnung entweder automatisch über das Koordinationssystem oder manuell durch einen von drei Koordinatoren (Interviewpartner 18) erfolgte. Schließlich ist zu beachten, dass die individuelle Vertriebssituation durch das Telefongespräch zwischen dem Callcenter-Agenten und dem Kunden vermittelt wird. Darüber hinaus schloss die sequentielle Implementierung von IBM Interact eine weitere Gruppe von Elementen in der technischen Darstellung ein: die ansonsten vorhandenen Tools, die die manuelle Kundenbedarfsanalyse begleiteten. Diese manuelle Kundenbedarfsanalyse fand im Rahmen der telefonischen Interaktion zwischen dem einzelnen Agenten und den Kunden statt. Zusätzlich zum Frage und Antwort-Verfahren hatten die Agenten über die zentrale Kundendatenbank, über die Kundendaten und historische Interaktionen mit dem Unternehmen dokumentiert wurden, Zugriff auf historische Kundendaten. Ein weiterer wichtiger Aspekt betraf die Anpassung der graphischen Benutzeroberfläche (GUI) von IBM Interact. Auch diese Gestaltung wurde im Austausch mit den Callcenter-Agenten vorgenommen, da sie die hauptsächlichen Nutzer waren und ständig mit der Benutzeroberfläche konfrontiert waren. Ein Callcenter-Agent berichtete über die Möglichkeit, seine Informationsdefizite und
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Erklärungen, die über das GUI angezeigt werden sollten, zum Ausdruck zu bringen (Interviewpartner 17). Ähnlich wie die Kunden selbst gaben die Agenten durch ihre Klicks auf der Benutzeroberfläche Informationen an die Datenbank weiter und ergänzten so das Kundenprofil. Zu diesen Informationen gehörten z. B., wenn ein Kunde das NBO annahm („accept“), ablehnte („reject“) oder interessiert war („interested“), aber auch die Information, dass ein Verkauf getätigt wurde. Neben der aktiven Zuführung von Kundeninteraktionsdaten übermittelten Callcenter-Agenten Metadaten über ihr eigenes Nutzungsverhalten der Software sowie deren Verkaufsleistung, die von der Reporting-Abteilung und den Vorgesetzten vor Ort im Callcenter analysiert und an die Marketingabteilung zurückgesandt wurden. Abbildung 10 zeigt eine vereinfachte Darstellung der zentralen Elemente und Relationen innerhalb der technischen Darstellung von IBM Interact. IBM
Systemintegratoren
Installation von Anwendungen
Server und weitere Hardware
Einführungsberatung
Data Warehouses
Historische Kundendaten
Einspeisung von Daten über • Eigenes Kaufverhalten • Eigenes Surfverhalten im Internet •...
Definition von Messvariablen
IT und Data Scientists
Optimierung der Algorithmen
Vertrieb Marketing
Profil
IBM Interact Predictive modeling
Internet
Kunde
Einspeisung von Daten über die Kundeninteraktion
• Gibt aktives Feedback • Hinterlässt Metadaten über die Leistung und die Nutzung von IBM Interact •...
Clarify und andere Tools
Agent
Telefon
Gespräch
Greift zurück auf
Vorhandenes Wissen und Konditionierung auf Verkäufe und Kennzahlen
Manuelle Bedarfsanalyse
Abbildung 10: Vereinfachte Übersicht über die technische Darstellung von IBM Interact (Quelle: eigene Darstellung)
Die technische Darstellung von IBM Interact erfolgte in der Interaktion mehrerer menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Zu ersterer Gruppe zählten IBM,
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das Projektteam, Data Scientists, IT-Mitarbeiter, Callcenter-Agenten, Manager und Kunden. Zu den nicht-menschlichen Akteuren zählten unter anderen eine Reihe von verknüpften Datenbanken, (lernenden) Algorithmen, die Benutzeroberfläche oder weitere, externe Artefakte wie das Telefon, über das die Interaktion zwischen Callcenter-Agent und Kunden funktioniert. IBM lieferte also mit der Software lediglich eine Plattform, deren Leistung und Handlungskapazität durch die Interaktion einer Vielzahl an Akteuren vor, während und nach der Pilotphase zum Leben erweckt und am Leben gehalten werden musste. 4.1.1.2 Nutzungskontrolle Ein Teil der Aushandlung von Beziehungen und Grenzen zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität war vom Projektmanagement bestimmt, weil es einen Anteil daran trug, dass materielle Handlungskapazität sich in der Nutzung überhaupt erst entfalten konnte. Dies war abhängig von der tatsächlichen Häufigkeit und Intensität der Nutzung der Software. Neben der technischen Darstellung wurde deshalb die häufige und zum Teil intensive Nutzung der neuen Software seitens des Projektmanagements forciert und kontrolliert. Im Fall von SF war die Kontrolle dabei sehr prozessgesteuert, da in SF zentrale organisatorische Abläufe des Personalmanagements, wie etwa die Leistungsbeurteilung, stattfanden. Die Nutzungskontrolle im Fall von IBM Interact hingegen war stark von der Technik selbst getrieben, da diese ihre volle Leistungskapazität erst durch die Nutzung durch die Agenten erreichte. In den nachfolgenden Abschnitten wird aufgezeigt, wie die Nutzung der Software kontrolliert wurde und wie sich dadurch der Bezug zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität veränderte. SF Die Nutzungskontrolle von SF war vor allem dadurch motiviert, dass die Personalmanagementprozesse aufrechterhalten wurden. SF Performance and Goals war an die Zeiten gekoppelt, in denen das Personalmanagement die Zielvereinbarungsgespräche zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter anforderte. Dabei war die Nutzung im Unternehmen zum Teil schwierig, da Vorgesetzte und Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz zum Teil nicht am selben Standort, also nicht alle im Headquarter, hatten (Interviewpartner 7). Daneben fehlte laut der Leiterin für Leadership und Development auch eine Form extrinsischer Motivation für die Nutzung. Sie führte den Gedanken folgendermaßen aus: „Also sie kriegen generell keinen Bonus und dadurch ist natürlich die Zielvereinbarung eigentlich mehr so als Motivation zu sehen, was sind meine Aufgaben
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für dieses Jahr, was ist jetzt nicht irgendwie mit einer Vergütung hinterher verbunden. Also wir haben dann auch einen großen Prozentsatz bei uns im Unternehmen, die das einfach als Zielvereinbarungstool haben, aber keine Verknüpfung zu irgendeiner, sage ich jetzt mal, extrinsischen Motivation noch dabei ist. Ich denke, das ist so ein Punkt, warum das sicherlich auch nicht so intensiv genutzt wird, obwohl es eigentlich müsste, also es ist eigentlich eine Vorgabe, also wir müssten es eigentlich schon alle nutzen.“ (Interviewpartner 6)
Weiterhin wurde angesprochen, dass das Tool zur Dokumentation, aber auch zum langfristigen Dialog über Ziele wichtig war. Eine Vizepräsidentin für HR Consulting betonte in diesem Kontext die große Bedeutung, die dem Gespräch und dem Festhalten im Tool zukam, indem durch letzteres auch für beide Gesprächspartner Verbindlichkeit und Sicherheit etabliert wurde: „Es ist eher so, dass es zum Teil eben nicht eingetragen wird. Und ich glaube, es ist einfach wichtig, auch im Sinne von Erwartungshaltung vom Mitarbeiter auch, speziell, wenn es darum geht, auch in Weiterentwicklung, dass die Themen diskutiert werden und eben auch festgehalten werden. Weil da gibt es dann schon wieder unterschiedliche, sage ich mal, Auffassungen auch im Gespräch und dann kann man es wirklich noch mal niederschreiben und jeder weiß, wo er steht und es gibt keine Missverständnisse, von dem her finde ich es ganz gut, aber Dialog ist einfach immer noch Nummer Eins und ganz wichtig. Also nur, sage ich mal, einfach dieses Tool ausfüllen, damit wir es gemacht haben, das wäre da nicht Zweck der ganzen Sache.“ (Interviewpartner 7)
Neben der Aufrechterhaltung der klassischen Personalmanagementprozesse, wie etwa der Zielvereinbarungsgespräche, entdeckten die Vorgesetzten auch Vorteile für ihre eigene Arbeit. Deshalb forcierten sie die Nutzung des Tools. Die oben bereits zitierte Vizepräsidentin für HR Consulting beschrieb, wie sie selbst als Vorgesetzte vor allem die Nachverfolgung der Entwicklung von Zielen und Leistung als Vorteil der Dokumentation sah: „In der Vorgesetztenrolle finde ich es eigentlich ganz spannend, dass es eben, oder ich finde es gut, dass es festgehalten wird, dass ich dann, auch wenn es vielleicht Änderungen gibt in Themen – es kommt immer Neues hinzu, oder jemand geht – als Vorgesetztenwechsel dann ist es halt auch wirklich drin und man hat es wieder dokumentiert. Also ich finde das eigentlich ganz gut und kann dann auch Jahre zurückgehen. Also ich sehe auch, was hat jemand eingegeben vor zwei, drei Jahren und wie hat sich das entwickelt? Das finde ich persönlich sehr interessant in meiner Vorgesetztenrolle auch.“ (Interviewpartner 7)
Um diese Ziele zu erreichen, wurde die Nutzung der Software seitens des Personalmanagements kontrolliert und nachgehalten. Als Basis für die Kontrolle dienten Nutzungsreports. Die Nutzungsreports gaben z. B. darüber Aufschluss, ob die Zielvereinbarungen bereits in das System eingetragen beziehungsweise ob die
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Zielvereinbarungsgespräche geführt wurden oder nicht. Die Software diente also der Kontrolle der Arbeitsprozesse. Die Leiterin für Leadership und Development beschrieb diese Parallelität von organisationalen Prozessen und der Softwarenutzung und ihr eigenes Nachhalten in bestimmten Zeitphasen: „Es ist klar, ich kann mir da noch Reports dann ziehen, um wieder quasi Reminder oft verschicken zu können und so zu schauen, dass es wirklich alle machen. Ich habe dann in meiner Startansicht, wenn der Prozess läuft, also in dieser (. . .) Startansicht, habe ich dann wirklich so Feldchen, die habe ich jetzt gerade nicht, weil ja der Prozess nicht läuft. Also der läuft dann in einer gewissen Zeit vom Jahr, da habe ich da so Kuchendiagramme quasi, wo ich sehen kann, so und so viele haben jetzt das erfüllt.“ (Interviewpartner 6)
Weiterhin verdeutlichte sie, wie durch die Nutzungsreports die organisationalen Prozesse und ihre Einhaltung sichtbar wurden und wie die Software als solche eine Erinnerungsfunktion der Aufrechterhaltung der Prozesse übernahm: „Also wir kämpfen eher damit, dass sie wirklich die Feedbackgespräche auch machen.“ (Interviewpartner 6)
Die Personalmanager forcierten die Nutzung von SF somit sehr in eine Richtung, damit die bestehenden Personalmanagementprozesse eingehalten wurden. Die Software erhielt hierbei eine Handlungskapazität, da sie als Werkzeug genutzt wurde, um Personalmanagementprozesse im Unternehmen zu steuern und als eine Art verlängerter Arm für die Personalmanager diente. Die Beziehung zwischen den Nutzern und der Software war dahingehend definiert, dass sie als Instrument zur Aufrechterhaltung der Personalmanagementprozesse diente. IBM Interact Die Agenten im Callcenter waren verpflichtet, IBM Interact zu nutzen. 45 Im Pilot und bei der Einführung von IBM Interact wurde deutlich, dass der Grund für die Nutzungsabsicht darin lag, dass die Software selbst mit Daten gespeist wurde, damit sie ihre Funktionsfähigkeit erlangte. Da IBM Interact mit hohen Investitionssummen belegt war, stand das Projektmanagement unter dem Druck, das Funktionieren des Tools zu beweisen und dadurch die Investition zu legitimieren. Das Funktionieren der Software wiederum war abhängig von der interaktiven 45
In einigen Fällen wiesen die Teamleiter die Agenten jedoch an, die Software nicht zu nutzen. Dies war dann der Fall, wenn bestimmte Verkaufszahlen nicht erreicht werden konnten, da IBM Interact keine verlässlichen Informationen über das Kundenangebot zur Verfügung stellte. Näheres über diese Formen von Widerstand gegenüber der Nutzung findet sich in Abschnitt 4.2.2.1 (Identitätsarbeit).
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Nutzung, da sich die statistischen Vorhersagemodelle auf Basis der zurückgespielten Daten verbesserten und an Aussagekraft und Robustheit gewannen. Der Projektleiter beschrieb: „[D]as System muss beweisen, dass sich das überhaupt lohnt, ja. Und deshalb sind die Agenten jetzt dran dieses Tool umzusetzen, die neue Methode umzusetzen und müssen dort beweisen, dass sie das Tool auch sehr oft benutzen, ja. Da gibt es so eine Usage und da werden die eigentlich, sage ich mal, sehr stark motiviert, dass sie das vermehrt benutzen und die neuen Verkaufswege dann umsetzen. Wenn wir dann sehen, dass das nicht funktioniert, dann werden wir die Implementierungen oder die Art auch wieder verändern können. Also wenn wir sehen: Okay am Schluss bringt das weniger Sales, dann werden wir das ein bisschen auflockern und dann werden auch Agenten, sage ich mal, dann entspannter das Thema angehen, weil sie müssen (. . .) sehen, dass sie wirklich da etwas rausholen können und ja.“ (Interviewpartner 21)
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in diesem Zitat mitschwingt, ist die permanente Angewiesenheit der Optimierungsalgorithmen auf eine korrekte Widerspiegelung der Realität. Für dieses korrekte digitale Abbild der Realität mussten die Agenten Tiger konsequent nutzen und durch ihre Klicks exakte Informationen einpflegen. So musste der Agent beispielsweise ein Angebot, das über das GUI angezeigt wurde und vom Kunden am Telefon absolut abgelehnt wurde durch einen Klick auf den „rejected“-Button ablehnen. Dieses Angebot wurde den (anderen) Agenten für diesen Kunden dann nicht mehr angezeigt. War der Kunde interessiert am Angebot, wurde „interested“ geklickt, das Angebot verblieb unter den NBOs, ein „accepted“ führte zum Kauf und logischerweise zum Verschwinden des Angebots unter den NBOs. Diese wahrheitsgetreue Interaktion der Agenten mit dem GUI war wichtig für die Entwicklung der Software und die Interaktion mit den Kunden. Eine Agentin beschrieb in diesem Zusammenhang die negativen Konsequenzen, wenn sie Tiger nicht beachtete oder nicht korrekt nutzte. Die Data Scientists und Projektmitglieder erkannten, dass Tiger über einen längeren Zeitraum hinweg keine verlässlichen Angebote anzeigte: „Die vom Projekt fühlen sich dann leicht verarscht. Weil die arbeiten und arbeiten und die schwitzen richtig, weil Tiger nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte. Und ich verfälsche ja somit die Zahlen, weil ich sage dann: Ja, okay. Also es interessiert mich nicht, was Tiger sagt. Und ich verfälsche dann die Zahlen von denen, wenn ich nicht mitmache.“ (Interviewpartner 18)
Es wurde hierbei deutlich, dass nicht der Anstieg von Verkaufszahlen, also eine Verbesserung, die mit Arbeitsinhalten oder Prozessen zu tun hatte, im Vordergrund der Nutzungskontrolle stand. Auch die Tatsache, dass zwischen einer Ver-
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besserung oder Verschlechterung der Verkaufszahlen und der eingeführten Software kein kausaler Zusammenhang hergestellt werden konnte, deutete darauf hin, dass die Nutzung der Software nicht in erster Linie dazu diente, die Verkäufe voranzutreiben. Variablen, die den Verkaufserfolg bestimmten, waren Spezialangebote des Unternehmens oder der Wettbewerber, Rabatte in (Offline-)Filialen oder aber auch das Funktionieren diverser Technik vor Ort. Wenn z. B. das Bestelltool oder die zentrale Kundendatenbank nicht funktionierten, fielen die Verkäufe ganz aus oder mussten manuell ohne Tiger abgewickelt werden. Wert und Nutzen der Software konnten somit nicht eindeutig gemessen werden. 46 Um die Nutzungsrate von IBM Interact in die Höhe zu treiben, wurde eine Art Anreizsystem etabliert. Die Motivation zur Nutzung wurde durch verschiedene Maßnahmen gesteigert, z. B.
Erklärungen, kurze sogenannte „Drill Sessions“ und Schulungen, Wettbewerbe, bei denen diejenigen Agenten, die IBM Interact nutzten und hohe Verkaufszahlen erhielten, ausgezeichnet wurden, oder die inhaltliche Incentivierung, indem bestimmte Angebote für den Kunden nur über IBM Interact sichtbar wurden.
Gerade auf die zuletzt genannte Incentivierung wurde großen Wert gelegt und die Callcenter-Agenten wurden beim breiten Roll-Out bereits vor ihrer erstmaligen Nutzung von Tiger auf die exklusiven Angebote in IBM Interact hingewiesen. Eine der einleitenden Fragen im Step-Up war z. B. „[H]abt ihr die tollen Promotionen gesehen?“ (Schulungsunterlagen, S. 2). 4.1.1.3 Zusammenfassung: Konfiguration Zusammenfassend kann gesagt werden, dass materielle Handlungskapazität bei der Ankunft neuer digitaler Technik zunächst einmal durch die Nutzung entfesselt werden musste. Hierbei war deutlich sichtbar, erstens, dass algorithmische Handlungskapazität bei lernenden Algorithmen zunächst ganz anders als bei traditionellen dargestellt und konfiguriert wird und zweitens, dass menschliche Akteure mit den verschiedenen Algorithmen unterschiedlich interagieren und in Bezug stehen. Während SF als gebrauchsfertige Cloudlösung mit traditionellen Algorithmen nach dem Einkauf kaum Raum für Veränderungen zuließ, gestaltete sich die Entfesselung algorithmischer Handlungskapazität bei IBM Interact ganz stark in der Interaktion. Während SF mit dem Ziel genutzt wurde, die Personalprozesse
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Eng verbunden mit der Nutzungskontrolle und der Optimierung der Software stand die veränderte Auffassung von Leistung Leistungsträgerschaft durch die Einführung von IBM Interact. Diese Veränderungen werden in Abschnitt 4.3.2.1 näher beschrieben.
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am Laufen zu halten, stand bei IBM Interact zunächst das Funktionieren der Software selbst im Vordergrund. Die Mitarbeiter sollten IBM Interact stärker in ihre Arbeitsweise einbinden. Vor allem, um die Weiterentwicklung und Optimierung der lernenden Algorithmen voranzutreiben, fand eine intensive Nutzungskontrolle und Begleitung dieser Nutzung statt. Bei SF ließ sich eher eine Form von ferngesteuerter Kontrolle von Personalmanagementprozessen sehen. Die auf statischen Algorithmen basierende Software stellte eher ein Instrument und einen verlängerten Arm für das Management dar. Bei IBM Interact war die Nutzung eher vom Tool selbst getrieben als vom Prozess, da die Funktionsfähigkeit des Tools auf die Interaktion angewiesen war. 4.1.2
Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen
Neben der Ausrichtung (Konfiguration) materieller Handlungskapazität als Form von Festschreibung in der technischen Darstellung und Nutzungskontrolle, bestimmte noch ein zweiter Bereich die sozialen Dynamiken, durch die Beziehungen zwischen menschlichen Akteuren und der Software ausgehandelt wurden. Und zwar bildeten sich in verschiedenen materiell-diskursiven Praktiken während der Pilotierungs- und Einführungsphasen spezifische Vorstellungen über Art, Fähigkeiten sowie Arbeit von Tools und Algorithmen heraus. Konkret ließen sich drei große empirische Themen finden, die diese Vorstellungswelt prägten: Blackboxing, Narrative über Ersetztwerden oder Unterstützung sowie Merchandising und eine technikzentrierte Sozialität. Wie genau diese Themen die Vorstellungswelt formten, welche Handlungskapazität Tools und Algorithmen hatten und auf welche Weise sie die Beziehungen und Grenzen zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität etablierten, soll in den nachfolgenden Abschnitten dargestellt werden. 4.1.2.1 Blackboxing Die genaue Funktionsweise der Technik wurde bei der Pilotierung und Einführung wenig diskutiert. Für die Tatsache, dass menschliche Akteure mit technischen Artefakten als eine Art Blackbox umgingen, ließen sich mehrere Gründe finden. Darunter fiel zunächst eine technische Komplexität auf der einen Seite, die mit zunehmend avancierter Technik größer zu werden schien. Auf der anderen Seite schien eine nähere Auseinandersetzung mit der technischen Funktionsweise nicht notwendig – solange die Technik funktionierte und ihren Zweck erfüllte. Diese fehlende Auseinandersetzung war vor allem im Hinblick auf SF und traditionelle Algorithmen ersichtlich. Hier herrschte jedoch auch ein grobes Verständnis über die Funktionsweise der Technik. Bei der auf lernenden Algorithmen basierenden Software hingegen wurde von mehreren involvierten Agenten, IT-
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Fachkräften und Projektmanagern die Undurchsichtigkeit der Software thematisiert. Auch war ersichtlich, dass unterschiedliche Wissensstände zwischen wenigen Experten und der Mehrheit der Anwender herrschten. Das Blackboxing trug zu der Entwicklung eines Mythos über die vorhandenen oder nicht vorhandenen Fähigkeiten der Software bei und je nachdem, wie viel die menschlichen Akteure über die Funktionsweise der Software wussten, richteten sie ihr eigenes Handeln danach aus. SF Bei der Einführung von SF war zunächst den Projektmitgliedern und den Nutzern im Personalmanagement relativ klar, wie die Software strukturiert ist und wie sie funktioniert. Es war bei der Nutzung offensichtlich, dass die neue Software – wie die vorangehende (Huma), bestimmte Personalmanagementprozesse strukturierte und Informationen dokumentierte. Es war außerdem bekannt, dass diese Informationen nicht durch die Software verändert wurden und dass die Personalarbeit unterstützt wurde. Auch bei neuen Tools, wie etwa der Talentmanagementsoftware, war durch den Aufbau und die Informationen von SF leicht nachvollziehbar, wie die Software arbeitete. Genau auf dieselbe Art und Weise konnten die Tätigkeiten auch manuell durch die menschlichen Akteure oder andere Tools, etwa Excel, übernommen werden. Die relativ offensichtliche Funktionsweise beschrieb etwa die Leiterin für Leadership und Development am Beispiel der Talentmanagementsoftware: „Also das ist ja recht simpel. Also da sind die Einschätzungen, die wir vorhin gesehen haben. Es gibt ja nur die drei Auswahlen bei Performance und bei Potenzial, und danach schätzt es ein, also das ist simpel. Also das kann jedes ExcelTool machen, das ist gar nicht, das ist kein Rocket Science.“ (Interviewpartner 6)
Abgesehen von der Funktionsweise der Software selbst, spielte die Frage nach der Art der darin verwendeten und gespeicherten Daten über Mitarbeiter und Bewerber eine Rolle. Da die Arbeit mit Mitarbeiterdaten sehr klaren Richtlinien unterlag, stimmte sich das Personalmanagement bei etwaigen Neuerungen durch SF mit den Datenschutzverantwortlichen ab: „Also wir sind ja eng, die sitzen ja gleich gegenüber und wir sind eng mit ihnen im Austausch, generell auch das ganze Thema Compliance Data Privacy hat sehr viel mit uns zu tun. Selbstverständlich war das kein Alleingang, sage ich jetzt mal, die sind ja auch in derselben Organisations-Unit. Von dem her waren wir da immer gegenseitig in Kontakt und wir wussten auch, wo jetzt gerade die Diskussionen sind.“ (Interviewpartner 7)
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Im Falle von SF war den beteiligten Personalmanagern dabei auch sehr bewusst, welche Mitarbeiterdaten wie lange gespeichert wurden und dass sich bezüglich der Datenvielfalt und des Datenvolumens im Vergleich zu Huma nicht allzu viele Neuerungen ergaben: „[D]as Datenspeicherbedürfnis ist das gleiche vom alten wie neuen Tool. Also die Datenhaltung ist die gleiche. Wir müssen die gleichen Informationen verwalten.“ (Interviewpartner 14)
Auf der anderen Seite waren der offene Umgang und die Nachvollziehbarkeit von SF auch für die Mitarbeiter und Bewerber als Nutzer wichtig. Diese waren unterschiedlich interessiert daran und sensibilisiert dafür, wie die Einführung einer neuen Personalmanagementsoftware gegebenenfalls ihre Daten beeinflussen könnten. Zum Teil fragten die Mitarbeiter proaktiv nach den gesammelten Daten und deren Verwendung (Interviewpartner 7). Daneben ging auch das Personalmanagement selbst sehr offen mit der Funktionsweise von SF um. Es wurde den Nutzern sehr genau erklärt, dass die Software in weiten Teilen Huma ablöste und welche Ziele auch die neuen Lösungen, wie etwa die Talentmanagementsoftware, hatte. Außerdem gab es zahlreiche schriftliche Richtlinien, wie die Software genutzt werden sollte: „Also das, wir haben dann hier diverse Guidelines, also Papier gibt es ohne Ende dazu. Also jetzt z. B. der Vorgesetzten-Guideline, und dann ja, was gibt es alles, warum, why Talent Discovery, wer sieht das Talent-Profil (. . .). Und dass das also wirklich eigentlich nur sein Vorgesetzter plus ausgewählte Andere sehen. Genau, dann geht es halt wirklich, was muss er jetzt genau machen.“ (Interviewpartner 6)
Vom Softwarehersteller selbst wurden ebenfalls sehr detaillierte Informationen über die Funktionsweise zur Verfügung gestellt: „Also wenn Sie da recherchieren, ist das eigentlich so aufgebaut, dass halt also ein Potenzial in drei Stufen eingeschätzt wird und die Performance in drei Stufen eingeschätzt wird.“ (Interviewpartner 6)
Trotz der relativ offenen Umgangsweise mit der Software und den ausführlichen Erklärungen, die das Personalmanagement den Nutzern zur Verfügung stellte, gab es Ausnahmen, in das Management die Rolle des Tools nicht ganz offenlegte. Im Falle von SF Succession and Development, unterrichteten die Vorgesetzten ihre Mitarbeitern nicht proaktiv darüber, dass sie diese bewerteten, in eine TalentPerformance-Matrix einordneten und über sie mit anderen Führungskräften diskutierten. Eine aktive Geheimhaltung über dieses Prozedere wurde jedoch nicht
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forciert, so dass sich die Informationen teilweise verbreiteten und die Mitarbeiter die Einordnung erahnen konnten: „Also was wir nicht machen, ist den Grid den Mitarbeitern zeigen, den kennen die nicht. Und eigentlich ist auch die Maßgabe in einem Feedbackgespräch jetzt nicht, zu sagen, ah ja hier haben wir so einen 9-Box-Grid und du bist in der Box 5. Sondern man soll das eigentlich umschreiben. Also man soll ihm eigentlich eher eine Rückmeldung geben, wie man seine Performance einschätzt, seine nachhaltige Performance, wie man sein Potenzial einschätzt. Aber nicht jetzt sagen, du bist jetzt in einer Box, bei uns ganz rechts oben. Also die Box an sich ist eigentlich in dem Sinn nicht bekannt, ist heute auch noch realistisch, aber ist total unrealistisch, wenn ich das nach unten breche. Weil wenn ich das jetzt, wie im Finance z. B., wo wir das ja auch für tiefere Levels durchgeführt haben, dann weiß er jetzt z. B., (. . .) der (. . .) hat ja auch wieder jetzt irgendwie sechs Mitarbeiter unter sich und ich führe mit ihm ja auch so ein Review Meeting, zeige ihm den Grid für seine Mitarbeiter und deren Peers. Dann weiß er ja, dass es so ein Ding gibt. Dann kennt er ja das, er weiß da, es gibt noch eine Box, dann kann man sich ja schon sämtlich auch selber ausrechnen oder auch mal nachfragen, ja wo bin denn ich denn dann, bei seinem Vorgesetzten. Also ich würde es wahrscheinlich machen. Also von dem her, ich finde jetzt so diese Geheimhalterei, ja, lässt sich, glaube ich, nicht wirklich durchsetzen, die Leute sind dann da, glaube ich, auch schlau genug auf Dauer.“ (Interviewpartner 6)
SF war in der Funktionsweise und dem klaren Ziel, dass es die Personalmanagementprozesse in ähnlicher Weise wie das alte Tool unterstützen sollte, relativ durchschaubar. Die Software galt als Hilfsmittel, ihre Funktionsweise und Datenspeicherung waren weitgehend nachvollziehbar. Die Nutzer hatten nicht das Gefühl, dass die Software eine gesonderte Handlungsfähigkeit aufwies und so ging sie als Blackbox in die tagtäglichen Praktiken ein. Nichtsdestotrotz gab es vereinzelt Fälle, wie etwa am Beispiel der Talentmanagementsoftware gezeigt, in denen die Vorgesetzten aktives Blackboxing betrieben. Da die Mitarbeiter die Funktionsweise des Talent-Performance-Rasters dabei nur erahnen konnten, herrschten Ambiguität und Verunsicherung über die Rolle des Tools bei Beförderungen. IBM Interact Die Softwarelösungen und Tools von SF waren zumindest für das Personalmanagement und die Vorgesetzten relativ verständlich. Im Gegensatz dazu zeichnete sich IBM Interact als eher undurchsichtiger Akteur aus. Hier wussten nicht nur die Nutzer, sondern auch Projektmitglieder nicht oder nur rudimentär, wie die zugrundeliegende Technik funktionierte, auf deren Basis die Agenten über das GUI Verkaufsvorschläge erhielten. Dabei wurde deutlich, dass bereits innerhalb des Projektteams die Funktionsweise nicht thematisiert wurde. Ein Mitglied des
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Projektteams zur Einführung der Software arbeitete an der Schnittstelle zwischen der IT-Abteilung und dem Callcenter, war technisch also relativ versiert und wies trotzdem auf die Blackbox des Produkts hin. Er nahm Bezug auf den Hersteller, dem der wahre Hintergrund der Software vorbehalten sei: „IBM verkauft dieses Produkt und behauptet, dass es Selbstlernfähigkeiten habe und anhand von den Daten, die es gefüttert kriegt, das eigentlich die Wahrscheinlichkeit für einen Verkauf, dass (. . .) die müsste größer werden, aber (. . .) also (. . .) die Antworten werden ja ins Internet zurückgefüttert, also im schlimmsten Fall hat der IBM das Produkt so gemacht, dass die Antworten einfach ignoriert werden und hat uns heiße Luft verkauft für nichts, das glaube ich jetzt nicht, weil es ist auch in anderen Firmen im Einsatz, aber was es und mit welcher Logik [es] dahinter genau arbeitet, das weiß ich nicht.“ (Interviewpartner 29)
Dass die technische Funktionsweise unbekannt war und gleichzeitig eine eigene Handlungsfähigkeit und selbständige Weiterentwicklungsfähigkeit der Software vom Hersteller angekündigt wurde, verunsicherte die Projektbeteiligten. Und diese Verunsicherung entwickelte sich nicht nur in Richtung der Funktionsweise des Tools im Hinblick auf die Frage, was die Software tatsächlich konnte, sondern auch, welche Rolle die menschlichen Handlungen, insbesondere das „Füttern“ von Daten, für diese Weiterentwicklung spielten. D. h. auch die eigenen Handlungen wurden plötzlich in Relation zu dem Tool gesehen: „[A]ber das ist wahrscheinlich wirklich auch zum Teil Geheimnis von dem Produkt selber, was es damit anschaut. Also wahrscheinlich muss das Produkt auch von selber rausfinden, wie (. . .) die einzelnen Angaben, die es kriegt, zu gewichten sind, das muss es wahrscheinlich irgendwie von selber erkennen. Es kann auch sein, dass wir es tonnenweise mit unwichtigem Material füttern und das Produkt muss das irgendwie unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht.“ (Interviewpartner 29)
Dass das Projektteam die Software als undurchsichtig wahrnahm und als ein abgeschlossenes Objekt mit eigenen kognitiven Fähigkeiten lässt sich auch in seiner Darstellung erkennen. So wurde das Tool z. B. in Unternehmenspräsentationen bildlich als Gehirn dargestellt wird (Unternehmenspräsentation, S. 4). Für die Betrachter war das Tool somit bereits als gesondert und undurchdringbar dargestellt. Letzten Endes jedoch suggerierte die Tatsache, dass auch andere Unternehmen die Software nutzten und ihr hoher Preises eine verlässliche Funktionsweise und somit wurde die genaue Handlungskapazität auch wenig hinterfragt. Dies zeigt folgendes Zitat: „Aber dafür kostet es ja auch eine Menge und so werden wohl ein paar gescheite Köpfe sich da Gedanken darüber gemacht haben.“ (Interviewpartner 29)
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Die Komplexität der Technik hinter der Software führte auch dazu, dass nur wenige Akteure innerhalb der Organisation sich explizit mit der Software auseinandersetzten. Im Callcenter und von den Projektmitgliedern wurde beispielsweise auf Fragen zur Funktionsweise immer auf eine einzige Person im Unternehmen hingewiesen, den Head of Marketing Intelligence, der Mitglied des Projektteams war. Auch der Projektleiter, der selbst aus dem Marketingbereich kam, war sich zum einen darüber im Klaren, dass sich das Tool manuell übersteuern ließ und dass die Angebotserstellung eine Kombination aus menschlichen Verhaltensweisen, historischen und aktuellen Daten sowie Marketingkampagnen war: „Dass man das noch ein bisschen auch steuern kann, also es nicht eine Blackbox, die wir da haben und dann spickt sich jemand was raus. Man kann gewisse Dinge steuern. Aber das muss dann über den normalen Marketingzyklus, respektive über die normalen Strukturen auch laufen und Tiger ist da auch einfach nochmals eine Komponente, wo man eben neue Kampagnen reingeben kann, wo man neue Sachen reingeben kann, womit man das steuern kann. Wie man auch sieht, dass teilweise vielleicht Agenten nicht so gut gewisse Produkte verkauft haben. Ja, eben also einerseits sind das historische Daten, Analysen, aber dann auch Management-Entscheidungen und Feedback von den Agenten oder Verhaltensweisen, die dann dazu führen, dass man ein Ranking hat von Angeboten.“ (Interviewpartner 21)
Zum anderen jedoch gibt er offen zu, dass er selbst und die Mehrheit der anderen beteiligten Projektteammitglieder und Nutzer das Tool wenig durchdrangen: „[W]ir versuchen, dass wir Ihnen [den Agenten] schon das von Anfang an zu erklären, wie das zustande kommt. Aber es ist ein bisschen kompliziert und es sind ganz viele Inputfaktoren und ich verstehe es auch nicht genau und andere verstehen es auch nicht genau und vielleicht hat ein Mann den Überblick wie das richtig funktioniert.“ (Interviewpartner 21)
Das Management betrieb folglich aktives Blackboxing und schürte dadurch die Vorstellungskraft und Fiktionen über das Tool unter den Nutzern. Diese verwiesen im Hinblick auf das Wissen über die Funktionsweise auf die Projektmitglieder und die Key User, die bereits in der Pilotphase des Projekts beteiligt waren. Das Wissen der Anderen wurde somit zur Legitimationsgrundlage der unreflektierten Nutzung durch weitere Agenten. So beschrieb ein Mitglied des Projektteams: „Piloten, die sich in der Pilotphase befanden, werden plus/minus informiert, was genau sie [Programmierer, Agenten, Kunden] im Hintergrund machen, was sie für Werte füttern. Also mit welchen Werten sie den Tiger füttern usw., aber die Neuen, die ihn erst jetzt benutzen, wissen das vielleicht nicht.“ (Interviewpartner 29)
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Eine grobe Kenntnis darüber, welche Daten die Software zu den angezeigten Ergebnissen führten, wirkte sich positiv auf die Nutzung und Akzeptanz durch die Agenten aus. Der Leiter der Marketing Intelligence wies darauf in folgendem Zitat hin: „Ich sehe es nach der Präsentation, die ich mache, dass sie es nicht nur jetzt verstehen, sondern auch jetzt wissen, was hinter dem Tool steckt. Und dann sind sie mehr überzeugt, hey, ja, es ist ein gutes Werkzeug, wenn man ihnen die Erklärung gibt. Wenn Sie nur sagen, dass wir sie nutzen müssen, dann natürlich, ja, was für eine Frage, sie haben keine Ahnung, worum es geht, was dahinter steckt, wie gut es ist. Und das auch, wir haben das auch in das Training, die Trainings eingebaut, dass all diese Agenten bekommen, ja, [diesen] Erklärungsteil.“ 47 (Interviewpartner 23)
Dabei wurden in den Schulungen auf gemalten Plakaten die groben Zusammenhänge dargestellt, z. B. historische und aktuelle Kundendaten, die Handlungsauswirkungen der Agenten und Kunden. Die Abbildung zeigte einen schwarzen Kasten mit der Aufschrift „IBM Watson“ im Zentrum, der die Software selbst darstellen sollte. Links daneben standen die Worte „Kundenzufriedenheit“, „Bestehende Produkte“, „NPS Daten“, „Nutzverhalten des Kunden“, „WWW“, „Alter des Kunden“ und „Kundenvergleich“, die in Pfeilen auf den Kasten einwirkten. Nach links führte ein Pfeil vom Kasten auf einen in menschenform mit Hemd dargestellten Tiger, der ein Schild mit „1.-5. Angebot“ in die Höhe hielt und von dem Tiger wiederum ging ein Pfeil in Richtung Agentin mit Mobiltelefon in der Hand. Letztere beide, also die Agentin mit Mobiltelefon in der Hand und der Tiger, waren mit jeweils rückwärtsgerichteten Pfeilen wieder mit dem schwarzen Kasten verbunden (vgl. Abbildung 11). Die bildhafte Darstellung der Software selbst als schwarzer Kasten, also tatsächlich als Blackbox, zeigte das Blackboxing und die Vernachlässigung der Erklärung der technischen Funktionsweise der Software. In ähnlicher Weise, wie die Software und deren Funktionsweise nicht im Zentrum der Schulungen standen, ließ sich auch feststellen, dass die Agenten selbst wenig über die Funktionsweise der Software wussten und sich auch nicht besonders dafür interessierten. Der Manager sagte dazu: „Die Auseinandersetzung mit der Frage ist hier auf der Fläche überhaupt noch nie aufgetaucht, weil das wahrscheinlich in den Köpfen der Leute nicht drin ist (. . .) Ja, ich glaube, das ist auch nicht so eine riesenschwierige Sache, also zu verstehen (. . .) Wir erklären das den Leuten schon, während der Schulung wird das schon ihnen erklärt, wie ist das verknüpft (. . .). Aber noch tiefer ist das Bedürfnis der Mitarbeiter zu erfahren, warum und wie das zusammengesetzt wird,
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Originalzitat auf Englisch.
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ist, nicht. Also nein, die Auseinandersetzung setzt wahrscheinlich voraus, dass man ein Problem mit irgendwas hat.“ (Interviewpartner 27)
Abbildung 11: Plakat zur Erläuterung der Funktionsweise von IBM Interact im Schulungsraum (Quelle: eigene Fotografie, aufgenommen während der Feldstudie)
Für die Agenten selbst war der Grund für ihr Desinteresse vor allem die Tatsache, dass der Aufwand im Verhältnis zum Nutzen der genauen Kenntnis über die Software zu hoch war. Insbesondere wurde deutlich, dass die Vielzahl an Tools, die im Callcenter genutzt wurden und mit denen die Agenten umgehen mussten, hier eine Rolle spielte: „Aber es lohnt sich eigentlich bei uns gar nicht das Ganze eben zu wissen in dem Sinne. Die wichtigsten, die wissen wir, was mit denen ist und was passiert und die anderen die hat man eh meistens selten.“ (Interviewpartner 18)
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Darüber hinaus war auch essentiell, dass die Callcenter-Agenten in ihrer täglichen Arbeit am Telefon keine Zeit hatten, sich mit der Software auseinander zu setzen. Ihr Arbeitstag war minutiös in einem individuellen Plan vorgegeben. Vor allem die sogenannte „AHT“ (Average Handling Time), d. h. die durchschnittliche Dauer des Telefonats mit dem Kunden, war als Kennzahl wichtig für ihre Leistungsbeurteilung. Eine Agentin führte dazu beispielhaft aus: „Für das haben wir eigentlich in dem Sinn gar keine Zeit, oder? Und das ist das, was man dem Kunden auch immer erklären kann. Ich meine, der Kunde fragt warum ist das Provisionieren fehlgeschlagen? Es bringt ihm ja auch nichts, dass ich jetzt hingehe und sage ja, darum darum darum ist hier das passiert, das bringt ihm nichts oder? Und ja eben wir wissen es zum Teil auch gar nicht.“ (Interviewpartner 18)
Die Unwissenheit über die genaue Funktionsweise der Software hatte also zur Folge, dass sich in verschiedenen diskursiven Praktiken Ungenauigkeiten in der Kommunikation über die Software ergaben, und eine Art Erahnen und fiktives Hineininterpretieren über die Handlungskapazität der Software. Obwohl sie in Teilen eben nicht auf handfestem Wissen und Fakten beruhten, führten diese Interpretationen dazu, dass die Agenten zunächst ihre eigenen Verhaltensweisen hinterfragten. Zum anderen richteten sie ihr Handeln sowohl eigeninitiativ als auch auf Anweisung, z. B. des Managements oder der Trainer aus den Schulungen, auf die Software und die erahnte Funktionsweise hin aus. 48 4.1.2.2 Narrative über Ersetztwerden oder Unterstützung und Merchandising Neben der Unklarheit, die sich durch das Blackboxing der Tools ergab, betrieb das Management jedoch auch aktives „Merchandising“ zur Software in der Organisation. Durch die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften und Handlungskapazitäten entwickelten sich Narrative darüber, dass die Software menschliche Arbeit ersetzt oder als Unterstützung menschlicher Arbeit dient. Diese Narrative trugen zur Etablierung einer sehr konkreten Vorstellung über Art und Fähigkeit der Software bei. Hier unterschieden sich die Konzeptualisierung und menschliche Inbezugsetzung von traditionellen Algorithmen deutlich von derjenigen der lernenden Algorithmen: erstere wurden als Werkzeug und dem Menschen nützlich aufgefasst; zweitere genossen ihr Ansehen als Tiger und ihnen wurden fortgeschrittene Fähigkeiten, die den Menschen ersetzen konnten, zugeschrieben. Dieses Bild des Tigers und die Narrative zur potentiellen Ersetzung menschlicher Arbeit aufgrund der Automatisierung einer menschlichen Tätigkeit jedoch waren nicht statisch. Die Projektionen darüber, wie stark „der Tiger“ tatsächlich im Vergleich zum 48
Wie die Ausrichtung erfolgte, wird in Abschnitt 4.2.2 (Neuausrichtung) noch genauer erläutert.
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Menschen war, veränderten sich in visuell-diskursiven Praktiken, d. h. Bildern und Erzählungen unter den menschlichen Akteuren. SF Die Beschreibungen von SF waren sehr einheitlich: sowohl im Personalmanagement als auch seitens der Anwender, z. B. der Teamleiter im Callcenter, wurde die Software als Instrument gesehen, das zur besseren oder effizienteren Ausführung von alltäglichen Arbeitsaufgaben bestimmt war. Die Nutzer und Personalmanager griffen auch in ihren verbalen Beschreibungen der Rolle der Software immer wieder auf die Metapher des Werkzeugs zurück. „Das ist immer die Frage: Wie setzt man was um? Ein Tool, d. h. ja auch übersetzt, ein Werkzeug, hilft Einem ja nur, eine Arbeit besser, effizienter oder weiß Gott was zu machen. Man kann im Prinzip aber auch das falsch anwenden. Früher hatte man eine Handbohrmaschine und machte ein Loch und man hat mit viel Geduld und Muße und vielleicht Fachkönnen das da reingedreht und hatte genau das, was man wollte. Heute hat man eine Maschine. Derjenige, der die Maschine richtig handhabt, kann zehnmal schneller dieses Loch bohren. Der andere, der die Maschine nicht beherrscht, hat nachher ein ovales Loch. Also es kommt immer darauf an, was man daraus macht. Und das Tool darf den Menschen nicht dominieren, sondern muss den Menschen unterstützen, dann klappt’s.“ (Interviewpartner 14)
Das vorangegangene Zitat zeigt, dass bei der Einführung von SF von Anfang an klar war, dass dem Menschen die absolute Hoheit in der gemeinsamen Ausführung von Arbeit vorbehalten war. Die menschliche Autorität wird auch insofern deutlich, als dass auch Fehler auf den Anwender der Technik zurückgeführt werden. Außerdem bezogen sich die Narrative sehr oft auf die abgelöste Software Huma. Die Interpretation der Fähigkeiten von SF geschah dabei im Vergleich zu Huma und es verbreitete sich insbesondere die Annahme, dass SF Recruiting (im Vergleich zu Huma) weniger Fähigkeiten aufwies. Dieser Vergleich und die Abwertung von SF wurde etwa in folgendem Vergleich des Personalcontrollers deutlich, in welchem er die Errungenschaften der automatisierten Funktionen für die Personalrekrutierung in Huma anpries und sogar einen Anstieg der Bewerberzahlen darauf zurückführte: „Die ganze Benutzerfreundlichkeit und die Philosophie dahinter, die entspricht nicht mehr dem, was wir hatten und was wir gelebt haben. Weil das System [Huma] hat auch automatisch Mails versandt bei Verzögerungen usw. Wir haben so viel wie möglich automatisiert; (. . .) Vieles im Kommunikationsfluss mit dem
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Bewerber konnte automatisiert werden mit im Prinzip einem Mausklick oder automatisch. Und der Bewerber hatte den Eindruck, er wird persönlich angeschrieben. Wir haben das Bewerbertool aufgesetzt, als das Volumen unserer Meinung nach groß war und zum einen kam die Reputation der Firma dazu und zum anderen die Nutzerfreundlichkeit des Tools. Die Bewerbungen hatten sich innerhalb von zwei Jahren verdreifacht. Und wir konnten dank der Automatisation das mit gleich viel Personal lösen. Und was wir jetzt haben, ist eher ein Schritt zurück.“ (Interviewpartner 14)
Dieses negative Narrativ über SF war also sehr spezifisch im Vergleich zum Vorgänger. Der oben genannte Personalcontroller beschrieb die neue Arbeitssituation mit SF sogar als einen Abstieg aus dem Luxus: „Na gut, gewisse Prozesse, die automatisch funktionierten, müssen jetzt manuell angestoßen werden. Alles mit der Kommunikation mit den Bewerbern ist im Prinzip nicht mehr so luxuriös, wie es mal war. Ganzes Jammern auf hohem NiYHDX$QGHUH/lQGHUVLQGEHUJOFNOLFKPLWGLHVHP7RRO:LUVDJHQҲ1DMDZLU hatten es besserދ³ (Interviewpartner 14)
Dieser stetige Vergleich mit der alten Software zeigte, dass die Freisetzung der Handlungskapazität von SF auch immer in Relation zu bereits bestehenden oder vorangehenden Lösungen entstand und gibt Aufschluss darüber, wie neu eingeführte Softwarelösungen in ein bereits bestehendes soziomaterielles Gefüge aufgenommen werden. Wie die erläuterten Beispiele zur Hoheit des Menschen zeigten, herrschen in diesem Gefüge auch etablierte Sichtweisen auf die relationalen Positionen von menschlichen und materiellen Handlungskapazitäten. IBM Interact Die Einführung von IBM Interact war von verschiedenen Erzählungen und Gerüchten begleitet. Diese Narrative entstanden insbesondere deshalb, da das Projektteam zur Einführung der Software eine Reihe an sogenannten „Merchandising“-Aktivitäten betrieb. So benannte das Projektteam das gesamte Projekt zunächst intern mit dem Namen Tiger. Der Projektleiter, der die Idee für den Tiger hatte, beschrieb: „Das ist einfach, vielleicht hat es etwas mit Stärke zu tun und das der gut jagen kann, Sales abschließen und ja, keine Ahnung. Die Konkurrenz auffressen, nein (lacht).“ (Interviewpartner 21)
Dieser anfänglich interne Projektname wurde dann auch während der Pilotphase und der Einführung verwendet und weiterentwickelt, um Interesse für die Nutzung der Software zu erwecken. Das Projektteam verteilte Bilder von einem Ti-
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ger, die auch von anderen Vorgesetzten und von Mitarbeitern aufgegriffen wurden. Durch begleitende Erzählungen über „den Tiger“ verschwamm der Projektname immer mehr und „der Tiger“ wurde direkt mit der Software assoziiert. Der Projektleiter berichtete über die Strategie hinter diesem Vorgehen: „[W]ir brauchen ein Bild und eine Bildwelt, damit wir das gut implementieren können und haben dann eigentlich den Projektnamen als Programm genommen haben das Tool Tiger genannt und überall wirklich dann (. . .) haben ein TigerLogo entwickelt und das heißt jetzt Tiger und die Agenten, die dort arbeiten sind die ‚Tigers ދund so weiter. Dass sie da ein bisschen von, auch der Tool-Welt wegkommen und irgendwelche IBM-(. . .) nicht brauchen, sondern das ist Tiger und das war eigentlich dann meine Idee, dass man das so umsetzt, weil ich hab das bei anderen Firmen auch schon gesehen, dass das wichtig ist, dass man eine Bildwelt hat um etwas Neues einzuführen.“ (Interviewpartner 21)
Zunächst wurde in diversen Merchandising-Maßnahmen das Bild des Tigers im Callcenter verbreitet. Der Leiter der Marketing Intelligence schilderte die Beweggründe: „Weil das auch der entscheidende Teil der letzten vier Monate war: bekommen wir den Kauf der Agenten oder sagen sie, ‚ach, wieder ein Tool, ich arbeite bereits mit fünf anderen Tools und ich bekomme ein noch ein Tool, ich brauche diese, diese Tools nicht.ұ Und wir wissen gerade im Moment, dass wir sie davon überzeugen können, ja, wieder, mit diesen Präsentationen, die ich gemacht habe, dass sie überzeugt sind, hey, ja, es ist ein gutes Tool, es kann mir etwas Hilfe bringen, es kann meine Verkaufsfähigkeiten verbessern. Dann ist es eine WinWin-Situation. Ja, und das ist auch das, worauf wir uns konzentrieren müssen. Also ist die Arbeit noch nicht erledigt. (lacht) Wir sind jetzt dabei, es auszurollen.“ 49 (Interviewpartner 23)
Außerdem wurde das entworfene Tiger-Logo in das Design der graphischen Benutzerschnittstelle (GUI), also dem Interface, von IBM Interact integriert. Das GUI von Tiger sorgte für Aufmerksamkeit, denn es war die erste Benutzeroberfläche auf den Bildschirmen der Callcenter-Agenten, die bunt war. Das Design der anderen Softwareoberflächen war sehr schlicht und in Farben wie Grau, Schwarz, Weiß und dezentem Blau gehalten. Abbildung 12 zeigt die Anmeldemaske für die Agenten und das Tiger-Logo.
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Originalzitat auf Englisch.
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Abbildung 12: Tiger-Logo auf dem GUI (Quelle: Screenshot, aufgenommen während der Feldarbeit)
Neben der Farbe des GUI, das Tiger von anderen Tools abhob, wurde die Aufmerksamkeit auch außerhalb der Bildschirme auf Tiger gelenkt, indem die Figur während der Pilotphase auch in die physische Welt gebracht wurde. Beispielsweise wurde das Logo des Tigers auf Notizbücher gedruckt, die dann auf den Bürotischen der Agenten lagen (vgl. Abbildung 13). Die immaterielle Software IBM Interact wurde durch diese Verbreitung sichtbar am Arbeitsplatz und gelang auch die echte Welt, die zuvor den Menschen vorbehalten war. Daneben wurde Tiger auch in eine physische Gestalt gebracht und dadurch wie die menschlichen Mitarbeiter körperlich präsent. Konkret wurde in der Pilotphase eine Statue des Tigers entworfen und in den Innenhof des Unternehmens gestellt. Von den Fenstern der offenen Großraumbüros des Callcenters hatten die Agenten freien Blick auf den Innenhof und die Statue. Abbildung 14 zeigt die Tiger-Statue, die im Innenhof stand. Zu dieser Zeit konnten lediglich die Agenten, die als Key User von IBM Interact in der Pilotphase beteiligt waren, die Bedeutung der Statue wirklich der Software zuordnen, da die Mehrheit der Agenten die Software noch nicht nutzte. Für die anderen Callcenter-Agenten war die Statue also eher eine Ankündigung und brachte die Software vorab ins Gespräch.
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Abbildung 13: Notizbuch mit Tiger-Logo (Quelle: eigene Fotografie, aufgenommen während der Feldarbeit)
Abbildung 14: Tiger-Statue im Innenhof (Quelle: eigene Fotografie, aufgenommen während der Feldarbeit)
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Abbildung 15: Tiger-Pokal auf dem Bürotisch (Quelle: Präsentation Kommunikation Teamleiter, S. 12)
Daneben wurde die Figur des Tigers in den Narrativen und durch die Merchandising-Artikel immer mehr mit der Leistung der Callcenter-Agenten verknüpft. Dieses Vorgehen forcierte die Auffassung, dass die Agenten mit Tiger gemeinsam besser und stark werden konnten. Den Agenten, die die Software noch weniger nutzten, wurde signalisiert, dass sich die Nutzung lohnte. Unter den Merchandising-Artikeln waren z. B. zwei goldene Tiger-Pokale (vgl. Abbildung 15) für diejenigen Agenten, die Tiger besonders intensiv nutzten und dabei auch eine hohe Anzahl an Verkäufen erzielten. Außerdem wurden auf den großen Monitoren in den Callcenter-Hallen Bilder aufgespielt, die die leistungsstarken Anwender von Tiger zeigten, wie sie im Innenhof auf dem Tiger ritten. Die Idee der physischen Tigerfigur wurde auch in der Learning-Abteilung aufgegriffen, die für die Pflichtschulung aller Agenten zu Beginn des Rollouts von IBM Interact verantwortlich war. Hier wurde erstmals deutlich, dass die Art und Weise, wie der Tiger dargestellt wurde, für die Bezugnahme der Callcenter-Agenten zur Software eine Rolle spielte, die überdies doppeldeutig war und die Grenzen zwischen menschlichen Callcenter-Agenten und Software verwischte. Bislang war die Software als Tier dargestellt, der Tiger war leicht stilisiert, sein Blick eher streng und zielgerichtet. Diese Tigerfigur vermittelte, dass die Software zwar lebte, jedoch anders als ein Mensch war. Das Bild wurde in den verpflichtenden Einführungsschulungen zu IBM Interact, den sogenannten StepUps, verändert. Der Tiger wurde einerseits im Aussehen vermenschlicht, also anthropomorphisiert, und die Software dadurch auch näher an den Menschen gerückt. Die Trainerin stellte eine lebensgroße menschenähnliche Pappfigur eines
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Tigers im Schulungsraum aus (vgl. Abbildung 16). Im Schulungskontext sah die Figur selbst dabei auch viel menschlicher aus: der Tiger hatte grüne Augen, blondes Haar, trug auf den Abbildungen genauso wie die ebenfalls auf einem Poster abgebildete Callcenter-Agentin ein blaues Kurzarmhemd und Jeans. Auch verliehen die Trainer der Figur hier menschliche Mimik und Gestik: Tiger lächelte stets freundlich, stand entweder auf zwei Beinen oder saß mit Headset am Bürotisch vor dem Computer. Auf der anderen Seite kann diese vermenschlichte Tigerfigur als Form von Zoomorphismus gedeutet werden: Indem menschliche Akteure als Tiere dargestellt wurden, fand eine Art Entmenschlichung der Callcenter-Agenten statt. Diese Interpretation wurde durch die Beschreibung des Projektleiters der Callcenter-Agenten als „Tigers“ (Interviewpartner 21) unterstützt.
Abbildung 16: Tiger-Figur im Step-Up (Quelle: eigene Fotografie, aufgenommen während der Feldarbeit)
Das Wechselspiel zwischen Anthropomorphismus und Zoomorphismus in der Darstellung des Tigers und der Software war verknüpft mit einigen Narrativen, die sich um die Software bildeten. So stand die Implementierung von IBM Interact als neues Tool, das einen wesentlichen Teil der Hauptaufgabe der CallcenterAgenten, nämlich des Verkaufs, automatisierte, in enger Konnotation mit der Automatisierungsbedrohung, d. h. der Furcht der Callcenter-Agenten, sie könnten durch automatisierte und autonom arbeitende Maschinen ersetzt werden. Dieses Narrativ fand sich in den Interviews mit Managern, Teamleitern und Agenten
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wieder. Zu Beginn der Pilotphase fühlten sich die ersten Key User überflüssig und empfanden die Implementierung als weiteren Schritt hin zu einer Bedrohung ihrer Beschäftigung: „Also ganz, ganz böse gedacht von mir, habe ich das Gefühl, dass es uns hier am Telefon immer weniger brauchen wird. Weil so viel gemacht wird und der Kunde von so Vielem profitieren kann, was wir schon können, denke ich, dass wir hier sozusagen aussterben werden. Allgemein, überall, auch für andere Firmen. Durch diese Tools werden wir Arbeiter so aussterben.“ (Interviewpartner 18)
Diese Angst bildete sich heraus und hatte zur Folge, dass Tiger anfangs nicht sehr intensiv genutzt wurde und der Datenfeed und die Verbesserung der Algorithmen sehr gering waren. Die Manager passten ihre Erzählungen über den Bezug von Tiger zu den Agenten daraufhin an, um das verbreitete Narrativ der Ersetzung der menschlichen Arbeit unter den Agenten selbst zu überwinden: „Bei der Einführung wurde nicht mit Bedacht vorgegangen und man hat, oder irgendwelchen Leuten ist, oder die haben das so gebracht. Ich weiß nicht, wer das gewesen ist, ich habe das von Anfang an, habe ich das nicht begleitet, das von der ersten Stunde an. Aber man hatte das so verkauft, wie Tiger übernimmt die Arbeit, ja. Das war vollkommen falsch, das war ein Kardinalfehler, dass mussten wir dann später in den Wochen dann revidieren, recht häufig mit dem Mitarbeiter zusammen. Genau das wollten sie nicht, die Leute, die verkaufen konnten, wollten zeigen, dass sie verkaufen können, ja. Also man musste auch (. . .) Man musste anders argumentierten, dem Mitarbeiter, dem Agenten hier klar machen, dass sie die Verkäufer sind, aber hey, die haben jetzt ein Tool, und das Tool ist eine Hilfe, also benutze es doch, oder? Ist eine gute Sache.“ (Interviewpartner 27)
Wie das Zitat zeigt, machten die Manager Tiger in ihren Erzählungen zu einem unterstützenden Werkzeug als Reaktion auf die negative Akzeptanz des Tools und die niedrigen Nutzungszahlen. Sie passten die Schulungen und die Rhetorik zu Tiger an und definierten die Beziehung zwischen den beiden Polen Mensch versus Maschine neu. Die späteren Anwender nahmen Tiger dann als „Unterstützung“ für ihr Handeln wahr. Nach dem Rollout interpretierten aber sogar die Key User Tiger nicht mehr als Ersatz der eigenen Arbeit, sondern als Instrument, das ihre menschlichen Kompetenzen erweitert. Der Manager des Callcenters beschrieb diese Relevanz der Erzählungen über Tiger bei dieser Kehrtwende anschaulich: „Es ist aber, wir mussten uns, und das ist vielleicht ganz wichtig, das ist, ich denke, wie man so schön sagt, das ist crucial, man darf dem Mitarbeiter nicht das Gefühl geben, dass ein Tool diese Arbeit, diese Verkaufsarbeit übernimmt. Das tut es nicht. Das tut es erstens nicht und zweitens wäre das der falsche, das
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ist die falsche Inklination zum Thema (. . .) Und viele Mitarbeiter haben gemeint, sie kriegen einen Tool und das Tool verkauft für sie (. . .) Und das wollten die Leute nicht, also sie wollten verkaufen, sie selber wollten die Erfolgsstorys schreiben, ja. Und das ist noch lustig, dass die Mitarbeiter sich doch nicht so in einer Komfortzone sich bewegen, in der sie denken, ha ja, das ist ja cool, oder das System gibt es da, das übernimmt für mich (. . .) So ist es eben nicht, es ist für uns eine Art Wegleitung, Wegbegleiter im Verkauf, der ihnen sehr, sehr viel abnimmt, ja. Aber ich meine man könnte den Tiger eigentlich auch so verkaufen, ja? Könnte sagen, ja, nee, ihr müsst jetzt nicht mehr viel machen.“ (Interviewpartner 27)
Die zunächst durch Narrative geschürte Angst, dass Mitarbeiter durch Tiger ersetzt werden könnten, erforderte intensive Überzeugungsarbeit, dass IBM Interact eben auch nur ein Tool war, das menschliche Arbeit unterstützen sollte. Erst auf diese proaktiv gezogene Grenze und Distanzierung hin öffneten sich die Agenten der Software und begannen, sie zu nutzen. Die Abgrenzung diente somit dazu, materielle Handlungskapazität überhaupt erst zu zulassen. Ein Teamleiter erzählte von dieser Überzeugungsarbeit, die seitens des Managements und der Führungskräfte geleistet werden musste, so dass Tiger überhaupt genutzt wurde: „Am Anfang war das hart – wie gesagt –, weil man kannte das Tool nicht. Einige Mitarbeiter hatten das Gefühl, man wolle jetzt den Mitarbeiter austauschen mit diesem Tool; bis wirklich (überlegt) das (überlegt) klar war, dass es nicht irgendwie um menschlichen Ersatz geht, sondern, es geht ja wirklich nur um Unterstützung. Es geht ja nur darum, dass man halt eben – wie ich vorhin schon gesagt habe – das Bedürfnis vom Kunden besser kennen kann. Und die Anlaufschwierigkeiten, die hat man gespürt – ganz klar –, aber mit der Zeit mit dem Coachen, mit den regelmäßigen Gesprächen, die man dann mit dem Mitarbeiter geführt hat, hat man dann immer mehr gesehen oder gespürt, wie sich der Mitarbeiter öffnet zu diesem Tool. Also heute ist es wirklich – denke ich – weniger das Problem, was vor ein paar Wochen, Monaten (. . .) Wenn man halt über Tiger spricht, dann weiß auch: Okay, es geht um eine Unterstützung und nicht irgendwie um einen strategischen Hintergedanken.“ (Interviewpartner 28)
Ein großer Teil der Narrative über Tiger und über die Beziehung dieser starken Software zum menschlichen Callcenter-Agenten verbreitete sich über die StepUps. Hier wurde z. B. sehr deutlich erklärt, was Tiger kann und wo die Grenzen sind (Schulungsunterlagen, S. 5). Dieses offene Kundtun über die Beschränktheit der Software war sehr wichtig, um die menschliche Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Auch für die Agenten selbst war dieses Narrativ sehr wichtig, dass Tiger ihre menschlichen Fähigkeiten nicht ersetzen konnte: „Weil, es fängt immer noch bei uns an. Es kommt immer noch darauf an, wie wir das rüberbringen am Kunden.“ (Interviewpartner 25)
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Im Step-Up wurde gleichzeitig aber auch die Verhaltensweise der Agenten gegenüber der Software, also deren Beziehung geprägt. So adressierten die Erklärungen der Trainerin auch die gewünschte Verhaltensweise der Agenten durch Klicks während der Interaktion mit dem Kunden. Auch die eigene Verhaltensweise der Trainer in den Schulungen und Interaktion mit dem Tiger-Interface führte einen vorsichtigen und sorgfältigen eigenen Umgang mit Tiger vor. Die Trainerin wies mehrfach darauf hin, dass sie während der Vorführung selbst nicht auf die Angebote klicken durfte, da Tiger jeden Klick speicherte und bei falschen oder unechten Klicks falsch lernte (Memo Step-Up). In den Schulungsunterlagen, die nur von Trainern intern als Leitfaden für die Schulungen genutzt werden, steht dazu auch mehrfach durch rote Schriftfarbe hervorgehoben: „Wichtig: Da wir uns in der Live Umgebung befinden, dürfen auf keinen Fall Änderungen gespeichert werden!“ (Schulungsunterlagen, S. 6) oder „Auf keinen Fall speichern!“ (Schulungsunterlagen, S. 14). Durch diese Narrative und die oben beschriebenen, begleitenden Merchandising-Maßnahmen zu Tiger bei der Einführung und in den Schulungen, etablierte sich allmählich die Vorstellung, dass die Software menschliche Züge haben könnte, die Callcenter-Agenten jedoch die Hoheit genossen. Ein Teamleiter beschreibt den Anthropomorphismus, den das Management mit der Erfindung von Tiger betrieb, sehr zielgerichtet: „Also Tiger ist natürlich (überlegt) vollkommen ins Leben gerufen worden.“ (Interviewpartner 28)
Durch die oben ausgeführten unterschiedlichen anthropomorphischen und zoomorphischen Konzeptualisierungen verwandelte sich die menschliche Bezugnahme von gefährlicher Nähe (und allzu starker Menschenähnlichkeit) in eine akzeptable Distanz zu einem Tool, das Arbeit unterstützte und durch das die eigene Leistung verbessert werden konnte. Doch diese Leistungsverbesserung hing ab von der Pflege und einem Kümmern um die Software. Wie sich durch den Anthropomorphismus eine neuartige Sozialität gegenüber der Software entwickelte, wird im nachfolgenden Abschnitt genauer beschrieben. 4.1.2.3
Technikzentrierte Sozialität
Verbunden mit den Narrative und Konzeptualisierungen der Software im Vergleich zum Menschen stand, wie sozial menschliche Akteure mit der Software umgingen. Es bildeten sich unterschiedliche Formen von Sozialität heraus, die der Technik von den Nutzern entgegengebracht wurde. Diese Sozialität wurde in der Art und Weise sichtbar, wie sich die menschlichen Akteure um die Software kümmerten, also im fürsorglichen oder egoistischen Umgang mit der Software. Die technikzentrierte Sozialität war vor allem bei IBM Interact sichtbar. In diesem
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Fall veränderte sich mit den oben ausgeführten unterschiedlichen anthropomorphischen und zoomorphischen Konzeptualisierungen die menschliche Bezugnahme. Der Mensch war überlegen, die Software aber sozial ebenbürtig und auf eine gewisse Pflege angewiesen. Bei SF war diese Sozialität gegenüber der Software nicht sichtbar beziehungsweise wurde sogar verneint. SF SF war zwar objektiv gesehen in die sozialen Prozesse im Unternehmen mit einbezogen und hatte eine aktive Rolle, die Software wurde allerdings von den Nutzern nicht als sozialer Akteur wahrgenommen. 50 So war die Nutzung meist nicht im Zentrum, wurde in vielen Fällen, etwa bei Performance-Gesprächen, sogar durch Reminder nachgehalten. Die Personalmanager bezogen die Software also aktiv nicht in soziale Prozesse mit ein und schrieben ihr eine untergeordnete Rolle zu: „Ich würde eigentlich schon sagen, dass es ziemlich fair ist, weil letztlich die Entscheidung nicht aufgrund dessen getroffen wird, dass irgendwas im Tool nicht passiert ist oder dass irgendwer im Tool untergegangen ist, sondern schon auf Basis von Sachen, von so harten Fakten wie Lebenslauf oder eben, wie einfach das Interview gelaufen ist. Nur es wird halt viel am Tool vorbeigemacht und viel am Tool vorbeigesprochen und kommuniziert. Ja, d. h. so entscheidende Informationen fließen vielleicht gar nicht unbedingt über das Tool.“ (Interviewpartner 8)
Diese fehlende Einbindung von SF in die meisten Prozesse und das Vorenthalten von Informationen war auch darin ersichtlich, dass die Software die Ausführung von Personalmanagementprozessen unterstützte und somit der Ausübung menschlicher Handlungskapazität dienlich war. Die Personalmanager sahen dabei sehr deutlich menschliches Handeln im Zentrum, sonderten sich selbst von der Software ab und stellten eine vollkommene Trennung zwischen menschlichem, sozialem Handeln und der Rolle der Software her: „Sie diskutieren über die Performance vom Mitarbeiter, und das Tool bietet Ihnen einfach die, die, die Grundlage, oder sagen wir die Rahmenbedingungen zur Diskussion, aber nicht zu dem Inhalt. Weil am Ende ist der Prozess, der von der Firma definiert wird, und die Performance des Mitarbeiters bestimmend für den Bonus, nicht das Tool. Das Tool ist ein Hilfsmittel.“ (Interviewpartner 11)
50
Die aktive Rolle von SF drückte sich insbesondere in ihrer Handlungskapazität auf dem Grad der „verändernden Wirksamkeit“ (Rammert, 2016, S. 148) aus. Wie SF konkret in hybridem Handeln beteiligt war, wird in Abschnitt 4.3 beschrieben.
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Daneben beschrieben die Personalmanager auch klare Grenzen der Handlungskapazität der Software und machten deutlich, dass eine Ebenbürtigkeit zwar im Sinne einer Erfüllung weiterer (menschlicher) Aufgaben erwünscht, aber eben schlicht nicht vorhanden war. Ein Personalcontroller beschrieb die seiner Ansicht nach deutlich begrenzte Handlungskapazität der Software folgendermaßen: „Man pflegt das eine Tool und macht einen Teil der Arbeit dort und dann muss man das Tool wieder wechseln und sagen: ‚Ja, der Rest erfolgt in diesem Tool.ދ Hat uns im Prinzip auch nicht weitergebracht. Klar, für die persönlichen Ziele ist jetzt (. . .) noch das in Ordnung und ist auch absolut tauglich. Aber den Rest kann es nicht. Also eigentlich hätte das Tool auch die anderen Arbeiten übernehmen müssen.“ (Interviewpartner 14)
Die empirischen Daten zeigten, dass die Nutzer von SF nicht der Technik wegen, sondern zur Aufrechterhaltung der Prozesse mit der Software interagierten (z. B. Daten korrekt pflegten, um verlässliche Dokumentationen zu haben). IBM Interact IBM Interact erweckte durch die kontinuierliche Interaktion, die Narrative als „lernendes System“ und die stetig geforderte Einspeisung von Daten über Klicks eine soziale Umgangsweise seitens der Agenten. In den Step-Ups fand eine deutliche Abgrenzung der materiellen Handlungskapazitäten von Tiger statt, aber es wurde auch deutlich, dass IBM Interact auf menschliche Unterstützung angewiesen war, da es sonst nicht arbeiten konnte: „Was Tiger nicht kann/macht: [Hervorhebungen im Original] Unsere Produkte automatisch verkaufen ohne menschliche Hilfe und Kommunikation, Er engt keine Top Verkäufer ein, sondern ist eine tolle Hilfestellung für alle Verkäufer“ (Schulungsunterlagen, S. 5 f.).
Die anthropomorphisierende Darstellung von Tiger spiegelte sich zunächst auch darin wider, wie über die Software gesprochen wurde. So wurde beispielweise immer wieder von einem „Er“ gesprochen, z. B. „[j]a, da er ja eine Stütze ist“ (Interviewpartner 27). Der Software wurden folglich menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben, vor allem aus dem kognitiven Bereich, z. B. die Fähigkeit zu lernen und denken: „[M]ittlerweile denkt Tiger fast so mit, wie wir Mitarbeiter, auch da ist er wirklich gut. Was der Unterschied ist, Du kannst es nicht sagen, weil Tiger bringt nicht alle Angebote für den Kunden, das kannst Du nicht immer sagen. (. . .) Es gibt Sachen beim Tiger, wo ich schon den Kunden nicht so anbieten kann, außer
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Tiger sagt, okay, dem kannst Du eine Promotion anbieten, dann ist es ein Vorteil. (. . .) [I]ch habe jetzt mittlerweile auch viel Erfolg mit dem Tiger gehabt.“ (Interviewpartner 19)
Daneben entstand auch ein Verantwortungsgefühl der Agenten für Tiger. Sie fühlten sich zuständig, die Software zu benutzen und durch Klicks Daten einzuspeisen. Dieses Verantwortungsgefühl wurde von den Agenten sogar so weit internalisiert, dass sie immer wieder die Angewiesenheit von Tiger auf ihre Unterstützung betonten: „Deshalb sind wir jetzt in dem Projekt und wir müssen den Tiger füttern mit Informationen; wir müssen ihm helfen immer wieder.“ (Interviewpartner 18) „Ja, ich meine, wenn Kunde, wenn nur Plus Trio oder Plus Duo empfohlen wird und Kunde braucht das alles nicht und ich merk das, dann verkaufe ich ihm das Mini Trio. (. . .) Steht zwar nicht drin, aber zumindest hab ich etwas verkauft. So muss er [der Kunde] mehr bezahlen,(. . .), klar bewegt er sich, so ein Tiger, meint, er [der Kunde] braucht das. Darum muss Tiger auch noch lernen oder? Und darum ist es auch wichtig, dass wir Tiger benutzen. Weil ohne das kann Tiger nicht die Infos aufnehmen.“ (Interviewpartner 25)
Ein Grund für die andauernde Fürsorge gegenüber der Software in diesem Zeitraum lag vermutlich darin, dass die Agenten auch miterleben konnten, wie sich die Verkaufsvorschläge zwar veränderten, aber noch nicht perfekt zu den Kunden passten. In solchen Momenten ging die Fürsorge sogar so weit, dass die Agenten Entschuldigungen für die noch nicht ganz ausgereifte Funktionsweise von Tiger anführten: „[J]a, aber wir hatten vor Kurzem schon, das war letzte Woche, eine Menge Informationen gegeben, durch die (. . .) Tiger gefüttert wurde, deshalb bringt er jetzt diese Angebote, aber er ist ein wenig oberflächlich.“ (Interviewpartner 26) „Ist ja noch ein Baby-Projekt, also von dem her. Ich denke, wenn es schlauer wäre, könnte es schon hilfreich sein, weil es hat wirklich viele Informationen, die der Mitarbeiter im Voraus ja nicht wirklich weiß.“ (Interviewpartner 17)
Auch wurden hier etwaige Fehler, die sich in der Arbeit mit der Software ergaben, auf den Menschen zurückgeführt und nicht auf Tiger. Dies lag begründet in der Annahme der menschlichen Überlegenheit: „Da wo ein Mensch dahinter schafft, passieren die meisten Fehler. Weil den Computer hat ja der Mensch entworfen und der Mensch hat auch den Computer programmiert und deshalb ja, ist halt immer nicht der Computer schuld, sondern auch der Mensch, oder der Computer kann mal etwas falsch machen, das ist so.
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Meistens da wo Menschen arbeiten, passieren Fehler und das müssen wir auch in Kauf nehmen und für das hat jeder Verständnis.“ (Interviewpartner 16)
Daneben wurden Tiger auch fortlaufend menschliche soziale Eigenschaften zugeschrieben. Folglich wurde eine Art Sozialverhalten der Software selbst suggeriert. Ein Agent bezichtigte Tiger z. B. als nicht fair, da hochpreisige Produkte als erste Option angezeigt wurden: „Es gab viele Kunden, das sind ältere Damen und ältere Herren, das ist z. B. Jahrgang 35. Die erste Option ist immer Supertrio gewesen, die teuerste Option. Es macht keinen Sinn, eine 500er Leitung mit einem so teuren Abonnement einer pensionierten Frau anzubieten. Erstmal weiß sie nicht, wie sie das installiert, zweitens Mal sie braucht einen Installateur, das ist so komplett unfair.“ (Interviewpartner 30)
Ab einem gewissen Zeitpunkt begannen die Agenten jedoch auch umgekehrt, Tiger in die Verantwortung zu nehmen. Eine Agentin wies z. B. sehr beleidigt auf die fehlende Zuverlässigkeit von Tiger hin und zeigte, wie sie die Software in diesen Fällen aus Trotz als Ratgeber ignorierte, also eine Form von (vorübergehender) sozialer Ächtung an den Tag legte: „Wenn Tiger nicht funktioniert, dann [. . . nervt] mich das an und ich sage: Gut, dann frage ich den halt nicht, ist okay.“ (Interviewpartner 18) 51
Interessanterweise beschränkte sich die technikzentrierte Sozialität gegenüber Tiger auf die Nutzer im Callcenter. Der Projektleiter der IBM Interact-Einführung, der die erste Idee zum Tiger hatte, machte z. B. seine eigene sehr distanzierte und rationale Sichtweise auf das Existenzrecht „des Tigers“ deutlich: „Und wenn sich natürlich herausstellt, dass die Verkaufsquoten nicht steigen, dann ist das ein Nachteil, dass Sie dies eingeführt haben (lacht). Dann nehmen wir ihn wieder weg. Dann schalten wir den Tiger ab, dann kommt der Elefant, etwas Neues.“ (Interviewpartner 21)
Die Mitglieder des Projektteams, die näher an der technischen Seite von IBM Interact standen, die Nutzung auf Basis der Reports kontrollierten und die Optimierung der Algorithmen verfolgten, waren ihrer eigenen Schöpfung gegenüber somit weniger sozial eingestellt und sich deren beschränkten Handlungsfähigkeit bewusst.
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Zitat aufgrund eines Vulgärausdrucks im Original geglättet.
4.1 Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
4.1.2.4
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Zusammenfassung: Herausbildung einer Vorstellungswelt
Die vorangegangenen Beschreibungen haben gezeigt, dass ein Teil der Aushandlung von Beziehungen und Grenzen in der Vorstellungswelt von Menschen über materielle Handlungskapazität geschah. Bei SF war die Funktionsweise relativ klar und die Rhetorik um das Tool sehr vom Vergleich mit seinem Vorgänger geprägt. Gleichzeitig herrschte Einstimmigkeit unter den Nutzern, dass die Software ein Werkzeug und Hilfsmittel für die Erfüllung menschlicher Tätigkeiten war. Diese Vorstellungswelt wurde durch materiell-visuell-diskursive Praktiken formiert und angepasst, indem die Callcenter-Agenten ihre eigene Handlungskapazität in Relation zu dieser (vorgestellten) materiellen Handlungskapazität setzten. Teil dieser materiell-diskursiv-visuellen Praktiken war zunächst der offene oder geschlossene Umgang mit der technischen Funktionsweise. Mit zunehmend avancierter Technik stieg der Umgang mit ihr als Blackbox, was zusätzliche Vorstellungen und Interpretationen der Software hervorrief. Insbesondere die Verkörperung der Software in der Tigergestalt und deren physische Präsenz im Callcenter brachten zusätzliche Aufmerksamkeit und führten zur Auseinandersetzung mit der Rolle der Software. Die Vermenschlichung des Tigers bzw. der Software (Anthropomorphismus) und die Entmenschlichung der Callcenter-Agenten durch ihre Darstellung als Tiger (Zoomorphismus) verwischten die Grenzen zwischen den Polen Mensch und Technik. Als Reaktion hinterfragten die Callcenter-Agenten ihre Beziehung zur Technik. Durch die vom Management angepassten Narrative und das Merchandising entwickelte sich eine technikzentrierte Sozialität gegenüber der Software. Aufgrund der Wahrnehmung der Technik als sozial sahen sich die Callcenter-Agenten selbst in der Verantwortung, deren Entwicklung zu fördern. 4.1.3
Zwischenfazit
Die vorangegangen Ausführungen haben gezeigt, wie in sozialen Dynamiken Beziehungen und Grenzen zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität ausgehandelt werden. Diese Aushandlung geschieht in Form von materiellvisuell-diskursiven Praktiken, welche in der Arbeit verschiedener involvierter Gruppen (z. B. Manager, Nutzer) entstehen und nicht voneinander losgelöst betrachtet werden können. Diese Praktiken wirken in zwei Bereichen aufeinander ein, die sich dadurch gegenseitig verursachen (vgl. Abbildung 17).
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Soziale Dynamiken
Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen
Konfiguration materieller Handlungskapazität
Technische Darstellung
Nutzungskontrolle
Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
Narrative & Merchandising
Blackboxing
Technikzentrierte Sozialität
Abbildung 17: Soziale Dynamiken: Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
1.
2.
Auf der einen Seite wird materielle Handlungskapazität in Praktiken konfiguriert und ein bestimmter Handlungsspielraum festgesetzt. Dies geschieht durch die technische Darstellung der Funktionen der Software einerseits und die Etablierung bestimmter fixer Formen der Nutzung durch regelmäßige Kontrolle andererseits. Auf der anderen Seite wird der Umriss für die Beziehungen und Grenzen zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität in einer Vorstellungswelt von Menschen darüber etabliert, was die jeweilige materielle Handlungskapazität ausmacht. Auf Basis dieser Vorstellung setzen sich menschliche Akteure in Bezug zur Software. Je mehr menschliche Fähigkeiten hier der materiellen Handlungskapazität zugeschrieben werden (Anthropomorphismus), desto stärker kann die Ablehnung sein. Dies geschieht, wenn zu große Ähnlichkeit als Bedrohung für die eigene Ausübung von Tätigkeiten empfunden wird. Gleichzeitig können durch diese Menschenähnlichkeit gerade bei lernenden Algorithmen und sich entwickelnden Systemen eine technikzentrierte Sozialität und ein Verantwortungsgefühl der Technik gegenüber entstehen. Sehr deutlich sichtbar wurde gerade diese technikzentrierte Sozialität gegenüber lernenden Algorithmen im Kontrast zu traditionellen. Bei letzteren war klar, dass sie überschaubar und dem Menschen als Werkzeug dienlich sind, so dass die Überlegenheit menschlicher Handlungskapazität vorausgesetzt wurde.
Tabelle 7 zeigt weitere illustrative Beispiele aus den Interviewdaten zu den jeweiligen empirischen Themen und Kernkonzepten, die bei der Aushandlung von Beziehungen und Grenzen identifiziert wurden. Die erläuterten sozialen Dynamiken ermöglichen, dass materielle Handlungskapazität überhaupt erst „ins Spiel“ kommen kann. Wie aber kommt es zu einer Hybridisierung zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität? Um diese Frage zu beantworten, wird der Blick im nächsten Abschnitt auf die Mechanismen gelenkt, die der Verflechtung von menschlicher und materieller Handlungskapazität in der Nutzung der Software zugrunde liegen.
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
4.2
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Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
Verschiedene Mechanismen trugen in den Einführungsphasen zur Instanziierung von hybriden Praktiken bei, die sich aus menschlicher und materieller Handlungskapazität zusammensetzten. Durch eine Verhedderung, also einer bindenden und schwer rückgängig zu machenden Verflechtung beider Handlungskapazitäten kam es zu einer Handlungshybridisierung. Dabei ließen sich aus den empirischen Daten drei Kernmechanismen identifizieren, die auf die Hybridisierung von Handlungskapazitäten hinwirkten:
Erstens fand eine wechselseitige Integration statt, innerhalb derer die Akteure einerseits die technische Funktionsweise erschlossen und davon Gebrauch machten und sie andererseits in bestehende Artefakte und Praktiken eingliederten.
Tabelle 7: Illustrative Daten zu den sozialen Dynamiken Kernkonzept Konfiguration materieller Handlungskapazität
Empirische Themen und illustrative Beispiele Technische Darstellung SF: „Was dann ist, bei solch großen Projekten, wenn ich etwas ändern will oder was testen will oder ergänzen will, sind natürlich die Wege extrem weit. Mit unserem lokalen Tool: ein Telefon, zwei Stunden später haben wir was bewegt. Das geht natürlich nicht mehr, ist mir auch klar. Aber das ist natürlich schmerzhaft, wenn man zuerst den Luxus hat und dann zurück muss.“ (Interviewpartner 14) „Wir hatten vorher die Situation, dass wir sehr wirklich Custommade hatten, das hat dazu geführt, dass wir jedes Jahr wieder Erinnerungen gemacht haben, heute ist es halt ein standardisiertes Tool. Ja, manchmal wäre es schön, wir hätten die Möglichkeiten, noch ein bisschen für uns spezifischer Anpassungen zu machen, aber ich glaube, wir haben uns mittlerweile auch ein stückweit dran gewöhnt.“ (Interviewpartner 7) IBM Interact: „Also man hat den Kundennamen, was für ein Ranking er hat, ob er High and Low Kosten Value hat, dann welche Produkte er bereits besitzt, wie viel er bezahlt. Wie viel er Internet braucht, Mobile braucht und so weiter. Das sind verschiedene Datenquellen, die zusammengeführt werden mussten, damit man das auf einer Plattform sieht oder einem GUI für den Agenten. Also das war relativ, eine große Geschichte, wir sind auch schon seit mehreren Jahren dran, das aufzubauen. Das ist eigentlich die technische Sache. Das ist immer noch auch teilweise ongoing, also die Entwicklung ist noch nicht vollendet, das wird dann eben im Laufe der nächsten Wochen dann finalisiert.“ (Interviewpartner 21)
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Nutzungskontrolle SF: „Ich habe ja schon fünf Anläufe gemacht und sie haben sich auch Mühe gegeben. Aber das, was geliefert wurde, war nicht tragbar. Und das ist natürlich schon erschreckend. Einer der Standardreports, die im Prinzip der Programmierer in ein, zwei Stunden implementiert hat bei uns im Tool, bringen die nicht zustande. Es gibt keine vernünftigen Reports, Publikationen usw., die wir gebrauchen können, um Querverrechnungen zu machen. Ich weiß nicht, liegt das an der Komplexität des Tools oder, ich sage es mal so, an den Fähigkeiten der Leute? Keine Ahnung.“ (Interviewpartner 14) IBM Interact: „Wir haben die Nutzungsleistung gemessen, wie war der Prozentsatz der Nutzungskosten für die gesamten Gruppen und auch innerhalb der Gruppen auf Agentenebene. Und dann haben wir gesehen, dass das Linienmanagement in den Call-Centern die Nutzung aktiv vorantreiben muss, denn wenn die Nutzung gering ist und wenn es nur in zehn Prozent der Anrufe genutzt wird, dann liegt der zusätzliche Umsatzzuwachs, den dieses Tool bringen wird, nur bei zehn Prozent. Unter dem Strich wirst du es also gar nicht bemerken, denn es ist nur bei zehn Prozent (. . .) was unten übrig bleibt, ist nichts. Aber deshalb ist die Nutzung ein wichtiger Faktor. Und dort haben wir bereits gesehen, (. . .) wir brauchen eine aktive Steuerung (. . .) über die Nutzung.“ (Interviewpartner 23) 52 „Die niedrige Nutzungsrate von Tiger – ist auf 7% gestiegen nach korrigierenden Maßnahmen in Woche 11, aber ist immer noch zu niedrig.“ (Präsentation zur Teamleiterkommunikation, S. 9)
52
Originalzitat auf Englisch.
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen
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Blackboxing SF: „[A]lso klar, wir müssen da immer darauf achten, dass sie auch wirklich wissen, auch vor allem der Mitarbeiter weiß, wer sieht eigentlich sein Zeug.“ (Interviewpartner 6) IBM Interact: „Also die technische Ebene ist relativ kompliziert, weil tatsächlich ist es so, dass Tiger eine Plattform ist, wo man sehr viele Informationen hat.“ (Interviewpartner 21) „Also einerseits ist es so, ich kenne die Details auch nicht genau, aber im Grundsatz hat man bestehende Daten, die man anschaut und dann hat man auch ein Cockpit, das man steuern kann.“ (Interviewpartner 21) Narrative und Merchandising SF: „Wenn man was hat, da im Prinzip Einem auf den Leib geschnitten ist und das man gewohnt ist und mit dem man zufrieden ist und man bekommt was Neues, dann vermisst man irgendwo den Wow-Effekt. Also wenn es weniger kann als das vorhergehende, fragt man sich natürlich berechtigterweise: Was soll das?“ (Interviewpartner 14) IBM Interact: „Durch das Anwenden dieser Angebote lernt Tiger immer weiter dazu.“ (Schulungsunterlagen, S. 4). „Tiger ist ein Hilfstool und wir machen hier auch nicht mehr draus. Also wir bauen hier nicht irgendwie, also es ist einfach ein Hilfstool, eine gute Geschichte. Und wenn es auch stresserleichternd ist für den Mitarbeiter, ist es umso besser. Ja.“ (Interviewpartner 27) Technikzentrierte Sozialität SF: „Das Tool ist ja nur unterstützend.“ (Interviewpartner 14) IBM Interact: „Wir vertrauen jetzt dem einfach mal. Können wir nicht. Stimmt ja auch oftmals nicht, was der Tiger sagt.“ (Interviewpartner 18)
Zweitens konnte beobachtet werden, wie Handeln in Richtung einer hybriden Form neu ausgerichtet wurde. Bei dieser Neuausrichtung war vor allem die Identitätsarbeit der menschlichen Akteure bestimmend sowie eine (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten zwischen Mensch und Technik. Drittens und zuletzt stellte sich deutlich heraus, dass menschliche Handlungskapazität, unabhängig vom Fortschritt der Technik, hybrides Handeln orchestrierte. Für diese Orchestrierung war relevant, dass digitale Informationen in den realen Kontext übersetzt wurden und auch eine Art Rückübersetzung in der Abbildung von Realität stattfand. Außerdem sprangen menschliche Akteure regelmäßig ein, um etwaige Unzulänglichkeiten der Technik auszugleichen und zu reparieren.
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Abbildung 18 zeigt die Kernmechanismen der Handlungshybridisierung, die zu einer Verfestigung der Verflechtung im Gebrauch von Technik führten. In den nachstehenden Abschnitten wird auf diese Inhalte und die Kernmechanismen näher eingegangen und dabei aufgezeigt, wie genau sich die Verhedderung gestaltete.
Abbildung 18: Kernmechanismen der Handlungshybridisierung – Überblick
4.2.1
Integration
Bei der Einführung der neuen Softwarelösungen wurde deutlich, dass diese jeweils auf ein bereits bestehendes soziomaterielles Gefüge stießen, also ein etabliertes Zusammenarbeiten zwischen menschlichen und materiellen Handlungskapazitäten in bestehenden Artefakten und Praktiken. Die neue Technik wurde dabei zunächst in dieses bestehende System integriert, indem die menschlichen Akteure ihre Funktionsweise erschlossen und davon spezifisch Gebrauch machten. Dabei wurden die neuen materiellen Handlungskapazitäten auch mit den bestehenden Artefakten abgeglichen und in die etablierten Praktiken integriert. Diese Formen der Integration waren ein erster Schritt zur Hybridisierung von Handeln. Sie stellten eine Art Lock-In dar, da die neuen Softwarelösungen dadurch einen Platz innerhalb der bestehenden Praktiken erhielten. Die Formen der Integration sollen im Folgenden genauer beschrieben werden.
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
4.2.1.1
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Erschließung der Funktionsweise und Gebrauchmachen
Die neuen Softwarelösungen hatten jeweils ihre spezifischen Anwendungsziele, technischen Funktionsweisen und boten auch neue Funktionen an. Alle drei begründeten als Gesamtheit die materielle Handlungskapazität und die menschlichen Akteure mussten deren Sinn und Funktionieren bei der Ingebrauchnahme zunächst einmal erschließen, um herauszufinden, wie genau diese Software zu ihrer eigenen Arbeitsweise passte und gegebenenfalls menschliches Handeln ergänzen konnte. Die Beteiligten bei der Einführung von SF hatten sich vor dem Roll-Out sehr dezidiert mit der gebrauchsfertigen Lösung auseinandergesetzt und kommunizierten die notwendige Art und Weise des Gebrauchs sehr klar und wiederholt an die Nutzer. Die Inbetriebnahme von IBM Interact hingegen gestaltete sich stärker explorativ als eine Art „Learning-by-Doing“ und der Fortgang des Projekts war abhängig von der Anwendung der Software durch die Agenten und deren Feedback. SF Obwohl SF als Ready-to-Use-Software im Unternehmen ankam, also vom Hersteller als fertig für den Gebrauch bezeichnet wurde, musste im Unternehmen viel Arbeit zur Erschließung des erfolgreichen Umgangs mit der Software im eigenen Unternehmenskontext geschehen. Dabei setzten sich vorranging die Projektmitglieder, die an der Einführung der Lösungen beteiligt waren, mit den Funktionsweisen von SF auseinander und damit, welche Anwendungsszenarien für das Unternehmen selbst wichtig waren und wie die bestehenden Praktiken vielleicht neu organisiert werden mussten. Die Leiterin für Leadership und Development erzählte, wie sie sich in die Rolle der Mitarbeiter bei der Anwendung hineinversetzte: „Ich finde, das Handling ist halt einfach nicht immer selbsterklärend, also wie man ein neues Ziel erfasst. Also jetzt wenn ich es als Mitarbeiter sehe, ich muss ja als Mitarbeiter erfassen, dann ist es nicht immer ganz leicht zu sehen, wo ich eigentlich drücken muss, dass ich ein neues Ziel erfasse. Also da sind sicherlich manche Dinge, die einfach auch nicht so offensichtlich sind, die man sicher, denke ich mir, viel einfacher darstellen könnte, aber ich glaube, dafür ist ja auch Success Factors bekannt.“ (Interviewpartner 6)
Meist nach der Festlegung des optimalen Umgangs wurde den Mitarbeitern in diversen Anleitungen (Dokumente, persönlich) die gewünschte Nutzung erläutert. Nichtsdestotrotz erforderte diese Weitergabe der erschlossenen Funktionsweise weiterhin Erklärungsaufwand seitens der Personalmanager. Sie mussten die korrekte Inbetriebnahme aktiv vorantreiben und gemeinsam mit den Nutzern zum
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Teil mehrere Anläufe unternehmen, damit die zum Teil ganz neuen Vorgehensweisen auch verstanden wurden. Zum einen waren diese Erklärungen notwendig in ganz operativen Bedienungen der Software, damit Prozesse am Laufen gehalten werden konnten: „Wobei noch spannend war dieser Complete-Button, den muss ich selber setzen. Und das war natürlich im zweiten Jahr auch ein Riesen-Ding. Jetzt haben wir zwar das Ding gehabt, dieses Feld, aber ich meine, ich habe es wirklich explizit reingeschrieben nochmal in die Anleitung, aber ich meine, die Leute lesen natürlich Anleitungen ja wie sie sie halt lesen. Einmal quer und überlesen gern mal. D. h. ich musste einfach ganz oft einen reminden und sagen, ‚hey du hast es zwar ausgefüllt, aber du hast einfach nicht auf ‚completedұ gedrückt. Bitte mach das noch, weil dann erscheinst du nicht mehr als nicht erledigt. ދAlso sicherlich eben, das ist eine Verbesserung, aber ja, eine sehr mühsame Verbesserung auch wieder gewesen. Weil es hat nicht automatisch, wenn alles fertig geklickt war, mal dann unten gesagt, so, ready.“ (Interviewpartner 6)
Zum anderen herrschte auch größerer Abstimmungsbedarf hinsichtlich der Nutzung der neuen Tools. So gab es in der Talentmanagementsoftware zwar die drei Kategorien „Developing“, „Strong“ und „Exceeds“, in welche die Vorgesetzten die Mitarbeiter einordnen mussten. Allerdings waren die Kategorien von SF nicht mit Kriterien hinterlegt. Obwohl das Personalmanagement hier aufwendige Dokumente über Kriterien erstellt hatte, anhand derer sich Mitarbeiter nach einem objektiven Schema in die Kategorien einordnen ließen, waren bei der ersten Anwendung des Tools eine übergroße Anzahl an Mitarbeitern als „High Potentials“ verortet. Die Leiterin für Leadership und Development berichtete: „Was z. B. bis heute nicht so ist im Tool, dass wir da auch die Erklärung quasi haben, was heißt denn jetzt High Potential, was heißt Mid Potential, was heißt Stable Potential, was heißt Developing, Strong und Exceeds im Performance Bereich. Das muss ich immer im Extra-Sheet haben. Und wenn ich mir das jetzt als Vorgesetzter, wenn ich halt träge bin, nicht dazu ausdrucke, dann mache ich das halt so nach Gutdünken. Also das einfach mal so als jetzt auch gesprochen aus meiner Sicht, dass ich das halt auch als Prozess mitführen muss. (. . .) Ich schicke ihnen das natürlich, sie kriegen ein Riesen-Mail von mir, das habe ich mir dann auch entwickelt, weil ich fand, dass dann die Vorlagen, die wir von unserem Konzern bekommen haben, dann auch teilweise etwas mühsam so vom Verständnis her. Ich habe das dann tabellarisch aufgebaut, damit sie wirklich wissen, okay, anhand dessen können sie sich jetzt das, und das möchte ich bis dann und dann haben und das sind die Hilfsmittel, die du dazu nimmst. Also kommt der idealerweise nochmal an, was heißt High Potential genau? Und wenn sie das aber jetzt nicht aufmachen, während sie das machen, weil sie halt wie immer keine Zeit haben gerade, auf dem Level ist das halt so, dann musst du halt wirklich in dem Review Meeting nochmal dezidierter darauf hinweisen und auch
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nochmal dezidiert gut nachfragen, ist das wirklich nach den Kriterien eingeschätzt worden oder einfach nur, ja der hat hohes Potential.“ (Interviewpartner 6)
Außerdem erklärte die Leiterin für Leadership und Development ihre eigenen Mühen, die organisationsspezifischen Vorgänge, wie etwa viele Entlassungen und Neueinstellungen, auch in der Software abgebildet zu bekommen: „Echtzeit-Mitarbeiterstand, alte Einschätzung ja, aber eben Echtzeit-Mitarbeiterstand. Also das ist extrem mühsam, wir haben so viele Reorganisationen, dass es dann auch extrem mühsam ist, das dann immer wieder zusammenzubringen. Also das ist recht spannend vom Tool her. Und das waren auch Punkte, die ich immer wieder als Verantwortliche vom Land im Land dann rückgemeldet habe an diese IT-Verantwortlichen.“ (Interviewpartner 6)
Obwohl SF eine weitgehend standardisierte Software war, mussten die Personalmanager, Vorgesetzten und Mitarbeiter einen Weg finden, wie die Funktionsweisen in ihrem Kontext am besten zu interpretieren und anzuwenden waren. IBM Interact Bei IBM Interact gestaltete sich die Erschließung der Funktionsweise auf sehr explorative Weise und es war eine Vielzahl von Akteuren daran beteiligt, eine gewinnbringende Nutzbarkeit der Software zu erreichen. Hier spielte aufgrund der lernenden Algorithmen die notwendige Interaktion eine große Rolle. Vor allem die Projektmitglieder und Teamleiter assoziierten die Fortschritte in der Vorhersagegenauigkeit der Analytics-Software mit der vermehrten Nutzung und waren der Ansicht, dass die Anwendung notwendig für eine erfolgreiche langfristige Integration war: „Und wir haben schon auch festgestellt, dass wirklich Verkäufe generiert worden sind über Tiger, also über die Information von Tiger. Und ich denke, es ist schon ein bisschen auch mit ‚Learning by Doing ދverbunden. Also, man muss ja auch das Tool mal einsetzen. Man muss das wirklich gebrauchen, um auch noch hinterher irgendwelche Optimierungen vorzunehmen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir seit der Einführung dieses Tigers das wirklich einsetzen (. . .) sonst haben wir keine Erfahrungswerte, haben wir keine Daten zum Auswerten. Dann ist es schwierig, langfristig mit diesem Tool dann zu arbeiten.“ (Interviewpartner 28)
Ausschlaggebend für die notwendige Interaktion war insbesondere die Einbindung der Callcenter-Agenten selbst in die Aktivierung der Software, indem sie als Key User bereits in der Pilotphase einbezogen wurden und ihre eigene Mei-
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nung über das Funktionieren und etwaige zusätzliche Anforderungen an die materielle Handlungskapazität kundtun konnten: „Sie konnten aber dafür auch, und das ist gerade sehr wichtig, Feedback geben, ja.“ (Interviewpartner 21)
Außerdem konnten die Callcenter-Agenten dadurch, dass sie von Beginn einbezogen waren, das Handeln der Software in der Form der angezeigten NBOs und Informationen hinterfragen. Sie reflektierten etwa, wenn die Anzeigen nicht mit ihrem eigenem Verständnis und ihren Vorgehensweisen bei der Bedienung der Kunden übereinstimmten. Durch diese Möglichkeit, Fragen zu stellen, etablierte sich bei denjenigen Agenten, die bereits in dem frühen Stadium dabei waren, ein Art Verständnis – einerseits für das Agieren der Software, andererseits aber auch für die Anpassungsnotwendigkeit und Entwicklung der im Callcenter vorhandenen Praktiken: „[E]s gibt auch noch so bei uns warum, dass ein Agent ein Kunde kein Angebot kriegt, wollten die das sehen wieso und wollten das apportiert haben und auch ein GUI, wo man sieht, der hat ein schlechtes Credit-Rating oder der hat ein Bad Pay oder der hat schon alles versucht oder wie auch immer. Und das geht aber technisch schwierig und zeigt nur die halbe Wahrheit, weil mal nur einen Teil zeigen kann und dann (. . .) wir sind schon interessiert daran, wieso das so dargestellt wird. Und haben auch in Tests gezeigt, ja aber wir brauchen aber noch das und das auf dem Screen und das auch auf dem Screen und so weiter. Also die helfen auch mit da zu gestalten und deshalb sind sie ja auch teilweise dann skeptisch, weil sie merken, ja, das ist noch am Anfang und das muss noch ein bisschen lernen oder die Organisation muss auch ein bisschen lernen, wie man mit dem Tool umgehen kann.“ (Interviewpartner 21)
Dass die Pilotphase nicht nur für das Explorieren der Funktionsweise der Software, sondern auch für die organisationalen Reaktionen darauf relevant war, dafür sprechen auch die Aussagen der Projektmitglieder. Sie bezogen sich zum einen sehr stark auf das Lernen der Algorithmen, wie folgendes Zitat des Projektleiters zeigt: „Aber wir versuchen das immer wieder darzustellen, (. . .) also wenn das Erste, sage ich mal überhaupt nicht passt, dann melden wir das auch schon. Also das wir dann sagen: nee also, dass geht gar nicht bei dem Kunden würde ich das nie, nie, nie, niemals anbieten und so haben wir auch schon Bugs herausgefunden, so haben wir in der ganz frühen Anfangsphase, wo wir gemerkt haben, ja da ist ein Algorithmus falsch oder irgendein Code ist da falsch eingetippt oder so.“ (Interviewpartner 21)
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Zum anderen wurde die Exploration und Sinnerschließung über die Arbeit der Software aber auch sichtbar, indem sich andere Projektmitglieder intensiv damit auseinandersetzten. Anhand der bisherigen Erfahrungen und Nutzung versuchten sie, Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, wie die Software „wahrscheinlich“ arbeitete: „Ich denke schon. Also weil man, also wenn man, es kommt ein bisschen drauf an, auf die Datenquellen, das Tool muss irgendwie meiner Meinung nach, vergleichbare Kunden haben, vergleichbar. Also wenn Sie dem Tool nur die Information geben, diese Kunden haben blonde Haare und die haben schwarze Haare, dann wird das wahrscheinlich scheitern, oder? Weil da ist sehr schnell mal was vergleichbar, oder? Die Hälfte der Kunden passte auf diese anderen Muster. Es hängt wahrscheinlich davon ab, wie genau die Informationen sind, die wir dem System geben über dem Kunden und wahrscheinlich je kleinere Kundensegmente das kreieren kann, ich denke mir, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dann auch beim jetzigen Anruf, sagen wird, okay, du entsprichst eigentlich genau dieser Kundengruppe und die haben eigentlich immer, oder in sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit dieses Produkt genommen. Da ist jetzt irgendwie meine Idee.“ (Interviewpartner 29)
Auch auf der Seite der täglichen Anwender von IBM Interact, also der Agenten, warf die Konfrontation mit der neuen Software in der Nutzung oft Fragen auf und sie versuchten insbesondere in der Pilotphase diese Rätsel zu entschlüsseln. Dies wurde beispielweise dann sichtbar, wenn die Software keine Vorschläge für Kundenangebote machte, was ja vollkommen konträr zu den etablierten Zielen, möglichst oft Produkte zu verkaufen, war: „Also das Ziel von diesem Tool ist ja, dass er mehr verkauft. Und dass er hochwertiger verkauft. Also nicht die günstigsten Produkte, sondern wirklich die hochwertigen Produkte. Und es soll natürlich etwas an den Zahlen ändern. Also man verhofft sich da wirklich einen Unterschied vielleicht von drei, vier Prozent mehr Verkäufe. Aber die Realität zeigt es eben nicht. Weil das Tiger sagt teilweise, du darfst diesem Kunden kein Angebot machen, obwohl man dem Kunden ein Angebot machen kann. Also es ist sehr komisch, woher die Information Tiger holt, weil dann ist es wieder im Weg. Im Pilot war es oftmals so, dass die Mitarbeiter mir sagten, ja wie soll ich einen Verkauf machen, wenn das Tool mir sagt, ich soll nicht verkaufen. Dabei hätte ich etwas verkaufen können. Und dann ist es wieder etwas irgendwie im Weg, aber klar, ist noch in der Aufbauphase.“ (Interviewpartner 17)
Wie die Aussage der Supervisorin zeigt, wurde also durchaus hinterfragt, wie die Software auf diese Ergebnisse kam, da sie mit den vermuteten Ergebnissen, die über eine manuelle Bedarfsanalyse durch den Agenten selbst, zum Teil nicht übereinstimmten.
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Nichtsdestotrotz entstand die Hinterfragung der Software nicht einzig und allein durch die Callcenter-Agenten in ihrer Anwendung, denn die Aussagen und Anweisungen von Vorgesetzten spielten auch sichtbar eine Rolle – erstens dabei, wie intensiv und häufig die Agenten sie nutzten und zweitens auch bei der Entschlüsselung der Software. Offensichtlich verloren die Vorgesetzten, aber auch die Software, an Glaubwürdigkeit, wenn die Software durch die Anpassung der Verhaltensweise der Agenten nicht (wie vorhergesagt) besser wurde. Ein Callcenter-Agent sagte entrüstet: „Aber am Starter es ist da so geheißen, dass wir nutzt das zu wenig, also wir als THD, wir nutzt das zu wenig und unsere Vorgesetzten könnten nicht so viele negative Inputs oder etwas anfangen, wenn wir nutzt zu wenig. D. h. es ist wie, wie kannst Du argumentieren, wenn Du gar nicht nutzt? Sozusagen. Haben sie es so beantwortet. Und dann unsere Chef haben unsere Meeting gemacht und dann hat gesagt ja: ‚Wir müssen unbedingt das nutzen, nutzen, nutzen und versuchen, unsere Beste zu geben. ދUnd wir haben unser Team zusammengemacht und ja, wir müssen das nutzen und schauen, wie das gibt. Aber trotzdem, dass ZLUKDEHQYLHOHJHQXW]WXQGJH]HLJWÃYRLODZLUQXW]HQPHKUDOV3UR]HQWұMD es ist nicht viel geholfen. Wir haben viel Feedbacks gegeben, alles Negatives und Positives, aber ich weiß es nicht oder ich glaube nicht, dass unsere Feedbacks ist etwas gemacht worden ist. Also vom Feedbacks, es gibt nur ein Feedback, das die haben etwas gemacht. (. . .) D. h. was haben sie gesagt, dass sie messen das und das und das Internet, sie haben das gar nicht mehr gemessen, weil viele von denen Damen hat ja gar nicht Internet bei uns gehabt. Von dem her, es ist unmöglich.“ (Interviewpartner 30)
Auf ähnliche Weise stellte sich bei den Agenten auch eine Form von Enttäuschung ein, wenn sie nicht verstehen konnten, weshalb IBM Interact nicht immer verlässliche und offensichtlich inkorrekte Vorschläge unterbreitete. Ein Teamleiter wies darauf hin: „Und es gibt einfach Situationen, wo die Information von Tiger nicht zu 100 Prozent aufgeht mit der Information vom Telefongespräch. Und deshalb hat man Situationen, wo man vielleicht eben das Tiger im Moment, wo man den Kunden, den man am Telefon hat, auf die Seite legt, weil man auch das Gefühl hat: Okay. Die Vorschläge, die stimmen nicht, oder die gehen nicht auf, weil eben... es ist ein Tool und nicht ein Mensch. Ja?“ (Interviewpartner 28)
Am Ende verließen beziehungsweise mussten sich die Callcenter-Agenten auf die Anweisungen ihrer Vorgesetzten über die Rolle von IBM Interact und ihre eigene Nutzung verlassen. Während des Roll-Outs, in dem dann auch eine größere Anzahl an Agenten die Software nutzte, wurden auch kaum mehr Fragen dazu gestellt:
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„Was genau er [Tiger] zur Information bekommt, ist oberflächlich beschrieben, aber wir sind auch nicht dafür verantwortlich, also wissen wir, dass wir dem Programm vertrauen können und gehen entsprechend vor.” (Interviewpartner 19)
Die Ausführungen sprechen dafür, dass die Exploration von IBM Interact zwar interaktiv mit den Callcenter-Agenten gestaltet war, die auch Fragen aufwarfen und Feedback gaben. Nichtsdestoweniger schien die Erschließung eher auf Seiten des Managements erfolgreich, während die Fragen auf Seiten der Agenten im alltäglichen Gebrauch unter den Anweisungen der Vorgesetzten untergingen. 4.2.1.2
Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken
Die Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken und die Frage, ob entweder bestehende Praktiken an die Software oder die Software an die bestehenden Praktiken angepasst werden musste, war ein wichtiger Teilbereich der Integration. Hier wurden die Weichen für die Richtung der Annäherung und ein gemeinsames Wirken von menschlicher und materieller Handlungskapazität gestellt. Im Zentrum der Eingliederung von SF in bestehende Artefakte und Praktiken stand die Tatsache, dass die Arbeitspraktiken bisher entweder im maßgeschneiderten Tool abgebildet wurden oder bestimmte Praktiken existierten noch nicht. Dabei stellten vor allem die komplett neuen Lösungen Leitplanken für die Etablierung neuer Praktiken dar. Bei IBM Interact wurde sehr deutlich, dass die Eingliederung insbesondere durch die Schaffung neuer Kontrollfunktionen der Software gelang. Dies lag daran, dass die vorhandenen Praktiken in erheblichem Maße auf die Leistungskontrolle und -verbesserung abzielten. Bei der Arbeit selbst mussten Widersprüche, die die Software zu den vorhandenen Praktiken kreierte, von den Akteuren gelöst werden. SF SF prallte, zumindest mit den Lösungen zur Leistungsbeurteilung und zum Recruiting, mit voller Wucht auf bestehende Praktiken, die sich über Jahre hinweg etabliert hatten und auf welche die Funktionsweise der Vorgängersoftware Huma angepasst wurde. Neu an SF war also nicht nur, dass die Funktionsweise und die Funktionen der Software selbst anders waren, sondern auch, dass durch die Einführung der kaum änderbaren Software auch die unternehmensinternen Prozesse und Praktiken nun an diese Funktionen angepasst werden mussten. Die Anpassung musste also nicht mehr von menschlich-sozialer-Interaktion hin zu einer technischen Abbildung, sondern umgekehrt ablaufen. Als Reaktion auf diese umgekehrte Logik zur Anpassung der FunktionsweiVHQ YRUKHU 0HQVFKĺ7echnik; jet]W 7HFKQLNĺ0HQVFK HQWZLFNHOWH sich die
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Einführungsphase von SF zu einer längerfristigen Übergangsphase zur Ablösung von Huma. In diesem Sinne wurde Huma bei der Einführung von SF nicht komplett abgeschaltet und ad hoc ersetzt. Da einige technische Funktionen, die an die bestehenden Prozesse und Praktiken im Unternehmen angepasst worden waren, in SF nicht dargestellt wurden, blieb Huma für diese Funktionen im Einsatz. Dies bestätigten auch eine Führungskraft im Billing-Bereich, da Bonuszahlungen nicht über SF abgewickelt werden konnten sowie ein Personalcontroller: „Aber dann muss man die Endzahl, die Bewertung in Huma eingeben, weil nicht jeder von Haus das dann direkt mit der Finanzbuchhaltung, und die Auszahlung des Bonus dann verbunden ist. D. h. die Firma ist noch in der Tradition zwischen dem alten Tool, das Huma-Tool, was eine Eigenentwicklung war, und das Corporate-Tool, das ist das Success Factors.“ (Interviewpartner 11) „Wir haben jetzt natürlich von Success Factors nur von der einen Seite gesprochen, das Recruiting. Das andere ist das GPM. Da haben wir im Prinzip eine ähnliche Situation. Wir hatten ein Tool, das konnte im Prinzip GPM plus Bonus in einem. Jetzt haben im Prinzip das alte Performancetool immer noch im Bereich von Bonus und dann zusätzlich GPM. Also da frage ich mich auch, was das im Prinzip am Ende des Tages soll? (. . .) Jeder, der bei uns bonusberechtigt ist, hat noch das Bonustool. GPM speist dann das Bonustool mit den GPM-Resultaten und das wird dann weiter verarbeitet. Früher war das All-in-one.“ (Interviewpartner 14)
Der Personalcontroller beschrieb das Festhalten an den alten Praktiken. Er wies darauf hin, wie wichtig die Erstellung bestimmter Reports über die Qualität der Bewerbungsprozesse für die Aufrechterhaltung der Praktiken war. Wie seine Kollegen und er diese Praktik des Qualitätsmanagements fortführen würden, war zu Beginn der Einführung von SF nicht klar: „Wie die Auswertung ist, da bin ich überzeugt, dass das Tool an sich das kann. Es ist nur die Frage: Wer kann es umsetzen und wie groß ist die Bereitschaft, im Prinzip für jedes Land so was umzusetzen?“ (Interviewpartner 14)
Die eingeführten Lösungen hingegen, bei denen es kein bereits etabliertes System gab, etwa SF Learning, waren mit der Geburt neuer Praktiken gleichzusetzen. Hier waren die neu entstehenden Praktiken von Anfang an mit der Software verflochten. So entschieden sich etwa die Projektmitglieder dazu, Lernmanagementprozesse von Beginn an entlang der bestehenden Funktionen und Leitplanken der Software zu etablieren: „Das war für uns Philosophie bei der Einführung von Success Factors. Wir haben gesagt, wir möchten keine Anpassung im Success Factors machen (. . .) Success Factors gibt es seit sehr, sehr langer Zeit. Das ist ähnlich wie, sage ich auch so,
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wenn SAP irgendwo eingeführt wird, wenn meine Prozesse ganz extrem abweichen, dann frage ich erst mal bei meinen Prozessen nach, bevor ich das System an komplizierte Prozesse anpasse. Und dann wirklich auch Learning Prozesse angeguckt und haben gesagt: ‚Okay das System macht es so standardmäßig, wir machen es so, okay wir tun unseren Prozess weg, wir gehen auf den Prozess und SDVVHQDQXQGIKUHQGHQ3UR]HVVGDQQJOHLFKDXFKVRQHXHLQұ Weil wir wirklich gesagt haben, wir wollen nicht bei jedem Release wieder mit unseren Anpassungen zu kämpfen haben, sondern wo immer es geht, Standardprozesse.“ (Interviewpartner 13)
Die Ausführungen machen deutlich, dass die Frage danach, was angepasst wurde, aus einem historischen Verständnis heraus beantwortet wurde. Angepasst wurde, was fortgeschrittener oder flexibler war: menschliche oder materielle Handlungskapazität. Im vorliegenden Fall von SF war durch die begrenzte Modifizierbarkeit der Software deutlich sichtbar, dass Praktiken in der Organisation neu entstanden oder im Gebrauch der Software verändert wurden. 53 IBM Interact Die Arbeit im Callcenter war vollkommen transparent und die Leistung der Mitarbeiter wurde anhand von Kennzahlen und Reports kontrolliert. Die Mitarbeiter selbst waren sich der Leistungskontrolle und Überwachung bewusst und entwickelten ein Gefühl der Fürsorge um die individuelle Leistungsverbesserung seitens der Vorgesetzten und Manager. Eine Callcenter-Agentin beschrieb ihre eigenen Erfahrungen während des Eingewöhnungsprozesses in das Umfeld der Kontrolle: „Eigentlich für mich ist das völlig normal. Ich merke eher wieder, dass es nicht normal ist, wenn ich jemandem außerhalb, einem Kollegen, meiner Familie davon erzähle. Dann denken die: Ja, spinnen die oder was? Wenn du drei Minuten auf der Toilette bist oder eine halbe Stunde, das wird dir alles angezeigt. Oder eben, dass ich gar nicht mehr arbeiten muss, dass das System für mich arbeitet. Das merke ich gar nicht mehr; für mich ist das alles normal, dass das kontrolliert ist sozusagen. Weil es ist ja alles kontrolliert. Es ist nicht mal als Kontrolle gedacht, wie wir arbeiten. Mehr, damit wir besser werden; so wird es uns auch erklärt. Weil das Arbeiten, da man ja alles hört, alles aufgenommen wird, da durch die Tools alles kontrolliert wird, ist es auch so, dass die sehen: ‚Was können wir bei ihr verbessern? Wie können wir ihr helfen, damit sie besser wird?ދ So wird es ja auch gemacht. Z. B., wenn ich, keine Ahnung, 30 Minuten auf der Toilette verbringe, dann rufen die mich an und sagen: ‚Du, alles okay? Geht es dir nicht gut? ދSo. Oder wenn ich 25 Minuten auf Backoffice bin, dann rufen die 53
Ein genauer Blick darauf, wie diese Veränderung hin zu hybridem Handeln geschah, erfolgt in Abschnitt 4.3.
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mich an: ‚Brauchst du Hilfe? Kann dir jemand helfen bei deiner Arbeit? ދEs ist ja wirklich nie böse gemeint. Also es ist noch nie jemand auf mich zugekommen und hat gesagt: ‚Die (. . .), die sitzt vielleicht 20 Minuten jede Stunde auf Backoffice und macht nichts. ދNie. Nie habe ich das gehört. (. . .) ‚Arbeite mal, geh mal ans Telefon. ދAuch die Anderen nicht. Also da wird dir eher geholfen. Am Anfang war es natürlich total (. . .) ‚Was sehen die da alles? ދAlso gut, ich bin ja auch aus einem anderen Beruf gekommen, ich habe das ja alles gar nicht gekannt.“ (Interviewpartner 18)
Zentral für die täglichen Praktiken und sogar die Rituale der Vorgesetzten in den Callcentern war die Beobachtung der Leistung der Mitarbeiter. Sie wurden innerhalb des Teams verglichen, aber auch Teamvergleiche und Wettbewerbe wurden durchgeführt. Die immense Bedeutung der Kennzahlen und der Leistung wurde auch deutlich in zahlreichen Postern, die in den Callcenter-Räumen aufgehängt waren und in denen Ranglisten der Mitarbeiter im Hinblick auf ihre Verkaufszahlen sichtbar veröffentlicht wurden. Daneben versandten einige Teamleiter die aktuellen Zahlen regelmäßig auch an die Mitarbeiter, um sie über ihren Leistungsstand auf dem Laufenden zu halten. Ein Teamleiter im Backoffice, in dem die Callcenter-Agenten nicht im Kern für Telefonate zuständig waren, jedoch den Überhang an eingehenden Kundenanrufen annehmen mussten, drückte die Zahlenfixiertheit auch in diesem Bereich aus: „Wir bekommen das jeden Morgen, die Zahlen. (. . .) Ich habe Teamleiterkollegen, es sind ja drei Teams, die schicken das ihren Leuten täglich, am Morgen, eine Übersicht. Ich schicke es jetzt alle Woche, von dem her. Also es kommt immer auf den Vorgesetzten an. Gewisse sind da sehr zahlenfixiert, ich bin da nicht so zahlenfixiert (. . .) Und das schickt immer mein Teamleiterkollege mir, der schickt es immer jedem (. . .) Wenn es nicht refresht ist morgens, dann ist er immer zwei Stunden panisch.“ (Interviewpartner 12)
Neben typischen Kennzahlen im Callcenter, wie der AHT oder die Zeit, in der sich ein Mitarbeiter im Status AUX befindet, also für Anrufe nicht verfügbar ist, wurden die Verkaufszahlen in allen Callcenter-Bereichen immer wichtiger. Der oben bereits zitierte Teamleiter beschrieb erneut jenen Kollegen, der die Zahlenberichte regelmäßig an sein Team schickte: „Und geht vorbei, ‚das ist nicht gut, mehr Sales, mehr Sales, mehr Sales. ދDer andere Teamleiter macht das mittel und ich mache es am wenigsten.“ (Interviewpartner 12)
IBM Interact stieß also auf eine Reihe von kennzahlengetriebenen Praktiken im Callcenter. Dies war insofern problematisch, als dass der Nutzen von IBM Interact selbst nicht gemessen werden konnte und zum Teil auch Logiken barg, die der Erfüllung der feststehenden Kennzahlenziele entgegenstanden. Um das Projekt
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Tiger nicht zu gefährden, wurde IBM Interact als neues Kontrollwerkzeug in dieses bestehende Kontrollregime eingefügt, indem bestimmte Metadaten über die Nutzung analysiert und ausgewertet wurden. So wurde zunächst die „Usage“ bewertet, also die Häufigkeit der Nutzung von Tiger pro Agent gemessen. 54 Daneben wurde Tiger als Kontrollmechanismus für zwei neue Kennzahlen diskutiert, die zwei bis dato nicht überprüfbare Leistungen der Agenten quantifizierbar machen sollten. Sie sollten den „Sales Funnel“ (Verkaufstrichter, wann ist ein Verkauf möglich?) beschreiben: 1) die „Offer Rate“ zur Messung des „Fleiß des Agenten“ und 2) die Verkaufsrate pro Angebot zur Messung von „Effizienz, Effektivität und Qualität“ (vgl. Abbildung 19). Erstere, die „Offer Rate“, bezeichnet die Anzahl der angebotenen Produkte pro Kundengespräch. Sie war relevant für alle Anrufe von Kunden, d. h. es wurde davon ausgegangen, dass auch dann ein Verkaufsangebot unterbreitet werden konnte, wenn der Kunde nicht mit dem Ziel einer Bestellung anrief, aber eben auch in den Fällen, in denen er dies tat. Diese Angebotsrate konnte über die anderen Tools bislang nicht gemessen werden, da nicht nachvollziehbar war, wie oft die Agenten tatsächlich den Kunden ein Angebot machten. 55 Da die Agenten in IBM Interact jedoch anklicken mussten, ob der Kunde ein Produkt angenommen, abgelehnt oder daran interessiert war, konnten die Manager erstmals erfassen, ob und wie oft die Agenten im Kundengespräch tatsächlich ein Angebot machten. Gleichzeitig konnten sie die Offer Rate steuern, indem sie die Nutzung von IBM verpflichtend machten und der Agent sozusagen gezwungen war, dem Kunden ein Angebot zu unterbreiten. Die zweite Kennzahl befand sich am Ende des Verkaufstrichters und bezeichnete die Effizienz des Agenten dahingehend, ob ein unterbreitetes Angebot auch zu einem Verkauf führte. Auch dies war durch IBM Interact nachvollziehbar durch die oben aufgeführten Klicks. Neben der Eingliederung von Tiger in die bestehenden Kennzahlen als Artefakte musste die Software auch in die bereits laufenden Praktiken wie etwa dem typischen Verkaufsgespräch eingegliedert werden. Hier war von Bedeutung, dass diese Eingliederung nicht willkürlich und durch individuelle Agenten geschah, sondern es ein vom Projektteam und Management vorgegebener Prozess war. Bereits die etablierten Schritte in der Interaktion mit dem Kunden am Telefon waren geskriptet.
54 55
Siehe auch Abschnitt 4.2.1.1. Die Messung der Angebotsrate war bis vor der Einführung von IBM Interact lediglich über das manuelle Abhören der aufgezeichneten und gespeicherten Telefongespräche möglich. Aufgrund der Vielzahl an Anrufen und Agenten war diese manuelle Überprüfung nicht praktikabel und wurde im Unternehmen nicht durchgeführt.
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Anzahl Calls
1
Anzahl Offers pro Call = Fleiss des Agenten
Anzahl Offers (neue Messzahl)
2
Anzahl Sales pro Offer = Effizienz, Effektivität, Qualität
Anzahl Sales
Abbildung 19: Sales Funnel, neue Messbarkeiten durch IBM Interact (Quelle: leicht verändert übernommen aus Präsentation Post-Go-Live-Kommunikation, S. 7)
In dieses Skript wurde nun sehr detailliert die Rolle von IBM Interact eingefügt. Ein Teamleiter im Callcenter beschrieb diese Eingliederung der Software: „Tiger ist schon ein Bestandteil von diesem Prozess. Wir haben ja GesprächsGuidelines, wo wir auch klar so eine Struktur den Mitarbeitern mitgeben: Wie kommt man zum Kunden hin und vor allem eben wie (überlegt), wie spüre ich am schnellsten das Kundenanliegen? Weil ich denke, es ist wichtig; der Kunde will nicht 20 Minuten mit uns telefonieren, sondern, der will eine Lösung haben, ne? Und Tiger ist ein Bestandteil von dieser Guideline. Das ist ganz klar in die Struktur eingebaut eben: Der Kunde ruft an, hä, Kundennummer, Daten-Check; das zweite Sheet ist dann wirklich: Tiger öffnen, gucken, was wäre jetzt der Vorschlag. Es ist nicht irgendwie ein echtes Nebenbei. Das ist wirklich voll und ganz in diese Struktur eingebaut. Also, der Mitarbeiter, der wurde jetzt auch so geschult, dass da ein zweiter Schritt dazukommt und (überlegt) es funktioniert auch relativ gut – wenn ich das so sagen darf.“ (Interviewpartner 28)
Auch visuell wurde der Einbindung von IBM Interact Nachdruck verliehen. So wurde die Tiger-Figur in den Schaubildern der Schulungsunterlagen verwendet. Dabei wurde die Tiger-Figur z. B. im Schaubild zur Kundeninteraktion in jeden einzelnen Schritt eingefügt und sein Bild wurde durch Pfeile in die Gesprächsführung eingebunden (vgl. Abbildung 20). Dabei wurde auf die verkürzte Bedarfsanalyse mit wenigen Fragen an den Kunden und dem Verkaufsangebot am Ende hingewiesen und es wurden bereits „Brückensätze“ vorgegeben:
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
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„Empfehlungen für den Brückensatz: Herr/ Frau xxx ( Kundenname nennen) jetzt sehe ich (in ihrem Konto) gerade ein spannendes Angebot für Sie, es ist das xxx (Produktname)“ (Schulungsunterlagen, S. 12).
Daneben waren in IBM Interact eine Reihe neuer Informationen für den Agenten über das GUI sichtbar. Eine der neuen Information war etwa das Kundensegment nach Kundenwert, was für den Agenten eine neue Kategorisierung von Kunden darstellte. Auch der Umgang mit diesen zusätzlichen und zum Teil heiklen Kundeninformationen wurde vorgegeben. So gab es ganz klare Hinweise darüber, welche über das GUI angezeigten Informationen die Agenten „nie gegenüber dem Kunden erwähnen“ durften (Schulungsunterlagen, S. 7, dort in roter Schriftfarbe hervorgehoben).
Abbildung 20: Visuelle Integration von Tiger in das Verkaufsgespräch (Quelle: Präsentationsslides der Schulung, S. 3)
Trotz dieser strukturierten Integration kam es zu handfesten Widersprüchen zwischen IBM Interact und den bestehenden Artefakten und Praktiken, welche die Agenten erst einmal lösen mussten. Zu Beginn der Pilotphase beschrieb eine Agentin etwa den störenden Charakter von IBM Interact in der Arbeit der Callcenter-Agenten: „Und das war jetzt ein Tool, das für mich z. B. im Weg war. Das Tiger-Tool ist auch so etwas. Ich sollte es eigentlich promoten, aber ist auch so ein Tool, das Verkaufs-Tool, was ich finde, ist auch etwas, das nur ein Mehraufwand ist. Also
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der Mitarbeiter weiß ja eigentlich wie verkaufen ist, es ist einfach die Motivation, die dem Mitarbeiter etwas fehlt. Und ich finde, das Tool ist einfach im Weg. Ich habe es jetzt eben in dem Pilotprojekt sehr eng begleitet und habe gesehen, dass es für den Mitarbeiter einfach anstrengend war noch zusätzlich ein Tool zu benutzen. Sie mussten ja verkaufen. Sie wussten, dass sie das mussten. Aber das Tool war einfach noch im Weg. Teilweise gibt es wirklich Tools, die man einfach abschaffen könnte oder einfach vereinfachen könnte.“ (Interviewpartner 18)
Auch entstand in der Einführungsphase eine Art von konträrer Zielsetzung, die die Agenten erkannten. Einerseits wurden sie von den Managern, Teamleitern und Supervisoren seit Jahren „konditioniert“ (Interviewpartner 27), möglichst hohe Verkaufszahlen zu tätigen. Auf der anderen Seite wurde IBM Interact dahingehend trainiert, dass Qualität vor Quantität (Interviewpartner 23) ging, d. h. dass der materielle Verkaufswert der verkauften Produkte in die Höhe ging anstatt die Anzahl der Verkäufe. Nichtsdestotrotz stand zum Zeitpunkt der Einführung die Anzahl der Verkäufe als Kennzahl im Vordergrund. Eine Supervisorin beschrieb dieses Auseinanderdriften der menschlichen und materiellen Handlungsziele: „Aber wir haben am Anfang gesagt, ihr dürft dann kein Angebot machen, wenn das Tiger sagt, aber das Problem ist, es ist ein Ziel von ihnen. Also sie müssen ja verkaufen. Also d. h., wenn sie im (. . .), das ist unser Verkaufs-Tool, wenn sie dort einen Verkauf eintragen können, dann ist das für sie ein Sale. Also deshalb die Mitarbeiter lassen sich doch nicht von einem Tool ihre Ziele versauen. Ich verstehe die Mitarbeiter. Es ist wirklich hart, weil sie werden gepusht. Sie werden, sie haben einen gewissen Druck für den Verkauf und wenn dann ein Tool sagt, du darfst nicht verkaufen, weshalb auch immer, aber du könntest verkaufen, dann macht natürlich der Mitarbeiter den Verkauf, weil er lässt sich vom Tool ja nicht beeinflussen. Er möchte ja seine Ziele erreichen. Er möchte Provision haben. Er möchte ja einfach gut sein.“ (Interviewpartner 17)
Die Eingliederung von IBM Interact war also durch Widersprüche zwischen menschlichen und materiellen Handlungszielen geprägt, die durch situative und generelle Anweisungen, etwa durch geskriptete Einbindungen des Tools in bestehende Arbeitspraktiken, durch das Management gelöst wurden. 4.2.1.3 Zusammenfassung: Integration Materielle Handlungskapazität stieß bei der Einführung auf ein bestehendes Ensemble von Praktiken und Artefakten. Die menschlichen Akteure mussten dabei erst einmal herausfinden, wie die neue Software mit all ihren Zielen und Funktionen in die bestehende Situation in der Organisation und in Arbeitspraktiken passte. Zentral war bei SF die Frage nach der Richtung der Anpassung, also ob bestehende Praktiken an die Software oder die Software an bestehende Praktiken angepasst werden mussten. Wo diese Frage nicht eindeutig lösbar war, kam es zu
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einer Doppelung der Strategien: Es wurden dann sowohl Teile der neuen Software integriert und für den Kontext passend interpretiert als auch Teile der alten Software inklusive der existierenden Praktiken beibehalten. Auch bei IBM Interact kam es zu einer vorübergehenden Überlagerung unterschiedlicher und zum Teil widersprüchlicher Handlungsziele, deren Auflösung durch die Anweisungen der Vorgesetzten gesteuert wurde. Um den langfristigen Bestand der Software zu legitimieren, wurde sie darüber hinaus als neues Werkzeug in das bestehende Regime der Leistungskontrolle eingegliedert. Die langfristig angelegte Integration deutet auf eine Form schwer revidierbarer Verflechtung und Verhedderung hin. 4.2.2
Neuausrichtung
Nachdem die neue materielle Handlungskapazität in der Integrationsphase einen Platz im soziomateriellen Gefüge eingenommen hatte, wurden beide Handlungskapazitäten neu ausgerichtet, in dem beide aneinander adaptiert wurden. Diese Neuausrichtung geschah in zwei miteinander zusammenhängenden Vorgängen: Zum Ersten erfuhren die menschlichen Akteure die materielle Handlungskapazität als Bedrohung ihres eigenen Handlungsspielraums und dabei ihrer Identität, die sie in Abgrenzung von der Software justierten. Zum Zweiten wurden im Rahmendieser Identitätsarbeit anschließend die Verantwortlichkeiten zwischen menschlichem und materiellem Handlungsbereich (neu) definiert. Wie sich Identitätsarbeit und die (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten bei der Ausführung von Arbeit ausdrückten, darauf wird in diesem Abschnitt genauer eingegangen. 4.2.2.1 Identitätsarbeit Auf der Ebene der tatsächlichen Arbeit, also der Ausführung von Tätigkeiten, waren die menschlichen Akteure, etwa Manager und Callcenter-Agenten, in der Ausführung ihrer eigenen Handlungskapazität eingeschränkt. Diese Einschränkung war entweder tatsächlich sichtbar oder die Akteure nahmen die Nutzung der neuen Technik als solche wahr. Als Reaktion identifizierten sich die Akteure im Zusammenhang mit den neuen Softwarelösungen. In dieser Identitätsarbeit hinterfragten sie ihre eigene bisherige Verantwortlichkeit und Rolle und auch die der Technik. Die menschlichen Akteure verorteten sich selbst in Bezug auf die Software und teilweise definierten sie ihre Rolle in Abgrenzung zur Technik neu. 56
56
Eine Hinterfragung der menschlichen Rolle im Vergleich zu Automatisierungstechnik und eine Abgrenzung davon fand seitens der Akteure auch in allgemeinerer Form statt. Dies wurde in Abschnitt 4.1.2.2 über die Narrative über die Software und die visuelle Darstellung sowie dem Anthropomorphismus und Zoomorphismus näher ausgeführt. Im aktuellen Abschnitt handelt es sich im Vergleich dazu um die Identitätsarbeit, die
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Bei SF erfolgte die Selbstverortung in erster Linie über die bestehende materielle Handlungskapazität. Die menschliche Identität schien weniger betroffen, da wahrgenommene Grenzen bereits etabliert waren. Bei IBM Interact hingegen positionierten sich die Akteure sehr stark in Abgrenzung von der neuen Software. SF Bei SF war die Identitätsarbeit bereits bei der Einführung und Konfrontation mit dem neuen Produkt sichtbar. Auffallend war auch hier wieder, dass die Personalmitarbeiter ihre eigene Verantwortung und Rolle bislang offensichtlich über die Interaktion mit der Vorgängersoftware Huma definierten. Ein Personalcontroller, der in enger Zusammenarbeit mit einem IT-Mitarbeiter Huma über Jahre hinweg maßschneiderte und anpasste, beschrieb sein Bedauern über die neue Rolle der Projektmitarbeiter als eine Art Optionsempfänger der standardisierten Software SF. Da man die Software nicht optimieren konnte, schienen auch der eigenen Entwicklung Grenzen gesetzt: „Ja gut, zum Zeitpunkt, als es [SF] aufgesetzt wurde, hatte ich in diesem Bereich nichts mehr zu tun. Ich war aber auch froh, weil ich habe dann gesehen, wie schwer man sich tat, diesen gemeinsamen Nenner zu finden und im Prinzip hat man doch immer gefragt: ‚Das sind aber vier Schritte zurück?ұ Und das ist schade.“ (Interviewpartner 14)
Weiter beschrieb dieser Personalcontroller seine eigene Rolle als spezifisch, da er maßgeblich an der Entwicklung von Huma beteiligt war und er wies deshalb auf einen ganz anderen Bezug zu dem Tool hin: „Und da ich natürlich das vorhergehende Tool im Prinzip geprägt habe, bin ich natürlich voreingenommen bei dem Ganzen. Da ist ja auch logisch.“ (Interviewpartner 14)
Neben der direkten Definition über die Software selbst, suchten die Mitarbeiter auch Legitimierungsgrundlagen für die neuen Funktionen der Software, denen sie selbst vielleicht kritisch gegenüberstanden. So wurde etwa nach Gründen gesucht, warum es legitim ist, die Mitarbeiter in ein Raster einzuordnen und dadurch ihre Performance und ihr Talent offen sichtbar zur Schau zu stellen. Der oben zitierte bei der konkreten Ausführung von Arbeit in der Konfrontation mit der Software entstand. Beide Ebenen hängen zusammen, indem die Vorstellungswelt, hervorgerufen durch Narrative, die individuelle Identitätsarbeit vorbereitete und beeinflusste. Diese Zusammenhänge zwischen sozialen Dynamiken und Mechanismen der Handlungshybridisierung werden in der Synthetisierung der Ergebnisse in einem Framework zu hybridem Handeln (Abschnitt 5.1) genauer erläutert.
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
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Personalcontroller rechtfertigte und verharmloste die Softwarefunktion durch einen Vergleich mit der Tierwelt, in welcher das Recht des Stärkeren gilt: „Wie funktioniert unsere heutige Gesellschaft? Das ist ja eigentlich im Prinzip eine Leistungsgesellschaft (. . .) In der Tierwelt ist es ja noch extremer: Die Stärksten überleben. Ich meine, was für die Tierwelt gut ist, ist ja auch – schlussendlich sind wir ja auch aus irgendeiner Spezies entstanden – für uns im Prinzip eine Richtlinie, mal wieder was zu sagen und erreichen. Und es ist schon so vielfach: Der Schwächste geht über die Klinge. Das ist so. So wird ja auch unsere Leistungsgesellschaft aufgebaut. Und wenn man im Prinzip gegenüber Kunden oder Bewerbern oder weiß Gott was eine Tätigkeit vollbringen will, dann schaut man: Okay, welche sind im Prinzip im Topf, die die Arbeit gut und in Ordnung machen? Und welchen fehlt was? Und der Ansatz, den wir gottlob haben, ist ja, dass man probiert zu unterstützen: ‚Komm zurück, komm auf die Schiene, dann bist du dabei.ұ Und so funktioniert Gesellschaft: Irgendwann bist du nicht mehr dabei, wenn du den Minimalanforderungen nicht mehr genügst. Das finde ich auch übertrieben. Unsere Gesellschaft funktioniert nun mal so und ansonsten müssen wir irgendwo zum Streichelzoo wechseln.“ (Interviewpartner 14)
Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, definierten die Personalmitarbeiter ihre Arbeit und deren Fortschritt über die bestehenden und neuen materiellen Handlungskapazitäten. IBM Interact IBM Interact automatisierte einen Kernprozess im telefonischen Kundenberatungsgespräch, nämlich die Bedarfsanalyse darüber, welche Produkte der Kunde wohl am ehesten kaufen würde. Diese Automatisierung wurde im Callcenter als deutlicher Eingriff in die menschliche Arbeit gesehen. Anders als vermutet fand sich diese Wahrnehmung nicht nur bei den Callcenter-Agenten selbst, sondern auch auf der Ebene des Callcenter-Managements wider. Die Manager und Führungskräfte im Callcenter bildeten die Agenten intensiv aus. Dabei dienten DrillSessions, Step-Ups und permanente Coaching-Arbeit dazu, die Verkaufskompetenzen der Agenten auszubauen, damit die Verkaufszahlen anstiegen. Der Callcenter-Manager thematisierte seine hineingesteckten Mühen in den Aufbau von Verkaufskompetenz: „Und diese Repetition, dass die Qualifikation des Mitarbeiters am Telefon, das war mir wichtig, hier nicht einfach Leute zu haben, die hier irgendwie verkaufen, sondern die wissen wie. Ja, es ist, der Verkauf hat so ein paar ganz nennenswerte Säulen, ja? Auf die baut der Verkauf, auf die baut auch ein Gespräch auf. Wir verkaufen ja hier ja nicht nur, also das ist ja auch eine Supportecke für den Kunden, wo er alle Infos kriegt, die er braucht, über die Rechnungen, über etc., etc.
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Aber speziell der Tiger, der geht natürlich auf den Verkauf ein, ja.“ (Interviewpartner 27)
Obwohl die Software wie beschrieben also nur einen Teil der Tätigkeiten der Callcenter-Agenten automatisierte, war auf allen Hierarchieebenen der Organisation Widerstand vorzufinden. So war der Widerstand gegen die potentiellen Fähigkeiten der Software und deren Eingriff in die Verkaufsdomäne sogar beim Top-Management zu spüren. Der Projektleiter von Tiger beschrieb die Überzeugungsarbeit, die er leisten musste, um in einem Top-Down-Prozess durch alle Hierarchieebenen hindurch eine grundsätzliche Offenheit für die Software zu schaffen: „Nicht nur bei den Agenten, sondern auch am Anfang vom Top-Management, ja weil da denkt man: ‚Ja, gut, wenn ich dann bei 40% der Kunden vielleicht doch kein Sales-Gespräch machen soll, verliere ich dann Sales, ja. Dann bin ich wieder beim Revenue, haben wir dann schlechtere Verkaufszahlenұ Und das musste natürlich von oben nach unten kommunizieren eben, dass man lieber die Average Handling Time oder den Effort in die guten Verkaufschancen hineingeben oder nicht. Das wurde dann akzeptiert und dann ging es eigentlich dann runter in die Organisation rein und da gab es dann natürlich am Anfang extremen Aufstand. Also erstmal die sagten dann: ‚Ja, dann verdiene ich weniger und dann habe ich meine Ziele nicht. ދUnd ja, das ist der Widerstand, der sehr groß war. Den konnten wir eigentlich bis heute noch nicht vollständig überwinden, das ist auch ein Teil vom Change-Management.“ (Interviewpartner 21)
Die Einführung von IBM Interact stellte für das Projektmanagement eine Herausforderung dar, weil sie nicht so einfach wie etwa bei anderen Tools in der Telekommunikationsbranche war. Die Callcenter-Agenten mussten stets zur Interaktion aufgefordert werden, um die Algorithmen zu optimieren. Dass dieser Prozess geradezu ein Change-Management benötigte, wiederholte der Projektleiter sogar mehrfach: „Und später ist es halt dann eben extrem wichtig, dass man auch die Feedbacks einholt und dann die Feinsteuerung macht, wenn man sieht, dass das nicht richtig funktioniert. Also der Widerstand ist teilweise wirklich immens, also sehr groß und also hätte ich jetzt nicht so gedacht. Ich habe das auch schon mal eingeführt, Change-Management und ganze Orgas verändert, aber bei dem ist es jetzt am Anfang extrem schwierig gewesen und ist noch viel Arbeit für uns. Aber das braucht auch eben eine Zeit. Weil ich habe bei (. . .) gearbeitet ein paar Jahre und habe verschiedene Aktivitäten dort gehabt und dort hat jetzt z. B. der Aufbau von so einem Sales-Knowledge 1,5 Jahre gedauert. Und das wird auch hier nicht anders sein, da muss man relativ lange dran bleiben bis man das dann wirklich so vollkommen implementiert hat.“ (Interviewpartner 21)
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Der Widerstand gegenüber der Software war unter den Vorgesetzten und Mitarbeitern auch deshalb zu finden, da sie den Callcenter-Agenten erstens Anweisungen (durch die Vorgabe von NBOs) erteilte und zweitens diese Anweisungen zum Teil im Widerspruch zu den von den menschlichen Vorgesetzten gesetzten Zielen stand. In diesem Kontext wurde der Widerstand seitens der Manager auch auf die Callcenter-Agenten übertragen, die zu Beginn permanent hin- und hergerissen waren: einerseits sollten sie dem Tiger gehorchen, andererseits ihren Managern vor Ort. Hier wurde sehr anschaulich, dass die Callcenter-Manager und Vorgesetzten vor Ort es nicht einsahen, die Meinung eines Tools zu akzeptieren, das zum Teil gegenläufige Anweisungen zu ihren eigenen lieferte. Eine CallcenterAgentin beschrieb ihre Erfahrungen während der Pilotphase: „Weil es ist jetzt z. B.auch so: Die, die für Tiger verantwortlich sind, also für dieses Projekt, die haben uns gesagt: ‚(. . .) Wenn Tiger sagt: kein Angebot. Dann mach kein Angebot. Weil wir müssen sehen: Hat Tiger Recht oder nicht. ދUnd unser Manager, der für unsere Zahlen verantwortlich ist, hat einen Riesenaufstand gemacht und gesagt: ‚Das geht nicht! Wir haben schlechte Zahlen. Wir können nicht noch mal zehn Leute, die keine Sales machen, einfach weil unser Tool, das noch nicht perfekt ist, sagt: Mach kein Angebot.ұ Also hatten die, wir sind ja in der Mitte, wir sagen das am Schluss so, wie es ist, miteinander diskutiert und sind beide auf uns zugekommen und haben gesagt: ‚Okay, ihr macht HLQ$QJHERWZHQQLKUVHKWHVJHKWWURW]GHPұ(. . .) Also dann haben wir trotzdem Angebote gemacht, war uns egal.“ (Interviewpartner 18)
Dieser Widerstand und die Aufrechterhaltung der Autorität seitens der Vorgesetzten konnte auch in den Beobachtungen während der Feldforschung festgestellt werden. So unterbrach eine Callcenter-Agentin beispielsweise ihre Arbeit und ein Live-Call-Listening, nachdem sie eine E-Mail auf ihrem Bildschirm geöffnet hatte. Die E-Mail stammte von ihrem Teamleiter und war an alle Teammitglieder gerichtet. Im Betreff stand: „Bitte ausloggen und ins (. . .) [Konferenzraum] kommen, vielen Dank.“. Nach ihrer Rückkehr erklärte sie, dass ihr Team ab sofort und bis auf weiteres Tiger nicht mehr nutzen würde, da sie ihre Verkaufszahlen andernfalls laut Teamleiter nicht erreichen konnten. Die Information war geheim und wurde zu diesem Zeitpunkt nur in diesem Team geteilt. An dieser kurzen Vignette wird ersichtlich, wie die Vorgesetzten, die im Callcenter für die fachliche und disziplinarische Führung verantwortlich waren, das neue Tool als Eingriff in ihre Autorität wahrnahmen und letztere sogar heimlich durchzusetzen versuchten. Aber auch in der Ausführung ihrer eigenen Arbeit und der Erreichung ihrer individuellen Leistungsziele fühlten sich die Callcenter-Agenten durch die zum Teil gegenläufigen Anweisungen von Tiger eingeschränkt:
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„Neulich haben wir wieder ein Meeting gehabt und da haben die vom TigerProjekt uns gesagt: ‚Falls Tiger euch sagt, kein Angebot unterbreiten, macht keiQHVұ8QGLFKKDEHJHVDJWÃ-DZHLGDV>XQVHU0DQDJHU@"ұ (. . .) ‚Ja, ja, wir werden es ihm noch sagen. ދ- ‚Bitte sagt es ihm bitte, weil ich mache solange ein Angebot, bis nicht [der Manager] mir auch das Okay gegeben hat, ich darf kein $QJHERWPDFKHQұ$OVRHVLVWRND\ZHQQLFKNHLQ$QJHERWPDFKH:HLOLFKKDEH da einfach ein Problem mit meiner Stelle. Wenn ich dann sage: ‚Ja, aber die haben mir gesagt…' ދDQQÃ'XPXVVWDXIGHLQH=DKOHQVFKDXHQұ:HLOGHQHQLVW gleich, wie ich auf meine Zahlen komme. Hauptsache, ich erreiche das Ziel.“ (Interviewpartner 18)
Ihre Zerrissenheit hinsichtlich der Anweisungen des Tiger-Projektteams und der Erreichung ihrer eigenen Ziele wurde ersichtlich: „Meistens mache ich schon, was die mir sagen. Meistens. Aber wenn es für mich so offensichtlich ist und ich weiß: Diese Kundin wird in den nächsten zwei, drei Monaten anrufen, weil die 16-jährige Tochter sagt: ‚Hallo, ich will auch gerne diese Sendung sehen. ދDann verpasse ich ja meinen Sale. Dann nervt es mich halt schon.“ (Interviewpartner 18)
Ein Manager betonte auch immer wieder die affektive Bindung, welche die Callcenter-Agenten an ihre eigenständige Arbeit hatten, etwa in der Durchführung der manuellen Bedarfsanalyse am Telefon. Er wies mehrfach auf ein professionelles Ethos unter den Callcenter-Agenten als Verkäufer hin, das durch die Automatisierung dieser Tätigkeit durch die Software in Gefahr geriet: „Genau das wollen die Leute nicht. Also sie wollen verkaufen, sie wollen zeigen, dass sie verkaufen können. Das ist ein ganz feiner, aber wichtiger Unterschied (. . .) Und da kommt es wahrscheinlich drauf an, welche Leute man einstellt. Das ist wahrscheinlich, wie wenn man einen Chirurgen einstellt, der will schon selber operieren, der will gar nicht, dass das eine Maschine für ihn übernimmt, ja? Das ist da irgendwie so ein Berufsethos, ja? Und das ist bei den Leuten auch so, weil wir ja Verkäufer eingestellt haben, ja?“ (Interviewpartner 27)
All diese Beispiele zeigen, wie sich sowohl Manager als auch Callcenter-Agenten, die tatsächlich mit der Software arbeiteten in ihrem Handeln durch die Software eingeschränkt fühlten. Neben dieser befürchteten oder in Teilen tatsächlichen Handlungseinschränkung standen aber auch die Furcht vor Automatisierung, Wegrationalisierung und einer Art Entwertung des Menschseins selbst im Zentrum der durch die Software angestoßenen Nachdenklichkeit: „Ja, weil, wir haben natürlich schon auch Verkaufsziele, Verkaufszahlen, die wir erreichen müssen und wir sind da auf einem sehr guten Weg, aber wir können ja immer besser werden. Das (. . .) ist klar, ne? Und man hat irgendwie das Gefühl
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JHKDEWGDVVÃLFKұDOV0HQVFK]XZHQLJ:HUWELQ. Und deshalb brauche ich da noch irgendwelche Zusatz-Tools, damit ich noch Effizienz steigern kann. Und es ist (. . .) halt schnell der erste Gedanke. Man führt irgendein Tool ein. (. . .) Es geht um Verkaufszahlensteigerungen. Und im Unterbewusstsein, es muss nicht mal offensichtlich sein, aber im Unterbewusstsein kriegt man wahrscheinlich schnell den Gedanken als Mitarbeiter ‚Okay. Wieso wird jetzt das eingeführt?ދ Okay, Effizienzsteigerung ist gut, aber wenn die Effizienz beim einzelnen Mitarbeiter gesteigert wird, braucht’s dann auch wieder weniger Mitarbeiter. Es ist sRHLQH.HWWH(VLVWQLFKWDXIÃ.ORSIދXQGVDJHQGLH0LWDUEHLWHUÃEs ist VR'ތLH Mitarbeiter sind auch, wir sind ja alles Menschen, ne? Und der Mensch, der hirnt.“ (Interviewpartner 28)
Auch die Frage, ob die menschlichen Agenten denn überhaupt noch Handlungsautorität hatten oder durch pure Anweisungen ihrer Handlungen selbst zu Maschinen gemacht würden, drängte sich während der Einführungsphase auf. Tiger wurde in die Sprachregelungen für die Kundeninteraktion mit integriert. 57 Ein Teamleiter teilte seine eigene Wahrnehmung davon und wie seiner Ansicht nach die detaillierten und geskripteten Leitfäden zur Gesprächsführung mit den Kunden ausschlaggebend für eine Entmenschlichung des Kundenservice waren: „Also man merkt ja dann auch als Kunde, hey, da ist irgendjemand, der bekommt auch irgendetwas vorgeschwatzt in dem Sinn. Ist auch nicht mehr eine soziale Bindung dazwischen. Man hat auch nicht mehr wirklich das Gespräch. Also wir haben ja auch einen Leitfaden, einen Gesprächs-Leitfaden. Würde der Mitarbeiter das also haargenau so machen, dann hätte man das Gefühl man würde mit einem Roboter sprechen. Deshalb ist das nur ein Leitfaden und nicht etwas, dass du eins zu eins so machen musst. Wir hatten mal ein Abschlussmanuskript, wenn du verkauft hast, musst du am Kunden noch kurz eine Zusammenfassung machen. Das waren sechs Seiten ungefähr, die du dem Kunden einfach kurz vorlesen musstest. Also als ich diesen Mitarbeitern zugehört hatte, ich dachte ich hätte einen Roboter vor mir, weil denen wurde wirklich vorgesagt, was musst du sagen und ich finde das nicht mehr menschlich und das merkt ja der Kunde auch und die Reaktion war teilweise auch ja, spreche ich jetzt gerade mit einem Roboter. Also, ja, ich finde nicht wirklich, dass es menschlich ist dann.“ (Interviewpartner 28)
Auch die Assoziation mit dem arbeitenden Menschen als Tier (Zoomorphismus) trat in der Auseinandersetzung mit Tiger immer wieder hervor. 58 Ein Projektmitarbeiter, der für die Implementierung von Tiger mitverantwortlich war, erklärte 57 58
Eine ausführlichere Darstellung der Integration findet sich in Abschnitt 4.2.1. Auch wurde als Symbol für die Software die Figur eines Tigers verwendet. Die menschlichen Callcenter-Agenten wurden bei der Einführung zum Teil bildlich auch als Tiger dargestellt. Ausführlichere Beschreibungen dieser visuellen Praktiken finden sich in Abschnitt 4.1.2.2.
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etwa, wie er das Projekt als weiteren Schritt hin zur Wegrationalisierung menschlicher Arbeit sah, indem er wieder die Frage nach dem Wert des Menschen im Vergleich zu den ökonomischen Zielen hervorbrachte: „Tiger selber nicht. Aber, also gut, wenn Sie, nein, also im Moment noch nicht. Aber all diese Systeme eben und auch das andere, das ich Ihnen erwähnt habe. Wenn Sie einen Schimpansen hätten, der sprechen könnte und ein paar Tools bedienen, dann würde diese Firma Schimpansen einstellen, dann könnten sie mit Bananen die bezahlen, das wäre viel günstiger. Die würden das machen, aber Schimpansen können zum Glück die meisten nicht sprechen. Das ist jetzt wirklich ein bisschen böse, aber ja, in der Zukunft befürchte ich, ja, es wird solche Systeme geben, die das können.“ (Interviewpartner 29)
Wie dieses Beispiel zeigt, rief das Projekt Tiger selbst unter den Mitgliedern des Projektteams kritische Fragen auf. Wie intensiv sich ein Projektmitarbeiter mit der Thematik auseinandersetzte, wurde deutlich, nachdem alle Fragen zu dieser Studie beantwortet waren. Von sich aus fügte er hinzu, wie er selbst seinen eigenen Beitrag für eine potentielle Entmenschlichung sah und erwähnte, wie ernsthafte Gewissensfragen im Zusammenhang mit Automatisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen bei ihm aufkamen: „Eigentlich arbeite ich an einem System, das ich gar nicht unbedingt haben möchte in Zukunft, oder so. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Und wir machen, wir automatisieren wie die Verrückten, um Personal einzusparen. Und alle paar Jahre kündigen Sie 10 Prozent der Belegschaft und wir leiden ja selber darunter. Wir können quasi froh sein, dass wir hier weitere Rationalisierungsmaßnahmen erarbeiten dürfen und ja, als Beispiel würde ich gerne, kennen Sie diesen (. . .) [Supermarkt] da unten? (. . .) Der hat ja ein automatisches Kassensystem. Und am Anfang, ich war dagegen, ich habe gedacht, eigentlich leben ja Leute davon, dass sie an der Kasse arbeiten. Ich gehe an die Kasse, diese Roboter da interessieren mich nicht. Und der Service an der Kasse wurde so miserabel, das haben sie absichtlich gemacht, weil sie einfach die ganze Filiale dermaßen unterbesetzen, dass gar niemand Zeit hat an der Kasse zu sein und jetzt gehe ich nicht mehr an die Kasse, weil ich kann da nicht jedes Mal warten, bis jemand auftaucht. Und sie haben mich da sanft darauf hingewiesen, ich soll doch jetzt diese automatische Lösung wählen, oder? Also wir rationalisieren uns eigentlich überall ein bisschen selber weg von der Bildfläche.“ (Interviewpartner 29)
Am Ende seiner Ausführungen wurde klar, wie drängend die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Zukunft von menschlicher Arbeit, aber auch nach einer wechselseitigen Bedingung von Mensch und Maschine war. Als der Projektmitarbeiter merkte, dass er selbst keine Antwort auf die von ihm selbst aufgeworfene Frage hatte, stellte er sie noch einmal laut:
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„Aber jetzt einfach, ja, was glauben denn Sie, denken Sie, dass solche Systeme ohne Menschen auskommen werden?“ (Interviewpartner 29)
Auch wenn die obigen pessimistischen Gedanken und Auseinandersetzungen über die eigene menschliche Rolle in den Interviews während der Pilot- und Einführungsphase der Software überwogen, gab es auch optimistische Zukunftsvisionen. Diese waren interessanterweise bei denjenigen Callcenter-Agenten vernehmbar, die sich aufgrund ihrer in der Vergangenheit niedrigen Verkaufszahlen als „Low Performer“ unter den Key Usern für Tiger befanden und die in der Software von Anfang an eine Erleichterung ihrer Arbeit sahen: „Also ich schätze es halt nicht als unmenschlich ein in dem Sinn. Ich glaube eher, es wird menschlicher, da es quasi dem Agenten die ganze Arbeit vereinfacht und der Agent dadurch auch eher menschlicher sein kann und menschlicher agieren kann mit dem Kunden.“ (Interviewpartner 19)
Tiger rief also in vielfacher Hinsicht eine Auseinandersetzung der menschlichen Akteure mit ihrer eigenen Rolle hervor. Überraschenderweise fand sich diese Identitätsarbeit nicht ausschließlich bei den Callcenter-Agenten selbst, die ja mit der Software arbeiteten und sie als direkten Eingriff in ihre täglichen Arbeitspraktiken sahen. Auch bei den Managern und Vorgesetzten ließ sich die Hinterfragung ihrer eigenen Autorität finden, und die Projektmitglieder selbst kämpften in Teilen mit ihrem Gewissen hinsichtlich ihres Beitrags zu einer Entmenschlichung und Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen. Gerade diejenigen CallcenterAgenten, die eher im niedrigeren Leistungsbereich angesiedelt waren, erhofften sich von der Software jedoch gegenteilige, positive Effekte auf ihre Arbeit hin zu mehr Menschlichkeit. 4.2.2.2 (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten Trotz der in den oberen Abschnitten erörterten Widersprüche und Widerstände gegenüber der neuen Software, war deutlich ersichtlich, dass die Arbeit vorangehen musste und sich die Software deshalb im Fluss dieser Praktiken in Richtung einer gemeinsamen Ausführung und Fortführung der Tätigkeiten einfügte. Neben der Frage nach der eigenen Rolle bei der Arbeit wurde die Arbeit durch den Gebrauch der Softwarelösungen im Fluss zwischen menschlichen Akteuren und der Software (um)verteilt und die Verantwortung für die Ausführung von Tätigkeiten oder bestimmter Teilschritte wurde neu zugewiesen.
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SF SF stellte eine Umverteilung von Verantwortung dar, da vorher über Huma automatisiert zusammengestellte Reports nun manuell durch den Mitarbeiter erstellt wurden. Für die Personalarbeit im Fallunternehmen war diese Erstellung von diversen Reports zentral. Bislang konnten die Berichte an die Informationsbedarfe angepasst und automatisiert über Huma erstellt werden. Die Personalmitarbeiter waren vor SF für die Interpretation der Reports zuständig und die Software erstellte die Reports. Die in SF automatisiert zur Verfügung gestellten Reports jedoch waren nicht deckungsgleich mit den bestehenden Informationsbedarfen, die für die Aufrechterhaltung der Personalmanagementpraktiken notwendig waren. Um die bislang für die Arbeit genutzten und als relevant erachteten Informationen zu erhalten, mussten die Personalmitarbeiter nun bei SF diese Informationen manuell zusammenstellen und aufbereiten. Es war also offensichtlich, dass relevante Informationen, die vorher automatisiert erstellt worden waren, nun durch die Personalmitarbeiter zusammengetragen wurden. Die Leiterin für Leadership und Development beklagte sich über die neu geschaffene Mehrarbeit durch SF: „Ja, jetzt bin ich ja dieses Jahr derzeit noch nicht irgendwie, sind wir noch nicht dran, aber ja, meistens ist es dann doch recht mühsam, weil Success Factors das dann nicht bietet. Oder auch bei gewissen Reports, dass ich gesagt habe, das geht so nicht, kann damit einfach nichts anfangen, ich muss es mir händisch zusammenstellen. Das ist eine unglaubliche Arbeit.“ (Interviewpartner 6)
Neben den Aufgaben, die von materiellem auf menschliches Handeln übertragen wurden, gab es Beispiele, in denen der Software gänzlich neue Aufgaben zugewiesen wurden. Diese Schaffung ganz neuer Aufgaben war etwa dort sichtbar, wo auch ganz neue Software und dabei neue Praktiken etabliert wurden. Am Beispiel „Talent Discovery“ der SF Talentmanagementsoftware etwa tat sich eine neue Funktion und sogleich eine dezidierte Aufgabe für materielles Handeln auf: die Software wurde zu einem verständigten Artefakt, das für einen Pool an talentierten Mitarbeitern zuständig war, indem es diese Talente sammelte, sichtbar machte, zur Verfügung stellte und dabei eine Art objektive Meinung bot: „Gab da eben keine großen Kriterien, also und heute kann man dann recht einfach, okay, wir sollen Leute nominieren, kann man sagen, so, was ist unsere Liste, die waren schon aus den High Potentials, und das sind jetzt noch High Potentials, die würden sich jetzt aufgrund eurer Talent Discovery wirklich empfehlen für das Programm. Wen wählt ihr aus? Wir haben ein bisschen dezidierter (. . .) Also wirklich, wenn jetzt auch Positionen frei werden im Unternehmen, sagen wir, irgendwo wird eine Geschäftsleitungsposition frei, hätten wir wirklich auch wirklich einen Pool an Leuten, wo man gucken kann. Also ich denke, das hat sich verbessert, dass wir einfach auf dem Teilnehmerkreis, den wir haben,
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auch mal eine klare Sicht haben und auch wirklich eine validierte Sicht, der haben ja alle zugestimmt auf dem Level, und wirklich auch sagen können, ‚die ihr wirklich als unsere High Potentials seht auf dem Level. Und die sich dann auch empfehlen können. Und die wachsen sollten. Also guckt sie euch wirklich nochmal genau an, wenn jetzt da was frei ist.( “ދInterviewpartner 6)
Die Beispiele zeigen, wie Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität entweder neu verteilt oder neu definiert wurden, etwa indem materieller Handlungskapazität auch ganz neue Aufgaben zugewiesen wurden. IBM Interact Die Arbeit im Callcenter wurde andauernd von Menschen und einer Vielzahl an Technik gemeinsam ausgeführt. Bei den Beobachtungen und in den Interviews wurde dies auf ganz einfache und oberflächliche Weise deutlich: funktionierte einer der beiden Parts (Mensch oder Technik) nicht, so wurde auch die Arbeit nicht ausgeführt. In Momenten etwa, in denen das zentrale Kundendatensystem ausgefallen war, konnten die Mitarbeiter ihre Kundengespräche nur partiell ausführen, da sie den Anrufer nicht zu einer Kundenmaske zuordnen konnten und somit keinen Zugriff auf die relevanten Informationen hatten. Umgekehrt: war ein Mitarbeiter nicht am Platz, konnten an diesem Telefon keine Anrufe entgegen genommen werden. Eine Mitarbeiterin, die für die tagesaktuelle Koordination und für das „Monitoring“ der Callcenter-Agenten und der eingehenden Anrufe zuständig war, beschrieb den Zusammenbruch ihrer Kontrollarbeit an zwei Bildschirmen, wenn die Systeme ausfielen: „Dann, also das System ist, das geht eigentlich relativ schnell meist wieder. Die Ausfälle sind nicht so lang. Aber wenn das nicht mehr geht, ja dann bin ich blind quasi.“ (Interviewpartner 20)
Die Mitarbeiterin hatte also bei einem etwaigen Ausfall der Technik überhaupt keine Möglichkeit, manuell an die Informationen zu gelangen, die relevant für ihre Arbeit waren. In ihrem Gebrauch der Technik war schon von Anfang an festgelegt, wo ihre eigene Verantwortung, z. B. im Überprüfen der angezeigten Stundenpläne und der Verfügbarkeiten der Callcenter-Agenten, und wo die Verantwortung der Software lag, z. B. in der Anzeige des Call-Volumens (Rot für hohe Auslastung, Grün für niedrige Auslastung) über ein simples Dashboard. Trotz der Trennung der Aufgabenbereiche zwischen materieller und menschlicher Handlungskapazität funktionierte keine der beiden ohne die jeweils andere. In ähnlicher Weise konnte diese formale Aufgabentrennung und -zuteilung zwischen Mensch und Technik auch bei der Einführung von IBM Interact beobachtet werden. Ein Teamleiter fasste zusammen:
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„[J]a und vielleicht auf den Mitarbeiter, dass er Missverständnis kriegt oder Missverständnis von Anfang an hat, in Bezug auf eben Kompetenz (. . .), dass das einfach von Anfang an klar ist. Also: Was ist die Aufgabe von Tiger?“ (Interviewpartner 28)
Die Zuweisung von Verantwortung geschah also sehr aktiv, indem das Projektteam um Tiger und die Vorgesetzten im Callcenter ganz klare Anweisungen erteilten, wann der Agent handeln musste und wann die Software handelte: 59 „Es ist schon eigentlich mit beidem verbunden, wenn ich das so sagen darf. Es ist schon strukturiert, weil eben, der Mitarbeiter weiß genau, wie Vorgehen mit dem Tiger. Es sind ganz klare Vorschläge drin mit gewissen Prioritäten im Hintergrund, welche gesetzt wurden von irgendwelchen Daten, die mitgeschnitten wurden sowie Schnittstellen. Und automatisch ist natürlich (. . .) Es ist automatisch im Sinne, weil, da muss ich nichts machen, das kommt. Das einzige, was ich machen muss, ich muss nur einen Knopf betätigen, also einen Button im System, und dann kommt das automatisch von sich heraus mit allen Vorschlägen und so weiter und so fort.“ (Interviewpartner 28)
Genauer handelte es sich um eine Umverteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten bei der Kundenbedarfsanalyse. Diese Umverteilung geschah im Sinne einer Verlagerung von menschlicher auf materielle Handlungskapazität dahingehend, dass die vormals manuell getätigte Bedarfsanalyse nun automatisiert wurde. Diese neue Verteilung der Aufgabe „Bedarfsanalyse“ fasste ein Callcenter-Agent im Interview zusammen: „Man hatte auch vorher die Informationen. Man musste sie einfach zusammentragen. Tiger trägt die schon zusammen und setzt Einem die vorne hin in dem Sinn.“ (Interviewpartner 19)
In diesem Zusammenhang wurde deutlich, warum diese Umverteilung auch aus Sicht der Callcenter-Agenten Sinn machte. So war IBM Interact beispielsweise aufgrund der Schnelligkeit und des Zugriffs auf Daten aus mehreren externen Datenbanken, auf die der Agent selbst bislang keinen Zugriff hatte attraktiv für eine freiwillige Abgabe der eigenen Handlungskapazität: „Tiger gibt, vereinfacht die ganze Arbeit, er gibt schon einen Vorschlag, ja? (. . .) Der Mitarbeiter hat gewisse Informationen nicht parat, die der Tiger aber schon geholt hat aus dem System, je nachdem wie der Kunde, das sind ja Digital-Kunden, die werden im System bereits, die wurden im System bereits identifiziert.“ (Interviewpartner 27) 59
Weitere Ausführungen darüber, wie genau die strukturierte Integration geschah, finden sich in Abschnitt 4.2.1.2 (Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken).
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„Aber das Gute ist z. B. auch, der Tiger macht Bonitätstests. Da muss ich nicht noch in ein anderes Tool gehen und den Bonitätstest machen, sondern das macht gleich der Tiger für mich.“ (Interviewpartner 18)
Außerdem bot die Übertragung eine Gelegenheit, eigene Aufgaben abzugeben, die von den Agenten nicht gerne ausgeführt wurden oder die sie selbst auch zum Teil mit ihrem Gewissen den Kunden gegenüber nicht vereinbaren konnten. So konnte auch die Verantwortung für etwaiges Fehlverhalten, beispielsweise wenn dem Kunden Produkte zu einem überhöhten Preis verkauft wurden, auf die Software übertragen werden. So wurde etwa auch festgelegt, dass Tiger für das Unmenschliche zuständig ist. Eine Callcenter-Agentin sagte: „Das ist je nachdem eben. Wenn ich dann den Sale machen muss, ich z. B. schlecht bin, dann muss ich das Menschliche abschalten. Dann wirklich nur über das Tool. Aber dann sagt mir das Tool, was ich machen muss.“ (Interviewpartner 18)
Durch die Umverteilung und der Abgabe der Verantwortlichkeit dieser Teilaufgabe mussten die Callcenter-Agenten nun eine Lücke in ihrer Tätigkeitsausführung schließen. Die Übertragung von Teilaufgaben und Verantwortlichkeiten seitens der Callcenter-Agenten auf IBM Interact führte dazu, dass es zu einer Art Lock-In und Verhedderung kam: Neustarter oder „Low-Performer“ waren auf die Software aufgrund fehlender oder mangelnder Kompetenzen angewiesen und starke Leistungsträger gaben tendenziell ihre Handlungsmotivation ab. 60 4.2.2.3 Zusammenfassung: Neuausrichtung Für hybride Formen von Handeln wurden menschliche und materielle Handlungskapazität so aufeinander ausgerichtet, dass eine Übereinkunft darüber herrschte, wie nach dem Aufeinandertreffen weiter verfahren wurde, also wie Leistung gemeinsam instanziiert wurde. Auf diese Übereinkunft wurde auf zwei wichtige Arten hingearbeitet: zunächst stellte materielle Handlungskapazität für die menschlichen Akteure eine Bedrohung ihrer eigenen Handlungskapazität und deren Auslebung dar. Diese galt es durch intensive Identitätsarbeit zu überwinden. Im Fall von SF definierten die menschlichen Akteure ihre Identität über die vorhandene materielle Handlungskapazität und die Personalmanager stellten sich selbst bei der Einführung der neuen Software nicht sehr in Frage. Bei IBM Interact hin-
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Eine nähere Beschreibung, wie sich daraufhin unterschiedliche Entwicklungspfade von Leistung bildeten, erfolgt in Abschnitt 4.3.1.1, in dem es um die inhaltliche Veränderung von Praktiken durch hybrides Handeln geht.
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gegen war der Drang nach einer Selbstverortung viel stärker. Sowohl Führungskräfte als auch Callcenter-Agenten fanden sich immer wieder im Autoritätswettbewerb mit den (potentiellen) Fähigkeiten der Software wieder und waren zerrissen in der Interpretation ihrer Situation als humanisierend, entmenschlichend oder sogar einer wechselseitigen Bedingung zwischen Mensch und Software. Diese Identitätsarbeit stand in engem Zusammenhang mit dem zweiten Bestandteil der Neuausrichtung, und zwar der (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten. Hier wurden Aufgaben zwischen materieller und menschlicher Handlungskapazität umverteilt. Bei SF erfolgte eine Übergabe von Materie zu Mensch (weniger Automatisierung), bei IBM Interact war das Gegenteil zu beobachten. Indem Agenten ihre Handlungskapazität bei der Ausführung einer Teilaufgabe ihrer Arbeit an die Software abgaben, entstand auf menschlicher Seite eine Art Handlungslücke. Beim Schließen dieser Handlungslücke durch die Agenten zeichneten sich unterschiedliche Entwicklungspfade ab. 61 4.2.3
Orchestrierung
Trotz der im vorangehenden Abschnitt erörterten Neuausrichtung der materiellen und menschlichen Handlungskapazität und der Übereinkunft in Rollen und Verantwortlichkeiten gab es immer wieder Momente, in denen die materielle, aber zum Teil auch menschliche Handlungskapazität in der Ausführung ihrer Verantwortlichkeiten an ihre Grenzen stieß. In diesen Momenten einseitiger begrenzter Handlungskapazität konnten Praktiken in deren einvernehmlichen Anordnung nicht immer im notwendigen Maße ausgeführt werden. So wurde in den softwaregestützten Praktiken mit SF und IBM Interact eine Vielzahl von digitalen Informationen produziert und es wurde mit ihnen weitergearbeitet. Da es sich bei diesen Informationen um ein Abbild der Realität handelte, führten die menschlichen Akteure immer wieder Reflexionsarbeit durch, um diese Realität entweder korrekt widerzuspiegeln oder sie bewusst anders darzustellen, also zu verfälschen. Diese Übersetzungsarbeit erfolge auch umgekehrt, indem menschliche Akteure digital produzierte Informationen einordneten und in den Arbeitskontext rückübersetzten. In diesem Zusammenhang war es immer wieder notwendig, die erkannten Unzulänglichkeiten der Technik (oder auch des Menschen) durch die Arbeit des jeweiligen Gegenpols auszubessern. Diese Formen von Übersetzung digitaler Informationen und Abbildung von Realität, genauso wie die Reparatur der technischen oder menschlichen Unzulänglichkeiten, konnten als eine Art Orchestrierung bei der Handlungshybridisierung identifiziert werden, indem etwaige Ausfälle durch die jeweilige andere Handlungskapazität überbrückt wurden.
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Eine ausführlichere Beschreibung darüber, wie sich diese unterschiedlichen Entwicklungspfade bei der Leistung ausprägten, findet sich in Abschnitt 4.3.1.1.
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4.2.3.1 Übersetzung digitaler Informationen und Abbildung von Realität Obwohl die digital abgebildeten Informationen zwar die organisationale Realität abbilden sollten und diesen Zweck bis zu einem gewissen Grad auch erfüllten, gab es zum Teil Verzerrungen in dieser Darstellung. Es ließen sich unterschiedliche Strategien finden, wie die menschlichen Akteure erstens digitale Informationen produzierten und zweitens mit diesen digitalen Informationen umgingen. Diese doppelte Übersetzungsarbeit, also die Übersetzung von real zu digital auf der einen und die Rückübersetzung von digital zu real auf der anderen Seite, kann anhand der empirischen Befunde nachvollzogen werden. SF Im Kontext von SF entwickelte sich erst nach und nach ein Bewusstsein darüber, dass die digitale Information nicht zwangsläufig ein Spiegel der tatsächlichen Geschehnisse war. Hierfür bedurfte es einiger Abstimmungs- und Interpretationsarbeit unter den menschlichen Akteuren. Deutlich ersichtlich wurde immer wieder, dass die verzerrten Informationen von unterschiedlichen menschlichen Akteuren produziert und interpretiert wurden. Diese Tatsache, dass digitale Information eine Art projizierte Zusammensetzung aus der Arbeit verteilter Subjektpositionen war, erschwerte und verzögerte oftmals die Interpretation derjenigen Akteure, die mit den digitalen Ergebnissen konfrontiert waren. Der Leiter der Abteilung Learning beschrieb diese Lücke in menschlicher Handlungskapazität zwischen Datenproduzenten und Dateninterpreten und wie sie dieser Lücke auf die Schliche kommen und sie schließen mussten, indem sie an die Produzenten (Nutzer) immer wieder Hinweise zur korrekten Anwendung der Technik weitergaben: „Was uns stark aufgefallen ist, wo wir am Anfang auch mit dem Reporting starke Probleme hatten, ist eben: Die Zahlen spiegeln das wider was im System passiert, also sie spiegeln nicht automatisch das Wissen vom Mitarbeiter wider. Wir haben es am Anfang sehr stark gehabt, da ist so ein bisschen die Benutzer-, ich würde eher Unfreundlichkeit von Success Factors sagen, man macht Tests, und am Ende des Tests hat man dann drei Knöpfe, die man klicken kann und das ist irgendwie speichern oder zurück oder übermitteln. So und jetzt: Die Mitarbeiter sitzen davor und sagen: ‚Welchen muss ich jetzt drücken? ދUnd viele denken: ‚Speichern, klingt gut.‚ ދSpeichernұ sendet aber die Ergebnisse nicht an das System. Man müsste ‚Übermittelnұ klicken. So, und das ist dann genau typisch. Ich mache dann nachher eine Auswertung und dann sage ich: ‚Hey, bei euch sind 70 GHU/HXWHQLFKWJHVFKXOWұ, sagen meine Zahlen. Und die Zahlen sagen, was das System sagt. Und (. . .) der Trainer geht zurück, geht, guckt in seine Teilnehmerlisten und sagt: ‚Nein, stimmt nicht, ich habe 90 % der Leute geschult. ދUnd dann stellt man eben fest, ja das System ist eben nur so gut, wie halt, wie es erklärt ist, wie die Benutzer, die es benutzen, und da mussten wir doch einiges
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dran arbeiten (. . . ) die Leute besser informieren, was sie dann machen müssen.“ (Interviewpartner 13)
Dieses Bestehen auf den akkuraten Umgang mit digitalen Informationen war grundlegend dafür, dass die auf Basis der Informationen gefällten Entscheidungen und getätigten Handlungen richtig waren, in dem Sinne, dass sie auf korrekte Informationen aufbauten: „[U]m die Zahlen so hinzukriegen. Sonst zieht man völlig falsche Schlussfolgerungen. Und dort ist es z. B. wiederum so, outgesourcte Callcenter, für die sind die Zahlen geldrelevant. Weil die nur Mitarbeiter zahlen, die geschult wurden. Ja.“ (Interviewpartner 13)
Die menschliche Reflexionsarbeit beinhaltete also einerseits das kritische Hinterfragen, ob die widergespiegelten Daten richtig waren (Hinterfragen der Daten), warum sie gegebenenfalls nicht richtig waren (Hinterfragen der Technik) und wie diese korrekte Darstellung erreicht werden konnte (Hinterfragen der Darstellungsarbeit der menschlichen Akteure). Andererseits ging die Interpretation der Daten auch so weit, dass auf bestehende menschliche Entscheidungslogiken zurückgegriffen und materielle Handlungskapazität somit abgeschwächt wurde. So hinterfragte das Entscheidungskomitee etwa nach der Klassifizierung der Mitarbeiter in das Raster der Talentmanagementsoftware die Ergebnisse und ordnete die Talente anhand einer Normalverteilung neu ein. Die Leiterin für Leadership und Development erzählte von ihrem eigenen Verständnis über die Eingruppierung: „Also wir achten schon darauf, dass einer jetzt nicht alle seine Mitarbeiter irgendwie hier rechts oben hat. Das ist irgendwo auch unrealistisch. Also es sollte schon auch (. . .) Also theoretisch müsste da eine gewisse Normalverteilung dahinter liegen über dem Ganzen.“ (Interviewpartner 6)
Weiter erinnerte sie sich daran, wie die Vorgesetzten systematisch und in übertriebenem Maße ihre Mitarbeiter als Talente eingruppierten und sich daraus die Situation ergab, dass plötzlich ein Überhang an Mitarbeitern, die befördert werden sollten, sichtbar war. In der Diskussion wurde dieses als verzerrt eingeschätzte Abbild der Realität allerdings aufgelöst und anhand der durch das Talentraster gegebenen Leitplanken neu zugeordnet: „Also, im ersten Jahr haben wir tatsächlich, da waren hier ganz viele, bevor wir das Meeting hatten, und da haben wir dann schon nochmal einige da rübergeschoben, also da hatten wir, glaube ich, hier irgendwie 15 Leute drin. Und das ist ja sehr unrealistisch. Also das kann auch irgendwo eben Normalverteilung ist irgendwie auch gar nicht (. . .) Ich musste das dann aber gar nicht ansprechen, sondern wir haben wirklich durch die Diskussionen zu jeder einzelnen Person
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hat sich das automatisch eigentlich ergeben in dem ersten Review Meeting damals. Jetzt im zweiten war es von Anfang an eigentlich so. Da haben wir eigentlich fast gar nichts verändert. Man kann jetzt sagen, gut, sie haben jetzt das wirklich schon von Anfang an besser gemacht, also sie haben es wirklich von Anfang an auch verinnerlicht, wie das System ist, wie man die Einschätzungen macht. Hat ja auch Vorteile, wenn das dann verstanden ist und die Leute sich dann auch im Vorfeld schon einen Gedanken mehr machen als, das ist ja auch ein Learning. Und es hat ja eigentlich auch einigermaßen gepasst. Wir hatten jetzt im letzten Jahr eigentlich keinen, der hier drin steckte. Es war eben im ersten Jahr, von dem ich vorhin schon erzählt hatte. Im Low Performing Bereich oder Developing.“ (Interviewpartner 6)
Ein Personalcontroller beschrieb in diesem Zusammenhang auch die herrschende Auffassung zu SF, dass menschliche Handlungskapazität nicht vollkommen an die digitalen Informationen gebunden sein sollte und die menschlichen Akteure – durch Reflexion – einsprangen, um etwaige Entwicklungen in die falsche Richtung durch blinden Gehorsam zu vermeiden: „Ich habe das Gefühl, das Ganze, die Automatisation und alles entwickelt sich gut, solange man im Prinzip noch irgendwo gewisse Toleranzen zulässt. Wenn natürlich im Prinzip die Messung dazu missbraucht wird, nur noch die vorderen 10 % weiterzubringen und den Rest geht über die Klinge, dann haben wir das Ziel verfehlt.“ (Interviewpartner 14)
Die vorangegangenen Beispiele waren typisch dafür, wie die Nutzer und Projektteammitglieder um die Softwarelösungen von SF dafür sorgten, dass materielles Handeln nicht vollkommen losgelöst von menschlichem Handeln war, indem es ein Eigenleben über verzerrte digitale Informationen aufbaute. Als Basis für diese Pflege der Daten und den reflektierten Umgang mit ihnen gehörte allerdings auch, dass das Zustandekommen der Informationen aufgrund der einfachen Algorithmen relativ gut nachvollziehbar war. IBM Interact Im Callcenter wurde die organisationale Realität auf zwei Arten abgebildet: zum einen erfolgte sie manuell, indem Callcenter-Mitarbeiter bestimmte Informationen in die Systeme einpflegten. Zum anderen war eine automatisierte Dokumentation der Arbeit im Einsatz. So wurde die Arbeit der Agenten durch unterschiedliche Tools und Kennzahlen minutiös überwacht und in vielen Fällen als Mitschnitt von Metadaten dokumentiert. Trotzdem stimmte dieser automatisierte Mitschnitt der digitalen Information nicht immer mit der Realität überein. Dafür verantwortlich waren unbewusste Verzerrungen durch inkorrekte Nutzung, aber
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auch absichtliche Manipulationen, sofern die Callcenter-Agenten die Funktionsweise durchschaut und ein Austricksen der Systeme möglich war. Ein Supervisor erklärte etwa die sogenannte „Agentenwäsche“, durch die einige Agenten nur positive Kundenbeurteilungen über ihre Arbeit zuließen. Nach jeder Kundeninteraktion wurde automatisch eine E-Mail an den Kunden geschickt, in der er gebeten wurde, den Agenten, der ihn am Telefon betreut hat, zu bewerten. Diese Kundenbewertung war sehr wichtig und wurde von den Vorgesetzten als Kennzahl für Freundlichkeit genutzt. Um etwaige negative Kundenfeedbacks zu umgehen, manipulierten einige Agenten diese Zahlen, indem sie den Anruf intern weiterleiteten und somit einschritten, bevor die automatisierte Kundenbefragungsmail zur Bewertung des Callcenter-Agenten verschickt wurde: „Und dann entsteht das, dass der Mitarbeiter vielleicht das gleich auf Internal klickt, dass da keine E-Mail rausgeht und somit ist der Agent gewaschen.“ (Interviewpartner 16)
Der anrufende (und in der Situation wahrscheinlich unzufriedene) Kunde konnte somit entweder überhaupt keine Beschwerde an das Unternehmen schicken oder diese Beschwerde wurde über den falschen Callcenter-Agenten gestellt, was sich wiederum negativ auf dessen Leistungsbeurteilung auswirkte. In einigen Fällen schlugen sich die absichtlichen Manipulationen aber auch direkt auf den Unternehmenserfolg nieder, etwa, indem Mitarbeiter Arbeit vortäuschten. Grund dafür war z. B., wenn Sie die für sich selbst festgesetzte Obergrenze ihrer Leistung erreicht sahen. Diese Spielstrategien im Umgang mit der Technik waren vor allem bei den so klassifizierten „High Performern“ erkennbar. Eine Callcenter-Agentin, die allgemein für ihre gute Arbeit bekannt war, beschrieb ihre exklusive Kenntnis, weshalb ihre Leistungskennzahlen in einigen Bereichen niedrig waren und wie sie sich selbst im hektischen Arbeitsalltag Verschnaufpausen verschaffte. Sie umging die technische Überwachung und nutzte die Technik für sich, indem sie sich aktiv und geschickt in unterschiedliche Statusanzeigen einloggte und die Vorgesetzten, die diese Informationen am Monitor sahen, gezielt täuschte: „Wir haben ja immer einmal im Monat entweder ein Coaching oder mit dem TL [Teamleiter] ein Gespräch, was die Zahlen betrifft und dann heißt es, ich habe z. B. immer schlechte AUX. Meine AUX-Zahlen sind immer im roten Bereich. D. h. ich nehme zwar Telefongespräche an, ich telefoniere auch in einem guten Zeitpunkt, ich halte die Gesprächszeit ein. Aber ich habe dann immer ‚After Workދ, d. h. ich bin immer auf ‚Backofficeދ, statt dass ich mit dem Kunden eben das längere Gespräch habe und kurz ‚ich erstelle hier den Fall, ich mache das,ދ sage ich dem Kunden: ‚Okay, werde ich für Sie machen. Dankeschön. Auf Wiederhören ދManchmal logge ich mich auch auf Backoffice einfach zum Nichtstun.
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Also das ist für mich so meine persönliche Pause dann. Die anderen Zahlen stimmen dann trotzdem. Eigentlich ist es meistens so, wenn etwas nicht stimmt, dann stimmt ja alles andere auch irgendwie nicht. Aber ich kann ziemlich schnell Gespräche abnehmen. Wir haben das Ziel von 46 Gesprächen pro Tag. Dann merke ich z. B., über den Mittag habe ich schon 30. Dann muss ich ja nicht mehr so viel machen, bis ich nach Hause gehe. Ja gut, dann habe ich am Nachmittag dann mehr Zeit für mich, dann mal auf Training.“ (Interviewpartner 18)
Über einige der Tricks und missbräuchliche Nutzung der Technik wussten die Vorgesetzten Bescheid. Durch die Vielzahl an Tools und Agenten gingen diese Manipulationen jedoch häufig als verzerrte Informationen in den Arbeitsalltag ein, da eine Reflexion seitens der Vorgesetzten aufgrund der undurchsichtigen Arbeitsweise und Komplexität der Technik nicht immer möglich war. „Also es kann sein, dass der Mitarbeiter natürlich gewisse Tricks auf Lager hat und dann irgendwie mit der Nachbearbeitung ein bisschen spielt und sich vielleicht umloggt (. . .) Wir haben ja das (. . .), das ist unser Telefonsystem, da kann man sich umloggen und mal anklicken, ‚ich bin jetzt mit einem Expert oder ich bin in einem Coaching oder ich bin auf der Toiletteދ, also ist wirklich ein militärisches Tool, da kann man wirklich alles eintragen, was man gerade am Machen ist. Und dann kann natürlich sein, dass der Mitarbeiter sich dort einfach umloggt. Dann sieht das so aus, als wäre er einfach umgeloggt, aber ist vielleicht noch an einem Kundenfall dran. (. . .) Das sind alles Sachen, die man austricksen kann als Mitarbeiter. Aber ansonsten stimmen die Zahlen schon. Also Sie können nicht außerhalb von einem Mitarbeiter irgendwie manipuliert werden oder sonst etwas.“ (Interviewpartner 17)
Auch bei der Nutzung von IBM Interact war den Agenten sehr früh klar, dass die Leistungskennzahlen und Zahlen verfälscht werden konnten. Hier war die Verfälschung allerdings eher auf ein Versehen zurückzuführen. Ein Agent wies bereits in der Pilotphase auf seine Erfahrungen in diesem Zusammenhang hin: „Dann bietet man ihm das an. Er sagt, noch ein Gerät. Sagt man in Tiger: Ja, der Kunde will Mobile. Dann geht es in das (. . .) [Bestelltool] rein, dort wird der Rest vom Verkauf gemacht. Und man sagt, der Kunde möchte ein Gerät. Dann geht man dort über das Gerät und dann sagt man dem Kunden, so und so viel. Dann sagt der Kunde vielleicht: ‚Nein, doch ohne Gerät. ދOder gar nicht mehr in dem Sinn, das gibt es auch. Und dann hat man quasi in Tiger gesagt, man hat einen Verkauf, hat dann aber keinen.“ (Interviewpartner 19)
Außerdem herrschte in Zusammenhang mit Tiger Verunsicherung darüber, ob die Agenten es tatsächlich wagen konnten, ungehorsam zu sein und gegen Tiger zu arbeiten. Aufgrund der Blackbox des Systems und der suggerierten Komplexität waren sie in der Anfangszeit der Nutzung nicht sicher, was die Vorgesetzten, über
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Tiger wirklich sehen konnten und ob die Verfälschung der Reports auf sie zurückzuführen sein könnte: „Und ja, dadurch das sind so Sachen, weil sie [die Manager] sagen am Anfang so, dass wir [die Agenten] gemäß Tiger arbeiten sollen, dass wir ihn auch mit entsprechenden Daten füttern. Weil wenn der Tiger z. B. sagt, ‚neinұ, wir machen trotzdem im Hintergrund was, das System sieht, ‚okay, es ist was gemacht wordenұ, (. . .) dann können sie [die Manager] nicht saubere Zahlen und Statistiken ziehen dadurch.“ (Interviewpartner 26)
Für die Projektmanager bestand die wesentliche Problematik hinsichtlich falscher Informationen in IBM Interact in der Irreversibilität der eingespeisten Daten. Sobald die Daten einmal in Tiger eingegeben waren, konnten sie nicht mehr rückgängig gemacht werden und wurden von den lernenden Algorithmen für zukünftige Kundenangebote berücksichtigt: „[J]a, wie viel Mal der Agent das gebraucht, wie oft wurde die ‚NBA-Nummer 1ދangeklickt, wie oft wurde offeriert, accepted, rejected, ob es interessiert, ob er Interesse hatte der Kunde. Das ist gespeichert. Und wenn er z. B. Interesse hatte, dann bekommt er beim nächsten Call, beim nächsten Kontakt, kommt dann wieder ein erstes Angebot. Wenn er rejected hat, wenn er gesagt, ‚nee, kein Interesse an Produkt Aދ, dann wird das in Quarantäne gelegt und gesagt: ‚Okay, für ein paar Wochen wird das gar nicht mehr angeboten in Tiger. ދUnd auch, wenn er es akzeptiert hat, kommt das Produkt natürlich nicht mehr nach vorne.“ (Interviewpartner 21)
Ein Blick auf die Rückübersetzung, also darauf, wie die Callcenter-Agenten die von IBM Interact angezeigten NBOs interpretierten, ließ feststellen, dass sich im Gebrauch sehr schnell Heuristiken darüber herausbildeten, welches Produkt für das Angebot gewählt wurde. Obwohl diese Auswahl des ersten angezeigten Produkts auf der Wahrscheinlichkeitsberechnung von IBM Interact beruhte und die höchste Verkaufswahrscheinlichkeit anzeigte, war die einfache Regel, dass immer das erste unter den NBOs ein Verkaufstreffer war, nicht generell gültig: „Also Tiger hat, gibt vier verschiedene Vorschläge, vier mögliche Vorschläge – so muss ich das sagen – und der Mitarbeiter wählt dann eigentlich immer auf der ersten Stufe, weil: Die Analysen haben ergeben – das wurde auch so implementiert –, dass die erste Stufe, also der erste Vorschlag der Vorschlag ist, der am besten passt. Aber es gibt auch Situationen, wo eben Theorie ist Theorie, Praxis ist dann die Praxis.“ (Interviewpartner 28)
Im Callcenter machten sich die Agenten die materielle Handlungskapazität der vorhandenen Tools also häufig zu eigen, um ein falsches Abbild der Wirklichkeit
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als digitale Information zu hinterlassen oder Verzerrungen geschahen unabsichtlich durch menschliche Fehler. Sehr oft jedoch gingen von den Agenten getätigte Manipulationen oder Fehlinformationen aufgrund der Vielzahl an Tools und Nutzern weitgehend im Fluss der wiederholten Arbeitspraktiken unter, sie verschwammen zwischen den Agenten oder kamen erst zeitverzögert zu Tage. Bei IBM Interact existierte ein strenges Bewusstsein über das Lernen der Algorithmen und darüber, dass jeder Klick zählte und zu diesem Lernen in positiver oder negativer Weise betrug. Außerdem gab es eine gewisse Verunsicherung darüber, welche Informationen über ihre Arbeitsweise durch Tiger für die Vorgesetzten ersichtlich waren und es herrschte eher ein Gehorsam gegenüber „dem Tiger“. 4.2.3.2
Wechselseitige Ausbesserung von Unzulänglichkeiten
Ein anderer Aspekt von Orchestrierung bestand darin, die Unzulänglichkeiten der jeweils anderen Handlungskapazität innerhalb von Praktiken auszugleichen, um die fortlaufende Ausführung derselben zu gewährleisten. Drohende Handlungslücken konnten also durch eine Art von Reparatur oder Ausbesserung überbrückt werden. Durch Reflexion sprangen menschliche Akteure entweder ein und kompensierten mögliche Ausfälle materieller Handlungskapazität oder konnten ihre eigenen unzulänglichen (oder als solche wahrgenommenen) Fähigkeiten durch die Technik verbessern. SF SF kam im Personalmanagement regelmäßig an die Grenzen dessen, was die Personalmanager für die gewohnte Ausübung ihrer Tätigkeiten benötigten. Einen Teil dieser Grenzen stellte Vergessen dar. Dass nur noch Echtzeit-Reports verfügbar waren, führte etwa dazu, dass die Personalmanager diese als Momentaufnahmen zusätzlich manuell abspeicherten, ausdruckten oder anderweitig archivierten, damit sie sie in den kommenden Jahren zum Vergleich hatten. Insbesondere Mitarbeiter, die das Unternehmen mittlerweile verlassen hatten, tauchten in den Reports, die retrospektiv erstellt wurden, aber auf Echtzeitdaten basierten, nicht mehr auf. So konnten Leistungsveränderungen schwer nachvollzogen werden: „Genau, ich musste das eigentlich gespeichert haben, weil wenn jetzt zwischenzeitlich jemand das Unternehmen verlassen hat (. . .) Also wer jetzt nicht mehr da ist oder neu da ist. Die waren dann in dem Tool nicht mehr drin und die sind dann auch in dem Grid, das ich jetzt vielleicht auch für 2014 wieder herauslassen könnte, also die Einschätzungen stimmen, aber die Leute sind nicht mehr drin. (. . .) Also ich konnte nie irgendwie eins zu eins aus dem Tool herauslassen, sondern ich musste mühsam gucken, wo war meine letzte Matrix, die ich genutzt
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hatte in dem vorjährigen Meeting in einer PowerPoint drin und konnte das eigentlich nur so dann wieder vergleichen. Weil die Vergleichbarkeit wollten wir ja auch explizit zeigen. Ja, also da ist es dann auch wieder toolgestützt recht mühsam. (. . .) Es merkt sich nicht den alten Status, sondern es merkt sich einfach ‚heutiger Mitarbeiterstand.ұ“ (Interviewpartner 6).
Neben dem Reparieren von subjektiv empfundenen Mängeln in den Funktionen der Technik gab es auch Fälle, in denen Personalmanagementprozesse ohne manuelles Handeln nicht aufrechterhalten hätten werden können. Dies war etwa bei kompletten Ausfällen der Technik der Fall, etwa indem Bewerbungen nicht angenommen und weiterverarbeitet werden konnten. Obwohl der Ersatzprozess auf anderem Wege ebenfalls digital funktionierte, und zwar durch E-Mails und manuelle Speicherung auf dem Computer, wurde dieses Ausweichen auf andere materielle Handlungskapazität als „Offline“-Weg wahrgenommen. „Zwischenzeitlich haben wir das so geregelt, dass wir die Bewerbung einfach Offline weiterverfolgen, dass wir das via E-Mail erhalten, der Linie schon mal weitersenden, damit sie den Prozess, also damit der Prozess nicht ins Stocken gerät und dass ein Bewerber nicht benachteiligt wird, nur weil seine Bewerbung nicht im System ist. Hier ist es einfach, dass wir keine Bewerberprofile im System erstellen können, also d. h. es muss durch das System, durch den Bewerber, oder durch die Vermittlung erfolgen. Das ist auch ein bisschen suboptimal. Wir können das nicht machen, weil wir müssten Passwörter anlegen, wir müssten Datenschutzbestimmungen akzeptieren und das können wir ja nicht für Bewerber machen, das ist halt ein bisschen blöd. Aber da haben wir halt diesen Offlineweg gewählt und sagen denen halt, sobald es dann funktioniert, müssen sie es machen, also wir klären es ab und sobald es funktioniert, müssen die Bewerbungen trotzdem über das Tool eingereicht werden, damit wir alles im Tool zusammenhaben. Aber das ist auch etwas, was nicht optimal ist.“ (Interviewpartner 10)
Dass sich die Arbeit der Personalmanager mit der Arbeit der Software abwechseln konnte, aber vor allem auch, dass sich hinter diesem Wechselspiel zwischen Mensch und Technik ebenso die Frage nach Macht und Autorität verbarg, verdeutlicht auch folgendes Zitat eines Personalcontrollers, der in diesem Kontext auf ein Überstimmen hindeutete: „Das ist immer dann die Frage: Wer sitzt dann am Drücker und entscheidet? Man kann alles positiv und negativ machen oder umgekehrt.“ (Interviewpartner 14)
Diese beispielhaften Zitate verdeutlichen, dass die Ausbesserung der Unzulänglichkeiten eher unidirektional war: Personalmanager kompensierten sehr oft die materielle Handlungskapazität, wenn diese entweder individuelle Arbeitsabläufe nicht wie notwendig unterstützen konnte, oder wenn sie tatsächlich nicht funktionierten. Außerdem wurde ersichtlich, dass die menschlichen Akteure durch die
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Möglichkeit des Einschreitens auch ein gewisses Verständnis von Autorität gegenüber den Tools entwickelten. IBM Interact Bei IBM Interact war die wechselseitige Orchestrierung in zwei Ausprägungen typisch: erstens musste der Callcenter-Agent im Telefongespräch mit menschlichen Fähigkeiten technische Unzulänglichkeiten ausbügeln oder aber er konnte aufgrund der technischen Überlegenheit selbst besser werden in seiner Tätigkeit. Zweitens war, wenngleich auf subtilere Weise, ein wechselseitig hervorgerufenes Lernen zwischen beiden erkennbar. Die zentralen Fähigkeiten, welche die menschlichen Agenten gegenüber der Software aufweisen konnten, lagen im sozialen Umgang mit dem Kunden durch Kommunikation und Interaktion, konkret im Zuhören und Sprechen. Bei genauem Hinsehen jedoch wurde ersichtlich, dass auch diese Fähigkeiten bereits nur in Kombination mit materieller Handlungskapazität, nämlich der des Telefons, ausgelebt werden konnten. Die typische Situation, in der die CallcenterAgenten für Tiger einsprangen, ergab sich aus dem Telefongespräch mit dem Kunden heraus. So mussten Agenten am Telefon den Aussagen des Kunden aufmerksam zuhören, die Angebote, die Tiger machte, handhaben und, wo nötig, manuell in die Bedarfsanalyse einsteigen, etwa auch, wenn Tiger bestimmte Produkte nicht anzeigen konnte. Eine Agentin teilte in diesem Zusammenhang ihr breites vorhandenes Wissen über bestimmte Produkte, die IBM Interact nicht kannte, mit: „Weil ganz abhängig machen von Tiger können wir uns leider nicht, weil sie machen nur fünf Angebote von allen anderen Kombipaketen, die wir haben, also es können nicht immer alle Kombipakete drin sein.“ (Interviewpartner 25)
Besonders deutlich wurde in den Interviews und auch in den Beobachtungen und Live-Call-Listenings, dass jedes Kundengespräch mit Konzentration geführt werden musste, um etwa Nuancen in den Aussagen der Kunden zu bemerken oder auch Stimmungslagen zu erspüren, die einen Verkauf beispielsweise unmöglich machten. Ein Teamleiter sagte in diesem Zusammenhang: „Das sind wieder Theorie und Praxis. Eigentlich Theorie sagt ja, aber in der Praxis funktioniert es nicht, weil eben das will auch der Kunde. Also der Kunde ruft uns an, weil er eben eine Beratung wünscht. Und wir können natürlich bis zu einem gewissen Punkt können wir schon theoretisch mit dem Kunden sprechen, aber der Kunde [will] ganz klar den Menschen spüren und er will auch eine Lösung und ein Produkt haben, wo er dann wirklich damit zufrieden ist. Und damit wir das auch machen und anbieten können, braucht’s je nach Situation
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
wirklich eine vertiefende Bedarfsanalyse. Und da kommt natürlich Tiger wirklich nur oberflächlich hin, weil, das ist zu wenig, weil auch Informationen, weil eben der Kunde nur einen kleinen Nebensatz (. . .) heißt es schon (. . .) dort eine andere Geschichte.“ (Interviewpartner 28)
IBM Interact stand also den Callcenter-Agenten in menschlich-sozialen Sinnen (Hören, Sprechen, Empfinden, Empathie) nach, die für die Erreichung eines impliziten Verständnisses der Kundensituation notwendig waren. In diesen Situationen war die manuelle Bedarfsanalyse der Agenten wieder notwendig: „[W]o man dann in der Praxis feststellt: Okay, das ist nicht wirklich das Produkt, was der Kunde wünscht. Und dann muss man natürlich wieder zurück auf die Bedürfnisanalyse, ‚der Bedarf vom Kundenұ. Und das ist dann wieder ‚back to the rootsұ, ne, mit Suchen, ne? Was kann der Kunde gebrauchen? Wie und wo wird der das Produkt einsetzen? Und so dann die perfekte Lösung anbieten.“ (Interviewpartner 28)
Auf der anderen Seite hielt IBM Interact oftmals auch schnellere und bessere Informationen für die Agenten bereit und konnte dadurch menschliche Unzulänglichkeiten ausbessern. In diese Richtung wünschten sich die Agenten sogar eine Weiterentwicklung der Fähigkeiten von IBM Interact, die deutlich über den menschlichen (erlaubten) Handlungsbereich hinausgingen und die Fähigkeiten auf illegale oder Graubereiche ausweitete. So wünschten sich die CallcenterAgenten etwa über Tiger direkten Einblick auf die Bankkonten der Kunden, um die Zahlungsliquidität festzustellen: „Heute hatten wir z. B. ein Thema im Step-Up: Es wäre gut, wenn der Tiger könnte verknüpft werden mit dem Bankkonto, damit wir können wissen, wieviel Geld hat ein Kunde zur Verfügung (lachend). Es ist ein bisschen Spaß gemacht, aber ja. Wir können nicht wissen, ob ein Kunde kann wirklich leisten, was wir können anbieten. Es heißt nicht, was ein Kunde braucht, was er kann zahlen. Und das ist auch der Punkt. Es ist nicht was, weil ich bin ein Informatiker, weil ich bin ganzen Tag im Internet am gamen, heißt nicht, dass ich mir für fünfhundert (. . .) das (. . .) Internet leisten kann. Und natürlich, ich möchte das sehr gern. Ist ein Traum von jedem Gamer. Aber nicht jeder kann das leisten. Vor allem nicht ein Student. Und das kann dann Tiger nicht wissen.“ (Interviewpartner 30)
Menschliche Akteure sprangen also ein, reparierten technische Unzulänglichkeiten aktiv und ergänzten dadurch die eingeschränkte Wirkmöglichkeit der materiellen Handlungskapazität. Daneben fand die wechselseitige Orchestrierung im Zusammenspiel zwischen Callcenter-Agent und IBM Interact auf unterschwelliger Weise im wechselseitigen Lernen bzw. einer wechselseitigen Steuerung statt. Hier stand nicht so sehr ein intentionales und reflektiertes Handeln der CallcenterAgenten im Vordergrund, sondern ein unbewusstes Handeln von Kapazitäten.
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
157
Callcenter-Agenten trainierten mit ihren Handlungen die Algorithmen und die Algorithmen steuerten die Agenten durch die so erreichten Kapazitäten zur Handlungsanweisung. Die Manager setzten alles daran, dass diese Maschinerie am Laufen gehalten wurde: „Also der Mitarbeiter, der gibt ja die Möglichkeiten, oder die Sachen, tut er ausblenden, die nicht passen zum Kunden und Tiger lernt [da]zu, ja (. . .) Das ist ja der Lerneffekt. (. . .) Aber da gibt es natürlich schon ein Wechselspiel, zwischen dem, was der Mitarbeiter an Zahlen sieht, selber generiert und vom Tiger natürlich wieder gepusht wird, ja klar, also aber nicht jetzt irgendwie, ja, wie soll ich das sagen, so im Sinne von, dass es den Mitarbeiter jetzt vollkommen (. . .) Dass sie jetzt alles rausholen aus dem Mitarbeiter, jeden Tropfen. Dass wir ihn so auswringen wollen, es geht nicht in die Richtung, es geht wirklich nicht in die Richtung.“ (Interviewpartner 27)
4.2.3.3 Zusammenfassung: Orchestrierung Um Praktiken aufrecht zu erhalten, fand im Wechselspiel zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität immer wieder eine Art Orchestrierung statt: Zunächst wurde einerseits organisationale Realität als digitale Information abgebildet und andererseits wurden diese digitalen Informationen auch wieder für die Anwendung im spezifischen Arbeitskontext rückübersetzt. Die Nutzer von SF betrieben sehr viel Arbeit, die digitalen Informationen aus SF zu interpretieren und sie mit ihren eigenen Entscheidungslogiken abzugleichen. Menschliche Akteure fokussierten sich hier darauf, dass die materielle Handlungskapazität kein Eigenleben entwickelte und widersetzten sich regelmäßig den digitalen Angaben. Hierbei deutete sich die Frage nach Macht und Entscheidungshoheit an. Auch bei IBM Interact griffen die Nutzer auf Heuristiken zurück, allerdings entwickelten sie eher Regeln, um die Vorschläge der Software zu interpretieren anstatt diese durch bestehende Regeln zu hinterfragen. In diesem Sinne war materielle Handlungskapazität durch erweiterte Fähigkeiten stärker als eigenständiger Akteur etabliert und es ging mehr Macht von der Software aus beziehungsweise wurde ihr zugeschrieben. Das Zusammenspiel zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität zeigte sich hier entsprechend stärker im Sinne einer wechselseitigen Ergänzung: einerseits der notwendigen menschlichen Sinnesfähigkeiten, die für die Interaktion mit dem Kunden am Telefon wichtig waren, andererseits fand eine materielle Erweiterung menschlicher Handlungskapazität statt, etwa durch den (tatsächlichen oder gewünschten) Zugriff auf zusätzliche externe Kundendaten über die Software. Zuletzt konnte auch noch die wechselseitige Steuerung zwischen IBM Interact (lernende Algorithmen und Handlungsvorschläge an Agenten) und Callcenter-Agenten (Trainieren der Algorithmen und Aufgriff der Handlungsvorschläge) als subtile Form der Orchestrierung identifiziert werden.
158
4.2.4
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Zwischenfazit
Drei Kernmechanismen für eine Hybridisierung von menschlicher und materieller Handlungskapazität konnten im Rahmen der Studie identifiziert werden: Integration (a), Neuausrichtung (b), Orchestrierung (c). Abbildung 21 stellt die drei Kernmechanismen der Handlungshybridisierung und die Verhedderung der beiden Handlungskapazitäten in der Überlagerung der Mechanismen bildlich dar. Neuausrichtung
Integration
H
M
H
Orchestrierung
M
H
H
M
M
Verhedderung
Abbildung 21: Verhedderung (Quelle: eigene Darstellung)
(a) Integration: Die umfassende Integration der neuen materiellen Handlungskapazität in ein bestehendes soziomaterielles Gefüge kann als grundlegender Mechanismus gesehen werden. Integration geschieht durch die interpretative Anwendung der Software im Kontext sowie die Eingliederung in bestehende Praktiken. Zentral ist bei diesem Aufeinanderprallen der Handlungskapazitäten die Frage nach der Richtung der Anpassung und nach dem Grad der gegenseitigen Adaptabilität. Menschliche und materielle Handlungskapazität dringen dabei in den Handlungsbereich des jeweils anderen ein und etwaige Konflikte müssen erkannt und in der wechselseitigen Einbeziehung gelöst werden. (b) Neuausrichtung: Durch Neuausrichtung werden die beiden zum Teil widerstrebenden Handlungskapazitäten immer wieder neu in eine gemeinsame Rich-
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
159
tung hin ausgerichtet. Hierbei werden Widerstände gegen das jeweils Andere aufgelöst, indem eine intensive Identitätsarbeit geleistet wird und indem Rollen und Verantwortlichkeiten (neu) definiert oder umverteilt werden. Durch die Umverteilung können Handlungslücken entstehen, die eine Veränderung von Praktiken vorbereiten. (c) Orchestrierung: Die wechselseitige Orchestrierung von Handlungskapazitäten stellt die Aufrechterhaltung der Ausführung der Praktik sicher. Hier kommt die menschliche Reflexionsfähigkeit zum Tragen, indem die organisationale Realität in digitalen Informationen abgebildet wird und verarbeitete digitale Informationen auch wieder in den Kontext rückübersetzt werden. Außerdem geschieht durch Reflexion eine konstante wechselseitige Aushilfe in Momenten eines Ausfalls oder einer Schwäche der jeweiligen anderen Handlungskapazität. In dieser Konstellation des wechselseitigen Einspringens werden auch Macht- und Autoritätsfragen geklärt. Zuletzt können noch zwei temporale Aspekte angeführt werden, die erklären, weshalb die Verhedderung verstetigt wird.
Eine auf Langfristigkeit ausgelegte Integration und Neuausrichtung der Ausübung von hybrider Handlungskapazität, und ein etablierter Modus der kurzfristigen Überbrückung, der diese Langfristigkeit und die fortlaufend hybride Ausübung von Handlungskapazität sichert.
Abbildung 22 fasst die Mechanismen der Handlungshybridisierung und die daraus folgende Verhedderung zusammen.
160
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Kernmechanismen der Handlungshybridisierung Integration
Erschließung der Funktion und Gebrauchmachen
Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken
H
M
Orchestrierung Übersetzung digitaler Informationen und Abbildung von Realität
Neuausrichtung
Wechselseitige Ausbesserung von Unzulänglichkeiten
Verhedderung Identitätsarbeit
(Re-)Definition von Verantwortlichkeiten
Abbildung 22: Bündel von Kernmechanismen zur Verhedderung (Quelle: eigene Darstellung)
Tabelle 8 zeigt weitere illustrative Beispiele für die Mechanismen aus den Interviewdaten. Tabelle 8: Illustrative Daten zu den Kernmechanismen der Handlungshybridisierung Kernkonzept Integration
62
Empirische Themen und illustrative Beispiele Erschließung der Funktionsweise und Gebrauchmachen SF: „Einige Unternehmen hatten ein recht robustes System im Einsatz und so war es einiges an Change Management, um sicherzustellen, dass sie nicht nur das neue System, sondern auch den neuen globalen Prozess verstehen.“ 62 (Interviewpartner 22) IBM Interact: „Und das ändert sich dann auch nicht, weil es kommt dann wieder bei der anderen Person, die er am Telefon hat, kommt wieder das gleiche Angebot. Aber er, ich, er sieht ja dann, dass ich ihm etwas Anderes verkauft habe.“ (Interviewpartner 25) „Die haben uns das dann erklärt und es ist eine Riesendiskussion geworden: ‚Ja, aber wir können nicht mit dem Kunden…ދ – Ã-DDEHU7LJHUPXVVGDVMDDOOHVDXVUHFKQHQ‚ – ދWas muss 7LJHUDXVUHFKQHQ"ދ%LVXQVPDO(LQHUJHVDJWKDWÃ+DOORZHQQ
Originalzitat auf Englisch.
4.2 Kernmechanismen der Handlungshybridisierung: Verhedderung
Neuausrichtung
161
du eine Bestellung machst, dann machst du zuerst das, dann das und dann das und das. DaVPXVV7LJHUDOOHVDXFKPDFKHQދ 8QGZLUÃ-DVWLPPW(ދUVWGDQQKDEHQZLUHVNDSLHUW³Interviewpartner 18) Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken SF: „Wir hatten früher ein Tool, jetzt haben wir zwei. Ist das ein Fortschritt?“ (Interviewpartner 14) IBM Interact: „Ja, jetzt sagt ihr zuerst ihr müsst einen Nutzen herholen, aber das Tool sagt mir ja bereits, was ich anbieten soll. Also was wollt ihr genau. Und das ist ein bisschen die Gefahr und jetzt gerade zwei Sachen, die auch zweispurig fahren, also dieses Tool und dann unser Konzept, das wir haben hier auf der Fläche. Also ist nicht so ideal (. . .) Also ist ein bisschen ein Widerspruch dieses Tool.“ (Interviewpartner 17) Identitätsarbeit SF: „Aber es ist halt für einige Vorgesetzte eigentlich schon ein bisschen eine Umstellung, weil dass die sich darum kümmern müssen, dass sie aktiv daran denken müssen.“ (Interviewpartner 10) IBM Interact: „Also eben, das war halt schon vielleicht das Thema ‚Vertrauen ތein bisschen am Anfang. Ja, ‚wie will jetzt da ein ToRO VDJHQ ZDV GHU .XQGH EUDXFKW"ތ³ (Interviewpartner 28) (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten SF: „[E]s macht es visibel, ich glaube, das ist der Vorteil, es macht es visibel, es ist eine Visualisierung erstens Mal, mit dieser Darstellung und es macht auch die Personen, die jetzt als High Potential identifiziert wurden, visibler, man diskutiert über die Leute, über Stärken, über ihre Schwächen, über ihre Entwicklungsschritte. Sie sind zwar selber nicht dabei, aber haben wie so eine Plattform ein stückweit und jeder geht dann aus dem Meeting und sagt, ah, vielleicht wenn was frei wird, der war da und der hatte doch diese Interessen und hätte eigentlich auch die Skills, obwohl er jetzt vielleicht aus dem Finance kommt. Aber er ist ein guter People-Manager oder wie auch immer, ist sehr kundenorientiert, den könnte man vielleicht für eine Stelle in meinem Bereich einsetzen. Ich glaube dieses vernetzte Querdenken passiert stärker auch seitdem wir dieses Tool eingeführt haben, weil es eben auch, ja, das Ganze visualisiert, was vorhin nicht unbedingt so war.“ (Interviewpartner 7) IBM Interact: „D. h. (. . .) Tiger wird einfach zugeschaltet (. . .), checkt z. B. die Bonität, überprüft welche Produkte der Kunde hat, welche dem Kunden schon fehlen.“ (Interviewpartner 27)
162
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Orchestrierung
4.3
Übersetzung digitaler Informationen und Abbildung von Realität SF: „Also wir schauen natürlich schon, dass es nicht überhandnimmt. Also bei uns gibt es dann schon natürlich Checks, ist eben eine Normalverteilung einigermaßen eingehalten, gibt es große Abweichungen zwischen Business Units, also das machen wir schon. Sowohl bei Performance Management als natürlich dann auch im Talent Discovery.“ (Interviewpartner 6) IBM Interact: „[E]r muss wirklich klicken. Er muss sagen: ‚ich habe offeriert, (. . .) habe accepted, rejected, akzeptiert oder er war interessiert. ދAlso er muss es klicken (. . .) kann ja auch einfach ‚Save ދdrücken und im Call hat er es gar nicht erwähnt. Das kann man ja nie verhindern, oder, dass die Agenten da einfach irgendwas klicken. Und die andere Seite, wir haben eben Kunden, die sie nicht im CRM-System, wo Tiger das anwendet, da ist ein Klärfall drin, (. . .) wir haben zwei Systeme eigentlich. Das eine ist ‚Cable TV only ދund für diese Kunden, also in etwa 5 bis 10% der Kunden kann Tiger erst gar nicht aufgemacht werden, weil die Kunden gar nicht und nur in der normalen CRM-Datenbank sind. D. h. da haben wir auch nochmal so eine Unschärfe.“ (Interviewpartner 21) Wechselseitige Ausbesserung von Unzulänglichkeiten SF: „Ich denke, Success Factors bietet dies, aber wir verwenden dieses Modul nicht, Analytics, das einem etwas robustere Daten liefert, und Dashboards. Im Moment wird es eher prädiktiv, es sind mehr wir, die es aus dem System exportieren und es irgendwie so schneiden, dass es uns vielleicht Informationen geben kann, einige Dinge darüber, wie ein Prozess läuft. Aber nein, nicht in formaler Hinsicht verwenden wir Predictive Analytics.“ 63 (Interviewpartner 22) IBM Interact: „[V]ielmal sehe ich aber auch, dass der Kunde das gar nicht braucht, weil z. B. der Kunde hat Internet und Telefon und es zeigt mir an, er soll doch ein Trio nehmen mit dem Fernseher. Und dann erzähle ich dem Kunden von dem Trio und dann sagt er mir: ‚Nein, ich habe gar keinen FernseKHU ]X +DXVH ދGut, dann sind alle Offerten weg, weil dann stimmt es ja wieder nicht.“ (Interviewpartner 18)
Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
An die in den vorangehenden Abschnitten beschriebenen Mechanismen der Handlungshybridisierung schließt sich die Frage an, wie sich bestehende Arbeitspraktiken in der Hybridisierung, also sozusagen im Hybrid, veränderten. Konkret ließen sich Veränderungen von Praktiken in zwei Aspekten finden: 63
Originalzitat auf Englisch.
163
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
Neuer Inhalt: Zunächst war ersichtlich, dass sich änderte, was die Akteure in den Praktiken wirklich taten. Derartige Veränderungen der Aktivitäten in der Praktik zeigten sich einerseits in einer anderen Qualität der Aufgabenverrichtung. Ferner deuteten sich verschiedene Entwicklungspfade von Leistung an.
Neue Form: Außerdem veränderte sich, wie Praktiken organisiert waren. Diese Veränderung der Organisation der Praktik beinhaltete etwa eine Entpersonalisierung der zwischenmenschlichen Interaktion mit dem Kunden bzw. Mitarbeiter. Außerdem gab es neue Formen der Leistungsträgerschaft und Leistung wurde anders reflektiert. Daneben wandelten sich ehemals etablierte Rollen und Zusammenarbeitsformen innerhalb der Organisation.
Abbildung 23 gibt einen Überblick über die hinsichtlich Inhalt und Form veränderten Praktiken. 64 In den folgenden Abschnitten wird entlang der empirischen Fallstudienergebnisse ein Licht darauf geworfen, wie sich Praktiken im Hybrid veränderten. Qualität der Aufgabenverrichtung und Entwicklungspfade von Leistung Ne uer Inhalt Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion Ve ränderte Praktiken Leistungserbringung und -reflexion Ne ue Form Veränderte Rollen und Zusammenarbeit
Abbildung 23: Veränderte Praktiken – Überblick
4.3.1
Neuer Inhalt: Veränderungen von Aktivitäten in der Praktik
In der wiederholten Intra-Aktion mit neuer materieller Handlungskapazität führten die menschlichen Akteure ihre Arbeitspraktiken anders aus als vorher – und zwar zunächst in inhaltlicher Hinsicht. Die Richtung dieser Veränderungen deutete sich bereits in den Hybridisierungsmechanismen an. So wurden durch die Neuverteilung von Verantwortlichkeiten Handlungslücken sichtbar, die sich in 64
Die Veränderungen sind in der Praktik verknüpft. Die Trennung in Inhalt und Form dient im Rahmen der Arbeit also eher einer analytischen Handhabbarkeit der empirischen Daten und soll dem Leser den einfacheren Zugang zu diesen Daten erleichtern.
164
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
veränderter Qualität der Aufgabenverrichtung und unterschiedlichen Entwicklungspfaden von Leistung ausdrückten. Außerdem gab es gerade zu Beginn der Einführungen Schwierigkeiten bei der Integration und Orchestrierung, so dass Störungen von Praktiken vorkamen oder Praktiken sogar nicht mehr ausgeführt werden konnten. Bei SF lagen die inhaltliche und qualitative Veränderung von Personalpraktiken insbesondere in einer Standardisierung begründet und in starrer materieller Handlungskapazität, weil diese nur in Maßen angepasst werden konnte. Bei IBM Interact veränderten sich Praktiken in qualitativer Hinsicht, da die Software als stärker oder ebenbürtig wahrgenommen wurde. In der Ergänzung durch diese starke Handlungskapazität stellte sich ein Überlegenheitsgefühl der menschlichen Akteure gegenüber anderen Menschen ein, was zu einer Art Entpersonalisierung der zwischenmenschlichen Kommunikation führte. 4.3.1.1
Qualität der Aufgabenverrichtung und Entwicklungspfade von Leistung
Durch die neue materielle Handlungskapazität als mitwirkender Teil bei der Aufgabenverrichtung veränderte sich der Anteil der menschlichen Handlungskapazität. Diese Veränderung lag im Fall von SF vor allem in der Standardisierung begründet. Hier war die neue materielle Handlungskapazität eine Art Fernsteuerung für den Konzern oder Vorgesetzte. Leistung wurde also vereinheitlicht. Bei IBM Interact hingegen breitete sich materielle Handlungskapazität in Abhängigkeit der Stärke der bestehenden menschlichen Handlungskapazität unterschiedlich stark aus. SF SF wurde im Fallunternehmen im Rahmen von Softwarestandardisierungsprozessen durch den Mutterkonzern eingeführt. Ziel der Einführung von SF war eine Standardisierung und gleiche Ausführung von Arbeit über die unterschiedlichen Tochterunternehmen hinweg. Ein Personalcontroller beschrieb diese Standardisierung als Vorteil für die Mitarbeiter, aber auch für Bewerber, sprich diejenigen Personengruppen, die als Kunden für das Personalmanagement gesehen wurden: „Das ist ja richtig. Das ist grundsätzlich richtig. Ein Tool soll auch im Prinzip Abläufe standardisieren. Weil eine Standardisierung auch gegenüber dem Kunden kann einen positiven Effekt haben: Man behandelt alle gleich. Also für den Kunden A wie auch für den Kunden B gelten die gleichen Abläufe, er wird gleich behandelt. Natürlich in der Hoffnung, dass es für beide in Ordnung ist. Aber Standardisieren und im Prinzip auch Sachzwänge von Tools, die helfen, sofern sie vernünftig sind.“ (Interviewpartner 14)
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
165
Beim Learning wurde insbesondere das Ziel einer höheren Qualität der Aufgabenverrichtung der Mitarbeiter durch inhaltliche Standardisierung angestrebt. Durch die Generierung von Wissen durch menschliche Experten und die standardisierte Verbreitung dieses Wissens über die E-Learning-Plattform wurde ein Mindestmaß eines Qualitätsstandards im Unternehmen gesichert: „Weil oft waren bei diesen zehn verschiedenen Meinungen auch sehr viele Falschaussagen vorhanden. Und bald hat die ganze Abteilung geglaubt und dann wurde teilweise monate- oder jahrelang einfach falsch gehandelt. Da wir natürlich unsere E-Learnings auch auf die offiziellen Prozesse stützen, optimieren wir das Ganze eigentlich. Also es geht nicht mehr um, klar, wir haben natürlich auch Sachen wie Kommunikation, dort ist man natürlich nicht eingeschränkt: ‚Du musst jetzt die und die Wortwahl benutzen. ދSondern es geht mehr darum: ‚Wie kannst du deine Kommunikation dem Kunden gegenüber optimieren? ދAber bei Sachen z. B., die technisch sind oder toolbasiert, da gibt es halt in der Regel nur richtig oder falsch. Und somit können wir sicherstellen, dass halt der richtige Prozess, der von den entsprechenden Abteilungen, die hinter diesen Prozessen und hinter den Tools auch stehen, dass die den absegnen. Also es gab wirklich Situationen, da hat man dann falsch gehandelt aufgrund von irgendetwas, was irgendjemand mal gesagt hatte und das wird natürlich dadurch minimiert. Also es geht mehr darum, vor allem bei Sachen, die nur richtig oder falsch sind, ja oder nein, technisch, toolseitig, administrativ, rechtlich wie auch immer – bei denen gibt es nur eine Antwort und bei denen wollen wir natürlich entsprechend das Wissen auch einheitlich haben.“ (Interviewpartner 1)
Es wurde sehr deutlich, dass menschliche durch materielle Handlungskapazität dahingehend gelenkt und ergänzt wurde, dass es nur eine Lösung für bestimmte Fragen gab. Leistung sollte also bis zu einem gewissen Maß auch standardisiert werden durch die Tools. Ein Personalmanager beschrieb auch, wie materielle Handlungskapazität direkte Vorstellungen weckte, indem sie durch die angebotenen Funktionen der jeweiligen SF Softwarelösung deren Bedeutung für Qualität und Leistung im Unternehmen darstellte: „Das transportiert ja schon einen Wert und das ist wichtig, Performance ist wichtig im Unternehmen. Was ja generell wichtig ist, aber das kann man ja auf andere Themen auch [anwenden]. Bei Learning beispielsweise ist es wichtig, dass du dich fortbildest. Bei Krankheitsmanagement ist es wichtig, dass du über deine gesundheitlichen Probleme sprichst.“ (Interviewpartner 14)
Durch die weitgehend unveränderliche materielle Handlungskapazität, die menschliche Handlungskapazität ergänzte, verbreitete sich ein gewisses Maß an Qualitäts- und Leistungsstandards im Unternehmen.
166
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
IBM Interact Eine inhaltliche Standardisierung bestimmter Teile von Praktiken der CallcenterAgenten geschah zum Teil auch über IBM Interact. Hier wurden etwa regelmäßig durch das Marketing neue Promotionen in das Sortiment eingespielt oder entfernt, welches die Algorithmen bei ihrer Kalkulation des NBOs berücksichtigten. Neben diesen Promotionen gab es durch den Eingriff der Marketingmitarbeiter aber auch in der Hinsicht Standardisierungen, dass bestimmte Produkte, welche die Callcenter-Agenten regelmäßig verkauften, aber einen niedrigen monetären Wert hatten, zwar nicht aus dem Sortiment, aber aus der Palette der aktiv anzubietenden Produkte genommen wurden. Dabei arbeitete die materielle Handlungskapazität von IBM Interact in der stetigen Weiterentwicklung und dem andauernden Überspulen der Information auf die Entwicklung eines neuen Gedächtnisses für die Callcenter-Agenten hin, in der bestimmte Informationen (wie etwa günstige Produkte) auch gelöscht werden konnten. Ein bereits seit Jahren im Callcenter angestellter Agent, der die gesamte Produktpalette kannte, wies darauf hin: „Es gibt noch eine (. . .)-box von uns, das ist so eine ältere Box eigentlich, nicht die (. . .) [neue] Box und die [ältere] gibt es für neun (. . .). Und teils Kunden, also vor allem die, wir sagen, die (. . .) Kunden, die nur einen Fernseher haben, (. . .) wenn es eine Senderumstellung gibt: Der Fernseher macht es nicht automatisch, der Kunde muss einen Sendersuchlauf machen. Ruft uns an, regt sich auf, das kann drei- bis viermal pro Jahr vorkommen. Und dem Kunden sagt man dann eigentlich oder empfiehlt man so eine [ältere] Box, weil die kostet nur neun (. . .) und macht aber alles automatisch. Und das ist ein kleines Ding, das ist in Ordnung, das ist das Beste für den Kunden in dem Sinn. Und z. B. diese Box ist nicht im Tiger drin. Da muss dann quasi extra das (. . .)[Bestelltool] öffnen und dort rübergehen. Und das habe ich jetzt auch noch gemeldet, dass es eine Möglichkeit gibt, dass man allgemein alle Produkte über das Tiger aufrufen könnte. Weil Tiger: Das gibt es ganz selten. Tiger zeigt z. B., der Kunde möchte oder könnte ein (. . .) benutzen und der Kunde möchte aber gar nichts außer (. . .) und nicht so teuer und so. Und dann kommt es halt z. B. auf diese [ältere] Box und das fehlt dann im Tiger. (. . .) Das klingt jetzt fast ein bisschen fies, so wie ich es sage. Aber es geht quasi darum, dass wir in die Richtung von einem Gerät auch gehen. Also dass quasi am Schluss jeder Kunde nur noch die (. . .) [neue] Box zu Hause hat und nichts anderes von uns in dem Sinn.“ (Interviewpartner 19)
Außerdem veränderten sich die Aktivitäten der menschlichen Akteure in hybriden Praktiken durch die (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten, die in der Neuausrichtung als Mechanismus der Handlungshybridisierung entstand. 65 Dadurch, dass die manuelle Bedarfsanalyse im Kundengespräch durch IBM Interact automatisiert wurde, ergab sich auf Seiten der menschlichen Handlungskapazität eine 65
Vgl. Abschnitt 4.2.2 über die genaue Ausgestaltung der Neuausrichtung.
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
167
Lücke. Diese Lücke mussten die Callcenter-Agenten nun während ihrer (mit der Software geteilten) Tätigkeitsausführung schließen. Genau gesagt entstand die Lücke dadurch, dass sie ihre bisherige Teilaufgabe der Bedarfsanalyse nun an die Software übergaben. Im Gegensatz zu den ausführlichen Anleitungen, welche Aufgaben und Kapazitäten die Software übernahm, gab es seitens des Projektteams oder des Managements keine Hinweise darauf, welche neue Aufgabe und Verantwortlichkeit nun den Agenten aufgetragen wurde. Im Schließen ihrer durch die Software geschaffenen Handlungslücke waren die Callcenter-Agenten auf sich allein gestellt und es ließen sich unterschiedliche Umgangsweisen erkennen. Verschiedene Ansätze gab es vor allem zwischen Agenten, die unterschiedlich verkaufsstark waren und ihre Rolle mehr im Kundendienst oder Verkauf sahen. Ein Callcenter-Agent, dessen Verkaufszahlen immer verhältnismäßig niedrig waren, etwa konzentrierte sich voll und ganz auf den Kundenservice. Er führte aus, wie die Software ihm im Kundengespräch nun dankbarerweise die Entscheidung über ein Kundenangebot abnahm und er sich nun ganz auf seinen Kundendienst konzentrieren konnte: „Dann sagt Tiger: ‚Mach dem Kunden kein Angebot. ދMeistens muss man sich entscheiden während des Supports, während des ganzen Gesprächs: Macht man beim Kunden überhaupt eine Anfrage oder einen Vorschlag oder nicht in dem Sinn? Und Tiger vereinfacht die Entscheidung oder hilft einem, diese besser zu treffen in dem Sinn. Also eben in dem Sinn, indem es sagt: ‚Mach dem Kunden kein Angebot.ұ Man kann sich schon viel mehr darauf einstellen, dass man einen sauberen, schnellen Support macht und dann den nächsten Kunden nimmt. Man kann sich viel schneller entscheiden, wie man allgemein vorgehen möchte; also ich auf jeden Fall.“ (Interviewpartner 19)
Für sogenannte „High Performer“ hinsichtlich der Verkaufszahlen hingegen war eine inhaltliche Re-Fokussierung auf den ursprünglichen Kernbereich der Callcenter-Tätigkeit, der ja im Kundenservice begründet lag, eher schwierig. Sie taten sich schwerer, die aufgetane Handlungslücke zu schließen und wichen eher auf private oder inhaltsleere Gespräche mit dem Kunden aus anstatt sich auf deren Problemanliegen zu fokussieren. Gleichwohl waren sie sich der entstandenen Lücke ihrer eigenen (Un-)Tätigkeit teilweise bewusst. Eine High Performerin hinterfragte ihre zukünftige Rolle in dieser neuen Anordnung gänzlich: „Und ich muss sagen, auf der einen Seite ist es toll, so zu arbeiten, dass ich eben praktisch nichts machen muss. Ich muss nicht groß überlegen. Ich kann einfach arbeiten, kann mit dem Kunden bestellen, kann sprechen, muss auch nicht unbedingt über das Thema Rechnung oder den Umzug sein; man kann auch privat sprechen in der Zeit, wo das Tool für mich arbeitet. Kann das dem Kunden auch sagen: ‚Schauen Sie, der macht jetzt das und das für mich. Und sonst bei Ihnen, beim Umzug alles okay? ދUnd kann so mit dem Kunden über etwas anderes sprechen. Oder ich höre die Kinder im Hintergrund, wie auch immer. Aber ich denke,
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
dass das irgendwann uns alle ersetzen wird. Alles von uns. Uns wird es gar nicht mehr brauchen irgendwann.“ (Interviewpartner 18)
Bei einigen Agenten war ein Bruch in ihrer Handlungsmotivation zu erkennen. Überraschenderweise traten gerade diejenigen High Performer im Verkauf, welche die manuelle Bedarfsanalyse bislang sehr gut und erfolgreich durchgeführt haben, vom Ausleben ihrer Handlungskapazität zurück und machten sich selbst zu Erfüllungsgehilfen der Software: „Das ist super, das Tool. Weil ich muss nicht überlegen. Ich muss nicht schauen: Was hat der Kunde? Was könnte der Kunde noch nutzen? Und gleichzeitig, ich darf ja keine große Pause machen mit dem Kunden, weil sonst legt er mir auf, dass ich nicht vergleichen muss mit der Homepage von uns oder überlegen muss: Okay, er hat das, wir hätten das und das. Sondern Tiger zeigt mir links, was hat der Kunde, und rechts, was möchte der Kunde, was wäre gut für den Kunden. D. h. ich überlege nicht, ich mache, was mir Tiger sagt.“ (Interviewpartner 18)
Anderseits fanden die High Performer in der Software selbst Anreize, die sie an deren materielle Handlungskapazität band, indem sie ihre eigenen Fähigkeiten erweiterte. Der Callcenter-Manager beschrieb: „In dem Sinn, ja. Also wir haben z. B. einfach, also was augenfällig war, ist, dass ganz gute Verkäufer, die brauchen das nicht, die arbeiten damit und ab und zu gibt es vielleicht eine Promo, die sie gar nicht kannten. Oder ein Abo zusammenstellen, das sie noch gar nicht kannten, ja? Ja, die ganz frisch ist, wo sie vergessen haben, dass es das ja gibt.“ (Interviewpartner 27)
Durch diese Erweiterung und das Verlassen auf die Software, deutete eine Callcenter-Agentin mit hohen Verkaufszahlen an, wie sich ihre eigene kognitive Leistungsfähigkeit und auch ihre Leistungsbereitschaft verringerten: „Eigentlich habe ich eher das Gefühl, ich werde noch dümmer, weil ich mache ja weniger. Das ist ja, wie wenn man Einem alles vorlegt und du musst einfach nur das machen, was dort steht. Man überlegt ja gar nicht mehr; ich überlege gar nicht mehr. Ich habe eher das gegenteilige Gefühl, dass ich dümmer werde. Ich werde auch faul. Aber das ist ja heutzutage so. Ich werde faul, weil ich das gar nicht mehr machen muss.“ (Interviewpartner 18)
Auf ähnliche Weise wurde ersichtlich, dass sie ihr Wissen über die manuelle Ansprache des Kunden und ihre Verkaufsfähigkeiten immer sporadischer anwandte. Wenn IBM Interact nicht richtig funktionierte, etwa weil das Hochfahren länger dauerte, und die Zeit am Telefon überbrückt werden musste, redete sie mit dem Kunden über „das Wetter“ anstatt in die manuelle Bedarfsanalyse einzusteigen:
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
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„Ich habe kein Problem: Ich rede gerne. Dann spreche ich einfach so mit dem Kunden: ‚Wie ist das Wetter? ދIrgendwas. Es ist nicht wichtig für mich.“ (Interviewpartner 18)
Durch die Verlagerung der Handlungskapazität auf die Software deuteten sich also divergierende Entwicklungspfade in der weiteren Ausführung der Tätigkeit zwischen unterschiedlich leistungsstarken Mitarbeitern an. Eine weitere Verschiebung in der Verantwortlichkeit war in diesem Kontext auch für neue Mitarbeiter vorhersagbar, die aufgrund der neuen Verkaufssoftware im Verkauf beziehungsweise spezifisch in der manuellen Bedarfsanalyse nicht mehr so intensiv geschult wurden: „Und das ist nicht, also Tiger ist nicht so jetzt ein riesen Ding, dass er dem Mitarbeiter immer mehr abnimmt, oder, GDJLEWҲV einen großen Prozent von Knowhow, den der Mitarbeiter aufbauen muss, den kein Tool ersetzen kann. Also Neustarter, die müssen dann auf dieses Niveau (. . .) Man könnte sagen, wenn Neustarter heute beginnt im Vergleich zum Neustarter vor zwei Jahren, oder vor einem Jahr, muss er nicht wirklich einfach alles auswendig wissen, ja? Also man braucht kein lexikalisches Wissen mehr, man muss nur wissen wo man nachschlagen muss.“ (Interviewpartner 27)
Callcenter-Agenten, die im Hinblick auf ihre Verkaufszahlen im unteren bis mittleren Bereich lagen, waren über den Einsatz von Tiger zunächst auch nicht begeistert, da die neue materielle Handlungskapazität ein weiterer Störfaktor in ihrer ohnehin nicht besonders guten Verkaufsgesprächsführung war: „Am Anfang hatte ich persönlich sehr viel Probleme mit dem Tiger, Probleme einfach, also wir wurden nicht gezwungen, aber die haben gesagt, die sollen das nutzen und dementsprechend war das ein Nachteil für mich, weil ich habe meine, so wie ich arbeite halt und es ging halt besser ohne Tiger. Mit dem Tiger wurde ich halt langsamer, es ist auch auf meine Zahlen hat es sich ausgewirkt. Aber klar, die wissen das alles und ich habe nicht einen auf den Deckel bekommen, oder so, aber es war ein bisschen mühsam und ein Nachteil, aber mittlerweile finde ich es super.“ (Interviewpartner 19)
Drei bis vier Monate später hatte sich das Bild des zitierten Agenten über die Software geändert, er fasste mehr Vertrauen in sie und hatte Tiger als „mitdenkenden“ Partner integriert, der ihm im Kundengespräch ein neues Gefühl von Sicherheit gab: „[M]ittlerweile denkt Tiger fast so mit, wie wir Mitarbeiter, auch da ist er wirklich gut, (. . .) also es hat gute, ich habe jetzt mittlerweile auch viel Erfolg mit dem Tiger gehabt.“ (Interviewpartner 19)
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Der Agent arbeitete im technischen Helpdesk und war sehr gut darin, Lösungen für technische Probleme zu finden. Die Kunden zu fragen, ob sie vielleicht etwas kaufen möchten, nachdem ihr Problem gelöst wurde, war für ihn keine leichte Aufgabe. In diesem Zusammenhang beschrieb derselbe Agent, wie er seine persönliche Unsicherheit und Schüchternheit überwunden hatte, den anrufenden Kunden Verkaufsangebote zu machen und sich durch Tiger auch seine Verkaufszahlen geändert hatten: „Sehr stark eigentlich. Also d. h. ich war jetzt eher immer ein bisschen Salesschwach, also bei mir war eigentlich alles in Ordnung grundsätzlich; Zahlen und alles super, technisch alles wunderbar; einfach Sales zu wenig ein bisschen. Und seit dem Tiger ist es bei mir ein bisschen gestiegen, also es ist auch: Ich hatte ein bisschen Mühe, den Kunden anzusprechen. Also wenn ein Kunde mich ansprach irgendwie wegen einer Abo-Änderung oder irgendwas, was er möchte, habe ich gesagt: ‚Ja, klar ދund das ging ratzfatz, kein Thema. Der Kunde möchte das. Aber wenn der Kunde nichts sagt, hatte ich immer Mühe, den Kunden anzusprechen darauf irgendwie. Und mit dem Tiger ging es bei mir besser, da ich irgendwie auch alles vor mir habe. Ich sehe: Was hat der Kunde? Und ich sehe, was ich ihm anbieten kann und das ist wie so eine kleine Sicherheit und das hört man dann wahrscheinlich auch. Und dann spricht man den Kunden leichter und sicherer an und kann dann auch viel schneller mit dem Kunden zusammen das besprechen sozusagen. Darum hat sich für mich mit Tiger viel verändert. Was ich auch noch gern habe ist quasi: Im Support hilft Tiger auch ein bisschen. (. . .) Und Tiger, das kann man ja quasi öffnen und dann sieht man gleich: Was hat der Kunde? Und da sehe ich z. B.: Okay, er hat das und das Internet und könnte knapp werden, wenn er zehn Geräte über W-LAN anmelden will. Und früher war das so, dass man z. B. die Rechnung aufmachen musste (. . .) irgendwie die Service auswählen und dann durchklicken, während dem man dem Kunden zuhört und schauen: Da habe ich Internet so und so, okay. Und das hat sich mit dem Tiger verändert für mich. Also es ist für mich viel einfacher. Ich habe viel schneller die Informationen, die ich brauche, auch für den Support teilweise.“ (Interviewpartner 19)
Dadurch, dass in der Nutzung von IBM Interact das Sicherheitsgefühl und Selbstbewusstsein der Callcenter-Agenten stieg, und gleichzeitig ihr Wissen und ihre Übung der manuellen Bedarfsanalyse geringer wurden, gerieten die CallcenterAgenten zunehmend in eine Abhängigkeit von der Software. In der hybriden Ausführung der Tätigkeiten wurde die menschliche Handlungskapazität mit der materiellen in immer stärkerem Maße verzahnt.
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
4.3.1.2
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Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion
Die beiden Softwarelösungen unterstützten Arbeitspraktiken, deren Ausführung zusätzlich zur menschlichen und materiellen Handlungskapazität (also Nutzer und Software) immer noch eine dritte Entität betrafen: nämlich den Menschen, der in der Konstellation als Kunde verstanden werden kann. Neben der oben ausgeführten Qualität der Aufgabenverrichtung und Leistung, die nur die ersten beiden betrafen, veränderten sich Praktiken im Hybrid auch dahingehend, dass zwischenmenschliche Interaktionen mit dem Dritten – d. h. dem Mitarbeiter, Bewerber oder auch dem Kunden am Telefon – entpersonalisiert wurden. In der Analyse der empirischen Daten zeigte sich, dass die neue materielle Handlungskapazität sich als Mittler in die zwischenmenschliche Beziehung einfügte und wiederum den Nutzer zum Ausführenden materieller Handlungskapazität machte. Bei SF verlagerten sich zwischenmenschliche Beziehungen auf die Online-Kommunikation, welche die Software anbot und erforderte. Bei IBM Interact verwandelte sich der Callcenter-Agent in einen Vermittler algorithmischer Angebote an den Kunden – eine ausführende Funktion, die aufgrund der kognitiven Erweiterung jedoch erneut ein stärkeres Selbstbewusstsein von Agenten hervorrief. SF Durch die Nutzung von SF veränderten sich zwischenmenschliche Interaktionen in mehrerlei Hinsicht. Erstens überlagerte das Standardtool die individuelle Unternehmensmarke, indem etwa im Bewerbertool nicht mehr das Unternehmenslogo, sondern das von SF sichtbar war. Diese Standardangabe führte dazu, dass das Unternehmen vor dem Beginn der Bewerbung keine persönliche Beziehung zum Bewerber aufbauen konnte und Bewerber durch diesen unpersönlichen Umgang abgeschreckt wurden: „Und es gibt noch so kleine Details, die vermutlich natürlich an der Umsetzung liegen. Wenn sich jemand bei uns bewirbt, hat er plötzlich im Browser oben eine Success Factor-Adresse; er bewirbt sich aber bei uns. Und ich weiß von Kandidaten, die ihre Bewerbung abgebrochen haben, weil oben Success Factor stand und nicht die (. . .) [Firmenname]. Und im Prinzip der ganze Zoff mit Login und Datenverwaltung bei der Firma hindert im Prinzip schnelle Bewerbungen.“ (Interviewpartner 14)
Daneben zeigten sich auch im Bereich des Talentmanagements gewisse Formen der Entpersonalisierung, indem die Personalmanager etwa das Tool neben dem offiziellen Grund der Talententdeckung auch für den Zweck der unbeliebten Mitarbeiterrelokation genutzt wurde. Die Leiterin für Leadership und Development erzählte, wie das Talent Discovery Tool eigentlich zur Relokation von Personal
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
in unterbesetzte Länder oder zur Nachfolgeplanung genutzt wurde. So wurde deutlich, wie die Daten für einen bestimmten kommunizierten Zweck für mehrere Zielvorhaben genutzt wurden und wie das Tool dazu verleitete, die Mitarbeiter in diese Richtung zu täuschen: „Es ist eigentlich bekannt, dass es halt um Talent Management geht. Also Talent Discovery wird schon beschrieben, um was es geht. Es geht ja nicht nur um Relocation, es geht ja um Succession Planning, es geht um eigentlich herauszufinden, also um seine persönliche Entwicklung, so verkaufen wir das natürlich. Also es geht ja nicht jetzt per se um Relocation. Ich meine, Leute, die jetzt nicht High Potential sind, die will eigentlich (. . .) jetzt auch nicht unbedingt relocaten.“ (Interviewpartner 6)
So forderte die materielle Handlungskapazität die Personalmanager zu zusätzlichen versteckten Verwendungszwecken auf, die sich aus der interpretativen Nutzung ableiteten. Auch in der Nutzung der Mitarbeiterbeurteilungssoftware ergaben sich Veränderungen im Zwischenmenschlichen. Vor SF Performance und Goals mussten Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern gemeinsam ein Mitarbeitergespräch zur Leistungsbeurteilung führen und die gesteckten Ziele wurden danach in Huma festgehalten. Nun forderte die neue Software, dass die Mitarbeiter ihre Ziele selbst eintrugen: „[E]s ist auch insofern anders geworden, als der Mitarbeiter das alles erfassen muss und der Vorgesetzte bestätigt dann einfach. Und der Vorgesetzte gibt jetzt da im Vorfeld nichts ein (. . .) Also der Mitarbeiter muss das alles machen. Und da, ja, der Prozess bei uns ist dann schon so, dass wir versuchen, mit denen erst mal das Gespräch zu haben, es dann grob anzuschauen, dann aber dem Mitarbeiter die Formulierung zu überlassen, weil sonst würde ich es ihm ja komplett vorgeben.“ (Interviewpartner 6)
Während die neue Software auf die Speicherung von Inhalt der Leistungsbeurteilung abzielte, erachteten die Führungskräfte den zwischenmenschlichen Dialog eigentlich als wichtiger: „Ja, die Dialoggeschichte ist halt dann eigentlich ja das Wesentliche bei so einer Zielvereinbarung, beim ganzen Performancemanagement-Prozess ist aus meiner Sicht der Dialog das Wesentlichste und nicht das, was da drin steht.“ (Interviewpartner 6)
In diesem Kontext wurde sichtbar, wie das persönliche Gespräch in der Nutzung von SF Performance und Goals zunehmend verschwand und die menschlichen Akteure nicht mehr miteinander, sondern jeweils mit der Software kommunizier-
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
173
ten. Die Mitarbeiter trugen ihre Ziele selbst in das System ein und die Führungskräfte bestätigten diesen Eintrag online über das Tool. Eine Führungskraft wies in diesem Zusammenhang auf die aufwendigen prozessualen Vorgaben der Software hin, die durch eine getrennte Online-Abwicklung beider Seiten über das Tool am schnellsten gelöst wurde: „Ehrlich gesagt, ich lass mich auch treiben. Ich meine, ein Mitarbeiter macht einen Vorschlag, dann geht es zum Vorgesetzten, der Vorgesetzte kann es modifizieren, zurückschicken. Dann muss man ein Gespräch haben, dann wird das wieder zum Vorgesetzten geschickt. Und dann geht es noch mal zum Vor-Vorgesetzten, ne, zum übergeordneten Vorgesetzten. Und das mehrmals im Jahr. Macht vielleicht Sinn, aus, aus, auf sagen wir so auf einem Theoriekonzept. Oft ist es aber auch so, dass das eher (. . .) die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten etwas entfernt. Man sitzt weniger zusammen für diese Besprechungen. Sondern man macht es eher am Tisch, man bearbeitet das dann, dann schickt man es zurück, und am Ende sagen wir, okay, das ist es, und man schickt es dann gemeinsam weg. Und früher war es so, diese Diskussion war viel intensiver. Was ist das Ziel, und wie hat man das Ziel erreicht?“ (Interviewpartner 11)
Wie sich an dem Beispiel erkennen lässt, verlagerte sich der persönliche Kontakt auf die Interaktion mit der Software. Die oben bereits zitierte Führungskraft beklagte in diesem Zusammenhang ihren fehlenden zwischenmenschlichen Austausch mit dem Mitarbeiter: „Aber was mir ein bisschen fehlt, ist vielleicht dann der direkte interaktive Teil mit dem Mitarbeiter. Der war früher größer. Und jetzt hat er sich auf eine ToolEbene verlagert. Man gibt etwas in das Tool ein, dann kommt es bei mir an, dann gebe ich etwas zurück, und dann hat man ein kurzes Gespräch. Vorher war es viel mehr interaktiv, man hat wirklich über die Performance diskutiert, und am Ende war man sich über etwas einig, und man hat es ins Tool eingeben, und dann war es fertig, ne. Und ich denke, hier haben wir ein bisschen mehr Tool, und ein bisschen weniger Interaktivität mit dem Mitarbeiter.“ (Interviewpartner 11)
Im Callcenter-Bereich hingegen führte die Umstellung auf SF zu einer noch deutlicheren Abkehr von den langfristigen Performancemanagement-Gesprächen. Da im Callcenter vor allem die kurzfristigen Kennzahlen wichtig waren, war die Pflege der Daten in SF Performance und Goals für die einzelnen Mitarbeiter mit viel Aufwand verbunden. Dies führte dazu, dass die Führungskräfte diese Gespräche mit ihren Mitarbeitern überhaupt nicht mehr führten. Entweder die Führungskräfte trugen die Leistung und Ziele für alle ihre Mitarbeiter manuell ein oder diese Aufgabe wurde weitergegeben und automatisiert: „[D]a sind wir sehr zahlengestützt, Anzahl Calls, die genommen werden müssen, Anzahl Verkäufe, die getätigt werden müssen, die Produktivität wird gemessen,
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
also wir haben sieben, acht KPI-Faktoren, welche gemessen werden, alles die gleichen. Bei uns ist immer die erste Schwierigkeit, die Leute müssen das ja selber eingeben, geht nur an ihrem Gerät. Ich denke, für Management, wenn ein Manager oder ein Vice President seine Leute (. . .) alle individuell, da macht das auch Sinn, dass die Personen die Sachen angeben. Bei uns ist es Massengeschäft. Die Leute arbeiten nicht richtig so damit und am Anfang hatte ich auch zwei Teams unter mir. Und da musste ich im ersten Jahr 32 Mal das eingeben. Weil die Leute haben es nicht verstanden, was muss ich jetzt eingeben? Sie verstehen es heute noch nicht. Mittlerweile schicken wir das an unseren Administrator und der liest das dann automatisch ein für die Leute.“ (Interviewpartner 12)
SF veränderte den Inhalt von Praktiken, indem sich zwischenmenschliche Interaktionen durch standardisierte und einzuhaltende Prozesse zunehmend auf die Tool-Ebene verlagerten. Dadurch veränderte sich die Kommunikation, indem die Mitarbeiter vorrangig über das Tool kommunizierten. IBM Interact IBM Interact griff bei der Generierung der NBO auf eine Vielzahl miteinander verknüpfter Datenbanken zu, in denen Informationen über den Kunden verfügbar waren. Durch diesen Zugriff auf unternehmensexterne Daten und etwa durch die Echtzeit-Berücksichtigung von Online-Daten, ermöglichte IBM Interact den Callcenter-Agenten Zugang zu einer bis zu diesem Zeitpunkt nicht oder nur schwer zugänglichen Informationsbasis über den Kunden. „Also Tiger und der Kunde sind dann verbunden und Tiger fängt an auszurechnen: Was hat der Kunde gemacht, was nutzt der Kunde? Ich sehe auch, wie viel Internetnutzer-Kunden, wie viel schaut er Fernsehen der Kunde? All das sehe ich. Telefoniert er viel? Wohin telefoniert er? All das sehe ich über Tiger. Das ist eigentlich das Tool, das ich am meisten nutze, weil das nutze ich bei jedem Kunden.“ (Interviewpartner 18)
In zweierlei Hinsicht war menschliche Handlungskapazität der Callcenter-Agenten durch die materielle Handlungskapazität von IBM Interact eingeschränkt: so waren die Nutzung der Software, aber auch die Befolgung der NBO obligatorisch. Die Callcenter-Agenten wurden damit zu Ausführungsgehilfen materieller Handlungskapazität. Nichtsdestotrotz verlieh der neu ermöglichte Zugang zu Wissen über den Kunden ihrer eigenen Handlungskapazität in der Interaktion mit dem Kunden dem subjektiven Empfinden nach offenbar mehr Gewicht, so dass sie die Nutzung weniger als Beschränkung, sondern Erweiterung der Handlungskapazität empfanden: „Und durch das Tiger, also, ich fühl mich nicht so gezwungen durch das Tiger, weil, das kommt mir viel spontaner den Kunden darauf anzusprechen, wenn ich
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
175
Tiger sehe. Weil man hat schon gewisse Infos, man weiß ein bisschen, wie Jonglieren mit (lacht) dem Kunden.“ (Interviewpartner 25)
Der Umgang mit diesem Wissen spiegelte sich auch in der Kommunikation mit dem Kunden am Telefon wider. Letztere fühlten sich in der Interaktion immer häufiger verunsichert, wenn die Callcenter-Agenten die Information nicht mehr durch soziale Interaktion, sondern vielmehr als von einem System gegeben präsentierten: „Die Inkassofälle sind gespeichert. Das, was uns der Kunde selbst angibt wie Name, Adresse, Wohnort, Geburtsdatum. Er weiß z. B. auch über den Tiger z. B. eben: ‚Ich sehe, Sie surfen so und so viel.ұ Das darf ich sagen. Dann darf ich auch sagen: ‚Hallo, wir haben neu dieses Projekt und das sieht alles, was Sie machen.ұ Und die Kunden fragen sich dann schon: ‚Okay? ދBei den Jungen ist es einfacher zu erklären, dann sage ich: ‚Hast du Facebook oder haben Sie Facebook? ދUnd dann ‚Ja. ދUnd dann sage ich: ‚Siehst du, wenn du mal auf Zalando bist, zeigt es dir rechts gleich an: Hallo Zalando, das hast du mal angeschaut. ދDas ist genau dasselbe Prinzip, dasselbe Verfahren hier. Bei den älteren Kunden ist es dann wieder schwierig, die sagen: ‚Okay. Und wieso sehen Sie das? ދDie sind dann gleich ziemlich verwirrt und dann sage ich: ‚Ja, das ist etwas Neues. ދUnd dann muss man erklären. Die sagen auch: ‚Ach, was es heute nicht alles gibt! ދGewisse sind dann schon sehr, sehr irritiert. Oder z. B. auch der Kunde ruft uns an und mir zeigt es gleich die Adresse, den Namen, die Wohnung, alles zeigt es mir vom Kunden an durch die Telefonnummer. Und wenn ich dann abnehme mit meinem Namen und ‚Guten Tag, Frau Müllerދ: ‚Huch, wieso wissen Sie, dass ich am Telefon bin?ұ - ‚Ja, Sie wohnen dort und dort. ދ- ‚Ja. Wieso wissen Sie das alles?ұ Entweder scherze ich und sage ‚Ja, ich habe Sie an der Stimme erkannt ދoder ich sage ‚Ja, ich bin Hellseherin ދoder ich erkläre wieder unser System.“ (Interviewpartner 18)
Ein weiterer Agent, der hohe Verkaufszahlen hatte, beschrieb, dass die Quantität seiner Verkäufe sich durch IBM Interact nicht verändert hatte. Jedoch war eine Veränderung seiner Interaktion mit dem Kunden in qualitativer Hinsicht merklich. So wurde seine Einstellung zum und dadurch sein Umgang mit dem Kunden durch die Kundenklassifizierung geprägt, die über das GUI von IBM Interact präsentiert wurde. Konkret waren es die neuen Informationen über den „Wert“ des Kunden, der in den vereinfachten Kategorien „hoch“, „mittel“ und „niedrig“ („high“, „middle“ oder „low value“) präsentiert wurde: „Nur ein paar zusätzliche Informationen, das in Tiger gibt, dass so, ob es eine gute Kunde oder nicht, so etwas. Dann, wenn ich sehe, das ist eine guter Kunde oder langjähriger Kunde, das er eine Fan von uns, ich kann eine vielleicht mehr offen sein mit dem Kunde.“ (Interviewpartner 30)
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Obwohl die Callcenter-Agenten also auf eine Weise zu Ausführungsgehilfen materieller Handlungskapazität wurden, zogen einige der Agenten eine positive Erfahrung aus dieser Relation, indem ihre eigene Handlungskapazität durch die dynamische materielle erweitert wurde und sie gegenüber dem Kunden eine Überlegenheit empfanden. 4.3.1.3 Zusammenfassung: Inhaltliche Veränderungen von Praktiken Materielle Handlungskapazität fügte sich in bestehende Praktiken ein, die sich im neu entstandenen Hybrid verformten. Bei SF entstand diese Verformung in erster Linie in der Etablierung von Qualitätsstandards in den Praktiken durch den vereinheitlichten materiellen Teil. In ähnlicher Weise wurde Leistung standardisiert. IBM Interact traf als dynamische materielle Handlungskapazität auf dynamische menschliche Handlungskapazität, wobei letztere hinsichtlich der bis zu dem Zeitpunkt erbrachten Leistung unterschiedlich stark war. Von diesen unterschiedlichen Konstellationen ausgehend entwickelte sich die Qualität der Aufgabenverrichtung in verschiedene Richtungen und es deuteten sich unterschiedliche Entwicklungspfade für Leistung an. Daneben fügte sich materielle Handlungskapazität im Hybrid in bestehende menschliche Interaktionen ein. Im Fall von SF etablierte sich eine Art Dreieck in der Kommunikation, innerhalb dessen menschliche Akteure jeweils mit der Software und somit über die Software miteinander kommunizierten. Im Fall von IBM Interact wurden die Callcenter-Agenten zu Vollstreckern der materiellen Handlungskapazität. Da sie durch die Ergänzung durch materielle Handlungskapazität ein Gefühl der Aufwertung und Überlegenheit gegenüber Kunden entwickelten, war auch hier eine weniger soziale Umgangsweise mit dem Kunden sichtbar. 4.3.2
Neue Form: Veränderung der Organisation der Praktik
Durch die Ausübung hybrider Praktiken, in die sich neue materielle Handlungskapazität einfügte, verschoben sich die bestehenden Praktiken auch in der Form, indem sich deren Organisation neu gestaltete. Ein Teil dieser organisationalen Veränderung war in neuen Praktiken der Leistungsausführung und Beurteilung ersichtlich. Durch den Beitrag materieller Handlungskapazität bei der Ausführung von Leistung, bezog sich die Leistungsträgerschaft nicht mehr nur auf menschliche Handlungskapazität. Die neue Konstellation in der Leistungsträgerschaft schlug sich auch in den Leistungsbeurteilungen nieder. Durch den Einschub materieller Handlungskapazität veränderten sich ferner Formen der menschlichen Zusammenarbeit und bis dahin von menschlichen Akteuren besetzte Rollen erfuhren eine Ab- oder Aufwertung im Hybrid. Im Folgenden werden die Veränderungen der Organisation der Praktiken genauer beschrieben.
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
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4.3.2.1 Leistungserbringung und -reflexion im Hybrid In den hybriden Praktiken war materielle Handlungskapazität als komplementärer Leistungsträger bei der Erbringung von Leistung beteiligt. Eine erbrachte Leistung war auch die Leistungsbeurteilung selbst. In die Bereitstellung von Performancemanagement-Tools entwickelten sich sowohl SF als auch IBM Interact zu aktiven (Mit-)Begutachtern von Leistung. Da bei IBM Interact die eigene (mit-)erbrachte Leistung (mit-)beurteilt werden sollte, auf Basis deren auf der menschlichen Seite Anpassungen möglich waren, deutete sich hier (theoretisch) eine neue Form von hybrider Leistungsreflexion an. Reflexion wäre somit auch erstmals Teil der materiellen Handlungskapazität, indem im Hybrid eine Art Metaprogramm für die Reflexion geschaffen wird. SF
Daneben veränderten sich auch Kontrollmechanismen durch die Einführung von SF, die beim Vorgänger Huma genutzt wurden, um die eigene Leistung und Qualität einzuschätzen und zu steuern. Es war sehr schwierig, über SF Recruiting neue Reports programmieren bzw. anfertigen zu lassen. Diese waren bislang immer als Kontrolle der eigenen Arbeitsweise genutzt worden. Durch den fehlenden einfachen Zugriff auf diese Leistungsreports fiel die eigene Leistungskontrollmöglichkeit im Personalmanagement weg. Diese wurde jedoch als zentral für den Erfolg der immer besseren Ausführung der Kernprozesse erachtet. Die Personalmanager verspürten durch den Wegfall der materiellen Handlungskapazität und bestimmte Leistungsreports eine Verunsicherung: „Wir hatten früher immer das Reputationsproblem mit Bewerbungen: zu lange gedauert, keine Antwort. Da hat man im Prinzip schon dann die Schwachpunkte gesehen: Wo fehlen z. B. Ressourcen? (. . .) Es darf maximal zwei Tage gehen. Wieso habe ich hier jetzt fünf Tage? Das hat im Prinzip diese Ausweitung uns immer klar ausgewiesen und da konnte man im Prinzip gezielt nachschauen: Wieso kann der Prozess nicht eingehalten werden? Oder war es ein einmaliger Ausrutscher? Hat man auch gesehen: Das sind im Prinzip die Ausreißer. Man hat sie gesehen oder man den Schnitt gesehen. Das ein relativ gutes Steuerungsinstrument, den definierten Prozess zu begleiten: Wo klemmt es und wo nicht?“ (Interviewpartner 14)
Diese Verunsicherung zeigt, wie ausgeprägt die Verflechtung zwischen materieller und menschlicher Handlungskapazität bei der Vorgängersoftware Huma war. Das vorangegangene Beispiel zur Mitarbeiterbeurteilungssoftware von SF verdeutlichte, wie Prozesse vereinheitlicht und im Sinne einer Managementkontrolle gesteuert und nachgehalten werden konnten. Am Beispiel der Talentmanagementsoftware zeigte sich darüber hinaus, dass von materieller Handlungskapazität auch eine von Menschen unkontrollierte Wirkung ausgehen konnte. Für das
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Talentmanagement mussten Vorgesetzte in der Software das Potential und die Leistung ihrer Mitarbeiter einschätzen. Die Mitarbeiter selbst, die in das Talentmanagementprogramm aufgenommen wurden, mussten ihre Veränderungsbereitschaft, ihre Ziele und Entwicklungsbestrebungen angeben. Das Endergebnis des Prozesses war ein sogenanntes „3x3 Potential-Performance-Grid“, das die Mitarbeiter in die Kategorien „Developing, „Strong“, „Exceeds“ eingruppierte. Abbildung 24 zeigt eine eigene vereinfachte Darstellung dieses Potential-PerformanceRasters. Der Einblick in dieses Raster und die entsprechenden Eingruppierung der Talente war den Vorgesetzten vorbehalten.
Potential
Exceeds
Strong
Developing Developing
Strong
Exceeds
Performance
Abbildung 24: 3x3 Potential-Performance-Raster (Quelle: eigene Darstellung)
Auf Basis des wirksamen visuellen Effekts des Tools, das eine sehr vereinfachte Darstellung der komplexen Realität darstellte, entwickelte sich eine starke materielle Handlungskapazität, die zum Teil unreflektiert übernommen wurde, dadurch, dass sie in menschliche inkorporiert wurde. Die menschlichen Akteure führten also materielle Handlungskapazität aus. So wurde relativ klar, dass die Vorgesetzten ihre Mitarbeiter auf Basis des Rasters eindeutig klassifizieren mussten: „Am Ende zwingt das Tool Sie, die Mitarbeiter in eine Verteilung rein zu biegen. Aber das Tool ist ja nicht derjenige, der es sich ausgedacht hat. Das Modell kommt von der Gruppe. Ich denke nicht, dass das Tool da jetzt die Überhand gewinnt, und hier entscheidet, ob die Mitarbeiter gut oder schlecht sind. Denke ich nicht.“ (Interviewpartner 11)
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
179
Auch war diese Wirkmacht der Software in einigen Fällen beinahe irreversibel, und zwar insbesondere, was die als sehr hoch talentierten eingruppierten Mitarbeiter anging (vgl. die durch einen Stern markierte Stelle im Raster, Abbildung 24): „Idealerweise entbrennt dann eine kurze Diskussion und es gibt Beispiele für vielleicht, ja kann ich durchaus bestätigen, oder es gibt Beispiele für, ja es ist schon mal darüber nachgedacht, dass vielleicht er jetzt gerade eine Stufe erst gestiegen ist und vielleicht ist er jetzt ja am Ende seines Potentials angekommen oder muss sich jetzt erst mal wieder etablieren. Da tun sie sich übrigens extrem schwer. Also bei uns war dieses Jahr oder letztes Jahr das Phänomen, dass halt fast alle eigentlich in den VP-Status eigentlich befördert wurden, kann man sagen und ausgeweitete Verantwortung für (. . .) mit übernommen haben, sie haben alle eigentlich, der Großteil der Personen hatte eine neue Funktion zusätzlich übernommen. Aber keiner hat dann das Potenzial heruntergeschätzt. Also man hat dann immer noch gesagt: ‚So und jetzt hat er wieder Potenzial für das Nächste.ұ Also man könnte ja auch irgendwann mal sagen: ‚Ja, also, hm? Der muss sich jetzt erst mal wieder profilieren, ich muss erst mal wieder schauen, ist da noch mehr möglich. ދDa tun sie sich extrem schwer, also wenn einer mal hier in der Box da oben rechts war, dann ist er da einfach mal drin. Das war so meine Erfahrung.“ (Interviewpartner 6)
Eine Vizepräsidentin für HR Consulting, die selbst über das Talententdeckungstool befördert wurde, beschrieb sogar wörtlich den dahinterliegenden Algorithmus, der sich von der Visibilität der Talente im Raster und somit vom Tool auf menschliches Denken übertrug. Dabei zeigte sich aber auch die Gefahr der verzerrten Interpretation, da insbesondere die als herausragende Talente eingestuften Mitarbeiter gefördert wurden: „Also beim Talent geht es nicht nur primär um die Performance, sondern um das Potential und da geht es sehr stark darum, in welche Richtung entwickele ich meine Mitarbeiter, die Algorithmen macht man ja mit allen, nicht destotrotz die Hypertalents, die wirklich oben rechts sind, die sollen ja schneller gefördert werden, gepusht werden. Also denen gibt man eigentlich wie zusätzliche Möglichkeiten, sich zu entwickeln, sei es im Rahmen von Trainings, sei es z. B. im Rahmen von Projekten, dass sie auch in Projekten mit High Management Attention natürlich eingesetzt werden. So auch die Visibilität noch stärker noch bekommen, sei es, indem man vielleicht einen Top-Job macht, also indem sie auch vielleicht auch nur ein paar Monate ins Ausland gehen, um diese Erfahrung vom Ausland auch mitzunehmen, oder eben eine Jobrotation macht, innerhalb von der Organisation vielleicht in einem anderen Bereich. Oder Mentoring haben wir z. B. auch schon gemacht, dass die Personen, (. . .) denen auch einen Mentor zur Verfügung gestellt wird, um eigentlich wirklich Karriere auch zu boosten auch, einen Kick zu geben.“ (Interviewpartner 7)
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Dieser Denklogik des Tools, das die Realität in seiner visuellen Darstellung stark vereinfachte, folgten die Vorgesetzten in ihren Gesprächen über Talente jedoch auch in entgegengesetzter Richtung. So wurden Mitarbeiter auch aus dem Talententwicklungsprozess entlassen: „Also es geht ja schon noch darum, es gibt ja so ein Grid nachher. (. . .) Also wir haben ja auch Low Performer dann herausgefiltert, also auch das gibt es dann. Und dann muss natürlich mit denen auch überlegt werden, was passiert da. Also sind die einfach an der falschen Position? Es gibt ja jetzt nicht auf dem Level nur High Performer und High Potentials, sondern es gibt dann da tatsächlich auch welche, die dann auch, also bei uns im ersten Jahr hatten wir zwei, drei, die im Low Performance Bereich waren und auch kein Potenzial gesehen wurde, und die waren dann auch im nächsten Jahr nicht mehr dabei. Also man hat dann auch die Konsequenzen gezogen.“ (Interviewpartner 6)
Schließlich ging die Wirkmacht des Rasters so weit, dass die dort als weniger starke Leistungsträger klassifizierten Potentiale aus dem Unternehmen entlassen wurden: „Also sie sind da recht ehrlich. Also wir hatten eben auch schon Low Performer, das hat auch gestimmt. Also das trauen sie sich dann schon. (. . .) Also da hatte das Konsequenzen, ja. Die waren dann nachher im nächsten Jahr waren sie nicht mehr da. Die sind eigentlich dann sukzessive auch gegangen worden. Wir haben (. . .) ein System, wo das möglich ist. Auch wegen Performance zu kündigen.“ (Interviewpartner 6)
In der Nutzung von SF veränderten sich die Personalpraktiken dahingehend, dass die Software selbst mehr an der Leistungsbeurteilung beteiligt war und selbst zum Verhandlungspartner wurde, der die menschlichen Einschätzungen (mit)formte. So wurde SF zum (Mit-)Beurteiler von Mitarbeiterleistung. IBM Interact Da IBM Interact von den Callcenter-Agenten in ihrer täglichen Arbeitspraktik genutzt wurde, wurde die Software ein Teil der Leistung. In diesem Sinne veränderte sich auch die vorherrschende Wahrnehmung von Leistungsträgerschaft seitens der Vorgesetzten. Als Reaktion wollten die Projektmanager IBM Interact als Leistungsträger mit in die Leistungsbeurteilung einbinden. In diesem Modell speisten sich die Kriterien für die Beurteilung der Leistung des Callcenter-Agenten im Zusammenhang mit IBM Interact aus drei miteinander verwobenen Bereichen: 1) die Leistung des Agenten, gemessen an der Usage von IBM Interact, 2) die Leistung der Software, gemessen an der Genauigkeit und Schnelligkeit der
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4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
zur Verfügung gestellten Informationen und 3) die Leistung der Interaktion, gemessen an der Anzahl der Verkäufe. Ein Teamleiter zählte diese Komponenten auf: „[D]ie Leistung vom Mitarbeiter wird eigentlich momentan über die Usage bewertet. Also, wie viel wird wirklich Tiger geführt und gesetzt und angewendet und so? Und Tiger selber wird natürlich schon auch gemessen über die Erreichbarkeit, also wie lange dauert das Ganze, bis da wirklich die Informationen gesammelt werden? Das braucht einen gewissen Moment, bis da alle Infos geladen sind. Und eben auch (überlegt), ja Abschlüsse. Wie viele Abschlüsse hat Tiger wirklich gebracht. Also – ich denke – ein Tool ist erst dann gut, wenn ich 100 Vorschläge habe und 100 Verkäufe, ne?“ (Interviewpartner 28)
Die Leistungsbeurteilung des Agenten stand somit plötzlich in Zusammenhang mit der Häufigkeit der Nutzung der Software sowie der damit verbundenen Leistung der Software. Es wurde also deutlich, dass nicht nur die bloße Anzahl der Verkäufe sowie deren Veränderung als Kennzahl für Leistung herangezogen wurden, sondern deren Relation zu den angebotenen Produkten pro Verkaufsgespräch. Abbildung 25 illustriert die veränderte Auffassung von Leistungsträgerschaft als ein Hybrid von menschlicher und materieller Handlungskapazität:
IBM Interact
Agent (Usage)
Leistungsund Nutzungskontrolle
(Passgenauigkeit und Schnelligkeit der angezeigten Angebote)
Gemeinsame Leistung (Anstieg der Verkaufszahlen)
Abbildung 25: Veränderte Auffassung von Leistungsträgerschaft (Quelle: eigene Darstellung)
Gleichzeitig zum geplanten Eingang von IBM Interact in die (Mit-)Leistungsträgerschaft wurde IBM Interact aber auch zum (Mit-)Beurteiler dieser Leistung.
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Verbunden mit der Trägerschaft von Leistung waren auch veränderte Praktiken der Leistungskontrolle. Auf Basis der Reports und neuen Kennzahlen wurde vom Projektmanagement ein Raster (vgl. Abbildung 26) etabliert, das die Callcenter-Agenten auf Basis der Angebotsrate, die als neue Kennzahl über IBM Interact neu messbar war 66, und der Verkaufsrate eingruppieren ließ. Das Raster klassifizierte die Agenten nach „Starter“ (niedrige Angebots- und Verkaufszahlen), „Goal Getter“ (niedrige Angebots-, hohe Verkaufszahlen), „Hard Worker“ (hohe Angebots-, niedrige Verkaufszahlen) und „Stars“ (hohe Angebots- und hohe Verkaufszahlen). Gleichzeitig wurden im Raster auch neue Handlungsempfehlungen für die Vorgesetzten im Callcenter im Umgang mit ihren Callcenter-Mitarbeitern mit auf den Weg gegeben. Diese Handlungsempfehlungen induzierten ein Misstrauen und einen Aufruf der manuellen Nachkontrolle durch die Vorgesetzten und einen etwaigen Betrug („fraud“) im Umgang mit IBM Interact, etwa durch abweichende Klicks. So wurden „Hard Workers“ etwa als „[f]leissig, wenig Sales Erfolg“ beschrieben und die abgeleiteten Implikationen waren erstens die Verbesserung der Verkaufstechnik und zweitens die Prüfung, „ob nicht zu viele Offers geloggt werden (fraud).“ Auch bei denjenigen Callcenter-Agenten, die ihre vorgegebenen Ziele erreichten, stand der Betrugsverdacht im Raum, da sie zwar gut verkauften, aber offensichtlich wenig Angebote machten im Kundengespräch. In diesen Fällen sollte dann kontrolliert werden, „ob Offerten geloggt werden“. Der Begriff „fraud“ suggerierte also einen möglichen Betrug der Mitarbeiter, insbesondere der „Hard Workers“, also den hart arbeitenden Callcenter-Mitarbeiten, aber auch der „Goal Getters“ – denjenigen Agenten, die hohe Erfolge im Verkauf erzielten und ihre gesteckten Ziele erreichten. Diese veränderten Formen von Leistungskontrolle verdeutlichen, wie IBM Interact in die bestehende Kontroll-Landschaft eingeflochten wurde. 67 Die ausgeführten Beispiele veranschaulichen, dass IBM Interact in der Nutzung selbst zum (Mit-)Leistungsträger wurde und gleichzeitig auch zum (Mit)Beurteiler von dieser hybriden Leistung. Zusätzlich wurden simple Handlungsempfehlungen für Führungskräfte im Umgang mit Mitarbeitern zur Verfügung gestellt. Die doppelte Einflechtung von IBM Interact in die Leistungsträgerschaft einerseits und die Beurteilung dieser erbrachten Leistung anderseits kann als neue Art von Reflexionsfähigkeit von materieller Handlungskapazität im Hybrid gesehen werden. Diese Reflexion ähnelt der von menschlichen Akteuren, die Leistung erbringen und diese Leistung sodann anhand von Reports überprüfen und anpassen (wie etwa am Beispiel von SF in diesem Abschnitt ersichtlich). Da die er-
66 67
Vgl. auch Abschnitt 4.1.1.2 über die Nutzungskontrolle. Vgl. auch Abschnitt 4.2.1.2 über die Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken.
183
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
strebten Verhaltensanpassungen insbesondere die menschlichen Akteure betrafen, verdichtet sich anhand dieses Beispiels das Bild einer inversen Verinschriftlichung.
High Hard Worker
Stars
Starter
Goal Getter
Low
High
Fleissig. Guter Sales Erfolg. Æ Weiter so. Mehr geht immer.
Offer Rate (Offers per Call)
Fleissig. Wenig Sales Erfolg. Æ Sales Technik verbessern Æ Prüfen, ob nicht zu viele Offers geloggt werden (fraud)
Nicht Fleissig. Wenig Sales. Æ Mehr Offerieren Æ Sales Technik verbessern
Nicht Fleissig. Guter Sales Erfolg. Æ Mehr Offerieren Æ Prüfen, ob Offerten geloggt werden (fraud)
Low
Sales Rate (Sales per Call, Sales per Offer)
Abbildung 26: Angebot-Verkaufs-Matrix und neue Leistungsbeurteilung (Quelle: leicht verändert übernommen aus Reporting Overview, S. 8)
4.3.2.2 Veränderte Rollen und Zusammenarbeit innerhalb der Organisation Durch die addierte materielle Handlungskapazität und deren Verflechtung mit menschlicher zu hybriden Formen veränderten sich etablierte Rollen und Formen der Zusammenarbeit. Dies geschah nicht nur dahingehend, dass Mensch und Materialität im Hybrid zusammenarbeiteten, sondern auch, dass sich durch diese neue Verbindung die bisherige Organisation menschlicher Zusammenarbeit anpassten. Durch die Einführung der Softwarelösungen und der Übernahme bestimmter Tätigkeiten aus dem menschlichen Handlungsbereich veränderten sich die bestehenden hierarchischen und funktionalen Rollen innerhalb der Organisation. Hier rückte die materielle Handlungskapazität stärker in den Vordergrund, sie brauchte mehr Aufmerksamkeit und Pflege und involvierte menschliche Handlungskapazität dadurch neu. SF Bei SF wurde sehr deutlich, wie sich durch die Software neue Entwicklungen in Richtung entweder einer Abwertung oder einer Aufwertung von Tätigkeiten abzeichnete. Die Personalarbeit war vor SF in einen administrativen und strategischen Teil gegliedert. Bei der Einführung wurde die Verwaltung der Software
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
denjenigen Personalreferenten zugeteilt, die für administrative Tätigkeiten und die Rekrutierung operativer Mitarbeiter zuständig waren. Für diese Mitarbeiter verlagerte sich ihre Tätigkeit dahingehend, dass sie sehr mit der Pflege der Software und der Anweisung anderer Mitarbeiter in der Nutzung der Software beschäftigt waren: „Ich würde sogar eher sagen, vielleicht ein bisschen, verschlechtert ist auch nicht der richtige Ausdruck, aber es ist eigentlich nicht meine Aufgabe, irgendwelche Tools oder Software zu erklären sondern mein Kernbereich ist ja das Recruiting eigentlich und nicht das Tool zu erklären. Von daher hat sich das eigentlich von meinem Kernbereich ein bisschen wegbewegt. (. . .) Dahingehend, dass wir viel mehr erklären müssen, wie das Tool funktioniert. Ja. Weil wir eben täglich damit arbeiten und viele Vorgesetzte, gerade die, die das zum ersten Mal machen, noch nicht so viel Erfahrung mit dem Tool haben natürlich und man oft technisch noch erklären muss, wie das Tool funktioniert. Das hat sich auf jeden Fall verändert. Und auch sonst die persönliche Rolle: Ich habe das Gefühl, dass mehr Zeit nur für dieses Tool aufgewendet wird und weniger Zeit für die Sache an sich übrigbleibt.“ (Interviewpartner 8)
Hier ergab sich die Auf- oder Abwertung auch aus der statischen Natur der materiellen Handlungskapazität, indem die Software nur in Maßen an die eigenen Prozesse und Rollen angepasst werden konnte und in ihr stattdessen bereits vordefinierte menschliche Rollen inskribiert waren. Oftmals waren aber für eine vordefinierte Rolle im realen Unternehmenskontext mehrere Personen bei der Ausführung von Tätigkeiten involviert. Durch spezielle vordefinierte Aufgaben und die Unstimmigkeit in der Zuweisung von Aufgaben und tatsächlichen Rollen in der Organisation ergab sich, dass diese materiell vorgegebene Rolle tatsächlich umgesetzt wurde im Unternehmenskontext und sich die menschlichen Tätigkeiten und ihr Handlungsspielraum änderten. So waren Führungskräfte und HR Business Partner etwa immer stärker in die administrativen Prozesse involviert und die Personalreferenten schulten sie in der Ausführung dieser administrativen Prozesse: „[D]ass die Vorgesetzten selbst den Personalantrag stellen mussten, oder müssen. Da mussten wir die Vorgesetzten schulen, Handouts erstellen, dass der Prozess anders gestaltet wird und nach HR-interne Prozesse, also es ist z. B. so, dass es, bei uns ist es ein bisschen aufgeteilt die Rekrutierung, also wenn es Stellen sind, die People Consulting betrifft, dann rekrutieren sie zwar, also sie machen die Vorselektion, sie machen die Interviews durch, aber die ganzen administrativen Arbeiten, die anfallen, z. B. der Versand von Absagen, die Terminkoordination für die Interviews, das wird von uns vorgenommen. Und im Tool ist es so nicht (. . .) Wir mussten da schrittweise schauen, dass einige Prozesse, die wir zuvor gemacht haben, vom Business-Partner gemacht werden. Oder dass z. B. für den Versand für Absagen, ein klassisches Beispiel, wir hatten in Huma den
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
185
Status vorgemerkt für Absagen, die Business-Partner konnten nach Vorselektion einen Kandidaten in diesen Status verschieben und danach haben wir die Absage gemacht und im Tool würde der Recruiter die Absage machen und es wäre erledigt. Und die Businesspartner machen die Absage nicht.“ (Interviewpartner 10)
Daneben wurde menschliches Handeln in Teilen komplett ausgeschaltet durch die neuen vordefinierten Rollen der Software. So wurden von SF Recruiting einige zuvor im Personaleinstellungsprozess beteiligte Mitarbeiter gänzlich aus diesem Prozess geschnitten. In einigen Fällen mussten die administrativ tätigen Personalreferenten auch hier wieder durch manuelles Eingreifen aushelfen: 68 „Man hat einige Rollen natürlich ausgelassen, (. . .) z. B. ist der Übervorgesetzte nicht mehr involviert, also der (. . .) sieht diesen Personalantrag nicht mehr, auch das Payroll-Team war früher involviert in diesen Personalantragsprozess. Sie haben den Personalantrag abgeschlossen und vielleicht muss ich es anders sagen, früher als alles im Huma war, ist ein Personalantrag abgeschlossen worden, wir arbeiten ja mit SAP und wir haben die Planstelle, also diese Position mit der organisatorischen Zuordnung etc. in SAP angelegt, dass wenn wir jemanden rekrutiert haben, diesen Eintritt auf diese Planstelle machen konnten. Daher war das Payroll-Team in diesen Prozess auch involviert, im letzten Step. Und jetzt ist es so, dass wir so viele beschränkte Rollen haben, (. . .), aber jetzt z. B. das Payroll-Team nicht involviert, d. h. wir müssen, wenn wir eine Stelle im [SF] Recruiting haben, die wir rekrutiert haben, müssen wir in anderem System, wie Huma, eine Miniversion des Personalantrags anlegen. Das ist manuell ein Zusatzaufwand und das macht mein Team, weil wir ja sowieso in jede Stelle involviert sind, also entweder als Recruiter, oder als administrative Unterstützung in People Consulting Businesspartnern und erstellen wir einen Personalantrag und müssen quasi die Informationen so als Payroll-Team liefern, also sie wurden da ausgeschlossen eigentlich.“ (Interviewpartner 10)
Im Vergleich dazu gab es neu geschaffene Positionen, die mit Administratorenrechten verbunden waren und somit Einzelnen eine bedeutendere Rolle und mehr Entscheidungsmacht zukommen ließen. Eine ehemalige Callcenter-Agentin arbeitete nun im Learning-Bereich und hat eine neu geschaffene Position, die mit dem neuen eLearning-Programm in SF einherging: „Also es hat mich viel selbständiger gemacht. Eben die Schwierigkeit war auch, wenn ich in einem Ordner war, wo ich keine Schreibrechte hatte, musste ich immer zu jemandem rennen und sagen: ‚Kannst du bitte, würdest du bitte? Ich kann nicht darauf zugreifen. ދAls Administratorin kann ich das natürlich selbständig erledigen. Das hat natürlich meine Arbeitsweise sehr beeinflusst. Also ich bin um einiges selbständiger geworden.“ (Interviewpartner 1) 68
Weitere Ausführungen zu der Orchestrierungsarbeit und der menschlichen Reparieren von materieller Handlungskapazität finden sich in Abschnitt 4.2.3.2.
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Die Zitate zeigen, wie sich menschliche, flexible Handlungskapazität um die relativ statische materielle Handlungskapazität von SF herum anpasste. Neben inhaltlichen Standardisierungen gab es bei der Einführung von SF Recruiting auch prozessuale Standardisierungen und entsprechend verschob sich die Organisation der Praktik, indem materielle Handlungskapazität in den menschlichen Handlungsbereich eindrang: „[Wir m]ussten Prozesse anpassen. Weil es ist natürlich klar, wenn über mehrere Ländergesellschaften hinweg ein Tool aufgesetzt wird, kann man nicht mehr seinen Wunschprozess leben. Irgendwo passieren Abstriche. Und wenn man ein Tool hatte oder eine Unterstützung hatte, die im Prinzip funktioniert hat und im Prinzip schon die Abläufe unterstützt hat, wenn man da zurück muss, das ist schmerzhaft. Wenn man nichts hatte, ist es ein Vorteil.“ (Interviewpartner 14)
Sehr zentral war in diesem Kontext, dass die Organisation der Zusammenarbeit unter den Personalmanagern angepasst wurde: „[A]lso das Tool ist eigentlich so für einen Recruiter gemacht und nicht für verschiedene Rollen, die in einem Rekrutierungsprozess involviert sind. Also das Tool geht von einem Recruiter aus, der alles abwickelt. Und bei uns ist es ganz anders geregelt.“ (Interviewpartner 8)
IBM Interact Die Callcenter-Agenten sollten durch die Einführung von IBM Interact eine Übermittlungsfunktion für algorithmische Handlungsanweisungen einnehmen, indem sie die algorithmischen Entscheidungen darüber, was das NBO für den Kunden ist, im Telefongespräch an den Kunden weitergaben. Obwohl es zahlreiche empirische Beispiele dazu gab, dass die Agenten nicht immer den Anweisungen folgten und auch selbst noch eine Orchestrierungsfunktion innehatten 69, wurde dem Callcenter-Agenten die Rolle des „Entmachteten“ zugeschrieben. Dass menschliche Handlungskapazität hier von materieller Handlungskapazität geführt werden sollte, machte auch der Projektleiter deutlich: „[H]alt die Angst, die Maschine erklärt mir jetzt wie ich arbeiten muss. Und das ist eigentlich dann, sage ich mal, schon ein großer Mindset-Change oder?! Die Rolle, er kann eigentlich weniger verkaufen als er will, (. . .) jetzt ist er halt schon am Anfang auch noch gebunden an die erste Einführung, die er machen sollte und da ist die, ja die Maschine sagt ihm eh, was er jetzt machen muss.“ (Interviewpartner 21)
69
Vgl. Abschnitt 4.2.3 (Orchestrierung).
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
187
Ein weiteres Projektmitglied wies überdies auf einen vollständigen Verlust der Handlungskapazität hin, da zusätzlich Anweisungen gegeben wurden, wie die Callcenter-Agenten die Informationen von IBM Interact interpretieren sollten: „Er wird komplett entmündigt, ja. Weil wir sagen ihm: ‚Du musst die erste Offer, du musst sie offerieren, so wie sie hier steht und stelle dem Kunden keine Fragen, nimmt die, weil bei der ersten Offer ist die Wahrscheinlichkeitދ, also so wie ich das verstanden habe, haben die so Modelle gefahren. Die haben geschaut, also wie haben sie diese Wahrscheinlichkeit rausgefunden, sie haben geschaut, bei diesen Kundengruppen, wer hat schlussendlich die vorgeschlagenen Produkte genommen, innerhalb, weiß ich, zwei Wochen oder so. Und dann haben sie gesehen, dass bei dem ersten Offer die Hälfte der Kunden anspringt, also auf dieses Offer. Ja, wir entmündigen den Agenten komplett. Das war schon mein zweites Projekt übrigens in diese Richtung.“ (Interviewpartner 29)
Auf der anderen Seite veränderte sich die wahrgenommene Rolle von IBM Interact. Bisher wurden neue Callcenter-Agenten von ihren Kollegen und von den Vorgesetzten sowie in Schulungen auf ihre Tätigkeit im Callcenter und auch im Verkauf geschult. Mit IBM Interact entwickelten die Vorgesetzten die Vision, dass dieses Anlernen und auch das Weiterlernen nun von der Software übernommen wurden: „Also ich denke, man lernt sicher Argumente, weil ich denke, das ist schon sicher eine riesige Unterstützung. Also, man kann mit der Zeit sicher besser argumentieren. Man öffnet vielleicht den Horizont von sich selber, weil, wenn man eben für Kunden nur ein Produkt hat, dann denkt man vielleicht gar nicht daran, dass man das so und so kombinieren könnte, was eben ein Tool dann vielleicht unterstützen wird. Also, ich denke schon, es gibt schon Situationen, wo man einiges von Tiger lernen kann. Tipps, Tricks im Allgemeinen.“ (Interviewpartner 28)
Einen ersten Schritt in diese Richtung, dass menschliche von materieller Handlungskapazität geschult wurde, bestätigte eine Callcenter-Agentin, die eine sehr gute Verkäuferin war und deshalb auch andere neu eingestellte Callcenter-Agenten anlernen durfte. Sie war in der Pilotphase von IBM Interact als Key Userin im Projekt und bereits nach dieser kurzen Phase berichtete sie, wie sie beim Anlernen derjenigen, die IBM Interact ja noch nicht nutzten, den Button für das NBO suchte und ihnen nicht direkt die manuelle Bedarfsanalyse demonstrierte: „[D]ie werde ich einlernen. Also ich werde ihnen zeigen, wie das funktioniert. Ich bin drei Tage nur mit ihnen, telefoniere mit ihnen. Die haben ja Tiger nicht. Und wenn ich manchmal ein Gespräch entgegennehme, dann suche überall den .QRSIÃ1H[W%HVW$FWLRQұ. Bis ich dann verstehe: Ah ja, gut, die haben das gar nicht. Das ist einfach wieder Gewohnheit.“ (Interviewpartner 18)
188
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Zuletzt wurde im Verlauf der unterschiedlichen Interviews auch deutlich, dass sich aufgrund der technischen Expertise zu IBM Interact die Rollen dahingehend verändert hatten, dass es nur wenige – genauer gesagt: einen – Experten im Unternehmen gab, der genauer über die technische Funktionsweise informiert war. So wurden alle technischen Fragen, auch seitens der IT-affinen Projektteammitglieder, an diese Person weitergeleitet. Der Projektmitarbeiter, der an der Schnittstelle zwischen IT und Callcenter arbeitete, etwa sagte: „Das ist derjenige, wer sich am besten auskennt mit diesen ganzen Zahlen und so, das ist eigentlich der Project-Owner.“ (Interviewpartner 29)
Die vorangegangenen Ausführungen können dahingehend zusammengefasst werden, dass durch IBM Interact neue Hierarchien bezüglich der Expertise etabliert wurden. An der Spitze dieser Hierarchien standen diejenigen Projektmitglieder, welche die Funktionsweise der Technik kannten und sie bedienten und die Technik selbst. 4.3.2.3 Zusammenfassung: Veränderung der Organisation der Praktik Die Organisation von Praktiken änderte sich zunächst, indem materielle Handlungskapazität auch mit ein Leistungsträger war. Am Beispiel der Leistungserbringung und -beurteilung wurde deutlich, dass materielle Handlungskapazität zunächst auch in stärkerer Form als die bislang genutzten Reports an der Beurteilung von Leistung beteiligt war. So wirkten sie insbesondere aufgrund der starken visuellen Ausstrahlungskraft in der Vereinfachung organisationaler Komplexität mit. Diese visuellen Praktiken waren bei SF und IBM Interact zu sehen. IBM Interact jedoch wurde durch die ergänzte menschliche Handlungskapazität eine neue, für materielle Handlungskapazität ungewöhnliche Fähigkeit verliehen. Diese Fähigkeit bestand darin, die (Mit-)Leistung zu reflektieren, indem es sowohl an der Leistung selbst als auch an der Beurteilung beteiligt war. Aus der Beurteilung wurden dann Handlungsimplikationen für die Verbesserung menschlicher Leistung im hybriden Gefüge abgeleitet. Neben dieser Umformung von Leistung und ihrer Beurteilung ergaben sich auch Veränderungen in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit in den bestehenden Teams innerhalb der Organisation. Dadurch, dass materielle Handlungskapazität eingearbeitet wurde, erfuhren die menschlichen Akteure eine Auf- oder Abwertung ihrer Rollen. 4.3.3
Zwischenfazit
Bei Huma wurde die Erstellung von Reports automatisiert, um menschliche Leistung zu reflektieren und zu verbessern. Diese Reports (also materielle Handlungskapazität) dienten zur Erfüllung menschlicher Zwecke, sie waren verinschriftlicht mit menschlicher Handlungskapazität. Indem SF bestimmte Tools (z. B. Raster)
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
189
zur Leistungsbeurteilung bereitstellte, reflektieren Personalmanager gemeinsam mit diesen Tools (materielle Handlungskapazität) die Mitarbeiterleistung. Durch die neue verstärkte Wirkmacht, die von der Visualisierung und empfohlenen Heuristiken zur Interpretation ausging, wurden die Personalmanager (menschliche Handlungskapazität) zum verlängerten Arm der Ausführung materieller Handlungskapazität (der Software), was als inverse Verinschriftlichung gesehen werden kann. Am Beispiel von IBM Interact wurde noch ein weiterer Schritt in eine umgekehrte Richtung der Handlungsausführung ersichtlich. Indem die Software sowohl als Leistungsträger hinsichtlich der (Mit-)Leistung beurteilt wurde und indem menschliches Verhalten fortlaufend adaptiert wurde, um die Leistung im Hybrid aufrechtzuerhalten beziehungsweise zu steigern, zeigte sich eine neue Art von Reflexionsfähigkeit der materiellen Handlungskapazität, die jedoch menschliche Mitwirkung zu diesem Zweck benötigte. In diesem Sinne kann hier von einer Art inversen und rekursiven Verinschriftlichung gesprochen werden. Die empirischen Daten zeigten, dass sich sowohl die Rolle von menschlicher Handlungskapazität (Aufwertung oder Abwertung) als auch die der materiellen Handlungskapazität (Aufwertung) durch die Hybridisierung veränderten. Hier wurde sehr deutlich, dass diejenigen Menschen, welche die Software administrierten eine stärkere Rolle einnahmen und als Steuerer der materiellen Handlungskapazität auftraten, während der Großteil der Anwender diese Handlungskapazität als Mittler vollstreckten. In der Nutzung der Software veränderten sich die klassischen hierarchischen Rollen in der Aufgabenausführung. Im Fall von IBM Interact ging diese Rolle der Vollstreckung noch weiter, da die Nutzer selbst durch Datenfütterung zur Weiterentwicklung der Algorithmen und materieller Handlungskapazität beitragen mussten. Die Callcenter-Agenten wurden also zu doppelten Vermittlern, und materielle Handlungskapazität in menschliche inskribiert. Abbildung 27 fasst die Ergebnisse zu den veränderten Praktiken noch einmal zusammen. Tabelle 9 zeigt weitere Beispielzitate aus den Interviews zu veränderten Praktiken.
190
4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
Veränderte Praktiken
Inhalt
Qualität der Aufgabenverrichtung und Entwicklungspfade von Leistung
Form
Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion
Leistungserbringung und -reflexion
Veränderte Rollen und Zusammenarbeit
Abbildung 27: Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln (Quelle: eigene Darstellung)
Tabelle 9: Illustrative Daten zu den veränderten Praktiken Kernkonzept Inhaltliche Veränderungen von Praktiken
70
Empirische Themen und illustrative Beispiele Qualität der Aufgabenverrichtung und Entwicklungspfade von Leistung SF: „Aber das Tool kann ja die Unternehmenswerte nicht transportieren. Sondern es kann nur irgendwo dann eine Vorgehensweise, einen Prozess geben, der diesen Wert unterstützt. Dann ist es auch wieder im Prinzip das Hilfsmittel, dem Mitarbeiter im Prinzip die Leitplanken zu geben: Hier darfst du dich bewegen. Die dürfen auch nicht zu schmal sein. Aber hier darfst du dich bewegen und den Kunden optimal bedienen. Wenn du links oder rechts rausgehst, dann verlässt du den optimalen Bereich, dann klappt es nicht.“ (Interviewpartner 14) IBM Interact: „Wir haben sehr gute Verkäufer, sehr starke Verkäufer, wir haben solche, die einfach sehr, sehr mittelmäßig sind, die sind nicht so wahnsinnig stark. Für die, speziell für diese Leute ist der Tiger eine Hilfe, weil er einfach schon Produkte (. . .) Also er stellt fünf Produkte vor, oder fünf Promotionsmöglichkeiten. Aus dem der Mitarbeiter wählen kann.“ (Interviewpartner 27) Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion SF: „[U]nd so wird es definitiv die Entfernung zwischen den Unternehmen verschieben, sobald Sie diese Sichtbarkeit haben, wer ein Talent in jedem Land ist.“ 70 (Interviewpartner 22) „[E]s ist auch insofern anders geworden, als der Mitarbeiter das alles erfassen muss und der Vorgesetzte bestätigt dann einfach.“ (Interviewpartner 6)
Originalzitat auf Englisch.
4.3 Veränderte Praktiken durch hybrides Handeln
Formale und strukturelle Veränderungen von Praktiken
71 72
191
IBM Interact: „Die Mitarbeiter werden ja jeden Tag mit den Zahlen konfrontiert und wenn natürlich die Zahlen eher tendenziell schlecht sind, gibt es Mitarbeiter, die sich dann davon herunterziehen lassen. Und ja dementsprechend sind dann auch diese Tage recht schwer zu verkaufen und wirklich zu funktionieren. Solche Mitarbeiter zu motivieren ist dann wirklich schwierig. Weil die sehen ‚hey ich habe wochenlang einfach nicht wirklich mein Ziel erreicht beim Verkaufenދ. Und die lassen sich dann teilweise schon beeinflussen von den Zahlen. Deshalb ganz früher hatten wir mal eine Zeit, dort haben wir die Zahlen publiziert, wie die Mitarbeiter stehen und auch wie viel Kunden in der Hotline am Warten sind und das beeinflusst die Mitarbeiter zu sehr. Also die lassen sich dann zu sehr von den Zahlen beeinflussen.“ (Interviewpartner 17) „Weil teilweise weiß ja nicht mal der Kunde, was er für Produkte hat, lustigerweise.“ (Interviewpartner 29) Veränderte Leistungsbeurteilung und Zusammenarbeit SF: „[A]ufgrund dessen, dass er eben ein Underperformer ist, dass er seine Leistung nicht erbringt. Natürlich da wurde die Transparenz natürlich auch wieder generiert. D. h. es kann gut sein, dass sich das in dem konkreten Fall zu seinem Nachteil erwiesen hat, weil vielleicht der Vorgesetzte schon lange wusste, ja, er ist ein Low-Performer, aber er ist ja ein netter Typ, wie auch immer, möchte ich da eigentlich keine Actions machen, ich möchte es einfach gerne so belassen wie es ist. Und durch diesen Prozess hat es diese Transparenz natürlich aufgezeigt und das kann schon sein, dass auch Druck kommt vom Management, weil die sagen, wenn der wirklich da unten ist und so schlecht performt, warum ist der dann noch da, ja?“ (Interviewpartner 7) IBM Interact: „Das Linienmanagement macht das nun aktiv, ist nun auch als zusätzliche KPI auf Agentenebene unterteilt, ja, die Nutzung dieses Tools.“ (Interviewpartner 23) 71 „[W]ir müssen es zuerst schaffen, dass alle diese Agenten das Tool akzeptieren, was bedeutet, dass sie eine stabile Nutzung haben, dass sie dem Tool vertrauen, dass wir hoffentlich bereits pro Agent zeigen können, ‚hey, schauen Sie, Ihre Verkaufsrate ist jetzt höher seitdem Sie das Tool nutzen. Und dann können wir anfangen, das zu stimmen.“ (Interviewpartner 23) 72 Veränderte Rollen innerhalb der Organisation SF: „Die Rolle der Vorgesetzten hat sich insofern geändert, man hat ihnen ja einen Task dazugegeben, also sie sind dafür
Originalzitat auf Englisch. Originalzitat auf Englisch.
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4 Ergebnisse: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation
verantwortlich, dass, wenn eine neue Position frei wird, dass sie vorab schauen, dass die einen Personalantrag stellen, damit rechtzeitig rekrutiert werden kann, darum mussten sie sich zuvor nicht kümmern. Das hat der Businesspartner gemacht, wenn er Kenntnis davon hatte, dass eine Stelle frei wird und das ist eigentlich ein großer Task, den man übergeben hat, nach einer Verantwortung. Viele Vorgesetzte haben, die z. B. an der Schulung nicht teilnehmen konnten, dieses Bewusstsein, dass es alles von ihnen aus gestartet werden muss, das ist noch nicht so vorhanden. Das ist eine Rolle, die sich geändert hat, der Vorgesetzten.“ (Interviewpartner 10) IBM Interact: „Ja das Tool ist, das Tiger-Tool ist jetzt ähnlich vom Programm her, aber die Aufgabe ist anders. Wir hatten noch nie so ein Tool, wo dir das vorgegeben hat.“ (Interviewpartner 17) „[W]ir wissen, dass einige High Performance Agenten, sie mögen immer noch das Interface. Es bringt ihnen neben dem Umsatz auch Vorteile in Bezug auf die Übersicht. Aber auf der anderen Seite auch, dass in dem Moment, in dem sie den Verkauf mit Tiger getätigt haben, dass sie nur diesen Knopf drücken, den Knopf unten und die Bestellung in der nächsten Phase im Bestellprozess vollständig ausgefüllt wird. In der alten Welt verkaufe ich Ihnen etwas, dann muss ich den Bestellprozess öffnen und dann muss ich Ihre Kundennummer, Ihren Namen, das, ‚Oh, welches Produkt war es noch mal?( ދ. . .) Und bei diesem wird es bereits im Bestellprozess automatisch gefüllt. So mögen es auch leistungsstarke Agenten, (. . .) sie sagen, ‚dass die Verkaufsargumente in Bezug auf den Verkauf, ja, manchmal für mich nützlich sein könnten, so dass ich mich wirklich auf mein Verkaufsgespräch konzentrieren kann. ދUnd dann ist natürlich die ideale Situation, dass die High Performance Agenten hin und wieder die Low-Performance-Agenten coachen, wie man das Tool am besten nutzt.“ (Interviewpartner 23) 73
73
Originalzitat auf Englisch.
5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge In der vorliegenden Arbeit wurde anhand kontrastierender Fallstudien aufgezeigt, wie hybrides Handeln innerhalb softwaregestützter Praktiken entsteht und wie sich Praktiken durch hybrides Handeln verändern. Das gegenständliche Kapitel widmet sich der Diskussion der Ergebnisse entlang der vorhandenen Literatur sowie deren theoretischen und praktischen Implikationen. Grundlage für die Diskussion bildet die Synthetisierung der empirischen Ergebnisse in einem theoretischen Framework zu hybridem Handeln (vgl. Abschnitt 5.1). Nach der Darstellung des Frameworks werden die Ergebnisse noch einmal anhand der Theorie reflektiert (vgl. Abschnitt 5.2) und es werden die Limitationen der Studie sowie die Generalisierbarkeit der Ergebnisse erörtert (vgl. Abschnitt 5.3). Daran anschließend werden die wesentlichen Beiträge der Arbeit für die wissenschaftlichen Diskurse zu lernenden Algorithmen im Arbeitskontext, zur Mensch-Technik-Verflechtung sowie zur Praxistheorie noch einmal betont und weiterer Forschungsbedarf aufgezeigt (vgl. Abschnitt 5.4). Letztlich lassen sich noch praktische Handlungsempfehlungen für das Management von Technologies-inUse in Unternehmen skizzieren (vgl. Abschnitt 5.5). 5.1
Synthetisierung der Ergebnisse in einem theoretischen Framework zu hybridem Handeln
Aus den Fallstudien lässt sich ein theoretisches Framework (dargestellt in Abbildung 28) zu hybridem Handeln ableiten, das menschliche und materielle Handlungskapazität sowie deren Verflechtung in verschiedenen diskursiv-materiell-visuellen Praktiken hervorruft und durch deren Hybridisierung sich eine Transformation bestehender Praktiken nachverfolgen lässt. In diesem Abschnitt wird das Framework genauer dargestellt und es werden die Stellen, an denen sich Unterschiede bei verschiedenartiger materieller Handlungskapazität andeuten, herausgearbeitet. Das Framework erklärt, (1) wie die Aushandlung von Beziehungen und Grenzen in Form von (technischer) Konfiguration materieller Handlungskapazität und der Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen (2) ein Bündel von drei Kernmechanismen der Hybridisierung (Integration, Neuausrichtung, Orchestrierung) von menschlicher und materieller Handlungskapazität in alltäglichen Arbeitspraktiken aktiviert. Hybrides Handeln entsteht durch eine Verhedderung bei dieser Handlungshybridiserung und © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3_5
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
(3) leitet die Veränderung bestehender Arbeitspraktiken in Inhalt und Form ein. Diese Veränderungen sind fortlaufend Ausgangspunkt für eine erneute Aushandlung von Beziehungen und Grenzen. Soziale Dynamiken
Konfiguration materieller Handlungskapazität
Aushandlung von Beziehungen und Grenzen
Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von T ools und Algorithmen
Veränderte Praktiken Inhalt
Form
Kernmechanismen der Handlungshybridisierung
Hybrides Handeln
Integration Verhedderung
Orchestrierung
Neuausrichtung
Abbildung 28: Theoretisches Framework zu hybridem Handeln (Quelle: eigene Darstellung)
(1) Aushandlung von Beziehungen und Grenzen Das abgeleitete theoretische Framework weist zunächst auf die Aushandlung von Beziehung und Grenzen als soziale Dynamiken hin, welche die Handlungshybridisierung aktivieren (vgl. Abschnitt 4.1). Diese Dynamiken generieren materielle Handlungskapazität und machen sie für eine Hybridisierung erst möglich. Die generativen sozialen Dynamiken lassen sich als eine Ansammlung von verschiedenen diskursiv-materiell-visuellen Praktiken erfassen. Die Praktiken zeichnen sich also aus durch eine hin- und hergehende Aushandlung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, bei denen sowohl materielle (physische oder digitale) als auch visuelle (Bilder, Ideen) Elemente mit einbezogen werden.
5.1 Synthetisierung der Ergebnisse in einem theoretischen Framework zu hybridem Handeln
195
Zu den Praktiken zählt zunächst die Konfiguration materieller Handlungskapazität, in der menschliche Handlungskapazität maßgeblich beteiligt ist. Hier lassen sich Unterschiede hinsichtlich der Interaktivität (Nutzungshäufigkeit und -intensität) zwischen menschlicher und unterschiedlich dynamischer materieller Handlungskapazität erkennen. Konfiguration setzt sich zusammen aus der Darstellung der Technik, also der Festschreibung bestimmter technischer Funktionen. Da Technik ihre Wirkung erst entfalten kann, indem sie genutzt wird, stellen verschiedene Formen der Nutzungskontrolle einen weiteren wichtigen Aspekt für die Konfiguration dar. Ein zweites wichtiges Element bei der Aushandlung von Beziehungen und Grenzen zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität stellt die Herausbildung einer bestimmten Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen dar. Zur Entstehung dieser Vorstellungswelt trägt bei, wie menschliche Akteure mit der Undurchsichtigkeit und Komplexität materieller Handlungskapazität umgehen. Blackboxing, bei dem diese Hinterfragung vernachlässigt wird, sowie Narrative und Merchandising, also eine bewusste Verbreitung von Bildern und Vorstellungen, rufen Imaginationen von materieller Handlungskapazität wach und begründen die Zuschreibung bestimmter sozialer Eigenschaften und Handlungskapazitäten. Gerade aufgrund der unterschiedlichen Formen technikzentrierter Sozialität definieren menschliche Akteure die materielle Handlungskapazität und setzen sich selbst in Bezug zu ihnen. (2) Kernmechanismen der Handlungshybridisierung Diese Aushandlung von Beziehungen und Grenzen aktiviert drei Kernmechanismen der Handlungshybridisierung, die nicht linear, sondern auch überlagernd stattfinden können: Integration, Neuausrichtung und Orchestrierung (vgl. Abschnitt 4.2). In der Überlagerung entsteht eine Verhedderung, welche die Hybridisierung schwer revidierbar macht, und die beiden Handlungskapazitäten ineinander verzahnt. Bei der Integration dringen menschliche und materielle Handlungskapazität in den jeweiligen anderen Handlungsbereich ein. Indem menschliche Akteure die technische Funktionsweise erschließen und interpretativ von ihr Gebrauch maFKHQ ZLUG GLH 5LFKWXQJ GHU $QSDVVXQJ 0HQVFKĺ7HFKQLN YV 7HFK QLNĺ0HQVFK IHVWJHOHJW9RUDOOHPEHLVWDWLVFKHUXQGLQEHJUHQ]WHP0DHDQ passbarer materieller Handlungskapazität kann die Richtung unidirektional sein, bei dynamischer materieller Handlungskapazität hingegen bidirektional in Form einer wechselseitigen Anpassung. Weil neue materielle Handlungskapazität auf ein bestehendes soziomaterielles Gefüge trifft, in dem bereits menschliche und andere materielle Handlungskapazitäten miteinander verflochten sind, wird die neue materielle Handlungskapazität in die bestehenden Konfigurationen von Ar-
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
tefakten und etablierten Praktiken integriert. Die Integration ist langfristig angelegt und etwaige herrschende widersprüchliche Handlungslogiken und -ziele zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität treten zu Tage und werden aufgelöst. Ein zweiter Kernmechanismus der Hybridisierung zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität ist die Neuausrichtung. Um Handlungen in einer hybriden Konstellation auszuführen, müssen beide Handlungskapazitäten in einer Richtung auf die gemeinsame Ausführung der Handlung ausgerichtet werden. Da sich menschliche Akteure in der Ausführung ihrer Handlungskapazität durch die neue materielle Handlungskapazität bedroht fühlen können, liegt ein großer Teil der Neuausrichtung in Identitätsarbeit begründet. Ergebnis der Neuausrichtung ist eine gemeinsame Übereinkunft darüber, in welche Richtung Handlungskapazität ausgeübt wird und welche Rollen und Verantwortung die jeweilige andere Identität bei der Erfüllung von Aufgaben übernimmt. Durch die Übergabe von Verantwortung an materielle Handlungskapazität entstehen Handlungslücken auf der Seite menschlicher Handlungskapazität. Unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Schließung dieser Handlungslücken führen zu einer Repositionierung menschlicher im Vergleich zur materiellen Handlungskapazität. Diese Repositionierung verstärkt den Verhedderungseffekt. Trotz der Übereinkunft über eine Neuverteilung von Verantwortlichkeiten bei der hybriden Handlungsausführung kommt es vor, dass eine der beiden Handlungskapazitäten an ihre Grenzen stößt. Um die Ausführung von Praktiken aufrechtzuerhalten, findet deshalb eine gegenseitige Orchestrierung statt. Dieser Teil der Orchestrierung steht in engem Zusammenhang mit menschlicher Reflexionsfähigkeit und -arbeit. Zunächst betrifft die Orchestrierung die Übersetzung der realen Vorkommnisse der Organisation in ein digitales Abbild. Hierdurch wird der Inhalt menschlicher Handlungskapazität auf materielle übertragen. Umgekehrt müssen die digital erstellten Informationen auch wieder entziffert und in den realen Arbeitskontext übersetzt werden. In beiden Schritten kann es zu absichtlichen oder unbewussten Manipulationen kommen. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die wechselseitige Ausbesserung von Unzulänglichkeiten auf Seiten der menschlichen und materiellen Handlungskapazität. Hierbei kann es zu Fragen um Macht und Handlungsautorität kommen, die je nach wahrgenommener Stärke und Ebenbürtigkeit verschiedener materieller Handlungskapazität beantwortet werden. Die beschriebene Orchestrierung bildet den letzten der drei Kernmechanismen. Durch die beschriebene Form des kurzfristigen Einspringens und der Überbrückung von Kapazitätsengpässen kann die langfristige Hybridisierung aufrechterhalten werden und der Verhedderungseffekt wird verstärkt.
5.1 Synthetisierung der Ergebnisse in einem theoretischen Framework zu hybridem Handeln
197
(3) Veränderte Praktiken Ein letztes Element im dargestellten Framework für hybrides Handeln ist die Veränderung von Praktiken (vgl. Abschnitt 4.3). Diese Veränderung kann dadurch erklärt werden, dass in der Handlungshybridisierung verwandelte – hybride – Formen von Praktiken entstehen. In der rekurrierenden Ausführung dieser hybriden Praktiken transformieren sich die bestehenden etablierten Praktiken. Die Veränderungen machen sich sowohl im Hinblick auf den Inhalt (wie verändern sich die Aktivitäten in der Praktik?) als auch auf die Form (wie verändert sich die Organisation der Praktik?) von Praktiken bemerkbar. Zunächst geht mit hybridem Handeln eine modifizierte Aktivität der Aufgabenverrichtung einher. Dabei können sich beim Schließen von entstandenen Handlungslücken unterschiedliche Leistungspfade entwickeln, indem zuvor unterschiedlich stark ausgeübte Leistung auf menschlicher Seite im Zusammenspiel mit materieller Handlungskapazität zurück- oder hochgefahren wird. Eine weitere qualitative Veränderung entsteht in der Interaktion mit einer oftmals von der hybriden Praktik betroffenen Person, die als Empfänger involviert ist. Diese zwischenmenschliche Interaktion wird entpersonalisiert, indem die neue materielle Handlungskapazität sich als neue Instanz in dieses Gefüge einbringt. Auch die Organisation der Praktik ändert sich im Hybrid. Indem der Bereich menschlicher Leistung durch die materielle ergänzt wird, und sich die Leistungsträgerschaft damit nicht mehr nur auf menschliche, sondern auch auf materielle Entitäten bezieht, verändert sich auch die menschliche Zusammenarbeit. So kann sich die Teamzusammensetzung zur Bearbeitung bestimmter Aufgaben dadurch verändern, dass sich im Hybrid durch neue materielle Handlungskapazität die bestehenden Strukturen verschieben. Diese Verschiebung macht sich auch in der Emergenz neuer und Veränderung bestehender Rollenpositionen bemerkbar, indem mit materieller Handlungskapazität ergänzte menschliche Handlungsträger höherwertigere oder minderwertigere Rollen einnehmen. Die beschriebenen Transformationsrichtungen von Praktiken im Hybrid stellen die fortlaufende Information für eine erneute Aushandlung von Beziehungen und Grenzen dar. Ein Blick auf das Framework zeigt, dass die beinhalteten Elemente nicht abgeschlossen sind (dargestellt durch gestrichelte Linien) und ihre Verbindungen insgesamt einen Bereich für die Ausübung von menschlicher und materieller Handlungskapazität darstellen (kreisförmig dargestellt). Die Ausformung dieses Bereichs entsteht in andauernden materiell-visuell-diskursiven Praktiken.
198
5.2
5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
Theoretische Reflexion der Ergebnisse
In der vorliegenden Arbeit wurde untersucht, wie hybrides Handeln innerhalb softwaregestützter Praktiken entsteht und wie sich Praktiken durch hybrides Handeln verändern. Anhand der Analyse der empirischen Fallstudiendaten konnten durch die theoretische Linse einer Mensch-Technik-Verflechtung drei wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Zunächst tragen soziale Dynamiken und materiell-visuell-diskursive Praktiken der Inbezugsetzung dazu bei, dass Beziehungen und Grenzen zwischen materieller und nicht-materieller Handlungskapazität ausgehandelt werden und materielle Handlungskapazität freigesetzt wird. Innerhalb dieser Inbezugsetzung wird materielle Handlungskapazität positioniert und menschliche Handlungskapazität wird re-positioniert. Die Hybridisierung von Handlungskapazität entsteht im Kern als Folge einer Überlagerung von drei Kernmechanismen: Integration, Neuausrichtung, Orchestrierung. Diese Verhedderung wird auch begründet durch kognitive Erweiterung menschlicher Handlungskapazität und der Vermittlung eines neuen Sicherheitsgefühls, die eine Entflechtung der Handlungskapazitäten erschweren und sie zu einer Art dauerhaftem Hybrid verschmelzen. Zuletzt ist es eben jener auf lange Frist angelegter Hybrid, der bestehende Praktiken verändert und der materieller Handlungskapazität eine feste und im Hybrid zum Teil menschenähnliche Handlungsfähigkeit verleiht. In den nachfolgenden Abschnitten werden diese drei Ergebnisse anhand der existierenden Literatur reflektiert. 5.2.1
Soziale Dynamiken und Generativität der Inbezugsetzung für die Positionierung materieller und Repositionierung menschlicher Handlungskapazität
Artefakte und Technik haben eine inhärente eigene materielle Handlungskapazität, die mindestens in Form einer verändernden Wirkung für menschliches Handeln auftritt (Latour 2005; Rammert 2016; Schatzki 1996; Schatzki 2019; Winner 1980). Dabei hat die bisherige Forschung, die soziomaterielle Arrangements als Ort, in dem eine dynamische Rekonfiguration von menschlichen und materiellen Handlungskapazitäten (Mazmanian et al. 2014) geschieht, darauf hingewiesen, dass in diskursiv-materiellen Praktiken Grenzen ausgehandelt werden und diese Praktiken spezielle soziale Dynamiken in Kraft setzen. Die vorliegende Studie spezifizierte diese sozialen Dynamiken. Für die Freisetzung materieller Handlungskapazität ist einerseits die (technische) Konfiguration wichtig, andererseits ist auch die Herausbildung einer Vorstellungswelt über Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen relevant.
5.2 Theoretische Reflexion der Ergebnisse
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(a) Konfiguration materieller Handlungskapazität: Im Rahmen der vorliegenden Analyse hat sich gezeigt, dass insbesondere die technische Darstellung als grundlegend für die Definition eines materiellen Handlungsbereiches ist. Ähnlich wie in der Literatur zur materiellen Affordance und Imbrication (Leonardi 2011) war die materielle Handlungskapazität bei der gebrauchsfertigen Software aus der Cloud für menschliche Akteure sehr handlungseinengend. Bei der Software, die auf lernenden Algorithmen basierte, hingegen war diese Konfiguration offen. Von Anfang an wurde der materielle Handlungsspielraum in dem Fall durch menschliche Interaktion mit der Software gemeinsam geschaffen. Im Vergleich zu der bisherigen Forschung, die überwiegend statische Formen von Materialität untersucht hat, ist hier eine dynamische Konfiguration möglich, die mehrere verteilte Subjekte einschließt. Während statische Formen von Software häufig als verlängerter Arm menschlicher (managerialer) Handlungskapazität und einer Form ferngesteuerter Kontrolle gesehen werden können (Bailey et al. 2012), entwickeln sich dynamische Formen von Algorithmen stetig weiter und zwar in der Interaktion mit dem Endnutzer. (b) Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen: Weiterhin hat sich bei der Einführung der Software gezeigt, dass die Herausbildung und in materiell-visuell-diskursiven Praktiken geschehene Ausgestaltung einer spezifischen Vorstellungswelt darüber, wie stark die Handlungskapazität der jeweiligen Software sein könnte, die Handlungshybridiserung mitgeneriert. Dieses Ergebnis knüpft an einen heiklen Punkt innerhalb der Forschung zu Soziomaterialität an. Die bisherige Forschung zu Sozio-Materialität und Soziomaterialität ist deshalb umstritten, weil noch immer keine wissenschaftliche Einigung über den ontologischen Status von Mensch und Technik und deren Relation zueinander erzielt werden konnte (Mutch 2013; Scott und Orlikowski 2013). Die eine Perspektive geht von einer starken Relationalität aus und sieht Mensch und Nicht-Mensch als ebenbürtige Entitäten an, die intra-agieren (Latour 1996a; Nyberg 2009; Orlikowski und Scott 2008; Schultze und Orlikowski 2004). Die andere stellt die Relationalität zwar nicht in Abrede, verwendet aber ein viel schwächeres Bild der Beziehung, indem menschliche und nichtmenschliche Akteure miteinander inter-agieren (Berthod und Müller-Seitz 2018; Leonardi 2011). Bei der Einführung einer Software in der Gestalt einer Tigerfigur, durch sich wechselnde Narrative über die Fähigkeiten der Software in Relation zum Menschen geschah es allerdings, dass die Callcenter-Agenten der materiellen Handlungskapazität immer mehr Handlungsspielraum boten, indem sie sie integrierten und mit ihr interagierten. Durch die Zuschreibung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften (Anthropomorphismus) überbrücken menschliche Akteure in ihren Praktiken also diese ontologische Trennung und schaffen einen Raum für materielles Handeln. Ähnlich wie von Rammert (2016) festgestellt, ist also ein Teil von
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materiellem Handeln in der menschlichen Zuschreibung begründet und darin, dass sich menschliche Akteure in ihrer Anwesenheit anders verhalten als sonst. Interessanterweise geschah dieses neue Verhalten im vorliegenden Fall nicht als Ergebnis einer bestimmten bereits vorhandenen Wirkmächtigkeit der Software (sie musste durch Interaktion und Dateneinspeisung erreicht werden), sondern sie entstand als Ergebnis einer Vorstellungswelt. Dies stellt ein empirisches Beispiel für Performativität dar (Butler 2010; Cecez-Kecmanovic et al. 2014; Gond und Cabantous 2015), indem lernende Algorithmen am Arbeitsplatz durch bloße Vorstellungen Wirkungen haben können, indem sich die Nutzer neu definieren, mit der Software interagieren und nicht mehr wie sonst ihre Arbeit ausführen. Die Callcenter-Agenten entwickelten eine Beziehung zu der Software und eine technikzentrierte Sozialität. Es trifft im Fall lernender Algorithmen also keineswegs zu, dass menschliche Akteure Materialität nicht als sozial wahrnehmen, wie etwa Leonardi (2013, S. 65) konstatierte: „dass diese philosophische Haltung empirische Probleme präsentiert, weil die Akteure in der Welt das Materielle und das Soziale oder das Technische und das Organisationale nicht wahrnehmen als interpenetrierte Einheiten. Stattdessen können sie relativ leicht auf einen Hammer oder auf einen Teil von Software ]HLJHQXQGVDJHQÃGDVLVWPDWHULHOOދDEHUVLHZUGHQHVZDKUVFKHLQOLFKVFKZHU haben, zu begreifen, dass ein Hammer auf irgendeine Weise sozial sein könnte.“
Die Ergebnisse dieser Arbeit zeichnen ein differenzierteres Bild: Im Falle von SF konnte die Auffassung von der Software als Werkzeug nachvollzogen werden. Dass die menschlichen Akteure jedoch immer wieder sehr deutlich Bezug auf die Vorgängersoftware Huma nahmen, deutet darauf hin, dass die affektive Bindung der einzelnen Nutzer an die Software eine Rolle spielt. Dieser Gedanke verfestigte sich noch stärker in den empirischen Ergebnissen zu der Software, die auf lernenden Algorithmen basierte. Die Fallstudie zum Umgang mit lernenden Algorithmen zeigt in diesem Kontext, dass der Software in der Sprache, in der visuellen Darstellung und durch die Interaktion und Reaktion der Software menschliche Eigenschaften zugeschrieben wurden. Ein derartiger Anthropomorphismus ist grundsätzlich zunächst kein neues Phänomen im menschlichen Umgang mit Tools und Computern (Nyberg 2009; Prasad 1995). Nyberg (2009) fand beispielsweise in seiner Studie im Callcenter auch heraus, dass die Callcenter-Agenten die technischen Systemen mit menschlichen Personalpronomen („er“, der Computer, Englisch „he“ und nicht „it“) beschrieben. Neben bestimmten Eigenschaften der Software, etwa einer dynamischen Reaktion, die bekanntlich ein Erklärungsfaktor für Anthropomorphismus ist (Haslam et al. 2011; Horowitz und Bekoff 2007), scheinen weitere Gründe auch in der visuellen Darstellung der Software in einer Tigergestalt und durch eine physische
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Statue zu liegen. Anhand der Tigergestalt wird die Software auf eine scheinbar unnatürliche Weise auf dieselbe ontologische Ebene wie der Mensch gestellt. Typischerweise wird in der Forschung zwischen Mensch und Nicht-Mensch unterschieden (Latour 2004; Law 1986; Schatzki 2002). Tiere und Menschen fallen hier aber per Definition (biologisch) in die Kategorie lebendig bzw. menschlich (englisch: human) (Arcari 2019; Schatzki 2002). Somit wird die Software (ursprünglich definiert als nicht-menschlich) in der Tiergestalt lebendig gemacht. Als Konsequenz fühlten sich die Agenten hin- und her gerissen zwischen dem Bild der gleichgestellten oder sogar intelligenteren Software und definierten ihre berufliche Identität neu. Die neue Selbstverortung von bestimmten Berufsgruppen bei der Neueinführung von neuen Technik zeigten auch Nelson und Irwin (2014) in ihrer Studie zur Internetsuche von Bibliothekaren. Im Vergleich dazu war im Callcenter jedoch das Narrativ der Automatisierung (Fleming 2019) und Ersetztwerden durch die Technik sehr dominant. Hier griffen die CallcenterAgenten auf die Interpretation der Manager zurück, indem sie die Software als noch klein und hilfsbedürftig wahrnahmen. Die Tigerfigur diente also dabei zur Abgrenzung einer einerseits ebenbürtigen Software, andererseits war der Mensch überlegen. Dies bestätigt auch die Arbeit von Arcari (2019), indem sie beschreibt, wie der Mensch Tiere als Subalterne behandelt. Ein weiterer verstärkender Effekt, der zu der ausgeprägten technikzentrierten Sozialität führte, war die physische Gestalt des Tigers in Form von Statuen. Anthropomorphismus bei physisch präsenter Technik ist in der Robotik (Duffy 2003) und in der Forschung zu sich bewegender smarter Technik bereits seit Längerem im Fokus der Forschung (Maller und Strengers 2019; Strengers 2019). In der Forschung zu Künstlicher Intelligenz wird dieses Phänomen, mehr oder weniger intelligenter Software (fälschlicherweise) menschenähnliche Intelligenz zuzuschreiben, als das „Forensische Problem des Anthropomorphismus“ (Proudfoot 2011, S. 950) bezeichnet. Anhand dieser empirischen Ergebnisse lässt sich feststellen, dass die Relation und menschliche Inbezugsetzung zu materieller Handlungskapazität erstens einen essentiellen Beitrag dazu leistet, welchen Handlungsspielraum die materielle Handlungskapazität erhält und zweitens, wie sich menschliche Akteure in ihrem Handeln auf diese theoretische Inbezugsetzung tatsächlich re-positionieren. Im vorliegenden Fall wurde jedoch sehr deutlich, dass diese Vorstellungswelt über die Software nicht (nur) in der Interaktion mit der Software interagierte, sondern auch aufgrund bestimmter Managementpraktiken generiert wurde. Im vorliegenden Falle waren es Blackboxing, die Verwendung bestimmter Narrative und Bilder, die die Handlungskapazität der Software mitentfesselten. Dadurch, dass die technisch einwandfreie Funktionsweise der Software von der Interaktion mit ihr abhing, herrschte eine Art datengetriebene Vorgehensweise – im übertragenen Sinne, da die Daten erst generiert werden mussten (Mazmanian und Beckman 2018; Verran 2010).
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Die Rolle des Managements wurde bislang in der Forschung zu lernenden Algorithmen sehr wenig betrachtet (Berente et al. 2019). Im vorliegenden Fall passten die Manager ganz gezielt die Narrative über die Handlungskapazität der Software an. Zu Beginn verkauften sie sie als Heilsbringer, mit dem die Callcenter-Agenten nicht mehr arbeiten mussten. In Reaktion darauf, dass die Callcenter-Agenten die Software nicht nutzten, weil sie nicht ersetzt werden wollten, modifizierten sie das Narrativ dahingehend, dass die Software als Hilfstool fungierte. Dies ist einerseits ein anschauliches empirisches Beispiel, wie technologische Frames durch strategisches Management funktionieren (Orlikowski und Gash 1994; Treem et al. 2015) und welch starke Wirkung ein Storytelling von Führungskräften erzielen kann (Auvinen et al. 2013). Andererseits zeigt sich aber auch, dass Blackboxing von Algorithmen nicht wie bisher in der Literatur angezeigt, ein Phänomen ist, das von Softwareherstellern und politischen Institutionen betrieben wird, sondern auch aufgrund einer zunehmend datengetriebenen Vorgehensweise auch innerhalb von Unternehmen genutzt wird (Pasquale 2015; Stohl et al. 2016). 5.2.2
Hybride Handlungsformen als Folge einer Verhedderung zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität
Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen generativen Dynamiken aktivierten Mechanismen, die eine Handlungshybridisierung in Gang setzten. Im Rahmen der Arbeit konnten in diesem Zusammenhang drei Kernmechanismen, die einer Handlungshybridiserung zugrunde liegen, identifiziert werden. Die Analyse der Daten hat gezeigt, dass 1) materielle Handlungskapazität in ein bestehendes soziomaterielles Gefüge integriert wurde, 2) materielle und menschliche Handlungskapazität miteinander neu in eine gemeinsame Richtung ausgerichtet wurden, 3) menschliche und materielle Handlungskapazität sich gegenseitig orchestrierten. Um diese Mechanismen näher zu beschreiben, wurden menschliche und materielle Handlungskapazität in ihrem Wechselspiel bei der Einführung von Software im Unternehmen empirisch untersucht. (a) Nutzen der angewandten Perspektive der Mensch-Technik-Verflechtung: Diese Vorgehensweise knüpft an die Forderung nach ontologischer Offenheit an, die von einer Reihe von Wissenschaftlern (Jarzabkowski 2012; Jarzabkowski und Pinch 2013; Mazmanian et al. 2014; Mazmanian 2019; Mitev und Vaujany 2013; Vaujany et al. 2013) gestellt wird. Sie betonen den Wert einer soziomateriellen Perspektive für die Erklärung organisationaler Phänomene und insbesondere der
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digitalen Transformation (Mazmanian et al. 2013) als vorranging gegenüber einer ontologischen Debatte. Dieser Wert zeigte sich auch in der vorliegenden Arbeit, indem sie zu zwei Seiten der ontologischen Perspektiven über die Relation zwischen Mensch- und Nicht-Mensch beiträgt. Eine Reihe von Studien zur Soziomaterialität (Cecez-Kecmanovic et al. 2014; Orlikowski und Scott 2008) stützt sich auf den symmetrischen Ansatz aus der ANT (Callon 1984; Cecez-Kecmanovic et al. 2014; Latour 1996a, 2005). In den neueren Studien jedoch gibt es die Unterscheidung zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität nicht mehr, sie ist immer soziomateriell (Leonardi 2013). In der Idee des agentialen Schnitts (Barad 2003, 2007; Introna 2016; Orlikowski 2007) geschieht die Ausübung von Handlungskapazität also willkürlich entweder von Mensch oder Materialität (Leonardi 2013). Aufgrund der Behandlung von menschlicher und materielle Handlungskapazität als eine Art geschlossenes Atom (Barad 2003; Leonardi 2013) greifen diese Studien oft zu kurz in der Beschreibung, wie genau menschliche und materielle Handlungskapazität zusammenhängen, wie sich die Hybridisierung vollzieht und wie Praktiken in sich verändernden Konstellationen aufrecht erhalten werden. Hier setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie anhand der empirischen Befunde aufzeigt, wie etwa neue materielle Handlungskapazität auf ein bestehendes soziomaterielles Gefüge trifft. Dort können sich Akteure widerspenstig gegen die Integration wehren und sie müssen sich erst selbst neu verorten in Relation zu den neuen materiellen Handlungskapazitäten, indem Verantwortlichkeiten stets neu zugewiesen werden und indem schließlich auch eine Unzulänglichkeit der jeweiligen anderen Entität durch Überbrückung von Kapazitätsengpässen ausgebügelt wird, um die Ausführung von Praktiken aufrecht zu erhalten. Sozio-materielle Perspektiven wiederum betrachten menschliche und nichtmenschliche Handlungskapazitäten als jeweils atomisierte Einheiten. Konzepte wie Imbrication (Leonardi 2011) oder relationale Affordance (Faraj und Azad 2012) lassen die Vorstellung eines Hybrids kaum zu, indem sie eine lineare Überlagerung oder Interpretation und damit Eindimensionalität suggerieren. Die oben beschriebenen Ergebnisse zeigen aber, dass im Zusammenspiel zwischen Mensch und Materialität zum einen durch mehrere Kernmechanismen, und damit auf multiple Weise, hybride Handlungsformen entstehen. Daneben zeigte die Empirie auch, dass diese Mechanismen in der Ansammlung verschiedenster Praktiken und zeitlich überlagert auftreten können. Somit deutet sich an, dass die eindimensionalen Betrachtungen für die Erklärung, wie hybrides Handeln entsteht, zu kurz greifen. In den durch die Analyse gewonnenen Erkenntnisse über die Kernmechanismen finden sich immer wieder Elemente wider, die Callon (1984) in seiner Theorie der Übersetzung gefunden hat. Im Hinblick auf die auf traditionellen Algorithmen basierende Software lassen sich die Konzepte Problematisation, Interessement, Enrolment und Mobilisation in vielen Punkten nachzeichnen, da
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die materielle Handlungskapazität hier gebrauchsfertig geliefert wird und relativ stabil ist und in einen neuen Kontext übersetzt wird. Bei der auf lernenden Software basierenden Software jedoch zeigt sich deutlich, dass keine Stabilität im Netzwerk von Aktanten gegeben ist – weder auf Seiten menschlicher noch auf Seiten materieller Handlungskapazität. Die Inhalte für materielles Handeln, aber vor allem auch die Regeln, nach denen Algorithmen handeln, werden erst durch menschliches Handeln und Interaktion geschaffen. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass es sich hier also nicht um eine Form von Übersetzung, sondern eher um eine Art Inkorporierung und wechselseitige Anpassung handelt. Dery et al. (2013) beschrieben, wie bei der Implementierung traditioneller Software im Personalmanagement, die mit der Software verbundenen Ziele bei der Übersetzung aufgrund anhaltender Aushandlungen über die oben genannten Elemente verloren gehen können. Auch im Fall von SF gab es Verluste bei der Übersetzung der Konzernziele durch die Software beziehungsweise sie wurden durch die lokalen Notwendigkeiten ersetzt, etwa indem minimale Anpassungen an der Software vorgenommen wurden oder indem zusätzliche manuelle Reports erstellt wurden. (b) Orchestrierung: Eine vergleichbare Form von Übersetzungsarbeit fand auch während der Orchestrierung als Kernmechanismus statt. So zeigten die Ergebnisse, dass vor allem bei lernenden Algorithmen Verluste bei der Inkorporierung und wechselseitigen Anpassung auftreten können, indem Fehlinformationen in der digitalen Welt repräsentiert wurden (Kallinikos 2009; Latham und Sassen 2009). Am Beispiel lernender Algorithmen konnte aufgezeigt werden, wie die menschlichen Akteure selbst immer wieder Übersetzungsarbeit geleistet haben, indem sie die organisationale Realität für die digitale Dokumentation aufarbeiteten. Ähnlich wie bei Cunha und Carugati (2018) fand oft eine Art Verklärungsarbeit statt, indem die menschlichen Akteure bei dieser Darstellung manipulierten oder um die Software herum arbeiteten (Alter 2014). Ein weiterer Aspekt, der bei der Orchestrierung bedeutend war, war die menschliche Reflexionsarbeit im Sinne einer Interpretation von visuellen aufgearbeiteten Daten, die über die Software bereitgestellt wurden. Es hat sich gezeigt, dass aufgrund einfacher Darstellung komplexer Realität durch Tools oftmals eine sehr starke Wirkung von dieser materiellen Handlungskapazität ausging. Darüber scheint Visualisierung von Daten, etwa in der Darstellung von Interfaces, also einen Einfluss auf menschliches Handeln zu haben (Bader und Kaiser 2019). Existierende Forschung zu Heuristiken und Bias bestätigt diese Wirkung von Datenvisualisierungen (Hutchinson und Alba 1997). Im vorliegenden Fallbeispiel zeigte sich jedoch auch, dass die Interpretationen der graphischen Darstellungen auf einfachen Regeln, die sich unter den menschlichen Akteuren etabliert hatten, beruhten. Es kann also von einer Art doppelter Heuristik gesprochen werden, derer genaueren Untersuchung es zukünftiger Studien bedarf.
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(c) Integration: Durch die Identifizierung der Integration als weiteren Kernmechanismus wurde aufgezeigt, dass das bestehende soziomaterielle Gefüge eine große Rolle dabei spielt, wie der Handlungsbereich neuer Materialität definiert wird. Bisherige Studien betrachten meist eine Technik, weniger jedoch das Zusammenspiel mehrerer technischer Artefakte (Orlikowski 2007). Die Analyse jedoch hat gezeigt, dass gerade eine Eingliederung der neuen Software in bestehende Praktiken der Kontrolle und damit verbundenen Kennzahlen essentiell war, um die Ausübung ihrer Handlungskapazität zu legitimieren. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass bei Studien der Handlungshybridisierung Materialität als Assemblage (Ekbia & Nardi, 2012; Fayard, 2012) betrachtet werden muss, indem bestehende Artefakte und Praktiken in Relation treten. Ebenfalls zeigte sich bei der Integration, dass Widersprüchlichkeiten zwischen menschlicher und materieller Handlungskapazität aufgelöst werden mussten, etwa indem die Software andere Entscheidungslogiken barg als sie im organisationalen Kontext vereinbart waren. Dies schließt an den Gedanken an, dass Technik „Träger von Rationalität“ (Bader und Kaiser 2017, S. 340; Cabantous und Gond 2011, S. 575) ist und dabei gleichzeitig Ambivalenzen (Woolgar und Cooper 1999) in Form von widersprüchlichen Aktionsprogrammen zwischen menschlicher, materieller und algorithmischer Handlungskapazität verursachen kann (Latour 1994; Schulz-Schaeffer 2006). Im Fallunternehmen wurden diese Widersprüche zwischen den Aktionsprogrammen jedoch nicht nur durch die direkt beteiligten Handlungsträger gelöst, sondern Manager griffen vermittelnd ein (Bader und Kaiser 2019). (d) Neuausrichtung: Studien zu algorithmischem Management fokussieren meist auf Arbeiter als Nutzer der Software (Mazmanian 2019; Möhlmann und Zalmanson 2017). Eine bedeutendere Rolle von Managern selbst stellte sich in der vorliegenden Arbeit beim Mechanismus der Neuausrichtung von materieller und menschlicher Handlungskapazität in eine gemeinsame Richtung von Handeln heraus. Besonders am Fallbeispiel von lernenden Algorithmen zeigte sich eingängig, wie nicht nur die Nutzer, deren Entscheidungsfreiheit darüber, welche Angebote dem Kunden am Telefon gemacht wurden, eingeschränkt wurde, sondern wie sich auch die Führungskräfte im Callcenter in ihrer Handlungsmacht eingeschränkt fühlten. Diese hatten vor der Einführung der Software viel Aufwand betrieben, um den Mitarbeitern Verkaufsfähigkeiten beizubringen, und sie steuerten diese Verkaufspraktik aus ihrer hierarchischen Position heraus. Dass diese Steuerung nun von den Algorithmen übernommen wurde, rief Widerstand gegen die Software hervor und die Manager mussten sich selbst neu verorten. Bestehende Forschung zu Changemanagement hat sich ausgiebig der bedeutenden Rolle der mittleren Managementebene gewidmet (Huy 2002; Rouleau 2005). Die vorliegende Studie deutet darauf hin, dass bei der Einführung lernender Algorithmen in
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traditionellen Unternehmen das mittlere Management vom Algorithmus als Vorgesetzten (Ivanova et al. 2018) mindestens genauso betroffen ist wie die Nutzer. Hier kann von einer doppelten Betroffenheit gesprochen werden, indem die Tätigkeiten des mittleren Managements durch die Software abgelöst werden, diese Manager aber an der Einführung und Promotion der Software beteiligt sind. (e) Verhedderung: Im Rahmen der Interviews und der Beobachtungen im Feld wurde deutlich, dass die Callcenter-Agenten eine Art Sicherheitsgefühl aus ihrer Interaktion mit der Software schöpften. Dieses Sicherheitsgefühl lag in der Wahrnehmung begründet, dass Tiger eine erweiterte Handlungskapazität verlieh, indem die Agenten durch algorithmische Angebotsentscheidungen schneller waren und neue Informationen über den Kunden zur Verfügung hatten. Diese Schnelligkeit und Zusatzinformationen lösten bei den Callcenter-Agenten ein Überlegenheitsempfinden gegenüber dem Kunden aus. Die Software wirkte also auf ganz spezifische Weise, da sie die Schwächen der Callcenter-Agenten reduzierte oder eliminierte, die zum Teil ihr ureigenes Unsicherheitsempfinden ausmachten. Diese Kompensation führte zu verstärkter Nutzung und zu besseren Verkaufszahlen. Auch wenn unklar war, ob die steigenden Verkaufszahlen auf die Software selbst und ihre Funktionen zurückzuführen waren oder auf einen selbstsichereren Umgang mit dem Kunden (oder einer Kombination aus beidem), steht fest, dass diese Steigerung der Fähigkeiten dazu führte, dass die Agenten nicht mehr ohne die Software arbeiten wollten. Dieses Phänomen wird in der Studie als Verhedderung bezeichnet. Die Idee schließt an Mazmanians (2019) Beschreibung von Arbeiter/Smartphone-Hybriden an. Mazmanian (2019, S. 128) beschreibt ein „Entrapment“, also eine Art Festsitzen in einer Falle in einer hybriden Situation, in der keiner der beiden Pole menschliche oder materielle Handlungskapazität mehr ohne die andere auskommt. Im Vergleich zur bisherigen Forschung der Mensch-Technik-Verflechtung (Mazmanian et al. 2014; Orlikowski 2007), die häufig auf die wechselnden Assemblagen von Handlungskapazität abzielt, lässt sich anhand der Verhedderung aufgrund psychologischer Erweiterung nachvollziehen, wie sich die Relation zwischen Mensch und Technik auch verstetigen kann, indem die Technik in die menschliche Identität eingeht. Hier schließt sich ein weiteres wertvolles Ergebnis der Studie an. Anhand der oben beschriebenen empirischen Beobachtungen kann deutlich erkannt werden, dass es sich bei der Erweiterung menschlicher Fähigkeiten nicht nur, wie in bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Organisations- und ISForschung zumeist dargestellt, um eine Form kognitiver Erweiterung menschlicher Fähigkeiten – einer, wie Kallinikos et al. (2012, S. 10) es nennen: „sophisticated cognition“ – handelt. In der bisherigen Forschung werden in diesem Zusammenhang typischerweise der Zugriff auf mehr Informationen, die schnellere
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Verarbeitung dieser Informationen, ein besseres Gedächtnis durch digitale Dokumentation oder auch allgemein eine Form von „verteilter Kognition“ (Hutchins und Klausen 1996, S. 15) genannt. Obwohl diese kognitive Erweiterung auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit sichtlich eine Rolle in der Interaktion mit den Kunden spielte, adressierte die technische Erweiterung zusätzlich noch tiefer liegende menschliche Grundbedürfnisse, wie etwa ein (Selbst-)Sicherheitsgefühl, das ein zentraler Aspekt auch für die Arbeitsleistung und -motivation ist (Maslow 1943). Diese Erkenntnis verlangt danach, die Gründe für eine Verflechtung zu identifizieren, indem Fragen beantwortet werden, wie neue und zunehmend intelligente Technik menschliche Grundbedürfnisse befriedigt, und wie dies zu dauerhaften Hybriden führen kann. Einen ersten Schritt in diese Richtung taten Stein et al. (2014, S. 156) in ihrer Forderung, die „gefühlte Qualität soziomaterieller Beziehungen“ und menschliche Emotionen im Bezug zu Materialität im wissenschaftlichen Diskurs der Mensch-Technik-Verflechtung zu berücksichtigen. In Zusammenhang mit einer kognitiven Erweiterung wirft die Studie auch moralische und ethische Fragen auf, die mit dem Einsatz von Technik daherkommen. Empirische Beispiele zur wechselseitigen Ausbesserung von Unzulänglichkeiten haben gezeigt, dass die Callcenter-Agenten die Fähigkeiten der Software (zumindest in der Phantasie) dazu nutzen wollten, auf Kundendaten zuzugreifen, für die sie sonst keine Zugangsberechtigung hatten. Forschung zu Informationssystem diskutiert seit Längerem die Amoralität von Technik (Johnson 2015). In der Arbeit deutete sich jedoch an, wie menschliche Akteure diese scheinbar neutrale Technik zu unmoralischen oder auch illegalen Zwecken nutzen wollten. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass bei hybridem Handeln die Grenzen der Verantwortung zwischen Mensch und Technik verschwimmen können. Die vorliegende Arbeit deutet darauf hin, dass diese Forschung auch Fragen über eine möglicherweise missbräuchliche Verwendung materieller Fähigkeiten durch die Anwender beantworten sollte. 5.2.3
Hybridisierung als Antrieb für die Transformation von Praktiken
Durch die Einfügung materieller Handlungskapazität und der Handlungshybridisierung von menschlicher und materieller Handlungskapazität entstehen neue, hybride Praktiken. Durch die wiederholte Ausführung dieser hybriden Praktiken transformierten sich die bestehenden Praktiken. Mit diesem Ergebnis adressiert die vorliegende Arbeit drei in der klassischen Praxistheorie (Loscher et al. 2019; Nicolini 2011, 2016; Schatzki 2002) bislang eher vernachlässigte Aspekte. Erstens analysieren diese Studien zwar sehr genau, was menschliche Akteure tatsächlich bei ihrer Arbeit tun, sie bedürfen aber nach wie vor eines ausführlicheren Verständnisses zunächst generell darüber, wie sich bestehende Praktiken in diesem Tun verändern und dann spezifischer, welche Rolle Materialität hierbei spielt
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(Schatzki 2019). Die Ergebnisse dieser Arbeit knüpfen an diese Defizite an, indem sie anhand empirischer Beispiele aufzeigen, wie sich Praktiken verändern, und zwar durch die Hybridisierung von Handlungskapazitäten. Hier konnte zunächst aufgezeigt werden, wie sich Aktivitäten in der Praktik, also der Inhalt einer Praktik, ändern kann. Ferner zeigen die Ergebnisse auch, wie sich die Organisation einer Praktik im Hybrid ändern kann. (a) Veränderungen der Aktivitäten in der Praktik: Ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist, dass sich hybride Formen von Arbeitsleistung durch die fortschreitende Nutzung ergeben haben. Die Vision der Manager in dem Fallstudienunternehmen, „Tigers“ zu schaffen, verdeutlicht auch bildlich, wie sich in den wiederholten Praktiken Callcenter-Agenten/Tiger-Hybride gebildet haben. Diese Idee der hybriden Arbeitsleistung schließt an die sich gerade etablierende Forschung zu Mensch/Technik-Hybriden an (Mazmanian 2019; Nyberg 2009). Mazmanian (2013) hat in ihrer Studie über andauernde Konnektivität bei der Nutzung von mobilen E-Mail-fähigen Geräten herausgefunden, dass sich bestimmte Berufsgruppen deutlich unterscheiden. Diese Genese von unterschiedlichen Nutzern ließ sich auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit finden. So wurden in der wiederholten Nutzung der Software unterschiedliche Entwicklungspfade hinsichtlich der Leistung bei den Callcenter-Agenten sichtbar. Gemäß der Annahme von Faraj und Azad (2012, S. 255), dass es bei der Techniknutzung keinen „generischen Nutzer“ gibt, deuten die identifizierten Entwicklungspfade darauf hin, dass es auch kein generisches Mensch/Technik-Hybrid gibt. Zwar gab es bestimmte Standardisierungen, etwa indem über die Technik standardisierte Inhalte verbreitet wurden, doch die Nutzung bleibt interpretativ (Jarzabkowski und Kaplan 2015) und voluntaristisch (Leonardi und Barley 2008). Bei ihrer Untersuchung der Nutzung von mobilen Endgeräten konnte Mazmanian (2013) vier Schlüsseldimensionen herausarbeiten, die als Gründe für die unterschiedliche Nutzungshäufigkeit herangezogen werden können: Identität, Materialität, Vulnerabilität und Sichtbarkeit. Der vorliegende Fall ist in zwei Punkten anders: erstens handelt es sich bei den Callcenter-Agenten um eine Gruppe, die in ihrer Tätigkeitsausführung sehr homogen war und zweitens wurde die Software selbst zum Mitträger von Leistung. In diesem Setting bauten die Pfade offensichtlich auf die (vor der Einführung) bestehenden Kompetenzen der menschlichen Akteure auf. Indem ein Teil der Aufgabe der Callcenter-Agenten, die Kundenbedarfsanalyse, an die Software übergeben wurde, entstand eine Handlungslücke auf Seiten menschlicher Handlungskapazität. Berücksichtigt man erneut das Ziel der erweiterten Kognition (Kallinikos 2011; Kallinikos et al. 2012) durch Tools, wie etwa durch lernende Algorithmen, wäre davon auszugehen, dass es kein Limit für die Ausübung von Handlungskapazität gibt und in jedem Fall eine Steigerung erreicht würde. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse dahingehend erstaunlich, da die Callcenter-Agenten mit hohen Verkaufszahlen ihre Leistung
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nicht weiter ausbauten, indem sie die Software nutzten. Im Gegenteil, sie waren weniger motiviert und gehorchten der Software. Callcenter-Agenten, die sich ohne die Software durch eine mittelmäßige bis niedrigere Leistung auszeichneten, entwickelten hingegen stärkere (wahrgenommene) Fähigkeiten. (b) Veränderung der Organisation der Praktik: Als weiteres Ergebnis bietet diese Arbeit Einblicke, wie sich die Organisation der Praktik im Zusammenspiel mit Materialität verändert. Der Frage, wie sich Arbeitspraktiken in der Nutzung neuer Technik ändern, wird in einigen Studien im Bereich der Organisations- und ISStudien nachgegangen (Sergeeva et al. 2015). So waren, ähnlich wie bei Sergeeva et al. (2015), Tendenzen einer Auf- und Abwertung von organisationalen Rollen sichtbar. Sie haben in ihrer Studie des Da Vinci-Roboters festgestellt, dass sich die Aufgaben der Chirurgen in der Bedienung des Roboters abgewertet, die der Krankenschwester allerdings durch einen nun direkten räumlichen Zugang zum Patienten aufgewertet hat. Im Rahmen der Arbeit hat sich gezeigt, dass die Administratoren der Software eher eine Aufwertung ihrer Rollen erfuhren, etwa indem Personalreferenten höherrangingen Personalmanagern den Umgang mit der Software erklärten, da letztere nun administrative Pflegetätigkeiten in der Software übernehmen mussten. Außerdem konnte die Arbeit aufzeigen, „wie die verteilten und kollektiven sozio-materiellen Praktiken, die sie ausmachen, integraler und aktiver Teil des produzierten Wissens sind, die verordneten Beziehungen und die Verantwortlichkeiten, die daraus resultieren.“ (Feldman und Orlikowski 2011, S. 1248)
Eben diese materielle Mittäterschaft bei der Produktion von Wissen, wurde im Fallbeispiel traditioneller Tools und lernender Algorithmen deutlich. Im Personalmanagement zeigte sich, wie ein Raster als visuelle Darstellung von Potential und Leistung der Mitarbeiter die Verhandlungen über etwaige Beförderungen, aber auch Kündigungen von Mitarbeitern, in erheblichem Maß mitleitete. Indem die Personalmanager zum Teil die Algorithmen des Tools wiederholten, wurden sie zum verlängerten Arm der Ausführung materieller Handlungskapazität. Das in der Literatur oftmals benutzte Bild der verinschriftlichten menschlichen Handlungskapazität (Suchman 2014) wandelt sich also zu einer Art inversen Verinschriftlichung. Das Tool war also ein Artefakt, das die Leistung der Mitarbeiterbeurteilung mitvollbrachte. Freilich wird hier ersichtlich, wie digitale Technik die soziale Welt widerspiegelt und sie gleichzeitig beeinflussen kann (Humphreys 2005). Im Fall von lernenden Algorithmen wurden die Callcenter-Agenten ebenfalls zum Vollstrecker algorithmischer Handlungskapazität. Hier ging diese inverse Verinschriftlichung sogar noch einen Schritt weiter, denn indem die Software auf die Interaktion der Agenten angewiesen war, kann sogar von einer Art
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
„inversen Instrumentalität“, wie Ekbia und Nardi (2012, S. 157) es nennen, gesprochen werden. Am Beispiel der lernenden Software zeigte sich jedoch noch eine höhere Stufe der Wirkmächtigkeit (Rammert 2016) von Software, indem sie in der hybriden Leistung mit menschlichen Akteuren eine doppelte Funktion ausübte. So war die Software einerseits an der Leistungserbringung der Arbeit der Callcenter-Agenten beteiligt, indem sie die Bedarfsanalyse automatisierte. Diese Leistungsträgerschaft ging teilweise (etwa anhand der Nutzungsrate) in die Leistungsbeurteilung der Callcenter-Agenten mit ein. Auf der anderen Seite jedoch bot die Software auch die Funktion, Metadaten über ihre Verwendung zu sammeln, die in die Leistungsbeurteilung des Agenten in einem Raster einflossen. Je nach der Leistung des Agenten im Zusammenspiel mit der Software konnten die Vorgesetzten dann im Raster Implikationen für eine notwendige Verhaltensänderung des Agenten ableiten. Durch diese multiple Rolle und im Hybrid mit menschlicher Handlungskapazität konnte die auf lernenden Algorithmen basierende Software einerseits ein praktisches Verständnis für die höchstwahrscheinlich beste Handlung im nächsten Moment entwickeln und anderseits sogar eine Art Reflexionsfähigkeit, indem sie an der Leistungserbringung und Beurteilung mit beteiligt war und damit ein „Metaprogramm“ (Rammert 2016, S. 155) für Reflexionsfähigkeit entwickelte. Mit dieser Erkenntnis schließt die vorliegende Arbeit an einen dritten bislang in der praxistheoretischen zu wenig betrachteten Aspekt an, und zwar die starke Handlungskapazität von Artefakten (Reckwitz 2003). Zwar berücksichtigt die klassische praxistheoretische Forschung die Rolle von Artefakten und Materialität. Nichtsdestotrotz geht sie in der Regel von einer schwachen Handlungskapazität von Artefakten aus (Reckwitz 2002, 2003). In Anlehnung an Preda (2000) beschreibt Reckwitz (2003, S. 298) das Hindernis, dass ureigene menschliche Fähigkeiten, wie Verstehen oder Reflexionsfähigkeit, bislang nicht bei materiellen Artefakten zu beobachten waren: „[E]in Kernproblem für eine post-humanistische Artefakttheorie dürfte darin bestehen, inwiefern es ihnen gelingt auch die Konzepte des praktischen Wissens und Verstehens nicht nur auf humane Träger von Praktiken, sondern auch auf nicht-humane Träger anzuwenden“.
Bei der Analyse der empirischen Daten, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen, deutete sich eine Richtung an, innerhalb derer sich dieses Kernproblem der Praxistheorie vielleicht in mittelfristiger Zukunft erübrigen könnte. Bestehende Arbeiten im Bereich der verteilten Kognition im Zusammenspiel von Mensch und Artefakten geben weitere Hinweise auf eine Entwicklung in diese Richtung (Hutchins 1995a, 1995b; Lipshitz et al. 2016; Sutton 2008).
5.3 Limitationen und Generalisierbarkeit der Ergebnisse
5.3
211
Limitationen und Generalisierbarkeit der Ergebnisse
Wie jede wissenschaftliche Arbeit weist auch die vorliegende Limitationen auf, die bei der Verwendung und Interpretation ihrer Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Auf diese Limitationen sowie die möglichen Grenzbedingungen ihrer Übertragbarkeit auf anderen Kontexte wird in diesem Abschnitt näher eingegangen. (a) Generalisierbarkeit und theoretisches Sampling: Zunächst gelten für die vorliegende Arbeit Limitationen, die generell mit der Methodik qualitativer Fallstudien einhergehen. Dazu zählt in erster Linie, dass die Ergebnisse nicht für eine statistische Grundgesamtheit verallgemeinerbar sind (Siggelkow 2007). Auch wenn im Rahmen der Arbeit nicht nur ein Fall untersucht wurde und damit bereits von einer höheren Aussagekraft der Ergebnisse als bei einer Einzelfallstudie ausgegangen werden kann (Yin 2013), ist die Auswahl der Fälle kritisch zu hinterfragen, weil für den Kontrast zwei unterschiedliche Typen von Software in einem unterschiedlichen Kontext verwendet wurden. Während die auf traditionellen Algorithmen basierende Software vorrangig im Personalmanagement Einsatz fand, wurde die auf lernenden Algorithmen basierende Software im Callcenter eingeführt. So wurden im Rahmen der Arbeit zwei unterschiedliche Softwarelösungen in zwei unterschiedlichen Arbeitskontexten in einem Unternehmen untersucht. Für Forschungsvorhaben, die nicht das Ziel einer Replikation haben (Yin 2013), kann die Untersuchung zweier Fälle in unterschiedlichen Kontexten jedoch sogar von Nutzen für neue Erkenntnisse sein. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Ergebnisse innerhalb der Fälle replizierbar waren, etwa indem multiple Beweisquellen auf dieselben Ergebnisse hindeuteten. Die zweite potentielle Einschränkung, nämlich, dass die Softwarelösungen unterschiedlichen Zwecken dienten, lässt sich aus dem theoriegeleiteten Forschungsinteresse heraus erklären. Die Forschung zu Mensch-Technik-Verflechtung konnte bislang wenig über die Besonderheiten von lernenden Algorithmen als neue Kategorie von materieller Handlungskapazität herausfinden. Für den Kontrast der Fälle waren also der Fortschrittsgrad der Algorithmen und die Frage, wie menschliche Akteure mit unterschiedlichen Fortschrittsgraden umgingen, ausschlaggebend. Die polaren Fälle zeigten dabei unabhängig vom Zweck der Softwarelösungen auf, wie Software basierend auf lernenden Algorithmen anthropomorphische Handlungskapazität erhalten kann. (b) Sample der Befragten: Die vorliegende Arbeit beschränkt sich überwiegend auf die Untersuchung dessen, was die Nutzer einer Software aus ihr machen und fokussiert damit auf den generativen Aspekt digitaler Technik (Yoo et al. 2012). In der gegenständlichen Arbeit wurde zwar darauf geachtet, dass nicht nur die Endnutzer der Software befragt wurden, sondern auch die Anwender aus der IT-
212
5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
Abteilung und Data Scientists, die an der Konzeption und Einführung der Software beteiligt waren. Nichtsdestotrotz stellt die Gruppe der an der technischen Umsetzung der Softwarelösungen Beteiligten eine Minderheit unter den Interviewpartnern da. Der Grund, dass nur wenige Interviewpartner mit der technischen Umsetzung vertraut und betraut waren, lag auch darin, dass IT-Belange im Fallunternehmen als Teil eines internationalen Großkonzerns über Tickets gelöst wurden und entsprechend der Zugang zu diesen Akteuren schwierig war. Hier schließt sich für zukünftige Forschung die Empfehlung an, die Analyse noch stärker auf die technische Entwicklung auszuweiten. Dies könnte etwa durch eine längerfristige wissenschaftliche Begleitung von IT-Mitarbeitern oder Data Scientists gelingen. (c) Theoretische Strenge in einem unreifen Forschungsgenre: Eine weitere Kritik, der die vorliegende Arbeit zum Opfer fallen könnte, liegt in der insgesamt mangelhaften theoretischen Strenge in den Konzepten der Mensch-Technik-Verflechtung begründet. Aufgrund der Tatsache, dass sich die Forschung um Mensch-Technik-Verflechtung noch in den Kinderschuhen befindet, haben sich noch keine eindeutigen Begriffe in diesem Forschungsstrang herausgebildet. Stattdessen haben sich verschiedene ontologische Sichtweisen etabliert 74 und mit ihnen verschiedene Sprachspiele (Mazmanian et al. 2014; Mazmanian 2019). Aufgrund der zahlreichen Kritiken in diesem Feld (Kautz und Jensen 2013; Mutch 2013; Scott und Orlikowski 2013), beschränken sich die aktuellen Forschungsarbeiten immer häufiger auf bloße empirische Beschreibungen ohne theoretischen Erklärungsanspruch (Mazmanian 2019). In der vorliegenden Arbeit wurden die verschiedenen ontologischen Sichtweisen beschrieben und die existierenden Arbeiten wurden hinsichtlich ihrer theoretischen Verortung in diese Landschaft eingeordnet. Wie in anderen Studien und von anderen Forschergruppen auch (Mazmanian et al. 2014; Vaujany und Mitev 2018) wurden diese Aspekte im eigenen Vorgehen also kritisch reflektiert, jedoch nicht auf den Anspruch eines Theoriebeitrags verzichtet. Wie sich beim Gang der Untersuchung herausstellte, ermöglichte diese ontologische Offenheit neue wissenschaftliche Erkenntnisse, indem deutlich wurde, dass nicht nur die tatsächlichen Fähigkeiten von und die Frage danach, was Software ist, relevant sind für deren Handlungskapazität. Vielmehr scheint wichtig, was menschliche Akteure darüber denken, was die Software ist und wieviel Handlungskapazität sie ihr dabei zuschreiben. (d) Grenzbedingungen: Ähnlich wie bei Denis et al. (2011) sind die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in sich schlüssig, gründen aber auf der Untersu-
74
Eine ausführliche Diskussion der ontologischen Sichtweisen findet sich in Abschnitt 2.2.2 der Arbeit.
5.4 Implikationen für die Forschung und weiterer Forschungsbedarf
213
chung in einem Fallunternehmen im spezifischen Kontext der Telekommunikationsbranche. Es stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse auch in anderen organisationalen Kontexten hätten gefunden werden können, in denen neue Software eingeführt wird. Eine kurze Reflektion über mögliche Grenzbedingungen (Boundary Conditions) kann dazu dienen, diese Wahrscheinlichkeit zu eruieren (Denis et al. 2011). Unternehmen in der Telekommunikationsbranche zeichnen sich typischerweise durch einen hohen Wettbewerb sowie einen hohen Technisierungs- und Automatisierungsgrad aus. Dies begründet möglicherweise, dass die menschlichen Akteure im Callcenter immer wieder auf das Narrativ der Ersetzung ihrer Arbeit durch Technik zurückgriffen. Nichtsdestotrotz kann konstatiert werden, dass dieses Narrativ des Ersetztwerdens auch den öffentlichen Diskurs im Zusammenhang mit neuer Technik am Arbeitsplatz dominiert und es sich dabei nicht mehr nur um ein spezifisches Problem in Callcentern handeln dürfte (Fleming 2019). Es deutet sich also an, dass das Narrativ des Ersetztwerdens für menschliche Beziehungen zur Technik und der Selbstverortung auch in anderen Arbeitskontexten eine Rolle spielen könnte. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich beim Fallunternehmen um ein leistungsorientiertes Unternehmen dreht, in dem die Nutzung der Softwarelösungen durch Kontrollmaßnahmen und Merchandising sehr forciert wurde. Dass sich die technikzentrierte Sozialität und die anthropomorphischen Handlungskapazität so ausgeprägt entwickeln konnten, lag vermutlich auch an dem Merchandising, der generell starken Leistungsorientierung sowie dem herrschenden Zeitdruck im Unternehmen, so dass das Füttern von Daten relativ rasch zu einer Handlungsmaxime werden konnte. Nichtsdestotrotz lassen sich bereits zahlreiche Beispiele in existierenden Studien über Anthropomorphismus von Technik finden (Kang und Kim 2020; Nyberg 2009; Prasad 1995) und speziell im Fall von lernenden Algorithmen scheint die Vermenschlichung der Tools immer mehr an der Tagesordnung, was sich etwa an berühmten Beispielen wie Amazons Alexa zeigt (Burns und Igou 2019). 5.4
Implikationen für die Forschung und weiterer Forschungsbedarf
Die vorliegenden Fallstudien liefern Antworten auf bestehende Fragen zu hybridem Handeln zwischen Mensch und Technik. Insgesamt ist die Studie deshalb wertvoll, da sie als eine der bislang wenigen empirischen Studie eine soziomaterielle Linse auf die digitale Transformation der Arbeitswelt darstellt (Lingnau et al. 2018). Im Spezifischen liefern die Ergebnisse dieser Arbeit wichtige Beiträge für die aktuelle Forschung 1) zu lernenden Algorithmen im Arbeitskontext, 2) zu Mensch-Technik-Verflechtung und 3) zur Praxistheorie. Erstens trägt sie bei zur Forschung um lernende Algorithmen, indem sie das Verständnis über diese junge Kategorie materieller Handlungskapazität im Zusammenhang mit menschlichen Akteuren erweitert. Zweitens wird aufgezeigt, welchen Wert das abgeleitete the-
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
oretische Framework zur Theorie der Verflechtung darstellt und drittens wird erörtert, inwiefern durch die Analyse tiefgehender empirischer Daten essentielle Fragen zu hybridem Handeln beantwortet werden. Wie bei qualitativer Forschung üblich, kamen neue Fragen auf, derer sich zukünftige Forschung widmen muss. Nachstehend werden deshalb die Beiträge zur Forschung und der weitere Forschungsbedarf ausgeführt. 5.4.1
Beiträge zur Forschung zu lernenden Algorithmen im Arbeitskontext: Anthropomorphismus und neue Managementpraktiken
Die Arbeit schließt an den Diskurs an, dass lernende Algorithmen innerhalb von Organisation und Arbeit an Bedeutung gewinnen und Praktiken verändern (Faraj et al. 2018; von Krogh 2018). Während bestehende Forschung die Rolle von mit menschlichen Handlungskapazitäten ausgestatteten Algorithmen und die zukünftige Relevanz von lernenden Algorithmen auf theoretischer Ebene und die technischen Funktionen analysiert hat (Faraj et al. 2018), gibt es bislang nur wenige Beiträge in der Organisationsforschung, die empirisch untersuchen, wie genau menschliche und materielle (hier: algorithmische) Handlungskapazität bei der Nutzung von moderner Software zusammenhängen. Die vorliegende Studie ermöglicht anhand der Analyse tiefgehender qualitativ-empirischer Daten in diesem Zusammenhang ein besseres Verständnis darüber, wie lernende Algorithmen in Unternehmen eingeführt werden und wie menschliche Akteure mit ihnen umgehen. Zwei wesentliche Beiträge zur Forschung können genannt werden: (a) Anthropomorphismus und technikzentrierte Sozialität: Zentral hierbei ist die Erkenntnis, dass materielle Handlungskapazität lernender Algorithmen kein rein technisches Produkt ist. Vielmehr sind es die Vorstellungen der Akteure über die Handlungskapazität und Funktionsweise von Algorithmen (Bucher 2017), die eine Wirkung von Algorithmen ermöglichen, also performativ sind (Butler 2010). Durch die spezifischen Vorstellungen und Zuschreibung von menschenähnlichen Eigenschaften und Intelligenz (Proudfoot 2011) zeigte die Studie auf, wie Anthropomorphismus aufgrund der dynamischen Eigenschaften der Software (Horowitz und Bekoff 2007) und der Darstellungsweise durch das Management eine große Rolle dabei spielte, wie die Nutzer letztlich die Software als ebenbürtigen Akteur wahrnahmen (Nyberg 2009). Die sich daraus entwickelte technikzentrierte Sozialität und der Anteil, den die (vermeintlich) soziale Software für eine menschliche Selbstverortung trugen, deutet darauf hin, dass mehr Forschung betrieben werden muss dahingehend, welche Bedeutung die Interaktion mit (immaterieller) Software am Arbeitsplatz für Arbeit hat (Stein et al. 2014) und wie sie zur menschlichen Identitätskonstruktion beiträgt (Nelson und Irwin 2014; Stein et al. 2003). Forschung in diese Richtung gibt es bereits in der (humanoiden)
5.4 Implikationen für die Forschung und weiterer Forschungsbedarf
215
Robotik (Duffy 2003), sie dürfte aber im Zuge des vermehrten Einsatzes auf lernenden Algorithmen, gerade auch in Form von Chatbots (Laumer et al. 2019b; Laumer et al. 2019a; Sheth et al. 2019), immer wichtiger werden. (b) Neue Managementpraktiken: Ein weiterer Beitrag der Arbeit liegt darin, dass sie aufzeigt, inwiefern nicht nur die Nutzer und täglichen Anwender, sondern auch das Management eine Rolle spielt, wie groß die Rolle und Handlungskapazität lernender Algorithmen am Arbeitsplatz tatsächlich ist. Managementnarrative, Merchandising und Blackboxing-Strategien, die bisweilen strategisch funktionieren, etwa sind Anzeichen für eine immer größer werdende Autorität der Daten. Außerdem zeigte sich im Rahmen der Analyse der Einführung algorithmischer Handlungsanweisungen innerhalb eines Unternehmens, dass algorithmisches Management (Möhlmann und Zalmanson 2017) in klassischem Unternehmenskontext nicht nur die Mitarbeiter als Empfänger von algorithmischen Handlungsanweisungen (Bader und Kaiser 2019) betrifft, sondern dass die Software die klassischen Aufgaben des mittleren Managements ersetzt. Zukünftige Forschung sollte deshalb im Zusammenhang mit lernenden Algorithmen auch neue Managementpraktiken genauer betrachten, indem etwa Fragen dazu beantwortet werden, wie fortschreitende Quantifizierung (Mazmanian und Beckman 2018) diese Praktiken und eventuell auch Professionen, wie die des Personalmanagements (Loscher und Kaiser 2019) verändern. Daneben warf die Arbeit Fragen darüber auf, inwiefern sich die Rolle des mittleren Managementebene (Huy 2002; Rouleau 2005) bei derartigen technischen Wandelprozessen verändert und inwiefern sich die eigene Betroffenheit der Automatisierung von Aufgaben (Fleming 2019) sich auf den Erfolg der Transformation auswirkt. 5.4.2
Beiträge zur Mensch-Technik-Verflechtung: Verheddert – auf dem Weg zu einem Verständnis über die Entstehungsweise und Verstetigung von Mensch/Technik-Hybriden
An der Schnittstelle zwischen der Organisationsforschung und der Forschung zu Informationssystemen entsteht im Moment ein aufstrebender Forschungszweig zu Handlungshybridisierung (Mazmanian 2019; Nyberg 2009), der eng in Zusammenhang mit der klassischen Literatur zur Mensch-Technik-Verflechtung steht (Orlikowski 2007; Orlikowski und Scott 2008). Die vorliegende Arbeit hat die Frage gestellt, wie es zu hybridem Handeln bei der Techniknutzung kommt und wie sich Praktiken verändern. Durch die Entwicklung eines theoretischen Frameworks für hybrides Handeln stellt die Arbeit Antworten auf beide Fragen zur Verfügung und zeigt Ansatzpunkte auf, zu welchen Aspekten die zukünftige Forschung weitermachen könnte. Mit dem Framework trägt die Arbeit in drei Punkten zu der Theorie zu Verflechtung und im Spezifischen zu Mensch/Technik-Hybriden bei.
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
(a) Entstehung von Mensch/Technik-Hybriden: Zunächst stellt die Arbeit eine der ersten tiefgreifenden qualitativen Studien dar, die das neue Phänomen der Mensch/Technik-Hybride anhand explorativer Fallstudien untersucht. Bisherige Forschung hat sich im Großteil bereits bestehende hybride Formen von menschlicher und materieller Handlungskapazität angesehen (Nyberg 2009; Pope et al. 2014). Um die Gründe für die Entstehung und die zukünftige Entwicklungen dieser Hybride jedoch zu verstehen, bedarf es einer genauen Vorstellung darüber, welche Mechanismen der Hybridisierung zugrunde liegen. Der Wert der Arbeit liegt in diesem Zusammenhang in der Tatsache, dass die Einführung von Software auf Basis traditioneller und lernender Software, also statischer und dynamischer materieller Handlungskapazität, begleitet wurde und dass somit Hybride in ihrer Entstehung beobachtet werden konnten (Leonardi 2013). (b) Mechanismen für die Handlungshybridisierung: Zweitens zeigte sich, dass zunächst generative soziale Dynamiken in Form materiell-visuell-diskursiver Praktiken zur Entfesselung einer materiellen Handlungskapazität beitragen. Im Rahmen der Analyse wurden drei Kernmechanismen der Handlungshybridisierung identifiziert, die genauer erklären, wie die Verflechtung im Detail funktioniert: Integration, Neuausrichtung, Orchestrierung. Diese Ergebnisse legen nahe, dass eine Mensch-Technik-Verflechtung nicht nur ist, sondern auch entsteht, sich in unterschiedlicher Form darstellt und verstetigen kann. Das Framework und die drei Kernmechanismen können deshalb als Ausgangspunkt für zukünftige empirische Forschung zu Mensch-Technik-Verflechtung und insbesondere Mensch/Technik-Hybriden genutzt werden. (c) Gründe für Verhedderung und Verstetigung von Hybriden: Als dritten wichtigen Beitrag zu dieser Literatur konnte im Rahmen der Arbeit auch eine Antwort auf das Warum der Handlungshybridisierung gefunden werden. So konnten zwei Gründe für die Entstehung und Verstetigung von Mensch/Technik-Hybriden ausgemacht werden: Erstens findet durch die Überlagerung der drei Kernmechanismen eine Art Verhedderung statt. Diese Erkenntnis hebt einerseits das durch die existierende Forschung zu Imbrication oder der Übersetzung geprägte Bild eines Prozesses (Callon 1984; Leonardi 2011) auf, anderseits öffnet sie den Blick auf im Entanglement (Orlikowski 2005) stattfindende Mechanismen, das sonst eher als geschlossenes soziomaterielles Atom behandelt wird. Zweitens wurden in der Arbeit neue Formen der Qualität der Beziehung zwischen Mensch und Technik gefunden, die zu einer Verstetigung des Hybrids beitragen: die in der Literatur bereits diskutierte erweiterte Kognition durch materielle Handlungskapazität (Kallinikos 2011), und eine tiefer liegende Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse, wie etwa Sicherheit (Mazmanian 2019). Daran anschließend besteht weiterer Forschungsbedarf dahingehend, was die starke Bindung zwischen
5.4 Implikationen für die Forschung und weiterer Forschungsbedarf
217
menschlicher und materieller Handlungskapazität weiterhin ausmacht (Bader und Kaiser 2019; Stein et al. 2014). 5.4.3
Beiträge zur Praxistheorie: Der Wandel von Praktiken durch (dynamische) materielle Handlungskapazität
In der vorliegenden Studie gelang es, näher zu beschreiben, wie Verschiebungen in den Relationen zwischen den einzelnen Elementen einer Praktik, nämlich materieller und menschlicher Handlungskapazität zur Veränderung von Praktiken beitragen können. Damit schließt die Arbeit zunächst an existierende Forschung an, die Technologies-in-Practice und eine Art technikinduzierten Wandel betrachten (Couldry 2012; Leonardi und Barley 2008; Mazmanian 2013; Orlikowski 2007; Sergeeva et al. 2015). Die Forschungslandschaft in diesem Bereich wird anhand der Arbeit dahingehend erweitert, dass sie – anders als in bisherigen Studien statische – dynamische materielle Handlungskapazität (lernende Algorithmen) am Arbeitsplatz in den Blick nahm. (a) Wandel von Praktiken und Materialität: Damit leistet die Arbeit auch einen Beitrag zur traditionellen praxistheoretischen Forschung (Feldman und Orlikowski 2011; Nicolini 2010; Orlikowski 2000; Orlikowski 2007; Suchman et al. 1999). Diese geht davon aus, dass Praktiken lose gekoppelt, dynamisch und veränderbar sind (Feldman und Orlikowski 2011; Reckwitz 2002, 2003). Umso verwunderlicher ist es, dass klassische praxistheoretische Arbeiten bislang weder die Veränderung von Praktiken ausreichend in den Blick nahmen noch explizit adressierten, wie genau materielle Handlungskapazität zu diesem Wandel beiträgt (Schatzki 2019). Ein zentraler Wert der Studie liegt darin, dass aufgezeigt wurde, wie durch die Einführung einer neuen, statischen materiellen Handlungskapazität, die Geburt einer neuen Praktik in einem bestimmten Kontext stattfinden kann, die sich von Beginn an (mit-)ausrichtet an den angebotenen Funktionen der Materialität. Für zukünftige Studien interessant wäre in diesem Zusammenhang eine langfristige Beobachtung, wie sich derartige aus einem Hybrid entstandene Praktiken entwickeln, neu konstituieren oder sich bei einer Veränderung einer der beiden Pole im Hybrid (materielle oder menschliche Handlungskapazität) auflösen. (b) Pro einer starken Artefakttheorie bei dynamischer materieller Handlungskapazität: Daneben fordert die aktuelle Studie praxistheoretische Arbeiten heraus, die von einer schwachen Handlungskapazität von Artefakten ausgehen (Reckwitz 2002; Schatzki 2005a). In der Studie zeigte sich einerseits, dass Software basierend auf lernenden Algorithmen eine Art dynamische Handlungskapazität aufweist und somit innerhalb konstanter Interaktion mit menschlichem Handeln eine bestimmte Reaktivität und ein situatives Verständnis über nächste beste Handlun-
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
gen entwickelte. Außerdem wurde anhand der Analyse aufgezeigt, wie Materialität eine Art praktische Reflexionsfähigkeit entwickeln kann, etwa, indem lernende Algorithmen als (Mit-)Leistungsträger (mit-)beurteilen und durch die Anpassung menschlichen Handelns sich selbst verbessern. Beide diese Ergebnisse deuten auf die mehr oder weniger fällige Anerkennung einer starken Artefakttheorie hin, die eine post-humanistische Sichtweise integriert. Zukünftiger Forschungsbedarf besteht in diesem Zusammenhang im Bereich der post-humanen Intelligenz und „verteilten Kognition“ (Hutchins und Klausen 1996, S. 15). Als Ausgangspunkt für zukünftige Forschung schlägt die aktuelle Studie vor, nach Mustern zu suchen, wie durch multiple Überlagerungen und (Mit-)Täterschaften von materieller Handlungskapazität bei Erbringung, Beurteilung und Anpassung von Leistung im Hybrid mit menschlicher Handlungskapazität eine Art Reflexionsfähigkeit von Materialität entsteht. 5.5
Implikationen für die Unternehmenspraxis
Das entworfene theoretische Framework und die Ergebnisse können als Diskussionsgrundlage für praktische Handlungsalternativen des Managements neuer Technik in der Arbeitswelt dienen (Porter 1991). Im Rahmen der Arbeit wurden Mensch und Technik nicht getrennt voneinander betrachtet. Dieser Denklogik gemäß wird vorgeschlagen, auch in der Praxis bei der Einführung von neuer Technik nicht nur technische Artefakte zu steuern, sondern Technologies-in-Use zu managen (Feldman und Orlikowski 2011; Orlikowski 2000). Aus dieser Überlegung heraus sollten Mensch und Technik insbesondere in der Arbeitswelt als Ganzes gedacht werden und deren Zusammenarbeit nicht einseitig betrachten. Praktische Beispiele, die diese verschmolzene Sichtweise fördern, lassen sich mitunter bei bereits bestehenden Berufen und ihren jeweiligen Assoziationen finden. Latour (2005) etwa nutzt das Bild von Soldaten, die nur im Zusammenspiel mit ihrer Uniform als materiellem Artefakt als Soldaten wahrgenommen werden. Weitere Beispiele wären das Bild eines Astronauten, eines Schmieds oder – übertragen auf ein verhältnismäßig junges Berufsbild: dem des Data Scientists. Betrachtet man Mensch und Technik als ein derartiges Hybrid, so lassen sich aus den Erkenntnissen der Arbeit drei wesentliche Handlungsfelder ableiten. (1) Management der Vorstellung von Technik: Bilder und Geschichten am digitalen Arbeitsplatz Zunächst wurde im Verlauf der Arbeit sichtbar, dass neue Technik und deren Einführung in hohem Maße politisch ist (Faraj et al. 2018), denn ihre Akzeptanz und ihre Nutzung bildet sich im Zusammenspiel mit den begleitenden zuweilen auch strategischen Bildern und Geschichten über die Technik heraus. Durch diese Bil-
5.5 Implikationen für die Unternehmenspraxis
219
der und Geschichten wird nicht nur die Handlungskapazität neuer Technik, sondern auch die menschliche Leistung geprägt, da sie menschliche Einstellungen und Wahrnehmung formt. Gerade auf lernenden Algorithmen basierte Anwendungen, die menschliche Interaktion benötigen, damit sie funktionieren, sind in diesem Zusammenhang kein Selbstläufer. Techniknutzung und ihre Auswirkungen lassen sich vor der Einführung nicht vorhersagen (Feldman und Orlikowski 2011; Mazmanian et al. 2013). Jedoch zeigte sich im Laufe der Arbeit, dass sie sich doch sehr stark entlang kollektiver sozialer Dynamiken am Arbeitsplatz entwickeln. Die sozialen Dynamiken bei der Einführung sind immens wichtig für die Akzeptanz und erfolgreiche Integration von neuer Technik. Dazu gehören alltägliche Praktiken, vor allem aber auch bestimmte Bilder und Erzählungen, in denen sich die involvierten Personen über die Technik austauschen. Dabei kann gerade die Vermenschlichung von Technik, die den Einführungsprozess etwa durch bestimmte Bilder und Erzählungen (etwa menschliche Darstellung oder in Tierform) weitreichende Folgen haben. Denn durch diese menschenähnliche Wahrnehmung gewähren menschliche Akteure der Software letztlich erst Handlungskapazität. Hinzu kommt, dass aufgrund tatsächlicher oder wahrgenommener Komplexität von Technik die Tendenz herrscht, dass Tools und Algorithmen als Blackbox behandelt werden. Ein blindes Vertrauen von Menschen in Technik ist grundsätzlich höher, je komplexer sie wahrgenommen wird (Fry 2018). Deshalb sollten Manager sich im Hinblick auf die Vermenschlichung von Tools und Blackboxing, insbesondere im Zusammenhang mit auf lernenden Algorithmen basierender Technik, zweierlei Thematiken bewusst sein: Erstens kann durch Blackboxing eine Ungewissheit geschürt und damit bestimmte (zum Teil auch fiktive) Vorstellungen über die Fähigkeiten der Technik entstehen. Dies kann es zu einer übersteigerten Zuschreibung von Intelligenz und menschenähnlichen Fähigkeiten führen. Im Extremfall kann dies zur Ablehnung des Tools führen, wenn das Tool als zu mächtig eingeschätzt wird. Andernfalls kann es auch passieren, dass Mitarbeiter eine Sozialität gegenüber der Technik entwickeln und die Technik als ebenbürtigen Akteur wahrnehmen. Wenn Mitarbeiter daraufhin ihr eigenes Handeln auf Basis der zugeschriebenen (fiktiven) Eigenschaften anpassen, wäre mittel- oder langfristig eine Schieflage im Zusammenhang zwischen Mensch und Technik zu Gunsten letzterer denkbar, was den Verlust von menschlichen Kompetenzen nach sich ziehen würde. Ein letzter wichtiger politischer Aspekt bei der Einführung (lernender) Algorithmen ist, dass algorithmisches Management nicht nur Endnutzer betrifft, sondern auch – wenngleich nicht direkt ersichtlich – das mittlere Management. Eben diese Manager auf mittlerer Ebene sind nämlich einerseits diejenigen, die die Einführung als Changemanager begleiten müssen. Andererseits können die automatisierten Aufgaben der Algorithmen in den Autoritätsbereich des mittleren Managements eingreifen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn die Algorithmen dem
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5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
Mitarbeiter als Endnutzer Handlungsanweisungen geben. Auch hier spielen Anthropomorphismus und Blackboxing eine Rolle, indem den Tools dabei übermäßige Fähigkeiten zugeschrieben werden können. Daraus können sich unvorhergesehene Komplikationen und Widerstand bei der Einführung ergeben. Eine umfassende Aufklärung des mittleren Managements (oder gegebenenfalls auch weiterer potentiell betroffener Akteure) über die Technik ist notwendig. Insgesamt sollte bei der Einführung vom oberen Management und vom Projektmanagement genau abgewogen werden, welche potentiellen Reaktionen sich auf begleitende anthropomorphisierende Kommunikation von Tools ergeben. Denkbar ist etwa, dass Kundenbedürfnisse während der Online-Interaktion mit menschenähnlichen Avataren und Chatbots durchaus eher befriedigt sein können, wenn sie das Gefühl haben, menschlich behandelt zu werden. Bei der internen Einführung von Tools, die bestimmte menschliche Aufgaben ersetzen, könnte es aber gegebenenfalls sinnvoll sein, sie eher als technische Artefakte darzustellen als als menschliche oder menschenähnliche Wesen, um keine fiktiven und übersteigerten Zuschreibungen zu wecken. (2) Management der Mensch-Technik-Schnittstelle: Ergonomie am digitalen Arbeitsplatz Daneben deuten die Erkenntnisse der Arbeit darauf hin, dass sich die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung noch stärker an der Schnittstelle zwischen Mensch und digitaler Technik bei der Arbeit ausrichten sollte. Ergonomie am digitalen Arbeitsplatz muss immer mehr die nicht-physischen Eigenschaften von digitaler Technik wie Software berücksichtigen, wie etwa auch die Software-Ergonomie beschreibt (Balzert und Ackermann 2019). Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen hier auch ganz deutlich die betriebswirtschaftliche Relevanz auf, indem die neuen Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter zum Teil nicht optimal sind und sich dies in einer Leistungsveränderung niederschlägt. Es wurde deutlich, dass sich menschliche Leistung entgegen der Ziele im Zusammenspiel mit Technik nicht zwangsläufig steigerte und es deuten sich unterschiedliche Entwicklungspfade bei Mitarbeitern an. Paradoxerweise können auch gerade Menschen mit hohen Kompetenzen, sozusagen aus Frust, zu einer Übergabe ihrer Tätigkeiten an die Technik tendieren und sich die Arbeitsergebnisse verschlechtern. Dies kann nicht nur Qualitätseinbußen in der Aufgabenerfüllung, sondern auch Belastungen bei den Mitarbeitern nach sich ziehen. Es scheint in der Praxis also lohnenswert, bei Neueinführungen das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik zu begleiten und zu analysieren. Dies kann in Form klassischer Aufgaben- und Tätigkeitsanalysen geschehen (Rohmert et al. 1979), aber gerade bei algorithmischer Entscheidungsunterstützung bietet sich z. B. auch eine kognitive Aufgabenanalyse an (Schraagen et al. 2000).
5.5 Implikationen für die Unternehmenspraxis
221
Gerade wenn sich entstehende Handlungslücken menschlicher Tätigkeiten andeuten, sollten den Mitarbeitern bestimmte Hinweise für den Umgang mit diesen Handlungslücken kommuniziert werden. Dies kann entweder der Verweis auf neue Tätigkeiten auf menschlicher Seite sein (etwa bei einer vollständigen Automatisierung von Tätigkeiten) oder eine Anleitung für gute Kooperation mit der neuen Technik. In diesem Zusammenhang können den Mitarbeitern auch etwaige Ängste vor dem Ersetztwerden durch Technik genommen werden. Gerade mit Hilfe der genannten Aufgabenanalyse ist es möglich, einzigartige menschliche Kernkompetenzen für die erfolgreiche Ausführung der Tätigkeit herauszufinden, sie zu betonen und oder neue Kompetenzen zu fördern. (3) Management vom Umgang mit Daten: Repräsentationen am digitalen Arbeitsplatz Weitere Implikationen deuten sich aus den Ergebnissen der Arbeit für das Management vom Umgang mit Daten und digitalen Repräsentationen als Abbild von organisationaler Realität an. Hierzu kann erstens gehören, dass genau hinterfragt wird, welche Informationen auf dem Dashboard für den Endnutzer zu sehen sein sollten. Die angezeigten Informationen und auch die Ergebnisse von algorithmischen Vorschlägen sollten im Idealfall im Einklang stehen mit den im Arbeitskontext gelebten Zielen. Wenn sie diesen widersprechen, so könnte sinnvoll sein, den Endnutzern über das Dashboard eine Erklärung über die Gründe der Abweichungen zur Verfügung zu stellen. Insgesamt sollte die Arbeit der Algorithmen also in diesem Zusammenhang so weit als möglich nachvollziehbar sein. Es wurde im Rahmen der Arbeit deutlich, dass es auch zahlreiche Momente gibt, in denen Mitarbeiter (bewusst oder unbewusst) unkorrekte (zum Teil auch beschönigte) Daten in Systeme einpflegen. Da neue digitale Technik immer vernetzter und offener gestaltet ist, ist die Gefahr, dass sich Fehler einschleichen, um ein Vielfaches größer und die Entwicklung lernender Algorithmen auf Basis dieser zum Teil nicht ganz korrekten Datenbasis wird erschwert. Neben der Rolle von Dashboards als Repräsentationsform, ist es also nicht weniger wichtig, das korrekte Rückspielen von Daten sicherzustellen, die Datenbasis zu pflegen und zeitgleich auch eine auf gesundem Menschenverstand basierende Interpretation von technischen Handlungsempfehlungen zu fordern. Digitale Technik sollte hier kein Selbstzweck sein. Manager sollten Mitarbeiter etwa darauf hinweisen, dass algorithmische Handlungsempfehlungen durchaus kritisch hinterfragt werden sollten und gegebenenfalls durch eine entsprechende digitale Reaktion (z. B. per Klick ablehnen) zurückgewiesen werden sollten. So kann die Realität korrekt abgebildet werden und lernende Algorithmen etwa können sich in die richtige Richtung entwickeln. Abbildung 29 fasst die Implikationen für die Unternehmenspraxis zusammen.
222
5 Diskussion der Ergebnisse und Beiträge
Management der Mensch-SoftwareSchnittstelle Analyse des Zusammenspiels von Mensch und Technik Hinweise zum Umgang mit Handlungslücken Förderung einzigartiger menschlicher Kernkompetenzen Ergonomie am digitalen Arbeitsplatz
Abbildung 29: Implikationen für die Unternehmenspraxis (Quelle: eigene Darstellung)
6 Schlussbetrachtung
Ziel der Dissertation war es, die bestehenden Konzepte der Mensch-Technik-Verflechtung zu erweitern. Anhand der bisherigen Forschung zu Mensch-TechnikVerflechtungen (Soziomaterialität) und aus einer praxistheoretischen Perspektive heraus wurden diesbezüglich die Handlungskapazitäten von Mensch und Technik innerhalb softwaregestützter Praktiken untersucht. In qualitativ-empirischen Fallstudien innerhalb eines Telekommunikationsunternehmens wurden dabei zwei Arten von Software, basierend auf traditionellen und lernenden Algorithmen, miteinander kontrastiert. Auf Basis der Analyse der empirischen Daten wurde ein theoretisches Framework für hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation abgeleitet. Die darin enthaltenen Ergebnisse zeigen drei zentrale Elemente, die hybrides Handeln bestimmen: 1.
2.
3.
Soziale Dynamiken generieren neue materielle Handlungskapazität, indem durch sie Beziehungen und Grenzen zwischen Mensch und Technik ausgehandelt werden. Hierbei werden innerhalb materiell-visuell-diskursiver Praktiken zum einen der materielle (technische) Handlungsspielraum festgelegt und zum anderen entsteht unter den menschlichen Akteuren eine Vorstellungswelt über die Handlungskapazitäten von Tools und Algorithmen. Vor allem in letzterem Bereich trägt ein zunehmender Anthropomorphismus gegenüber Algorithmen dazu bei, dass die Grenzen zwischen Mensch und Materialität verwischen. Drei Kernmechanismen bestimmen die Hybridisierung von menschlicher und materieller Handlungskapazität: Integration, Neuausrichtung und Orchestrierung. Diese drei Mechanismen können überlagert auftreten, was zu einer Verhedderung führt. Außerdem tragen die Erweiterung menschlicher Handlungskapazität durch materielle Handlungskapazität in kognitiver Form, aber auch hinsichtlich der Bedienung menschlicher Grundbedürfnisse zur Verstetigung von Hybriden bei. Auf Basis der Handlungshybridiserung verändern sich Praktiken, indem materielle Handlungskapazität die bisherigen Aktivitäten und die Anordnung von Mensch und Technik innerhalb von Praktiken verändert. Zentral sind die entstehenden Entwicklungspfade unterschiedlicher Mensch/Technik-Hybride, eine Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion und eine neue Art materieller Reflexionsfähigkeit im Hybrid.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3_6
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6 Schlussbetrachtung
Die Ergebnisse knüpfen an die aktuelle internationale Forschung an der Schnittstelle zwischen Organisationstheorie und Informationssystemen an. Die vorliegende Studie leistet im Spezifischen Beiträge zu den wissenschaftlichen Diskursen zu lernenden Algorithmen im Arbeitskontext, zur Mensch-TechnikVerflechtung und zur Praxistheorie. Zu Beginn dieser Arbeit wurde auf zwei vorherrschende Diskurse im Zusammenhang mit neuer Technik hingewiesen: Zum einen wird fortgeschrittenere Technik mit dem Bild einer menschengleichen Intelligenz assoziiert. Zum anderen, und mit Ersterem verbunden, steht die Furcht davor, dass menschliche Arbeit durch automatisierte und immer intelligenter werdende Technik ersetzt wird. Das empirische Phänomen einer zunehmenden Einführung digitaler und intelligenter Technik wurde im Rahmen der Arbeit durch den theoretischen Blickwinkel der Mensch-Technik-Verflechtung betrachtet (von Krogh 2018). Diese Perspektive rückt die beiden Assoziationen in ein neues Licht. Wie die Analyse gezeigt hat, wirken weder Mensch noch digitale Technik, ausgestattet mit mehr oder weniger intelligenten Algorithmen, unabhängig voneinander. Nichtsdestotrotz wurde anhand von Fallstudien gezeigt, dass neue Technik und lernende Algorithmen in dem Maße Handlungskapazität ausüben, wie ihnen von Menschen zugestanden wird, zum einen in technischer Hinsicht, zum anderen in einer Vorstellungswelt. Die Tendenz dabei ist, dass die Algorithmen eher als Blackbox betrachtet werden anstatt dass sie als weißer Fleck auf der neuen organisationalen Landkarte exploriert werden. Denn aufgrund einer übermäßigen Zuschreibung von Intelligenz und menschenähnlichen Fähigkeiten erhalten Tools anthropomorphische Handlungskapazität, menschliche Akteure positionieren sich in einer Art vorauseilendem Gehorsam neu und Verantwortlichkeiten werden umverteilt. Dabei können menschliche Akteure zunehmend zum Vermittler algorithmischer Anweisungen werden – eine neue Rolle, die ihr eigenes Selbstbewusstsein und ihre Identität auf ironische Weise verändern kann. Indem die Technik Menschen mit erweiterten kognitiven Fähigkeiten, aber auch einem neuen Gefühl von Sicherheit bei der Ausführung von Handlungen ausstattet, geht sie langfristig ein in deren Praktiken und es kommt zu einer Verstetigung von Mensch/Technik-Hybriden. Die Qualität der Mensch-Technik-Beziehung dürfte somit gerade mit Blick auf die sich ausweitende Durchdringung menschlicher Arbeits- und Lebensbereiche durch digitale Technik von wachsender Relevanz für Forschung und Praxis sein. „7HFKQRORJ\LVQRWQHXWUDO:HҲUHLQVLGHRIZKDWZHPDNHDQGLWҲVLQVLGHRIXV :HҲUHOLYing in a world of connections – and it matters which ones get made and unmade.“ Haraway, 1996 in einem Interview mit Kunzru (2009
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Anhang
Anhang 1: Interviewleitfaden Gruppen von Interviewten A: Fragen an alle Interviewten (Projektmanager und Nutzer) B: Fragen an Projektmanager I.
Kurze biographische Angaben (A) Aktuelle Rolle Position Dauer der Nutzung der Programme
II. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
III.
Allgemeine Fragen (B) Warum wurde die Software eingeführt? Wie wurde die Software eingeführt? Wann wurde die Software eingeführt? Wie viele Nutzer hat die Software (End User, Administratoren, Trainer)? Wer nutzt die Software im Unternehmen? In welchen Bereichen? Wie sah die Praktik vor der Einführung der Software aus? Wie werden Daten (über Mitarbeiter oder Kunden) gesammelt und wo werden sie gespeichert?
Technologies-in-Use / Umgang mit der Technik (A) Wie nutzen die User die Software typischerweise? Wie oft? Was war die kreativste / außergewöhnlichste Nutzung der Software? Hilft die Software den Usern, ihre Ziele und Aufgaben auszuführen oder vermissen sie manchmal Funktionen? 10. Ändern Sie dann die Aufgaben oder passen Sie die Software an? 11. Wie werden die Funktionen und Abläufe, die durch die Software gesteuert werden, festgelegt? Wer oder was hat einen Einfluss? 12. Welche Daten werden während der Nutzung gespeichert und wie werden die Daten generiert?
7. 8. 9.
IV.
Verflechtungsperspektiven (A) 13. Welchen Einfluss hat die Software auf Ihre Handlungen / Entscheidungen?
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 V. Bader, Mensch-Technik-Verflechtung, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31669-3
248
Anhang
14. Wie nutzen die User die Informationen, die ihnen durch die Software zur Verfügung gestellt werden? 15. Inwiefern kann die Software den Usern helfen, Ihre Entscheidungen vor ihren Vorgesetzten zu belegen? 16. Inwiefern sind die User daran gebunden, was die Software sagt? Gibt es auch Momente, in denen Sie gegen die Software und die Daten entscheiden? 17. Inwiefern erhalten die User vorgefertigte Tools und werden angeleitet? Lernen die User von der Software? 18. Können die User der Software vertrauen? Können die Manager der Software vertrauen? 19. Könnten Sie sich einen Fall vorstellen, wo die Software von Vorgesetzten verwendet wird, um die Handlungen / Entscheidungen der Mitarbeiter zu beeinflussen bzw. Leistung zu kontrollieren? 20. Wie stehen Sie zu folgendem Thema: transparente Daten auf der einen Seite, Blackbox-Algorithmen auf der anderen Seite? 21. Inwiefern kann die Software menschliche Tätigkeiten ausführen? Wird sie den Aufgaben gerecht? V.
Digitale Transformation / Veränderung (A) 22. Wie hat sich Ihr Handeln geändert? Treffen Sie seit der Einführung bessere Entscheidungen? 23. Wie würden Sie die Aufgabe ohne die Software, also selbst und manuell ausführen? 24. Welchen Nutzen sehen Sie durch die Software? Welche Probleme gab / gibt es mit der Software? 25. Inwiefern hat sich Ihre Rolle seit der Einführung der Software geändert? Haben Sie das Gefühl, Handlungsmacht verloren zu haben? Eigenverantwortlicher zu handeln? 26. Wie schätzen Sie die zukünftige Rolle von Software für menschliche Handlungen im Unternehmen ein?
HR (Management)
HR (Management)
Manager Training
Online Learning Specialist
Administrator SAP Success Factors
Leiterin Leadership und Development HR (Management)
HR (Management)
Verantwortlicher Online-Learning
Vice President People Consulting
People Services Partner (Recruiting)
People Services Partner (Recruiting)
Verantwortlicher Payroll
Senior Teamleiter (Customer Care)
Leiter Training & Learning (Sales und Customer Care)
Verantwortlicher HR Controlling (DACH)
Spezialist Development (HR)
HR Technology Manager
Interviewpartner 2
Interviewpartner 3
Interviewpartner 4
Interviewpartner 5
Interviewpartner 6
Interviewpartner 7
Interviewpartner 8
Interviewpartner 10
Interviewpartner 11
Interviewpartner 12
Interviewpartner 13
Interviewpartner 14
Interviewpartner 15
Interviewpartner 22
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
HR (Management)
Spezialist Online-Learning
Interviewpartner 1
02:12:49
08.04.2016
08.04.2016
Learning Management (SF Learning & andere Tools) Learning Management (SF Learning & andere Tools) Talententdeckung und Leistungsbeurteilung 11.05.2016 (SF Talent Discovery, SF Performance)
SAP Success Factors
Leistungsbeurteilung (SF Performance)
Recruiting (Huma, SF Recruiting)
27.05.2016
12.05.2016
12.05.2016
12.05.2016
12.05.2016
Recruiting und Leistungsbeurteilung (SF Recruiting, SF Performance) Learning Management (SF Learning & andere Tools)
12.05.2016
12.05.2016
11.05.2016
Leistungsbeurteilung (SF Performance)
Recruiting (Huma, SF Recruiting)
Recruiting (Huma, SF Recruiting)
Talententdeckung und Leistungsbeurteilung 11.05.2016 (SF Talent Discovery, SF Performance)
00:49:21
08.04.2016
Learning Management (SF Learning & andere Tools)
00:55:17
00:21:33
00:51:20
01:01:25
01:27:11
00:34:21
01:12:28
00:59:36
01:25:35
00:49:21
00:32:38
21
16
16
24
31
15
23
24
32
52
16
16
12
20, 12, 16
01:10:33 (A); 00:32:38 (B); 00:49:21 (C)
08.04.2016
Learning Management (SF Learning & andere Tools)
20
01:10:33
Englisch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Interviewdauer Seitenanzahl Sprache (hh:mm:ss) (transkribierter Text)
08.04.2016
Interviewdatum
Learning Management (SF Learning & andere Tools)
Betroffene softwaregestützte Praktiken
SAP Success Factors
Kontext
Position
Bezeichnung
Telefoninterview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Gruppeninterview A, B, C (Telefoninterviews) Gruppeninterview B (Telefoninterview) Gruppeninterview C (Telefoninterview) Gruppeninterview C (Telefoninterview)
Gruppeninterview A (Telefoninterview)
Interviewart
Anhang
249
Anhang 2: Übersicht über die Interviewpartner
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 27.06.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 27.06.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 28.06.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 28.06.2016
Supervisor und Training (General Sales Callcenter Help Desk)
Callcenter
Callcenter
Callcenter
Intradaykoordinator (General Sales Help Desk)
Projektleiter IBM Interact
Leiter Marketing Intelligence
Advisor (General Sales Help Desk)
First-Level-Agent (General Sales Help Callcenter Desk)
Manager Callcenter
Teamleiter (General Sales Help Desk) Callcenter
Callcenter
First-Level-Agent (Technical Help Desk)
First-Level-Agent (General Sales Help Callcenter Desk)
Callcenter
Advanced Advisor (General Sales Help Desk)
Mitarbeiter Sales & Customer Operations-Release-Management
First-Level-Agent (Technical Help Desk)
Interviewpartner 17
Interviewpartner 18
Interviewpartner 19
Interviewpartner 20
Interviewpartner 21
Interviewpartner 23
Interviewpartner 24
Interviewpartner 25
Interviewpartner 26
Interviewpartner 27
Interviewpartner 28
Interviewpartner 29
Interviewpartner 30
Callcenter
Callcenter
Callcenter
Callcenter
Supervisor und Training (General Sales Callcenter Help Desk)
Interviewpartner 16
01:18:28
01:00:43
00:57:16
00:41:25
00:59:06
01:04:32
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 13.05.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 13.05.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 13.05.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 13.05.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 27.05.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 27.06.2016
Gesamt:
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 28.06.2016
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 28.06.2016
27:37:15
00:31:51
00:57:33
00:54:43
01:10:14
00:33:11
00:28:40
00:43:53
00:56:08
Leistungsbeurteilung (SF Performance), 12.05.2016 Telesales (IBM Interact & andere Tools)
Telesales (IBM Interact & andere Tools) 27.06.2016
01:45:25
600
10
15
19
23
17
18
16
22
16
18
19
21
28
19
37
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Schweizerdeutsch
Schweizerdeutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Interviewdauer Seitenanzahl Sprache (hh:mm:ss) (transkribierter Text)
11.05.2016
Recruiting und Leistungsbeurteilung (SF Recruiting, SF Performance), Telesales (IBM Interact & andere Tools)
Senior Teamleiter (General Sales Help Callcenter Desk)
Interviewdatum
Interviewpartner 9
Betroffene softwaregestützte Praktiken Überschneidung IBM Interact
Kontext
Position
Bezeichnung
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Telefoninterview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Persönliches Interview
Interviewart
250 Anhang
251
Anhang
Anhang 3: Dreistufiges Kodierschema Aggregierte Dimensionen Soziale Dynamiken
Kernmechanismen der Handlungshybridisierung
Konzepte zweiter Ordnung Konfiguration materieller Handlungskapazität Herausbildung einer Vorstellungswelt über die Handlungskapazität von Tools und Algorithmen
Integration
Empirische Themen
Neuausrichtung
Orchestrierung
Veränderte Praktiken
Neuer Inhalt
Neue Form
Technische Darstellung Nutzungskontrolle Blackboxing Narrative über Ersetztwerden oder Unterstützung Merchandising Technikzentrierte Sozialität Erschließung der Funktionsweise und Gebrauchmachen Eingliederung in bestehende Artefakte und Praktiken Identitätsarbeit (Re-)Definition von Verantwortlichkeiten Übersetzung digitaler Informationen und Abbildung von Realität Wechselseitige Ausbesserung von Unzulänglichkeiten Qualität der Aufgabenverrichtung und Entwicklungspfade von Leistung Entpersonalisierung zwischenmenschlicher Interaktion Leistungserbringung und reflexion Veränderte Rollen und Zusammenarbeit