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German Pages [209] Year 2018
Günter Rager
Mensch sein Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813836
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Günter Rager Mensch sein
VERLAG KARL ALBER
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Günter Rager
Mensch sein Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Günter Rager Being Human Main Features of an Interdisciplinary Anthropology The question of the nature of human beings has reached a new level of urgency due to discoveries in natural sciences. It demands answers from an interdisciplinary approach which integrates scientific results in its philosophical contemplations. His longstanding research in this area enables Günter Rager to examine fundamental questions of being human from different perspectives. He presents the main features of an interdisciplinary anthropology in his book.
The author: Professor Günter Rager was Professor and Director of the Institute for Anatomy and Embryology at Fribourg University in Switzerland. He completed his PhD in philosophy at Munich University and his PhD in Medicine at Göttingen University. He was head of the Institute for Interdisciplinary Research of the Görres Society for eight years. In 2005 he received an honorary doctorate from the Faculty of Theology from Freiburg/Brsg University and in 2014 the ring of honour from the Görres Society.
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Günter Rager Mensch sein Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie Die Frage nach dem Wesen des Menschen hat heute durch die Entdeckungen in den Naturwissenschaften eine neue Dringlichkeit erfahren. Sie verlangt Antworten aus einem interdisziplinären Zugang, welcher in die philosophische Reflexion auch die naturwissenschaftlichen Ergebnisse einbezieht. Günter Rager ist durch seine langjährige Forschung in diesem Bereich in der Lage, Grundfragen des Menschseins aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Er präsentiert mit diesem Buch Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie.
Der Autor: Prof. em. Dr. Dr. Dr. h. c. Günter Rager war Ordinarius und Direktor des Instituts für Anatomie und spezielle Embryologie an der Universität Fribourg/Schweiz. Er promovierte in Philosophie an der Universität München und in Medizin an der Universität Göttingen. Acht Jahre leitete er das Institut für interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft. 2005 wurde ihm der Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Brsg. verliehen, 2014 der Ehrenring der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagbild: Der Denker. Bronzeskulptur von Heinz Detlev Wüpper Foto: Günter Rager Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48917-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81383-6
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Inhalt
Vorwort 1
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Einleitung
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2 Person und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Individuum und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Embryo als Individuum . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Der Embryo als Person . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Person als sittliches Subjekt . . . . . . . . . . . . 2.2 Bewusstsein, Selbst und Geist . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Was ist Bewusstsein? . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Neuronale Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Beurteilung der Suche nach neuronalen Korrelaten 2.3 Ich, Selbst und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Ich und Ich-Bewusstsein in der Philosophie . . . . 2.3.2 Ich und Ich-Bewusstsein in den Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Ich – eine Illusion? . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Reduktionistische Versuche . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Ich und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Über die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 21 22 27 32 37 37 40 49 50 50
3 Wissen und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wahrheit in der Philosophie . . . . . . . . . . 3.1.1 Vorsokratiker . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Albert der Große und Thomas von Aquin 3.1.6 Die kopernikanische Wende bei Kant . .
63 64 65 66 68 71 72 74
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53 54 55 57 59
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Inhalt
3.2 Wissen in den Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . 3.2.1 Affizierung der Sinnesorgane durch die Umwelt am Beispiel des visuellen Systems . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die visuellen Areale des Kortex . . . . . . . . . . 3.2.3 Neuronale Zellverbände . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Wie entsteht ein visuelles Objekt? . . . . . . . . 3.2.5 Integration der Sinnesmodalitäten und Ort der Objekte im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Vergleich mit der Analyse von Kant . . . . . . . . 3.3 Vom Wissen zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . .
77
4 Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur . . . . 4.1 Weltanschauliche Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Vertreter der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . 4.1.2 Vertreter des Kreationismus . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Vertreter des Intelligent Design . . . . . . . . . . 4.2 Die Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Geschichte und Thesen . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Systemimmanente Probleme der Evolutionstheorie 4.2.3 Evolution und Evolutionstheorie . . . . . . . . . 4.3 Die Stellung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Aus der Sicht einiger Evolutionsbiologen . . . . . 4.3.2 Kritik am »egoistischen Gen« . . . . . . . . . . . 4.3.3 Einige Beobachtungen zur Stellung des Menschen in der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Natürliche und kulturelle Evolution . . . . . . . . 4.4 Philosophische und theologische Entwürfe zur Deutung der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Sri Aurobindo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Teilhard de Chardin . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Biblisch-christliche Schöpfungstheologie . . . . . 4.5 Evolutionstheorie und Welterfahrung, eine bleibende methodische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 92 92 93 94 94 94 96 101 102 102 103
5 Die Freiheit der Person . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Experimentelle Daten der Hirnforschung . . . . . 5.1.1 Die Experimente von Benjamin Libet . . . . 5.1.2 Kritik am Experiment . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Kritik an der Deutung der Libet-Experimente
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104 110 112 113 114 116 118
Inhalt
5.2 Der reduktionistische Naturalismus . . . . . . 5.2.1 Die Behauptung: Freiheit ist eine Illusion 5.2.2 Gegenargumente . . . . . . . . . . . . 5.3 Philosophie der Freiheit . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die interpersonale Dimension der Freiheit 5.3.2 Freiheit und Determinismus . . . . . . 5.3.3 Epistemische Differenz . . . . . . . . . 5.3.4 Endliche Freiheit . . . . . . . . . . . . 5.4 Freiheit und naturgemäßes Handeln . . . . . .
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128 128 129 136 139 139 144 145 148
6 Verantwortung und Liebe . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Verantwortungsbereiche . . . . . . . . . . 6.1.2 Verantwortung für den Menschen als Person 6.1.3 Verantwortung für uns selbst . . . . . . . . 6.2 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Liebe aus reduktionistischer Sicht . . . . . . 6.2.2 Liebe nicht-reduktionistisch gedacht . . . . 6.2.3 Die christliche Dimension der Liebe . . . . .
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151 152 153 154 156 157 157 162 165
7 Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Medizinisch-biologische Aspekte . . . . . . . . . . . 7.1.1 Morphogenetischer Zelltod . . . . . . . . . . . 7.1.2 Altern (Biogerontologie) . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Der Prozess des Sterbens . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Klinische Definition des Todes . . . . . . . . . 7.2 Lebensweltlich-philosophischer Zugang . . . . . . . . 7.2.1 Vorbereitung auf Sterben und Tod (Ars moriendi) 7.2.2 Medizin um jeden Preis? . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Beihilfe zum Suizid oder Palliativmedizin? . . . 7.2.4 Einstimmung in das Sterben . . . . . . . . . . 7.2.5 Tod und Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . 7.2.6 Der christliche Glaube an die Auferstehung . . .
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167 167 167 169 174 176 177 179 179 180 181 182 183 186
7.3 Leben und Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur
188
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Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Es war im August 1977. In der alten Zisterzienser Abtei Sénanque in Südfrankreich fand ein Internationales Symposium über zerebrale Korrelate der bewussten Erfahrung statt. Unter den Teilnehmern, deren Zahl auf 25 Personen beschränkt war, befanden sich u. a. Konrad Akert, John Eccles, Rolf Hassler, Richard Jung, Hans Kornhuber, Benjamin Libet, Donald MacKay, Brenda Milner, Vernon Mountcastle, Janos Szentagothai und Otto Creutzfeldt, mein Chef am MaxPlanck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Otto Creutzfeldt schätzte meine philosophische Vorbildung und bewirkte, dass ich als wissenschaftlicher Assistent an diesem erlesenen Kreis teilnehmen durfte. Wir präsentierten gemeinsam einen Beitrag über Hirnmechanismen und die Phänomenologie der bewussten Erfahrung. Dieser Beitrag war nicht-reduktionistisch, aber auch nicht dualistisch und sorgte deshalb für engagierte Gespräche. Denn schon damals waren die Meinungen geteilt in eine mehrheitlich monistischreduktionistische Position und in eine von der Minderheit vertretene dualistische Auffassung. Am Max-Planck-Institut konnten wir uns voll und ganz auf die Forschung konzentrieren und es gab immer wieder wertvolle Gespräche mit Kollegen und mit Gästen, die zu Vorträgen oder kürzeren Forschungsaufenthalten kamen. Schon zu Beginn meiner Tätigkeit übertrug mir Otto Creutzfeldt die Aufgabe, ein philosophisches Seminar für die Abteilung durchzuführen. Ich wählte Texte von Kant als Diskussionsbasis. Wir entdeckten viele Parallelen zur Neurobiologie, stellten aber zugleich fest, wie schwierig es für Neurowissenschaftler war, die Brücke zum genuin philosophischen Denken zu schlagen. Ein Jahr lang trafen wir uns in vierzehntägiger Folge und mit anhaltendem Interesse. Mit Christoph von der Malsburg verbanden mich viele Gespräche über Modelle zu den Funktionsweisen des Gehirns, über Entwicklungsvorgänge im Nervensystem und über Selbstorganisation. John Eccles war externes Mitglied des Direkto11 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Vorwort
riums und kam häufig, um sich über die wissenschaftlichen Fortschritte der Mitarbeiter der Creutzfeldt-Abteilung zu informieren. Am Rande dieser Arbeitsbesuche konnte ich mit ihm oft über philosophische Aspekte der Neurowissenschaften diskutieren. Auf Spaziergängen durch die Wälder in der Nähe des Instituts versuchte ich ihn davon zu überzeugen, dass der von ihm vertretene Dualismus keine Lösung für das Gehirn-Geist-Problem war. Immerhin ließ John Eccles die Theorie vom »liaison brain« fallen und versuchte, die Lösung mit den Mitteln der Quantenmechanik und der Wahrscheinlichkeitstheorie zu finden. Meine Antrittsvorlesung an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg war dem Leib-SeeleProblem gewidmet. Damit war der Anfang gemacht für eine anhaltende Kooperation mit Kollegen aus der Philosophischen und Theologischen Fakultät, insbesondere mit Adrian Holderegger. Ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung auf eine moderne Anthropologie war ein Projekt, das ich zusammen mit Ludger Honnefelder durchführen konnte. Wir sahen es angesichts der rasanten technologischen Fortschritte in der Medizin als notwendig an, den Studierenden der Medizin ergänzend zu ihrem Curriculum eine Einführung in die medizinische Ethik und in die Grundlagen des ärztlichen Urteilens und Handelns zu liefern. Unsere Arbeit richtete sich zuerst an Stipendiaten der Begabtenförderung »Cusanuswerk« in mehreren Ferienakademien (1989–1993) und später mit dem Buch »Ärztliches Urteilen und Handeln« auch an ein breiteres Publikum. Weitere wichtige Etappen waren für mich zwei Sabbaticals. Das erste verbrachte ich 1991 bei Wolf Singer am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Wir experimentierten am visuellen Kortex der Katze, um Probleme zu lösen, die sich aus den faszinierenden Entdeckungen der Oszillationen kortikaler Zellen ergaben. Daneben diskutierten wir über neurophilosophische Fragen, und zwar noch bevor die öffentlichen Debatten über Bewusstsein, Freiheit und Ich losbrachen. Sehr anregend waren auch die Gespräche mit Andreas Engel, Peter König, Thomas Schillen und Heinz Wässle. Für das zweite Sabbatical lud mich Edmund Runggaldier an das Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck ein (Wintersemester 1997/8 und Sommersemester 2000). Dieses Sabbatical war geprägt durch die Begegnung mit der analytischen Philosophie und durch die intensive Zusammenarbeit mit Edmund Runggaldier und 12 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Vorwort
Josef Quitterer, aus welcher schließlich das Buch »Unser Selbst« hervorging. Besonders dankbar bin ich auch für die Gespräche mit Otto Muck. Die Arbeit in den Neurowissenschaften war für mich in erster Linie Forschung an der Entwicklung des Nervensystems, also Neuroembryologie. Von diesem Ansatz her war ich konfrontiert mit der Frage nach dem Status des menschlichen Embryos. Ist der Embryo schon eine Person? Für diese Frage hatte ich eine intensive Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Instituts für Interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft, dem ich während acht Jahren vorstehen durfte. Aus diesem Institut entstand unter anderem auch das Buch »Beginn, Personalität und Würde des Menschen«, das eine große Beachtung und weite Verbreitung fand. Überraschend kam schließlich die Einladung von Thomas Schmidt und Tobias Müller, im Wintersemester 2009/10, an der Universität Frankfurt Vorlesungen über Bausteine einer modernen Anthropologie zu halten. Meine Aufgabe war es, diese Bausteine aus naturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive zu präsentieren, während mein Partner Michael von Brück zu denselben Themen aus religionswissenschaftlicher Perspektive sprach, und zwar mit den asiatischen Religionen als Schwerpunkt. Damit ist eine Anthropologie entstanden, die nicht nur die aktuellen Probleme der Naturwissenschaften aufgreift, sondern auch den interkulturellen Horizont eröffnet. Mit den Vorlesungen war zugleich die Verpflichtung verbunden, das so erarbeitete Wissen in der Form eines Buches niederzulegen. Dieser Pflicht bin ich mit großer Freude nachgekommen. Ich hoffe, den Lesern ein brauchbares Resultat einer jahrzehntelangen Arbeit an einer modernen Anthropologie in die Hände legen zu können. Den von mir verfassten interdisziplinären Teil konnte ich weiterentwickeln und als eigenen Band im Alber Verlag veröffentlichen. Herrn Lukas Trabert, dem Leiter des Verlags, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken für sein großes Engagement, mit dem er diese Publikation unterstützt hat. Allen, die ich in diesem Vorwort genannt habe, und den vielen Freunden, Kritikern und Beratern, die ich hier nicht erwähnen konnte, möchte ich von Herzen danken für ihre Hilfe auf dem Weg zu diesem Werk, den ich ohne sie nicht hätte gehen können. Ganz besonders aber danke ich meiner Frau Ute für ihre liebevolle Unterstützung, Edmund Runggaldier für die kritische Lektüre des ganzen
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Vorwort
Manuskripts und Wolfgang Wickler für seine Kritik am Kapitel über Evolution. Fribourg, den 20. April 2017
Günter Rager
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1 Einleitung
Im Laufe der Geschichte ertönte immer wieder der Ruf nach einem neuen Menschenbild. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Mit jedem neuen philosophischen oder theologischen Ansatz und mit jeder naturwissenschaftlichen Entdeckung, die den Menschen betraf, versuchte man, das so schwer zu ergründende Wesen des Menschen tiefer zu erfassen. In unserer Zeit sind es die großen Entdeckungen der Wissenschaften vom Leben und insbesondere der Neurowissenschaften, die uns hoffen lassen, das Wesen des Menschen besser zu verstehen. Nicht wenige versprechen sich von diesen Entdeckungen auch für unsere Gesellschaft, unsere Kultur und Rechtsprechung wichtige Schlüsse aus diesem neuen Verständnis ziehen zu können. Deshalb scheint es naheliegend, auch für unsere Zeit wieder einen neuen Versuch zu wagen, eine Anthropologie zu erarbeiten, die dem aktuellen Stand des Wissens gerecht wird. Die gegenwärtige Debatte über das Bild vom Menschen leidet allerdings unter dem Einfluss von Interessen, die dem Weiterkommen in dieser schwierigen Frage wenig dienlich sind. So werden sogar schon wichtige Begriffe ideologisch umgedeutet. Anstatt den embryologisch beschreibenden Begriff »Blastomerenstadium« zu verwenden, wird immer mehr vom »Zellhaufen« gesprochen, der in sich schon eine Wertung zum Ausdruck bringt. Anstatt die wohl definierten Begriffe von der menschlichen Ontogenese zu gebrauchen, wird als neuer Begriff das »humangenetische Keimmaterial« eingeführt, der ebenfalls suggeriert, dass man es nicht mit einem sich entwickelnden Menschen zu tun hat, sondern mit einem Material, aus dem irgendwann ein Mensch entsteht. Das verständliche Interesse, den Menschen wie ein rein naturwissenschaftliches Objekt, gleichsam »more geometrico«, zu verstehen und keine anderen Gesichtspunkte gelten zu lassen, die die Sache verkomplizieren, führt zum Reduktionismus. Alle geistigen Phänomene, die nicht mehr naturwissenschaftlich beschreibbar sind, sollen auf Hirnmechanismen reduziert 15 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Einleitung
werden. Mit der Vereinfachung des Verstehenshorizonts werden die Phänomene zugleich handhabbar, so hofft man. Unter der Hand entschwindet damit aber das Eigentliche des Menschen. Die so erhoffte Erklärung wird zum Konstrukt. Die Realität des täglichen Lebens zeigt immer wieder und auf vielfältige Weise, dass man damit dem Wesen des Menschen nicht gerecht wird. Ein wirklicher Fortschritt ist deshalb nur möglich, wenn wir über die Methoden nachdenken, mit denen wir Wissen über den Menschen erarbeiten. Dieses Nachdenken könnte zu der Einsicht führen, dass die Naturwissenschaften, denen wir so viel an neuen Erkenntnissen verdanken, von uns mit ganz bestimmten methodischen Regeln entworfen sind. Sie sind also gleichsam unser Werkzeug, mit dem wir versuchen, die Natur zu begreifen. Kann man nun mit diesem Werkzeug auch den Erfinder dieses Werkzeugs erfassen? Ist es nicht ein Zirkelschluss, wenn wir uns selbst begreifen wollen mit den Werkzeugen, die wir zum Begreifen der Welt der Gegenstände entworfen haben? Wir als die Erklärenden sollen so selbst erklärt werden; das Explanans soll eins werden mit dem Explanandum. Dass dieser Zirkelschluss fehlerhaft ist, leuchtet jedem ein. Und dennoch wird immer wieder versucht, auf diese Weise vorzugehen. Wenn wir der Wirklichkeit in unserem Erkennen gerecht werden wollen, dann müssen wir die Phänomene so anschauen, wie sie es erfordern. Eine Einschränkung unseres Hinblickens auf die naturwissenschaftliche Methode wird nur das naturwissenschaftlich Erfassbare erfassen. Damit bleibt alles Andere verborgen. Es hilft auch nicht weiter, wenn wir, um aus dem Dilemma herauszukommen, festlegen, dass es nichts anderes gibt als das, was mit den Naturwissenschaften erfassbar ist. Diese Form der Reduktion verkürzt die Wirklichkeit. Den Menschen werden wir so nie in seiner Ganzheit verstehen, sondern eben nur so, wie er naturwissenschaftlich zugänglich ist. Für eine Anthropologie ist deshalb zu fordern, dass wir uns die ganze Weite des Zugangs offen halten, also auch unser Alltagswissen, die philosophische Reflexion, die Aussagen des Glaubens und die Erkenntnisse aller jener Wissenschaften zur Geltung bringen, die sich in irgend einer Weise mit dem Menschen beschäftigen. Es gilt, die methodische Differenz zu wahren, welche die naturwissenschaftliche Methode von allen anderen Zugangsweisen unterscheidet. Das bedeutet zugleich einen Verzicht auf die ausschließliche Geltung naturwissenschaftlicher Aussagen, die experimentell geprüft werden können, und das Zulassen von Erkenntnissen, die aus anderen Evidenzen 16 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Einleitung
stammen. Nur so lässt sich ein umfassenderes und der Wirklichkeit näheres Bild vom Menschen gewinnen. In der vorliegenden Anthropologie wird versucht, den aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu den ausgewählten Themen vorzulegen. Die über die wissenschaftliche Erkenntnis hinausgehenden Interpretationen, die schon in den Bereich der Philosophie hineinführen, werden kritisch geprüft. Sodann wird versucht, die Probleme philosophisch anzugehen, und zwar so, dass philosophische und naturwissenschaftliche Aussagen sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Dieses Vorgehen soll uns helfen, ein umfassenderes Bild vom Menschen zu gewinnen. Der ungeheure Zuwachs an Wissen, der sich in den letzten Jahrzehnten ereignet hat, macht es für einen einzelnen Autor unmöglich, eine systematische und vollständige Anthropologie zu schreiben. Ich werde mich deshalb auf einige zentrale Themen beschränken. Im Zentrum einer Anthropologie steht die Frage nach der Person. Was verstehen wir unter Person? Warum dürfen wir uns das Personsein zuschreiben? Entsteht unser Personsein erst im Laufe unserer individuellen Entwicklung oder sind wir Person schon mit dem Beginn unseres individuellen Lebens? In welchem Verhältnis stehen Ich und Selbst zur Person? Zu diesen Fragen haben nicht nur die Philosophie, sondern auch die Bio- und die Neurowissenschaften Beiträge zu leisten. Es ist deshalb zu prüfen, wie eine Verständigung zwischen diesen Wissenschaften möglich ist. Für die erwachsene Person ist das Bewusstsein eine auszeichnende Eigenschaft. Was ist Bewusstsein? Wie lässt es sich aus neurowissenschaftlicher und aus philosophischer Sicht verstehen? Grundlage einer jeden Wissenschaft, und deshalb auch einer Anthropologie, ist die Frage nach dem Wissen und der Wahrheit. Wiederum sind es die Neurowissenschaften, welche uns bedeutende Einblicke gewähren in die Prozesse, die das Wahrnehmen, das Erkennen, den Erwerb von Wissen, die Speicherung des Wissens im Gedächtnis, das Abrufen des Wissens und das Assoziieren mit anderen Wissensinhalten ermöglichen. Die Philosophie fragt aber dann weiter nach den Bedingungen der Möglichkeit des Wissens und stellt schließlich die Frage nach der Wahrheit. Was ist Wahrheit im logischen Sinn? Was ist Wahrheit im ontologischen Sinn? Was bedeutet die Erkenntnis der Wahrheit, sofern sie möglich ist, für die Gestaltung unseres Lebens? Ganz besonders betrifft uns heute die Frage nach der Stellung 17 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Einleitung
des Menschen in der Natur. Bei der Beantwortung dieser Frage finden wir wenigstens drei verschiedene Theorien: den Kreationismus, die Lehre vom »Intelligent Design« und die Evolutionstheorie. Diese Theorien sind nicht nur verschieden, sondern stehen im Konflikt miteinander und führen zu teils heftigen Auseinandersetzungen. Wir prüfen hier die Aussagekraft dieser drei Theorien und kommen zu dem Ergebnis, dass die Evolutionstheorie am besten geeignet ist, um die Entstehung der Arten naturwissenschaftlich zu erklären. Allerdings darf sie sich nicht dogmatisch gegenüber neuen Erkenntnissen und Theorien verschließen, da sie selbst noch etliche Lücken aufweist und für eine Reihe von Phänomenen noch keine schlüssige Antwort hat. Trotz der unbestrittenen Bedeutung der Evolutionstheorie als naturwissenschaftlicher Theorie bleiben noch Fragen nicht-naturwissenschaftlicher Art übrig, die nur von Philosophie und Theologie angehbar sind. Nichts ist in den letzten Jahren so sehr bestritten, aber auch verteidigt worden wie die menschliche Freiheit. Für etliche Hirnforscher, die sich über die Neurowissenschaften hinaus zu weltanschaulichen Fragen äußern, und für einige Philosophen ist Freiheit eine Illusion. Beide Gruppen berufen sich auf Ergebnisse der Hirnforschung. Erfolgt diese Berufung zu Recht? Was kann die Hirnforschung über Freiheit sagen? Was sagt sie wirklich? Nicht nur die Philosophie, sondern auch unser Alltagswissen zeigt uns, dass wir gar nicht anders handeln können als unter der Idee der Freiheit. So ist denn zu klären, was wir unter Freiheit zu verstehen haben und wie sich Freiheit und Notwendigkeit in der Natur zueinander verhalten. Schließlich ist zu zeigen, dass unsere Freiheit nicht absolut, sondern bedingt ist. Ihre Realisierung hängt von unserer leiblichen Verfasstheit ab. Nur freie Menschen können Verantwortung übernehmen. Verantwortung ist heute angesichts der von uns Menschen verursachten Missstände und Katastrophen mehr denn je gefragt. Doch was ist Verantwortung? Wofür haben wir Verantwortung zu übernehmen in Bezug auf uns selbst, die künftigen Generationen und unsere Welt? Unser Leben und unsere Zukunft könnten besser werden, wenn wir bereit wären, mehr Verantwortung zu übernehmen. Doch schön wird das Leben erst mit der Liebe. Trotzdem wird versucht, auch die Liebe rein natürlichen Mechanismen zu unterwerfen. Liebe, so die Behauptung, wird ausgelöst durch Hormone. Wenn das richtig ist, dann lässt sie sich auch steuern und gefügig machen für das allmächtige Machbarkeitsstreben. Auch hier greift der Reduktionismus zu kurz und 18 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Einleitung
verliert das Wesentliche aus den Augen. Deshalb wird hier versucht, Liebe nicht-reduktionistisch zu denken und ihre Perspektiven zu erfassen, die weit über das bloß Naturale hinausreichen. Unser Leben beginnt mit der Befruchtung, entwickelt sich vom Embryo bis zum Erwachsenen und entfaltet Bewusstsein und geistige Fähigkeiten. Doch schon in der Mitte dieses sich entfaltenden Lebens beginnen langsam, aber stetig fortschreitend, die Alterungsprozesse, die uns einem sicheren Ende entgegenführen. Das Altern geht schließlich über in Sterben und endet mit dem Tod. Was geschieht im Alterungsprozess? Wie verläuft das Sterben? Was ist der Tod? Haben wir uns während des Lebens auf dieses Ende vorbereitet oder haben wir solche Gedanken verdrängt? Schon seit Jahrtausenden lehren uns die Philosophen die Kunst des Sterbens, die Ars moriendi. Wie sollen wir mit dem Tod umgehen? Sollen wir ihm zuvorkommen, indem wir freiwillig unserem Leben ein Ende setzen, wenn es uns Mühe macht? Und was geschieht im Tod? Ist der Tod das absolute Ende oder gibt es ein Leben nach dem Tod? Mit der vorliegenden Anthropologie versuchen wir, auf diese vielfältigen Fragen zu antworten. Dabei sollen naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse zusammengeführt werden, jedoch nicht so, dass unversehens verschiedene Begriffe und Methoden vermischt werden. Die methodische Differenz muss gewahrt bleiben. Dennoch kann sich für uns ein zusammenhängendes Bild über die wichtigsten Fragen unseres Menschenbildes daraus ergeben. Diese Anthropologie ist kein Lehrbuch, will also nichts Definitives sein, sondern verlässliche Grundlagen für das eigene Denken und für künftige Entwicklungen liefern.
19 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
2 Person und Bewusstsein
»Was ist der Mensch?« Das ist in der Tat die Grundfrage der Anthropologie. Und doch ist die Frage unvollständig. »Was ist der Mensch?« fragt nach etwas, was in den objektiven Wissenschaften erforscht werden kann. Da Menschen uns aber nicht nur als Objekte begegnen, sondern in erster Linie Personen sind, wird diese Frage der Aufgabe der Anthropologie nur teilweise gerecht. Sie müsste ergänzt werden durch die Frage: »Wer ist der Mensch?«. Erst im Spannungsfeld dieser beiden Fragen erschließt sich der Raum der Anthropologie. »Erkenne Dich selbst« oder – wie es in der griechischen Sprache heißt – »γνῶθι σεαυτόν« war eine grundlegende Aufforderung in der Antike. Sie stand auf einer Säule der Vorhalle des Apollontempels in Delphi und wurde dem Gott Apollon als Urheber zugeschrieben. Nur wenn wir dieser Aufforderung folgen, werden wir erkennen, wer wir sind. Methodisch entfaltet wurde dieser Weg der Selbsterkenntnis zur Philosophie, zur philosophischen Lehre vom Menschen und damit zur philosophischen Anthropologie. Doch auch schon in der griechischen Antike stand dem Weg der Selbsterkenntnis die objektivierende wissenschaftliche Erforschung des Menschen gegenüber. Im Vergleich zur Philosophie kam die objektivierend-wissenschaftliche Sicht aber über die Anfänge nicht hinaus. Erst mit dem Aufschwung von Biologie, Psychologie, Soziologie und Medizin in der Neuzeit wurde sie zu einem starken Pol. Heute ist dieser Pol so mächtig geworden, dass er den philosophischen Zugang fast zu verdrängen scheint. Einige Vertreter dieser Disziplinen gehen sogar so weit zu erklären, man könne auf die philosophischen Aussagen über den Menschen verzichten. Nur noch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seien relevant. Der reduktionistische Naturalismus sei der einzige Weg, der weiterführe. 1 In einem Manifest von Neurophilosophen (Elger et al., Manifest) wird prophezeit, unserem Menschenbild stünden beträchtliche Erschütterungen ins Haus.
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Individuum und Person
Wenn wir uns jetzt bemühen, Grundbausteine einer modernen Anthropologie zu ermitteln, dann sollten wir unbeirrt von Reduktionismen versuchen, das Ganze im Blick zu behalten. Philosophischer und wissenschaftlicher Zugang zum Menschen haben ihren je eigenen Geltungsanspruch, den es zu wahren gilt. Bei dem Versuch, die beiden Zugänge aufeinander zuzuordnen und eine Synthese zu erarbeiten, dürfen Begriffe, Methoden und Fakten aus den verschiedenen Wissensbereichen nicht unreflektiert vermischt werden. Vielmehr sollten wir sorgfältig untersuchen, was naturwissenschaftliche Befunde für die philosophische Reflexion bedeuten und umgekehrt. Bewusstsein, Ich und Person gehören zu den Grundbegriffen einer Anthropologie. Da Bewusstsein und das Vermögen, Ich zu sagen, erst im Laufe der Individualentwicklung hervortreten, werde ich versuchen, diese Begriffe in einer Reihenfolge zu explizieren, wie sie sich aus dem Entwicklungsgang jedes Einzelnen von uns ergibt, von der Befruchtung bis zum Tod. In den Anfängen der Entwicklung steht die Frage nach dem Individuum und der Person im Vordergrund. Ihr wird der erste Teil gewidmet sein. Im zweiten Teil werden wir uns mit Bewusstsein und Ich befassen. Im dritten Teil schließlich werden wir den Zusammenhang von Ich, Selbst und Seele thematisieren.
2.1 Individuum und Person Für die Frage nach der Individualität und der Personalität des Menschen ergeben sich wichtige Antworten, wenn wir auf die biologische Entwicklung des Embryos achten. 2 Person ist freilich kein Begriff der Embryologie, sondern der Philosophie und der Alltagspsychologie. Wie lassen sich nun embryologische Fakten mit philosophischen Begriffen verbinden? Offensichtlich gelingt es nicht, wenn wir unbesehen philosophische Begriffe innerhalb der Biologie oder biologische Begriffe in der Philosophie gebrauchen. Wir müssen es vielmehr mit Brückenbegriffen versuchen, die sowohl in den biologischen als auch in den philosophischen Wissenschaften vorkommen und in ihrem Kontext jeweils genau definierbar sind. Es müsste Bereiche geben, in welchen die Bedeutungen der Begriffe in beiden Wissenschaften übereinstimmen. Für die Frage nach der Personalität des menschZur Darstellung der Entwicklung des menschlichen Embryos siehe O’Rahilly / Müller, Embryology; Rager, Biologische Entwicklung.
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Person und Bewusstsein
lichen Embryos sei dies versucht mit dem Begriff Individuum. Dieser Begriff ist biologisch definierbar; philosophisch ist er ein wichtiges Element des Personbegriffs. Um dies klar zu machen, wird in einem ersten Schritt die Frage angegangen, ob wir berechtigt sind, den Embryo als Individuum im biologischen Sinne zu bezeichnen. In einem zweiten Schritt werden wir prüfen, wie sich dieser biologische Begriff zum philosophischen Begriff der Person verhält.
2.1.1 Der Embryo als Individuum Ein Lebewesen ist dann ein Individuum im biologischen Sinn, wenn es wenigstens die folgenden Eigenschaften aufweist: Es bildet erstens eine Einheit in Raum und Zeit. Zweitens organisiert es sich selbst als ein einheitliches System. Drittens bleibt es trotz aller Veränderungen in seinem Erscheinungsbild über die Zeit hinweg mit sich selbst identisch. Dieser Sachverhalt wird als diachrone Identität bezeichnet. Ein menschliches Individuum besitzt ein menschliches Genom und entwickelt sich diesem Genom entsprechend humanspezifisch. Deshalb ist es viertens charakterisiert durch ein menschliches Nervensystem oder ist wenigstens in der Lage, ein solches Nervensystem zu entwickeln. Mit diesen Eigenschaften lässt sich der Begriff eines menschlichen Individuums im biologischen Sinne konstituieren. Die Formulierung dieser Eigenschaften befähigt uns zu prüfen, ob dieser Begriff auf den menschlichen Embryo und darüber hinaus auf den Menschen in allen Phasen seiner Entwicklung angewendet werden kann. 3 Einheit in Raum und Zeit Einzellige und mehrzellige Organismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer Hülle umgeben sind, die sie von allem anderen abgrenzt. Bei einzelnen Zellen ist es die Plasmamembran, bei vielzelligen Organismen die Haut. Dazwischen gibt es noch weitere Formen von Umhüllungen, so z. B. die Zona pellucida in den ersten und der Trophoblast in den späteren Entwicklungsphasen des Embryos. Diese Hüllen haben nicht nur die Funktion der Abgrenzung des Organismus (Selbst) gegen die Umwelt (Nicht-Selbst) und der AufrechtHier werden die Überlegungen weiterentwickelt, die in Rager, Individuum, und Rager, Preimplantation, formuliert wurden.
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Individuum und Person
erhaltung des inneren Milieus. Sie sind auch enorm wichtig für die Kommunikation zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Die Kommunikation vollzieht sich auf der Ebene des Stoffaustauschs wie auch der Information. Ohne diese Hüllen könnten biologische Individuen nicht überleben. Die Zygote, obwohl zunächst nur einzellig, ist sogar doppelt umhüllt, nämlich durch die Plasmamembran und die Zona pellucida. 4 Die Zona pellucida wird bereits im Stadium der Oozyte gebildet und nach der Bildung des Trophoblasten aufgelöst. Sie ist eine extrazelluläre Matrix, die hauptsächlich aus Glykoproteinen besteht. Ihre Struktur verändert sich während der Fertilisation und im Blastomerenstadium. Sie hat vielfältige Funktionen. Bei der Fertilisation bildet sie eine »spezies-spezifische Barriere« 5 gegen das Eindringen artfremder Spermien. Nach dem Eindringen des arteigenen Spermiums in die Oozyte kommt es zur Zona-Reaktion, welche eine Strukturänderung der Zona pellucida bewirkt und so das Eindringen weiterer Spermien (Polyspermie) verhindert. Die Zona pellucida dient in vielfacher Weise als Kommunikationsschnittstelle zwischen dem Embryo und dem mütterlichen Organismus. Weil die Zona pellucida zusätzlich zur Plasmamembran die Zygote umhüllt, entstehen bei der ersten Zellteilung nicht zwei neue Individuen. Durch die Zona pellucida bleibt die Einheit des Embryos gewahrt. Im Laufe der weiteren Entwicklung sichert die Zona pellucida den Zusammenhalt einer Vielzahl von Zellen, die durch Teilung aus der Zygote hervorgehen. 6 Die Zellen nehmen rasch an Zahl zu, rücken enger zusammen und nützen den begrenzten Raum innerhalb der Zona pellucida optimal (Phase der Kompaktion). Durch unterschiedliche Zellteilungen entstehen äußere und innere Zellen. Die äußeren Zellen bilden den Trophoblasten, die inneren den Embryoblasten. Mit der Entwicklung des Trophoblasten ist eine neue Schutzhülle entstanden. Nach der Bildung des Trophoblasten löst sich die Zona pellucida auf. Der Embryo »schlüpft« aus ihr und wird zur freien Blastozyste. Der Trophoblast ist nun eine geeignetere Hülle. Er kann sich der zunehmenden Größe des Embryos anpassen, dient als Schnittstelle für die Kommunikation mit dem mütterlichen Organismus und ermöglicht die Einnistung in den Uterus. Zusammen mit 4 5 6
Herrler / Matrices. Die Zona pellucida. O’Rahilly / Müller, Embryology, 27. Blastomeren- und frühes Blastozystenstadium.
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Person und Bewusstsein
seiner Hülle (zuerst die Zona pellucida, später der Trophoblast) nimmt der Embryo von der Zygote an eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit ein, grenzt sich von seiner Umgebung ab, steht im Austausch mit dieser Umgebung und bildet eine strukturelle und funktionelle Einheit. Einheitliches, sich selbst organisierendes System Lebende Organismen sind biologische Systeme. Gemeint sind hier ganzheitliche Systeme im Gegensatz zu Teilsystemen (gekoppelte Subsysteme) wie Kreislaufsystem, Immunsystem oder Nervensystem. Die Teilsysteme sind nur innerhalb der Funktionseinheit des ganzen Organismus funktionsfähig. Sie können nur im Zusammenspiel mit den anderen Teilsystemen ihre Funktion ausüben. Systemtheoretisch wird ein System beschrieben »durch eine Menge von Objekten mit Relationen …, die charakterisiert wird durch ihre möglichen Zustände. Ein System ist spezifiziert durch die Gesamtheit der Zustände, in denen es sich befinden kann, und die Dynamik dieser Zustände.« 7 Ein System ist dann autonom und dynamisch, wenn »die Änderung des Zustands eines Systems zu einem Zeitpunkt nur vom Verlauf des Zustands selbst abhängt, nicht aber von äußeren Variablen.« 8 Diese Definition gilt dann auch für ein biologisches System, »wenn seine Gesetzmäßigkeit bzw. das ihm Charakteristische selbstbestimmt, das heißt eigentlich von äußeren Einflüssen in diesem Sinne unabhängig ist.« 9 Ein autonomes biologisches System besteht dann, wenn es zwar auf den Stoffaustausch mit der Umwelt angewiesen ist, die Umwelt aber »keinen direkten Einfluss auf die möglichen Langzeitzustände des Systems hat. Autonomie ist in diesem Sinne eng mit Autopoiese verbunden.« 10 Autopoietische biologische Systeme sind durch selektiv-permeable Membranen von der Umwelt abgegrenzt, »wodurch die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Individualität gewonnen wird.« 11 Dieser systemtheoretische Ansatz trifft uneingeschränkt auf den Embryo zu. Von der Zygote an steuert der Embryo seine eigenen Jäger, Systemtheoretische Grundbegriffe, 27. Ebd., 29. 9 Ebd., 29. 10 Ebd., 30. 11 Ebd., 31. Das Vermögen der Selbstorganisation wird im Kapitel »Evolution« ausführlich beschrieben. 7 8
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Individuum und Person
Lebensfunktionen autopoietisch und erweist sich als ein einheitliches, sich selbst organisierendes System. Dieses System sendet Signale an den mütterlichen Organismus, welche den Dialog zwischen Embryo und Mutter einleiten und zur Feinabstimmung des embryonalen und des mütterlichen Systems beitragen. Der embryo-maternale Dialog beginnt schon in der Präimplantationszeit. 12 In der letzten Zeit war immer häufiger zu beobachten, dass dieser einheitliche, sich selbst organisierende Organismus von einigen Wissenschaftlern und zunehmend auch von Politikern als »Zellhaufen« bezeichnet wird. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass es sich um ein unorganisiertes Gebilde handelt. Diese Deutung wird anscheinend durch mikroskopische Aufnahmen unterstützt, die den Embryo im Blastomerenstadium als Aggregat von Zellen zeigen. In Wirklichkeit hat man aber für diese mikroskopische Darstellung die Zona pellucida, den Garanten der Einheit des Embryos, entfernt und somit künstlich einen Zellhaufen erzeugt. Der Beschreibung des Embryos als Zellhaufen steht der Befund entgegen, dass bereits im Blastomerenstadium die Zellen beginnen, sich zu spezialisieren und die Aufgaben untereinander aufzuteilen. Das ist experimentell mehrfach gezeigt worden. 13 Während die Entfernung der Zona pellucida experimentell zu einem »Zellhaufen« führt, werden mit dem kürzlich von Johannes Seidel eingeführten Konstrukt »humanbiologisches Keimmaterial« 14 der menschliche Embryo und alle nachfolgenden Entwicklungsstadien des Menschen begrifflich ihrer lebendigen Form beraubt und zu Material reduziert. Seidel benutzt dieses Konstrukt als zentralen Begriff für seine ganze Abhandlung. »Humanbiologisches KeimmateriSchon lange vor der Implantation entscheidet dieser Dialog über das Gelingen der Schwangerschaft. Drei Signale seien besonders hervorgehoben: das humane Choriongonadotropin (human chorionic gonadotropin, HCG), der frühe Schwangerschaftsfaktor (early pregnancy factor, EPF) und der Blutplättchen-aktivierende Faktor (platelet activating factor, PAF). Für weitere Informationen über die Rolle dieser Faktoren siehe Rager, Biologische Entwicklung. Zum embryo-maternalen Dialog siehe Beier, Entwicklungsbiologie. 13 Das geht aus den Befunden von Antczak und Van Blerkom hervor (Antczak / Van Blerkom, Oocyte). Die Autoren zeigen mit Immunfluoreszenzanalyse und mit konfokaler Laser-Scanning-Mikroskopie, dass die regulatorischen Proteine STAT3 und Leptin bereits nach den ersten Zellteilungen polar verteilt sind. Dieser Befund weist darauf hin, dass die einzelnen Zellen im Blastomerenstadium bereits beginnen, sich im Dienste des Systems als Ganzem auf bestimmte Funktionen zu spezialisieren. 14 Seidel, Mensch, 17 und passim. 12
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Person und Bewusstsein
al« soll als »Oberbegriff für sämtliche vor-adulte ontogenetische Zustände gelten« 15, nämlich für »Embryonen, Föten, Neugeborene, Kinder« und »Adoleszente«. Dieses Konstrukt befindet sich im Gegensatz zu den international anerkannten und wohl definierten Begriffen für die Embryonalstadien. 16 Es gibt keinen Grund, Embryonen nicht Embryonen, Kinder nicht Kinder und Jugendliche nicht Jugendliche sein zu lassen. Der Begriff »humanbiologisches Keimmaterial« ist weder aus biologischer, noch aus philosophischer oder theologischer Sicht zu rechtfertigen. Kontinuität und diachrone Identität Embryologen und Molekularbiologen stimmen darin überein, dass die Entwicklung des Embryos von der Fertilisation an kontinuierlich verläuft. Weder auf den verschiedenen morphologischen Beobachtungsebenen noch in molekularbiologischer Sicht lassen sich Sprünge oder Zäsuren in der Entwicklung feststellen. Jeder Entwicklungsschritt folgt kontinuierlich aus dem vorausgegangenen Zustand. Diese Entwicklung erfolgt entsprechend der Anlage des Embryos. Der Embryo ist von sich aus in der Lage, zu einem erwachsenen Menschen heranzureifen. Zwar ist er angewiesen auf geeignete Umgebungsbedingungen wie die richtige Nahrung und eine angemessene Behausung. Diese sind für die Entwicklung des Embryos – wie auch für uns Erwachsene – zwar notwendig, sie sind aber nicht konstitutiv. Der Embryo besitzt die aktive Potentialität zu seiner weiteren Entwicklung. Er wird sie aus sich vorantreiben und ist dabei nicht auf etwas Anderes angewiesen. Während er sich entwickelt, bleibt er mit sich identisch, obwohl sein Aussehen sich ändert. Das ist es, was der Begriff diachrone Identität meint. 17 Menschliches Nervensystem Der Embryo, von dem hier die Rede ist, ist ein menschlicher Embryo, ausgestattet mit einem menschlichen Genom. 18 Diese Ausstattung
Ebd., 17, Fußnote 18. O’Rahilly / Müller, Stages; O’Rahilly / Müller, Embryology. 17 Zur diachronen und personalen Identität siehe Runggaldier, Handlungen, 188–196; Runggaldier, Fortdauer; Runggaldier, Grunderfahrungen. 18 Rager, Biologische Entwicklung, 103–104. 15 16
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Individuum und Person
befähigt ihn, im Laufe seiner Entwicklung ein menschliches Nervensystem hervorzubringen. Dieses Nervensystem ist eine notwendige Voraussetzung für die Entfaltung geistiger Akte und für die Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt. Die Fähigkeit, ein menschliches Nervensystem zu entwickeln, gehört zur Natur des Menschen. Das Nervensystem übernimmt mit der Zeit immer mehr Steuerungsfunktionen für das Individuum. Das bedeutet aber nicht, dass damit die Individualität auf das Nervensystem eingeschränkt wird. Das Nervensystem ist zwar ein notwendiges und zentrales Element in dem sich selbst organisierenden System, aber es ist nicht das Ganze des Systems. Viele Teilsysteme wie die genetische Steuerung, der Blutkreislauf, die hormonelle Steuerung und das Immunsystem, um nur einige Beispiele zu nennen, wirken hier zusammen. Auf welche Weise sie die Einheit und Selbständigkeit des Individuums bewirken, entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Das Individuum kann ab einem bestimmten Entwicklungsstand nicht mehr ohne das Nervensystem leben. Dennoch ist das Nervensystem für sich allein funktionslos. Es ist angewiesen auf die ständige Interaktion mit dem übrigen Körper und auf den Austausch mit der Umwelt über den Körper und die Sinnesorgane. Das Individuum lebt nur im Zusammenspiel von Nervensystem und Körper mit seinen vielfältigen Funktionen.
2.1.2 Der Embryo als Person Die Analyse des biologischen Status hat ergeben, dass der menschliche Embryo alle Bedingungen erfüllt, um als ein Individuum im biologischen Sinn angesehen zu werden. Welche Relevanz hat dieser Befund für die philosophische Frage, ob der Embryo schon Person ist? Die klassische Definition der Person stammt von dem antiken Philosophen Boethius. Sie lautet: »Person ist die individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur.« 19 Es ist nun erstens zu klären, ob das biologische Individuum ontologisch als eine individuelle Sub»Reperta personae est definitio: ›naturae rationabilis individua substantia‹.« Gegen Eutyches und Nestorius III in Boethius. Heute versteht man unter Substanz häufig ein bestimmtes Material. So fügt man z. B. in der Chemie verschiedene Substanzen zusammen, um eine bestimmte Reaktion zu erzielen. In der Philosophie meint Substanz jedoch eine Entität, die über die Zeit hinweg trotz aller Veränderungen mit sich selbst identisch bleibt.
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Person und Bewusstsein
stanz angesehen werden muss, und zweitens, ob dieses Individuum vernunftbegabt ist. Zur Beantwortung der Frage, ob das biologische Individuum ontologisch eine individuelle Substanz ist, greifen wir zunächst auf die Substanzontologie von Aristoteles zurück. In der Auslegung von Smith und Brogaard sind »organische Individuen Kontinuanten, also dreidimensionale, räumlich ausgedehnte Entitäten, die in toto existieren, wenn sie überhaupt existieren.« 20 »Jedes menschliche Wesen … ist deshalb eine Substanz im aristotelischen Sinn, was bedeutet, dass es unter normalen Umständen folgende … Bedingungen erfüllt«. Es ist ein »Träger von Veränderungen« (Bedingung 1). Es kann »nicht zugleich weiterexistieren und eine andere Substanz werden« (Bedingung 2). Es ist »räumlich ausgedehnt« und hat »seine eigene vollständige, zusammenhängende äußere Grenze«. Diese Grenze wird von einer Hülle gebildet, welche die Entität von äußeren Einflüssen abschirmt (Bedingungen 3, 4, 7, 9). Zu ergänzen wäre diese Bedingung durch die Feststellung, dass die Hülle nicht nur abschirmt, sondern auch die Kommunikation mit der Außenwelt ermöglicht. »Jede Substanz ist in dem Sinne zusammenhängend, dass ihre Teile nicht durch räumliche Lücken voneinander getrennt sind« 21, wie dies bei einem Zellhaufen der Fall wäre (Bedingung 5). »Jede Substanz ist eine unabhängige Entität in dem Sinn, dass sie zu ihrer Existenz keiner anderen Entität bedarf« 22 (Bedingung 6). Die Entität regelt ihr eigenes inneres Milieu und »verfügt zudem über Mechanismen, die im Falle einer Verletzung ihre äußere (…) Hülle wieder aufbauen oder ersetzen« 23 (Bedingungen 8, 10). Wir haben zuvor gesehen, dass der Embryo von der Fertilisation an diese Bedingungen erfüllt. Er ist eine Einheit in Raum und Zeit. Diese Einheit ist von einer schützenden Hülle umgeben, zuerst von der Zona pellucida, danach vom Trophoblasten. Als individuelle Einheit ist er ein System, das sich schon in seinem Anfang auf seine Endgestalt hin organisiert. Bereits als Zygote enthält er in sich der Möglichkeit nach schon seine Endgestalt als erwachsener Mensch. Trotz der Veränderungen, die im Laufe der Entwicklung auftreten, bleibt der Embryo mit sich diachron identisch. Er ist deshalb bio20 21 22 23
Smith / Brogaard, Days, 47. Ebd., Days, 47. Ebd., Days, 48. Ebd., Days, 50.
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Individuum und Person
logisch als Individuum und ontologisch als eine individuelle Substanz anzusehen. 24 Es ist das Wesen des Menschen, von rationaler Natur zu sein. Dieses Wesen kann auch ausgesagt werden als die Form (morphe) oder Seele (psyche). Die Seele wird verstanden als die erste Entelechie (entelecheia), welche einem organischen Körper Form und Vollendung verleiht. 25 Gemäß Aristoteles und vielen anderen Philosophen sind natürliche Seiende bestimmt durch grundlegende Eigenschaften wie Potentialität (dynamis) und Aktualität (energeia). Potentialität bedeutet nicht einfach eine reine Möglichkeit, sondern ein aktives Vermögen, sich in seine Aktualität zu entwickeln. Sie ist auf die Realisierung ihres Endzustands ausgerichtet. 26 Dieses Konzept wurde von Thomas von Aquin systematisch weiter entwickelt. Thomas unterscheidet eine aktive und eine passive Potentialität (potentia activa, potentia passiva). Ein Seiendes hat dann eine aktive Potentialität, wenn es fähig ist, aus sich selbst heraus diese Möglichkeit zu verwirklichen (capacitas ad actum producendum). Der Mensch ist dadurch charakterisiert, dass er rational ist. Das biologische Korrelat der Rationalität ist das Nervensystem. Da der menschliche Embryo die aktive Potentialität hat, ein menschliches Nervensystem zu entwickeln, hat er eine rationale Natur. Daraus ergibt sich, dass die philosophische Reflexion über biologische Sachverhalte zu der Schlussfolgerung berechtigt: Der menschliche Embryo ist bereits eine individuelle Substanz einer rationalen Natur und deshalb eine Person entsprechend der Definition von Boethius. Andere Meinungen Gegenwärtig gibt es neben der hier begründeten Auffassung über den Beginn des menschlichen Daseins hauptsächlich zwei andere MeiSmith und Brogaard kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Zygote eigentlich die von ihnen formulierten 10 Bedingungen erfüllt, die sie als individuellen Menschen ausweisen. Aus der Tatsache, dass sich die Zygote bald nach ihrer Entstehung teilt, schließen sie aber, die Zygote könne nicht transtemporal mit dem menschlichen Individuum nach der Geburt identisch sein. Dies ist jedoch eine unzutreffende Deutung des biologischen Sachverhalts. Zur Zygote gehört auch die Zona pellucida. Beide zusammen bilden erst das einheitliche, individuelle System Zygote. Zur genaueren Diskussion dieses Problems siehe Rager, Kritik. 25 Aristoteles, De anima, II 412 a 27–28. 26 Aristoteles, Metaphysik, IX Kapitel 6–9. 24
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Person und Bewusstsein
nungen. Die erste können wir als normative Festsetzung eines bestimmten Termins der Menschwerdung, die zweite als Gradualismus bezeichnen. Das »normative« Verfahren setzt fest, dass der Embryo nicht schon auf Grund seiner bloßen Existenz ein menschliches Wesen sei, sondern erst dann, wenn er von anderen Menschen als solches anerkannt wird. 27 Es definiert, wann der Embryo als ein menschliches Individuum mit dem vollen Recht auf Leben zu gelten hat. Da die Gründe für eine normative Setzung variieren, variiert entsprechend auch der Zeitpunkt, ab dem der Embryo als ein menschliches Wesen betrachtet wird. Aus der Vielzahl der normativ festgesetzten Zeitpunkte wähle ich nur einen aus, weil er heute besonders häufig ins Gespräch gebracht wird, nämlich die Einnistung in den Uterus. Verschiedene Argumente werden dafür ins Feld geführt. Ab diesem Zeitpunkt werde der Embryo von der Mutter angenommen. Der Uterus sei notwendig für die Vervollständigung des Entwicklungsprogramms des Embryos 28 und für die Ausbildung der Körperachsen. 29 Doch keines dieser Argumente ist stichhaltig. Für die Annahme des Kindes könnte man mit gleichem Recht auch den Akt der Zeugung nennen. Für die Behauptung, dass der Uterus notwendig sei für die Vervollständigung des Entwicklungsprogramms des Embryos, gibt es keinen Beweis. Die Behauptung, der Uterus sei notwendig für die Ausbildung der Körperachsen, ist embryologisch falsch. 30 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass zugunsten des Einnistungstermins die früher stark propagierte Meinung, das individuelle menschliche Leben beginne erst mit dem 14. Tag, d. h. der Ausbildung des Primitivstreifens, stark in den Hintergrund gedrängt wurde. Zeitgleich mit dem aufkommenden Interesse an den embryonalen Stammzellen wird jetzt gesagt, der Embryo sei in der zweiten Entwicklungswoche schon zu weit differenziert, als dass man ihn noch für die Stammzellforschung verwenden dürfte. 31 Tatsächlich ist
Fischer, Status. Nüsslein-Volhard, Tier; Nüsslein-Volhard, Werden. 29 Kummer, Biomedizinkonvention. 30 Nach Einsicht in den embryologischen Sachverhalt (Gespräch mit Embryologen) hat Kummer seine Behauptung wieder zurückgezogen. Kummer, Stammzellkulturen; Rager, Biologische Entwicklung. 31 Nationale Ethikkommission, Forschung. 27 28
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Individuum und Person
für die Entnahme embryonaler Stammzellen nur die erste Entwicklungswoche relevant. Das »normative« Verfahren setzt einen Zeitpunkt in der Entwicklung fest, ab welchem der Embryo als individueller Mensch oder Person zu gelten hat und als solcher den Schutz seines Lebens beansprucht. Dieser Zeitpunkt ist gleichsam als Sprung vom NichtMenschen zum Menschen, von einer Sache zu einer Person vorzustellen. Im Gegensatz dazu anerkennt der Gradualismus das Menschsein des Embryos von Anfang an, gewährt ihm aber nicht zugleich die volle Würde und den vollen Anspruch auf den Schutz seines Lebens. Der moralische Status wird an das Entwicklungsstadium des Embryos gekoppelt. Je weiter der Embryo entwickelt ist, desto mehr Schutz kann er beanspruchen. 32 Uneinigkeit besteht jedoch hinsichtlich der Frage, ab wann ein Embryo oder Fetus den vollen moralischen Status, die volle Schutzwürdigkeit genießt. 33 Die gradualistische Position steht vor denselben Schwierigkeiten der Grenzziehung, wie wir sie beim »normativen« Verfahren kennengelernt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass der Gradualismus und das Respektmodell nicht erklären, was eine zunehmende Würde und ein entsprechend progressiver Lebensschutz überhaupt sein soll und wie diese bestimmt werden können. Gesetzt den Fall, man könnte Würde und Lebensrecht graduell angeben, wie viel Würde hätte dann der Embryo in den einzelnen Stadien seiner Entwicklung (Carnegie Stadien 1 bis 23 in der Embryonalzeit oder Wochen in der Fetalzeit)? Welche Kriterien sollen für diese Bestimmung gelten? Was folgt daraus für den Lebensschutz? Wie kann Willkür ausgeschlossen werden? Weitere wichtige Unterscheidungen sind hier nötig. Einem Embryo alle Rechte, die von den Vereinten Nationen definiert sind, wie etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung oder auf Bildung zuzusprechen, ist wenig sinnvoll, solange er nicht die entsprechenden Fähigkeiten besitzt, um diese Rechte auch in Anspruch zu nehmen. Das Recht auf Leben ist aber auch für den Embryo grundlegend, unteilbar und nicht verhandelbar, weil das Leben die conditio sine qua non seiner weiteren Entwicklung ist. 34 Diese Entwicklung treibt der Embryo aus eigener Kraft voran. In dieser Entwicklung entfaltet er seine Möglichkeiten und setzt sie in aktuelle Fähigkeiten um. 32 33 34
Nationale Ethikkommission, Forschung. Kollek, Präimplantationsdiagnostik. Holderegger, Stammzellforschung.
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Person und Bewusstsein
Der Gradualismus leidet vor allem unter einer verhängnisvollen Verwechslung, nämlich die Verwechslung der Entwicklung von Eigenschaften und der Entwicklung der Person. Dass der heranwachsende Mensch seine Eigenschaften und Fähigkeiten entwickelt, ist klar. Wir sehen das an der Körperform, der Größe, der Sinneswahrnehmung, dem Bewusstsein und Vielem anderem mehr. Das bedeutet aber nicht, dass sich auch die Person entwickelt. Die Eigenschaften einer Person können sich nur entwickeln, wenn die Person schon existiert, zu der die Eigenschaften gehören. Am Ende dieses Abschnitts halten wir also fest, dass der Embryo von der Fertilisation an ein Individuum mit einer rationalen Natur ist und deshalb als Person zu gelten hat. 35
2.1.3 Person als sittliches Subjekt Wir sind vom biologischen Individuum ausgegangen und haben gesehen, dass dieses Individuum ontologisch als eine Substanz zu verstehen ist. Da das menschliche Individuum eine Substanz mit einer rationalen Natur ist, erfüllt es die Bedingungen des Personseins. Im Gegensatz zu diesem ontologischen Zugang bevorzugt die Philosophie der Neuzeit den praktischen Weg vom sittlichen Subjekt zur Person. Immanuel Kant bezieht den Personbegriff aus dem Recht. Person ist für Kant »dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen […], woraus dann folgt, dass eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie […] sich selbst gibt, unterworfen ist.« 36 Freiheit ist aber für Kant kein Gegenstand möglicher Erfahrung, so-
Dieser Sachverhalt ist jetzt auch von der Rechtsprechung anerkannt. In seinem Urteil vom 18. Oktober 2011 (Rechtssache: C-34/10) stellt der Europäische Gerichtshof (Große Kammer) fest: »Jede menschliche Eizelle vom Stadium der Befruchtung an … ist ein ›menschlicher Embryo‹«. Daraus folgt, dass Eingriffe in das Lebensrecht dieses Embryos gegen den Schutz der Menschenwürde verstoßen. Auf Grund dieses Urteils sind weder normative noch gradualistische Positionen juristisch haltbar, die den Beginn des Menschseins und damit des Rechts auf Schutz des Lebens auf einen späteren Zeitpunkt der Entwicklung als den der Befruchtung festlegen wollen. 36 Kant, Metaphysik der Sitten, AB 22. 35
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Individuum und Person
mit auch nicht ein Objekt der theoretischen Vernunft. Wir werden der Freiheit nur gewärtig als Subjekte, und zwar in praktischer Perspektive. In dieser Perspektive weiß jeder Mensch, dass er unter einem Anspruch des Sollens steht. Nach Kant zeigt aber die Erfahrung des Sollensanspruchs, dass der Mensch frei ist; sonst könnte er das Sollen nicht als Sollen verstehen. 37 »Freiheit ist für Kant nur Freiheit, wenn sie als eine ursprüngliche Selbstbestimmung des Willens gedacht wird, als die Fähigkeit, von sich selbst her einen Anfang zu setzen. Selbstbestimmung des Willens aber bedeutet, sich von nichts anderem als […] von der Vernunft bestimmen zu lassen.« 38 Da das Subjekt seinen Willen für das sittlich Gute selbst bestimmt, wird es zum sittlichen Subjekt. Das sittliche Subjektsein und seine zum Guten realisierte Freiheit stellt aber nicht mehr einen Zweck dar, der für andere Zwecke verfolgt wird, sondern ist Zweck an sich selbst. 39 Wenn aber das sittliche Subjekt Zweck an sich selbst ist, »dann gibt es keinen äquivalenten Wert, gegen den es verrechnet werden könnte«. 40 Diese Selbstzwecklichkeit des sittlichen Subjekts hat keinen Preis, »sondern einen inneren Wert, d. i. Würde«. 41 Das sittliche Subjektsein verleiht also dem Menschen Würde und macht ihn zur Person. Aus dieser Herleitung des Würdebegriffs wird klar, dass dem Menschen Würde und Personalität nicht einfach deshalb zukommen, weil er der biologischen Spezies Homo sapiens angehört, sondern weil er sittliches Subjekt ist. Nun aber ist das leibliche Leben Bedingung dafür, sittliches Subjekt zu sein. Deshalb gehören schon bei Kant Persönlichkeit und menschliche Natur, homo noumenon und homo phaenomenon, untrennbar zusammen. 42 Peter Singer akzeptiert in seinem Präferenzutilitarismus zwar grundsätzlich den Zusammenhang von Person und Menschsein, schränkt aber die Zuschreibung von Würde auf den Zustand ein, in welchem der Mensch aktuell im Besitz seiner geistigen und sittlichen Fähigkeiten ist. Bewusstlose, Imbezile und Embryonen sind deshalb keine Personen. »Das Leben eines Neugeborenen hat also weniger
37 38 39 40 41 42
Siehe auch das Kapitel »Freiheit der Person«. Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 351. Kant, GMS, B69. Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 352. Kant, GMS, 77. Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 374.
33 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Person und Bewusstsein
Wert als das Leben eines Schweines, eines Hundes oder eines Schimpansen.« 43 In der Ereignisontologie 44 von Derek Parfit 45 ist zwar auch die Rede von diachroner Identität der Person. Diese Identität wird aber nicht gewährleistet durch das Menschsein, sondern ist lediglich eine Einheit von Ereignissen oder Personphasen, die vor allem durch die Erinnerung in eine Beziehung der Kontinuität konstituiert wird. Daraus ergibt sich ein reduktionistisches Personverständnis. Gegen die Weltbeschreibung dieser Ereignisontologie ist einzuwenden, dass sie »nicht mit derjenigen vereinbar ist, die wir in unserem natürlichen lebensweltlichen Sprechen verwenden. Trifft nämlich die Analyse Saul A. Kripkes 46 und Hilary Putnams 47 zu, dass wir Eigennamen und Begriffe natürlicher Arten nur mit starrer Referenz verwenden, dann müssen wir bei Personen und Arten so etwas wie Entitäten annehmen, die fortdauern, auch wenn etliche ihrer Eigenschaften mit der Zeit wechseln.« 48 Personen sind also Kontinuanten, weil wir mit sprachlichen Ausdrücken auf sie Bezug nehmen, die wie Eigennamen eine starre Referenz besitzen. Peter F. Strawson hat überdies gezeigt, dass Personen auch die Eigenschaft haben, dass von demselben Individuum zugleich P(erson)-Prädikate und M(aterie)-Prädikate ausgesagt werden. P-Prädikate sind Zuschreibungen von Handlungen und anderen mentalen Eigenschaften, M-Prädikate sind Zuschreibungen von körperlichen Eigenschaften. Daher ist Person für Strawson ein »ursprünglicher« Begriff, der nicht durch die Kombination noch ursprünglicherer Begriffe wie Bewusstsein oder Körper definiert werden kann. 49 Person ist eine fortdauernde Entität, eine ursprüngliche, individuelle und untrennbare Einheit aus Leib und Ich. Ihr sind zugleich Singer, Ethik, 219. In der Ereignisontologie lassen sich Dinge auf Ereignisse zurückführen, »die ihrerseits als die zeitlichen Wege von Weltpunkten interpretiert werden können, wobei es von unserem jeweiligen praktischen Interesse abhängt, wie wir diese zeitlichen Einheiten bilden«. Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 385. 45 Parfit, Persons. 46 Kripke, Name. 47 Putnam, Bedeutung. 48 Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 386. Siehe auch die Arbeiten von Runggaldier zur diachronen Identität: Runggaldier, Handlungen, 188–196; Runggaldier, Fortdauer; Runggaldier, Grunderfahrungen. 49 Strawson, Individuals. 43 44
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Individuum und Person
personale und materielle Prädikate zuschreibbar. Weil die Person ein sittliches Subjekt ist und als solches in Freiheit sich selbst Zwecke setzen kann, kann sie nicht anderen Zwecken untergeordnet werden, sondern ist Selbstzweck. Als solcher kommt ihr Würde zu. Ausgehend von diesen Überlegungen stellt sich nun die Frage, wann das Personsein beginnt. Zunächst ist gegen den Standpunkt von Peter Singer, Personsein sei nur solchen Menschen zuzusprechen, die aktuell im Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten sind, zu argumentieren. Schlafende oder momentan bewusstlose Menschen sind fähig, wieder in den Wachzustand zurückzukehren und ihre Interessen wahrzunehmen, weil wir Menschen nicht aus Phasen bestehen, die nachträglich über Erinnerungen zusammengefügt werden müssen, sondern als Kontinuanten weiterleben, auch wenn der Bewusstseinszustand sich von Zeit zu Zeit ändert. Es handelt sich um verschiedene Bewusstseinszustände derselben Person. Das gilt auch für Neugeborene, weil sie schon die Möglichkeit in sich tragen, den Bewusstseinszustand von Erwachsenen zu entwickeln. Wie aber ist es mit dem Embryo? Ist er auch schon Person und, wenn ja, wann beginnt sein Personsein? 50 Wir halten nochmals fest, dass das sittliche Subjekt und das leibhafte Individuum identisch sind. Das sittliche Subjekt vermag selbst gewählte Zwecke zu setzen und ist als solches ein seiner selbst bewusster Selbstzweck. Deshalb ist es der Grund für die Zuschreibung des Personseins. Die Tatsache, dass dieses sittliche Subjekt zugleich als leibliches Individuum, als Mensch, existiert, liefert das Kriterium für die Zuschreibung der Personalität. 51 Ohne die Realisierung im leiblichen Dasein eines Menschen könnte das sittliche Subjekt nicht existieren. Deshalb ist das Menschsein Bedingung der Möglichkeit des Personseins. Das Menschsein beginnt aber nicht erst bei der Geburt, sondern lässt sich in die pränatale Lebensphase zurückverfolgen bis hin zu seinem Anfang als Zygote. Dass das Menschsein mit der Fertilisation beginnt und die Zygote sein erstes Entwicklungsstadium ist, haben wir verschiedentlich dargelegt. 52 Schon die Zygote ist ein dynamisches, sich selbst organisierendes System, das sich kontinuierlich weiterentwickelt und differenziert. In dieser Entwicklung gibt es keine moralisch relevanten Rager, Preimplantation; Rager, Individuum. Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 395–396. 52 Rager, Biologische Entwicklung; Baumgartner et al., Philosophische Aspekte; Schockenhoff, Theologische Perspektiven. 50 51
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Person und Bewusstsein
Zäsuren. Selbst die heute viel diskutierte Nidation (Einnistung des Embryos in den Uterus) ist zwar eine notwendige Entwicklungsbedingung wie viele andere Vorgänge auch; sie ist aber nicht hinreichend für das Entstehen der Person. Die Bildung des Primitivstreifens, mit der die Möglichkeit der Bildung von monozygoten Zwillingen endet, kann ebenfalls nicht den Anfang des Personseins begründen. Der Embryo war bereits vor der Entstehung von Zwillingen ein sich selbst organisierendes Individuum. Zweifellos bereitet die Entstehung von Zwillingen Schwierigkeiten, aber es gibt systemtheoretische Modelle, welche die Zwillingsbildung verständlich machen, ohne dass die schon vorher bestehende Individualität aufgelöst werden müsste. 53 Die Totipotenz der einzelnen Zellen im Blastomerenstadium ist ebenfalls nicht so zu verstehen, als befänden sich mehrere Individuen im Raum der Zona pellucida. Die Totipotenz dieser Zellen ist lediglich virtueller Natur. Erst wenn eine der totipotenten Zellen durch einen experimentellen Eingriff oder durch uns noch unbekannte Entwicklungsprozesse aus dem Verband herausgelöst wird, entsteht ein neues Individuum. Der mit sich diachron identisch bleibende Embryo hat die aktive Potenz, sich kontinuierlich zum neugeborenen und erwachsenen Menschen zu entwickeln und dabei jene Eigenschaften hervorzubringen, die den erwachsenen Menschen auszeichnen. Für diesen Entwicklungsprozess ist er zwar auf die geeigneten Umgebungsbedingungen angewiesen; diese sind aber nicht konstitutiv für seinen Werdegang als menschliches Individuum. Da weder die Geburt noch ein anderes pränatales Ereignis einen qualitativen Sprung für die Entwicklung des Menschen bedeuten, wird verständlich, »dass die Kontinuität der eigenen Identität jeweils zurück projiziert wird bis zu dem Zeitpunkt, da tatsächlich ein qualitativer Sprung, der gleichzeitig Ursprung der eigenen Existenz ist, unterstellt werden muss.« 54 Dieser qualitative Sprung ereignet sich in der Fertilisation. In diesem ersten Teil sind wir zuerst den Weg der theoretischen Reflexion gegangen und haben dargelegt, dass der Mensch von der Zygote bis zum Erwachsenen ein biologisches Individuum mit einem menschlichen Nervensystem ist, dem ontologisch Personsein zukommt. Die praktische Reflexion zeigt im Anschluss an die PhilosoJäger, Systemtheoretische Grundbegriffe; Rager, Biologische Entwicklung; Baumgartner et al., Philosophische Aspekte. 54 Baumgartner et al., Philosophische Aspekte, 420–421. 53
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Bewusstsein, Selbst und Geist
phie der Neuzeit, dass der Mensch ein sittliches Subjekt ist, das sich in Freiheit selbst die Zwecke setzen kann, weshalb ihm Personsein zugeschrieben wird. Diese Person ist anhand ihrer Leiblichkeit auch erkennbar. Als leibliches Wesen findet die Person ihren Anfang in der Fertilisation. Von dort ausgehend entfaltet sie Zug um Zug ihre geistigen Fähigkeiten. Die theoretische und die praktische Reflexion ergänzen sich gegenseitig und führen gemeinsam zu dem Resultat, dass wir Menschen von der Zygote an Personen sind und uns deshalb Würde zukommt.
2.2 Bewusstsein, Selbst und Geist Personen, die aktuell im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, haben Bewusstsein und können zu sich Ich sagen. Mit beiden, Bewusstsein und Ich, beschäftigen sich gegenwärtig nicht mehr nur Philosophie, Psychologie und Verhaltensforschung, sondern auch die Neurowissenschaften. Wir werden deshalb zuerst einige Begriffe klären und dann nach neuronalen Korrelaten fragen, wie sie sich heute in den Neurowissenschaften abzeichnen. Sodann bleibt zu fragen, ob neuronale Korrelate Bewusstsein erklären.
2.2.1 Was ist Bewusstsein? William James antwortet auf die Frage »Was ist Bewusstsein?« in seinem Buch »Principles of psychology«: »Wir wissen, was Bewusstsein ist, solange uns niemand bittet, es zu definieren.« 55 David Chalmers 56 sieht keine Möglichkeit der Definition des Bewusstseins. Allenfalls kann man mit Umschreibungen wie Erfahrung oder Erleben zur Klärung beitragen. Obwohl eine Definition des Bewusstseins nicht möglich ist, können wir aber wichtige Eigenschaften des Bewusstseins beschreiben. Wie der lateinische Begriff »con-scientia« [engl. consciousness, franz. conscience] bereits ausdrückt, ist Bewusstsein ein begleitendes Wissen. Es weiß um die eigenen Befindlichkeiten und Tätigkeiten. Dadurch werden diese zu Erlebnissen. Das begleitende Bewusstsein wird zum reflexen Bewusstsein, wenn es 55 56
James, Principles, 225. Chalmers, Mind.
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Person und Bewusstsein
sich auf die erlebten Vorgänge und Zustände richtet (Akt-Bewusstsein), die Objekt-Gerichtetheit der Akte betrachtet (Objektbewusstsein) und das eigene Ich als den Träger der Erlebnisse (Subjekt-Bewusstsein, Ich-Bewusstsein, Selbst-Bewusstsein) anzielt. 57 Kant unterscheidet ein empirisches und ein transzendentales Bewusstsein. Das empirische Bewusstsein reflektiert auf unsere Vorstellungen und macht sie so bewusst. Es kann verschiedene Grade der Klarheit haben. 58 »Alle Vorstellungen haben eine notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewusstsein: denn hätten sie dies nicht, und wäre es gänzlich unmöglich, sich ihrer bewusst zu werden: so würde das so viel sagen, sie existierten gar nicht. Alles empirische Bewusstsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorhergehendes) Bewusstsein, nämlich das Bewusstsein meiner selbst, als die ursprüngliche Apperzeption.« 59 In der zweiten Auflage (B) der Kritik der reinen Vernunft wird der Begriff »transzendentales Bewusstsein« ersetzt durch die »transzendentale Einheit der Apperzeption« oder das »Selbstbewusstsein«. Das transzendentale Bewusstsein geht aller Erfahrung voraus; es ist die oberste einheitstiftende Instanz des empirischen Bewusstseins. Im Gegensatz zu späteren Philosophen darf das transzendentale Bewusstsein nicht als eine überindividuelle metaphysische Realität aufgefasst werden. Es ist immer das Selbstbewusstsein einer bestimmten Person. In der Philosophie der Gegenwart, insbesondere in der analytischen Philosophie des Geistes (philosophy of the mind) wird der phänomenale Charakter des Bewusstseins hervorgehoben und vom psychologischen Bewusstsein unterschieden. 60 Mentale Zustände gelten dann als bewusst, wenn sie Erfahrungsqualitäten haben, welche auch als phänomenale Qualitäten oder Qualia bezeichnet werden. Dementsprechend wird ein Bewusstsein, welches durch subjektive Erfahrung gekennzeichnet ist, phänomenales Bewusstsein genannt. Nach Thomas Nagel 61 können wir uns dem Phänomen Bewusstsein nur nähern, indem wir es umschreiben oder bewusste Wesen beschreiben, wie er es in seinem berühmten Aufsatz »Wie ist es, eine Fledermaus
57 58 59 60 61
Siehe Willwoll, Bewusstsein. Kant, KrV B 415 Anm. Kant, KrV A 117. Chalmers, Mind, 25–31. Nagel, Bat.
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Bewusstsein, Selbst und Geist
zu sein?« versucht hat. Die Frage nach dem Bewusstsein ist für ihn zugleich die Frage nach dem subjektiven Charakter der bewussten Erfahrung. Wenn Bewusstsein als ein mentaler Zustand beschrieben wird, dann stellt sich natürlich die Frage, was man unter »Mind«, zu Deutsch »Geist« verstehen soll. Auch dafür gibt es keine Definition, sondern nur Beschreibungen von mentalen Zuständen und Akten. Es gibt verschiedene Listen von solchen Zuständen und Akten, die man als mental bezeichnen könnte, von denen aber keine allgemein akzeptiert ist. Nach Beckermann könnte man sich auf »zwei Haupttypen von mentalen Zuständen« einigen, nämlich »Empfindungen und intentionale Zustände«. »Alle Empfindungen sind … durch ihren qualitativen Charakter definiert, durch das, was man erlebt oder fühlt, wenn man eine Empfindung hat, die Art, wie es ist, eine solche Empfindung zu haben.« 62 Der zweite Haupttyp sind »intentionale Zustände wie Überzeugungen, Wünsche, Befürchtungen und Erwartungen«. Sie sind intentional, »weil sie auf etwas gerichtet sind«, 63 einen Inhalt haben. Der Begriff »Intentionalität« bedeutet hier nicht »Absicht«, sondern wird im Anschluss an Franz Brentano, der darunter die Gerichtetheit auf ein Objekt verstand, gebraucht. Bewusstsein als mentaler Zustand ist demnach durch Intentionalität charakterisiert. Diese Zustände haben einen phänomenalen Charakter; sie zeichnen sich dadurch aus, »dass man in diesen Zuständen nicht nur ist, sondern dass man sie erlebt.« 64 Weil aber dieses Erleben jeweils mein Erleben ist, kann man auch von subjektiver Erfahrung sprechen. Beispiele dieser Erfahrung sind die oft beschriebenen phänomenalen Qualitäten oder Qualia, wie etwa der Duft einer Rose, der Aufgang der Sonne auf einem Berggipfel oder der Geschmack einer bestimmten Erdbeertorte. Die verschiedenen Umschreibungen zeigen, dass es keine Definition des phänomenalen Bewusstseins gibt, die letztlich nicht zirkulär wäre. 65 Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Wir können Bewusstsein nur vom Bewusstsein her beschreiben. Bewusstsein ist Voraussetzung aller bewussten Akte. Es ist nicht möglich, über das Bewusstsein hinaus oder hinter das Bewusstsein zurückzugehen, weil 62 63 64 65
Beckermann, Philosophie des Geistes, 13. Ebd., 13. Ebd., 384. Ebd., 384.
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Person und Bewusstsein
das Bewusstsein der Grund ist, von dem her wir verstehen. Wie Kant gezeigt hat, setzt das empirische Bewusstsein das transzendentale Bewusstsein voraus. Es kann das transzendentale Bewusstsein nicht selbst in den Blick nehmen. Bewusstsein ist immer zugleich Bewusstsein eines Selbst. Deshalb werden wir bei unserer Anfrage an die Neurowissenschaften neuronale Korrelate zugleich für Bewusstsein und Selbst anzielen.
2.2.2 Neuronale Korrelate Bei der Frage nach den neurowissenschaftlichen Aspekten von Geist, Bewusstsein und Selbst sehen wir ab von den Aussagen der neurophilosophischen Reduktionisten. Wir fragen: Welche neuronalen Korrelate kann man beim heutigen Stand des Wissens für Geist, Bewusstsein und Selbst ausfindig machen? Die Erarbeitung dieser Befunde stützt sich vor allem auf klinische Beobachtungen von psychisch kranken und veränderten Patienten, auf die Pathologie solcher Patienten und auf die modernen bildgebenden Verfahren. Was wir mit neuronalen Korrelaten meinen, wird im Kapitel Freiheit dargelegt. Mind – Geist Geist 66 ist zu unterscheiden von Bewusstsein. Bewusstsein ist zwar nur geistbegabten Wesen möglich, es ist aber eine besondere Fähigkeit des Geistes. Die Begriffe Geist und Bewusstsein sind deshalb nicht identisch. Als elementare geistige Akte verstehen einige Neurowissenschaftler die Kontrolle über eine organisierte Bewegung 67 und »das Fühlen von gerade ablaufenden Lebensereignissen.« 68 Diese Gefühle »sind sehr wahrscheinlich die primordialen Konstituenten des Geistes.« 69 Zugleich sind sie die Grundlage für alle anderen Gefühle. 70 Somit stehen das Fühlen der Zustände des Körpers und die Kontrolle der Bewegungen am Anfang der geistigen Akte. Zu den Die Bedeutung von Geist in der deutschen Sprache entspricht nur teilweise der Bedeutung von »mind«. In diesem Abschnitt wird Geist im Sinne von »mind« gebraucht. 67 Llinás, Vortex, zitiert nach Damasio, Self, 64. 68 Damasio, Self, 75. 69 Ebd., 71. 70 Ebd., 101. 66
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Bewusstsein, Selbst und Geist
elementaren Eigenschaften geistiger Akte gehört auch das intentionale Gerichtetsein auf den Körper 71 und – über die Wahrnehmung durch den Körper – auf die äußere Welt. Welche Hirnstrukturen sind nötig, damit elementare geistige Akte möglich werden? Klinische Befunde und Daten der Forschung deuten darauf hin, dass dafür die Kerne des oberen Hirnstamms unerlässlich sind. Dies wird deutlich am Krankheitsbild der Hydranenzephalie. Kinder mit dieser Erkrankung wurden im Uterus durch einen größeren Gehirnschlag so geschädigt, dass die Großhirnrinde wieder resorbiert und der freiwerdende Raum durch die zerebrospinale Flüssigkeit gefüllt wird. Sie werden ohne Endhirn (Telenzephalon), d. h. ohne Großhirnrinde, Thalamus und Basalganglien geboren. Dennoch sind sie nicht mit Menschen im vegetativen Zustand zu vergleichen. Sie sind wach und zeigen ein einfaches geistiges Verhalten, das man bei Patienten im vegetativen Zustand nicht beobachten kann. 72 Für elementare geistige Prozesse scheint also der Hirnstamm zu genügen. Für höhere geistige Funktionen sind weitere Hirngebiete, insbesondere die Großhirnrinde, nötig. Ein wesentliches Strukturelement im Gehirn, das geistige Aktivitäten ermöglicht, sind die Abbildungen (engl. maps). Abbildungen erster Ordnung sind in der Regel topologisch organisiert. Ein Beispiel solcher Abbildungen ist die Projektion der Ganglienzellen in der Netzhaut des Auges auf das Zwischenhirn und – nach Umschaltung im Zwischenhirn – auf den visuellen Kortex. Bei dieser Abbildung projizieren benachbarte Ganglienzellen relativ genau auf benachbarte Neurone im Zwischenhirn bzw. im visuellen Kortex. Somit bleiben also die Nachbarschaftsverhältnisse im Ursprungs- und im Zielgebiet weitgehend erhalten, aber der Maßstab kann sich – im Gegensatz zu topografischen Karten – ändern. Deshalb spricht man besser von topologischen als von topografischen Abbildungen. 73 Bei Abbildungen höherer Ordnung wird das Organisationsprinzip immer schwerer erkennbar. Im Gehirn und im Rückenmark gibt es zahlreiche Abbildungen dieser Art, welche alle Bereiche miteinander verbinden. Man kann
Damasio nimmt in diesem Zusammenhang ausdrücklich Bezug auf Franz Brentano (Damasio, Self, 90). 72 Zur genaueren Beschreibung siehe Damasio, Self, 80 ff. 73 Zu der Unterscheidung von topografischen und topologischen Abbildungen siehe Rager, Projection. 71
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Person und Bewusstsein
drei große Gruppen von Abbildungen unterscheiden. Der innere Zustand des Körpers, vor allem der Eingeweide, wird über die Interozeptoren wahrgenommen und über interozeptive Abbildungen an das Gehirn gemeldet. Die Position des Körpers und seiner Glieder im Raum und ihr Bewegungszustand wird über die Propriozeptoren erfasst und über propriozeptive Abbildungen dem Gehirn mitgeteilt. Die äußeren Gegenstände der Erfahrung werden mit den Exterozeptoren registriert und als exterozeptive Abbildungen an das Gehirn weitergeleitet. Neben den visuellen können so auch akustische, somatosensorische, gustatorische, olfaktorische und somatosensorische Informationen erfasst werden. Über ein Netz von Abbildungssystemen innerhalb des Gehirns werden diese Informationen miteinander verrechnet. Das Ergebnis dieser Berechnungen und die daraus folgenden Anweisungen gehen wieder über Abbildungen an die Muskulatur und an die inneren Organe. Das Ganze ist ein noch unüberschaubares System von Schleifen, über welche die verschiedenen Bereiche des Gehirns miteinander vernetzt sind. Edelman bezeichnet diese Schleifen als Wiedereintretensschleifen (engl. reentry loops), weil die Hirnregionen höherer Ordnung wieder auf die Regionen niedrigerer Ordnung zurückprojizieren. Wir finden auf fast allen Stufen der Informationsverarbeitung im Gehirn Rückkopplung, welche zugleich eine Wiederaufnahme der Informationsverarbeitung in den niedrigeren Stufen aktiviert, und zwar auf Grund der Ergebnisse, die in den nachgeschalteten Hirnregionen erarbeitet wurden. 74 Der Begriff Abbildung meint zunächst einmal das Bahnsystem, das zwei Hirnregionen miteinander verbindet, wie etwa die Netzhaut mit dem visuellen Kortex. Der Begriff Bild (engl. image) steht für die Information, die auf einer Abbildung übermittelt wird. 75 Bewusstsein Bewusstsein wird als eine besondere Leistung des Geistes verstanden. Auch in der neurobiologischen Literatur ist Bewusstsein nicht einfach ein geistiger Zustand ohne Bezug auf ein Subjekt, sondern »ein Zustand des Geistes, in welchem ein Wissen über die eigene Existenz
Edelman, Present; Edelman / Tononi, Universe. Siehe auch Rager, Korrelate. Damasio, Self, 18, 64–65, 70. Zugleich sollen damit die neuronale (Abbildung, map) und die mentale Beschreibungsebene (Bild, image) unterschieden werden.
74 75
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Bewusstsein, Selbst und Geist
und über die Existenz der Umgebung besteht.« 76 Deshalb sind Bewusstsein und Selbst so eng miteinander verbunden, dass sie sich nur künstlich für die Beschreibung trennen lassen. Auch hier wollen wir zuerst wieder eine phänomenale Beschreibung versuchen, ehe wir nach den für das Bewusstsein notwendigen Hirnstrukturen fragen. Bewusstsein ist für Damasio und für Edelman wesentlich verknüpft mit den internen Abbildungssystemen des Gehirns. Über die inneren und äußeren Sinnesorgane werden der momentane körperliche Zustand (Interozeptoren und Propriozeptoren) und die momentan wahrgenommenen Objekte (Exterozeptoren) in bestimmte Bereiche des Kortex abgebildet. Diese Abbildungen unseres Körperzustands und der Umwelt werden als Abbildungen erster Ordnung bezeichnet. Die Hirnregionen, welche diese Abbildungen aufnehmen, projizieren ihrerseits weiter in andere Hirngebiete als Abbildungen zweiter Ordnung. Die Abbildungen zweiter Ordnung repräsentieren das Verhältnis von Körper und wahrgenommenem Objekt oder, anders ausgedrückt, von der Subjekt-Objekt-Beziehung. Diese Repräsentationen ergeben eine Art »Gefühl« für das eigene Selbst. 77 Das Gefühl für das eigene Selbst und für das Wissen über die uns umgebenden Objekte könnte die elementare Form des Bewusstseins liefern. 78 Das Objekt, welches diesen Prozess auslöst, wird in seinem raum-zeitlichen Kontext hervorgehoben. 79 Durch den Vergleich der intero- und exterozeptiven Signale wird auch die Erfahrung der Umwelt verändert. Die Umwelt ist nicht mehr nur das Medium, in welches das Individuum eingebettet ist; sie wird zu einer Vielzahl von Objekten, die auf das wahrnehmende Individuum wirken, es beeindrucken und verändern. Ebd., 157. Edelman / Tononi schreiben dazu: »Es ist für uns Menschen nahezu unmöglich, zu einem Zustand des Bewusstseins zurückzukehren …, der völlig frei vom Selbst wäre« (24). 77 Damasio, Feeling, 25. 78 Diese elementare Form des Bewusstseins wird von Damasio als Kern-Bewusstsein (core consciousness), von Edelman als primäres Bewusstsein (primary consciousness) bezeichnet. Zum primären Bewusstsein siehe auch Edelman / Tononi, Universe, 102– 110. 79 »Core consciousness occurs when the brain’s representation devices generate an imaged, nonverbal account of how the organism’s own state is affected by the organism’s processing of an object, and when this process enhances the image of the causative object, thus placing it saliently in a spatial and temporal context«. Damasio, Feeling, 169. 76
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Person und Bewusstsein
In der Wahrnehmung der Objekte als Objekte wird das Individuum zum Subjekt. 80 Das Gefühl für das eigene Selbst kennt nicht nur die Grenzen zum Nicht-Selbst auf Grund des Vergleichs von intero- und exterozeptiven Signalen, sondern wird sich dieser Differenz auch bewusst. Dieses elementare Selbst-Bewusstsein ist jedoch nicht von Dauer. »Es wird unablässig neu geschaffen für jedes einzelne und für alle Objekte, mit welchen das Gehirn interagiert.« 81 Ihm fehlt das Gedächtnis und das höhere Bewusstsein 82, mit welchem es die Momente der Gegenwart miteinander verbinden und in die Vergangenheit und Zukunft hinein ausdehnen könnte. Der große Schritt zur Erweiterung des Bewusstseins gelingt uns Menschen im Vergleich zu Tieren, weil wir einerseits über erheblich größere Möglichkeiten der Gedächtnisbildung verfügen, andererseits nicht mehr so eng an die im Gehirn erzeugten Bilder gebunden sind, sondern über die Sprache zu einer symbolischen Kategorienbildung, zu Begriffen kommen. 83 Mit den wesentlich größeren Möglichkeiten des Gedächtnisses können wir verschiedene Gedächtnisinhalte zusammenfassen, vergleichen, kategorisieren, in die Vergangenheit zurückverfolgen und auch in die antizipierte Zukunft hinein ausdehnen. Wir entwickeln dabei ein autobiographisches Gedächtnis, mit dem wir unsere eigenen Erlebnisse und Dispositionen miteinander verknüpfen. Welche neuronalen Strukturen und Prozesse liegen den verschiedenen Stufen des Bewusstseins zugrunde? Aus heutiger Sicht kann man keine Hirnstrukturen benennen, die nur für das Bewusstsein zuständig wären. Es sind immer zugleich Geist und Selbst mitbetroffen. Drei Bereiche lassen sich unterscheiden, die für die Ermöglichung von Bewusstsein besonders wichtig sind: der Hirnstamm, der Thalamus und die Großhirnrinde, kurz Kortex. Der Hirnstamm ist primär ein klinischer Begriff, der das verlängerte Mark (Medulla oblongata), die Brücke (Pons) und das Mittelhirn (Mesencephalon) umfasst. Im verlängerten Mark befinden sich Objekte, die wir aus dem Gedächtnis zurückholen, haben die gleiche Wirkung wie momentan wahrgenommenen Objekte (Damasio, Feeling, 161, 176, 183–4). 81 Damasio, Feeling, 17. 82 Bewusstsein höherer Ordnung (higher-order consciousness) bei Edelman / Tononi, Universe, 102–104, 191–199. 83 Über die Sprache wird auch ein »Bewusstsein von Bewusstsein« möglich (Edelman / Tononi, Universe, 194). Siehe auch die Ausführungen über Sprache im Kapitel »Evolution«. 80
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Bewusstsein, Selbst und Geist
die Kerne, die mit der Steuerung der elementaren viszeralen Funktionen wie Atmung und Herzfunktionen befasst sind. Der Ausfall dieses Bereichs führt zum Tod. Im Tegmentum des Hirnstamms befinden sich jene Kerne, bei deren Schädigung der Zustand des Koma eintritt. 84 Das Dach des Mittelhirns (obere und untere Hügel, Colliculi superiores und inferiores) spielt eine wichtige Rolle für den Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung sowie für die Koordination und Integration der Bilder. Man kann auch noch den Hypothalamus zum Hirnstamm rechnen, weil er stark in die Lebensregulation integriert und mit den Kernen des Hirnstamms eng verwoben ist. 85 Mit dem Eintritt des Trigeminusnervs in den Hirnstamm stehen die Informationen über den Zustand des ganzen Körpers zur Verfügung, die als zusammenfassende Abbildung an das Großhirn weitergeleitet werden. Bei einer Schädigung oberhalb des Trigeminuseintritts kommt es zum Koma. Der Kortex erhält dann keine Informationen mehr über den Körper. Er wird nicht mehr aktiviert durch die aktivierenden Systeme des ARAS (Aufsteigendes Retikuläres Aktivierendes System) und ist deshalb nicht mehr bewusst. 86 Das höhere Bewusstsein bedarf des Thalamus (Thalamus dorsalis, ein großes Kernmassiv im Zwischenhirn). Der Thalamus ist auf sehr intensive und reziproke Weise beinahe mit der ganzen Hirnrinde verknüpft. Er sendet Fasern zum Kortex und empfängt Fasern vom Kortex, wodurch sehr schnelle und stark wirksame Schleifen entstehen. Er übermittelt Signale aus dem Hirnstamm, welche den Wachheitszustand des Gehirns regulieren, weshalb er seit langem von Hirnforschern und Klinikern »Tor zum Bewusstsein« genannt wurde. 87 Er liefert die Bilder über die Zustände des Körpers (von den Intero- und Propriozeptoren) und über die Zustände der äußeren Welt (Exterozeptoren) an die Hirnrinde. Über die Verbindungen zu den assoziativen Arealen trägt er wesentlich bei zur Integration der verschiedenen Informationen. Der Hirnrinde (Cortex cerebri) verdanken wir schließlich die Ermöglichung aller höheren Leistungen des Bewusstseins. Sie hält uns wach und hilft uns, unsere Aufmerksamkeit selektiv auf etwas zu 84 85 86 87
Damasio, Self, 234. Ebd., 244. Ebd., 244–245. Pape et al., Thalamus.
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Person und Bewusstsein
richten. Sie arbeitet mit den Bildern, die über unseren Körperzustand und über die äußere Welt informieren, und trägt damit bei zur Erfahrung des Selbst in Differenz zu den Objekten, mit denen wir uns auseinandersetzen. Sie ermöglicht die höheren geistigen Tätigkeiten. Über die Gedächtnisleistungen garantiert sie die Einheit des Selbst über die Zeit hinweg. Die geistigen Tätigkeiten werden bewusst. So entsteht schließlich das selbstbewusste Selbst, das sich vermittels der Gedächtnisfunktionen in die Vergangenheit und in die Zukunft erstreckt. Die Erkenntnisse der Hirnforschung weisen darauf hin, dass weit verstreute Hirnregionen und Subsysteme 88 für die Generierung eines höheren Bewusstseins und für das Wissen um das eigene Selbst notwendig sind. Es gibt eine Reihe von Funktionsstörungen, welche das erweiterte Bewusstsein betreffen, ohne dass das elementare Bewusstsein beeinträchtigt wäre, z. B. vorübergehende Störungen des Gedächtnisses, die posttraumatische Amnesie nach Hirnverletzungen, das Unvermögen, die eigene Krankheit zu erkennen (Anosognosie) und viele andere Störungen geistiger Leistungen wie etwa Sprachstörungen (Aphasien). Das Umgekehrte gilt aber nicht. Sobald das elementare Bewusstsein gestört ist, funktioniert auch das erweiterte Bewusstsein nicht mehr. In seiner höchsten Möglichkeit umfasst das erweiterte Bewusstsein die ganze Spannweite unseres Lebens. 89 Es verleiht uns Kontinuität mit Vergangenheit und Zukunft. Es ermöglicht uns, unsere Identität nicht nur als biologische Individuen zu leben, sondern auch bewusst zu erleben. Selbst Obwohl wir über das Selbst wegen des engen inneren Zusammenhangs bereits im Abschnitt über Bewusstsein berichteten, soll es jetzt nochmals eigens thematisiert werden. Ähnlich wie beim Bewusstsein werden auch beim Selbst verschiedene Stufen unterschieden. Es sei aber nochmals betont, dass eine klare Unterscheidung von Geist, Bewusstsein und Selbst kaum möglich ist, weil diese drei sehr eng miteinander verwoben sind. Sie sind eher verschiedene Aspekte derSiehe auch die »distributed-representation hypothesis« und die Theorie der »distributed systems« von Mountcastle, Cortex. 89 Damasio, Feeling, 195. 88
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Bewusstsein, Selbst und Geist
selben Wirklichkeit. Auch hier beginnen wir wieder mit einer phänomenalen Beschreibung. Noch vor dem Auftreten des Bewusstseins muss es ein neuronales System geben, das den Organismus stabilisiert, seine Homöostase regelt und ihn als Selbst gegenüber dem Nicht-Selbst, der Umwelt, einerseits abschirmt, andererseits die Kommunikation mit dieser Umwelt ermöglicht. Dieses vorbewusste Selbst nennt Damasio Proto-Selbst. »Das Hauptprodukt dieses Proto-Selbst sind die spontanen Gefühle vom lebenden Körper, die primordialen Gefühle.« 90 In der nächsten Stufe werden die Bilder aus dem Organismus oder, anders ausgedrückt, die aus dem Körper kommenden und im Proto-Selbst repräsentierten Informationen in Beziehung gebracht zu den Abbildungen der Objekte aus der Umwelt, mit denen sich das ProtoSelbst auseinandersetzt. Es entsteht das Kern-Selbst. Das Kern-Selbst tritt auf in Form von Pulsen, »wenn das Proto-Selbst durch eine Interaktion zwischen dem Organismus und einem Objekt verändert wird.« 91 Dabei werden auch die Bilder vom Objekt modifiziert. Es entsteht eine dynamische Situation, in der das Selbst durch das Objekt und das Objekt durch das Selbst verändert wird. Diese Situation erinnert uns an den Gestaltkreis von Viktor von Weizsäcker. 92 Während das Kern-Selbst nur in kurzen Pulsen gegeben ist, reicht die Erfahrung, die wir mit uns selbst machen, zurück in die Vergangenheit bis zum Beginn unseres Bewusstseins und kann sich in unseren Planungen in die Zukunft erstrecken. Sie erweist sich als eine kontinuierliche Realität, die sich über die ganze Dauer unseres Lebens ausdehnt. Möglich wird diese Kontinuität durch das autobiographische Gedächtnis, das mit der Lebenserfahrung ständig zunimmt. Weil in dem autobiographischen Gedächtnis unsere Lebenserfahrungen versammelt sind und wir über diese Erfahrungen in unserem Erlebnisraum verfügen können, erweitert sich das Selbst zum autobiographischen Selbst. »Gruppen von Erinnerungen, die unsere Identität und Person beschreiben, können als neuronale Muster reaktiviert und zu expliziten Bildern gemacht werden, wann immer es nötig ist.« 93 Nach Edelman kann sich das Selbst durch das Vermögen der Begriffsbildung und der symbolischen Kategorisie90 91 92 93
Damasio, Self, 181. Ebd., 181. Weizsäcker, Gestaltkreis. Damasio, Feeling, 174.
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Person und Bewusstsein
rung von Wahrnehmungen und Ereignissen aus der Gebundenheit in die Gegenwart befreien. Es hat einen Begriff von seinem Selbst und seiner subjektiven Identität und wird deshalb von Edelman auch als konzeptuelles Selbst bezeichnet. 94 Wenn das Selbst sich reflexiv auf sich selbst wendet, wird es zum selbst-bewussten Selbst. Welche Hirnstrukturen sind nun für die Ermöglichung dieser Stufen des Selbst nötig? Für das Proto-Selbst sieht Damasio zwei Komponenten. Die interozeptive Komponente, über die sich der Zustand des Körpers abbildet, befindet sich im oberen Hirnstamm und in der Insel. Die exterozeptive Komponente sind die sensorischen Eintrittspforten (Portale) in den Colliculi des Mittelhirns und in den somatosensorischen kortikalen Arealen. Über diese Portale werden die Objekte der Umwelt erfasst. 95 Das Kern-Selbst baut auf diesen Strukturen auf. Um aus den Veränderungen des Proto-Selbst eine kohärente Erfahrung zu machen, scheinen koordinierende Mechanismen (Koordinatoren) nötig zu sein. Diese sieht Damasio in den tiefen Schichten des Colliculus superior und in den assoziativen Kernen des Thalamus. 96 Für die Konstruktion des autobiographischen Selbst sind über die schon für das Kern-Selbst genannten Strukturen hinaus der Thalamus, das Claustrum und weite kortikale, insbesondere assoziative Areale nötig. Viele Erinnerungen, die vor allem in kortikalen Gebieten als Bilder oder als Dispositionen gespeichert sind, müssen zu einem kohärenten Gesamtbild zusammengefügt und als Gesamtbild dauerhaft gemacht werden. Nur so können wir uns in den Erinnerungen bewegen und sie als die je unsrigen betrachten. Dafür sind Koordinatoren nötig. Geeignete Kandidaten für diese Aufgaben sind nach Damasio Konvergenz-Divergenz Regionen, die »strategisch in den höheren Assoziations-Rindenfeldern lokalisiert sind«. 97 Unter diesen Regionen scheinen die posterioren kortikalen Areale (PMC 98) Edelman, Present, 188–192. Damasio, Self, 205–206. 96 Ebd., 205–208. 97 Ebd., 215. »Eine Konvergenz-Divergenz Zone (CDZ) besteht aus einer Menge von Neuronen, mit denen viele vorwärts und rückwärts gerichtete Schleifen Kontakt machen« (Ebd., 144). CDZs sind mikroskopisch. Sie befinden sich in Konvergenz-Divergenz Regionen (CDR), »die makroskopisch und in strategischen Arealen des Assoziationskortex lokalisiert sind« (Ebd., 145). 98 PMC steht für posteromedial cortices. Dazu zählen vor allem der posteriore cinguläre Kortex, der retrospleniale Kortex und der Praecuneus (Areae 23 a/b, 29, 30, 31 und 7m). 94 95
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Bewusstsein, Selbst und Geist
eine besonders ausgezeichnete Stellung einzunehmen. Im Verhältnis zu den anderen kortikalen Koordinationszentren scheint den PMCs »eine höhere funktionelle hierarchische Position« 99 zuzukommen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: 1. Die strategisch günstige Lage im Gehirn, 2. die Art der Verbindungen mit anderen Hirnzentren, 3. die spezifische Ausschaltung in der Anästhesie mit dem Kurznarkotikum Propofol, 100 4. die besonders niedrige Aktivität im N-REM Schlaf, 101 5. der Ausfall bei neurologischen Erkrankungen, bei denen das Selbstbewusstsein verschwindet, wie beim Koma und in der Spätphase der Alzheimer Erkrankung. Das sind aber nur Hinweise, noch kein Beweis. Wie schon beim höheren Bewusstsein gilt auch für das autobiographische Selbst: Es hängt vom Funktionieren des Kern-Selbst ab. Wenn es gestört ist, kann das Kern-Selbst intakt sein. Wenn das Kern-Selbst gestört ist, dann kann auch das autobiographische Selbst nicht funktionieren. 102
2.2.3 Beurteilung der Suche nach neuronalen Korrelaten Der Versuch einiger Neurophilosophen, 103 Geist, Bewusstsein und Selbst auf eine neuronale Maschine zu reduzieren, ist ein Irrweg. Die Suche nach neuronalen Korrelaten jedoch führt zu neuen Erkenntnissen und kann auch in der klinischen Medizin weiterhelfen. Dieses Vorgehen sichert den Fortschritt in der Forschung und wahrt zugleich die Würde der menschlichen Person. 104 Bei dieser Art der Forschung tun sich allerdings unendliche Horizonte auf. »Das Geheimnis des Bewusstseins ist immer noch ein Geheimnis«. 105 »Die Idee, dass wir fest im Griff haben, was das Gehirn ist und was es tut, ist eine reine Narretei.« 106 Das wichtige Ergebnis für eine philosophische Anthropologie ist Damasio, Self, 217. Ebd., 226. 101 Schlaf ohne schnelle Augenbewegungen (non-rapid eye movement) und mit langsamen Wellen im EEG. 102 Damasio, Self. 103 Dennett, Philosophie; Dennett, Träume. 104 Wenn die Neurowissenschaft die menschliche Erfahrung in die fremde Welt der Hirnphysiologie und der Genetik hinein erforscht, dann wird die menschliche Würde nicht nur beibehalten, sondern gestärkt.« Damasio, Self, 30. 105 Damasio, Self, 262. 106 Ebd., 263. 99
100
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Person und Bewusstsein
die Tatsache, dass Philosophie und Alltagspsychologie nicht im Widerspruch zu den Neurowissenschaften stehen. Neurowissenschaftliche Befunde und nicht-reduktionistische Deutungen derselben führen zu einer weitreichenden Übereinstimmung mit den alltagspsychologischen Erfahrungen und der philosophischen Reflexion.
2.3 Ich, Selbst und Seele Als bewusstes Selbst kann ich zu mir »Ich« sagen. Was ist dieses Ich? Ist es eine Realität oder eine Illusion, die mir unablässig und unüberwindlich vom Nervensystem vorgegaukelt wird? Auf diese Fragen werden wir jetzt eine Antwort suchen. Abschließend wollen wir über den Begriff Seele nachdenken. In welchem Zusammenhang mit Selbst und Person ist die Seele zu sehen?
2.3.1 Ich und Ich-Bewusstsein in der Philosophie Wenn wir nach dem Ich fragen, dann stellen wir fest, dass es alle unsere geistigen Akte begleitet. Dementsprechend nennen wir es begleitendes oder direktes Ich-Bewusstsein. Dieses Ich-Bewusstsein kann nun absehen von den Gegenständen oder Zielen unserer geistigen Akte, die es begleitet, und sich zurückwenden auf sich selbst. Das vorher nur mitgemeinte Ich wird so zu seinem einzigen Gegenstand. Diese Form des Bewusstseins nennt man das nachfolgende oder reflexe Ich-Bewusstsein. Es »ermöglicht eine weiter ausgreifende und tiefer eindringende Selbsterkenntnis.« 107 Das Ich-Bewusstsein ist nicht auf den Ablauf unserer Akte beschränkt, sondern verweist auf »einen Denkenden und Wollenden, d. h. einen durch solche Akte bestimmten Träger. Dieser aber hält sich als derselbe im Wechsel der Akte durch.« 108 Das Ich bleibt, während seine Akte wechseln. Auf der Suche nach dem Ich markiert Augustinus einen ersten Höhepunkt in der Geschichte der Philosophie. In der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus und auf der Suche nach der Wahrheit findet Augustinus im Ich den unbezweifelbaren Ausgangspunkt zur Sicherung der Wahrheit. »Mögen [die Skeptiker] sagen: Wie, wenn 107 108
Lotz, Ich. Ebd.
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Ich, Selbst und Seele
Du Dich täuschst? Wenn ich mich täusche, bin ich ja. [Si enim fallor, sum.] Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen; also bin ich, wenn ich mich täusche.« 109 So ist also das Ich das Fundament für Wahrheit und Gewissheit. Descartes greift diese Form der Reflexion wieder auf und formuliert den berühmten und das neuzeitliche Denken weithin bestimmenden Satz: »Cogito, ergo sum«, »Ich denke, also bin ich.« 110 Kant unterscheidet ein empirisches und ein transzendentales Subjekt. Offenbar gibt es an mir etwas, das sich anschauen, objektivieren und wissenschaftlich untersuchen lässt. Dazu gehören meine Körperlichkeit, die Bedingungen meines Gehirns, meine Lebensgeschichte, die sich im autobiographischen Gedächtnis widerspiegelt, meine kulturelle und soziale Einbettung und die Art und Weise, wie ich meinen Mitmenschen und mir selbst erscheine. Kant hat diese Form des Ich das empirische Ich genannt. Es ist ebenso Erscheinung wie alle anderen wahrnehmbaren Objekte. Es gibt aber auch ein Ich, das sich nicht anschauen, objektivieren und wissenschaftlich untersuchen lässt, sondern aller Erfahrung als Einheit des Bewusstseins zugrunde liegt und als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung vorausgeht. Dieses Ich nennt Kant das transzendentale Ich. Die Funktion des transzendentalen Ich kommt z. B. darin zum Ausdruck, dass es »alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt«. 111 Oder in dem berühmten Satz von Kant: »Das: Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können.« 112 Mit der Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Ich meint Kant nicht etwa ein doppeltes Personsein. »Nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person«. Das Ich aber, das von mir angeschaut wird, ist ein Objekt und somit wie einer der Gegenstände außer mir. 113 Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, die umfangreiche und vielgestaltige Ich- und Bewusstseinsphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts darzustellen. Ich möchte nur noch einen PhilosoAugustinus, Vom Gottesstaat, XI, Kap. 26. Vgl. Röd, Altertum, 302, und Hirschberger, Altertum, 307 f. 110 Descartes, Discours, IV, 3. Vgl. Hirschberger, Neuzeit, 84 f. 111 Kant, KrV, B139. 112 Ebd., B131. 113 Genaues Zitat: »Nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person, das Ich aber des Objekts, was von mir angeschauet wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache«, vgl.: Kant, Fortschritte, A36. 109
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Person und Bewusstsein
phen des ausgehenden 20. Jahrhunderts nennen, nämlich Peter Frederick Strawson. 114 Strawson knüpft wieder an Kant an. Wenn wir nicht die Identität des erkennenden Subjekts unterstellen, lässt sich die Struktur der Erfahrung nicht analysieren. Wir können Bewusstseinszustände zu Recht uns selbst und anderen zusprechen, wobei der Referent dieses Zusprechens weder ein körperloses Ich noch ein bestimmter Körper ist, sondern immer eine ganzheitliche Person. 115 Einige Neurophilosophen haben begonnen, sich für die Philosophie Asiens zu interessieren, weil diese Philosophie ein großes Wissen über die Vorgänge im Bewusstsein aufweist. Besonders ausgefeilt ist dieses Wissen im Buddhismus, und zwar sowohl theoretisch als auch praktisch im Bereich der Selbsterfahrung. Mit dem Buddhismus wird die Vorstellung verbunden, dass es Person in der hier dargelegten Form nicht gibt. Im Kontext dieses Denkens wird es dann plausibel, die Person auf eine »raumzeitliche Interrelationalität« 116 zu reduzieren. Es soll hier nicht auf die buddhistische Theorie eingegangen werden, gemäß welcher Person letztlich keine Realität ist, sondern sich – neurowissenschaftlich gesprochen – auflösen lässt in neuronale Prozesse. Vielmehr ist festzuhalten, dass es in Asien, und insbesondere in Indien, auch eine genuine Personphilosophie gibt. Unter den neuzeitlichen Philosophen ist hier in erster Linie Sri Aurobindo (1872–1950) zu nennen. Sri Aurobindo legte großen Wert darauf, dass seine Philosophie im Einklang und in Kontinuität steht mit der großen philosophischen Tradition Indiens, nämlich mit den Veden, den Upanishaden und der Bhagavadgita. Er selbst war ein profunder Kenner und Interpret dieser Schriften. Sri Aurobindo unterscheidet zwischen der Individualität der Natur (Ich der empirischen Welt, ego, ahaṃkāra 117) und dem geistigen Individuum (Selbst, Person, purusa, ātman). Das Ich als Individualität der Natur ist eine praktische Zentralisation der Tätigkeiten unserer Natur. Insofern ist es empirisch feststellbar. Heute könnten wir sagen, dass dieses Ich Objekt neurowissenschaftlicher Untersuchungen sein kann. Das Ich empfängt sein Leben durch den purusa die Person. Die Person ist die Seele des Menschen, der Ermöglichungsgrund des individuellen Lebens, der ātman, das Selbst. Der Begriff 114 115 116 117
Siehe auch Abschnitt »Person als sittliches Subjekt«. Gethmann, Ich. Siehe auch Rager, Fakten, 71. Brück, in Rager/Brück, Anthropologie, 206. Wörtlich übersetzt bedeutet ahaṃkāra Ich-Macher.
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Ich, Selbst und Seele
des ātman wird weiter präzisiert als individuelles Selbst, jīvātman. Jīvātman ist das geistige Individuum, die individuelle Präsenz des Göttlichen (»individual Divine«) im Menschen. Dieser Person schreibt Sri Aurobindo auch Freiheit zu. Personsein ist die Wirklichkeit des Göttlichen und des Menschen. Das Wesen der Person ist die Liebe, ānanda (Liebe, Freude, Herrlichkeit). Buddha hingegen war der Überzeugung, dass es die Person als unzerstörbares, ewiges Sein nicht gebe. Man müsse dies erkennen, um zur Erlösung zu gelangen. Wegen dieser grundlegenden Differenz lehnt Sri Aurobindo den Buddhismus ab. Er kann sich dabei auf die philosophische Tradition Indiens berufen, die neben der apersonalen Denkrichtung immer wieder auch eine Philosophie der Person hervorgebracht hat 118. Person ist also nicht nur für die europäisch-westliche Philosophie eine zentrale Realität, sondern auch für wichtige östliche Denkrichtungen.
2.3.2 Ich und Ich-Bewusstsein in den Neurowissenschaften Was haben die Neurowissenschaften zu Ich und Ich-Bewusstsein zu sagen? Die meisten Erkenntnisse kommen auch hier wieder aus der Pathologie. Der allmähliche Zerfall des Ich bei fortschreitender Demenz und der Ausfall bestimmter Hirnregionen, die wir schon im Zusammenhang mit dem Bewusstsein kennengelernt haben: Das sind die gesicherten, aber doch recht groben Antworten. Ein neuronales Korrelat im Sinne eines bestimmten neuronalen Schaltkreises ist nicht bekannt. Man scheint sicher zu sein, dass es im Gehirn keinen Punkt gibt, »an dem alles zusammenläuft und der strategisch an der Spitze einer Hierarchie gelegen wäre«. 119 Im Gehirn sind praktisch alle Gebiete entweder direkt oder indirekt über zahllose Schleifen und Rückkopplungen (reentry loops 120) untereinander verbunden. Es ist davon auszugehen, dass das neuronale Netzwerk des Gehirns als Ganzem das Korrelat des bewussten Ich ist. Wahrscheinlich genügt nicht einmal dieses Netzwerk. Der Informationsaustausch mit dem Körper und der Umwelt gehört mit dazu 121. Diese Vorstellung ist
Eine ausführliche Darstellung und Besprechung der Personphilosophie von Sri Aurobindo in Rager, Aurobindo, eine kurze Zusammenfassung in Rager, Zeugnisse. 119 Kinsbourne, Consciousness, 1324. 120 Rückkopplungsschleifen (reentry loops) nach Edelman, Present. 121 Dieser Sachverhalt wird herausgearbeitet in Fuchs, Gehirn. 118
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Person und Bewusstsein
durchaus kompatibel mit dem vorhin eingeführten philosophischen Begriff von Ich und Ich-Bewusstsein.
2.3.3 Ich – eine Illusion? Dennoch gibt es heute heftige Angriffe einiger Neurophilosophen gegen die Vorstellung von einem Ich. Es wird unterstellt, unser philosophisches und lebensweltliches Menschenbild sei dualistisch. Der Dualismus beinhalte, dass es eine zentrale Instanz im Gehirn geben müsse, auf die hin alle über die Sinne eingehenden Informationen konvergieren. Diese zentrale Instanz sollte zugleich auch der Ursprung der Entscheidungen und Handlungen sein. Die Idee einer zentralen Instanz, die alle Fäden in der Hand hält, wird gerne mit der Vorstellung eines kleinen Männchens im Gehirn, eines Homunculus, verknüpft. 122 Da es aber eine zentrale Instanz nicht gebe, wird nicht nur die Homunculus-Vorstellung abgelehnt. Auch die Vorstellung eines einheitlichen, dauerhaften Ich wird als »adaptive Selbsttäuschung« oder »Illusion« verworfen. 123 Als Grund wird angegeben, dass man im Gehirn nur Kontrollprozesse vorfinde. Für Dennett ist das Ich 124 eine »Illusion ohne Illusionisten« 125, ein »narratives Gravitationszentrum« 126, das nur so lange existiert als entweder wir selbst oder andere Geschichten über uns erzählen. Thomas Metzinger 127 erklärt, das Ich sei bloß ein Modell, welches das Gehirn ständig produziert. Es sei eine für uns unüberwindbare Illusion. Die Homunculus-Idee wird zu Recht abgelehnt. Wenn aber damit auch die philosophische Lehre von Ich und Person als Illusion bezeichnet wird, dann trifft der Angriff ins Leere. In der Philosophie der Person gab es und gibt es zwar dualistische Strömungen, die behaupten, Geist und Körper seien verschiedene Substanzen (SubstanzDennett / Kinsbourne, Observer; Zeki, Vision; Rager, Ich. Ramachandran/Hirstein, Qualia. 124 In der Literatur, die sich mit den Ergebnissen der Hirnforschung auseinandersetzt, ist es üblich geworden, das Personalpronomen »ich« zu substantivieren und daraus »das Ich« zu machen. Nach Peter Janich suggeriert dieser Sprachgebrauch, »dass es da eine Substanz, eine neue Sache gibt, von der die Rede ist« (Janich, Menschenbild, 128–9). Mit dieser Versubstantivierung werden Scheinprobleme erzeugt. 125 Dennett, Philosophie, 26. 126 Ebd., 418. 127 Metzinger, Selbstmodell. 122 123
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Ich, Selbst und Seele
dualismus). Die hier zitierten Philosophen aber wie etwa Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant oder Peter Strawson lehnen den Dualismus ab. Es ist erstaunlich, dass die Theorie der Illusion und Selbsttäuschung immer wieder vorgebracht wird, obwohl sie in sich widersprüchlich und historisch längst widerlegt ist. Schon Augustinus hat gezeigt, dass ich auch dann existiere, wenn ich mich täusche (si enim fallor, sum). Wer behauptet, das Selbst sei eine Illusion für jemand – den Illusionisten –, den es gar nicht gibt, muss sich der Gegenfrage stellen: Wer urteilt darüber, ob es sich um eine Illusion handelt? Die Instanz, welche das Selbst als Illusion identifiziert, kann nicht selbst Illusion sein. Wir können falsche Vorstellungen vom Selbst als Illusion bezeichnen, nicht aber das Selbst als solches. Die Rede vom Ich als Illusion ist überdies in sich selbst widersprüchlich. Indem nämlich Metzinger diese hartnäckige und für uns angeblich unüberwindbare Illusion in ihrer Entstehung als Produkt von Hirnprozessen entlarvt, wird bereits gezeigt, dass wir dieser Illusion, wenn es denn eine sein sollte, doch grundsätzlich entrinnen können.
2.3.4 Reduktionistische Versuche Es gibt verschiedene Versuche, Ich und Bewusstsein auf neuronale Prozesse zu reduzieren 128. Zwei von diesen Versuchen werden hier genauer besprochen. Wolf Singer versucht uns davon zu überzeugen, wir könnten heute Brückentheorien entwickeln, die den Sprung »vom Toten zum Lebenden«, »vom Lebenden zum Geistigen«, »vom Materiellen zum Geistigen« als »Phasenübergang« beschreiben. So sei auch der Übergang von Aktivitäten von Nervenzellen zu kognitiven Prozessen als Phasenübergang in komplexen Systemen zu verstehen. 129 Nun ist es aber so, dass in der Physik Phasenübergänge »unterschiedliche Organisationsformen derselben Organisationsstufe« ineinander überführen, »etwa Eis in Wasser oder Wasser in Wasserdampf«. »Ein Phasenübergang besteht darin, dass sich die Teile (Atome, Moleküle) auf neue Weise zum Ganzen fügen, mit einem festeren oder loseren Bindungsmechanismus, der dem Ganzen neue Über den Reduktionismus wird ausführlich gehandelt im Kapitel »Die Freiheit der Person«. 129 Singer, Beobachter, 176–180. 128
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Person und Bewusstsein
makroskopische Eigenschaften verleiht – etwa gasförmig oder flüssig zu sein. Der Ausdruck bezieht sich auf den Übergang von einem physischen Phänomen zu einem anderen.« 130 Der Übergang von physischen zu mentalen Phänomenen ist damit nicht vergleichbar. »Die kognitive Neurowissenschaft kann nach ihrem derzeitigen Stand keinen neuronalen Mechanismus vorweisen …, der erklären könnte, wie das Bewusstsein aus dem neuronalen Geschehen hervorgeht.« 131 Deshalb ist die Rede vom Phasenübergang lediglich eine Metapher, die nichts erklärt. Das synchrone Feuern von Neuronen ist höchstens notwendig, aber nicht hinreichend für das Bewusstwerden kognitiver Prozesse 132. Gerhard Roth versteht das Ganze des Geistigen als Summe seiner Teile und will es deshalb auf seine Teile reduzieren. Ausgangspunkt für diese Reduktion des Ganzen auf seine Teile ist einmal der Befund, dass bei bestimmten Läsionen des Gehirns verschiedene Funktionen des Bewusstseins und auch des Selbst-Bewusstseins ausfallen. Zum anderen nimmt Roth Bezug auf unsere eigene Erfahrung, die zeigt, dass wir uns in verschiedenen Bewusstseinszuständen befinden können. Deshalb gebe »es das Bewusstsein überhaupt nicht«. Das Bewusstsein sei »vielmehr ein Bündel inhaltlich sehr verschiedener Zustände« 133, Module, die miteinander verbunden werden, »so dass wir der Illusion verfallen, Bewusstsein sei ein einheitliches Gebilde« 134. Ähnlich verhalte es sich mit dem Ich. Man könne verschiedene Formen des Ich unterscheiden und diese auch spezifischen Hirnregionen zuordnen. »Dies bedeutet, dass es das eine Ich nicht gibt, sondern eben ein Bündel von unterschiedlichen Ich-Zuständen.« 135 Der Versuch der Reduktion von Bewusstsein und Ich auf Teile, aus denen sie bestehen sollen, legt den Vergleich mit physischen Phänomenen nahe. Im Bereich der physischen Phänomene kann man das Ganze von makroskopischen Körpern auf seine Teile zurückführen, nämlich die Moleküle, Atome usw. »Das Ganze und seine Teile haben dabei gemeinsame dynamische Eigenschaften wie Impuls, Masse und Energie usw. … [Es gelten] empirisch überprüfbare Summenregeln für die Teile und das Ganze, so dass das Ganze in verschiedenen Hin130 131 132 133 134 135
Falkenburg, Determinismus, 362. Falkenburg, Determinismus, 379 Engel, Zeitliche Bindung, 424 und 431 ff. Roth, Sicht, 126. Roth, Sicht, 128. Roth, Sicht, 142.
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Ich, Selbst und Seele
sichten als Summe seiner Teile zu verstehen ist.« Das ist jedoch nicht anwendbar auf das Verhältnis von Gehirn und Geist. Die Summe der Hirnprozesse ergibt nicht den Geist. »Geist und Gehirn stehen … nicht in einer Teile-Ganzes-Beziehung zueinander, und es gibt auch keine Summenregel dafür, wie sich die Eigenschaften mentaler und physischer Phänomene kombinieren.« 136 Der Bündeltheorie von Bewusstsein und Ich widerspricht auch unsere tägliche Erfahrung. Wenn wir nicht gerade unter einer Psychose leiden, bilden wir eine Einheit in Bewusstsein, Denken und Handeln.
2.3.5 Ich und Selbst Bei der philosophischen Reflexion über »Ich« kamen wir zu dem Ergebnis, dass ich etwas Reales sein muss, insofern ich Träger meiner geistigen Akte bin. Nun stellen wir aber fest, dass wir nicht immer unser selbst bewusst sind, und zwar weder in der prä- oder frühen postnatalen Phase noch in der Periode, in der wir als bewusste Wesen leben und handeln. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Für die Lösung dieses Problems sei nochmals der Zusammenhang mit den Erkenntnissen der Hirnforschung hergestellt. Wir wollen drei wichtige Tatsachen herausgreifen: 1. Wenn bestimmte Hirnregionen verletzt oder durch Erkrankungen gestört sind, dann sind die entsprechenden geistigen Aktivitäten nicht mehr möglich. 2. Wenn im Verlauf der Ontogenese bestimmte Hirnstrukturen noch nicht entwickelt sind, dann sind auch die entsprechenden geistigen Fähigkeiten noch nicht vorhanden. 3. Bei vielen geistigen Akten lassen sich mit den modernen bildgebenden Verfahren entsprechende Aktivitäten im Gehirn sichtbar machen. Daraus lässt sich der folgende Grundsatz formulieren: Alle geistigen Akte haben ein neuronales Korrelat. Wir haben keine Evidenz dafür, dass es beim Menschen geistige Akte gibt, die unabhängig von neuronalen Prozessen stattfinden. Anders ausgedrückt: Wir haben keine Evidenz für eine dualistische Auffassung, gemäß welcher eine Seele unabhängig vom Gehirn geistige Akte vollzieht. Es gilt aber zugleich, dass die neuronalen Prozesse nicht identisch sind mit den geistigen Akten, weil wir aus den neuronalen Prozessen nicht auf die geistigen Akte schließen könFalkenburg, Determinismus, 407–408. »Damit versagt die mereologische Reduktion von Gehirn und Geist komplett.«
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Person und Bewusstsein
nen. 137 Es bleibt eine unaufhebbare Differenz, eine »epistemische Kluft« – wie Habermas sagt – »zwischen der naturwissenschaftlich objektivierten Natur und einer intuitiv immer schon verstandenen … Einheit eines Universums, dem die Menschen als Naturwesen angehören.« 138 Unsere Lebenswelt lässt sich nicht auf ein naturwissenschaftlich verstandenes Gehirn reduzieren. Wenn der Grundsatz gilt, dass alle geistigen Akte ein neuronales Korrelat haben, dann folgt daraus, dass ontologische Aussagen nicht die Existenz geistiger Akte behaupten dürfen, für die es keine neuronalen Korrelate gibt oder die neuronalen Strukturen und Funktionen widersprechen. Das geschieht aber gerade im Dualismus, der versucht, das Geistige des Menschen zu retten, indem er dem Geist eine selbständige Realität zuspricht. Der Dualismus tritt in verschiedenen Formen auf, von denen aber nur zwei erwähnt seien. Die erste Form stellt das Ich als kleines Männchen im Gehirn, als Homunculus, vor. Die zweite Form deutet den Geist als einen Agenten, der über bestimmte Module in der Rinde des Parietalkortex auf das Gehirn einwirkt. 139 In beiden Fällen müsste es dazu neuronale Entsprechungen geben. Die erste Form, die Homunculus-Vorstellung, haben wir schon diskutiert. Für die zweite Form, das dualistische Modell von Eccles, müssten sich spezialisierte Module im Parietalkortex nachweisen lassen, welche vom Geist Befehle empfangen und sie an das übrige Gehirn weiterleiten. Es gibt aber keine Evidenz für spezialisierte Areale und Module im Kortex, die als Interface für die Interaktion mit dem Geist dienen könnten. Die Vorstellung einer Energie- und Informationsübertragung vom Geist zum Gehirn hätte ferner den Nachteil, dass der Geist zu einer physiologischen Entität reduziert und so gerade das, was gerettet werden sollte, zerstört würde. Aus diesen Gründen sind dualistische Vorstellungen vom Ich nicht vereinbar mit dem Gehirn, wie es uns aus den Neurowissenschaften bekannt ist. Eine mit den Neurowissenschaften kompatible Vorstellung wäre es, wenn wir das bewusste Ich als eine Instanz verstehen würden, die je neu aus unserem Selbstsein hervorgebracht wird. Im Traum halten wir uns oft in anderen Räumen, Zeiten und mitmenschlichen Kon-
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Rager, Bewußtsein; Rager, Korrelate. Habermas, Freiheit, 171. Popper / Eccles, Self.
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Ich, Selbst und Seele
texten auf als im Wachzustand. Manchmal bleiben uns diese Träume in Erinnerung. Wir können eine Beziehung dazu herstellen und versuchen, sie in ihrer Bedeutung zu verstehen. Aus Narkose und Tiefschlaf kehren wir wieder zu unserem bewussten Ich zurück, wir waren aber immer wir selbst. Das neugeborene Kind ist noch kein bewusstes Ich, wohl aber ein Individuum, ein Selbst, eine Person. Wenn die Hirnstrukturen genügend gereift sind und diese Reifung in Kommunikation mit der Mutter und anderen Menschen geschieht, dann entfaltet sich allmählich auch ein bewusstes Ich. Das ist aber nur möglich, weil unser Selbst- und Personsein vorgängig zum bewussten Ich schon besteht. 140 Vordergründig mag das ähnlich klingen zu dem, was manche Neurophilosophen behaupten. Sie sagen, dass das Gehirn die eigentliche Realität sei, das Ich aber nur ein Produkt des Gehirns und als ephemere Erscheinung bloß eine Illusion. 141 Bei gründlicherer Reflexion müssen wir aber sagen: Unser Selbstsein ist keine bloße Hirnmaschine, die mechanistisch und reduktionistisch als ein Ensemble von Hirnprozessen vorzustellen wäre. Es ist zwar auch ein Ensemble von Hirnprozessen, dies aber nur im Sinne eines naturwissenschaftlich benennbaren Korrelats zu dem, was wir lebensweltlich unter Person und Selbst verstehen. Selbstsein und Person sind der naturalistischen Betrachtungsweise immer schon voraus.
2.3.6 Über die Seele Im Gefolge der Aristoteles-Renaissance ist heute auch wieder von der Seele die Rede. Ist der Begriff »Seele« bloß eine Chiffre für etwas, das man nicht weiß, oder hat er auch eine erklärende Funktion? 142 Trotz der immensen molekularbiologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse ist es für uns immer noch ein Geheimnis, was die Einheit und Selbststeuerung eines Organismus bewirkt. Aristoteles macht dafür die Seele (anima, ψυχή) verantwortlich. Der Begriff der Seele hat sowohl bei den einzelnen Interpreten des Aristote-
In diesem Zusammenhang sei auch auf die ausführliche Diskussion über das Verhältnis von Ich und Selbst bei Pannenberg, Anthropologie, hingewiesen. 141 Kennzeichnend für diese Auffassung ist ein Satz von Gerhard Roth: »Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!« (Roth, Hirnforscher, 77). 142 Quitterer, Erklärungspotential. 140
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Person und Bewusstsein
les als auch im Laufe der Geschichte 143 leicht unterschiedliche Ausdeutungen erfahren. Ich werde deshalb nur die zentralen Aspekte kurz darstellen. Aristoteles bezeichnet die Seele als die Form (εἶδος) eines natürlichen Organismus (anima forma corporis). 144 Diese Form ist »die erste oder unterste Stufe der Verwirklichung (ἐντελέχεια ἡ πρώτη) 145 eines natürlichen Körpers, der mit angemessenen Organen dazu ausgestattet ist, die für das Leben charakteristischen Tätigkeiten auszuüben.« 146 Weil die Seele die Form eines lebendigen Individuums, einer lebendigen Substanz, ist, wird sie auch substantielle Form (forma substantialis oder Wesensform) genannt. Sie verleiht den natürlichen Körpern Leben, ist deren Lebensprinzip. Unter Lebensprinzip versteht man eine »besondere sinnstiftende Ganzheitsform, die den Sollwert aller Selbstregulationen des Lebewesens bestimmt.« 147 Die Seele ist das, »was einen Organismus zu dem macht, was er ist: die Ursache seines Seins, sein Wesen (οὐσία; τί ἦν εἶναι).« 148 In der aristotelischen Tradition werden drei Stufen der Seele unterschieden, die vegetative, die animalische und die rationale 149. Dennoch ist in jeder Lebensstufe, und so auch beim Menschen, die Seele einfach (simplex). »Die Einheit der Seele bei der Verschiedenheit ihrer Vermögen ergibt sich daraus, dass das höhere Vermögen das niedrigere ›der Möglichkeit nach‹ (δυνάμει) … in sich enthält.« 150 Nach Aristoteles besteht jedes natürliche Individuum aus Materie (ὕλη) und Form (ἐντελέχεια). Materie ist aber nicht im modernen Sinn zu verstehen, sondern meint die Potentialität (δύναμις), wähObwohl Albertus Magnus große Verdienste für die Rezeption des Aristoteles im Mittelalter geleistet hat, steht sein Seelenbegriff auch unter neuplatonischem Einfluss (Runggaldier, Albertus Magnus). 144 Aristoteles, De anima II, 1, 412 a 21. Ausführlichere Darstellung bei Runggaldier, Alternative. 145 Aristoteles, De anima II, 1, 412 a 27. 146 Liske, Zwischenposition, 210. Die erste Entelechie wird übersetzt mit erster Akt (actus primus). Wenn ein Individuum seine individuellen Möglichkeiten aktualisiert, nennt man dies in der Scholastik den zweiten Akt (actus secundus). Die forma substantialis des Menschen ist zu verstehen als erste Aktualisierung des menschlichen Organismus (Runggaldier, Alternative, 228, 246–7). 147 Haas, Lebensprinzip, 217. 148 Ricken, Seele, 5; Aristoteles, De anima II, 4, 415 b 12–14; 1, 412 b 11. 149 Anima vegetativa (ψυχὴ θρεπτική), anima sensitiva (ψυχὴ αἰσθητική) und anima rationalis (ψυχὴ λογική oder νοητική). 150 Ricken, Seele, 5; Aristoteles, De anima II, 3, 414 b 29 f. 143
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Ich, Selbst und Seele
rend die Form Aktualität (ἐνέργεια) ist. 151 Die Form aktualisiert die Möglichkeiten, die als Materie vorgegeben sind. Weil Materie (ὕλη) und Form (μορφή) in einem lebenden Individuum untrennbar zusammengehören, wird diese Lehre auch Hylemorphismus genannt. Die Lehre von der Seele »geht vom lebenden Organismus als Ganzem aus; deshalb kann die für Platon und Descartes bestimmende dualistische Sicht erst gar nicht aufkommen.« 152 Nach Aristoteles darf man nicht »fragen, ob Seele und Körper eins sind, wie auch nicht, ob Wachs und Figur, und überhaupt nicht, ob die Materie eines jeden Dings und das, dessen Materie sie ist« 153 eins sind. Mit diesem Ansatz wird der Hylemorphismus sowohl den materiellen Aspekten der lebenden Individuen wie auch deren geistigen Fähigkeiten gerecht. Er nimmt so eine mittlere Position zwischen Naturalismus und Dualismus ein. 154 Die Seele verleiht den Organismen ihre Individualität. Durch die Seele bleiben sie diachron mit sich identisch, auch wenn sie sich ihrer Erscheinung nach mit der Zeit verändern. Solche individuellen Substanzen nennt man in der heutigen analytischen Philosophie auch Kontinuanten oder Enduranten (engl. endurer). Weil die Seele als individuelle substantielle Form etwas darüber aussagt, was dieses Lebewesen ist, kann man sie in der Sprache der analytischen Philosophie auch als einen Artbegriff, Sortal, verstehen. 155 Aus diesen begrifflichen Analysen ergibt sich schließlich, dass die Seele das Selbst eines Lebewesens ist. Wenn wir jetzt zurückblicken auf die Formen und Stufen des neuronalen Selbst, die wir im Zusammenhang mit den neurowissenschaftlichen Befunden erarbeitet haben, dann wird klar, dass der Begriff des Selbst als Seele den ganzen Organismus betrifft und nicht bloß seine neuronale Steuerung. Die Stabilisierung des Selbstseins gegenüber der Umwelt und die Aufrechterhaltung der Homöostase ist nicht nur Angelegenheit des Nervensystems. An dieser Aufgabe wirken auch zahlreiche andere Systeme des Organismus mit. Obwohl Damasio sich auf die Stufen des neuronalen Selbst konzentriert, gibt es bei ihm auch schon Hin-
Runggaldier, Alternative, 228–229. Ricken, Seele, 5. 153 Aristoteles, De anima, II, 1, 412 b 4–7. 154 Liske, Zwischenposition; Runggaldier, Alternative. 155 Runggaldier, Alternative, 229, 244; Runggaldier / Kanzian, Analytische Ontologie. 151 152
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Person und Bewusstsein
weise, dass eigentlich diese umfassende Sichtweise des Selbst eingenommen werden müsste. 156 Fassen wir die wichtigsten Ergebnisse zusammen. Der Mensch ist von der Fertilisation an ein Individuum. Mit einem vorsichtigen Brückenbau zwischen Biologie und Philosophie können wir sagen, dass dieses Individuum von rationaler Natur ist. Damit entspricht es der Definition von Person, wie sie Boethius formuliert hat. Der Mensch ist von der Befruchtung an Person. Diese Person entfaltet im Laufe ihrer Entwicklung Bewusstsein, Ich-Bewusstsein und alle übrigen geistigen Fähigkeiten. Das lässt sich sowohl in der lebensweltlichen Erfahrung und deren philosophischer Deutung als auch in der embryologischen und neurowissenschaftlichen Forschung zeigen. Als bewusstes Ich können wir über uns selbst und über unseren Werdegang reflektieren. Bewusstsein und Ich-Bewusstsein sind nicht immer aktuell vorhanden, aber gründen in dem Selbst des Individuums und erhalten von dort Identität und Kontinuität. Das Selbstsein des Individuums ist die Person.
Gemeint sind hier die Ausführungen über die Regulation der Lebensvorgänge und den biologischen Wert. Damasio, Self, 31–60.
156
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3 Wissen und Wahrheit
In einer schweizerischen Tageszeitung stand ein Nachruf auf den soeben verstorbenen und sehr angesehenen Chefredakteur. 1 In diesem Nachruf kommt der Chefredakteur selbst zu Wort mit dem Grundsatz, den er sich für seine journalistische Arbeit gegeben hat: »Die einzige und einzigartige Pflicht eines Journalisten ist es zu informieren. Seine einzige Rechtfertigung ist es, die Wahrheit und die Tatsachen zu erforschen«. Wie steht es mit der Wahrheit in den Zeitungen? Ist das, was dort berichtet wird, wirklich wahr und objektiv? Eine andere Situation. Soeben hat sich ein Verkehrsunfall ereignet. Verschiedene Passanten, die sich gerade in der Nähe befanden, werden zum Unfallhergang befragt. Die Antworten fallen meist sehr verschieden aus. Oft werden Zusammenhänge hergestellt, die für den Beobachter plausibel sein mögen, sich aber beim Vergleich mit den Aussagen anderer Personen und mit der Aufnahme der Unfallspuren nicht bestätigen lassen. Durch den Vergleich der Aussagen und der Aufnahme der Spuren versucht man, den Unfallhergang zu rekonstruieren und die Schuldfrage zu klären. Doch das gelingt nicht immer. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich die ganze Menschheit täuschen kann. In der Antike herrschte die Meinung vor, dass sich die Sonne und die Planeten um die Erde drehen. Die Sonne geht im Osten auf, erreicht am Mittag ihren Höhepunkt und taucht im Westen wieder unter. Das war für jedermann der anschauliche Beweis für das geozentrische oder ptolemäische Weltsystem. Erst Kopernikus konnte überzeugende Gründe für ein heliozentrisches Weltsystem liefern. Trotz der von ihm vorgelegten Gründe und Beweise dauerte es noch lange, bis dieses Weltsystem allgemein als richtig angenommen wurde. Bis jetzt hat sich dieses Weltsystem wissenschaftlich wie praktisch in der Weltraumfahrt bewährt. Dennoch ist es für unser alltägliches 1
Nachruf auf Roger de Diesbach in »La Liberté« vom 23. 09. 2009.
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Wissen und Wahrheit
Leben immer noch wahr, dass die Sonne am Morgen im Osten aufgeht und am Abend im Westen untergeht. In den zwischenmenschlichen Beziehungen vertrauen wir bestimmten Personen, anderen nicht. Bei den Personen unseres Vertrauens sind wir überzeugt, dass sie uns die Wahrheit sagen und es ehrlich mit uns meinen. Umso schlimmer die Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass es doch nicht so ist. Bedrängend für jeden von uns ist die Frage nach der Wahrheit unseres Lebens und nach unserem Lebenssinn. Wie kann das wahr sein, was die Philosophen uns dazu sagen, wenn deren Meinungen so unterschiedlich sind, sich zum Teil sogar widersprechen? Wer kann uns mit Sicherheit die richtige Antwort geben? Ist die Antwort des Glaubens sicher? Wenn ja, worauf gründet diese Sicherheit? Was also ist Wahrheit? Wie können wir sie erkennen? Wie gelangen wir zum Wissen? Wir werden zuerst versuchen zu verstehen, wie Philosophen der europäischen Geschichte die Frage nach der Wahrheit beantworteten. Von der Wahrheit gehen wir dann zu der Frage, wie wir überhaupt wissen können. Diese Frage wird uns weiter führen zu den Neurowissenschaften, die uns zeigen, wie das Nervensystem mit Informationen umgeht und sie zu Wissen synthetisiert. Von dort werden wir nochmals den Weg vom Wissen zur Wahrheit beschreiten.
3.1 Wahrheit in der Philosophie Jeder von uns hat einen Begriff von Wahrheit. Meist verstehen wir darunter, dass gewisse Aussagen mit dem tatsächlichen Sachverhalt übereinstimmen. Diese Überzeugung führt ohne Schwierigkeiten zu der klassischen Definition der Philosophie: Wahrheit ist die Angleichung von Verstand und Sache, adaequatio intellectus et rei. Diese Angleichung ist möglich. Sie erfährt ihre Vollendung, wenn Verstand und Sache voll übereinstimmen. Doch jenseits dieser Formel beginnen schon die Differenzen. Welche Sachen kommen denn überhaupt in Frage für die Übereinstimmung mit dem Verstand? Handelt es sich nur um unsere alltägliche Welt? Um die Aussagen unserer Mitmenschen? Um unsere eigenen Aussagen? Gilt das auch für unsichtbare Wirklichkeiten? Die Philosophen beschäftigen sich beruflich mit der Frage nach der Wahrheit. Wie das Wort Philosophie schon sagt, lieben (φιλειν) 64 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wahrheit in der Philosophie
sie die Wahrheit und suchen nach Weisheit (σοφία). Es geht darum, die Welt und das menschliche Dasein in dieser Welt so zu verstehen, wie es wirklich ist, und aus dem Wahrheitswissen die richtigen Folgerungen für die Lebenspraxis zu ziehen.
3.1.1 Vorsokratiker In der griechischen Philosophie heißt Wahrheit ἀλήθεια. Dieser Begriff ist zusammengesetzt aus der Wurzel λήθη (Vergessen) und dem a-privativum, also Nicht-Vergessen oder, wie Heidegger es deutet, die Unverborgenheit. Homer verwendet den Begriff in intersubjektiver Weise. Jemand gibt über etwas so Auskunft, »dass über die berichtete Sache für den anderen nichts verborgen bleibt«. 2 In der klassischen griechischen Zeit geht es um Aussagen, und zwar so, dass Wahrheit »jeweils mit dem ausgesagten (oder erkannten, gewussten) Aspekt der vorgegebenen Wirklichkeit identifiziert wird«. 3 Der Vorsokratiker Heraklit (544–484) deutet die wahrnehmbare Wirklichkeit so, dass alles im Fluss sei und es kein beständiges Sein gebe. Dieses Dauernd-im-Fluss-Sein ist die Welt, wie sie uns erscheint. Das Wesen der Wirklichkeit lässt sich aber nicht empirisch, sondern nur durch die Vernunft erfassen. Wenn sich die individuelle Vernunft der einzelnen Menschen mit der allgemeinen Vernunft, dem Logos, verbindet, dann wird Einsicht in das wahre Wesen der Wirklichkeit möglich. Der Logos ist das Prinzip, der Anfang, der Urgrund der Wirklichkeit, aus dem alles wird. Er lenkt das Weltgeschehen und gibt ihm die Ordnung. Er ist das Intelligible, das Geistige der Welt. Mit der Einsicht in dieses Prinzip des Weltgeschehens wird Wahrheit erkannt. Aus der Einsicht in die Ordnung der Wirklichkeit lassen sich Normen für das Handeln ableiten. Das Entdecken des Logos ist aber nicht der großen Masse, sondern nur den Einsichtigen möglich. Parmenides (540–470), ein anderer großer Vorsokratiker, vertritt die Auffassung, dass nicht alle Menschen im Besitz der Wahrheit sind. Wir Menschen sind unterwegs und gehen entweder auf dem Weg der Wahrheit – so die Philosophen – oder auf dem Weg der Meinungen – so die gewöhnlichen Sterblichen. Der Weg der Wahr2 3
Ritter et al., Wörterbuch, Band 12, 48. Ebd., 48.
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Wissen und Wahrheit
heit führt zum Sein, der Weg der Meinungen führt zum Schein. Das Denken geht gleichsam in dem gedachten Sein auf. Da nichts außerhalb des Seienden wirklich sein kann, gilt für die Wahrheit, dass sie dieses Seiende selbst ist. Wahrheit ist also für Parmenides nicht nur Angleichung des Denkens an das Sein. Vielmehr »ist Denken und Sein dasselbe«. 4 Das Sein lässt sich nicht aufteilen in Vieles. Es »ist zusammenhängend, eines und alles«. 5 Es verändert und bewegt sich nicht, es kann nicht entstehen oder vergehen.
3.1.2 Platon Bei Platon ist die Frage nach der Wahrheit ein ganz zentrales Thema. Die elementare Form der Wahrheit ist die logische Wahrheit, die Platon ganz ähnlich definiert wie wir es als klassische Formel bereits festgehalten haben. Urteile sind dann wahr, wenn sie mit dem bezeichneten Sachverhalt übereinstimmen. Wahrheit ist aber auch eine Eigenschaft von Seiendem. Es handelt sich dann um die ontologische Wahrheit. Wenn das, was wir für Gold halten, wirklich so ist, wie Gold sein soll, dann sprechen wir von wahrem Gold. Für Platon muss nun alles, was wahr ist, etwas Unveränderliches sein. Alle Wahrheit ist darum ewig. Wie wird Wahrheit festgestellt? Die Sinneswahrnehmung scheidet als Quelle der Wahrheit aus, weil sie unsicher ist und in der Zeit und von Person zu Person variiert. Die Quelle der Wahrheit ist in der Seele, im Geist, im Denken. Der Geist braucht das Wissen um die Wahrheit nicht erst zu erwerben. Er besitzt es kraft seiner Natur. »Es ist so, dass den Menschen das Wissen innewohnt und die rechten Begriffe.« 6 Dieses Wissen vom Wesen von allem Seienden nennt Platon Ideen. Die Ideen sind angeboren (ideae innatae). Die Seele hat sie in ihrer Praeexistenz geschaut. In unserem gegenwärtigen Leben werden wir durch die Sinneswahrnehmungen angeregt, uns daran zu erinnern (Anamnesis). Die Ideen sind nicht bloß Formen und Funktionen wie bei Kant, sondern zugleich Inhalte. Zur Ideenwelt gehören ursprünglich nur das an sich Gute, Gerechte, Schöne und andere ethisch-ästhetische Ideale. Im Dialog Phai-
4 5 6
VS 28 B 3 »τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι«. VS 28 B 8, 5 f. »ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές«. Platon, Phaidon 73a.
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Wahrheit in der Philosophie
don werden zusätzlich logisch-ontologische Relationen als Ideen bezeichnet, so z. B. die Idee des Gleichen, des Verschiedenen, des Gegensatzes usw. Hinzu kommen ferner die Ideen aller Wesenheiten überhaupt, so das Wesen des Pferdes oder des Menschen. Die Ideenwelt (κόσμος νοητός, mundus intelligibilis) ist die eigentliche und wahre Welt. Die mit den Sinnen wahrnehmbare Welt ist nur ihr Abbild und steht in der Mitte zwischen Sein und Nichtsein. Die Ideenwelt ist zugleich die Welt der Wissenschaft. Die Ideen sind gleichsam hierarchisch in einer Art Ideenpyramide gegliedert. Die Idee der Ideen ist das Absolute, sich selbst Genügende. Das Absolute bedarf keines Grundes, sondern ist durch sich selbst. Es ist das an sich Gute. Platon veranschaulicht seine Ideenlehre in dem berühmten Höhlengleichnis. 7 Unsere Situation ist vergleichbar mit Gefangenen, die sich in einer Höhle befinden. Ihr Rücken ist zum Höhleneingang gerichtet. Die Menschen schauen auf die Höhlenwand und können sich nicht zum Eingang umdrehen. »Licht haben sie von einem Feuer, das … hinter ihnen brennt« (514a). Zwischen dem Feuer und ihnen befindet sich eine mannshohe Mauer. Entlang dieser Mauer tragen Menschen Kunstwerke, die gerade die Mauer überragen. Durch das Feuer werden Schatten dieser Dinge auf die Höhlenwand geworfen. Da die Gefangenen nie etwas anderes sehen als diese Schatten, halten sie diese Abbilder für die wahre Wirklichkeit. Könnten sie sich einmal umwenden und im Lichte des Feuers die Gegenstände selbst schauen, so wären sie wohl sehr erstaunt über diese neue Wirklichkeit. Und könnten sie gar aus der Höhle heraustreten und in der Sonne die lebendigen Menschen, Tiere und wirklichen Dinge selbst betrachten, von denen die in der Höhle vorüber getragenen Gegenstände nur Abbilder waren, dann wären sie wohl ganz geblendet von dieser nun wieder anders gearteten Wirklichkeit. Soweit das Gleichnis. Es ist nun die erste Aufgabe des Philosophen, die Menschen von der Welt des Scheins und der Bilder zu befreien und zum wahren Sein hinzuführen. Dieses wahre Sein ist nun nicht die raum-zeitliche Welt. Denn diese ist auch nur ein Abbild. Die wahrhaft seiende Welt ist nur die Ideenwelt. Nur dort ist Wahrheit.
Platon, Politeia (Der Staat), VII. Buch, 514a-517a, Deutung des Gleichnisses 517a518b.
7
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Wissen und Wahrheit
3.1.3 Aristoteles Der bedeutendste Schüler Platons war Aristoteles. Er verbrachte 20 Jahre in der Schule Platons, der Akademie. Nach dem Tode Platons (347) verließ Aristoteles die Akademie. 335 gründete er seine eigene Schule im Lykeion in Athen. Diese Schule wurde später nach der dort befindlichen Wandel- und Diskussionshalle Peripatos genannt. In den frühen Schriften ist Aristoteles noch ganz geprägt durch die platonische Philosophie, in den späteren Schriften geht er seinen eigenen Weg über Platon hinaus und wird zu dem großen Philosophen, der das philosophische Denken bis heute in entscheidendem Maße mitbestimmt. Für unser Thema »Wissen und Wahrheit« sind vor allem die folgenden vier Schwerpunkte hervorzuheben: Erstens die Logik, zweitens die Erkenntnistheorie, drittens die Metaphysik und viertens Ethik und Politik. Aristoteles hat die Logik als Wissenschaft begründet und entwickelt. Die Logik analysiert die Struktur und die Grundfunktionen des Geistes. Sie ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch, weil sie Anweisungen für ein einwandfreies wissenschaftliches Denken, Beweisen und Widerlegen liefert. Die Logik operiert auf drei Ebenen: der Begriffsbildung, des Urteilens und des Schließens. Aristoteles hat als erster aufgezeigt, wie Begriffe richtig definiert werden. Der Begriff wird aus dem Gattungsbegriff (genus) und der spezifischen Differenz (differentia specifica) gebildet und liefert den Artbegriff. Der Artbegriff ist das Wesen (εἶδος) aller Individuen, die zu einer bestimmten Art gehören. Das Urteil ist der Sitz von wahr und falsch. Urteile werden gebildet gemäß einer der 10 logischen Aussageformen oder Kategorien. Urteile sind aber nicht nur logische Aussageformen, sondern auch Formen des Seins. »Zu sagen, dass das Seiende sei und das Nichtseiende nicht sei, darin besteht die Wahrheit.« 8 Die Schlussfolgerung, der Syllogismus, ist schließlich die Grundlage der Wissenschaft. Aristoteles hat sie in ihren verschiedenen Formen exakt beschrieben und mögliche Fehler beim Schließen aufgezeigt. Der zweite Schwerpunkt betrifft die Art und Weise, wie wir zur wahren Erkenntnis gelangen, die Erkenntnistheorie. Während für Platon die Sinneserkenntnis trügerisch ist und allenfalls Anlass, um zur wahren Schau der Ideen vorzudringen und sich der Ideen wieder 8
Aristoteles, Metaphysik III, 7; 1011 b 27.
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Wahrheit in der Philosophie
zu erinnern, ist sie für Aristoteles Quelle der Erkenntnis. Darum widmet Aristoteles der Sinneserkenntnis große Aufmerksamkeit und analysiert ihre Funktionsweise. Im Gegensatz zu den angeborenen Ideen bei Platon, ist für Aristoteles der Geist eher wie eine leere, unbeschriebene Tafel (tabula rasa). Nichts ist im Geist, was ihm nicht durch die Sinne vermittelt wird. Die Sinneswahrnehmung liefert der Seele immer eine Form, welche die Form des wahrgenommenen Objektes ist, z. B. die Form eines bestimmten Pferdes. Diese sinnliche Form (εἶδος αἰσθητόν, species sensibilis), auch Phantasma oder Sinnesbild genannt, ist ein erstes Allgemeines in der Seele. Kommen nun weitere solche Phantasmen in der Seele zusammen, wie z. B. die Sinnesbilder von Pferd, Löwe, Wolf und anderen Tieren, dann entsteht daraus die Vorstellung vom Tier überhaupt. Diese Vorstellung ist nun schon so allgemein, dass sie dem Begriff vom Tier ganz nahe kommt und in ihn übergehen kann. Sie heißt darum jetzt intelligible Form (εἶδος ἐπιστητόν, species intelligibilis). Als solche ist sie immer noch sinnliche Vorstellung und befindet sich in dem sogenannten erleidenden Verstand (νους παθητικός, intellectus possibilis). Wirkliche Erkenntnis entsteht erst, wenn der tätige Verstand (νους ποιητικός, intellectus agens) eingreift und aus den Sinnesbildern das begriffliche, ideelle Wesen herausholt. Der tätige Verstand ist ein schöpferisches Prinzip. Durch Abstraktion bildet er die unsinnlichen Begriffe. Zugleich ermöglicht er die Schau des Wesens der erkannten Objekte und damit letztlich die Wissenschaft vom Sein als solchen oder die erste Philosophie (Ontologie (Metaphysik) und Theologie). In einem anderen Zusammenhang sagt Aristoteles, der tätige Verstand sei göttlicher Herkunft, ewig und unsterblich. 9 Er komme von außen »zur Tür herein« (θύραθεν) 10, eine Aussage, die bis heute zu Debatten Anlass gibt, wenn es um das Problem der Unsterblichkeit der Seele geht. Der dritte Schwerpunkt liegt im Bereich der Metaphysik. Genau genommen müssten wir von der ersten Philosophie oder Ontologie sprechen, weil Aristoteles den Begriff Metaphysik noch nicht kennt. Der Begriff Metaphysik ist erst später entstanden und besagt lediglich, dass die Bücher zur Ontologie in der Ausgabe der Lehrschriften durch Andronikos nach den 8 Büchern der Physik kamen. 11 Dieser Aristoteles, De anima III, 5. Aristoteles De generatione animalium B, 3; 736 b 27. 11 Hirschberger, Altertum, 138. 9
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Wissen und Wahrheit
Schwerpunkt betrifft die Rolle des Individuums und seines Verhältnisses zum Allgemeinen. Für Platon ist die konkrete, mit den Sinnen erkennbare Welt nur ein Abbild der eigentlichen Wirklichkeit, nämlich der Ideenwelt. Nur die Ideenwelt ist erkennbar und unveränderlich und deshalb wahr. Aristoteles hingegen zeigt, dass das Individuum zuerst erkannt wird. Alle Erkenntnis hebt mit der Sinneswahrnehmung an. Somit ist die letzte Erkenntnisquelle die sinnliche Erfahrung. Von der Wahrnehmung des individuellen Seienden gelangen wir durch Abstraktion zum Allgemeinen. Dieses Allgemeine wird durch den tätigen Verstand in seinem intelligiblen Wesen erkannt. In weiterer Reflexion auf die intelligible Welt und die in ihr befindlichen Individuen gelangt man schließlich zur ersten Philosophie, die das Sein als solches untersucht. Die Tatsache, dass die Erkenntnis bei den einzelnen Objekten und Lebewesen beginnt, führt aber auch zur Begründung der Naturwissenschaften, für die Aristoteles Hervorragendes geleistet hat. Die Hervorhebung der Bedeutung der konkreten Wirklichkeit und des Individuums hat wichtige Auswirkungen auch auf Ethik und Politik. Für Aristoteles ist der Staat nicht zuerst eine platonische Idee und damit zugleich Utopie, der sich die Bürger unterzuordnen haben, sondern eine Gemeinschaft freier Bürger. »Um der Einheit und Macht des Staates willen hatte Platon vorgeschlagen, für die staatstragende Schicht der Wächter die Weiber- und Gütergemeinschaft einzuführen. Aristoteles hält entgegen: Durch den Verzicht auf die Familien würden edelste menschliche Werte verloren gehen. So z. B. wäre das Verhältnis von Mann und Frau nicht mehr das der Freundschaft, des Wohlwollens und gegenseitiger Hilfe, sondern nur noch das der geschlechtlichen Zuchtwahl. … Und was die Gütergemeinschaft betrifft, so gingen auch bei ihr wieder wertvolle menschliche Tugenden verloren, die schenkende Liebe, die großzügige Freigebigkeit und … die Liebe zu sich selbst, die hinter der Freude am eigenen Besitz steckt. Die Selbstliebe ist nur in ihrer … Maßlosigkeit ein Fehler, innerhalb der rechten Ordnung aber etwas Nützliches und sittlich Wertvolles.« 12
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Ebd., 209.
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Wahrheit in der Philosophie
3.1.4 Augustinus Wir überspringen nun 700 Jahre und kommen zu Augustinus. Auch für Augustinus war die Frage nach der Wahrheit das Grundthema, aber sie stellte sich anders. In der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus und Manichäismus begann Augustinus an der Wahrheit überhaupt zu zweifeln. Vielleicht sollte man nicht mehr behaupten, sicheres Wissen zu besitzen, und sich mit bloßen Meinungen begnügen. Die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit fällt bei ihm anders aus als in der antiken Philosophie. Wahr sind die unmittelbar einsichtigen Tatsachen des Bewusstseins. Über das, was jenseits des Bewusstseins liegt, mag man zweifeln. Aber »wird jemand darüber zweifeln, dass er lebt, sich erinnert, Einsichten hat, will, denkt, weiß und urteilt? Eben wenn er zweifelt, lebt er …, wenn er zweifelt, weiß er, dass er nichts Sicheres weiß … Mag also einer auch sonst zweifeln, über was er will, über dieses Zweifeln selbst kann er nicht zweifeln.« 13 In De civitate Dei (XI, 26) fasst Augustinus diese Erkenntnis zusammen in dem berühmten Satz: »Wenn ich irre, weiß ich, dass ich bin (Si enim fallor, sum)«. Wir stießen auf diesen Satz schon im Kapitel »Person und Bewusstsein«, als wir uns mit jenen Neurophilosophen auseinandersetzten, die behaupten, unser Ich sei lediglich eine Illusion. Für Augustinus kann die Quelle der Wahrheit nicht die Sinneswahrnehmung sein, sondern der Geist. »Gehe nicht nach außen! Kehre in dich selbst zurück; im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit.« 14 Diese Wahrheit gründet wiederum in den ewigen Ideen im Geiste Gottes, was uns an die Ideenlehre Platons erinnert. Bei Augustinus kommt eine weitere Wahrheitsquelle hinzu: der christliche Glaube. Der Glaube ist auch dem Intellekt vorgeordnet, wenngleich der Intellekt rational nachzuprüfen hat, was ihm der Glaube als Wahrheit vorgibt. »Crede ut intelligas«, »Glaube, damit du erkennen kannst«. Die Erkenntnis ist letztlich entscheidend, aber der Glaube kann die Erkenntnis voranbringen.
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Augustinus, De trinitate X, 10. Augustinus, De vera religone. Kap. 39, n.73.
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Wissen und Wahrheit
3.1.5 Albert der Große und Thomas von Aquin Die Schriften von Aristoteles gingen zum großen Teil verloren. Die erhalten gebliebenen Schriften waren – mit Ausnahme der logischen Bücher – in der Spätantike und im frühen Mittelalter weitgehend unbekannt. Lediglich in der arabisch-islamischen Welt wurde Aristoteles weiter tradiert und kommentiert, so vor allem durch Avicenna 15 und Averroes 16. Wilhelm von Moerbeke (1215–1286) ist es zu verdanken, dass er die erhaltenen Schriften des Aristoteles aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte und damit eine ausgezeichnete Vorlage für Albertus Magnus (1200–1280) und Thomas von Aquin (1225–1274) lieferte. »Das Projekt, die Aristotelische Philosophie zur Grundlage eines Gedankengebäudes zu machen, dessen krönender Abschluss die Theologie ist, war riskant, da in den ersten Jahrzehnten des [13.] Jahrhunderts dem Aristotelismus … durch päpstliche Verbote eine Absage erteilt worden war. … Erst Albert … gelang der Durchbruch: Seine Bemühungen um eine Synthese von Aristotelismus und christlicher Theologie bewirkten, dass von nun an kein Scholastiker mehr um die Auseinandersetzung mit Aristoteles herumkam.« 17 Albert, wie auch sein Schüler Thomas, war überzeugt, dass zwischen echter philosophischer Einsicht und christlicher Theologie kein Gegensatz bestehen könne. Die Wahrheit ist notwendig eine. Daher kann die Philosophie des Aristoteles – sofern sie wahr ist – nicht der geoffenbarten Wahrheit widersprechen. So entwarfen Albert und Thomas auf dem Boden des aristotelischen Denkens ihre Philosophie und, methodisch davon getrennt, ihre Theologie. Freilich waren dabei auch gewisse Korrekturen nötig, so z. B. bei der Frage der Unsterblichkeit der Seele. Angeregt vom naturwissenschaftlichen Interesse des Aristoteles wandte sich Albert der Naturbeobachtung zu und leistete einen wesentlichen Beitrag, um die Naturforschung in ihr eigenes Recht einzusetzen. So erklärte er: »In der Naturforschung haben wir nicht zu untersuchen, ob und wie der Schöpfer-Gott nach seinem vollkommen freien Willen durch unmittelbares Eingreifen sich seiner Geschöpfe bedient, um durch ein Wunder seine Allmacht kundzutun. Wir haben
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Avicenna (Ibn Sina) lebte von 980–1037 in Persien. Averroës (Ibn Ruschd) lebte von 1126–1198 im islamischen Spanien, Cordoba. Röd, Altertum, 342.
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Wahrheit in der Philosophie
vielmehr einzig und allein zu erforschen, was im Bereich der Natur durch natureigene Kräfte auf natürliche Weise alles möglich ist.« 18 Obwohl Thomas von Aquin sich intensiv mit der Frage nach der Wahrheit auseinandergesetzt und ihr ein eigenes Werk (De veritate) gewidmet hat, müssen wir uns hier beschränken auf die Wahrheit des Urteils und die Erkenntnistheorie. Thomas geht wie Aristoteles davon aus, dass es eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit gibt. Bevor die Gegenstände dieser Wirklichkeit auf uns einwirken, gleicht die Seele einer unbeschriebenen Tafel. Es gibt keine angeborenen Begriffe oder Erkenntnisse. Ein Urteil über die Gegenstände ist dann wahr, wenn der urteilende Verstand sich den Gegenständen angleicht (adaequatio), mit ihnen übereinstimmt. Gemäß der Abbildtheorie kommt die Übereinstimmung dadurch zustande, dass im Wahrnehmenden ein sinnliches Bild des Gegenstandes entsteht. Die Einbildungskraft nimmt das sinnliche Bild auf. Der aktive Verstand (intellectus agens) abstrahiert von den Besonderheiten des Sinnesbildes und hält nur die allgemeinen Eigenschaften fest, d. h. er bildet abstrakte Begriffe. Diese Begriffe sind nicht bloß funktional gedacht: Thomas geht davon aus, dass die Gegenstände ihre innere Wahrheit, ihre Form und Idee, haben, und dass diese sich in unserer Seele widerspiegeln. 19 Weil der intellectus agens an der einen ewigen Wahrheit teilhat, kann er auch wieder aktuieren, was in den Dingen latent an ewigen Formen eingeschlossen ist. 20 Die Erkenntnis wird aber nicht mit der Erfassung des Wesens, sondern erst mit dem Urteil abgeschlossen. Das Urteil verbindet oder trennt Begriffe. Wenn es so verbindet oder trennt, wie die Sachverhalte in der Wirklichkeit verbunden oder getrennt sind, dann ist es wahr. »Wahrheit heißt sagen, dass das ist, was ist, und nicht ist, was nicht ist.« 21 Oder kürzer gefasst: »Wahrheit ist die Angleichung der Sache und des Intellekts.« 22
Albert der Große: De caelo et mundo. Opera omnia V/1, 272. Zitiert nach Röd, Altertum, 342. 19 Thomas von Aquin, S. th. I, 16, 6: »Anima non secundum quamcumque veritatem iudicat de rebus omnibus; sed secundum veritatem primam, inquantum resultat in ea sicut in speculo, secundum prima intelligibilia.« 20 Ebd., 79, 4: »oportet ponere in ipsa anima humana aliquam virtutem ab illo intellectu superiori participatam, per quam anima facit intelligibilia in actu.« 21 Thomas von Aquin, De ver. I, 1 22 Thomas von Aquin, S. th. I, q. 16, 1: »Veritas est adaequatio rei et intellectus«. 18
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Wissen und Wahrheit
Die Philosophie des Thomas von Aquin ist sicherlich ein Höhepunkt der Metaphysik und damit auch der Suche nach der Wahrheit. Thomas hat es auch verstanden, Philosophie und Theologie so aufeinander abzustimmen, dass sie sich gegenseitig ergänzen und ein wohl strukturiertes Lehrgebäude darstellen. Doch in den folgenden Jahrhunderten erstarrte und degenerierte das Lehrgebäude der großen Denker des Mittelalters zur Scholastik, die als Schulphilosophie immer mehr an Ansehen verlor.
3.1.6 Die kopernikanische Wende bei Kant Die Frage nach Wissen und Wahrheit kommt zu einer entscheidenden Wende mit Immanuel Kant. Kant ist keineswegs der Zermalmer der Metaphysik, wie er von manchen Leuten genannt wurde. Sein Anliegen ist es vielmehr, die Metaphysik auf einen sicheren Boden zu stellen, ihr den sicheren Gang einer Wissenschaft zu verleihen. 23 Bevor man die Frage nach der Wahrheit stellen und beantworten kann, muss erforscht werden, wie Erkenntnis und Wissen überhaupt möglich sind. Bei dieser Analyse kommt Kant zu der für seine Philosophie entscheidenden Entdeckung, deren Bedeutung er selbst mit der Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild vergleicht, die Kopernikus herbeigeführt hat: »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn »Die Philosophie bedarf einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit, die Prinzipien und den Umfang aller Erkenntnis a priori bestimme«, Kant, KrV B6. Die Grundfrage für Kant ist deshalb: »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?« KrV B22.
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Wahrheit in der Philosophie
er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.« 24 Kant untersucht nicht primär die Gegenstände, sondern wie die Erkenntnis von Gegenständen a priori möglich ist. »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen.« 25 Ähnlich wie bei Aristoteles fängt auch bei Kant alle Erkenntnis mit der Erfahrung an. Der Verstand ist wie eine unbeschriebene Tafel. Die Umwelt affiziert unsere Sinne mit dem »rohen Stoff sinnlicher Eindrücke«. 26 Es entstehen die Empfindungen, die wir passiv und rezeptiv auf uns wirken lassen. Der Stoff der Empfindungen wird sodann durch unsere aktiven und spontanen Vermögen geformt und so zur Erkenntnis gebracht. Mit den a priori Anschauungsformen von Raum und Zeit werden die Sinnesempfindungen zu Wahrnehmungen (transzendentale Ästhetik). Durch die a priori Denkformen oder Kategorien des Verstandes werden die Wahrnehmungen zu Erkenntnissen gemacht (transzendentale Logik). Im Kernstück der Kritik der reinen Vernunft, nämlich der transzendentalen Deduktion, leitet Kant die Kategorien aus ihrer »Quelle«, der transzendentalen Einheit der Apperzeption ab. Unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption versteht er das denkende Ich. »Das: Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können«. 27 Er nennt die transzendentale Einheit der Apperzeption auch »die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins«. 28 Oder anders gewendet: »Nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle« 29. Aus dieser transzendentalen Einheit der Apperzeption leitet Kant 12 Verstandesfunktionen oder Kategorien ab. Diese Verstandesfunktionen bewirken a priori die Synthesis des Mannigfaltigen der Sinnesanschauungen. Dass es gerade diese 12 Kategorien sein sollen, ist verschiedentlich kritisiert worden. Wie viele und welche Kategorien sich aus der transzendentalen Einheit der Apperzeption herleiten lassen, ist 24 25 26 27 28 29
Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, XVII. Ebd., B25. Ebd., B1. Ebd., B131. Der Kursivdruck in den Kant-Zitaten ist jeweils von mir gesetzt. Ebd., B132. Ebd., B133.
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Wissen und Wahrheit
jedoch nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass unser Verstand mittels solcher synthetischer Funktionen wie der Kategorien die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen synthetisiert und zur Erkenntnis bringt. Ein Beispiel für eine Kategorie ist die Kausalität, die für das naturwissenschaftliche Denken unentbehrlich ist. Ein weiteres wichtiges und bis jetzt umstrittenes Ergebnis der Philosophie von Kant ist die Unterscheidung zwischen der Erscheinung (Phänomenon) und dem Ding an sich (Noumenon). Die Erkenntnis bleibt auf die Sinneserscheinungen beschränkt. Darüber hinaus vermag die Vernunft nichts zu erkennen. Das Ding an sich bleibt uns verborgen, da es nicht Gegenstand der Erfahrung sein kann. Somit ist eine Metaphysik im klassischen Sinn für Kant nicht möglich. Dennoch versteht sich Kant in einem neuen Sinn als Metaphysiker. Für ihn ist die transzendentale Logik der Kritik der reinen Vernunft und im weiteren Sinn die ganze Vernunftkritik bereits Metaphysik. In der Kritik der praktischen Vernunft öffnet sich auch der Zugang zum Ding an sich. Die praktische Vernunft beweist die Realität ihrer selbst und ihrer Begriffe durch die Tat, »und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit«, praktisch zu sein, ist vergeblich. »Mit diesem Vermögen steht auch die transzendentale Freiheit nunmehro fest … Der Begriff Freiheit … macht nun den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen … Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit) … schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, dass Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz.« 30 Die Wahrheit in der Metaphysik ist also auch für Kant die wichtigste Aufgabe der Philosophie. Sie ist aber erst nach einer sorgfältigen Kritik der Vernunft möglich. Deshalb kann die Philosophie heute nicht mehr hinter Kant zurück. Die ungeheuer reiche und vielfältige Entwicklung der Philosophie von Kant bis heute auch nur zu skizzieren, würde unsere Aufgabe bei weitem übersteigen. Wichtig war es uns zu zeigen, wie der Kant, KpV A 3–5. Die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes sind Postulate der reinen praktischen Vernunft (Kant, KpV A220–241). Unter Postulat der reinen praktischen Vernunft versteht Kant »einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz, … sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (Kant, KpV A220). Wir kommen auf diese Überlegungen im Kapitel »Freiheit der Person« zurück.
30
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Wissen in den Neurowissenschaften
ontologischen Untersuchung der Wahrheit mehr und mehr eine erkenntnistheoretische Analyse vorausgeht.
3.2 Wissen in den Neurowissenschaften Die Analyse von Wahrnehmung und Gegenstandserkenntnis ist in der Zeit nach Kant nicht mehr bloß Aufgabe der Philosophie, sondern mehr und mehr auch Sache der Hirnforschung. Die Hirnforschung untersucht, wie die verschiedenen Sinnesinformationen von den Sinnesorganen aufgenommen und dann in den höheren Zentren des Gehirns verarbeitet werden. Wir wollen uns davon einen elementaren Überblick verschaffen, und zwar am Beispiel des visuellen Systems, das von allen Sinnessystemen am besten untersucht ist.
3.2.1 Affizierung der Sinnesorgane durch die Umwelt am Beispiel des visuellen Systems Wenn die visuelle Information als Licht auf die Rezeptoren unserer Netzhaut (Retina) trifft, dann sehen wir noch keine Gegenstände, sondern lediglich Lichtpunkte, weil die Rezeptoren wie ein Mosaik angeordnet sind. Ein Teil der Rezeptoren, die Stäbchen, spricht lediglich auf Unterschiede in der Helligkeit an. Die anderen Rezeptoren, die Zapfen, reagieren auf verschiedene Farben. Sie enthalten blau-, grün- oder rotempfindliche Photopigmente und werden durch die entsprechenden Wellenlängen des Lichts erregt. Heute haben wir eine weit verbreitete technische Neuentwicklung, welche die Anordnung der Rezeptoren in der Retina nachahmt. Es handelt sich um die Sensoren für die digitalen Kameras. 31 Dort wird jedem Pixel eine bestimmte Helligkeit zugeordnet, wodurch schwarz-weiß Aufnahmen entstehen. Für Farbbilder müssen die Pixel mit entsprechenden Farbfiltern beschichtet werden. 32 Die Retina reagiert sehr stark auf Ein- und Ausschalten von Licht und gibt flächige Informationen über die Verteilung von HelDie Forscher Charles Kao, George Smith und Willard Boyle erhielten dafür 2009 den Nobelpreis für Physik. 32 Für High-End-Zwecke werden CCD-Kameras verwendet (CCD für ChargeCoupled Device). 31
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Wissen und Wahrheit
ligkeit und Farben über ihre Ganglienzellen an das Zwischenhirn weiter. Durch die Kreuzung der Fasern der Ganglienzellen im Chiasma geschieht etwas Wichtiges: Das Gesichtsfeld wird senkrecht in zwei Hälften geteilt. Die Information von einer Gesichtsfeldhälfte kommt von beiden Augen im Zwischenhirn zusammen, und zwar die linke Gesichtsfeldhälfte auf das rechte Zwischenhirn (Corpus geniculatum laterale) und die rechte Gesichtsfeldhälfte auf das linke Zwischenhirn. Die Fasern endigen am Zwischenhirn topologisch geordnet entsprechend ihrer Herkunft aus der Retina, bleiben aber noch nach rechtem und linkem Auge in unterschiedlichen Kanälen getrennt. Erst im primären visuellen Kortex (V1) werden die Informationen von zwei korrespondierenden Netzhautpunkten zusammengeschaltet. Dort werden die Neurone, die aus beiden Retinae Input erhalten, binokulär.
3.2.2 Die visuellen Areale des Kortex Es folgen weitere Ebenen der Informationsverarbeitung im primären visuellen Kortex wie auch in den höheren visuellen Arealen. Diese sogenannten höheren Ebenen sind aber jeweils mit den niedrigeren Ebenen rückgekoppelt. Es handelt sich also nicht um eine Hierarchie im strengen Sinn, sondern um ein weiteres Fortschreiten der Informationsverarbeitung. Bestimmte Neurone werden in der nächsten Stufe so zu Modulen oder Kolumnen zusammengeschaltet, dass sie jeweils eine bestimmte Funktion repräsentieren und auf einen bestimmten Reiz besonders gut antworten, so z. B. auf eine bestimmte Orientierung (visuelles Areal V2) oder Bewegungsrichtung (visuelles Areal V3) des Reizes. Farbkodierende Neurone projizieren in kleine, tröpfchenförmige Bereiche des primären visuellen Kortex und von dort weiter zum visuellen Areal V4. Von den visuellen Arealen werden die Informationen zum übrigen Kortex hauptsächlich auf zwei Wegen weitergeleitet. Die Form des Gegenstandes wird den Arealen des Temporallappens mitgeteilt. Der Ort, die Orientierung und die Bewegungsrichtung des Gegenstandes werden an den parietalen und präfrontalen Kortex vermittelt.
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Wissen in den Neurowissenschaften
3.2.3 Neuronale Zellverbände Die Ausbildung der Formerkennung und reizspezifischer Antwortmuster geschieht nicht auf der Ebene einzelner Neurone, sondern praktisch immer von Gruppen von Neuronen (cell assemblies 33). Die Synapsen dieser Neurone sind nicht fest verdrahtet, sondern plastisch, d. h. sie können sich ändern sowohl in ihrer Position als auch in der Stärke der Verbindung in Abhängigkeit vom Reiz (Hebbsche Synapsen). Man kann das sehr schön in Experimenten nachweisen. Wenn man z. B. Versuchstiere in einer Umgebung aufwachsen lässt, in der nur vertikale Streifen sichtbar sind, dann antworten die orientierungsspezifischen Zellen des visuellen Kortex ebenfalls vorzugsweise auf vertikal orientierte Muster. Um besser zu verstehen, was Hebb sich unter dynamischen Neuronenverbänden vorgestellt hat (Abb. 1), wollen wir das Gehirn vergleichen mit einer Stadt und die einzelnen Neurone mit den Bürgern dieser Stadt. Ein Bürger kann Mitglied in verschiedenen sozialen Verbänden sein; er kann einer politischen Gruppierung, einer Kirche oder einem Kegelklub angehören. Die Mitglieder einer jeden sozialen Gruppierung sind miteinander verbunden, weil jede Gruppierung zwangsläufig einige Mitglieder hat, die auch anderen Gruppierungen angehören. So kann auch eine Nervenzelle vielen Zellverbänden des Gehirns angehören. 34 Mit diesem Modell könnte auch das Problem der sogenannten »Großmutterzelle« gelöst werden. Früher war man der Meinung, es gebe in der Hirnrinde Neurone, die ganz spezifisch auf bestimmte Muster reagieren, wie etwa die Erscheinung einer älteren Frau (»Großmutter«). Auf der Basis der Theorie der Neuronenverbände könnte man dieses Problem auch anders erklären. Neurone, die sich in verschiedenen Teilen des Gehirns befinden, können miteinander über Jahre hinweg in Verbindung gekommen sein als Reaktion auf die Wahrnehmung einer älteren Frau. Zellen im visuellen Kortex würden auf ihr Bild antworten und solche Zellen im Temporallappen zum Feuern bringen, die früher durch die Stimme dieser Frau aktiviert wurden. Es ist also keine bestimmte Zelle, welche die Großmutter erkennt, sondern ein Neuronenverband, der gemeinsam auf das Erscheinen einer alten Dame reagiert. Heute wird versucht, auf sehr 33 34
Hebb, Behavior. Beispiel nach Scott, Stairway.
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Wissen und Wahrheit
B1
A1
C
A2
B2
Abbildung 1. Modell von dynamischen Neuronenverbänden. Die Kreise bedeuten Neuronenverbände oder Unterverbände. Hebb postulierte, dass ein Unterverband C als Verbindung zwischen zwei Neuronenverbänden A1 und A2 bzw. B1 und B2 dienen könnte. Neu gezeichnet nach Hebb, Behavior.
rudimentäre Weise diese Gesichtswahrnehmung auf Digitalkameras zu implementieren. Man schätzt, dass die maximale Zahl von möglichen Neuronenverbänden im Gehirn sich in der Größenordnung von etwa ~109 bewegt, 35 d. h. es gibt fast ebenso viele Neuronenverbände wie Neurone, was sich aus der Zugehörigkeit eines Neurons zu verschiedenen Neuronenverbänden ergibt. Um zu verstehen, wie Neuronenverbände funktionieren, stellen wir uns ein Kind vor, welches lernt, ein Dreieck wahrzunehmen (Abb. 2). Das Dreieck besteht aus den 3 Winkeln X, Y, und Z. 36 Durch Augenbewegungen werden diese Winkel auf die zentrale Retina und von dort auf den primären visuellen Kortex (V1) abgebildet. Die entsprechenden Neuronenverbände entwickeln sich dann in der sekundären visuellen Area (V2). Wenn das Dreieck geprüft wird, dann werden nacheinander die zugehörigen Neuronenverbände X, Y und Z aktiviert. Diese Neuronenverbände fusionieren allmählich in einen gemeinsamen neuen Verband, welcher das Dreieck als ganzes wahrnimmt. Mit der Zeit werden die internen Verbindungen von X, Y und 35 36
Ebd. Siehe Abbildung 2 und Rager, Theorien.
80 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wissen in den Neurowissenschaften
Z
X
{a}
Y
X
{b} Z
{c}
Y
{d}
Abbildung 2. Modell des Erlernens der Wahrnehmung eines Dreiecks. Es wird angenommen, dass zuerst die Winkel des Dreiecks durch Augenbewegungen auf die zentrale Netzhaut und von dort auf den primären visuellen Kortex abgebildet werden. Die korrespondierenden Neuronenverbände für die Winkel X, Y und Z entstehen im sekundären visuellen Kortex. Allmählich fusionieren diese Unterverbände in einen gemeinsamen Neuronenverband für das Dreieck mit den Ecken X, Y und Z. Neu gezeichnet nach Hebb, Behavior.
Z verstärkt. Der Blick auf einen Winkel kann dann schon den ganzen Neuronenverband aktivieren, welcher das Dreieck repräsentiert. In diesem Moment des Lernprozesses ist der Neuronenverband für die Wahrnehmung des Dreiecks von höherer Ordnung als die ihn konstituierenden Neuronenverbände für die Wahrnehmung der Winkel X, Y und Z. Neuronenverbände können anderen Verbänden unter- oder übergeordnet sein. Man nimmt an, dass Verbände von Verbänden die gleichen Schwelleneigenschaften haben wie elementare Verbände. Jeder Neuronenverband hat seine eigene minimale Reizschwelle. Sobald diese Schwelle erreicht ist, feuert der ganze Verband. So ist es auch mit Verbänden höherer Ordnung. Für einen Neuronenverband erster Ordnung ist es nötig, dass eine gewisse Zahl von Neuronen aktiviert ist. Für das Feuern eines Neuronenverbandes zweiter Ord81 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wissen und Wahrheit
nung ist Voraussetzung, dass eine gewisse Zahl von Neuronenverbänden erster Ordnung aktiv ist und so weiter. Solche Neuronenverbände werden sehr schnell zusammengeschaltet und dann auch wieder entkoppelt. 37 Wie werden nun Neuronenverbände in einem Prozess des Wahrnehmens oder Lernens miteinander verbunden? Es ist bekannt, dass innerhalb des Kortex horizontale Verbindungen bestehen, über welche weiter voneinander entfernte Zellgruppen aktiviert werden können. Über noch größere Distanzen werden solche Verbindungen durch Assoziations- und Kommissurenfasern hergestellt. Diese Fasern verlassen den Kortex, verlaufen in der weißen Substanz und ziehen zu anderen kortikalen Arealen entweder derselben oder der anderen Hemisphäre. Es spricht viel dafür, dass die temporär miteinander gekoppelten Neuronenverbände in einem gemeinsamen Rhythmus entladen oder – wie man auch sagt – oszillieren. Dieser Rhythmus liegt häufig in der Größenordnung von 40 Hz. Es lässt sich also neurobiologisch zeigen, dass unsere Wahrnehmungen keine direkten Abbildungen der uns umgebenden Welt sind, sondern nach den Regeln der Verschaltung des Nervensystems konstruiert werden. Wir empfangen elektromagnetische Wellen verschiedener Frequenzen, nehmen aber Farben wahr. Wir empfangen Schallwellen, hören aber Worte und Musik. Wahrnehmungen existieren als solche nicht außerhalb des Gehirns, sondern entstehen erst durch die Verarbeitung im Gehirn. 38 Um diese Aussage zu belegen, werden gerne folgende Beispiele vorgeführt: Im Bild des dänischen Psychologen Edgar Rubin 39 (Abb. 3) sehen wir einmal ein Paar von Gesichtern, ein anderes Mal aber eine Vase. Der Wechsel hängt ab von der Entscheidung, was wir als Figur und was als Hintergrund wahrnehmen. Die Wahrnehmung kann leicht von der einen in die andere Form umkippen. Im Kanizsa-Dreieck 40 (Abb. 4) sehen wir die Konturen von Dreiecken. Sie sind aber in der Zeichnung nicht enthalten.
Zu den Neuronenverbänden siehe auch Braitenberg/Schüz, Cortex cerebri. Hier wären Verbindungen herzustellen zur Transzendentalphilosophie von Kant, in welcher unterschieden wird zwischen der Affektion durch die Sinne, den Empfindungen einerseits, und den formalen Bedingungen der Anschauung, den a priori Strukturen der Sinnlichkeit und des Verstandes andererseits. 39 Siehe Abbildung 3. 40 Siehe Abbildung 4. 37 38
82 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wissen in den Neurowissenschaften
Abbildung 3. Figur und Hintergrund nach Edgar Rubin. Je nachdem, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, sehen wir entweder eine Vase oder zwei Gesichter.
3.2.4 Wie entsteht ein visuelles Objekt? Es wurden verschiedene Modelle entwickelt, die erklären sollen, wie aus dem Material der Eindrücke geformte Gegenstände der Sinneswahrnehmung werden. Auf Grund der Ergebnisse von psychophysischen Experimenten hat Anne Treisman ein Modell vorgeschlagen (Abb. 5), nach welchem die visuelle Szene zuerst in einige einfache Eigenschaften zerlegt wird. Diese Eigenschaften wie Farbe, Größe oder Orientierung werden als Merkmalskarten bezeichnet. Die Information über die Position der beobachteten Gegenstände im Raum wird auf einer anderen Ebene (Positionskarte) niedergelegt. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf eine solche Position mit den Merkmalen, die dort vorhanden sind. Von den mit Position und Merkmalen versehenen Gegenständen werden Akten angelegt, welche diese Gegenstände für eine bestimmte Zeit repräsentieren. Schließlich werden die so gewonnenen Informationen eines Gegenstandes, z. B. eines Vogels, verglichen mit den bereits im Gehirn gespeicherten Daten von dieser Art von Vögeln. Treisman nennt die dafür nötigen Strukturen Wiedererkennungsnetzwerk. Die hier vorgestellte Verarbeitungshierarchie ist aber nur ein Modell und nicht identisch mit den 83 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wissen und Wahrheit
Abbildung 4. Das Kanisza-Dreieck. Im Zentrum der beiden Bilder kann man ein Dreieck sehen, obwohl es nicht gezeichnet ist.
bisher morphologisch und physiologisch beobachteten Verarbeitungsstufen im Gehirn. 41 Die vorher gezeigten Bildbeispiele weisen darauf hin, dass es teilweise auf unsere Interpretation ankommt, was wir sehen. Es kommt darauf an, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf die Figur oder auf den Hintergrund legen. Im Falle der Vexierbilder werden durch selektive Aufmerksamkeit einerseits bestimmte Merkmale herausgefiltert, andererseits wird die Wahrnehmung anderer Merkmale verschärft. Man glaubt nun sagen zu dürfen, dass durch die Zuwendung der Aufmerksamkeit einige Reize im Bewusstsein hervorgehoben, andere Reize erst gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Man meint, über die selektive Aufmerksamkeit einen ersten Zugang zum Verständnis des Bewusstseins gefunden zu haben, und erinnert an William James, der 1890 in seinen »Principles of Psychology« geschrieben hat: »Mein Erleben ist das, worauf ich mich entschieden habe, meine Aufmerksamkeit zu richten.« 42
Treisman, Features. Das Bild vom Treisman-Modell ist wiedergegeben in Rager, Person, 78. 42 Zitiert in Kandel et al., Essentials, 403. 41
84 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wissen in den Neurowissenschaften Wiedererkennungsnetzwerk
Gegenstandsakte Zeit und Ort Eigenschaften
gespeicherte Gegenstandsbeschreibungen
Beziehungen
Identität (Name)
Scheinwerfer der Aufmerksamkeit Positionskarte
Musterkarten
Farbe
Orientierung
Grösse
stereoskopischer Abstand
Abbildung 5. Modell eines Wiedererkennungsnetzwerks. Nach diesem Modell wird die visuelle Szene zuerst in einfache Eigenschaften wie Farbe, Größe oder Reize Orientierung zerlegt, die als Musterkarten bezeichnet werden. Die Information über die Position der beobachteten Gegenstände wird auf der Ebene der Positionskarte niedergelegt. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf eine solche Position mit den Merkmalen des Gegenstandes. Von den mit Position und Merkmalen versehenen Gegenständen werden Akten angelegt, welche diese Gegenstände repräsentieren. Schließlich werden die so gewonnenen Informationen eines Gegenstandes verglichen mit den bereits im Gehirn gespeicherten Daten. Treisman nennt die dafür nötigen Strukturen Wiedererkennungsnetzwerk. Die hier vorgestellte Verarbeitungshierarchie ist aber nicht identisch mit den bisher beobachteten Verarbeitungsstufen im Gehirn. https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Wissen und Wahrheit
3.2.5 Integration der Sinnesmodalitäten und Ort der Objekte im Raum Die Informationsverarbeitung in den anderen Sinnesmodalitäten wie Hören, Tasten, Riechen etc. verläuft ähnlich wie im visuellen System. Schließlich werden die Informationen aus den verschiedenen Sinnesmodalitäten im Assoziationskortex zusammengeführt. Zugleich aber wird der Ort des Objektes im Raum festgelegt. Nur so weiß ich, wo ich hinschauen muss, wenn ein Schallreiz auf mich zukommt, und ob sich das Objekt in einer Entfernung von mir befindet, in der ich es auch greifen kann. Aus der Sicht des Nervensystems sind drei Räume zu unterscheiden: 43 Der personale Raum, der durch unsere Körperoberfläche definiert ist; der peripersonale Raum, der den nahen Raum in Reichweite des Armes meint; und der extrapersonale Raum, der sich fern von mir, also außerhalb meiner Reichweite befindet.
3.2.6 Vergleich mit der Analyse von Kant Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse zeigen Analogien zu der Analyse von Kant. Wir sehen nicht unmittelbar bestimmte Objekte, sondern werden von Signalen aus der Umwelt affiziert, die das Material der Sinneserkenntnis liefern. Das Gehirn hat nun a priori Strategien, um dieses Material Zug um Zug zu Gegenständen zu formen und diesen Gegenständen einen bestimmten Platz in dem uns umgebenden Raum zuzuordnen. Das Gehirn hat zunächst keine Inhalte oder Ideen, sondern ist wie eine unbeschriebene Tafel. Es ist aber in der Lage, mit seinen neuronalen Prozessen, gleichsam a priori von den Wahrnehmungen zu Erkenntnissen über die Objekte zu gelangen. Einige der neuronalen Funktionen sind mit der Struktur des Gehirns gegeben, andere entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Ob sich mit der Analyse der Hirnfunktionen dereinst ein neues System von Kategorien analog zu den Kategorien von Aristoteles oder Kant erstellen lässt, ist heute noch nicht absehbar. Wir haben uns mit dieser Darstellung nur einen kleinen Einblick in das verschafft, was die Neurowissenschaften über Wahrnehmung, Erkenntnis und Entstehung von Wissen erforscht haben. Nicht erRizzolatti/Sinigaglia, Empathie, 74; Schmidt/Thews, 308; Kandel et al., Principles, 374, 378–381, 870.
43
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Vom Wissen zur Wahrheit
wähnt sind z. B. die Bereiche Lernen, Gedächtnis und Emotion, denen ebenfalls eine wichtige Rolle zukommt. Dies mag aber genügen, um grundsätzlich die Strategie des Gehirns zu skizzieren, soweit wir dazu neurowissenschaftlich in der Lage sind, und sie mit philosophischen Methoden zu vergleichen.
3.3 Vom Wissen zur Wahrheit Die Neurowissenschaften haben in kurzer Zeit eine Menge an Wissen erarbeitet über die neuronalen Korrelate, die bei der Wahrnehmung und der Objekterkenntnis eine wichtige Rolle spielen. Die Ergebnisse sind nach heutigem Kenntnisstand logisch wahr (Erkenntniswahrheit) und experimentell prüfbar, die Frage nach der ontologischen Wahrheit (Seins-Wahrheit) wird aber dabei zu Recht nicht gestellt. Sie ist nicht Gegenstand der Hirnforschung. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wenn wir glaubten, die Frage nach der ontologischen Wahrheit und nach dem Sinn des Lebens lasse sich auf neuronale Prozesse reduzieren, wie das manche Neurophilosophen heute behaupten. Der neurophilosophische Reduktionismus löst unsere Probleme nicht. Er hat keine Antwort auf unsere unabweislichen LebensFragen. Die Frage nach der Seins-Wahrheit stellt sich in unserem lebensweltlichen Kontext. Dort wird sie dringlich. Ohne überzeugende Antwort fehlt uns die Grundlage für sinnvolles Handeln. Eine Antwort auf die Frage nach dieser Wahrheit lässt sich auf wenigstens zwei Wegen finden. Der eine Weg führt wieder zur Philosophie, aber nicht in der Weise, dass wir einfach wiederholen, was die Philosophen gesagt haben. Die Antworten der Philosophen müssen geprüft und gereinigt werden durch die Kritik, die sich aus der Erkenntnistheorie, aus der Wahrnehmungspsychologie und aus den Neurowissenschaften ergibt. Der andere Weg ist ein authentischer Neubeginn des Fragens und Reflektierens, der bei den Grunderfahrungen und Gegebenheiten unserer Zeit anhebt und zu den letzten Fragen vorstößt. Eine der Grunderfahrungen ist es, dass wir nur deshalb Ich zu uns sagen können, weil wir in Ich-Du-Wir Beziehungen aufgewachsen sind. 44 Das Du steht deshalb mir gegenüber und beansprucht die Dazu mehr in den Kapiteln »Bewusstsein, Ich und Selbst«, »Freiheit« und »Verantwortung und Liebe«.
44
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Wissen und Wahrheit
gleichen Rechte wie ich sie für mich beanspruche. Es ist befähigt zur Freiheit und zum sittlichen Handeln. Daher kommt ihm wie mir Würde zu. Das Du ist wie ich Person. Aus diesem interpersonalen Verhältnis folgt die gegenseitige Achtung und die Anerkennung der gleichen Rechte aller in dieser Gemeinschaft lebenden Personen, etwa in der Weise des kategorischen Imperativs von Kant. Wir erfahren darüber hinaus, dass die Anerkennung der Rechte zwar elementar wichtig ist, uns aber noch nicht glücklich macht. Erst wenn die Beziehung zu anderen Personen von Liebe getragen ist, erfahren wir Glück und Freude (Eudaimonie von Aristoteles). So gehört es zur Wahrheit eines gelungenen Lebens, dass es sich nach Liebe sehnt und erst in der Liebe seine Erfüllung findet. Unsere Welterfahrung 45 lehrt uns, dass wir als Teil des Naturgeschehens den Gesetzen von Natur und Kosmos unterworfen sind. Daraus folgen wichtige Erkenntnisse und Regeln für die Gestaltung unseres Lebens. Die Natur ist zugleich unser Lebensraum. Diesen Lebensraum gilt es zu schützen und zu bewahren. Der Schaden, den wir ihm zufügen, beschädigt zugleich unsere Lebensgrundlage und die Lebensmöglichkeiten der künftigen Generationen. Täglich erleben wir, dass wir uns entwickeln, unsere Fähigkeiten entfalten, zur Reife des Lebens heranwachsen, mit dem Alter immer mehr in unserer Leistungsfähigkeit abnehmen, den Krankheiten unterworfen sind und schließlich sterben. Unser ganzes Leben ist durchzogen von der Erfahrung der Kontingenz. 46 Es ist also wahr, dass wir nur vorübergehende Erscheinungen im Lauf der Geschichte sind. Dennoch sind die meisten von uns davon überzeugt, dass unsere Existenz trotz ihrer Kontingenz einen Sinn hat. Wir suchen die Wahrheit und den Sinn unseres kontingenten Lebens. Aus der Wahrheit unseres Lebenssinns ziehen wir Konsequenzen für unsere Lebensgestaltung. Wir sind gut beraten, wenn wir uns im Prozess der Reflexion auch bei den Philosophen oder bei den Aussagen des Glaubens erkundigen. Oft entbirgt sich die Wahrheit nicht so sehr in der philosophischen Argumentation als im gelebten Vorbild. Die meisten Menschen, wenn nicht alle, erfahren nicht nur ihre Kontingenz, sondern sind auch überzeugt, dass es etwas gibt, was ihr persönliches Leben dauerhaft übersteigt und ihm Sinn verleiht. Die Erfahrung der Transzendenz wird insbesondere dann lebendig, wenn 45 46
Dazu mehr im Kapitel »Evolution«. Dazu mehr im Kapitel »Sterben und Tod«.
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Vom Wissen zur Wahrheit
wir uns in Grenzsituationen befinden. Wir wissen, dass unser Lebensanfang – trotz In-vitro-Fertilisation – für jeden von uns unverfügbar ist. Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Tsunami, die uns mit einem Schlag unserer Familienmitglieder und unseres Besitzes berauben, fordern unser Vertrauen in den Sinn des Lebens aufs äußerste heraus. Von Menschen verursachte Katastrophen wie Kriege, Unterdrückung der Menschenrechte in Diktaturen, schuldhaft verursachte Unfälle oder Gewaltverbrechen lassen uns noch mehr an der Sinnhaftigkeit unseres Lebens zweifeln, weil diese Katastrophen durch den Missbrauch der menschlichen Freiheit verursacht sind. Viele Menschen suchen sich der Transzendenz zu öffnen durch Meditation, Yoga oder andere Lebensweisen. Sie erhoffen sich dadurch Geborgenheit, Stille des Geistes, Besänftigung der Emotionen, Erfahrung ihres persönlichen Lebenssinns und Wissen um das richtige Handeln. Die Transzendenz wird in ganz besonderer Weise erfahren im christlichen Glauben an die Frohe Botschaft, welche die Wahrheit und den Weg zum richtigen Leben erschließt. Das Wissen um die Transzendenz zieht sich durch die ganze Philosophiegeschichte. Für Heraklit und Parmenides war es die Teilhabe am Logos, die zur Wahrheit führt. Bei Platon sind die Ideen allein das wahrhaft Seiende. Die Dinge dieser Welt nehmen lediglich Teil daran. Bei Aristoteles ist der tätige Verstand in uns göttlicher Herkunft und deshalb ewig und unsterblich. Die Idee der Partizipation, dass das Endliche am Ewigen teilhat, wird weiterentwickelt bei Augustinus und erfährt bei Thomas von Aquin seine klassische Gestalt. Kant geht zwar das Problem der Transzendenz ganz anders an, aber auch bei ihm gibt es zahlreiche Begriffe und Überlegungen, die über das bloß Innerweltliche hinausweisen, so etwa der Begriff vom höchsten Gut, 47 die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als Postulate der reinen praktischen Vernunft 48 oder die »Achtung fürs moralische Gesetz«. 49 Was wir letztlich anstreben, wenn wir nach der Wahrheit suchen, ist die »Unverborgenheit des Seins«, 50 wie sie schon die Kant, KpV A197, 219. Ebd., A219 ff. 49 Ebd., A130, 288. 50 »Das ›Wahrsein‹ des λόγος als ἀληθεύειν besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, im λέγειν als ἀποφαίνεσθαι aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes (ἀληθές) sehen lassen, entdecken«. Heidegger, Sein und Zeit, 33 und ähnlich 219. 47 48
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Wissen und Wahrheit
Vorsokratiker formuliert haben. Diese Suche ist die Triebfeder der ganzen Geschichte der Philosophie wie auch unserer je eigenen Bemühungen.
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4 Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur
Schon die Philosophen und Wissenschaftler der Antike wollten wissen, wie die Welt und die Lebewesen entstanden sind. So entwarf der vorsokratische Philosoph Anaximander (ca. 610–545 v. Chr.) eine Theorie zur Entstehung der Welt und der Lebewesen, die schon gewisse Grundzüge der Evolutionstheorie vorwegnimmt. 1 Seither haben die Naturwissenschaften immer bessere theoretische und experimentelle Methoden entwickelt, um in dieser Frage weiterzukommen. Die Astrophysik untersucht die Entstehung des Kosmos unter der Leitidee, dass er aus einem Anfang entstanden ist, den man heute Urknall nennt. Sie kann sich dem postulierten Urknall jedoch nur bis auf die Planck-Zeit, das sind 10 –43 Sekunden, annähern. Vor dieser Zeit versagen die bekannten physikalischen Gesetze. Zeit und Raum sind dort keine kontinuierlichen Größen. Deshalb sind Aussagen über Zeit und Raum vor der Planck-Zeit sinnlos. Der Urknall existiert als eine theoretische Lösungsmöglichkeit von mathematischen Gleichungen. 2 Seine physikalische Realität lässt sich mit den Methoden der Naturwissenschaft aber nicht darstellen. Weil der Urknall als der Beginn von allem, also auch von Raum, Zeit und Naturgesetzen gedacht wird, gibt es kein »Vor-dem-Urknall«. 3 Hier kommen die Naturwissenschaften an ihr Ende. Ein ebenso brennendes Interesse richtet sich auf den Beginn und die Entwicklung des Lebens in diesem Kosmos. Es gibt heute drei Haupttheorien, welche die Entstehung der Vielfalt der Lebewesen er-
Röd, Altertum, 44–45. Der Begriff »Urknall« (Big Bang) wurde von Sir Fred Hoyle in einer Serie von Radiosendungen geprägt (Basil Blackwell, The Nature of the Universe: A series of Broadcast Lectures of Fred Hoyle, 1950). Der Urknall ist eine formale Singularität der Lösung der Friedmann-Gleichungen, eine spezielle Form der Einsteinschen Feldgleichungen. 3 Lesch, Urknall. 1 2
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Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur
klären sollen: Die Evolutionstheorie, den Kreationismus und die Theorie des intelligenten Plans (intelligent design).
4.1 Weltanschauliche Konflikte 4.1.1 Vertreter der Evolutionstheorie Die Abstammungslehre von Charles Darwin beruht auf Beobachtungen der Natur und versucht, diese Beobachtungen mit einer naturwissenschaftlichen Theorie zu deuten. Doch an wenigen Stellen seines Buches über die »Abstammung des Menschen« ging bereits Darwin über die Grenzen der Naturwissenschaften hinaus. Gleich im ersten Kapitel dieses Buches argumentierte er gegen die damalige Version der Schöpfungslehre und stellte ihr die Abstammungslehre entgegen. Er lehnte die Auffassung ab, dass die verschiedenen Arten »das Werk eines separaten Schöpfungsaktes« 4 seien. Am Schluss des 2. Bandes dieses Buches unterstrich er diese Auffassung bezüglich der Entstehung des Menschen: Man könne »nicht länger glauben, dass der Mensch das Werk eines separaten Schöpfungsaktes sei«. 5 Zwar sahen zahlreiche Theologen, so etwa Kardinal John Henry Newman, und Zeitgenossen Darwins keine grundsätzlichen Probleme zwischen der Abstammungslehre Darwins und einer Schöpfungstheologie. Aber für viele andere war damit der weltanschauliche Streit entfacht. Es ging nicht mehr bloß um eine naturwissenschaftliche Theorie zur Deutung der Entwicklung der Lebewesen, sondern auch um die Frage nach der Existenz Gottes und der Stellung des Menschen im Kosmos. Im Gefolge der Abstammungslehre von Darwin wurde der weltanschauliche Streit radikalisiert. Der Zoologe Ernst Haeckel scheute kein Mittel, um seine Weltanschauung zu verbreiten. Sein erstes Ziel war es zu zeigen, dass dem Menschen keine privilegierte Stellung in der Schöpfung zukommt. Das zweite Ziel bestand darin, den Glauben zu bekämpfen, dass es einen persönlichen Gott gibt, der das Universum in einer sinnvollen Weise erschafft. Für seine Beweisführung fälschte er in massiver Weise biologische Daten. 6 Obwohl diese FälDarwin, Descent, Vol. 1, 33. Darwin, Descent, Vol. 2, 386. 6 Diese Fälschungen wurden bereits von dem Zoologen Ludwig Rütimeyer und dem Embryologen Wilhelm His, beide Zeitgenossen von Haeckel, aufgedeckt und der wis4 5
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Weltanschauliche Konflikte
schungen in der wissenschaftlichen Welt bekannt sind, steht Haeckel bis in unsere Zeit bei einigen Evolutionsbiologen in hohem Ansehen. 7 Erstaunlich ist auch, dass die Ideologisierung der Evolutionstheorie bis heute kein Ende gefunden hat. Für Daniel Dennett ist der Tod Gottes die notwendige Konsequenz von Darwins Lehre. 8 Richard Dawkins versucht, mit Hilfe der Evolutionstheorie den »Gotteswahn« aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben. 9 Mit diesem Buch wird er zu einem »antireligiösen Propagandisten, der die Fakten außer Acht lässt«. 10
4.1.2 Vertreter des Kreationismus Herausgefordert durch die ideologischen Vertreter des Darwinismus kam es zur Renaissance des Kreationismus. Die Kreationisten legen die beiden Schöpfungsberichte im wörtlichen Sinn so aus, als ob Gott die Welt, die Lebewesen und den Menschen in sechs Tagen 11 geschaffen hätte. Sie übergehen dabei die exegetischen Standards, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil und zuletzt die Päpstliche Bibelkommission von 1993 vorgelegt hat. 12 Obwohl die Schöpfungsgeschichte keine naturwissenschaftliche Aussage sein will, behaupten die Kreationisten gerade das und konstruieren damit einen unüberbrückbaren Gegensatz zur Evolutionstheorie. Theologie und Naturwissenschaften werden in Konfliktpositionen gestellt, weil die jeweils eigenen Aussagemöglichkeiten und Aussagegrenzen nicht respektiert werden. senschaftlichen Öffentlichkeit mitgeteilt. W. His hat darüber ausführlich in seinem Buch »Über unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung«, 1874 berichtet. Zu dem von Ernst Haeckel postulierten »Biogenetischen Grundgesetz«, das mit diesen Fälschungen bewiesen werden sollte, aber nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis als widerlegt anzusehen ist, siehe Rager, Embryology, 449–465. 7 Wie weit sich Haeckel von echter Wissenschaftlichkeit entfernte und wie wichtig ihm der weltanschauliche Kampf war, ist auch daran zu erkennen, dass er sich 1904 in Rom zum Gegenpapst ausrufen ließ. 8 Dennett, Süßigkeit, 148–150. Siehe auch Lüke, Evolution. 9 Dawkins, Gotteswahn. 10 McGrath/McGrath, Atheismuswahn, 62. 11 Wenn man den Sabbat als Krone der Schöpfung hinzunimmt, dann sind es sieben Tage. 12 Lüke, Evolution, 273.
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Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur
4.1.3 Vertreter des Intelligent Design Im Gegensatz zu den Kreationisten einerseits und den ideologischen Übertreibungen der Evolutionisten andererseits sind die Vertreter des Intelligent Design der Meinung, dass zahlreiche Beobachtungen der Darstellung der Evolutionisten widersprechen. Der intelligente Plan (intelligent design) sei schon unmittelbar nach dem Urknall ersichtlich. Dort habe ein Gleichgewicht geherrscht zwischen der nach außen gerichteten Energie der Expansion und den Gravitationskräften, die alles wieder zurückzuziehen versuchten. Dieses anfängliche Gleichgewicht musste bis auf 1 zu 1059 exakt sein. 13 Wäre die Energie der Expansion kleiner gewesen, dann wäre das Universum kollabiert. Wäre die Energie größer gewesen, dann wären höchstwahrscheinlich keine Sterne und Galaxien entstanden. So gebe es noch eine Reihe weiterer Naturkonstanten, deren Zahlenwerte extrem genau eingehalten werden mussten, und Ereignisse, die als äußerst unwahrscheinlich gelten, ohne welche die Evolution nicht möglich gewesen wäre. 14 Obwohl die Argumente des Intelligent Design beeindrucken, folgt daraus kein Beweis für die Existenz Gottes, und zwar ebenso wenig wie die Evolutionstheorie beweist, dass es Gott nicht gibt.
4.2 Die Evolutionstheorie 4.2.1 Geschichte und Thesen Üblicherweise versteht man unter Evolutionstheorie die Annahme, dass die Lebewesen eine gemeinsame Abstammung haben und die Arten sich im Laufe der Zeit ändern können. Diese Vorstellung findet sich schon bei Anaximander im 6. Jh. vor Christus. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jhs. wurde auf Grund der neu gewonnenen biologischen Erkenntnisse diese Vorstellung wieder aufgenommen und weiter entwickelt. Heute gilt Charles Darwin als Begründer der Evolutionstheorie. Bei ausgedehnten Forschungsreisen auf dem Schiff »Beagle«, die ihn auch auf die Galapagos-Inseln führte, hatte er eine Menge Material gesammelt, das belegen konnte, dass die Arten nicht konstant sind, sondern sich in Abhängigkeit von ihrer Um13 14
Gingerich, Universum, 60. Rager / Borrmann, Vorwort, 10–11.
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Die Evolutionstheorie
gebung verändern. Diese Erkenntnisse veröffentlichte er 1859 in dem berühmt gewordenen Buch »Über die Entstehung der Arten« (»On the origin of species«). Obwohl in der ersten Auflage dieses Buches der Begriff Evolution noch nicht vorkam, wird die Veröffentlichung dieses Buches allgemein als die Geburtsstunde der Evolutionstheorie angesehen, weshalb auch 2009 an den 150. Geburtstag dieser Theorie erinnert wurde. 1871 erschien ein zweites wichtiges Werk, 15 in welchem Darwin die Abstammung des Menschen und der Menschenaffen von gemeinsamen Vorfahren behauptete. Die wesentlichen Aussagen der Darwinschen Theorie lassen sich in den folgenden vier Haupt-Thesen zusammenfassen: 1. Die verschiedenen Arten stammen aus einer gemeinsamen Wurzel. 2. Der Artenwandel vollzieht sich in kleinen Schritten (Gradualismus). 3. Im Verlauf der Erdgeschichte wurde die Zahl der Arten vervielfacht. 4. Die natürliche Selektion bewirkt den Artenwandel während der Evolution (Selektionstheorie). 16 Unter der natürlichen Selektion wird verstanden, dass diejenigen Arten, die an ihre Umgebungsbedingungen am besten angepasst sind, einen Vorteil haben. Sie sind erfolgreicher im Hinterlassen von Nachkommen. 17 Darwin und der Darwinismus konnten noch nicht erklären, wie erworbene Eigenschaften über die Generationen weitergegeben werden. Dies gelang erst August Weismann (1834–1914) mit der Einführung des Neodarwinismus (1890–1910). Die sexuelle Fortpflanzung und die damit verbundene Rekombination der Gene wurden als die wichtigste Quelle der biologischen Variabilität angesehen. Die Variabilität erzeugte unterschiedliche Individuen, aus denen durch Selektion im Verlauf vieler Generationen neue Arten entstehen konnten. Der Begriff der Mutation war aber auch im Neodarwinismus noch nicht etabliert. 18 Trotz Neodarwinismus drifteten die Theorien über die Abstammung auseinander. Vor allem durch die Bemühungen von Theodosius Dobzhansky, Ernst Mayr und Julian Huxley gelang es in den Jahren 1930 bis 1950, die zersplitterten Ansichten in einer »Synthetischen
Darwin, The descent of man. Deutsche Übersetzung »Die Abstammung des Menschen«. 16 Kutschera, Darwinismus, 260. 17 Ebd., 258. 18 Ebd., 266. 15
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Theorie der biologischen Evolution« (Synonym: Moderne Evolutionstheorie) zu vereinen. Es kamen neue Forschungsrichtungen wie Zellbiologie, Molekularbiologie, Genetik und Populationsbiologie hinzu, und damit auch neue Begriffe wie der für die Evolutionstheorie so zentrale Begriff der Mutation. Unter Mutation versteht man eine dauerhafte Veränderung des Erbguts. Betrifft die Veränderung die Keimbahn, dann kann sie auch an die Nachkommen weitervererbt werden. Seit 1950 wird dieses System verschiedener Theorien aus den Bio- und Geowissenschaften stetig erweitert (»erweiterte synthetische Theorie der biologischen Evolution« 19). »Eine in wenigen Worten zusammenzufassende ›Evolutionstheorie‹ gibt es daher heute nicht mehr«. 20
4.2.2 Systemimmanente Probleme der Evolutionstheorie Obwohl die moderne Evolutionstheorie sehr vielfältig geworden ist, lässt sich doch eine Hauptlinie feststellen, die mit folgenden Grundsätzen operiert: 1. Die Evolution erfolgt rein zufällig. 21 2. Mit drei Grundmechanismen lässt sich der ganze Ablauf der Evolution erklären: (a) spontane Variationen, die nicht durch die Umwelt ausgelöst sind; (b) Kampf um die Ressourcen, wodurch nur die am besten angepassten Lebewesen überleben und Nachkommen haben können (survival of the fittest); (c) Selektion durch die Umwelt, wodurch die überlebensfähigen Lebewesen an Zahl zunehmen. 22 3. Es gibt kein für uns erkennbares Ziel der Evolution und dementsprechend auch keinen Fortschritt. 23 Diese drei Grundsätze sind aber einerseits problematisch, andererseits reichen sie nicht aus, um die Evolution zu erklären. Der Zufall Mit Zufall meinen viele Evolutionsbiologen den sogenannten »blinden Zufall«. Für Jacques Monod, den Autor des Buchs »Zufall und Ebd., 268. Der Begriff Evolutionstheorie hat damit den »Darwinismus« und »Neodarwinismus« abgelöst. 20 Ebd., 268. 21 Vertreten z. B. von Gould, Dawkins und Mayr. 22 Nach Schuster, Facts, 310. 23 Mayr, Gedankenwelt; Gould, Illusion. 19
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Die Evolutionstheorie
Notwendigkeit«, folgt aus der Tatsache der Mutationen mit Notwendigkeit, »dass einzig und allein der Zufall jeglicher Neuerung, jeglicher Schöpfung in der belebten Natur zugrunde liegt. Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution.« 24 Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Weingartner hat die Rede über den Zufall untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass es den blinden oder absoluten Zufall nicht gibt. Jede Definition von Zufall setzt einen bestimmten Zustand, ein Ereignis oder einen Prozess voraus. Wenn nichts da ist, dann gibt es auch keinen Zufall. »Deshalb sind Behauptungen wie ›die Welt hat sich aus nichts (zu etwas) durch Zufall entwickelt‹ reiner Unsinn.« 25 Der blinde Zufall ist also kein Motor der Evolution. Die Evolution ist nicht objektiv indeterministisch. Die Rede vom Zufall kann aber auch den subjektiven Zufall 26 bedeuten. Für den Beobachter erscheint ein Ereignis als zufällig, weil er die Ursachen für dieses Ereignis nicht kennt oder nicht kennen kann. Mit Zufall wird dann eigentlich das Unvorhersehbare gemeint. Damit kann man nicht ausschließen, dass – noch unbekannte – Ursachen das vermeintlich zufällige Ereignis bewirken. Das gilt auch für die für die Evolutionstheorie so wichtigen Mutationen. 27 Mutationen unterliegen statistischen Gesetzen und den Gesetzen von Physik und Chemie. 28 Bemerkenswert ist, dass Mutationen nicht gleichmäßig auf die Chromosomen verteilt sind. Es gibt vielmehr Bereiche der DNA, sogenannte »hot spots«, in denen Mutationen gehäuft auftreten. 29 Diese Beobachtung passt zu dem Befund, dass die Chromosomen im Zellkern nicht regellos verteilt sind. Neuere Untersuchungen 30 haben gezeigt, dass der Zellkern in Kompartimente eingeteilt ist, vergleichbar mit einer Stadt, die verschiedene Quartiere aufweist. Die Chromosomen liegen nun mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den verschiedenen Kompartimenten. Einige von ihnen befinden sich im Zentrum des Zellkerns, andere wieder mehr in den Randgebieten. Dementsprechend sind sie mehr oder weniger exponiert für die Einwirkung von Strahlen oder chemischen Substan24 25 26 27 28 29 30
Monod, Zufall, 141. Weingartner, Randomness, 252. Lüke, Evolution, 281. Mayr, Vielfalt. Weingartner, Randomness, 249. Lüke, Evolution, 280. Lanctôt et al., Architecture.
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zen. Hinzu kommt die dreidimensionale Struktur der DNA selbst. Deshalb ist anzunehmen, dass jede Mutation physikalisch-chemische Ursachen hat, die wir nur nicht im Einzelnen kennen. Im heutigen Stand des Wissens gibt es also eine unabsehbare Menge von Unvorhersehbarem, das wegen seiner Unvorhersehbarkeit gern als Zufall bezeichnet wird. Aus der Unkenntnis der zugrundeliegenden Ursachen folgt jedoch nicht, dass es sich um reine Zufälle handelt, denen sogar schöpferische Kraft zugeschrieben werden könnte. 31 Darwin selbst hat sich klar gegen den Zufall ausgesprochen. »Ich habe bisher von den Variationen manchmal so gesprochen … als seien sie Folge des Zufalls. Das ist selbstverständlich ein völlig unkorrekter Ausdruck, aber er hilft dazu, unser Unwissen über die Ursache jeder besonderen Variation offen anzuerkennen.« 32 Wenn also das Evolutionsgeschehen im Grunde deterministisch ist und wir nur deshalb Wahrscheinlichkeitsaussagen über Entwicklungen machen, weil wir die Ursachen nicht kennen, »dann gibt es eigentlich keinen Zufall, [sondern] nur Beschränkungen unserer Möglichkeiten zur Vorhersage.« 33 Die Erklärungskraft der Evolutionstheorie Variation und Selektion, die klassischen Mechanismen der Evolutionstheorie, reichen nicht aus, um die größeren Übergänge von einer hierarchischen Stufe zur nächsten zu erklären. Peter Schuster, Professor für Theoretische Chemie an der Universität Wien, listet eine Reihe solcher Stufen auf, von denen ich nur drei auswähle, nämlich: 1. Die Entstehung einer Zelle mit Metabolismus und Strukturierung in Kompartimente. 2. Der Übergang von einzelligen zu mehrzelligen Organismen. 3. Die Entwicklung der gegenwärtigen menschlichen Gesellschaften, die über Sprache und Schrift verfügen. »Alle diese größeren Übergänge haben eine Eigenschaft gemeinsam: Sie führen von einer niedrigeren hierarchischen Ebene zur nächsthöheren und sind begleitet von einer Zunahme der Komplexität. Generell kann man sagen, dass Elemente, die auf der niedrigeren Ebene Konkurrenten sind, in eine synergetische Einheit integriert So meint z. B. Gottfried Schatz in seinem Artikel »Schöpfer Zufall«, dass dem Zufall schöpferische Kraft zukommt. 32 Darwin, Origin, 131. 33 Weber, Evolutionstheorie, 268. 31
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Die Evolutionstheorie
werden« 34 und dort im Dienste einer gemeinsamen Funktion kooperieren. Damit kommt das Prinzip der Selbstorganisation ins Spiel, das wir uns mit einem einfachen Beispiel aus dem Arbeitsprozess veranschaulichen wollen. Organisation liegt dann vor, wenn jeder Arbeiter von einem Chef genaue Anweisung bekommt, was er zu tun hat, damit zusammen mit den anderen Arbeitern ein Produkt hergestellt werden kann. Derselbe Prozess wird dann zur Selbstorganisation, wenn vom Chef keine Anweisungen vorliegen und die Arbeiter sich untereinander über ihre Aufgaben verständigen, um optimal zusammenzuwirken und gemeinsam das Produkt herzustellen. 35 Für Selbstorganisation gibt es beliebig viele Beispiele, die von der Chemie bis zu den Prozessen der Wirtschaft reichen. Durch Selbstorganisation entsteht ein System, »das neuartige Eigenschaften besitzt, die ausschließlich auf die zahlreichen Interaktionen seiner Bestandteile zurückzuführen sind. Diese Eigenschaften des Gesamtsystems sind mehr als nur die lineare Addition der Eigenschaften seiner Komponenten. Dabei wirken die einzelnen Bestandteile nur nach ihnen selbst innewohnenden Eigenschaften und Regeln zusammen. Es bedarf keinerlei zusätzlicher Informationen von außen, seien es genetische oder sensorische, um diese neuen Systemeigenschaften entstehen zu lassen.« 36 Kompetition, Kooperation und synergetisches Zusammenwirken in einer höheren hierarchischen Organisationsstufe sind zunächst nur Beschreibungen von Zuständen und Ereignissen. Eigen und Schuster 37 haben mit dem »katalytischen Hyperzyklus« einen Mechanismus vorgeschlagen, der zur Integration von vorher kompetitiven Elementen zu einer kooperativen Funktionseinheit führt. Hermann Haken hat eine allgemeine Theorie der Selbstorganisation, die Synergetik 38, entwickelt. Diese schließt auch die katalytischen Hyperzyklen ein. Die Selbstorganisation ist fundamental für Lebens- und Entwicklungsprozesse. Am Beispiel der Selbstorganisation wird deutlich, Schuster, Facts, 322. Beispiel nach Haken, Synergetik, 207. 36 Neuweiler, Krone, 24. Weitere Beispiele zur Selbstorganisation in Bereiter-Hahn, Vorbedingungen. 37 Eigen und Schuster, Hypercycle. 38 Haken, Synergetik. Siehe insbesondere 313–314. Zur kritischen Beurteilung von Selbstorganisationstheorien siehe Kuhlmann, Theorien. 34 35
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dass die klassische Evolutionstheorie sich erheblich erweitern muss, um eine bessere Deutung des Evolutionsgeschehens zu ermöglichen. Die durch Selbstorganisation entstehenden neuen Eigenschaften von komplexen Systemen werden von einigen Autoren auch als emergente Eigenschaften bezeichnet. Eine emergenztheoretische Deutung dieses Phänomens geht insofern über die Erklärung durch Selbstorganisation hinaus, als die emergenten Systemeigenschaften »von der Ebene der Bestandteile her grundsätzlich unerwartbar und unvorhersehbar« 39 sind. So weit stimmen die verschiedenen Auffassungen von Emergenz überein. In der weiteren Ausgestaltung der verschiedenen Emergenztheorien gibt es jedoch große Unterschiede 40, die hier nicht weiter diskutiert werden können. »Der Emergenzbegriff [ist] ein heikler Begriff.« 41 Es ist ungewiss, ob er wirklich über die Selbstorganisation hinaus weiterführt und ob er zeigen kann, wie emergente Eigenschaften entstehen. Insbesondere ist umstritten, ob die starke Emergenz, welche die Nicht-Reduzierbarkeit von neuen Systemeigenschaften behauptet, wirklich vorkommt. Gibt es einen Fortschritt in der Evolution? Die dogmatischen Evolutionstheoretiker halten daran fest, dass es in der Evolution keinen Fortschritt gibt. 42 Es ist zuzugeben, dass der Begriff Fortschritt nicht einfach unbesehen gebraucht werden darf. Wenn man von Fortschritt spricht, muss man zugleich auch das Referenzsystem angeben, in Bezug auf welches der Fortschritt gesehen wird. Werden aber solche Referenzsysteme angegeben, dann bleibt das Dogma, dass es in der Evolution keinen Fortschritt gibt, unverständlich. Der Neurobiologe und Verhaltensforscher Gerhard Neuweiler schreibt dazu: Die Evolution führt »ihre Geschöpfe seit den ersten enzymatischen Reaktionen, den ersten Zellen, den ersten Organismen bis zum Aufblühen der Wirbeltiere vom Einfachen zum Komplexen. Dieses stetige Fortschreiten zu komplexeren Systemen beruht auf der wachsenden Flexibilität und Lernfähigkeit, die komplexeren Organismen mehr Freiräume und AnpassungsmöglichkeiKuhlmann, Theorien, 323. Hoyningen-Huene, Emergenz, 191 ff. Eine umfassende Untersuchung zur Emergenz und zu den verschiedenen Emergenztheorien liefert Stephan, Emergenz. 41 Hoyningen-Huene, Emergenz, 197. Zur Emergenztheorie von Mario Bunge siehe Rager, Emergentismus. 42 Wuketits, Naturkatastrophe; Gould, Zufall Mensch. 39 40
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Die Evolutionstheorie
ten eröffnen. Die Gehirne, die den ständigen Dialog zwischen Außenwelt und Innenwelt der Organismen führen, werden zum wichtigsten und erfolgreichsten Substrat der Evolution. Wachsende Komplexität wird umgesetzt in zunehmende Befreiung aus den Fesseln einer gnadenlosen Natur.« 43 Damit sind die beiden Hauptpfeiler des Fortschritts in der Evolution genannt, die zugleich als Referenzsystem dienen: Die ständig zunehmende Komplexität und als Folge derselben die zunehmende Befreiung der Lebewesen aus den Zwängen der Natur. 44 Die Feststellung, dass es in der Evolution Fortschritt gibt, erlaubt aber im Rahmen der Naturwissenschaften noch nicht per se den Schluss, dass die Evolution auf ein Ziel zusteuert. Ebenso wenig schließt sie eine Zielstrebigkeit aus.
4.2.3 Evolution und Evolutionstheorie Die Evolutionsbiologen geben zwar zu, dass der Darwinismus ursprünglich lediglich eine Hypothese gewesen sei. Inzwischen seien aber so viele Belege zur »Untermauerung und Absicherung der Darwinschen Abstammungslehre« 45 gesammelt worden, dass man sie nicht nur zur Theorie, sondern sogar zu einer »dokumentierten Tatsache« 46 erheben kann. Die »Evolution ist ein realhistorischer Prozess, der andauert.« 47 Mit dieser Aussage wird die Evolutionstheorie mit der Evolution gleichgesetzt. 48 Das ist aber wissenschaftstheoretisch nicht haltbar. Dass Evolution stattgefunden hat und sich auch weiter ereignet, darf wohl als gesichert gelten. In sehr kleinen Berei-
Neuweiler, Krone, 9. Ernst Mayr setzt sich in seinem Buch »Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt« mit dem Fortschritt in der Evolution auseinander und räumt die Möglichkeit ein, dass es Fortschritt gegeben hat. Wenn man die Beherrschung der Umwelt als Maßstab nimmt, dann ist für den Homo sapiens eine Spitzenposition möglich. Zum Prinzip der zunehmenden Emanzipation und Komplexität siehe auch Bereiter-Hahn, Vorbedingungen. 45 Kutschera, Darwinismus, 262. 46 Ebd., 262. 47 Ebd., 265. 48 Für diese Interpretation spricht auch die ausdrückliche Gleichsetzung von »theoretischem Gedankengebäude« und »dokumentierter Tatsache« (Kutschera, Darwinismus, 262). 43 44
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chen kann Evolution sogar direkt beobachtet werden. Die Deutung des Evolutionsgeschehens ist aber weiterhin eine Theorie. Wir haben bereits gesehen, dass es innerhalb der Evolutionstheorie eine Reihe von schwerwiegenden Problemen gibt, für die noch keine Lösung verfügbar ist. Solange die offenen Fragen nicht beantwortet werden können, bleibt die Evolutionstheorie zwar eine sehr gute Theorie, muss aber fortlaufend weiter entwickelt werden, um dem Evolutionsgeschehen besser zu entsprechen. Damit wird jedoch nicht behauptet, dass es im Evolutionsgeschehen Lücken gibt, die grundsätzlich einer evolutionstheoretischen Deutung unzugänglich sind und nur durch einen göttlichen Eingriff geschlossen werden können.
4.3 Die Stellung des Menschen 4.3.1 Aus der Sicht einiger Evolutionsbiologen Im Rahmen einer modernen Anthropologie interessiert uns besonders die Frage: Was trägt die Evolutionstheorie zur Stellung und Bedeutung des Menschen in der gesamten Natur bei? Hier zunächst die Antwort einiger Evolutionsbiologen. Schon für Haeckel war es eines der wichtigsten Ziele, den Menschen von seinem angemaßten Thron herunterzuholen und ihn in Reih und Glied mit den übrigen Naturwesen zu stellen. Für die Verkündigung dieser Botschaft war jedes Mittel, einschließlich Fälschungen von wissenschaftlichen Daten, recht. In unserer Zeit wird die Entthronung des Menschen mit Emphase wiederholt. Der Evolutionsbiologe Franz Wuketits bezeichnet den Menschen als »die größte Naturkatastrophe« 49, weil er »das quantifizierbare Maß an Zerstörungen« im Auge hat, »das der Mensch in seiner ziemlich kurzen Evolution verursacht hat.« 50 Der Psychologe und Hirnforscher Ernst Pöppel nennt den Menschen einen »Irrläufer der Evolution«. 51 Der Anspruch des Menschen auf eine Sonderstellung in der Natur scheint umso weniger berechtigt, als auch die Freiheit, die nach unserer Meinung den Menschen besonders auszeichnet, von den Reduktionisten zur Illusion degradiert Wuketits, Naturkatastrophe, 192. Ebd., 195. 51 Interview von Lutterotti mit Ernst Pöppel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 18. 12. 2010, 65. Denselben Ausdruck finden wir bei Koestler, Irrläufer. 49 50
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Die Stellung des Menschen
wird. 52 Für Richard Dawkins sind die Lebewesen und damit auch der Mensch lediglich Tänzer, die nach der Choreographie ihrer egoistischen Gene tanzen. 53 »Wir […] sind die sterblichen Vehikel, mit denen die Gene ihre Replikation und ihre Unsterblichkeit absichern. Die Gene liefern die Instruktionen, wie ihre Überlebensmaschinen gebaut werden und als individuelle Organismen in ihrer Lebenswelt so agieren, dass möglichst viele Genkopien in die Zukunft entlassen werden. […] Gene sind deshalb egoistisch, weil sie ihre Replikationsmöglichkeiten naturgesetzlich gegen jede Konkurrenz durchzusetzen versuchen.« 54 Für Stephen Jay Gould schließlich ist der Mensch »ein reines Zufallsprodukt. Würde die Lebensgeschichte heute von neuem beginnen, wären die Ergebnisse unvorhersehbar, vor allem aber völlig anders als unsere heutige Organismenwelt«. 55
4.3.2 Kritik am »egoistischen Gen« Diese Konzepte werden heute einer kritischen Prüfung unterzogen. Joachim Bauer hat gezeigt, 56 dass die Rede vom egoistischen Gen aus der Sicht der Genetik nicht haltbar ist. Für Gerhard Neuweiler beherrscht das Prinzip der Kooperativität »seit seinen Anfängen in der Erdgeschichte das ganze Leben.« Schon in der präbiotischen Zeit haben sich solche katalytischen Reaktionen, die mit anderen verkoppelt waren, besser erhalten als nicht kooperierende. »In der Biologie gibt es zahllose Beispiele effektiver Zusammenarbeit: • alle Stoffwechselwege der Zellen bestehen aus kooperierenden Enzymen; • das einzelne Gen vermag nichts, es benötigt in aller Regel kooperierende Gene und vor allem kooperierende Transduktionsfaktoren und RNA-Ketten, um seine Instruktionen an den Mann zu bringen; • das informationsverarbeitende Systemgeflecht eines Gehirns kann nur funktionieren, weil in zahllosen, miteinander koope-
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Wuketits, Freier Wille. Weitere Autoren im Kapitel »Freiheit«. Dawkins, Gen; Neuweiler, Krone, 7. Zitiert nach Neuweiler, Krone, 70. Neuweiler, Krone, 76. Bauer, Gen.
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rierenden Mikronetzwerken ihrerseits wieder viele verschiedene Neurone zusammenarbeiten […]; die Staaten vieler Insekten sind Meisterleistungen komplex strukturierter Zusammenarbeit.« 57
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4.3.3 Einige Beobachtungen zur Stellung des Menschen in der Evolution Man wird sich wohl kaum der Tatsache verschließen können, dass es in der Natur niedriger und höher entwickelte Lebewesen gibt und dass sich diese Lebewesen im Grad der Komplexität unterscheiden. Die Evolution ist charakterisiert durch einen enormen Fortschritt von niedrigerer zu immer höherer Komplexität. Damit wird zugleich eine immer größer werdende Unabhängigkeit von den natürlichen Bedingungen unserer Umwelt erreicht. Wenn wir über die Stellung des Menschen in der Evolution sprechen, dann werden wir also nicht um den Vergleich mit der Tierwelt herumkommen. Dieser Vergleich soll aber keinesfalls wertend gemeint sein. Wenn wir feststellen werden, dass wir Menschen über bestimmte Fähigkeiten verfügen, die uns gegenüber den Tieren überlegen machen, so dürfen wir daraus nicht den Schluss ziehen, dass wir über Tiere wie über Objekte verfügen dürfen. Wir sollten uns ferner vor Augen halten, dass wir kaum in der Lage sein dürften, abschließende Urteile über die Tiere zu fällen, weil wir den Erlebnisraum der Tiere nur ansatzweise kennen und wegen der mangelhaften Kommunikationsmöglichkeiten auch nicht besser kennen können. Wir wissen nicht, was Elefanten erleben, wenn sie ihre Totenrituale ausüben, welche Stimmungen und Gefühle Delphine haben, wenn sie mit Menschen in Kontakt treten oder sie vor dem Ertrinken retten, oder wenn wir bei Schimpansen Zeichen von Trauer 58 feststellen. Mit diesen Vorbehalten wollen wir jetzt versuchen, einige auszeichnende Merkmale des Menschen herauszuarbeiten.
57 58
Neuweiler, Krone, 76. Bericht in der NZZ vom 29. Januar 2011.
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Neurobiologische Aspekte Obwohl die Unterschiede in der genetischen Ausstattung zwischen Primaten und Menschen nur geringfügig sind, weist die Struktur des menschlichen Gehirns erhebliche Differenzen zu dem Gehirn von Primaten auf. Von diesen Unterschieden seien hier einige genannt: Im Vergleich zum Schimpansen hat das Gehirn des Menschen ein erheblich größeres Volumen und Gewicht. Der größte Teil dieser Differenz ist der starken Ausbreitung der Großhirnrinde zuzuschreiben. Das Großhirn und sein Kortex überdecken das ganze Gehirn mit Ausnahme der medianen und basalen Anteile des Hirnstamms. Der Kortex ist stark gefaltet durch Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci). Er erreicht dadurch eine erhebliche Vergrößerung seiner Oberfläche, seines Volumens und der Anzahl der darin enthaltenen neuronalen Module. Die größte Zunahme innerhalb des Großhirns finden wir im Stirn- oder Frontalhirn. 59 Viele Funktionen sind auf beiden Hemisphären repräsentiert, so z. B. das Sehen, das Hören, die Somatosensorik und die Motorik. Eine Reihe anderer, sogenannter höherer Funktionen wie etwa die Sprache oder das musikalische Vermögen sind jedoch nur auf einer Hemisphäre angelegt, wodurch die Hemisphärenasymmetrie entsteht. »Beim Menschen sind die funktionellen Asymmetrien zwischen linker und rechter Kortexhälfte viel ausgeprägter als beim Menschenaffen. Die Repräsentation gewisser Funktionen in nur einer Kortexhälfte schafft im Kortex insgesamt Raum für mehr spezifische Leistungen.« 60 Das menschliche Gehirn ist charakterisiert durch eine intensive Vernetzung von Neuronen, Neuronenpopulationen und Hirngebieten. »Die Verbindungen und neuronalen Rückkopplungsschleifen zwischen Kortexfeldern und motorischen Zentren sind schon bei Primaten deutlich umfangreicher als bei anderen Säugern. Beim Menschen vermehrten sich die internen Verdrahtungen der motorischen Netzwerke noch einmal um eine Größenordnung.« 61
Oft wird der Ausdruck »präfrontaler« Kortex verwendet. Da es vor dem frontalen Kortex nichts mehr gibt, vermeiden wir diesen Ausdruck. 60 Neuweiler, Krone, 148. 61 Ebd., 148. 59
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Geistige Fähigkeiten des Menschen und ihre neuronalen Korrelate Sucht man nun nach geistigen Fähigkeiten, die den Menschen vor allen Tieren auszeichnen, dann denkt man zuerst an die kognitive Intelligenz. Bei der kognitiven Intelligenz gibt es verschiedene Stufen. Zu den elementaren kognitiven Fähigkeiten gehört die Sinneswahrnehmung. Auf dieser Ebene werden wir nicht selten von bestimmten Tierarten übertroffen, so z. B. von den Hunden beim Riechen oder von den Greifvögeln beim Sehen. Einige Tierarten verfügen über Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, die wir Menschen nur mit technischen Hilfsmitteln implementieren können, so z. B. das Aussenden und Empfangen von Ultraschall bei Fledermäusen und Walen. Bei den höheren kognitiven Fähigkeiten aber ist der Mensch den Tieren in der Regel überlegen. 62 Zu diesen Fähigkeiten rechnen wir vor allem Erkennen, Erinnern, begriffliches Denken, musikalisches Verstehen, Ideenbildung, Planen, Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das Erkennen des sittlich Guten. Die Überlegenheit in diesen Fähigkeiten korreliert mit der starken Zunahme der assoziativen Areale des Großhirns und der enormen Vergrößerung des Frontalhirns. Mit dem Frontalhirn, in dem auch wesentliche Elemente der Motorik beheimatet sind, hat auch die motorische Intelligenz erheblich zugenommen und dies in engem Zusammenhang mit den ausführenden Organen, vor allem der Hand. Die herausragenden motorischen Fähigkeiten werden deutlich, wenn wir Pianisten beobachten, deren Finger in schwierigsten raumzeitlichen Folgen in die Tasten greifen, oder an Feinmechanikern, die eine Uhr zusammensetzen, oder an Malern, die mit dem Pinsel in der Hand die feinsten Gebilde in präziser Linienführung zu Papier bringen. Affen können das nicht. 63 Die herausragenden Fähigkeiten des Menschen sowohl auf der kognitiven wie auch auf der motorischen Seite haben Wissenschaft und Technik ermöglicht. Diese Leistungen sind uns so selbstverständlich und allgegenwärtig geworden, dass sie bei der Evaluation der Stellung des Menschen in der Evolution häufig übersehen werden. Das sieht auch Wuketits so. Die kognitiven Fähigkeiten haben nach Wuketits beim Homo sapiens »ihren bisherigen Höhepunkt erreicht« (Wuketits, Naturkatastrophe, 197). Die Intelligenz des Homo sapiens übertrifft die der anderen Arten bei weitem (Wuketits, Naturkatastrophe, 198). 63 Neuweiler, Krone, 165. 62
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Die Tatsache, dass diese Fähigkeiten häufig missbraucht und für egoistische Zwecke und zu Lasten der anderen Lebewesen eingesetzt werden, darf nicht dazu führen zu ignorieren, dass sie den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnen. Seit jeher sind Anthropologen und Neurowissenschaftler davon überzeugt, dass die Sprache zu den herausragenden Eigenschaften des Menschen gehört und ganz wesentlich seine Sonderstellung begründet. Die Sprache befähigt den Menschen zur Bildung von Begriffen und Kategorien. Mit der Sprache entsteht das konzeptuelle Selbst des Menschen, das sich aus der Gebundenheit in die Gegenwart befreien und mit anderen Menschen in einer ganz neuen Weise kommunizieren kann. 64 Bei der Sprache hat man wie bei anderen menschlichen Eigenschaften nach Vorstufen in der Tierwelt gesucht. Dabei ist zwischen sensorischem und motorischem Sprachvermögen zu unterscheiden. Es ist gelungen, Schimpansen und Bonobos so zu trainieren, dass sie bis zu einem gewissen Grad Sprache verstehen. Ganz anders sieht es aus beim Sprechen, dem motorischen Aspekt der Sprache. Hier haben elektrophysiologische Experimente gezeigt, dass man bei Tieren durch elektrische Reizung diejenigen Gehirngebiete identifizieren kann, »bei denen sich Vokalisationen auslösen lassen. Ein zentraler Auslöser arteigener Laute ist ein Kortexareal auf der Innenseite beider Hemisphären, der Gyrus cinguli. Von dort lässt sich bei Affen fast deren gesamtes Lautrepertoire auslösen.« 65 Diese Laute werden oft in Begleitung von Emotionen geäußert. »Auch beim Menschen scheint der Gyrus cinguli 66 für emotionale Begleitlaute wie Schreien und Lachen zuständig zu sein, mit Sprechen hat er jedoch nichts zu tun.« 67 »Reizt man beim Menschen Neurone nicht im Gyrus cinguli, sondern in einem prämotorischen Kortexareal, dem sogenannten supplementären motorischen Areal SMA […], lassen sich gesprochene […] Silben auslösen. Reizt man das SMA bei Affen, ruft man keine einzige Lautäußerung hervor. Das SMA ist also ein Kortexgebiet, das nur beim Menschen und bei keinem Primaten Lautäußerungen, das Sprechen auslösen kann.« 68 Dieser Befund zusammen Edelman, Present, 187, 247. Neuweiler, Krone, 166. 66 Gemeint ist der ACC = Anterior Cingulate Cortex. Vgl. auch Neuweiler, Krone, Abb.15b, 179. 67 Neuweiler, Krone, 166. 68 Ebd., 167. 64 65
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mit weiteren Evidenzen nach Läsionen des motorischen Kortex führt zu dem Schluss: Artspezifische Vokalisationen eines Schimpansen sind »etwas grundsätzlich anderes als die Sprache des Menschen. Ohne motorischen Kortex gibt es keine Sprache, wohl aber sämtliche artspezifischen Laute eines Primaten. Schimpansenvokalisationen sind daher keine evolutiven Vorläufer menschlicher Sprache.« 69 Die außerordentlichen motorischen Fertigkeiten des Menschen haben ihren Grund nicht nur im motorischen Kortex, sondern auch in der Gestaltung der Hand. Ähnlich ist es bei der Sprache. Die Lautäußerungen werden zwar in der SMA des Kortex ausgelöst, bedienen sich dann aber eines besonders geeigneten Organs, nämlich des menschlichen Kehlkopfs. Nur beim Menschen stehen die Kommandoneurone der Kehlkopfmuskulatur des im Hirnstamm gelegenen Nucleus ambiguus unter direkter Kontrolle des motorischen Kortex. 70 Wie die Untersuchungen von Wolfgang Zenker zeigen, scheint der menschliche Kehlkopf insofern einzigartig zu sein, als die Muskelfasern des die Stimmritze verengenden Muskels (M. thyroarytaenoideus) mit sehr dünnen Verzweigungen an vielen verschiedenen Stellen des Stimmbandbindegewebes einstrahlen und so in mannigfaltiger und sehr feiner Weise die Spannung des Stimmbandes regulieren können. 71 Höhere integrative, ethische und soziale Fähigkeiten Weitere geistige Fähigkeiten des Menschen, die ihn aus der Tierwelt herausheben, können hier nur kurz erwähnt werden. Die Fähigkeit zum Ich- oder Selbstbewusstsein charakterisiert den Menschen in ganz besonderer Weise. Zwar sind Menschenaffen in der Lage, sich in einem Spiegel zu erkennen. Das ist aber nur ein bescheidener Anfang von Selbst-Bewusstsein. Zum menschlichen Selbst-Bewusstsein gehören auch das autobiographische Gedächtnis, das Zeitbewusstsein und die Sprache. Das autobiographische Gedächtnis 72 versetzt uns in die Lage, uns mit unserer Vergangenheit zu identifizieren. Das Zeitbewusstsein ermöglicht es uns, nicht nur in die Vergangenheit zurückzuschauen, sondern auch unsere Zukunft zu planen, und zwar 69 70 71 72
Ebd., 166 f. Ebd., 159, 166. Zenker, Endigung. Damasio, Feeling, 172–176.
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Die Stellung des Menschen
nicht nur für unser persönliches Leben, sondern auch für die Gesellschaft und die Menschheit im Ganzen. Dem Wissen, dass jedes Leben mit dem Tod zu Ende geht, verdanken wir viele kulturelle Leistungen von Einzelnen oder ganzen Gesellschaften. Die Sprache und die Schrift, schließlich, sind die Grundlage der Kommunikation, des Lernens, des Austauschs von Wissen und Argumenten, des globalen wissenschaftlichen Fortschritts und des kulturellen Schaffens. 73 Gefühle und Emotionen begleiten unser Denken und beeinflussen die Begründungen für unser Handeln. Wir sind jedoch diesen Gefühlen nicht einfach ausgeliefert, sondern befähigt, sie zu kontrollieren und langfristigen Zielen unterzuordnen. In den Aktivitäten der Neuronennetze des frontalen Kortex haben auch das Bewusstsein von Schuld und Verantwortung ihre neuronale Basis. 74 Schuld und Verantwortung sind nicht bekannt in den Naturwelten der Tiere, aber unerlässlich für die menschliche Gesellschaft. Nun wird zu Recht eingewendet, in der Praxis sei es um die Verantwortung des Menschen sehr schlecht bestellt. Der Mensch lade ständig Schuld auf sich. Die Grausamkeiten in der menschlichen Gesellschaft, die mörderischen Kriege und der unverantwortliche Umgang mit der Natur bewiesen dies täglich. Wegen seines ausbeuterischen und zerstörerischen Verhaltens sei der Mensch zur Bedrohung der Natur und ihres Gleichgewichts geworden. Dieser Beurteilung kann man kaum widersprechen. Man kann nur sagen, dass der Mensch die Folgen seines Handelns sieht, dass er weiß, wie er eigentlich handeln sollte, und dass er anders handeln könnte. Der Mensch ist befähigt, bewusst Verantwortung für den Frieden unter den Menschen und das Wohlergehen unseres Planeten zu übernehmen. Es wäre jetzt höchste Zeit, dass der Mensch zu dem wird, was er von seinen Fähigkeiten her sein kann. Wir können nur deshalb an unsere Verantwortung appellieren und ethische Prinzipien für unser Handeln aufstellen, weil wir freie Wesen sind. Wir haben uns nicht nur von den Zwängen der Natur stärker als andere Lebewesen befreien können, sondern wir sind auch frei in der Selbstbestimmung zum Guten. 75 Freiheit beinhaltet aber auch die Möglichkeit, ethische Prinzipien zu missachten und sich von Damasio, Feeling; Edelman, Present. Insbesondere kommt hierfür der dorsale mediale präfrontale Kortex (dMPFC) in Betracht. Hierzu gehört auch das Brodmann-Areal 10 (BA10). 75 Siehe das Kapitel »Freiheit«. 73 74
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niedrigeren Trieben und Interessen leiten zu lassen. Das hat sehr oft in der Menschheitsgeschichte zu Katastrophen geführt. Seit Jahrtausenden spielt die Religion eine entscheidende Rolle für das menschliche Handeln. Sie hat die Lebensentwürfe einzelner Menschen wie auch ganzer Gesellschaften und Kulturen wesentlich mitgestaltet. Auch hier sehen wir eine entscheidende Differenz zur Tierwelt.
4.3.4 Natürliche und kulturelle Evolution Mit der Entwicklung dieser neuen geistigen Vermögen ist der Mensch über die natürliche Evolution hinausgewachsen. Er hat damit begonnen, die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten und ganz entscheidend in die Lebensprozesse einzugreifen. Er ist zum Urheber der menschlichen Kultur geworden, die jetzt den weiteren Fortgang der Evolution in entscheidender Weise mitbestimmt. Die vom Menschen geschaffene kulturelle Evolution geht über die natürliche Evolution hinaus und mit wesentlich schnellerem Schritt voran als diese. Monod spricht bereits von einer »anderen Evolution […], die ein neues Reich entstehen ließ: das Reich der Kultur, der Ideen, der Erkenntnis.« 76 Den Weg dazu habe die Entwicklung der Symbolsprache geebnet. Um die Evolution des Menschen zu verstehen, müssen wir uns nach Dawkins davon frei machen, »das Gen als die einzige Grundlage unserer Vorstellungen von Evolution anzusehen.« 77 Man könne den Darwinismus nicht auf »den engen Rahmen des Gens beschränken«. Um die kulturelle Evolution in einen weiteren Rahmen des Darwinismus einzufügen, entwickelt Dawkins die Theorie der Meme. Er definiert das Mem als »Einheit der kulturellen Vererbung«. Beispiele eines Mems seien »Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermode, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen.« 78 Meme sollen Replikatoren ähnlich wie die Gene sein. Sie verbreiten sich, »indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen mit Hilfe eines Prozesses, den man in einem allgemeinen Sinn als Imitation bezeichnen
76 77 78
Monod, Zufall, 160. Dawkins, Gen, 226. Ebd., 227.
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Die Stellung des Menschen
kann«. Meme sollen ferner der Variation und der Selektion unterliegen, wie wir das von der natürlichen Evolution kennen. 79 Die Memtheorie wird jedoch der Wirklichkeit der kulturellen Evolution des Menschen nicht gerecht. 80 Wenn sie eine naturwissenschaftliche Theorie sein soll, dann ist nicht klar, auf welches physische Korrelat sie sich beziehen könnte. Ist sie aber als geisteswissenschaftliche Theorie gedacht, dann ist nicht zu sehen, welchen Erkenntnisfortschritt sie bringen kann über das hinaus, was man ohnehin schon lange weiß. Die Meme sind Konstrukte, keine realen kulturellen Einheiten. Mit der Reduzierung auf Mem-Einheiten wird die Einheit des Wissens zerstückelt. Die Nähe zur natürlichen Evolutionstheorie ist gesucht, aber nicht wirklich vorhanden. Wegen dieses Ungenügens wurde die Memtheorie scharf kritisiert. »Die Memetik ist […] zum einen konzeptionell so unklar, dass sie an Sinnlosigkeit grenzt, zum anderen ignoriert sie praktisch die gesamte psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung zur menschlichen Kommunikation.« 81 Die Memetik stellt nicht in Rechnung, dass Menschen kulturelle Ideen nicht nur nachahmen, sondern oft zuerst beurteilen und in Freiheit entscheiden, ob sie diese Ideen und Gehalte übernehmen wollen. In diesem Prozess der Beurteilung und Entscheidung geht es nicht um isolierte Mem-Einheiten oder Memplexe, 82 sondern um kulturelle Gesamtzusammenhänge. Dawkins scheint das Ungenügen seiner Theorie erahnt zu haben, wenn er am Schluss seines Buches schreibt: »Wir sind als Genmaschinen gebaut und als Memmaschinen erzogen, aber wir haben die Macht, uns unseren Schöpfern entgegenzustellen. Wir allein – einzig und allein wir auf der Erde – können uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen.« 83 Wir können uns gegen diese Tyrannei auflehnen zugunsten der höchsten menschlichen Werte.
Für eine genauere Darstellung der Memtheorie siehe Salwiczek, Memtheorie. Verschiedentlich wird der Begriff »kulturelle Evolution« auch für Vorgänge bei Tieren gebraucht. Im Rahmen einer Anthropologie beschränken wir uns auf die kulturelle Evolution des Menschen. 81 Bunge/Mahner, Natur, 126. 82 Unter Memplex (»ko-adaptierter Memkomplex«, Dawkins, Gen, 235) versteht man einen Komplex von einander bedingenden Memen. Siehe auch Salwiczek, Memtheorie. 83 Dawkins, Gen, 237. 79 80
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Dawkins hält es für möglich, dass der Mensch »zu echtem, uneigennützigem, aufrichtigem Altruismus fähig ist.« 84 Wir Menschen sind frei. Wir können uns weitgehend unabhängig machen von den Zwängen der Natur und der Umwelt. Wir können uns »nach eigenen, frei gewählten Kriterien eine selbstbestimmte, ›humane‹ Lebenswelt schaffen«. Wir können uns »dem Diktat reproduktiver Fitness und natürlicher Auslese entziehen.« 85 Die enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritte ermöglichen es uns, bewusst die Werkzeuge der natürlichen Evolution bis hin zur Genmanipulation einzusetzen. Wir sind in der Lage, die Grenzen unserer Erde zu verlassen und in das Weltall vorzustoßen. Wir sind dabei, die letzten Einheiten der Materie zu erforschen. Allerdings laufen wir dabei auch Gefahr, das System der Natur empfindlich zu stören und uns damit selbst in eine Situation zu bringen, aus der es dann vielleicht keinen Ausweg mehr gibt. Die kulturelle Evolution hat auch in vielen anderen Bereichen große Fortschritte erzielt, wie z. B. Musik, bildende Kunst, Geisteswissenschaften, Rechtssysteme, Ökonomie und gesellschaftliche Strukturen. Diese Fortschritte gehen weit über die natürliche Evolution hinaus. Sie sind aber nur dann wirklich human, wenn sie in Freiheit, Würde und Verantwortung erreicht werden. »Eine humane Gesellschaft muss sich bewusst, wachsam und konsequent von den Regeln natürlicher Evolution abgrenzen.« 86
4.4 Philosophische und theologische Entwürfe zur Deutung der Evolution Unter Evolutionstheorie wird heute üblicherweise eine naturwissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Evolution verstanden. Einige Vertreter dieser naturwissenschaftlich orientierten Evolutionstheorie überschritten die Grenzen der Naturwissenschaften und machten eine naturalistische Weltanschauung daraus. Darüber wird oft vergessen, dass es auch originäre philosophische oder theologische Theorien gibt, die sich mit der Entwicklung des Kosmos und der Lebewesen befassen. Dies sei mit zwei Beispielen aus der jüngeren Ver84 85 86
Ebd., 236. Neuweiler, Krone, 200. Ebd., 227.
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Philosophische und theologische Entwürfe zur Deutung der Evolution
gangenheit belegt, nämlich dem indischen Philosophen Sri Aurobindo (1872–1950) und dem Paläontologen, Philosophen und Theologen Teilhard de Chardin (1881–1955). Während in der naturalistischen Version der Evolutionstheorie die Gottesvorstellung abgelehnt und der Mensch als Zufallsprodukt, ja sogar als Naturkatastrophe angesehen wird, stehen Gott und Mensch im Zentrum dieser beiden Denker. Für beide ist entscheidend, dass Evolution nicht gedacht werden kann ohne Involution. 87 Eine Höherentwicklung setzt voraus, dass die emergierenden neuen Eigenschaften schon als Möglichkeit in der Materie, dem Ausgangsmaterial der Evolution, enthalten sind. 88
4.4.1 Sri Aurobindo Sri Aurobindo wird hier genannt, weil er 14 Jahre seiner Jugend in England gelebt und die westliche Philosophie intensiv kennen gelernt hat. Erst nach seiner Rückkehr nach Indien hat er sich mit der indischen Philosophie vertraut gemacht und versucht, westliches und indisches Denken zu verbinden. Sri Aurobindo sieht die Evolution als ein göttliches Geschehen, als eine Bewegung der göttlichen Bewusstseinskraft. Die als Sein-Wissen-Seligkeit (Saccidānanda 89) beschriebene göttliche Wirklichkeit bleibt immer sie selbst. Zugleich aber hat sie sich bis zum reinen Unbewusstsein entäußert, involuiert. »Die Involution der göttlichen Bewusstseins-Kraft ermöglicht und bewirkt wieder die Evolution, in welcher die Unbewusstheit immer mehr vom Wissen überwunden wird und Brahman schließlich in allen Dingen zur bewussten Identität mit sich selbst zurückkehrt. Obwohl es [Brahman] immer schon mit sich identisch ist, bringt es jetzt gleichsam die aus sich entlassene Welt wieder zu sich zurück, zur
Rager, Aurobindo. Auch in der Selbstorganisation, bei der neue Eigenschaften auftreten, kommt nichts hinzu, was nicht schon als Möglichkeit in den Elementen oder Komponenten vorhanden ist. 88 Vgl. auch Jonas, Verantwortung, 135. Das auftauchende Neue ist nicht total neu. Es muss ihm eine vorausliegende Potentialität zugeschrieben werden. »Dieses muss als Aktualisierung, als ›Telos‹, als Erfüllung gerichteter Hinbewegung verstanden werden. Kurz, nur in Verbindung mit einer generell ›aristotelischen‹ Ontologie ist die Emergenzlehre logisch haltbar.« 89 Saccidānanda wird ausführlich erklärt in Rager, Aurobindo. Dieser Begriff entsteht aus der Zusammenfassung von sat (Sein), cit (Bewusstsein, Wissen) und ānanda (Liebe, Seligkeit). 87
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Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur
Einheit des Geistes in der Vielheit der Individuen.« 90 Der Mensch spielt in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Er steht am »Kreuzungspunkt von Materie und Geist«. »Durch einen mehr oder weniger stetig verlaufenden Vergeistigungsprozess, gleichsam eine Evolution des Bewusstseins«, 91 kann er seiner zukünftigen Vollendung entgegenstreben. Er kann über die Grenzen des Mentalen hinausgehen und zum supramentalen Wesen werden. Der Supermind, welcher im Menschen zur Entfaltung kommt, ist die schöpferische Kraft des Unendlichen, welche zwischen dem Absoluten und dem Relativen vermittelt und die supramentale Transformation des Menschen ermöglicht. 92 Ziel der Evolution ist die absolute Vergeistigung der Welt. Die materielle Welt wird nicht als bloßer Schein oder als minderwertig abgetan. Sie ist es ja gerade, welche auf Grund der Involution die Potentialität für die Evolution bis hin zum geistigen Dasein in sich trägt. Deshalb behalten auch die von der Evolutionstheorie genannten evolutiven Prozesse ihren Platz. Durch die supramentale Transformation wird der materielle Aspekt der Welt nicht abgeschafft, sondern in den spirituell-evolutiven Prozess mit hineingenommen. An dieser Stelle soll nicht diskutiert werden, inwiefern der Gottesbegriff Aurobindos sich vom christlichen Gottesbegriff unterscheidet. 93 In unserem Zusammenhang ist auch nicht von Belang, dass Aurobindo seine Evolutionstheorie in die indische Vorstellung von einer ewigen Wiederkehr ganzer Weltalter einbettet, wobei jedes Weltalter durch Involution und Evolution bestimmt ist. Im Gegensatz dazu geht das christlich-westliche Denken von einem linearen Entwicklungsprozess aus, der von einem Anfang (Punkt Alpha) zu einem Ende (Punkt Omega) fortschreitet.
4.4.2 Teilhard de Chardin Damit sind auch schon die Eckpunkte der Evolution bei Teilhard de Chardin genannt. Teilhard de Chardin entwickelt seine Theorie primär als Naturwissenschaftler, der ein tieferes und synthetisches Verständnis der Natur gewinnen will. Von dort geht er weiter in die phi90 91 92 93
Rager, Aurobindo. Gantke, Aurobindo, 136. Rager, Aurobindo. Siehe dazu Rager, Aurobindo; Wolff, Aurobindo.
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Philosophische und theologische Entwürfe zur Deutung der Evolution
losophische und theologische Dimension. Die Materie, die in der Lage ist, den Geist hervorzubringen, der uns in der Form des Bewusstseins und Selbstbewusstseins des Menschen begegnet, muss von Anfang an beseelt gewesen sein. Das erinnert uns an die Involution bei Aurobindo. Geistiges kann sich nicht herausbilden, wenn es nicht schon von Anfang an in der Materie als Möglichkeit enthalten ist. Je komplexer die materiellen Wesen im Laufe der Evolution werden, umso deutlicher tritt ihre Befähigung zum Bewusstsein in Erscheinung. Im Menschen wird dann das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein. Dieses Ereignis bedeutet einen qualitativen Sprung von der Entfaltung des Organischen, der Biosphäre, zur Entfaltung des Geistigen, der Noosphäre. Mit diesem qualitativen Sprung entsteht ein klarer Unterschied zwischen dem Menschen und den übrigen Lebewesen. Mit dem Bewusstsein entsteht auch die Freiheit. 94 Zugleich wird der Mensch zum Träger der weiteren Entwicklung. Er wird verantwortlich für die kulturelle Evolution, die wir im vorigen Abschnitt beschrieben haben. Von daher wird für Teilhard de Chardin klar, dass die Darwinsche Abstammungslehre zu kurz greift. Sie reduziert den Menschen im Kosmos auf eine physikochemische Basis. 95 Die Evolution ist nach Teilhard de Chardin teleologisch orientiert und strebt auf ein Ziel hin. Das Vielfältige geht den Weg zur Einheit, »in Richtung der endgültigen Kommunion, dem Punkt Omega«. 96 Der Punkt Omega wird auch als göttliches Zentrum des Kosmos, als persönlicher Gott, »als liebendes Zentrum der Evolution« 97 beschrieben. Aus dieser Sicht ergibt sich für die Position des Menschen: »Der Mensch ist nicht, wie er so lange geglaubt hat, fester Weltmittelpunkt, sondern Achse und Spitze der Entwicklung – und das ist viel schöner.« 98 Es ist hier nicht der Ort, sich kritisch mit den Theorien von Aurobindo und Teilhard de Chardin auseinanderzusetzen. Es soll nur gezeigt werden, dass es Evolutionstheorien gibt, die über eine rein naturalistische Sicht hinausgehen. Dabei ist festzuhalten, dass TeilEuvé, Teilhard de Chardin, 124. Teilhard de Chardin, Vergangenheit, 201. 96 Euvé, Teilhard de Chardin, 130. 97 Teilhard de Chardin, Pierre, »Centre aimant de l’Evolution«, Brief an Lucile Swan vom 9. Mai 1950, in: Teilhard de Chardin, Pierre / Swan, Lucile, Correspondance, Brüssel 2009, 340. Zitiert nach Euvé, Teilhard de Chardin, 130. 98 Teilhard de Chardin, Kosmos, 9. 94 95
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Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur
hard de Chardin die von Darwin begründete Evolutionstheorie nicht ablehnt, sondern nur vor ihrem Reduktionismus warnt, der dem Menschen im Kosmos nicht gerecht wird. 99 Umgekehrt zollt Theodosius Dobzhansky, einer der Begründer der Synthetischen Theorie, trotz Kritik auch Anerkennung für das Werk von Teilhard de Chardin, wenn er schreibt: »Für den modernen Menschen, der sich in diesem riesigen und scheinbar sinnlosen Universum so verloren und geistig überfordert fühlt, kommt Teilhard de Chardins Evolutionsidee wie ein Hoffnungsstrahl.« 100
4.4.3 Biblisch-christliche Schöpfungstheologie Während die Entwürfe von Aurobindo und Teilhard de Chardin sich hauptsächlich auf rationale Argumente stützen, kommt bei der Schöpfungstheologie eine neue Dimension hinzu, die Dimension des Glaubens. Der Glaube stützt sich wiederum in erster Linie auf die Botschaft der Bibel. Wenn es im ersten Satz des ersten Schöpfungsberichts (Genesis 1,1) heißt: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, dann ist damit nicht primär ein zeitlicher Anfang gemeint, sondern das Prinzip oder der Urgrund der Schöpfung. Deshalb wird in der Vulgata, der offiziellen lateinischen Übersetzung des hebräischen Textes, der Anfang nicht mit »in initio« (zeitlicher Anfang), sondern mit »in principio« (zeitlicher und zugleich begründender Anfang) übersetzt. 101 Um das Einzigartige der göttlichen Schöpfung auszudrücken, werden in der Bibel spezielle Wörter benutzt, welche ganz allein vom schöpferischen Tun Gottes ausgesagt werden. 102 Der Schöpfungsbericht selbst ist nicht als eine Erzählung oder als naturwissenschaftlicher Bericht aufzufassen, sondern als ein Hymnus, ein Lehrgedicht. Das 6- oder 7Tage Schema ergibt sich nicht aus einem vermeintlichen zeitlichen Ablauf des Schöpfungsgeschehens, sondern aus der Form des Lehrgedichts. 103 Daraus wird sofort der Unterschied zur kreationistischen Deutung ersichtlich.
Euvé, Teilhard de Chardin, 126. Dobzhansky, Dynamik, 408. 101 Kessler, Evolution, 55. 102 Ebd., 57. 103 Ebd., 61. 99
100
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Philosophische und theologische Entwürfe zur Deutung der Evolution
Die Evolutionstheorie wurde zwar anfänglich von vielen Theologen abgelehnt, aber es gab schon in der ersten Phase der Auseinandersetzung auch starke Befürworter. Bald nach Erscheinen von Darwins »Entstehung der Arten« 1859 konnte man in der einflussreichen christlichen Zeitschrift »The Outlook« lesen: »Die Evolution ist die Methode Gottes, die Welt zu schaffen«. Kardinal John Henry Newman schrieb: »Ich kann nicht verstehen, warum der Darwinismus mit der katholischen Lehre unvereinbar sein soll.« 104 1969 schrieb Josef Ratzinger (Papst Benedikt XVI), dass zwar die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Theorie keinen Platz habe für den Schöpfungsglauben. Der Schöpfungsgedanke aber könne als die weitere Sicht in seinem Raum den Evolutionsgedanken annehmen. 105 Heute ist die Evolutionstheorie, sofern sie als naturwissenschaftliche Theorie auftritt, von der Schöpfungstheologie weitgehend anerkannt. Eine wesentliche Rolle für die Ablehnung der Schöpfungstheologie durch die Vertreter der Evolutionstheorie spielte der Gottesbegriff. Wenn man Gott in die Ebene der naturwissenschaftlichen Erklärung hereinholen will oder ihn als eine Person sieht, die gleichsam physisch der Welt gegenübersteht und an ihr schöpferisch tätig ist, dann wird man zu keiner sinnvollen Lösung kommen. Für die Schöpfungstheologie ist Gott der allgegenwärtige und fortwährend schaffende Urgrund des Seins. »Die Evolution ist die Weise, wie Gott die Dinge schafft.« 106 Wie die Evolution abläuft, ist naturwissenschaftlich zu klären. Dass Gott in der Evolution als Schöpfer ständig präsent ist, ist die vom Glauben her begründete Aussage der Schöpfungstheologie. Jede dieser beiden Aussagen steht in einem je eigenen Verstehenshorizont. Die Aussagen widersprechen sich deshalb nicht. Weil der Gott der Schöpfungstheologie alles Seiende ständig schafft und im Sein hält, ist er die grundlegende und begründende Wirklichkeit, die auch das Ziel der Schöpfung vorgibt. In diesem Lichte erscheint der Mensch als Höhepunkt des Evolutionsgeschehens. Im Abschnitt über die Erklärungskraft der Evolutionstheorie haben wir mit Peter Schuster gesehen, dass mit den klassischen Mechanismen der Evolutionstheorie die größeren Übergänge von einer hierarchischen Stufe zur nächsten nicht erklärt werden können. Dieses 104 105 106
Ebd., 77. Ratzinger, Evolutionstheorie, 235 f. Kessler, Evolution, 77, 114.
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Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur
Problem stellt sich auch der Schöpfungstheologie. Karl Rahner schlug als Lösungsmöglichkeit vor, dass den Geschöpfen von Gott her die Möglichkeit der »aktiven Selbsttranszendenz« gegeben ist. Das bedeutet, dass die Geschöpfe in sich die Fähigkeit, die aktive Potenz, enthalten, sich auf etwas Neues hin selbst zu transzendieren. 107 Dieser Vorschlag erinnert uns an Aurobindo und Teilhard de Chardin, für die Evolution nur möglich ist auf Grund vorgängiger Involution. Was sich im Laufe der Evolution zu höheren Seinsstufen entfaltet, muss diese Seinsstufen schon als Möglichkeit, als Potentialität, in sich enthalten.
4.5 Evolutionstheorie und Welterfahrung, eine bleibende methodische Differenz Greifen wir noch einmal den eingangs geschilderten Konflikt zwischen Evolutionismus einerseits und Kreationismus und Intelligent Design andererseits auf. Der Grund für den zum Teil erbittert ausgefochtenen Konflikt liegt einfach in der Tatsache, dass die Evolutionstheorie schon bald ideologisch überfrachtet wurde. Einige Vertreter der Evolutionstheorie 108 meinten, mit dieser Theorie seien sowohl der Gottesglaube als auch der Glaube an die Sonderstellung des Menschen in der Natur endgültig ausgeräumt. Man müsse jetzt zu aufklärerischem Kampf ansetzen und die Menschen von ihren Irrtümern befreien. Die Kreationisten sahen das Heiligste und Erhabenste des Menschen bedroht und fühlten sich herausgefordert, diese Werte zu verteidigen. Diesem Kampf liegt ein fundamentales Missverständnis zugrunde. Die Evolutionstheorie ist eine wissenschaftliche Theorie und keine Weltanschauung. Sie ist so wahr, wie sie Beweise für ihre Theorie erbringen kann. Umgekehrt ist der Schöpfungsbericht der Bibel keine Theorie, die den Vorgang der Schöpfung naturwissenschaftlich exakt beschreibt, sondern frohe Botschaft, Verkündigung des Heils. Einen intelligenten Plan im Ganzen der Welt zu sehen, hat im Rahmen unseres ursprünglichen Weltverständnisses durchaus seine Berechtigung. Wir sind immer wieder erstaunt über die äußerst feine Abstimmung der Funktionen der Or-
107 108
Rahner, Naturwissenschaft. So z. B. Ernst Haeckel, wie in Abschnitt »Vertreter der Evolutionstheorie« gezeigt.
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Evolutionstheorie und Welterfahrung, eine bleibende methodische Differenz
ganismen. Daraus lässt sich aber keine Theorie im Sinne der strengen Naturwissenschaften machen. Es gilt nun anzuerkennen, dass wir zwei verschiedene Zugangsweisen zum Verstehen der Welt und der Lebewesen haben. Zwischen diesen beiden Zugangsweisen besteht eine methodische Differenz. Der amerikanische Astronom und Wissenschaftshistoriker Owen Gingerich meint dazu: Als Wissenschaftler muss man »den methodologischen Naturalismus als eine Forschungsstrategie« 109 akzeptieren und die Wirkursachen erforschen. Diese Haltung steht nicht im Widerspruch zu einem »festen Glauben an einen übernatürlichen Plan«, an eine »kosmische Teleologie«, 110 die unter der Vorstellung von Zielursachen steht. »Wissenschaft bleibt eine neutrale Methode, etwas zu erklären. […] Die wissenschaftliche Sichtweise zu unterstützen bedeutet nicht […], dass das Universum gottlos ist, sondern nur, dass die Wissenschaft generell keine andere Möglichkeit hat vorzugehen.« 111 Gehen wir noch einmal zurück zum Anfang unserer Überlegungen, nämlich zum Urknall: Die Astrophysik hat unseren Kenntnisstand vom Weltall und seiner Entstehung in hervorragender Weise bereichert und erweitert. Beim Urknall hat sie aber ihr Ende erreicht. Sie weiß sogar, warum sie nicht weiter gehen kann. Das Gleiche gilt von der Evolutionstheorie. Sie kann viele Vorgänge in der Entstehung der Arten wissenschaftlich erklären. Auf die Fragen nach Sinn und Ziel der Evolution bleibt sie uns die Antwort schuldig. Eine Antwort auf die Fragen nach Sinn und Ziel wird dann möglich sein, wenn wir nicht nur die von uns entworfene naturwissenschaftliche Methode in aller Konsequenz gelten lassen, sondern zugleich über die selbst verfügte Beschränkung der Vernunft hinausgehen und der Vernunft wieder ihre ganze Weite eröffnen.
109 110 111
Gingerich, Universum, 84. Ebd., 86. Ebd., 89.
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5 Die Freiheit der Person
In unserem täglichen Leben sind wir überzeugt, dass wir frei sind. Aus dieser Überzeugung heraus wollen wir es nicht hinnehmen, dass unsere Freiheit durch totalitäre Regime oder andere Arten der Bevormundung eingeschränkt wird. Nach immer wiederkehrenden Protesten zogen am 9. Oktober 1989 etwa 70.000 Menschen durch die Straßen von Leipzig. Auf ihren Spruchbändern und Transparenten war das Wort »Freiheit« zu lesen. Das Verlangen nach Freiheit brachte am 9. November 1989 die Mauer zu Fall. Die ganze Welt schaute nach Berlin und bewunderte die Kraft des Willens zur Freiheit, welche etwas bewirkte, was nicht für möglich gehalten wurde. Am 25. Dezember 1989 dirigierte Leonard Bernstein die 9. Symphonie von Beethoven. Der Chor sang nicht »Freude«, sondern »Freiheit, schöner Götterfunke«. Wir wollen aber nicht nur frei sein von aller Art von Zwang, der uns hindert, unsere Grundrechte auszuüben, sondern wir wissen uns auch frei, das, was wir als gut erkennen, zu tun, und das, was wir tun sollen, auch zu verwirklichen. Auf dieser Grundüberzeugung ruht unsere Kultur. Wie wäre ein Rechtssystem und ein Rechtsstaat möglich, wenn die Bürger nicht einsehen und wollen könnten, dass damit ein geordnetes und friedliches Zusammenleben gesichert werden soll? Und welchen Sinn hätten Sanktionen oder Strafen, wenn es keine Einsicht in Schuld und Verantwortung gäbe? Welchen Sinn hätte der Versuch, junge Menschen im Elternhaus oder in der Schule zu erziehen, wenn der Appell an die Freiheit keinen Widerhall fände? Die Aufforderung der Religion zum Umdenken und zur Umkehr wäre vergeblich, wenn wir dieser nicht in Freiheit entsprechen könnten. In der Medizin wäre das heute unverzichtbare Mitdenken und Zustimmen des Patienten (informed consent) zu einer bestimmten Form der Therapie nach ausreichender Information über den Krankheitszustand und nach Abwägen der Risiken illusorisch, gäbe es nicht die
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Experimentelle Daten der Hirnforschung
Freiheit des Patienten als Person und die Achtung seiner Autonomie und Würde. Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Leute, die verkündeten, es gebe keine Freiheit. Die Vorstellung von Freiheit sei bloß eine Illusion. In den letzten Jahren hat sich diese Situation insofern geändert, als diese Leute behaupten, ihre Ansicht werde durch die Befunde der Neurowissenschaften bestätigt, wenn nicht sogar bewiesen. Freiheit sei eine Illusion. In Wirklichkeit würden wir von unbewussten Hirnprozessen gesteuert. Wenn diese Behauptung zuträfe, dann hätte sie Konsequenzen für viele Bereiche unserer Kultur. Insbesondere würden der Begriff von Schuld und das Fundament unseres Rechtssystems in Frage gestellt. Die Debatte über die Realität von Freiheit fand in den letzten Jahren ein breites Echo in den Medien und forderte Vertreter aus verschiedenen Bereichen unserer Kultur zur Stellungnahme heraus. Eine interdisziplinäre Anthropologie darf sich nicht einfach nur mit philosophischen Reflexionen begnügen, sondern muss sich auch mit den Befunden der Naturwissenschaften auseinandersetzen. Deshalb wird es zunächst unsere Aufgabe sein festzustellen, wie die Befunde der Neurowissenschaften wirklich sind und welche Schlüsse daraus gezogen werden dürfen. Die Ablehnung der Freiheit erfolgt in der Regel im Kontext des reduktionistischen Naturalismus. Deshalb ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dieser Naturalismus mit seinen Argumenten überzeugen kann. In einem dritten Schritt wird versucht, Freiheit positiv zu entfalten. Ist Freiheit kompatibel mit der Auffassung, dass wir durch die Prozesse der Natur determiniert sind? Oder besteht ein nicht auflösbarer Gegensatz, eine Inkompatibilität zwischen Freiheit und Determination? Es könnte aber auch sein, dass eine Entscheidung zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus nicht möglich ist, weil die Wissenshorizonte von Naturwissenschaften und Philosophie unaufhebbar verschieden sind, weil also eine epistemische Differenz zwischen beiden besteht.
5.1 Experimentelle Daten der Hirnforschung Mit Berufung auf die Ergebnisse der Neurowissenschaften behaupten einige Neurophilosophen, Freiheit sei eine Illusion. 1 Was wir als freie 1
Roth, Fühlen; Wegner, Illusion.
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Die Freiheit der Person
Willensakte bezeichnen, beruhe in Wirklichkeit auf Hirnprozessen, die unbewusst in uns ablaufen und unsere Handlungen steuern. Dies sei vor allem durch die Experimente von Benjamin Libet und durch nachfolgende Untersuchungen von anderen Wissenschaftlern bewiesen. Damit sei experimentell gezeigt, dass es keine Freiheit gebe.
5.1.1 Die Experimente von Benjamin Libet In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts versuchte der amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet herauszufinden, wann bewusste Handlungsabsichten entstehen und wie sie sich zeitlich zur Handlung selbst verhalten. 2 »He [the subject] was asked to perform a freely voluntary act, a simple but sudden flexion of the wrist at any time he felt like doing so. He was asked not to preplan when to act; rather he should let the act appear ›on its own‹. … He was also asked to associate his first awareness of his intention or wish to move with the ›clock position‹ of the revolving light spot.« 3 So konnte der Versuchsleiter die Zeit berechnen, zu der die Versuchsperson meinte, ihre Entscheidung getroffen zu haben. Während des Versuchs wurde vom Kopf der Versuchspersonen mit der Elektroenzephalographie (EEG) das Bereitschaftspotential abgeleitet. Der Beginn der Muskelaktivierung für die Handbewegung wurde ebenfalls mit einer Elektrode gemessen. Das so aufgezeichnete Elektromyogramm lieferte den Zeitpunkt der Bewegung und diente als Referenz für den Computer, um die vorausgegangenen Ereignisse zu berechnen. 4 Das Bereitschaftspotential ist ein negatives Summenpotential, das mit EEG-Elektroden oder mit der Magnetenzephalographie über dem Scheitel registriert werden kann. Es wurde von dem deutschen Neurophysiologen Hans Kornhuber 1965 entdeckt und zuerst beLibet et al., Intention; Libet, Action. Da es sehr auf den genauen Wortlaut ankommt, wird oben das originale englische Zitat und in der Fußnote die Übersetzung durch den Verfasser wiedergegeben. »Die Versuchsperson wurde gebeten, einen freien willentlichen Akt, nämlich eine einfache, aber plötzliche Beugung des Handgelenks auszuführen, und zwar zu irgend einer Zeit, zu der sie das Gefühl hatte, es tun zu wollen. Sie wurde gebeten, nicht vorauszuplanen, wann sie die Bewegung ausführen wollte; vielmehr sollte sie die Bewegung ›von selbst‹ auftreten lassen. … Sie wurde ebenfalls gebeten, ihr erstes Gewahrwerden ihrer Intention oder ihres Wunsches zur Bewegung in Verbindung zu bringen mit der ›Uhrzeiger-Stellung‹ eines sich drehenden Lichtpunktes.« Libet, Mind Time, 126. 4 Ebd., 130. 2 3
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Experimentelle Daten der Hirnforschung
schrieben. 5 Bereitschaftspotentiale setzen gemäß den Untersuchungen von Kornhuber etwa 800 bis 1000 ms vor dem Bewegungsbeginn ein und zeigen an, dass das Gehirn sich auf eine Bewegung vorbereitet. Aus den Libet-Experimenten ergab sich, dass zwei Formen des Bereitschaftspotentials zu unterscheiden sind. Wenn Bewegungen vorausgeplant sind, tritt das Bereitschaftspotential etwa 800 ms vor der Bewegung auf, ohne Vorausplanung aber nur 550 ms. Den Versuchspersonen im Libet-Experiment wird der »Drang« zur Bewegung erst 150 bis 200 ms vor der Bewegung bewusst. Daraus ergibt sich, dass das Bereitschaftspotential bereits 350 bis 400 ms vor dem Bewusstwerden des Bewegungsdrangs einsetzt. Libet zog daraus den Schluss, dass Handlungen durch unbewusste Hirnprozesse bewirkt werden. »That implies that free will, if it exists, would not initiate a voluntary act.« 6 Diese Schlussfolgerung wurde denn auch von Neurophilosophen als Beweis gegen die Existenz eines freien Willens übernommen. Das Bereitschaftspotential »verursache« die Bewegung. 7 Deshalb seien Hirnprozesse, nicht aber der freie Wille, Auslöser der Bewegung.
5.1.2 Kritik am Experiment Das einfach scheinende Libet-Experiment ist in Wirklichkeit komplex und lässt viele Fragen offen. 8 Der erste Kritikpunkt betrifft den Zusammenhang von Bereitschaftspotential und Handlung. Libet hatte das symmetrische Bereitschaftspotential über dem Scheitel gemessen. Haggard und Eimer 9 zeigten, dass weder ein zeitlicher noch ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Auftreten des symmetrischen 10 Bereitschaftspotentials und der Ausführung der zugehörigen Kornhuber / Deecke, Bereitschaftspotential. Auch hier kommt es wieder darauf an, die Aussage von Libet original wiederzugeben. Hier die deutsche Übersetzung durch den Verfasser. »Daraus folgt, dass der freie Wille, wenn er existiert, einen willentlichen Akt nicht initiiert.« Libet, Mind Time, 136. 7 Pauen/Roth, Schuld, 123. 8 Eine gründliche Analyse dieses Experiments und der Nachfolge-Experimente wird vorgelegt von Pauen, Illusion. 9 Haggard/Eimer, Awareness. 10 Libet hat das symmetrische Bereitschaftspotential gemessen. Nachfolgende Autoren haben auch das lateralisierte Bereitschaftspotential untersucht. »Dieses Potential tritt jeweils nur auf derjenigen Hirnhälfte auf, die den zu bewegenden Körperteil 5 6
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Die Freiheit der Person
Handlung besteht. Wenn man jedoch das lateralisierte Bereitschaftspotential auf derjenigen Seite des Gehirns (laterale prämotorische Region) misst, die für die Steuerung der aktivierten Muskeln zuständig ist, dann lasse sich ein engerer zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses Potentials und der Bewegung feststellen. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Aufgabenstellung selbst. Libet verlangte von seinen Probanden, sie sollten angeben, wann sie den »Drang« zu der Bewegung verspürt hätten. Es ist bemerkenswert, dass Libet von Drang (»urge«) spricht und diesen als gleichbedeutend mit »decision« oder »will« setzt 11. Wenn die Anweisung an die Probanden lautet »to let the urge come on its own spontaneously« 12, dann kann man diese »kaum anders auslegen, als dass die Person den Zeitpunkt gerade nicht frei wählt« 13, dass es sich also nicht um eine bewusste Entscheidung handelt. Die Gleichsetzung von Drang und freier Wahl wird inzwischen allgemein abgelehnt. Drittens hatten die Versuchspersonen keine Handlungsalternative. Sie konnten nicht bestimmen, was sie tun, sondern nur wann sie die verlangte Bewegung ausführen werden. Haggard und Eimer führten deshalb eine Handlungsalternative ein. Die Versuchspersonen konnten wählen, ob sie den rechten oder den linken Finger krümmen wollten. Libet hatte viertens nicht berücksichtigt, dass die Instruktionen des Versuchsleiters vor dem Beginn der Messungen kausal relevante Faktoren sind, »die bei jeder Messung wirksam waren und die experimentell nicht-kontrollierbare physische und mentale Vorgänge hervorriefen, mit denen die Handlungsabsicht verwoben war.« 14 John-Dylan Haynes hatte ebenfalls Zweifel an der Aussagekraft der Libet-Experimente. Diese und nachfolgende Experimente »hätten eine Reihe von kontroversen Fragen offen gelassen«. Deshalb startete er mit seiner Arbeitsgruppe eine neue Versuchsserie. 15 Die Versuchspersonen sollten auf das Zentrum eines Bildschirms blicken, auf dem eine Abfolge von Buchstaben präsentiert wurde. Sobald sie den Drang fühlten, sollten sie entscheiden, welchen von zwei Knöpfen sie drüsteuert; außerdem steht es in einem engeren zeitlichen Zusammenhang mit der Bewegung als das symmetrische Bereitschaftspotential.« Pauen, Willensfreiheit, 74. 11 Libet, Action, 530. 12 Libet, Free will, 48. 13 Keil, Willensfreiheit, 172. 14 Falkenburg, Determinismus, 193. 15 Soon et al., Determinants.
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Experimentelle Daten der Hirnforschung
cken wollten, den linken Knopf mit dem linken, den rechten mit dem rechten Zeigefinger. Gleichzeitig sollten sie sich den Buchstaben merken, der präsentiert wurde, als sie sich für das Drücken des Knopfes entschieden hatten. Nach dem Drücken des Knopfes erschien ein »Antwort Bildschirm« mit vier Buchstaben. Die Versuchspersonen sollten bekannt geben, wann sie ihre Entscheidung zum Knopfdrücken getroffen hatten, indem sie den entsprechenden Buchstaben durch einen zweiten Knopfdruck auswählten. Die Hirnaktivität wurde gemessen mit der funktionellen Magnetresonanzbildgebung (fMRT). Dieses experimentelle Vorgehen beinhaltete mehrere wichtige Verbesserungen gegenüber dem originalen Libet-Experiment. Die Versuchspersonen hatten wie schon bei Haggard und Eimer die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen. Die Analyse erstreckte sich über eine viel längere Zeitperiode und erfasste die Aktivität im ganzen Gehirn. Deshalb sind die Ergebnisse dieser Experimente sehr wichtig. »Zwei Hirnregionen kodierten mit großer Genauigkeit, ob die Versuchsperson im Begriffe war, die linke oder rechte Antwort vorgängig zur bewussten Entscheidung zu wählen. … Die erste Region war der frontopolare Kortex, BA10, … eine zweite prädiktive Region« war »im parietalen lokalisiert und erstreckte sich vom Praecuneus bis zum posterioren Gyrus cinguli.« 16 Der frontopolare Kortex war die erste kortikale Stufe. Signale waren schon 7 Sekunden vor der motorischen Entscheidung der Versuchsperson vorhanden. »Wenn man die Trägheit der BOLD 17 Antworten in Rechnung stellt, dann geht die prädiktive neuronale Information der bewussten motorischen Entscheidung um bis zu 10 Sekunden voraus.« 18 Die Autoren schließen aus ihren Befunden, »dass die frühesten unbewussten Vorläufer der motorischen Entscheidung ihren Ursprung im frontopolaren Kortex haben, von wo aus sie den Aufbau der entscheidungsbezogenen Information im Praecuneus und später in der SMA beeinflussen.« 19 Das supplementäre motorische Areal (SMA) ist die Region, in welcher das laterale Bereitschaftspotential generiert wird. Daraus ergibt sich nach Haynes, »dass ein Netzwerk von hochrangigen Kontroll-
Ebd., 544. BOLD bedeutet Blood Oxygen Level Detection. Siehe auch den Abschnitt über Neuronale Korrelate in diesem Kapitel. 18 Soon et al., Determinants, 544. 19 Ebd., 545. 16 17
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Die Freiheit der Person
Arealen eine Entscheidung vorbereitet lange bevor diese in unser Bewusstsein eintritt« 20. Die wirkliche Rolle des Bereitschaftspotentials in der Vorbereitung einer Bewegung wird besser verstanden durch das Experiment von Herrmann und Mitarbeitern 21. In diesem Experiment wurden den Versuchspersonen auf einem Bildschirm verschiedene Muster angeboten. Je nachdem, welches Muster auf dem Bildschirm erschien, sollte die eine oder die andere Handlung ausgeführt werden. Es zeigte sich, dass das Bereitschaftspotential bereits einsetzte, bevor ein Muster auf dem Bildschirm erschienen war und die Versuchsperson sich entscheiden konnte. Daraus wird ersichtlich, dass das Bereitschaftspotential nicht die Entscheidung determiniert, sondern Ausdruck einer allgemeinen Bereitschaft für eine Bewegung ist. 22 Das hatte schon Hans Kornhuber, der Entdecker des Bereitschaftspotentials, erkannt und deshalb diesen Ausdruck neuronaler Aktivität Bereitschaftspotential genannt. 23
5.1.3 Kritik an der Deutung der Libet-Experimente Wir fassen hier die ursprünglichen Experimente von Libet und die Nachfolge-Experimente von anderen Forschern der Einfachheit halber unter dem Begriff »Libet-Experimente« zusammen. Wie schon erwähnt, folgt für Libet aus diesen Experimenten, dass willentliche Akte nicht durch einen freien Willen, sondern durch unbewusste Hirnprozesse ausgelöst werden. Dieser Deutung schließen sich reduktionistische Neurophilosophen an. Nach Haynes legen diese Befunde nahe, dass menschliche Handlungen bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar sind und deshalb durch ein »deterministisches Entscheidungsmodell« gedeutet werden können. 24 Libet selbst blieb trotz dieser Interpretation seiner Experimente davon überzeugt, dass Ebd., 543. Herrmann/Dürschmid, Willensfreiheit; Herrmann/Pauen/Min/Busch/Rieger, Choice-reaction task. 22 Siehe auch die Diskussion in Rager, Korrelate. 23 Als ich vor vierzig Jahren … nach Zeichen von Willen im Gehirn suchte …, war mir sofort klar, dass das vor willentlichen Bewegungen gefundene Potential nicht das Bewegungskommando war; ich gab ihm deshalb den Namen Bereitschaftspotential«. Kornhuber, Willensfreiheit, 50. 24 Haynes, Vorhersagbarkeit, 60. 20 21
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Experimentelle Daten der Hirnforschung
wir frei sind, und zwar aus folgendem Grund: Es gebe immer noch »genügend Zeit, in welcher das Bewusstsein das Endergebnis des Willensprozesses beeinflussen kann … Der bewusste Wille könnte entscheiden, ob er dem willentlichen Prozess erlauben will, zu seinem Ende zu kommen und den motorischen Akt auszuführen. Der bewusste Wille könnte auch den Prozess blockieren oder mit einem Veto versehen, so dass kein motorischer Akt erfolgt.« 25 Sprechen die Experimente von Libet, Haynes und anderen Forschern wirklich dafür, dass unsere »Entscheidungen« deterministisch ablaufen? Libet wollte zwar die Entstehung einer »freien Entscheidung« prüfen, hat aber in Wirklichkeit nur das Bewusstwerden eines unbewussten Dranges untersucht, der irgendwann zu einer Bewegung führt. Im Experiment von Haynes wird eine Wahl zugelassen. Zugleich kann mittels der fMRT die Aktivität im ganzen Gehirn über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. In beiden Fällen, bei Libet wie bei Haynes, wird aber ein wichtiger Sachverhalt nicht berücksichtigt. Der einzelne Bewegungsakt steht nicht isoliert für sich, sondern resultiert aus der bewussten Entscheidung der Versuchsperson, bei dem Experiment mitzumachen und irgendwann die Hand zu bewegen bzw. einen Knopf zu drücken. Die wiederholte Ausführung dieser einfachen Bewegung kann man getrost den zuständigen Schaltkreisen im Gehirn oder – mit anderen Worten – unseren unbewussten Prozessen überlassen. Ohne diese vorgängige Entscheidung hätten die neuronalen Schaltkreise keine experimentelle Aufgabe zu bearbeiten. Der frontopolare Kortex entwirft keine Handlung, wenn er dazu nicht beauftragt wird. Wenn man aber beim Experiment richtig mitmachen will, muss nicht jede einzelne Etappe erneut bewusst entschieden werden. Das würde zu einer unnötigen Überlastung der bewussten Prozesse führen. Mit der initialen Entscheidung wird der weitere Ablauf weitgehend in unbewusste Hirnprozesse delegiert. Insofern hat die Entscheidung in einem Moment eine Langzeitwirkung. Man kann deshalb nicht argumentieren, dass das Gehirn autonom arbeitet und entscheidet. Vielmehr führt es meinen Auftrag aus und speist das Ergebnis wieder ins Bewusstsein ein. Diese Situation ist uns auch von anderen alltäglichen und zur Gewohnheit gewordenen Tätigkeiten bekannt, für die nicht jedes Mal ein neuer Entschluss nötig ist. Ein je neuer Entschluss wäre in vielen Fällen sogar kontraproduktiv und würde unsere Reaktions25
Libet, Mind Time, 137–138.
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Die Freiheit der Person
fähigkeit schwer beeinträchtigen. Das ist auch der Sinn und der Erfolg des Lernens, dass man schließlich Handlungen gleichsam automatisch ausführen kann, ohne jeweils bewusst darüber zu entscheiden. Wenn ein Pianist lernt, ein neues Stück auf dem Klavier zu spielen, wird der Übergang von einer Einzelentscheidung, nämlich diesen Finger jetzt zu bewegen, zu einer Prozessentscheidung deutlich, nämlich diese Phrase zu spielen. Am Ende spielt der Pianist das ganze Stück aus einem Guss. Auf bewusste Einzelentscheidungen zu warten, würde den Fluss der Musik zerstören. Der Pianist hat die Einzelabläufe durch wiederholtes Üben in Hirnprozesse eingespeist und kann so seine Aufmerksamkeit voll der musikalischen Präsentation widmen. 26
5.2 Der reduktionistische Naturalismus 5.2.1 Die Behauptung: Freiheit ist eine Illusion Obwohl die geschilderten Experimente die erwähnten philosophischen Aussagen nicht zulassen, berufen sich einige Neurophilosophen darauf. Nach ihnen sei damit bewiesen, dass es keine Freiheit gebe. Freiheit sei lediglich eine Illusion. In Wirklichkeit ist es die Hirnmaschine, die ohne unser Wissen entscheidet. Die Hirnmaschine funktioniert entsprechend den deterministischen Gesetzen der Kausalität. Für jede Entscheidung lassen sich physische Ursachen ausmachen. Die im Unbewussten getroffenen Entscheidungen werden nachträglich dem bewussten Ich zugeordnet. Das bewusste Ich lebt dann in der Illusion, die Entscheidungen seien von ihm selbst getroffen. Die Behauptung, dass Freiheit lediglich eine Illusion sei, entspringt letztlich einem reduktionistischen Naturalismus. Ein gemeinVgl. auch Libet, Mind Time, 109. Jäncke (Kognitive Neurowissenschaften) ist der Meinung, dass das »Experiment von Libet Mängel aufweist, welche die weitreichenden Interpretationen eigentlich unmöglich machen« (Kognitive Neurowissenschaften, 451). Die Bereitschaftspotentiale repräsentieren »eher die neuronalen Aktivitäten, die mit der Vorhersage immer wiederkehrender einfacher Bewegungen zusammenhängen« (451). Jäncke sieht ferner einen kontinuierlichen Übergang zwischen Reflex (reiz-getrieben) und Willenshandlung (reiz-unabhängig) (452–453). Er beschreibt sodann die Abfolge von Schritten, die von der Motivation zur Handlung führen (453– 455).
26
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Der reduktionistische Naturalismus
samer Nenner der verschiedenen Varianten des Naturalismus ist die Auffassung, dass »alles, was existiert …, … den Methoden der positiv-wissenschaftlichen Forschung – zumindest prinzipiell – zugänglich« 27 … sein soll. Unter positiv-wissenschaftlich wird dann in der Regel die naturwissenschaftliche Forschung verstanden. Der Naturalismus wird dann reduktionistisch, wenn er Entitäten einer höheren Ebene auf Entitäten einer niedrigeren Ebene so zu reduzieren versucht, dass die höhere Ebene nicht mehr erforderlich ist. Im Falle der Neurowissenschaften bedeutet das, dass mentale Akte auf neuronale Prozesse reduziert werden. Als Ergebnis dieser Reduktion wären unsere mentalen Akte identisch mit den neuronalen Prozessen. Wenn es gelänge, die mentalen Tätigkeiten durch neuronale Prozesse zu erklären, dann wären die Konsequenzen enorm. Psychologie, Psychiatrie, Philosophie und Theologie, die bislang als kompetent für die Erarbeitung unseres Verständnisses vom Menschen angesehen wurden, müssten zugunsten eines neurowissenschaftlichen Zugangs aufgegeben werden. Tatsächlich wurden inzwischen verschiedene neue Disziplinen ins Leben gerufen wie etwa Neurophilosophie, Neurotheologie, Neuroethik und einige andere mehr, welche diesen Anspruch erheben. Der reduktionistische Naturalismus tritt in verschiedenen Formen und Schattierungen auf. Deshalb hört man auch immer wieder den Einwand, das Ganze sei ja nicht so ernst gemeint. Die nun folgende Argumentation richtet sich nicht gegen weiche, intermediäre oder bloß heuristische Formen, sondern gegen den radikalen ontologischen Reduktionismus.
5.2.2 Gegenargumente Innere Widersprüche Reduktionistische Neurophilosophen berufen sich also nicht nur zu Unrecht auf die Neurowissenschaften, sondern verwickeln sich auch in innere Widersprüche. Auf der einen Seite propagieren sie, dass es keinen freien Willen gibt. Die Entscheidungen werden unbewusst vom Gehirn getroffen und werden so von physischen Ursachen hervorgebracht. Auf der anderen Seite appellieren diese Neurophiloso27
Runggaldier, Tendenzen, 16.
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Die Freiheit der Person
phen an uns, wir sollten doch ihre Sichtweise übernehmen. Dieser Appell setzt aber Freiheit voraus. Nur freie Personen können einen solchen Appell annehmen oder zurückweisen. Drei Beispiele mögen diese Widersprüchlichkeit verdeutlichen. Wolf Singer gibt einem seiner Artikel die Überschrift: »Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.« 28 Singer appelliert also an unsere Freiheit, seine Ansicht zu übernehmen, dass wir nicht frei sind. Hans Markowitsch ist überzeugt, dass unser Gehirn determiniert ist durch Gene und Umwelt. Dadurch werden auch die Verschaltungen im Gehirn bestimmt. Wir handeln so, wie wir handeln müssen. Kapitalverbrecher können gar nicht anders als sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten. 29 Obwohl wir also durch unsere Gene determiniert sind, fordert Markowitsch uns auf dafür zu sorgen, »dass möglichst nur unsere »guten« Gene wirken« 30. Wie aber können wir für etwas Sorge tragen, wenn wir nichts anderes als genetisch determinierte Hirnmaschinen sind? Determiniert und doch verantwortlich? Neuronale Maschinen und doch frei? Die gegenwärtige Debatte über Pädophilie scheint ein weiteres attraktives Feld zu sein, auf dem man über die Realität von Freiheit debattieren kann. Nach der Meinung gewisser Autoren sind pädophile Kriminelle nicht schuldig. Sie führen lediglich Befehle ihres Gehirns aus. Das Gehirn aber ist der Kausalität unterworfen und arbeitet in einer völlig deterministischen Weise. Deshalb gibt es offensichtlich keinen Raum für Freiheit und Verantwortung. 31 In demselben Artikel richtet der Autor verschiedene Appelle an die Freiheit der Leser, obwohl das eigentlich nicht vereinbar ist mit dem Konzept eines deterministisch arbeitenden Gehirns. Dafür zwei Beispiele: »Das Erste, was wir tun sollten, ist unsere Selbstgerechtigkeit aufgeben« … Dann »sollten wir noch einen Schritt weitergehen und unsere moralischen durch ästhetische Urteile ersetzen«. 32 Wer sollte solchen Aufforderungen folgen können, wenn er nicht eine freie Person ist? Gemäß diesen Aussagen entsteht ein maschinenorientiertes Menschenbild, in dem wir durch unsere Verschaltungen festgelegt
28 29 30 31 32
Singer, Verschaltungen. Markowitsch/Siefer, Tatort. Interview mit der Berner Zeitung, 8. Nov. 2008. Dahl, Wissen. Dahl, Wissen, 75.
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Der reduktionistische Naturalismus
sind (W. Singer 33) und in dem nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet (G. Roth 34). Unsere Handlungen folgen aus den Berechnungen einer physiko-chemischen Maschine, nicht aber aus einem freien Entschluss. Dieses Menschenbild begegnet uns immer wieder im Laufe der Geschichte. Erinnert sei besonders an den Arzt und Philosophen Julien Offray de La Mettrie, der 1748 in seinem Hauptwerk »Der Mensch eine Maschine« 35 schrieb, der Mensch sei nichts anderes als eine sich selbst steuernde Maschine, die sich vollständig auf mechanische Prinzipien zurückführen lasse. Die Willensfreiheit sei eine Illusion. Die zitierten Autoren widersprechen nicht nur sich selbst; sie gehen auch weit über den Geltungsbereich neurowissenschaftlicher Daten hinaus. Viele Neurowissenschaftler, insbesondere solche, die experimentell oder klinisch orientiert arbeiten, distanzieren sich von solchen Ideologien, weil sie sich nicht durch die Neurowissenschaften rechtfertigen lassen 36. Die Neurowissenschaften selbst sind hinsichtlich grundlegender philosophischer Interpretationen neutral. Ihre Ergebnisse lassen sich philosophisch auch so deuten, dass sie in Einklang stehen mit unserer ursprünglichen Gewissheit, frei zu sein. Perspektive der ersten und der dritten Person Naturalisten geben zwar zu, dass das phänomenale Bewusstsein der Perspektive der ersten Person (Teilnehmerperspektive) vorbehalten sei. Diese Perspektive werde aber im Zuge der Naturalisierung durch die Perspektive der dritten Person (Beobachterperspektive), also die Sicht der objektiven Wissenschaft, ersetzt. Das trifft jedoch nicht zu. Die Perspektive der ersten Person bleibt für uns eine ursprüngliche Gewissheit. Sie ist zugleich die Grundlage für alle Formen von Wissenschaft und damit auch für die Perspektive der dritten Person. Singer, Verschaltungen. »Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden« schreibt Roth, Hirnforscher, 77. 35 La Mettrie, L’homme. 36 Hierfür nur zwei Beispiele: Im Sommer 2014 haben 15 Wissenschaftler ein Memorandum veröffentlicht, in dem sie den Reduktionismus des Manifests (Elger, Manifest) kritisieren und eine »nicht-reduktive« Neurowissenschaft postulieren (Tretter et al., Memorandum). Ausdrücklich möchte ich ferner den Hirnforscher Otto Creutzfeldt erwähnen, der in mehreren Artikeln davor gewarnt hat, den Geist auf das Gehirn reduzieren zu wollen, u. a. Creutzfeldt/Rager, Phenomenology. 33 34
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Die Freiheit der Person
Wissenschaft existiert nicht an sich, sondern gründet in dem Entschluss von Personen, bestimmte Fragen und Probleme methodisch anzugehen. Die an der Lösung der Probleme interessierten Personen einigen sich auf bestimmte Methoden und legen fest, wie eine Wissenschaft aussehen und wie sie vorgehen soll. Wissenschaft ist also nicht etwas, was man in einer sogenannten objektiven Welt vorfinden könnte, sondern beruht auf einem gemeinsamen Beschluss, die »objektive Welt« in einer bestimmten Weise zu untersuchen. So trägt sie unweigerlich im Akt ihrer Gründung und in der Flexibilität ihrer Veränderungen im Laufe der Geschichte den Stempel der Subjektivität. Objektivität erreichen die Wissenschaften dann, wenn unter Anwendung vorgewählter Untersuchungsmethoden Resultate zu Tage gefördert werden, die alle Wissenschaftler dieser Disziplin anerkennen können. Die erste Person ist also immer schon der dritten Person voraus, weil sie den Weg entwirft, auf dem wir in der Wissenschaft gehen wollen. Der Perspektive der ersten Person kommt Priorität gegenüber der Perspektive der dritten Person zu. In der Form der Gemeinschaft der Personen entwirft sie die Wissenschaften. Zirkelschluss Wie wir in der Definition von Naturalismus und Reduktionismus gesehen haben, macht der Naturalismus die Methoden der Naturwissenschaft zur Grundlage allen Erklärens. Alle Phänomene, auch die höheren kognitiven Funktionen, sollen dieser Erklärungsstrategie unterworfen werden. Dabei wird übersehen, dass die Methoden der Naturwissenschaft von uns selbst entworfen sind. Durch dieses Verfahren entsteht zwangsläufig eine Zirkularität. Wir als die Erklärenden setzen unsere eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um uns selbst zu begreifen. 37 Dieser Versuch, uns selbst zu erklären mittels der von uns entworfenen Neurobiologie ist ein Zirkelschluss, eine Petitio principii, d. h. das zu Erklärende ist selbst Voraussetzung des Erklärens. 38
Wolf Singer hat mehrfach warnend (»epistemisches Caveat«) auf die Gefahr dieses Zirkelschlusses hingewiesen. Singer, Verschaltungen. 38 Rager, Leib-Seele, 28. 37
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Der reduktionistische Naturalismus
Mereologischer Fehlschluss Viele Neurophilosophen operieren mit Begriffen, die nicht aus den Neurowissenschaften stammen und in den Neurowissenschaften nicht definiert sind. Es handelt sich um Begriffe, die wir im Alltag, in der Psychologie oder in der Philosophie gebrauchen. Im Kontext unseres Freiheitsproblems kann man lesen, dass das Gehirn weiß, denkt, befiehlt oder entscheidet. Dem Gehirn werden Attribute zugeschrieben, die eigentlich psychologischer Natur sind. »Psychologische Prädikate sind Prädikate, die notwendigerweise auf das ganze Lebewesen zutreffen, nicht auf Teile von ihm.« 39 Bennett und Hacker machen deshalb auf das »mereologische Prinzip in den Neurowissenschaften« aufmerksam, wonach »psychologische Prädikate, die nur auf menschliche Wesen … als Ganzes zutreffen, auf ihre Teile (wie das Gehirn) nicht sinnvoll angewendet werden können.« 40 Wenn trotzdem immer wieder psychologische Attribute dem Gehirn zugeschrieben werden, dann handelt es sich um einen »mereologischen Fehlschluss«. 41 Infolge solcher Fehlschlüsse entstehen dann Aussagen, die keinen Sinn ergeben. Würde man das mereologische Prinzip beachten, dann könnte man viele Kontroversen vermeiden. Neuronale Korrelate Der reduktionistische Naturalismus in seiner radikalen ontologischen Form behauptet, unser phänomenales Bewusstsein 42 könne vollständig durch die Prozesse des funktionellen menschlichen Nervensystems erklärt werden. Anders ausgedrückt: Das phänomenale Bewusstsein sei mit Vorgängen im funktionellen menschlichen Nervensystem identisch. Die formale Struktur dieser Identität ist eine Äquivalenzrelation. Für das Bestehen einer Äquivalenzrelation müsste aber gelten, dass das funktionelle menschliche Nervensystem notwendig und zugleich hinreichend ist für das phänomenale Bewusstsein. Das ist jedoch nicht der Fall. Wie hier gezeigt wird, ist das Nervensystem zwar notwendig, aber nicht hinreichend, weil wir aus Bennett/Hacker, Grundlagen, 93. Ebd., 94. 41 Ebd., 94; Fuchs, Gehirn. 42 Für die Analyse der Identitätsbehauptung möchte ich mit David Chalmers den Begriff des »phänomenalen Bewusstseins« einführen. Darunter ist unser Geist als bewusste Erfahrung zu verstehen. Chalmers, Mind, 11. 39 40
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Die Freiheit der Person
dem Nervensystem unsere geistigen Akte nicht ableiten können. 43 Folglich lassen sich geistige Akte nicht auf neuronale Prozesse reduzieren. Wenn aber die Reduktion unserer geistigen Akte auf neuronale Prozesse nicht möglich ist, was ist dann die Zielsetzung der Neurowissenschaften? Die Neurowissenschaften wollen die neuronalen Korrelate unserer geistigen Akte erforschen. Dass alle unsere geistigen Akte mit neuronalen Prozessen korrelieren, lässt sich aus den folgenden Beobachtungen schließen: 1. Wenn bestimmte Hirnregionen verletzt oder durch Erkrankungen gestört sind, dann sind die entsprechenden geistigen Aktivitäten nicht mehr möglich. 2. Wenn im Verlauf der Ontogenese bestimmte Hirnstrukturen noch nicht entwickelt sind, dann sind auch die entsprechenden geistigen Fähigkeiten noch nicht vorhanden. 3. Bei allen geistigen Akten lassen sich mit den modernen bildgebenden Verfahren entsprechende Aktivitäten im Gehirn sichtbar machen. Die Erkenntnis dieser Tatsachen führt uns zu dem folgenden Grundsatz: Alle geistigen Akte haben ein neuronales Korrelat. Wir haben keine Evidenz dafür, dass es beim Menschen geistige Akte gibt, die unabhängig von neuronalen Prozessen stattfinden. Anders ausgedrückt: Wir haben im Bereich der Wissenschaft keine Evidenz für die Auffassung, gemäß welcher eine Seele unabhängig von Gehirn und Körper geistige Akte vollzieht. Wenn wir von neuronalen Korrelaten sprechen, dann sollten wir sorgfältig das Missverständnis vermeiden, als handele es sich hier um zwei verschiedene Realitäten, den Geist auf der einen Seite und seine neuronalen Korrelate auf der anderen Seite, wobei beide in enger wechselseitiger Beziehung stehen. Man könnte versucht sein zu spekulieren, was Korrelate im Sinne einer Ontologie sein könnten und wie sie mit geistigen Tätigkeiten interagieren. Wenn wir jedoch in die Werkstatt der wissenschaftlichen Forschung schauen, werden wir bald feststellen, dass eine Ontologie der Korrelate gegenwärtig außer Reichweite liegt. Lediglich die Erscheinungsformen von neuronalen Strukturen und Prozessen sind bekannt. Wenn wir beispielsweise über der Broca Region mit der funktionellen Magnetresonanzbildgebung (fMRT) Aktivität sehen, während die Versuchsperson spricht, dann wird lediglich das sogenannte BOLD Signal gemessen. 44 Es ist ein Indikator der Hirnaktivität, der sich aus mehreren Variablen zu43 44
Für eine genauere Präsentation des Arguments siehe Rager, Korrelate. Siehe auch Abschnitt »Experimentelle Daten der Hirnforschung«.
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Der reduktionistische Naturalismus
sammensetzt, von denen einige erst unvollständig verstanden sind. Das BOLD Signal »detektiert Änderungen im Deoxyhämoglobin-Gehalt in einer Volumeneinheit des Gehirns.« 45 Diese Änderungen sind irgendwie durch neuronale Aktivität induziert. Um welche Art von neuronaler Aktivität aber handelt es sich? Welche Information wird prozessiert? Wer sind die Partner in diesem Informationsfluss? Was gemessen wird, sind Erscheinungsformen von zugrundeliegenden Prozessen, die letztlich unbekannt sind. Deshalb ist eine neurowissenschaftliche Ontologie der Korrelate gegenwärtig und in naher Zukunft nicht möglich. Es gilt also, dass mit allen geistigen Akten neuronale Prozesse korrelieren. Das Umgekehrte gilt aber nicht. Aus den neuronalen Prozessen lassen sich die geistigen Akte nicht erschließen. Das lässt sich anhand zahlreicher Beispiele einsehen. Ein erstes Beispiel bezieht sich auf das Libet-Experiment. Für die Freiheitsdebatte ist das Bereitschaftspotential von großer Bedeutung. Man kann feststellen, dass vor willentlichen Handlungen, gleichsam als Korrelat von deren Vorbereitung, ein Bereitschaftspotential im Gehirn entsteht. Umgekehrt kann man aber nicht aus dem Vorhandensein eines Bereitschaftspotentials schließen, dass eine Handlung wirklich erfolgen wird. Erst recht kann man nicht darauf schließen, welche Handlung geplant wird. Ein zweites Beispiel bezieht sich auf die modernen bildgebenden Verfahren. Diese zeigen uns Aktivitäten über bestimmten Hirngebieten, wenn geistige Tätigkeiten ausgeführt werden. So ist beim Sprechakt das Broca-Sprachzentrum aktiv. Das Umgekehrte gilt aber nicht. Aus der Aktivität des Broca-Zentrums lässt sich nicht schließen, dass gesprochen wird – es könnte auch nur eine Vorstellung von Sprechen sein. Erst recht lässt sich daraus nicht schließen, was gesprochen wird. Die Einsicht, dass Hirnprozesse die geistigen Akte nicht erklären, kann man schon bei dem Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz finden, der 1714 in seiner Monadologie schrieb: »Man muss übrigens notwendig zugestehen, dass die Perzeption und das, was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen … nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, die so beschaffen wäre, dass sie denken, empfinden und perzipieren könnte, so könnte man sich diese derart proportional vergrößert denken, dass man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Dies vorausgesetzt, 45
Kandel et al., Principles, 427.
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Die Freiheit der Person
wird man bei der Besichtigung des Inneren nichts weiter als einzelne Teile finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.« 46 Nun ist es das Ziel der aktuellen Großprojekte der Hirnforschung 47, alle Informationen über das Gehirn, über alle Neurone und über alle Verbindungen und Aktivitäten dieser Neurone zusammenzutragen. Angenommen, dieses Vorhaben würde wirklich gelingen, könnte man auf Grund dieser Daten erkennen, was Bewusstsein ist und wie es funktioniert? In Anlehnung an Leibniz wäre die Antwort: »Wir werden auch bei noch so präziser Modellierung der Säulen im Neokortex und ihrer Vernetzung nicht darüber hinaus gelangen, zwischen feuernden Neuronen spazieren zu gehen. Wir werden keine ›bewusstseinsartige‹ Information aus den Simulationen bekommen, die nicht wir aus den Rechen-Ergebnissen herauslesen – oder in sie hineinlesen.« 48 Es besteht also keine Identität von neuronalen Prozessen und geistigen Akten. Vielmehr bleibt eine unaufhebbare Differenz, eine »epistemische Kluft« – wie Habermas gezeigt hat. 49 Die unmittelbare Erfahrung in unserer Lebenswelt lässt sich nicht auf ein naturwissenschaftlich verstandenes Gehirn reduzieren. Fassen wir zusammen: Obwohl alle mentalen Akte ein neuronales Korrelat haben, sind funktionelles menschliches Nervensystem und phänomenales Bewusstsein nicht identisch. Das phänomenale Bewusstsein lässt sich nicht auf das funktionelle Nervensystem reduzieren.
5.3 Philosophie der Freiheit Wir Menschen sind in einer ganz ursprünglichen Weise davon überzeugt, dass wir frei sind. Auf der Gewissheit der Freiheit beruhen unsere Kultur, die Gesellschaftsordnung, die Rechtsprechung, die Erziehung und die Religion. Wir könnten nicht anders handeln als »unLeibniz, Monadologie 1714, § 17. Das europäische Human Brain Project und das amerikanische Brain Activity Map Project (BRAIN Initiative). 48 Falkenburg, Determinismus, 379. 49 »Epistemische Kluft zwischen der naturwissenschaftlich objektivierten Natur und einer intuitiv immer schon verstandenen … Einheit eines Universums, dem die Menschen als Naturwesen angehören«. Habermas, Freiheit, 171. 46 47
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Philosophie der Freiheit
ter der Idee der Freiheit«, so Kant. Deshalb sind wir »in praktischer Rücksicht wirklich frei«. 50 Was verstehen wir unter Freiheit? 51 Freiheit bedeutet einerseits Handlungsfreiheit; die handelnde Person ist frei von inneren und äußeren Zwängen. Wir können uns in der Welt bewegen, ohne dass uns jemand daran hindert. Wir können uns Aufgaben widmen und Ziele anstreben, wählen aus verschiedenen Möglichkeiten, können einen Anfang für eine Abfolge von Ereignissen setzen, ein Vermögen, das in der modernen analytischen Philosophie als Agenskausalität 52 bezeichnet wird. Andererseits bedeutet Freiheit, dass der Wille sich selbst bestimmt. Sie ist Willensfreiheit. Eine freie Person kann grundsätzlich so oder anders handeln. 53 Nach Berücksichtigung möglicher Einwände und Schwierigkeiten kommt Geert Keil zu der Aussage: »Willensfreiheit wäre dann die Fähigkeit zur überlegten hindernisüberwindenden Willensbildung und –umsetzung.« 54 Handeln aus Freiheit ist also nicht Beliebigkeit, sondern bestimmt durch Gründe. »Gründe »bestimmen« menschliche Handlungen, aber sie »verursachen« sie nicht. Was menschliche Handlungen von physikalischen Ereignissen unterscheidet, ist ihre Intentionalität; Menschen handeln um der Ziele willen, die sie durch ihr Handeln erreichen wollen. Ein erkanntes und bewusst gewähltes Ziel »verursacht« ihr Handeln jedoch nicht, denn es bleibt ihnen die Möglichkeit, auch anders zu handeln.« 55 Die Fähigkeit, aus Gründen zu handeln und sich mit Gründen so oder anders zu entscheiden, führt zu einem noch tieferen Verständnis der Freiheit. Die handelnde Person kann das Gute als gut und gesollt erkennen und diesem Sollen entsprechend handeln. Damit wird die Willensfreiheit zugleich sittliche Freiheit und die so handelnde Person zum sittlichen Subjekt. Das sittliche Subjektsein ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass wir uns gegenseitig Würde zuerkennen. Kant, GMS, BA 100. Zu den Bedeutungen des Wortes »Freiheit« siehe Haeffner, Anthropologie, 182– 192. 52 Runggaldier, Handlungen. 53 Keil, Willensfreiheit, 10, 185. Nach Aristoteles und Kant sind das Anderskönnen und die Möglichkeit, etwas zu unterlassen, analytische Komponenten des Handlungsbegriffs. 54 Ebd., 135. 55 Schockenhoff, Dialog, 92. 50 51
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Die Freiheit der Person
Diese Zusammenhänge begründen die Rechtsprechung in einem Rechtsstaat. Freiheit kann nur deshalb das Gute als Gutes wollen und tun, weil sie der Einsicht in das Gute, in das, was sein soll, folgt. Daraus ergibt sich bei Kant der moralische Imperativ, der allgemein und unbedingt, also kategorisch gilt: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 56 Man wird wohl zustimmen, dass wir überzeugt sind, frei zu sein und nur unter der Idee der Freiheit überhaupt handeln können. 57 Gibt es aber auch einen Beweis für die Realität der Freiheit? Mit Kant lautet die Antwort: Ein regelrechter Freiheitsbeweis ist unmöglich. Die Realität der Freiheit ist aber Postulat der praktischen Vernunft. 58 Sie ergibt sich aus der Tatsache des moralischen Gesetzes, aus dem ein Sollensanspruch an uns ergeht, dem wir grundsätzlich auch entsprechen können. Der Anspruch des moralischen Gesetzes lässt »uns allererst der Freiheit bewusst werden«. 59 Damit wird die Freiheit zum zentralen Begriff der Philosophie. »Der Begriff der Freiheit … macht nun den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen … Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit) … schließen sich an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, dass Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz.« 60 So besteht eine wechselseitige Beziehung. »Das moralische Gesetz ist der Erkenntnisgrund unserer Freiheit«. Die Freiheit bleibt »der Realgrund des moralischen Gesetzes«. 61
Kant, KpV, A54. »Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei …«. Kant, GMS, BA 100. 58 Unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft versteht Kant »einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz …, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt«. Kant, KpV, A220. 59 Kant, KpV A5, Fußnote. 60 Ebd., A4–5. 61 Keil, Willensfreiheit, 146. 56 57
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Philosophie der Freiheit
5.3.1 Die interpersonale Dimension der Freiheit Freiheit ist auf ein Sollen gerichtet. Sie versteht dieses Sollen und entscheidet, ob sie ihm entsprechen will. Der Sollensanspruch ergeht an uns durch den freiheitlichen Anruf anderer Personen. Der Anspruch wird nur vernommen, wenn unsere Freiheit sich öffnet für andere Freiheiten. »Das schlechthin Erfüllende für Freiheit ist die andere Freiheit.« 62 Daher steht der Begriff der Freiheit von vornherein unter dem Begriff der Kommunikation. »Freiheit ist primär nicht die Eigenschaft eines individuellen Subjekts, die allein für sich bestehen und begriffen werden könnte; vielmehr ist der Begriff des individuellen Subjekts erst durch jenen Kommunikationsbegriff verstehbar«. Daraus folgt, dass die Gemeinschaft, »das Kommerzium« der Freiheit transzendental früher ist als das Subjekt. »Im Begriffe des Subjekts ist der Begriff der Intersubjektivität als der transzendentallogisch frühere Begriff schon enthalten.« 63 Anders gewendet: Das Ich wird zum Ich, indem es sich dem Anruf des Du öffnet und ihm in Freiheit antwortet.
5.3.2 Freiheit und Determinismus Nun wird immer wieder als entscheidendes Hindernis für die Annahme der Freiheit vorgebracht, dass in der Natur, genauer in den Naturwissenschaften, alles durch die Naturgesetze determiniert sei. Die Welt sei kausal geschlossen. Es könne deshalb keine Handlungen geben, die nicht den Naturgesetzen unterstehen. Wenn wir meinen, wir würden in Freiheit handeln, dann unterliegen wir einer Täuschung. In Wirklichkeit stehen unsere Handlungen in einer Kette von Ereignissen, die durch Ursachen bestimmt ist. Bei dieser Redeweise bleibt jedoch meistens unklar, was unter Determinismus verstanden werden soll. Unter Determinismus im strengen Sinn versteht man den Laplace-Determinismus, der besagt, dass der Anfangszustand und die Naturgesetze alle weiteren Weltzustände festlegen und es zu jedem
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Krings, System, 123. Ebd., 125.
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Die Freiheit der Person
Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft gibt. 64 Dies ist zunächst eine metaphysische, keine wissenschaftliche These. 65 Setzt man diese These in eine wissenschaftstheoretische Formulierung um, dann heißt das, dass ein unter deterministischen Gesetzen stehendes Ereignis sich im Sinne der deduktiv-nomologischen Deduktion aus diesen Gesetzen sowie einer Menge vollständiger Anfangsbedingungen ableiten lässt. 66 »Von Determinismus spricht man erst, wenn Anfangsbedingungen und Gesetze … die Zukunft alternativlos festlegen, so dass sich für einen idealen Beobachter [den sogenannten Laplaceschen Dämon] auch menschliche Handlungen mit beliebiger Genauigkeit vorhersagen … ließen.« 67 Aus dem Laplace-Determinismus ergibt sich der neuronale Determinismus. Dieser wird wie folgt begründet: 1. Schritt: Die neuronalen Prozesse sind den Gesetzen der Physik und Chemie unterworfen. 2. Schritt: Diese Gesetze sind deterministisch, d. h. sie bestimmen das Gehirngeschehen vollständig. 3. Schritt: Verhalten und geistige Akte sind auf Hirnfunktionen reduzierbar. Folglich gehorchen sie deterministischen Gesetzen. 68 Inkompatibilismus Die Willensfreiheit ist zumindest mit diesem strengen Determinismus nicht kompatibel. 69 Da Freiheit eine erfahrbare Realität ist, kann der Inkompatibilismus von Freiheit und Determinismus nur dadurch aufgelöst werden, dass die Idee der Determiniertheit der Welt im Sinne einer vollständigen Festlegung aller Ereignisse aufgegeben wird. Tatsächlich lässt sich der Determinismus nicht beweisen. 70 Er ist vielmehr eine »metaphysische These«. 71 Laplace, Essai philosophique; Keil, Willensfreiheit, 16, 126; Falkenburg, Determinismus, 22 f. 65 Keil, Willensfreiheit, 28. 66 Rager, Bewusstsein; Rager Korrelate; Keil, Willensfreiheit, 28. 67 Keil, Willensfreiheit, 46. 68 Falkenburg, Determinismus, 6; Singer, Verschaltungen, 36 f. 69 Peter Van Inwagen, Essay, hat dies verdeutlicht mit dem »Konsequenz-Argument«. Wenn nämlich der Determinismus zutrifft, dann folgen unsere Handlungen aus Naturgesetzen und Ereignissen, die schon vor unserer Geburt geschehen sind. Die Konsequenzen dieser Umstände hängen also nicht von uns ab. 70 Haeffner, Anthropologie, 200–202. 71 Keil, Willensfreiheit, 30–38. Keil untersucht ausführlich die Frage, ob der Determinismus wahr ist. 64
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Philosophie der Freiheit
Dasselbe gilt für die Aussage, die Natur sei kausal geschlossen. Die These der kausalen Geschlossenheit besagt, dass physische Zustände, Prozesse und Ereignisse nur physische, aber keine nicht-physischen Ursachen haben. 72 Da nach der Meinung der Reduktionisten mentale (geistige) Phänomene sich auf physische Phänomene reduzieren lassen 73, wird die These verallgemeinert zu der Aussage, »alle Ursachen in der Welt seien physisch« 74. Deshalb sei die Welt als ganze kausal geschlossen. Diese These der kausalen Geschlossenheit beruht weder auf einer beobachtbaren Tatsache noch ist sie theoretisch beweisbar. Sie ist lediglich eine operative Leitidee, unter der die Naturwissenschaften sinnvoll forschen. Aus diesem Grund wird die kausale Geschlossenheit der Welt heute von einer Reihe von Physikern und Philosophen in Frage gestellt. 75 In der These der kausalen Geschlossenheit der Welt steckt ein Kausalbegriff, der selbst wieder umstritten ist, und zwar sowohl in der Physik als auch in der Philosophie. Am plausibelsten erscheint noch der Kausalbegriff von Kant. 76 Nach Kant ist die Kategorie der Kausalität eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, mit der wir Ordnung in die Ereignisse bringen und Zusammenhänge verstehen. Sie ist gleichsam eine »methodologische Regel« 77. Somit ist die These von der kausalen Geschlossenheit »nur ein regulativer Grundsatz«, »eine Verfahrensregel der Naturwissenschaft« 78. Die Quantenmechanik führt uns auch von der Physik her in diese Richtung des Denkens. Der Zerfall eines einzelnen Radiumatoms kann nicht mehr genau, sondern nur noch statistisch vorhergesagt werden. Es lässt sich keine Ursache dafür angeben, dass das einzelne Radiumatom »gerade jetzt und nicht früher oder später zerfällt« 79. In der Regel sind »nur Schlüsse auf die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Ereignisses erlaubt« 80. Dass dies trotzdem nicht im Falkenburg, Determinismus, 29, 45. Falkenburg, Determinismus, 37, 47. 74 Falkenburg, Determinismus, 47. 75 Zu ihnen gehören u. a. Popper/Eccles, Self, 539–547; Keil, Willensfreiheit; Falkenburg, Determinismus; Mutschler, Wirklichkeit; Mutschler, Kausale Geschlossenheit. 76 Falkenburg, Determinismus, 373–374, 378, 400. 77 Falkenburg, Determinismus, 374. 78 Falkenburg, Determinismus, 51. 79 Heisenberg, Der Teil, 145. 80 Heisenberg, Der Teil, 147 72 73
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Die Freiheit der Person
Widerspruch steht zur Kausalitätskategorie von Kant, liegt nach Heisenberg daran, dass »Atome keine Dinge oder Gegenstände mehr sind« 81, wie sie in kausalen Relationen angenommen werden. Trotz dieser Debatte, die schon vor 90 Jahren im Zuge der Quantentheorie geführt wurde, halten einige Neurophilosophen an dem strengen Determinismus fest. Andererseits ist die »objektive Indeterminiertheit von Elementarquanten noch keineswegs ein Beweis für die Freiheit, d. h. jene Indeterminiertheit des Willens, die erst durch die Entscheidung eine Bestimmung erhält.« 82 Kompatibilismus Der Inkompatibilismus zeigt, dass Freiheit und Determinismus nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Gemäß dem Kompatibilismus sollen Freiheit und Determination durch die neuronalen Prozesse im Gehirn kompatibel sein. Damit soll das Problem aus dem Weg geräumt werden, dass die Hirnfunktionen unser Handeln bestimmen und deshalb die Idee der Freiheit letztlich eine Illusion sein muss. Neben einer Reihe von anderen Autoren haben Pauen und Roth mit ihrer »naturalistischen Theorie der Willensfreiheit« 83 versucht, das Problem von Freiheit und Determination im Sinne des Kompatibilismus aufzulösen. Letztlich werden aber auch in dieser Theorie Gründe auf Ursachen zurückgeführt. 84 Freiheit wird naturalistisch aus der Perspektive von Hirnprozessen unterschiedlicher Komplexität gedacht. Das Problem wird einseitig aus der »Sicht des Gehirns« 85 angegangen. Die Sicht des in Freiheit handelnden Subjekts kommt nicht wirklich zum Tragen. Auch der Kompatibilismus löst das Problem nicht. Habermas fände es z. B. störend, wenn meine Entscheidung determiniert wäre durch ein neuronales Geschehen, »an dem ich nicht mehr als Stellung Heisenberg, Der Teil, 148. Haeffner, Anthropologie, 201. 83 Pauen / Roth, Schuld. 84 Rager, Humanismus. 85 »Aus Sicht des Gehirns« ist der Titel eines Buches von G. Roth, der auf Anhieb einzuleuchten scheint. Bei genauerem Hinsehen muss man sich jedoch fragen, ob das Gehirn überhaupt eine Sicht haben kann. Ist es nicht unsere Sicht, unter der wir das Gehirn zu verstehen suchen? Ist es nicht die naturwissenschaftliche, genauer neurowissenschaftliche Methode, mit der wir uns dem Gehirn nähern und es erforschen? ›Aus Sicht des Gehirns‹ heißt nichts anderes als die Art und Weise, wie wir das Gehirn naturwissenschaftlich konzipieren. 81 82
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nehmende Person beteiligt bin: Es wäre nicht mehr meine Entscheidung. Nur der unbemerkte Wechsel von der Teilnehmer- zu der Beobachterperspektive kann den Eindruck hervorrufen, dass die Handlungsmotivation durch verständliche Gründe eine Brücke zur Handlungsdetermination durch beobachtbare Ursachen baut. Das richtige Konzept der bedingten Freiheit stützt nicht jenen voreiligen ontologischen Monismus, wonach Gründe und Ursachen zwei Aspekte derselben Sache sind.« 86 Einige Autoren rechnen Kant zu den Kompatibilisten, weil er einerseits an der Kausalität als notwendige Verfahrensregel der Naturwissenschaften festhält, andererseits die Realität der Freiheit begründet. Das ist jedoch ein Missverständnis. Nach Kant sind für das Verstehen der Natur kausale Relationen notwendig. Das damit entstehende Wissen ist immer nur unabgeschlossen und bleibt auf Phänomene beschränkt. Freiheit hingegen gehört in den Bereich der praktischen Vernunft, die höher steht als das naturwissenschaftliche Wissen, weil sie deren Möglichkeitsbedingung ist. 87 So besteht eine epistemische Differenz zwischen diesen beiden Weisen des Wissens. Die Frage nach dem Verhältnis von Determinismus und Freiheit bestimmt zwar weitgehend die gegenwärtige Debatte. Weil man sich aber nicht auf einen Begriff von Determinismus einigen kann und erst recht nicht weiß, ob der Lauf der Welt deterministisch festgelegt ist, kommt diese Debatte zu keinem Ende. Das Verständnis von Determinismus ist nicht nur zwischen den Autoren verschieden, sondern auch bei einzelnen Autoren nicht einheitlich. So wird z. B. in dem Buch »Freiheit, Schuld und Verantwortung« 88 von Michael Pauen und Gerhard Roth der Begriff Determinismus sehr unterschiedlich gebraucht. Dort wird er an einer Stelle als »einigermaßen zuverlässig und gesetzmäßig funktionierendes System« 89 verstanden und dieses gleichgesetzt mit dem Gehirn. An anderer Stelle wird der Determinismus wesentlich strenger gefasst. Ein Ereignis ist dann determiniert, »wenn dessen Eintreten durch vorangegangene Umstände vollkommen festgelegt wird.« 90 Es wird aber offen gelassen, ob unsere Welt überhaupt in diesem Sinne determiniert ist. Das menschliche
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Habermas, Freiheit, 162–3. Haeffner, Anthropologie, 199–200. Pauen, / Roth, Schuld. Ebd., 13. Ebd., 38.
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Die Freiheit der Person
Gehirn jedenfalls wird »nicht als ein streng, sondern nur als ein quasideterministisches System verstanden.« 91 Was bleibt nach solchen Umschreibungen noch vom Determinismus übrig? Ist es unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch möglich, den Determinismus der Willensfreiheit entgegenzusetzen und die Frage nach Kompatibilismus oder Inkompatibilismus zu stellen?
5.3.3 Epistemische Differenz Wenn es nun weder mit dem Kompatibilismus noch mit dem Inkompatibilismus gelingt, Freiheit und Naturgesetze in Einklang zu bringen, dann liegt es vor allem daran, dass Freiheit und Naturgesetze verschiedenen Erkenntnisebenen angehören. Die Naturwissenschaften sind so verfasst, dass sie den Zusammenhang der Ereignisse nach den Regeln der Kausalität untersuchen 92, während die Freiheit im Kontext von Gründen und Begründungen erfahren wird. Obwohl nun alle geistigen Akte ein neuronales Korrelat haben, besteht – wie früher gezeigt – keine Äquivalenz zwischen der Ebene der Neurowissenschaften und der Ebene der eigenen Erfahrung oder zwischen dem funktionellen menschlichen Nervensystem und dem phänomenalen Bewusstsein. Daraus folgt, dass zwar die neuronalen Prozesse notwendig sind für die geistigen Akte, aber nicht hinreichend, um aus ihnen die geistigen Tätigkeiten herzuleiten. 93 Weil nun keine Äquivalenz zwischen diesen beiden Ebenen besteht, ist auch die Frage, ob Determinismus und Freiheit kompatibel oder inkompatibel sind, nicht entscheidbar. Wir müssen anerkennen, dass eine Erklärungslücke 94 bestehen bleibt. Die unterschiedlichen Weisen des Wissens bezeichnet man als epistemische Differenz 95. Die Perspektiven des erlebenden und handelnden Subjekts (erste Person) und der objektivierenden wissenschaftlichen Beschreibung (dritte Person) bleiben Ebd., 38. Kant hält »den Determinismus für eine Voraussetzung der Naturwissenschaft und überhaupt jeder Naturerkenntnis«. Keil, Willensfreiheit, 119. 93 Zur Erläuterung folgendes Beispiel: In der Schwarz-Weiß-Fotografie werden Farben auf Grautöne abgebildet oder reduziert. Aus den Grautönen können wir aber nicht mehr eindeutig auf die Farben schließen. 94 Levine, Qualia; Chalmers, Mind. 95 Habermas spricht sogar von einem epistemischen Dualismus. Habermas, Freiheit, 170. 91 92
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verschieden. Wir sind überzeugt, dass wir frei sind. Dennoch lassen sich Bedingungen nennen, die unsere Freiheit einschränken.
5.3.4 Endliche Freiheit Die heutige Debatte über Freiheit leidet unter einem Missverständnis. Im Gefolge der Willensmetaphysik von Duns Scotus (um 1266– 1308) wird Freiheit als Freisein von jeder Art von Determination verstanden. »Der Wille steht außerhalb des Naturhaften. Der Wille ist nur der Wille, sonst nichts. … Der Wille ist das eigentliche Selbst des Menschen.« 96 Er wird als absolutes Anfangenkönnen, als absolute Spontaneität gedacht. Weiter entfaltet wurde dieses Verständnis von Freiheit insbesondere von Fichte, Schelling und Hegel. Diese Auffassung ist insoweit begründet, als sie über die Freiheit an sich, letztlich über die göttliche Freiheit reflektiert. In dem Gespräch mit den Neurowissenschaften geht es aber nicht um die Freiheit an sich, sondern um unsere menschliche Freiheit, um die Freiheit, wie sie in unserer leiblichen Existenz verwirklicht ist. 97 Freiheit ist ein Vermögen des Willens. Der Wille aber ist gemäß Aristoteles 98 das innere Prinzip der Spontaneität (ἑκούσιον). Spontaneität und naturhafter innerer Antrieb (appetitus naturalis) unterscheiden das Lebendige vom Nichtlebendigen. 99 Sie sind auf mögliche Ziele des Handelns, auf ein angemessenes Gut, ausgerichtet. Anschaulich wird das in beeindruckender Weise, wenn ein Baby zu krabbeln beginnt und mit ungeheurer Energie sich umgebenden Raum zu erobern versucht. Dieses Entdecken und Erobern der Welt nimmt mit der Entwicklung des Kindes immer mehr rationale Formen an. Weil der Mensch in der Lage ist, das angemessene Gute nicht nur instinktiv zu erfassen, sondern auch in seinem Gutsein zu erkennen und zu beurteilen, wird bei ihm der Wille zum »vernunftbegabten Strebevermögen« (ὄρεξις βουλευτική bei Aristoteles, 100 appetitus rationalis Wald, Einheit, 11. Rager, Leiblichkeit. Siehe auch Bieri, Handwerk. Wenn Peter Bieri von bedingter Freiheit redet, dann meint er, dass der freie Wille nicht aus dem Nichts kommt. Nach Bieri ist der freie Wille bedingt durch unsere Wünsche, Motive, Überlegungen und Urteile. Von daher erhalten freie Entscheidungen ihren Sinn. 98 Siehe das dritte Buch der Nikomachischen Ethik. 99 Wald, Einheit, 3. 100 ἡ δὲ προαίρεσις ὄρεξις βουλευτική in Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 2 96 97
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Die Freiheit der Person
bei Thomas von Aquin 101). Er kann überlegen, welche Mittel geeignet sind, um seine Ziele zu erreichen (προαίρεσις bei Aristoteles), und die äußeren physischen Möglichkeiten in Rechnung stellen, um eine Handlung auszuführen. Die Reflexion über das natürliche Streben und den Willen zeigt uns bereits, wie abhängig diese Vermögen von der leiblichen Verfassung sind. Schon die Beobachtung der Ontogenese weist uns darauf hin, dass die entsprechenden körperlichen, insbesondere neuronalen Strukturen gereift sein müssen, damit sich der Wille entfalten kann. Auf der anderen Seite gibt es etliche, vor allem neurologische und psychiatrische Erkrankungen, die schon auf dieser elementaren Stufe die Entfaltung des Willens beeinträchtigen oder sogar verhindern. In ähnlicher Weise gilt das für den freien Willen. Wenn die neuronalen Korrelate ungenügend entwickelt oder durch Krankheit oder Verletzungen gestört sind, dann sind auch freie Handlungen nicht möglich. Dies lässt sich mit dem berühmten und sehr genau analysierten Fall von Phineas Gage verdeutlichen. Phineas Gage, ein amerikanischer Eisenbahnarbeiter, wurde 1848 Opfer eines Arbeitsunfalls. Bei einer Explosion wurde ein Eisenstab in seinen Kopf gerammt. Dabei wurden große Bereiche des Frontalhirns zerstört. Gage überlebte diesen Unfall für mehrere Jahre, war aber in seiner Persönlichkeit und in seinen moralischen Fähigkeiten stark verändert. Vor dem Unfall war er ein angesehener Vorarbeiter, der für einen großen Bautrupp verantwortlich war. Er wurde als der tüchtigste und fähigste Mann des Unternehmens eingeschätzt. Nach dem Unfall war er launisch und respektlos, machte ständig Zukunftspläne, die er gleich wieder fallen ließ. »Gage war nicht mehr Gage«. 102 Wegen seiner Wesensveränderung verlor er trotz seiner großen Verdienste seine Stellung. 1861 starb er in der Folge von epileptischen Anfällen. Später wurde eine Reihe weiterer Patienten analysiert. 103 Es zeigte sich, dass ähnliche Verhaltensstörungen auch ähnlichen Hirnläsionen entsprachen. Diese Merkmale fasste man zusammen unter dem Titel »Phineas-Gage-Matrix«. 104 Damit wird zum Ausdruck ge1139a23. Ausführlich diskutiert wird dieses Vermögen auch in Aristoteles, De anima III, 10. 101 Thomas von Aquin S.Th. I q. 78 a. 1 ad 3. 102 Damasio, Irrtum, 30. 103 »Ein moderner Phineas Gage«, so beschreibt Damasio seinen Patienten mit dem Pseudonym Elliot. Damasio, Irrtum, 64 ff. 104 Damasio, Irrtum, 91.
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bracht, dass bei einer bestimmten Störung des Verhaltens bestimmte Zentren des Gehirns geschädigt sind. Wenn nun auf Grund solcher Läsionen im Gehirn moralische Handlungen nicht mehr möglich sind, dann ergeben Ansprüche der Gesellschaft keinen Sinn mehr. Die Sanktionierung mit Strafen wird auch nicht zum Erfolg führen. Wo die Voraussetzungen fehlen, kann freier Wille sich nicht mehr entfalten. Diesbezüglich haben die neurowissenschaftlichen Befunde wichtige Diskussionen über die Schuldfähigkeit von Menschen ausgelöst. Gerhard Roth geht noch wesentlich weiter. Mit seinem »Schuldparadoxon« behauptet er: »Je verabscheuungswürdiger eine Tat ist, desto eher wird man eine hirnorganische oder psychische Störung feststellen, die die Schuldfähigkeit des Täters beeinträchtigt oder gar ausschließt.« 105 Dieses Paradoxon hat aber keine allgemeine Geltung. Es gibt auch Schwerverbrecher, bei denen keine hirnorganischen Veränderungen nachweisbar sind. Nicht jede unmoralische Handlung ist auf einen Defekt im Gehirn zurückzuführen. Mit dem Hinweis auf Störungen im Gehirn wird verschiedentlich die Möglichkeit von Schuld abgelehnt. Wenn aber keine Schuld besteht, dann kann man auch nicht bestrafen. 106 Aufgabe der Rechtsprechung sei es, Verbrecher nicht zu bestrafen, sondern zu verwahren und so die Gesellschaft vor Schaden zu schützen. Man könnte sich sogar vorstellen, dass man künftig durch Screening-Methoden potentielle Verbrecher schon frühzeitig erfasst und sie prophylaktisch von der Gesellschaft fernhält, und zwar auf der Basis der voreiligen, wenn nicht sogar falschen Annahme, dass Abweichungen im Genom oder Veränderungen im Gehirn zwangsläufig zu verbrecherischen Taten führen. Die gegenwärtige Pädophilie-Debatte liefert bereits solche Ansätze. Etliche Leute sind bereit, den pädophilen Tätern zuzugestehen, dass sie nicht anders handeln können. Sie vergessen dabei, dass wenigstens einige von diesen Tätern frei sind. Sie könnten nämlich angesichts ihrer Triebe und Neigungen sich dazu entschließen, alle Gelegenheiten zu meiden, die sie in Gefahr bringen können. Menschen, die genetisch oder neuronal so gestört sind, dass sie zu sittlich gebotenen Handlungen nicht mehr in der Lage sind, bilden Pauen / Roth, Schuld, 164. So der alte Rechtsgrundsatz »nulla poena sine culpa«. Vgl. Keil, Willensfreiheit, 165. Roth lehnt die Bestrafung eines Täters ab, »nur weil er in irgendeinem moralischen Sinne schuldig geworden ist« (Roth, Sicht, 181).
105 106
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jedoch die Ausnahme. Vergleichen wir die Beeinträchtigung moralischer Handlungen mit der Beeinträchtigung bei einer sportlichen Leistung. Immer mehr Leute wollen heute Marathon laufen. Es gibt aber einige, die dies aus verschiedenen Gründen nicht können. Ohne gesundheitliche Störungen wären aber alle Menschen dazu befähigt. So ist es auch mit der Freiheit. Die Menschen sind grundsätzlich in der Lage, sittlich und verantwortlich zu handeln. Notwendige Bedingung dafür ist jedoch, dass auch die physischen und insbesondere die neuronalen Voraussetzungen intakt sind.
5.4 Freiheit und naturgemäßes Handeln Für eine systematische Behandlung der Freiheit müsste auch die theologische Dimension der Freiheit 107 dargestellt werden. Es war jedoch unser Ziel, das Problem der Freiheit in erster Linie in Bezug auf die Fragen zu erörtern, die sich aus der modernen Hirnforschung und ihrer Interpretation ergeben. Es zeigte sich, dass wir ohne das Bewusstsein von Freiheit gar nicht handeln könnten, Freiheit also eine elementare Realität unseres Lebens ist. Dieser Erfahrung widersprechen auch die Ergebnisse der Hirnforschung nicht, wenn man sie vom ideologischen Überbau des Naturalismus befreit. Auf der anderen Seite müssen wir zugestehen, dass unsere Freiheit nicht absolut, sondern endlich ist. Sie wird begrenzt durch die limitierten Möglichkeiten unserer leiblichen Existenz. Sie wird noch stärker eingeschränkt, wenn nicht sogar aufgehoben, wenn unsere geistigen Fähigkeiten durch pathologische Prozesse behindert werden. Wie ist nun das Zusammenspiel von Freiheit und Begrenzung zu denken? Auf diese Frage gibt es wenigstens drei Antworten, nämlich den Monismus, den Dualismus und die Theorie der Leib-Seele-Einheit (Hylemorphismus). Der Monismus des reduktionistischen Naturalismus versucht diese Dualität aufzulösen, indem er einen Pol eliminiert, nämlich die Freiheit. Freiheit ist nur eine Illusion. Übrig bleibt die Hirnmaschine, die alle Aufgaben erledigt und uns sogar noch vorgaukelt, wir seien frei. Diese Theorie verkürzt jedoch die Realität in unzulässiger Weise, behauptet eine Identität von geistigen und neuronalen Prozessen, die sich aber nicht nachweisen lässt, und
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Für die theologische Dimension der Freiheit siehe Schockenhoff, Theologie.
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Freiheit und naturgemäßes Handeln
führt zu inneren Widersprüchen. Der Dualismus versucht, dem Geistigen und dem Neuronalen gerecht zu werden, indem er sie als jeweils eigene Wirklichkeiten versteht, die miteinander interagieren. Der Dualismus kann jedoch nicht erklären, wie die Interaktion von Geist und Körper funktionieren kann. Wenn der Geist neuronale Vorgänge verursachen soll, dann muss letzten Endes Energie vom Geist auf das Gehirn übertragen werden. Nimmt man das an, dann wird der Geist selbst als physiologische Entität vorgestellt und damit seiner geistigen Natur beraubt. Die dritte Antwortmöglichkeit, der Hylemorphismus, geht davon aus, dass Leib und Seele ursprünglich eine Einheit sind. Sie folgt der Philosophie des Aristoteles und wird auch durch das biblische Menschenbild unterstützt. Wenn der Mensch als Leib-Seele-Einheit verstanden wird, dann ergibt sich zwangsläufig, dass endliche Freiheit nur dann vollumfänglich gegeben ist, wenn die Person uneingeschränkt über jene Fähigkeiten verfügen kann, die ihr mit ihrer menschlichen Daseinsweise gegeben sind. Menschliche Daseinsweise bedeutet, dass sie durch die Natur des Menschen bestimmt ist. Die Natur des Menschen ermöglicht einerseits dessen Freiheit, andererseits zieht sie dieser Freiheit Grenzen. Der Mensch kann nur das tun, was von seiner Natur her möglich ist. 108 Unter Natur verstehen wir in diesem Zusammenhang nicht die naturwissenschaftlich verstandene, sondern die von uns erlebte Natur 109. Im Gegensatz zur Festlegung durch die Naturgesetze lassen natürliche Substanzen mit ihren wesentlichen Eigenschaften 110 verschiedene Handlungsmöglichkeiten in einem eingeschränkten Rahmen und in Abhängigkeit von den Umständen zu. Für die Willensfreiheit bleibt einerseits ein Spielraum von Möglichkeiten offen, andererseits besteht die »Fähigkeit der vernünftigen Prüfung und Wahl«. 111 Damit lässt sich Willensfreiheit definieren als »die Fähigkeit zur überlegten, hindernisüberwindenden Willensbildung und – umsetzung.« 112 In der Scholastik gilt der Grundsatz, dass das Handeln dem Sein folgt (agere sequitur esse). Thomas von Aquin formuliert diesen Grundsatz so: agere sequitur ad esse in actu (Summa contra gentiles III, 69). Zur Diskussion des Determiniertseins durch Ursachen im Vergleich zu den Festlegungen durch die Natur eines Wesens siehe Keil, Willensfreiheit, 118–136. 109 Rager, Leiblichkeit; Fuchs, Gehirn. 110 Dispositionen nach Keil, Willensfreiheit, 128. 111 Keil, Willensfreiheit, 130. 112 Ebd., 135. Keil spricht deshalb von der »fähigkeitsbasierten« Willensfreiheit. 108
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Die Freiheit der Person
Entsprechend unserer Natur, falls diese Natur nicht durch pathologische Ereignisse beschädigt ist, können wir frei handeln. Diese Freiheit ist aber nicht einfach gegeben, sondern aufgegeben. Erst im Vollzug erweist sie ihre Realität. Als freie Personen können wir einerseits Schuld auf uns laden, andererseits aber auch Verantwortung übernehmen. Wir sind in erster Linie für die eigene Lebensführung verantwortlich, dann aber auch für unser Umfeld. Im Zeitalter der zunehmenden Globalisierung tragen wir vermehrt Verantwortung auch für größere Bereiche und für die Zukunft, weil unser heutiges Handeln in einem bisher nicht gekannten Ausmaß Folgen für die künftigen Generationen hat. 113
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Jonas, Verantwortung.
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6 Verantwortung und Liebe
Wir leben in einer Zeit lokaler und globaler Krisen. Der Klimawandel droht das gegenwärtige Gleichgewicht auf der Erde nachhaltig zu verändern und ganzen Bevölkerungsgruppen die Lebensgrundlage zu entziehen. Die Finanz- und Wirtschaftswelt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Die politischen und gesellschaftlichen Systeme stehen in einigen Ländern im Umbruch; Revolutionen sind angesagt. Die Bevölkerung ist empört darüber, dass Manager unvorstellbar hohe Gehälter und Boni beziehen und auch dann noch hohe Abfindungen erhalten, wenn das Unternehmen in Schwierigkeiten gerät. Die Ressourcen werden mit rasanter Geschwindigkeit verknappt. Nahrungsmittel werden angebaut, um daraus Biotreibstoffe zu gewinnen, anstatt sie prioritär der hungernden Bevölkerung zu geben. Die Energiepolitik gerät in eine Sackgasse. Der Reaktorunfall von Fukushima hat gezeigt, was passieren kann, wenn die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden. Er zeigt uns weiter, dass bei der Nutzung der Kernenergie ein – wenn auch noch so kleines – Restrisiko verbleibt, das mit den heutigen Mitteln nicht beherrschbar ist. Diese Streiflichter führen von sich aus zum Thema Verantwortung. Wer ist jeweils für das Entstehen der Krisen und Katastrophen verantwortlich? Wer ist verantwortlich dafür, dass die entstandenen Krisen gemeistert und zu einem möglichst guten Ende gebracht werden? Der Ruf nach Verantwortung ist weit verbreitet und unüberhörbar geworden, ein Grund mehr, um uns mit Verantwortung auch aus philosophischer Perspektive zu beschäftigen. Dies soll im ersten Teil dieses Kapitels geschehen. Was aber über die Verantwortung hinausführt und unser Leben wirklich menschlich und lebenswert macht, das ist die Liebe. Davon wird der zweite Teil handeln.
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Verantwortung und Liebe
6.1 Verantwortung Der Verantwortungsbegriff spielte in der philosophischen und theologischen Tradition lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Die großen ethischen Systeme »waren vor allem auf Leitbegriffe wie Tugenden und Güter, Normen und Gebote, Pflicht und Sollen oder auch die Konzeption idealer Werte begründet.« 1 Erst im 20. Jahrhundert wurde Verantwortung zum Zentralbegriff neuerer philosophisch-gesinnungsethischer Ansätze. Für diese Entwicklung gibt es eine Reihe von Gründen, die unsere moderne Welt stark beeinflussen. Die menschlichen Lebensverhältnisse werden immer unübersichtlicher, die Handlungsspielräume des einzelnen Bürgers werden erweitert. Die Gesellschaft differenziert sich in verschiedene Subsysteme wie Wirtschaft, Politik, Religion und Privatleben. »Der Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Medizin verlängert die Reichweite menschlicher Handlungsfolgen über den unmittelbaren Nahbereich hinaus.« 2 Für Handlungen, die auf unsere unmittelbare Umgebung wie Familie, Beruf oder gesellschaftliches Umfeld wirken, genügt immer noch die klassische Ethik, die Jonas als »Nahethik« kennzeichnet. »Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun …, die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls … über alles ehemalige weit hinausgeht. … All dies rückt Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Raum- und Zeithorizonten, die denen der Taten entsprechen.« 3 Eine Ethik, die diese Fernwirkungen ins Auge fasst und die für dieses Handeln geeigneten Anleitungen gibt, nennt Jonas »Fernethik« (oder »Zukunftsethik« 4). Verantwortung setzt Freiheit voraus. Sowohl für den Nah- als auch für den Fernbereich gilt, dass wir das jeweilige Gute erkennen und uns bemühen, es durch unser Handeln zu verwirklichen. Für eine Zukunftsethik genügt aber nicht mehr der gute Wille allein (Gesinnungsethik); wir müssen auch so gut wie möglich die Folgen unserer Handlungen abschätzen (Verantwortungsethik). Verantwortliches Handeln für die Zukunft zeichnet sich dadurch aus, »dass man für
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Schockenhoff, Verantwortung, 41. Ebd., 41. Jonas, Verantwortung, 8–9. Ebd., 84 ff.
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Verantwortung
die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« 5 Natürlich hängt das Ausmaß der Verantwortung, die ich zu tragen habe, von meinem Tätigkeitsbereich und von meiner gesellschaftlichen Position ab. Verantwortung ist Sorge »für diejenigen Bereiche, für die wir tatsächlich Sorge tragen können: die eigene Person, die Person des Anderen, die Umwelt, die berufliche Arbeit.« 6 Ein Politiker wird sich mehr Gedanken machen müssen über die Folgen seiner Entscheidungen als ein Handwerker. Verantwortung ist nicht nur von einzelnen Personen zu übernehmen, sondern auch von Institutionen. Dort resultieren Entscheidungen nicht als Summe von Einzelentscheidungen, sondern als Ergebnis gemeinsamer Beratungen. Kant hat als Richtschnur für moralisches Handeln den kategorischen Imperativ formuliert. 7 Jonas erweitert diesen Imperativ durch die Zukunftsperspektive: »Handle so, dass die Wirkungen Deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« 8
6.1.1 Verantwortungsbereiche Zahlreiche Verantwortungsbereiche, die von lokaler oder globaler Ausdehnung sind und sich von akuter bis zu weit in die Zukunft hinein reichender Dringlichkeit erstrecken, warten auf Menschen, die sich durch ihre Expertise ausweisen und bereit sind, unabhängig von persönlichen Interessen Verantwortung zu übernehmen. Wir denken hier an die Klimaveränderung, den Raubbau an den tropischen Wäldern, den unkontrollierten Verbrauch von Ressourcen, der den Handlungsspielraum künftiger Generationen erheblich einengt, die Völker, die in Armut und Unfreiheit leben, die Finanz- und Wirtschaftskrisen, den sorglosen Umgang mit den Schuldenbergen, welche die kommenden Generationen zu bewältigen haben, und die durch mangelnde Sorgfalt verursachten Umweltschäden, die zu Katastrophen auswachsen können. Laut Presseberichten wäre trotz Erdbeben und Tsunami der Schaden an den Kernkraftwerken von Fukus-
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Weber, Politik, 441 (zitiert nach Schockenhoff, Verantwortung, 43). Vossenkuhl, Verantwortung, 675. Siehe Kapitel »Freiheit der Person«. Jonas, Verantwortung, 36.
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Verantwortung und Liebe
hima beherrschbar geblieben, wenn beim Bau der Kraftwerke die Sicherheitsvorschriften eingehalten worden wären. Es wäre aber vermessen, in die Debatte dieser Probleme eingreifen zu wollen, wo doch zahlreiche Experten weltweit in Gremien und Konferenzen nach tragfähigen und gemeinsam verantworteten Lösungen suchen. Dort aber, wo es um den Menschen selbst geht, scheint mir ein Diskussionsbeitrag aus anthropologischer Sicht wichtig.
6.1.2 Verantwortung für den Menschen als Person Embryonale Stammzellen Bereits im ersten Kapitel, in dem es um Ich, Bewusstsein und Person ging, habe ich Gründe dafür vorgelegt, warum der Embryo von der Befruchtung an als Person zu gelten hat. Der Streit um den Status des Embryos wäre nicht so heftig, wenn damit nicht Interessen der Forschung und der Wirtschaft verbunden wären. Er hat sich vor allem im Zusammenhang mit der Möglichkeit entzündet, embryonale Stammzellen zu gewinnen. Schon zu Beginn der Debatte haben einige Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass man die embryonalen, durch Tötung von Embryonen gewonnenen Stammzellen nicht unbedingt brauche. Man könne mit anderen Methoden und ohne gegen die ethischen Prinzipien zu verstoßen die gleichen Ziele erreichen. Die Wissenschaftler schlugen vor, adulte Stammzellen, d. h. Stammzellen von erwachsenen Menschen, durch molekularbiologische Maßnahmen in Stammzellen umzuformen, welche in ihren Eigenschaften den embryonalen Stammzellen ähnlich sind. Man nennt diese Zellen pluripotente Stammzellen. Den Vorgang des Umformens nennt man Reprogrammieren. Heute ist es endlich soweit. In mehreren Laboratorien wurden Verfahren entwickelt, mit welchen adulte Zellen zu pluripotenten Stammzellen umprogrammiert werden. Diese Zellen heißen jetzt induzierte pluripotente Stammzellen (iPS). Diejenigen Laboratorien, welche sich auf diese Forschung konzentriert haben, sind jetzt auf diesem Feld führend. Ohnehin wurde bisher mit adulten Stammzellen therapeutisch wesentlich mehr erreicht als mit embryonalen. Zwar muss einschränkend gesagt werden, dass der Weg zur klinischen Anwendung noch weit ist, aber der entscheidende Durchbruch scheint gelungen. Mit der Reprogrammierung ist Stammzellforschung möglich geworden, ohne Embryonen zu töten. Solche Ent154 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Verantwortung
wicklungen zeigen, dass das Einhalten ethischer Verpflichtungen zu nachhaltigen Fortschritten in der Forschung führen kann. Präimplantationsdiagnostik, Genmanipulation, Klone Ähnlich wie bei der Stammzellforschung treten auch bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) die Befürworter mit dem Anspruch auf, vermeidbares Leiden von uns fernzuhalten. Für die Präimplantationsdiagnostik werden viele Embryonen durch künstliche Befruchtung (In-vitro Fertilisation) erzeugt. Die sogenannt guten Embryonen werden ausgewählt. Die anderen Embryonen werden verworfen oder als »überzählige« Embryonen der Forschung zur Verfügung gestellt. Die »überzähligen« Embryonen wurden nicht um ihrer selbst willen erzeugt, sondern lediglich als Mittel zum Zweck. Weil die PID gegenwärtig ohne die Tötung und Instrumentalisierung von Embryonen nicht auskommt, müssen wir sie aus ethischen Gründen ablehnen. Wenn die PID schließlich noch mit Manipulationen am Genom verbunden wird, dann werden die Folgen unabschätzbar. Klone werden ebenfalls nicht um ihrer selbst willen erzeugt. Sie dienen einerseits als Ersatzteillager für einen anderen Menschen, andererseits dem »Fortleben« eines bestimmten Menschen. Klone haben nicht das Recht auf die Unverfügbarkeit ihres Anfangs, wie Habermas es für uns Menschen fordert. 9 Der Mensch am Lebensende Wenden wir uns nun dem anderen Pol des menschlichen Lebens zu, dem Lebensende. Auch hier ist die Würde der menschlichen Person bedroht. Die Menschen werden immer älter. Das Altern kann aber für die betroffene Person sehr mühsam und beschwerlich werden. Für die Angehörigen und für die Gesellschaft entstehen immer höhere Kosten und Belastungen. Das kann dazu führen, dass alte und kranke Menschen sich unter Druck fühlen und sich mit dem Gedanken befassen, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden. Teilweise hat sogar schon ein Sterbetourismus in jene Länder eingesetzt, die besonders liberal sind in der Anwendung des assistierten Suizids. In dieser Situation ist verantwortliches Handeln gefordert, welches auch den leidenden Alten das Leben noch lebenswert macht. Die Palliativmedizin 9
Habermas, Zukunft.
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Verantwortung und Liebe
bietet hier schon wertvolle Hilfen an und ist auch für unheilbare Kranke eine echte Alternative zum Suizid. 10
6.1.3 Verantwortung für uns selbst Als Freiheitswesen haben wir auch Verantwortung für uns selbst und für die Gestaltung unseres Lebens. Dazu möchte ich ein Bild gebrauchen. Wir können die Verantwortung für uns selbst mit dem Bergsteigen vergleichen. Bevor wir die Bergtour antreten, werden wir uns informieren über den Weg und das Ziel. Wahrscheinlich gibt es mehrere Wege zum Ziel. Wir werden den Weg heraussuchen, der für uns am geeignetsten ist, den wir mit unseren Voraussetzungen auch bewältigen können. Wir werden uns dann mit topographischen Karten über diesen Weg informieren und Hilfsmittel für die Orientierung in den Rucksack packen: Einen Höhenmesser, einen Kompass und vielleicht auch ein GPS-Gerät, das vor allem bei Aufkommen von Nebel von Nutzen sein kann. Wir sind aber nie sicher, dass wir das Ziel auch erreichen werden, weder auf der Bergtour, noch im Leben. Es könnte uns plötzlich ein Steinschlag treffen oder ein unvorhergesehenes Unwetter über uns hereinbrechen. Im Leben könnte eine schwere Krankheit oder ein Unfall unser Leben vorzeitig beenden. Deshalb wäre es klug, nicht alle Erwartungen auf das Ziel zu verschieben, sondern den Weg selbst auch als Ziel zu betrachten. Nicht nur die Orientierung ist wichtig, sondern auch die Vorbereitung und die Ausrüstung. Wer würde schon mit Turnschuhen auf das Matterhorn gehen? Wer würde nicht dafür sorgen, dass er körperlich und mental fit ist, bevor er sich auf den schwierigen Weg begibt? Schließlich gibt es Situationen, die man allein nicht bewältigen kann. Wir brauchen deshalb Weggefährten, mit denen wir schwierige Passagen bewältigen: Sicherung am Seil, wenn wir im Fels klettern oder über einen Gletscher gehen. Wir wollen aber nicht nur vom anderen gesichert werden, sondern sind auch bereit und darauf vorbereitet, unsererseits dem anderen Sicherheit und Halt zu geben. Dieses Bild von der Bergtour kann man jetzt auf die Verantwortung für uns selbst im Laufe des Lebens übertragen. Außerhalb dieses Bildes ist auch noch zu bedenken, dass wir oft nicht zufrieden sind mit 10
Diese Problematik wird ausführlicher diskutiert im Kapitel »Sterben und Tod«.
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Liebe
dem Zustand der Welt und der Gesellschaft und deshalb eine Änderung verlangen. Nicht selten wird für dieses Ziel auch Gewalt gebraucht. Doch das, was wir wirklich ändern können, sind wir selbst. Erst wenn wir uns ändern, wird unser Beispiel auch auf andere wirken.
6.2 Liebe Verantwortliches Handeln im Jetzt und für die Zukunft kann uns und die künftigen Generationen von vielen Problemen und Nöten befreien. Was unser Leben aber wirklich schön und wertvoll macht, ist die Liebe. Das Wort Liebe wird jedoch so vielfältig gebraucht und missbraucht, dass zuallererst eine Klärung der Begriffe nottut. Doch auch nach einem solchen Klärungsversuch werden wir die Wirklichkeit der Liebe voraussichtlich nicht voll erfassen, sondern ihr uns nur annähern können. Zuerst werde ich mich mit reduktionistischen Sichtweisen auseinandersetzen, sodann versuchen, die Liebe in ihrem Wesen zu verstehen, und schließlich die christliche Dimension der Liebe kurz skizzieren.
6.2.1 Liebe aus reduktionistischer Sicht Seit dem Jahr 1973 gibt es den Begriff der evolutionären Psychologie. 11 Für den amerikanischen Liebes- und Paarforscher David Buss stellt die evolutionäre Psychologie die »Vollendung der wissenschaftlichen Revolution« dar und bildet die »Grundlage für die Psychologie des neuen Jahrtausends«. 12 Der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson verwendete für die gleiche Sache den Begriff »Soziobiologie«. 13 Sexualität und Liebe Gemäß der evolutionären Psychologie steht am Anfang des Verhältnisses der Geschlechter zueinander der Sex. Liebe gibt es nur im Verhältnis von Müttern und Kindern. Der Sex aber steht wiederum im 11 12 13
Ghiselin, Evolutionary Psychology. Buss, Evolutionäre Psychologie, 17. Wilson, Sociobiology.
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Dienste der Gene. Wir haben uns bereits im Kapitel über Evolution mit dem egoistischen Gen von Richard Dawkins befasst. Denkt man einmal über den Begriff des egoistischen Gens nach, dann fällt sofort auf, dass Gene kein Ego haben und auch nichts wollen. Sie folgen einzig und allein den Gesetzen der Molekularbiologie. Dawkins weiß zwar, dass es sich hier um ein Bild handelt, aber er behandelt dieses Bild wie eine Tatsache. 14 So entsteht aus dem Bild des egoistischen Gens ein allmächtiges Wesen, dem sich die Individuen als Sklaven unterzuordnen haben. Auch das Sexualverhalten steht im Dienste der Gene. Damit ist der Reduktionismus perfekt. Liebe ist im wesentlichen Sex und Sex dient der Verbreitung der guten Gene. Dawkins bekämpft den »Gotteswahn« und versucht, ihn durch das egoistische Gen zu ersetzen. Wie schon im Kapitel über Evolution gezeigt, entspricht das Konzept vom egoistischen Gen nicht der Wirklichkeit. Es wird heute durch das Konzept vom kooperativen Gen abgelöst. 15 Damit können wir von den Genen wieder eine Stufe höher gehen und zur Frage zurückkehren, ob sich Liebe auf Sexualität zurückführen lässt. Die Idee der evolutionären Psychologen, dass Liebe dem Sex entspringt, ist stark zu bezweifeln. »Denn weder für den Sex noch für eine längerfristige Brutpflege-Bindung zwischen den Geschlechtern bedurfte es der Erfindung der Liebe.« 16 Die Erfahrung zeigt zudem, dass man Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex haben kann. Dass Liebe ein eigenständiges Phänomen ist, das sich nicht auf Sexualität reduzieren lässt, darauf hat sogar Charles Darwin hingewiesen. In seinem 1871 erschienenen Buch »Die Abstammung des Menschen« ist nicht mehr bloß von der natürlichen Zuchtwahl unter Tieren die Rede, die vom Egoismus bestimmt ist, sondern auch von der geschlechtlichen Zuchtwahl der höher entwickelten Arten, die beim Menschen in den Altruismus mündet. Darwin schreibt: »So bedeutungsvoll der Kampf um die Existenz gewesen ist, so sind doch, soweit der höchste Teil der menschlichen Natur in Betracht kommt, Dawkins, Gen; Precht, Liebe, 64. Die Kritik an diesem Konzept lässt sich kurz zusammenfassen: »Gene sind die Informationen, die nötig sind, um einen Organismus aufzubauen. Dieser Aufbau allerdings geschieht im Austausch des Lebewesens mit seiner Umwelt. Ist dieser Austausch erfolgreich, so dass es dem Tier oder der Pflanze gut geht, so überleben auch seine Gene. Nicht die Gene bestimmen über den Erfolg eines Lebewesens, sondern der Erfolg eines Lebewesens entscheidet über das Überleben der Gene.« (Precht, Liebe, 62). Zum kooperativen Gen siehe Bauer, Gen; Neuweiler, Krone. 16 Precht, Liebe, 138. 14 15
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andere Kräfte noch bedeutungsvoller; denn die moralischen Eigenschaften sind entweder direkt oder indirekt viel mehr durch die Wirkung der Gewohnheit, die Kraft der Überlegung, Unterricht und Religion usw. fortgeschritten als durch natürliche Zuchtwahl.« 17 Und dann spricht Darwin sogar noch ausdrücklich von Liebe. Während bei niederen Tieren die Handlungen durch Instinkte bestimmt sind, spielt beim Menschen die Liebe eine gewaltige Rolle in der Evolution: »Für uns [Menschen] sind aber die bedeutungsvolleren Elemente die Liebe und die davon verschiedene Erregung der Sympathie.« 18 Liebe ist also mehr als eine biologische Funktion, auch gemäß Darwin. Hormone und Hirnprozesse Die evolutionäre Psychologie vermag also die Liebe nicht zu erklären. Andere reduktionistische Ansätze bringen die neuen Erkenntnisse über Hormone und Hirnprozesse ins Spiel. In ihrem 1992 erschienen Buch »The Anatomy of Love« zerlegt die Anthropologin Helen Fisher die Liebe in drei Komponenten: Lust, Anziehung und Verbundenheit. Diese drei Komponenten werden wieder zurückgeführt auf »drei grundlegende, voneinander verschiedene, aber untereinander zusammenhängende emotionale Systeme im Gehirn.« 19 Die Lust auf Sex werde angeregt durch die Ausschüttung von Dopamin, welche sekundiert wird durch Testosteron beim Mann und durch Östrogene bei der Frau. Bei der zweiten Komponente der Liebe, nämlich der Anziehung oder Verliebtheit wird es schon schwieriger. Dieser emotionale Zustand dauert wesentlich länger als die Lust und nimmt wesentlich ausgedehntere Bereiche des Gehirns in Anspruch. Dazu gehören insbesondere der cinguläre Kortex und das mesolimbische System. Wenn wir einem Menschen begegnen, der uns anzieht, dann soll das Molekül Phenylethylamin (PEA) 20 in die Blutbahn ausgeschüttet werden und den Zustand der Verliebtheit bewirken. Die Verbundenheit oder Liebe schließlich soll durch die AusDarwin, Abstammung, Band II, 279. Ebd., 368–369. 19 Fisher, Lust, 83; Fisher, Chemie. 20 Phenyletylamine sind Medikamente, die zur Behandlung von Bluthochdruck eingesetzt werden. Sie wirken als falsche Transmitter. Sie werden von adrenergen Terminalien aufgenommen und ersetzen Noradrenalin in synaptischen Vesikeln. Kandel, Principles, 297. 17 18
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schüttung der Hormone Oxytocin und Vasopressin gewährleistet sein. 21 »Männer erzeugen beim Sex Unmengen von Vasopressin und Ocytocin, bei Frauen ist es vor allem das Letztere.« 22 Bei Wissenschaftsjournalisten bekam vor allem Oxytocin den Beinamen »Treuehormon« oder sogar »Liebeshormon«. Aber auch diese Behauptung, dass es ein »Treuehormon« gibt, hat sich wissenschaftlich nicht beweisen lassen. 23 Wie wir schon im Kapitel über die Freiheit sahen, haben alle geistigen Akte ihr neuronales Korrelat. Wir können diese Aussage so erweitern, dass damit nicht nur die Neurone gemeint sind, sondern auch die chemischen Prozesse, die mit neuronaler Aktivität verknüpft sind. Dementsprechend ist auch die Ausschüttung der genannten Hormone ein wichtiger Aspekt von Sexualität und Liebe. Aus diesen Hormonen lässt sich aber die Liebe nicht ableiten. Hormone sind also notwendig, aber nicht hinreichend, um das Phänomen Liebe zu erklären. Was erklären die Spiegelneurone? Kehren wir nun wieder von den Hormonen zurück zur neuronalen Ebene. Es müsste doch auf der Ebene der Neurone und der neuronalen Netzwerke eine Entsprechung zu dem geben, was wir als Vorstufen oder Aspekte der Liebe verstehen. Tatsächlich hat die Entdeckung des Systems der Spiegelneurone durch Rizzolatti und Mitarbeiter die Hirnforschung in dieser Richtung vorangebracht. 24 Rizzolatti und Mitarbeiter fanden bei Affen in der (lateralen ventralen) prämotorischen Region (Region F5) Neurone, welche feuern, wenn der Affe eine spezifische Greifbewegung ausführt. Diese Neurone feuern aber auch dann, wenn der Affe bewegungslos beobachtet, wie ein anderer Affe oder der Experimentator dieselbe Bewegung ausführt. 25 Einige Heute ist die offizielle Bezeichnung für Vasopressin antidiuretisches Hormon (ADH). Oxytocin und Vasopressin sind Peptide, die einander sehr ähnlich sind. Einige der magnozellulären Neurone des Ncl. supraopticus und des Ncl. paraventricularis produzieren das Hormon Oxytocin, andere das Hormon Vasopressin. Beide Hormone werden über die Axone dieser Neurone zur Neurohypophyse transportiert und dort in die Blutbahn freigesetzt. Kandel, Principles, 1072. 22 Precht, Liebe, 180. 23 Über Experimente an Wühlmäusen zur Rolle des »Treuehormons« berichtet Precht, Liebe, 178 ff. 24 Rizzolatti, Premotor cortex. 25 Kandel, Principles, 422–423, 888–891; Neuweiler, Krone, 162–165, 190–195. 21
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Jahre später gelang es mit verschiedenen bildgebenden Verfahren 26 nachzuweisen, dass es auch beim Menschen ein System solcher Neurone gibt, die wegen der Spiegelung der Aktivitäten anderer Menschen Spiegelneurone genannt werden. Spiegelneurone, die bei eigener motorischer Aktivität wie auch bei Aktivität von anderen Personen feuern, finden sich analog zu den Affen im prämotorischen Kortex, im Broca Areal 44. 27 Beim Menschen gibt es aber auch Spiegelneurone im frontalen Kortex, die auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen reagieren. Sie beziehen sich daher auch auf Gefühle, die durch Mimik, Gesten und Körperhaltungen ausgedrückt werden. »Durch deren neuronale Imitation lernen wir von unseren Mitmenschen nicht nur, wie sie mit ihrem aktiven Verhalten welches Ziel verfolgen, sondern auch, welchen Gefühlen sie innerlich ausgesetzt sind.« 28 Dieses Spiegelsystem im frontalen Kortex ist auch aktiv beim Mitfühlen, bei der Empathie. Die bei Anderen beobachteten Gefühlsgesten lösen in abgeschwächter Form das gleiche Gefühl beim Beobachter aus. Mit der Entdeckung der Spiegelneurone verstehen wir jetzt besser, was auf der neuronalen Ebene geschieht, wenn wir Mitleid mit anderen Menschen fühlen und damit eine elementare Form von Liebe zu den anderen entwickeln. Die Spiegelneurone sind jedoch nur ein neuronales Korrelat. Aus ihnen lässt sich unser Mitgefühl weder erklären noch herleiten. Emotion oder Gefühl Wenn wir uns fragen, ob Liebe eine Emotion oder ein Gefühl ist, dann müssen wir zuerst diese Begriffe klären. Ich gehe dabei von Definitionen aus, wie sie in Lehrbüchern der Neurophysiologie gegeben werden. 29 Der Begriff Emotion (engl. emotion) ist eine physische Erregung, die sich in einem körperlichen Zustand (engl. emotional Verfahren der Magneto-Enzephalographie (MEG), der transkraniellen Magnetstimulation (TMS), der Positron Emission Tomography (PET), dem Elektro-Enzephalogramm (EEG) und dem functional Magnetic Resonance Imaging (fMRI). 27 Feinere Differenzierung der Lokalisation bei Rizzolatti, Empathie, 127. 28 Neuweiler, Krone, 191. Zur Spiegelung des Ekels durch Neurone in der Insel und in der Amygdala siehe Rizzolatti, Empathie, 178 ff. 29 Kandel, Principles, Kapitel 48: Emotions and Feelings, 1079–1094, und Kapitel 49: Homeostasis, Motivation, and Addictive States, 1095–1115. Schmidt / Thews, Physiologie, 167–183. 26
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state) ausdrückt. An emotionalen Reaktionen sind subkortikale Strukturen beteiligt, nämlich die Amygdala, der Hypothalamus und der Hirnstamm. Im Gegensatz dazu sind Gefühle (engl. feelings) bewusste Empfindungen oder Zustände. Sie werden vermittelt durch den Neokortex (die Großhirnrinde), zum Teil auch durch den Kortex des Gyrus cinguli und durch das Frontalhirn. Ist nun Liebe in diesem Sinne eine Emotion? Liebe kann als Emotion beginnen, wenn ein anderer Mensch einen starken sinnlichen Reiz auf mich ausübt. Wenn ich dann versuche, die von dem anderen Menschen ausgehenden Signale zu begreifen und die Gründe meiner Reaktion zu verstehen, dann wird aus der Emotion ein Gefühl. Wenn ich mich schließlich so weit in den anderen hineinversetze, dass ich auf seine Wünsche und Bedürfnisse eingehe, dann entsteht ein reflektiertes Verhalten. Erst dann sprechen wir von Liebe im eigentlichen Sinn. Ganz entscheidend ist für diese Überlegung, dass Liebe nicht bloß ein emotionaler Zustand ist, sondern in erster Linie ein reflektiertes Verhältnis zu einem anderen Menschen, einer anderen Person.
6.2.2 Liebe nicht-reduktionistisch gedacht Bisher haben wir über Liebe als Funktion von etwas anderem nachgedacht: Funktion der Sexualität, der Hormone oder der neuronalen Schaltkreise wie etwa der Spiegelneurone. Die genannten Aspekte sind zwar wichtig für die Liebe, aber sie erklären die Liebe nicht. Lässt sich die Liebe aus sich selbst heraus verstehen? Über die Liebe ist so viel Schönes und Gutes gesagt und geschrieben worden, dass es mir nicht zukommt, hier Neues und Letztgültiges vorlegen zu wollen. Ich kann nur Einiges wieder aufgreifen und in Erinnerung rufen. Zuerst gilt es noch einmal festzuhalten, dass Liebe kein rein emotionaler Zustand und auch kein freischwebendes, erhabenes, rein subjektives Gefühl ist, sondern eine Beziehung zwischen Personen meint. Platon lässt im Dialog »Gastmahl« (Symposion) den Aristophanes über den folgenden Mythos berichten. Die Menschen waren einstmals kugelförmig. Im Übermut wollten sie den Olymp erstürmen. Zur Strafe wurden sie von Zeus halbiert. Die Halbkugel, die jeder von uns seither ist, sehnt sich nach der verlorenen Ganzheit zurück. Indem sie sich in Liebe mit der fehlenden Hälfte vereint, erlebt sie die Seligkeit der durch menschliche Schuld verlorenen Ein162 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
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heit. 30 Dieser Mythos thematisiert bereits, dass wir Menschen auf andere Menschen angewiesen und ausgerichtet sind. Nach Aristoteles will der (im Sinne der Philia) echt Liebende »das Gute für den anderen um des anderen willen«. 31 Aus diesem Grundverständnis von Liebe heraus wird auch das berühmte Wort von Augustinus von falschen Deutungen befreit: »Liebe und tu, was du willst!« »Dilige, et quod vis fac!« 32 Das ist kein Freibrief für Willkür. Augustinus meint damit: Wenn die Liebe bei all ihrem Tun immer das Gute für den anderen will, dann kann sie gar nicht falsch handeln. Damit ist aber erst die gute Absicht gemeint, aus der heraus gehandelt werden soll. Wie wir schon im Abschnitt über Verantwortung gesehen haben, genügt der gute Wille allein oft nicht. Es müssen auch noch andere Faktoren berücksichtigt werden, damit die Handlung auch im Ergebnis gut ist und der ursprünglichen Absicht entspricht. Augustinus ging es wohl auch darum, eine Handlung aus Liebe von einer Handlung nach dem Gesetz zu unterscheiden. Die moderne dialogische Philosophie 33 zeigt uns, dass wir zum Ich erst durch das Du werden. Für Martin Buber ist Ich-Du ein Grundwort. Es »kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« 34 Diese dialogische Grundverfassung des Menschen ist transzendentalphilosophisch weitergedacht worden. Wie Hermann Krings gezeigt hat, ist der Begriff Freiheit von vorneherein ein Kommunikationsbegriff. »Freiheit ist nur dort möglich, wo sie sich anderer Freiheit öffnet. … Das Kommerzium der Freiheit ist transzendental früher als das Subjekt, und im Begriffe des Subjekts ist der Begriff der Intersubjektivität als der transzendentallogisch frühere Begriff schon enthalten.« 35 Platon, Symposion 189d-191d. Vgl. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 292. 31 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1155 b 30–35. Vgl. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 294. 32 Augustinus, Johannis, tractatus VII.8. Vgl. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 5, 297. 33 Hier ist zu denken vor allem an Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner, Martin Buber, Ludwig Binswanger. Vgl. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 327. Siehe auch Gerl-Falkovitz, Personalität, besonders 237–238. 34 Buber, Ich und Du, 15. 35 Krings, System, 125. 30
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Und was zeigt unsere tägliche Erfahrung? Die Eröffnung des Dialogs von Ich und Du ereignete sich bei jedem von uns bereits im ersten Lebensjahr in der Mutter-Kind-Beziehung. Der Dialog erneuert und vertieft sich in der Begegnung mit einem Menschen, den wir lieben. Wir lieben ihn, weil er uns gefällt, sowohl in seiner leiblichen Erscheinung als auch in seinen seelischen und geistigen Fähigkeiten. Gleiche oder ähnliche Interessen führen uns zusammen. Wir finden im Anderen Zärtlichkeit und Geborgenheit. Wir vertrauen ihm und können uns ihm öffnen. Wir möchten gemeinsam durch das Leben gehen und uns dabei gegenseitig unterstützen. Wir unterstützen uns nicht nur bei der Bewältigung von Schwierigkeiten, mögen sie wirtschaftlicher, gesellschaftlicher oder gesundheitlicher Art sein, sondern auch bei der Überwindung unserer persönlichen Schwächen. Im Idealfall streben wir gemeinsam nach dem Sinn unseres Lebens, indem wir uns nicht nur in die Augen schauen, sondern auch wie Wanderer, den Blick nach vorne gerichtet, in die Zukunft gehen. Liebe heißt, den Anderen bejahen: »Es ist gut, dass es Dich gibt«. 36 Es ist gut nicht nur, weil mich die Schönheit des Körpers, die anmutige Bewegung oder die geistvolle Rede der Geliebten anzieht, sondern vor allem wegen ihrer einmaligen Person, die in all dem sinnlich Erfahrbaren zum Ausdruck kommt. Wir sagten, dass Liebende gemeinsam auf die Realisierung ihres Lebenssinnes zugehen. Was aber ist dieser Lebenssinn? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Sie muss immer neu gesucht werden. Eine erste Antwort wäre bei Aristoteles zu finden. Sie lautet: Der Lebenssinn ist die Eudaimonie, das Glück, das Im-Einklang-mituns-selbst-Sein, das gelungene Leben. 37 Dieses wird nicht durch Reichtum, Schönheit und Wohlleben erreicht, sondern durch ein Leben in der Tugend. Der Lebenssinn muss auch die Annahme unserer Endlichkeit beinhalten, unsere Conditio humana, und das bedeutet auch die Annahme von Sterben und Tod. Die Eudaimonie bei Aristoteles als letztes Ziel unserer HandlunSplett, Freiheitserfahrung, 140. Aristoteles schreibt dazu in der Nikomachischen Ethik (erstes Buch, fünftes Kapitel (1097 b)): »Die Glückseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes, da sie das Endziel allen Handelns ist«. Zugleich bedeutet die Eudaimonie das Leben unseres eigenen Selbst: »Ja, man darf sagen: dieses Göttliche in uns ist unser wahres Selbst … Mithin wäre es ungereimt, wenn einer nicht sein eigenes Leben leben wollte, sondern das eines anderen« (Nik. Ethik, zehntes Buch, siebtes Kapitel (1178 a)).
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gen wird in der gegenwärtigen Aristotelesforschung in dreifacher Weise interpretiert. Einmal erscheint sie als ein einziges, dominantes Lebensziel, das alle vorläufigen Ziele überragt. Eine zweite Interpretation versteht die Eudaimonie als ein vielfältiges Ziel, das alle anderen Ziele umfasst. Gemäß einer dritten Interpretation ist das Glück ein Ziel, »bei dem die Zielhaftigkeit in einem unüberbietbaren höchsten Ziel gegeben ist. Insofern dieses Ziel auf einer höheren Stufe als die gewöhnlichen Ziele steht und doch nur ›innerhalb‹ dieser Ziele realisiert wird, hat es einen transzendentalen Charakter. … Das Glück ist die Bedingung, die über die Zieltauglichkeit aller Ziele entscheidet.« 38 Thomas von Aquin führt die Linie des aristotelischen Denkens weiter. Er beschreibt als höchstes Ziel das höchste Gut, als welches sich Gott im Glauben offenbart. Das höchste Gut erfüllt das ganze Streben des Menschen, »so dass nichts weiteres zu erstreben übrig bleibt.« 39
6.2.3 Die christliche Dimension der Liebe Im christlichen Glauben wird die Liebe zur Agape (caritas). Der Urgrund der menschlichen Liebe ist die Liebe Gottes zu den Menschen. Das hervorstechendste Merkmal der Agape ist die von Herzen kommende Bejahung des anderen, die sich nach Kräften für ihn einsetzt. Sie wird authentisch durch die Teilhabe an jener Liebe, die Jesus Christus zu Gott und zu den Menschen hat. Vorgezeichnet wird diese Liebe im Evangelium selbst, so z. B. im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. 40 Er versorgt auf seinem Weg nach Jericho einen von Räubern halbtot geschlagenen Mann, während ein Priester und ein Levit an diesem achtlos vorübergegangen waren. Obwohl er ihn nicht kennt, verbindet er seine Wunden, hebt ihn auf das eigene Reittier, bringt ihn zu einer Herberge und bezahlt seinen Aufenthalt. Dabei geht er das Risiko ein, selbst von Räubern überfallen zu werden. Christliche Liebe opfert sich für das Wohl der Menschen. Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte ist Maximilian Kolbe. Er war ein polnischer Franziskaner-Minorit. Weil er 2300 Juden und anderen 38 39 40
Höffe, Aristoteles, 219. Schockenhoff, Lebensdeutung, 314. Lukas-Evangelium, 10, 30–37.
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Flüchtlingen Zuflucht gewährte, wurde er 1941 von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Dort wirkte er weiter als Priester und Seelsorger. Am 29. Juli 1941 wurden einige Männer wegen der vermeintlichen Flucht eines Häftlings aussortiert und sollten ermordet werden. Einer von diesen Männern war Franciszek Gajowniczek. Er hatte eine Familie und brach für sich und seine Familie in lautes Wehklagen aus. Als Pater Kolbe dies hörte, bat er den Lagerkommandanten, den Platz des zum Tode bestimmten Familienvaters einnehmen zu dürfen. Daraufhin wurde er am 29. Juli 1941 in den Hungerbunker gesperrt und am 14. August 1941 ermordet. Der Familienvater Gajowniczek kam frei. Maximilian Kolbe wurde 1982 von Papst Johannes Paul II als Märtyrer heiliggesprochen. Mutter Theresa ist ein anderes Beispiel unserer Zeit. Sie hat ihr Leben geopfert für die Armen von Kalkutta. Man kann auch nicht sagen, sie habe den Lohn der Gottesnähe gehabt. Ganz im Gegenteil: Mutter Theresa berichtete von den Finsternissen, den Ungewissheiten und der Trostlosigkeit ihres Glaubenslebens, denen sie über weite Strecken ihres Lebens ausgesetzt war. Paulus rühmt die Liebe als die höchste der Gaben im Hohelied der Liebe: »Wenn ich in Sprachen von Menschen und von Engeln redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.« 41 Der letzte Vers dieses Liedes lautet: »jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei – das Größte aber von ihnen ist die Liebe.« 42
41 42
1. Brief an die Korinther Kap. 13,1. Das ganze Hohelied reicht von 1 bis 13. 1. Brief an die Korinther, Kap. 13, 13.
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7 Sterben und Tod
Wir begannen unsere »Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie« mit der Frage: Wer sind wir? Wie kommen wir ins Dasein? Wir sahen, dass wir von der Befruchtung an Personen sind, obwohl wir unsere geistigen Fähigkeiten erst noch über mehrere Jahre entwickeln müssen. Beim letzten Baustein geht es jetzt um die Frage, wie unser aufblühendes Leben zu einem Ende kommt, wie wir mit diesem Ende umgehen und ob es überhaupt ein endgültiges Ende ist. Es geht also um das Sterben als dem letzten Akt des Lebens, und um den Tod. Im ersten Teil werde ich über die medizinisch-biologischen Aspekte berichten, im zweiten Teil über unser lebensweltlich-philosophisches Verhältnis zu Sterben und Tod.
7.1 Medizinisch-biologische Aspekte 7.1.1 Morphogenetischer Zelltod Zu den verblüffendsten und zugleich wichtigsten Entdeckungen der Entwicklungsbiologie gehört die Erkenntnis, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. Ohne den Tod auf zellulärer Ebene kann sich die Gestalt der Lebewesen, und damit auch des Menschen, nicht herausbilden. Dieser Vorgang wird morphogenetischer Zelltod genannt, weil der Zelltod einen wichtigen Beitrag leistet, damit die Morphe oder Gestalt überhaupt entstehen kann. Besonders auffällig ist der Formwandel bei der Metamorphose von Insekten und Amphibien. Metamorphose heißt Änderung der Gestalt während der Entwicklung. Diese Änderung kann eine volle Umstrukturierung bedeuten. Bei den Insekten 1 verwirklichen die LarDer hier gemeinte Typ der Metamorphose bei Insekten wird Holometabolie genannt. Siehe Wehner/Gehring, Zoologie, 211.
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ven eine ganz andere Lebensform als die adulten Tiere (Imagines), die wir als Fliegen, Bienen, Schmetterlinge oder Käfer kennen. Die Umkonstruktion erfolgt im Puppenstadium, das Wochen, Monate oder gar Jahre dauern kann. Während der Metamorphose zerfallen die meisten Organe der Larve und werden entfernt oder phagozytiert. Die Anlagen der Adultformen hingegen differenzieren sich. Bei der Metamorphose der Amphibien findet der Übergang vom Wasser- zum Landleben statt. Die Kaulquappe ist Fischen wesentlich ähnlicher als der Adultform von Amphibien. Bei der Metamorphose werden die für den adulten Frosch typischen Organe wie Gliedmaßen und Lungen neu gebildet. Die Organe der Kaulquappe wie Kiemen, Schwanz und Seitenlinie werden ab- oder umgebaut. 2 Diese Umstrukturierung ist nur über den Zelltod möglich. Obwohl Insekten und Amphibien vor der Metamorphose eine andere Lebensform verwirklichen als nach der Metamorphose, bleiben sie doch dasselbe biologische Individuum gemäß den Kriterien, die wir im Kapitel über »Person und Bewusstsein« formuliert haben. Sie bleiben mit sich diachron identisch. Für die Herausbildung von Fingern und Zehen von Säugetieren und Vögeln spielt der Zelltod ebenfalls eine entscheidende Rolle. Zuerst entstehen eine Hand- und eine Fußplatte. In diesen Platten entwickeln sich Finger- bzw. Zehenstrahlen. Das Gewebe zwischen diesen Strahlen wird dann durch Zelltod eliminiert. Dies geschieht in unterschiedlicher Weise je nach Spezies. So wird beim Huhn das Gewebe zwischen den Zehenstrahlen vollständig abgebaut. Bei der Ente wird es nur verdünnt; zwischen den Zehen bleiben die Schwimmhäute. 3 In der Entwicklung des Menschen gibt es ebenfalls zahlreiche Umstrukturierungen, die nur im Zusammenhang mit dem programmierten Zelltod (Apoptose) möglich und verstehbar sind. Die Umstrukturierungen bedeuten freilich nicht, dass die frühere Form sinnlos war. Die frühere Form war vielmehr den zu der Zeit vorhandenen Bedürfnissen angepasst. Wenn nun neue Bedürfnisse und Funktionen auftauchen, z. B. im Zusammenhang mit der Entwicklung von Organen, dann passt sich die Gesamtstruktur des Körpers diesen Bedürfnissen an. 4 Besonders augenfällig wird das bei der Entwicklung 2 3 4
Wehner/Gehring, Zoologie, 213. Gilbert, Biology, 770, Figure 23.22. Beginnen wir bei einem jedem von uns bekannten Beispiel. Unsere Knochen können
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Medizinisch-biologische Aspekte
der Gefäße. Bevor die Endform der großen Körperschlagader, der Aorta, entsteht, gibt es zahlreiche Umbauten. Die Venen passen sich jeweils dem neuen Bedarf an, wie etwa der Entstehung und Vergrößerung von Muskeln in den Gliedmaßen. Im Nervensystem gibt es ebenfalls solche Anpassungsvorgänge. Bei der Ausbildung des neuronalen Netzwerks sind viele Aufgaben zu lösen. Nehmen wir als Beispiel die Verbindung der Netzhaut (Retina) mit dem Zwischenhirn, dem Mittelhirn (Tectum opticum, Colliculus superior) und der visuellen Hirnrinde. Die Retina ist kein peripheres Organ, sondern ein Teil des Gehirns. Die Ganglienzellen der Retina entstehen unabhängig von dem Hirngebiet, mit dem sie später Verbindung aufnehmen. Sie entwickeln dann einen Fortsatz, ein Axon, das zu dem Zielgebiet hin wächst und mit den Neuronen im Zielgebiet synaptische Kontakte ausbildet. Wie aber ist es möglich, dass Millionen von Ganglienzellen, deren Axone zuerst weite Strecken überwinden müssen, sich so mit den Neuronen des Zielgebietes verbinden, dass eine topologisch geordnete Abbildung entsteht, d. h. dass benachbarte Zellen in der Retina auf benachbarte Zellen im Zielgebiet projizieren? Das ist eine komplexe Frage, die noch nicht in allen Details beantwortet werden kann. Der Zelltod spielt aber dabei eine entscheidende Rolle. In der Retina werden Ganglienzellen im Überschuss gebildet. Wenn die Axone dieser Zellen das Zielgebiet erreichen und versuchen, Synapsen zu bilden, dann kommt es zu einem dramatischen Wettbewerb. Die Verlierer dieses Wettkampfs gehen zu Grunde. Im Endergebnis führt dies zu einer drastischen Reduktion der Gesamtzahl der Ganglienzellen. Beim Hühnerembryo beträgt die Reduktion etwa 40 %. Durch den Zelltod werden also zwei Systeme funktionell aufeinander angepasst, die Retina und das Zielgebiet der retinalen Ganglienzellen. 5
7.1.2 Altern (Biogerontologie) Wenn nicht besondere Ereignisse wie Unfälle, Krieg, Naturkatastrophen, letale Erkrankungen unser Leben vorzeitig beenden, dann folnur wachsen und sich den wechselnden Belastungen anpassen, wenn ständig Material durch die Osteoklasten abgebaut und in den Zuwachszonen durch Osteoblasten wieder angebaut wird. 5 Rager, Projection.
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gen auf die Embryonalentwicklung und das Heranwachsen nach der Geburt die Phasen der Reife und des Alterns. Was ist Altern biologisch gesehen? Über den Alterungsprozess gibt es bislang nur Hypothesen, vielleicht auch Theorien, aber noch keine Gewissheit. Ich möchte hier die zwei wichtigsten Theorien kurz darstellen, die Telomertheorie und die Theorie der freien Radikale. 6 Telomertheorie 1965 entdeckte der Zellbiologe Leonard Hayflick, dass sich menschliche Zellen in Zellkulturen nur etwa 50-mal teilen können. Danach gehen diese Zellen in einen Ruhezustand ohne Teilung über. Anschließend gehen sie langsam zugrunde. Diese Grenze von etwa 50 Teilungen wird seither als Hayflick-Limite bezeichnet. Ein möglicher Grund für diese Grenze ist der Telomer-Mechanismus. 7 Telomere sind die Endstrukturen der Chromosomen. Sie enthalten keine Information, die direkt in Genprodukte umgeschrieben wird, erfüllen aber wichtige strukturelle Aufgaben wie etwa den Schutz der Enden der Chromosomen. In der Synthese-Phase (S-Phase) des Zellzyklus wird die DNA durch die DNA-Polymerase verdoppelt. Die DNA-Polymerase kann aber die Enden der Chromosomen nicht vollständig kopieren. Deshalb gehen an den Endstücken, den Telomeren, bei jeder Zellteilung gewisse Sequenzbereiche verloren. 8 Nun gibt es aber ein Enzym, die Telomerase, das die fehlenden Enden ergänzen kann. Allerdings wird die Telomerase in der Regel nur während der Embryonalentwicklung und in den Keimzellen aktiviert. Bei Erwachsenen ist sie inaktiv. Daraus ergibt sich, dass nur in den Keimzellen die DNA vollständig repliziert wird, während in den somatischen Zellen die DNA-Enden (Telomere) bei jeder Teilung etwas verkürzt werden. Möglicherweise ist die fortlaufende Verkürzung der Telomere durchaus sinnvoll, weil sie einen gewissen Schutz vor ungebremster Zellteilung bieten könnte, wie sie beim Krebs vorliegt. Andererseits hat man große Hoffnungen in die Telomerase gesetzt. Wenn man sie auch in den somatischen Zellen aktivieren könnte,
Weitere Theorien werden dargestellt in Bengtson/Schaie, Aging, 81–150; Dichgans, Altern. 7 Behl/Moosmann, Mechanismen des Alterns, 12; Knell/Weber, Menschliches Leben, 69. 8 Behl/Moosmann, Mechanismen des Alterns, 17. 6
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dann hätte man vielleicht einen Schlüssel zur Unsterblichkeit. 9 Allerdings musste man schnell erkennen, dass die Aktivierung dieses Enzyms in Zellen, die eigentlich keine Telomeraseaktivität zeigen sollten, auch zur Tumorentstehung beitragen kann. »Darüber hinaus zeigten Mäuse, denen die Telomerase mit gentechnologischen Mitteln vollständig entfernt wurde, auch nach vielen Generationen keine beschleunigte Alterung.« 10 Mit diesen Befunden wurden die Hoffnungen auf die Anti-Aging Wirkung der Telomerase wieder stark gedämpft. Dass die Telomeraseaktivität aber weiterhin als wichtig eingestuft wird, zeigt die Verleihung des Nobelpreises für Physiologie 2009 an Elizabeth H. Blackburn, Carol W. Greider und Jack W. Szostak. Theorie der freien Radikale Heute tritt die Theorie der freien Radikale zur Erklärung des Alterns mehr und mehr in den Vordergrund. Sie geht auf Denham Harman zurück, der bereits um 1950 vermutet hat, dass die freien Radikale eine wichtige Rolle beim Alterungsprozess spielen. Diese Theorie blieb trotz leichter Modifikationen bis heute als eine der plausibelsten Theorien des Alterungsprozesses erhalten. Bei der Atmung der Zelle, die sich vor allem in den Mitochondrien abspielt, entstehen sogenannte »reaktive Sauerstoffspezies« oder ROS (reactive oxygen species). Zu den ROS gehören auch »gewisse freie Radikale, das sind Moleküle oder Atome, die ein ungepaartes Elektron enthalten«, 11 was ihnen eine hohe Reaktivität verleiht. Freie Radikale versuchen sich zu stabilisieren, indem sie Elektronen von anderen Molekülen an sich reißen und dadurch diese Moleküle schädigen oder sogar zerstören. Wenn diese hochreaktiven Radikale nicht rechtzeitig beseitigt und damit die Zellen entgiftet werden, dann richten sie erheblichen oxidativen Schaden an allen Biomolekülen der Zellen an. Wenn Zellen immer wieder von solchen freien Radikalen überflutet werden, spricht man vom oxidativen Stress. Beim oxidativen Stress wird das Gleichgewicht zwischen Bildung und Abbau in Richtung einer höheren Konzentration der freien Radikale verschoben. 12 Die freien RadiKnell/Weber, Menschliches Leben, 69–70. Behl/Moosmann, Mechanismen des Alterns, 17. 11 Knell/Weber, Menschliches Leben, 70. 12 Behl/Moosmann, Mechanismen des Alterns, 22. 9
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kale entstehen bevorzugt an der inneren Membran der Mitochondrien, schädigen damit die Mitochondrien selbst, wodurch noch mehr freie Radikale entstehen, ein Teufelskreis. 13 Die physiologischen Entgiftungssysteme der Zelle, nämlich molekulare Antioxidantien wie etwa Vitamin C und E, werden überfordert. Der oxidative Stress führt zu strukturellen und funktionellen Veränderungen der zellulären Moleküle. Daraus resultieren Fehlfunktionen der Zellen. Häufen sich innerhalb eines Organs diese Funktionsausfälle, kommt es allmählich zu einem Organversagen, »das dann nach und nach alle Organe betrifft (Multimorbidität) und den Prozess des Alterns charakterisiert. … Für eine ganze Reihe von altersbegleitenden neurodegenerativen Erkrankungen wird heute eine besondere und vielleicht kausale Bedeutung des oxidativen Stresses in der Pathogenese angenommen: Beispiele sind die Alzheimer-Krankheit, die Parkinson-Krankheit sowie die Amyotrophe Lateralsklerose.« 14 Möglichkeiten der Reparatur und der Stabilisierung des Genoms Zellen verfügen über »molekulare Kontrolleure des Zellzyklus und damit indirekt auch der Bildung der richtigen Proteine zur rechten Zeit und am rechten Platz.« 15 Die beiden wichtigsten Kontrolleure sind das Retinoblastomprotein (Rb) und das Protein p53. Wenn diese Proteine intakt sind, verhindern sie die Tumorentwicklung (Rb als Tumorsuppressor) und regulieren die zelleigene DNA-Reparaturmaschinerie (p53). Die Reparaturenzyme im Zellkern, die ihrerseits wiederum u. a. durch p53 reguliert werden, sind in der Lage, geschädigte oder strukturell veränderte DNA zu reparieren oder zu ersetzen. Seit kurzem gibt es auch konkrete Beispiele für Proteine, »die zumindest in Modellorganismen eine erhöhte Stabilität des Genoms bewirken können und damit eine Verlängerung der Lebensspanne dieses Organismus auslösen.« 16 Dazu gehören auch die Proteine der Sir2-Familie (Sirtuine, beim Menschen als SIRT-1 nachgewiesen 17). Es ist bekannt, dass eine verminderte Zufuhr von Kalorien (ka-
13 14 15 16 17
Knell/Weber, Menschliches Leben, 71. Behl/Moosmann, Mechanismen des Alterns, 27–28. Ebd., 15. Ebd., 18. Dichgans, Altern, 41.
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lorische Restriktion) sich lebensverlängernd auf den Organismus auswirkt. Dadurch werden der Energieumsatz in der Zelle und der Sauerstoffverbrauch in den Mitochondrien vermindert. Als Folge davon verringert sich auch die Menge von Regulatorproteinen, welche die Aktivität von Sir2 blockieren. Das Sir2-Protein wird dann besonders aktiv. »Die Sir2-Proteinfamilie stellt somit eine molekulare Brücke zwischen dem Energiestoffwechsel einer Zelle, der Stabilität des Genoms und der Lebensspanne dar.« 18 Besonders interessant ist nun, dass es Substanzen gibt, die von außen auf die Zellen einwirken und Sir2 stimulieren können. Sie können möglicherweise ähnlich wirken wie die kalorische Restriktion. Zu diesen Substanzen gehört neben anderen Antioxidantien das Polyphenol Resveratrol, das in vielen Rotweinen vorhanden ist. Aus solchen Entdeckungen wächst die Hoffnung auf die Entwicklung von Pharmaka, die als »Anti-AgingPillen« dienen können. Ob diese Hoffnung wirklich gerechtfertigt ist, bleibt abzuwarten. Ist eine radikale Lebensverlängerung möglich? Je besser die Ursachen bekannt werden, die zum Altern der Zellen und der Organe führen, desto wahrscheinlicher wird es, dass mit der Zeit auch Therapien entwickelt werden, die den Alterungsprozess hinausschieben. Heute wird als natürliche Lebensgrenze ein Alter von etwa 120 Jahren angesehen. Schon jetzt können wir beobachten, dass die Menschen im Durchschnitt ein immer höheres Lebensalter erreichen und sich damit der Altersgrenze von 120 Jahren annähern. Das führt zu der sogenannten Rektangularisierung der Alterskurve. 19 Sieht man von den Unglücksfällen und anderen gewaltsamen Todesfällen ab, dann können irgendwann im Idealfall alle Menschen die Altersgrenze von 120 Jahren erreichen. Die Alterskurve gleicht dann nicht mehr einer Pyramide, sondern einem Rechteck, deshalb Rektangularisierung. Zugleich bleiben viele Menschen, welche die Grenze von 65 Jahren überschritten haben, fit und aktiv, könnten also durchaus weiterhin ihrer Arbeit nachgehen. Dieser Sachverhalt wirft grundlegende Fragen zur Pensionierung und zur Finanzierung des Alters auf. Behl/Moosmann, Mechanismen des Alterns, 18. Rager, Medizinische Anthropologie, 101; Willi/Heim, Psychosoziale Medizin, 256 f.
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Darüber hinaus wird heute auch über eine radikale Lebensverlängerung diskutiert. 20 Damit meint man eine allgemeine Verlängerung des Lebens auf 150 Jahre oder sogar auf mehrere hundert Jahre. Niemand kann jedoch bis jetzt folgende Fragen beantworten: Ist eine radikale Lebensverlängerung überhaupt möglich? Ist sie wünschenswert? In welchem physischen Zustand werden sich die Menschen befinden, wenn ihr Leben so verlängert wird? Ist eine solche Lebensverlängerung überhaupt finanzierbar?
7.1.3 Nahtoderfahrungen Nicht immer nähern wir uns dem Tod über den normalen Alterungsprozess. Oft bringen uns Unfälle, schwere Erkrankungen und notwendig gewordene operative Eingriffe in Todesnähe. In solchen Grenzsituationen haben schon viele Menschen Erfahrungen gemacht, über die sie nach der vollen Rückkehr ins Leben berichteten. Diese Nahtoderfahrungen 21 stellen einen besonderen Bewusstseinszustand dar, der während eines drohenden oder wirklichen körperlichen Todes oder bei Todesangst auftritt. In den Berichten über die Nahtoderfahrungen kommen immer wieder folgende Inhalte vor: »Die außerkörperliche Erfahrung (out-of-body-experience), das Tunnelerlebnis, die Begegnung mit Verstorbenen, die Begegnung mit dem Licht, der Lebensrückblick und die Wahrnehmung einer Grenze oder Schranke.« 22 Bei der außerkörperlichen Erfahrung berichten die Betroffenen, dass sie ihren Körper verlassen haben und dennoch mit sich identisch bleiben, wahrnehmen können und bei klarem Bewusstsein sind. Sie können ihren Körper von außen beobachten, so z. B. bei Wiederbelebungsmaßnahmen im Operationssaal. Manche haben das Gefühl, einen neuen, spirituellen Leib zu besitzen. Das Tunnelerlebnis wurde schon von dem niederländischen Maler Hieronymus Bosch in einem eindrucksvollen Gemälde festge-
Hierzu Knell/Weber, Menschliches Leben, Kap. 2.6, 89–108 und das ganze Kapitel 3. 21 Eine Übersicht über Phänomene und Erklärungsversuche der Nahtoderfahrungen ist zu finden bei Goller, Nahtoderfahrungen; Goller, Gehirn. 22 Goller, Nahtoderfahrungen. 20
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halten. 23 Der Selige gelangt über einen langen Tunnel zu einem beglückenden, alles überstrahlenden Licht. In den Nahtodberichten vermittelt dieses Licht Liebe und Wärme und zieht den Sterbenden unwiderstehlich an. Oft treffen die Sterbenden auf ihrem Weg Verwandte und Freunde. Andere blicken in diesem Moment auf ihr ganzes Leben zurück. Diese Lebensrückschau erfolgt wie in einem einzigen Augenblick. Manche erfahren die Todesnähe als eine Art Grenze; wenn diese Grenze überschritten wird, können sie nicht mehr in ihren Körper zurückkehren. Wie kann man diese Nahtoderfahrungen verstehen? Wodurch werden sie hervorgerufen? Was bedeuten sie? Was sich auf der neuronalen Ebene dabei ereignet, ist weitgehend unbekannt. So gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, sondern nur Hypothesen, welche die Nahtoderfahrungen verständlich zu machen versuchen. Die naturalistische Hypothese meint, dass diese Erfahrungen Folge eines partiellen Ausfalls von Hirnfunktionen seien. Die Ausschüttung von bestimmten Substanzen wie Endorphine, Ketamin oder Dimethyltryptamin könnte ebenfalls dazu beitragen. Als alternative Hypothese führt Pim van Lommel die Erfahrung eines »erweiterten« oder »endlosen« Bewusstseins ein. 24 Das endlose Bewusstsein habe unabhängig von unserem Körper schon vor unserer Geburt bestanden und werde auch nach unserem Tod weiterexistieren. In den Nahtoderfahrungen partizipiere man an diesem Bewusstsein. Um alle Aspekte einer Nahtoderfahrung erklären zu können, sei ein universales menschliches Bewusstsein zu postulieren, das über das individuelle Bewusstsein hinausgeht. »Alles ist in einer grenzenlosen Einheit miteinander verbunden. Das ›ewige Jetzt‹ oder der ›zeitlose Moment‹ ist Bewusstsein.« 25 Insgesamt bleiben in den Berichten über Nahtoderfahrungen zu viele Fragen offen, als dass man eine allgemein akzeptable Deutung der Phänomene vornehmen könnte. Zur Beantwortung dieser Fragen wären systematische Untersuchungen mit strengen Kontrollen nötig. Bei der Untersuchung der außerkörperlichen Erfahrung wurden in dieser Richtung schon wichtige Schritte unternommen. Von der
Hieronymus Bosch »Der Aufstieg (die Auffahrt) des Seligen« (The Ascent of the Blessed), entstanden nach 1490. 24 Pim van Lommel, Bewusstsein. Pim van Lommel sieht sich mit dieser Aussage in der Nähe zur Philosophie von David Chalmers, Mind, und Alva Noë, Gehirn. 25 Lommel, Bewusstsein, 326. 23
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Arbeitsgruppe von Olaf Blanke wurde festgestellt, dass außerkörperliche Erfahrungen einhergehen mit starken Störungen des Vestibularissystems (Gleichgewichtssystems). Diese führen zu einer abnormalen Kodierung der Information über die Wirkung der Schwerkraft und damit über die Position des Körpers – insbesondere des Kopfes – im Raum. Die vestibulären Afferenzen haben dichte Verbindungen zu einem Bereich der Hirnrinde, der seitlich am temporo-parietalen Übergang (temporo-parietal junction, TPJ) liegt. In diese TPJ projizieren auch Fasern aus dem somato-sensorischen Kortex und aus anderen sensorischen Gebieten. Es handelt sich also um ein multisensorisches Gebiet, in welchem verschiedene Sinneseingänge integriert werden. Deshalb ist das TPJ involviert in die Erfahrung des eigenen Körpers. Bei Läsionen dieses Gebietes ist das Körpergefühl gestört. Umgekehrt lassen sich durch Stimulation in diesem Gebiet vestibuläre Illusionen und außerkörperliche Erfahrungen auslösen. Aber auch künstliche Stimulationen des vestibulären Systems durch kalorische oder galvanische 26 Reize können eine Dissoziation zwischen der subjektiv wahrgenommenen Körperposition und der tatsächlichen physischen Position des Körpers hervorrufen. 27 Trotz der partiellen Aufklärung der neuronalen Vorgänge bei Nahtoderfahrungen bleiben die genuinen Bewusstseinsvorgänge, die von den Betroffenen berichtet wurden, unerklärt bestehen. Goller meint dazu, »dass das Bewusstsein sich nicht auf materielle Prozesse zurückführen lässt … Nahtoderfahrungen sind wie alle Bewusstseinsphänomene nur dem erlebenden Subjekt in der Ersten-PersonPerspektive unmittelbar zugänglich. In der Dritten-Person-Perspektive, der Perspektive der wissenschaftlichen Beobachtung von außen, kommen diese Phänomene überhaupt nicht vor. Die beiden Perspektiven lassen sich nicht aufeinander reduzieren.« 28
7.1.4 Der Prozess des Sterbens Auch wenn eine bedeutende Lebensverlängerung einmal möglich sein sollte, so bleibt doch gewiss, dass wir alle sterben müssen. Der Prozess des Alterns hat uns schon nahe an das Sterben herangeführt. 26 27 28
Die Reizung erfolgt mit Gleichstrompulsen. Lopez/Blanke, Self-consciousness. Goller, Nahtoderfahrung.
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Wie wir sahen, führt das Altern zum Zelltod und zum Funktionsausfall der Organe. Wird dieser Funktionsausfall so gravierend, dass die Mechanismen der Selbststeuerung des Körpers nicht mehr in der Lage sind, die Einheit des biologischen Individuums aufrecht zu erhalten, dann zerfällt diese Einheit in ihre Bestandteile. Das HerzKreislauf-System kommt zum Erliegen, Hormon- und Immunregulation fallen aus, die zentrale Steuerung durch das Gehirn funktioniert nicht mehr. Der Stoffwechsel in Zellen und Organen hört auf. Ist der Tod eingetreten, dann entstehen etwa eine halbe Stunde später erste Totenflecken auf der Haut. Die Körperkerntemperatur sinkt ab. Nach etwa zwei Stunden setzt die Totenstarre ein. So ist das Sterben der Prozess des Übergangs vom Leben zum Tod.
7.1.5 Klinische Definition des Todes Da das Sterben ein prozesshafter Übergang vom Leben zum Tod ist, lässt sich eine genaue Grenze zwischen Leben und Tod kaum festlegen. Je weiter man von diesem Übergang entfernt ist, desto klarer scheint der Unterschied zwischen Leben und Tod, je mehr man sich der Grenze nähert, umso unschärfer wird sie. Trotz der verbleibenden Unsicherheit muss ein Zeitpunkt für den Eintritt des Todes festgelegt werden. Im Normalfall wird der Tod durch einen Arzt oder eine Ärztin nach den ärztlichen Regeln festgestellt. Hier gilt als Hauptkriterium der irreversible kardiopulmonale Stillstand. Wenn aber eine Organspende vorgesehen ist, dann soll das Kriterium des Hirntodes gelten. Hirntod meint den Tod des ganzen Gehirns, also von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Als Todeszeit wird die Uhrzeit festgehalten, zu der die Diagnose und Dokumentation des Hirntodes abgeschlossen ist. Der wissenschaftliche Beirat der Deutschen Bundesärztekammer hat dafür »Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes« 29 ausgearbeitet. Die klinischen Kriterien, die zum Beweis des Hirntodes zwingend nachgewiesen sein müssen, sind: (1) Verlust des Bewusstseins (Koma), (2) Verlust der Reflexe,
Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Dritte Fortschreibung 1997 mit Ergänzungen gemäß Transplantationsgesetz (TPG), veröffentlicht in Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 30, 24. Juli 1998, A-1861.
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die über den Hirnstamm laufen 30 und (3) Verlust der Spontanatmung (Apnoe). Ob die Ausfälle irreversibel sind, muss nach einer festgelegten Wartezeit erneut unter Anwendung der klinischen Kriterien festgestellt werden oder es müssen folgende apparative Kriterien gegeben sein: (1) Das Elektroenzephalogramm (EEG) soll während mindestens dreißig Minuten die Nulllinie anzeigen als Beweis dafür, dass keine Hirnaktivität mehr besteht. 31 (2) Es muss der Nachweis erbracht werden, dass in allen das Gehirn versorgenden Gefäßen kein Blutfluss mehr vorhanden ist. 32 (3) Akustische und somatosensible evozierte Potenziale lassen sich nicht mehr nachweisen. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat ebenfalls medizinisch-ethische Richtlinien zur »Feststellung des Todes in Bezug auf Organtransplantationen« erarbeitet, die seit dem 1. 09. 2011 gelten und wegen des Transplantationsgesetzes die Richtlinien von 2005 ersetzen. Dort sind die klinischen Kriterien dieselben wie in den Richtlinien der Bundesärztekammer. Die apparativen Kriterien beschränken sich auf Verfahren, welche die »Abwesenheit der zerebralen Durchblutung« nachweisen können. Die Ableitung des EEG wird nicht erwähnt. Der deutsche Gesetzgeber nimmt mit der Festlegung des Hirntodes keine Definition des Todes vor, sondern setzt den Gehirntod lediglich als notwendige Bedingung für die Organentnahme fest. In der Rechtspraxis wird der Gesamthirntod jedoch auch als Todesdefinition verstanden. Das schweizerische Transplantationsgesetz hingegen definiert den Tod des Menschen als den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen. 33
Hierzu gehören weite lichtstarre Pupillen, fehlende Schmerzreaktion im Trigeminusbereich, fehlender Lidschlussreflex, fehlender Schluck- und Hustenreflex. 31 Es gibt Beispiele von Menschen, die während 6 Stunden bei einer Körperkerntemperatur von 13 Grad gelebt haben und in dieser Zeit keine Herztätigkeit hatten. Vermutlich hätte auch das EEG eine Nulllinie gezeigt. Diese Menschen wurden reanimiert. Alle hochgradigen Hypothermie-Opfer leiden an Folgeschäden, die aber nach einigen Monaten oder Jahren wieder verschwinden. (Fernsehsendung »Puls« vom 11. 01. 2010 im 1. Programm des Schweizer Fernsehens.) 32 Dafür wird die Perfusionsszintigraphie oder Doppler-Sonographie angewendet. 33 Im »Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen« vom 8. 10. 2004 (Stand 1. 07. 2007, SR810.21) heißt es im Artikel 9, Abs. 1: »Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Hirns einschließlich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind.« 30
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Lebensweltlich-philosophischer Zugang
7.2 Lebensweltlich-philosophischer Zugang Der Überblick über die biologisch-medizinischen Sachverhalte zu Altern, Sterben und Tod befriedigt zunächst unser Wissensbedürfnis über wesentliche Gegebenheiten unseres Daseins. Im Kapitel über Evolution haben wir uns daran erinnert, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, welches weiß, dass sein Leben mit dem Tod enden wird. 34 Was machen wir nun aus diesem Wissen über Altern, Sterben und Tod? Richten wir unser Leben darauf ein? Machen wir uns immer wieder bewusst, dass unser Dasein kontingent ist, ein »Sein zum Tode« 35? Viele Menschen geraten in eine Lebens- und Sinnkrise, wenn sie durch eine schwere, unheilbare Krankheit aus dem blühenden Leben gerissen und mit dem nahenden Tod konfrontiert werden. Andere stürzen in die Sinnleere, wenn das Pensionsalter beginnt, sie ihren gewohnten Tätigkeiten nicht mehr nachgehen können und sich mit den Beschwerden des Alters auseinandersetzen müssen.
7.2.1 Vorbereitung auf Sterben und Tod (Ars moriendi) Dass man sich während des ganzen Lebens auf das Sterben vorbereiten sollte, darauf haben Philosophen seit der Antike Wert gelegt. Sie entwickelten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, die sogenannte Kunst des Sterbens, die Ars moriendi. Platon und die Platoniker verstanden darunter, »die Seele von den Sinnen und den Begierden zu befreien und sie in sich selber zu sammeln, um die reine Erkenntnis der Ideen einzuüben und sich so auf das künftige Leben vorzubereiten«. 36 Seneca, einer der Hauptvertreter der Stoiker, ruft in seinen »Briefen an Lucilius« zur Vorbereitung auf das Sterben, zur »meditatio mortis«, auf. 37 Im ganzen Leben solle man das Sterben lernen. 38 Bei Epiktet, einem Philosophen der späten Stoa, lesen wir: »Wenn auf einer Seefahrt das Schiff vor Anker geht und du aussteigst, um Wasser zu holen, magst du unterwegs eine Muschel oder eine Meerzwiebel auflesen, dein Aufmerken muss aber auf das Schiff Siehe Kapitel »Evolution«. Heidegger, Sein und Zeit, § 45, 234. 36 Artikel »Sterben lernen« in Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, 129. 37 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, 26, 8. 38 Tota vita discendum est mori«. Seneca, De brevitate vitae 7, 3. 34 35
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Sterben und Tod
gerichtet sein, und du musst dich ständig umwenden, ob nicht etwa der Steuermann rufe. Und wenn er ruft, musst du alles liegenlassen … So auch im Leben. Ist dir hier statt Muschel oder Zwiebel Weib oder Kind gegeben, so soll dir’s nicht verwehrt sein. Ruft aber der Steuermann, dann laufe zum Schiff, lass alles los und sieh nicht zurück. Und bist du alt, geh überhaupt nicht mehr weit vom Schiff, auf dass du nicht ausbleibst, wenn er ruft.« 39 Die Ars moriendi zieht sich durch die europäische Philosophiegeschichte. Im 20. Jahrhundert setzt eine radikale Technik- und Fortschrittskritik ein. Das Sterbenlernen wird wieder verstärkt zum Thema. »Angesichts der Verlagerung des Sterbens aus der familiären Umgebung in die Krankenhäuser und der daraus erwachsenden Unzufriedenheit mit der Behandlung Schwerstkranker und Sterbender durch die moderne Medizin« wurde die Hospizbewegung ins Leben gerufen, »welche die ganzheitliche Betreuung Sterbenskranker in ihrer gewohnten Umgebung durch ein mobiles Krankenteam propagiert. … Unter dem Titel ›Death Education‹ wird das alte Thema des Sterbenlernens v. a. in den USA zu einem eigenen Forschungsgebiet«, das »neben der Frage der Einstellung … zu Tod und Todesangst, Themen wie Selbstmord, Trauer, soziale, familiäre und psychosoziale Aspekte des Sterbens« vor allem auch Fragen des Umgangs mit Sterbenden umfasst. 40
7.2.2 Medizin um jeden Preis? Besonders schwierig ist die Frage zu beantworten, wieviel Medizin noch einzusetzen ist, wenn ein Mensch auf seinen Tod zugeht, wenn die Prognose keine Heilung von einer tödlichen Krankheit mehr erwarten lässt. Hier sind viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Der Arzt darf nichts unterlassen, was das Leben des Patienten in entscheidender Weise verbessern, evtl. sogar verlängern könnte. Auf der anderen Seite stehen Fragen wie: Ist das so verlängerte Leben wirklich ein Gewinn für den Patienten? Will der Patient es überhaupt? Wachsen damit nicht die Kosten ins Unermessliche? Die Frage, wieviel an Medizin in einer scheinbar aussichtslosen Lage noch einzusetzen ist, kann letztlich nicht allgemein, sondern nur je individuell für den Be39 40
Epiktet, Encheiridion, Kap. 7. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 132.
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troffenen beantwortet werden. Klar ist jedoch, dass der Patient selbst zu entscheiden hat, ob er die ihm angebotenen Eingriffe überhaupt noch will. Peter Noll entschied sich gegen eine Operation, als er die Diagnose Blasenkrebs erfahren hatte. Er wollte die letzte Wegstrecke gehen in der bewussten Absicht, sich mit der Erfahrung des Sterbenmüssens auseinanderzusetzen. Er wollte die Erfahrung weitergeben an die Lebenden, die ja auch sterben müssen. »Meine Erfahrung war die: wir leben das Leben besser, wenn wir es so leben, wie es ist, nämlich befristet. Dann spielt auch die Dauer der Frist kaum eine Rolle, da alles sich an der Ewigkeit misst.« 41
7.2.3 Beihilfe zum Suizid oder Palliativmedizin? Die Menschen werden immer älter. Damit nimmt auch der Anteil der an Demenz Erkrankten zu. Chronische Erkrankungen werden häufiger, weil sie Dank der Errungenschaften der modernen Medizin nicht so schnell zum Tod führen wie in früheren Zeiten. Diese Situation verursacht immer höhere Krankheits- und Pflegekosten. Die Patienten empfinden ihr Kranksein und ihre Hilfsbedürftigkeit in doppeltem Sinne als Belastung, für sich selber und für die Angehörigen, denen sie meinen zur Last zu fallen. In etlichen Fällen ist der Druck von Seiten der Umwelt nicht nur Befürchtung, sondern Realität, wenn die Angehörigen auf die Erbschaft warten, die zeitliche Belastung durch die Pflege zu groß wird und die Kosten für die Behandlung das Vermögen zu ruinieren drohen. Dann fühlen sich manche der Alten und Kranken gedrängt, endlich aus dem Leben zu scheiden. Der Suizid wird unter diesen Umständen als eine echte Möglichkeit gesehen, die unerfreuliche Situation zu beenden. Schließlich gibt es ja Organisationen, die den Hilfesuchenden versprechen, sie in sogenannt »humaner« Weise aus dem Leben zu begleiten. Die Entwicklung ist schon so weit fortgeschritten, dass die Öffentlichkeit versucht, die Ärzte zur Hilfe beim Suizid zu verpflichten, ganz ähnlich, wie das beim Schwangerschaftsabbruch geschehen ist. Bisher haben sich die Ärzte noch wehren können mit dem Hinweis, dass es ihre Aufgabe ist, Krankheiten zu heilen, Leiden zu lindern und das Leben
41
Noll, Diktate, Umschlagkladde.
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zu erhalten. Die Hilfe beim Suizid wäre ein grober Verstoß gegen ihr Standesethos und den Hippokratischen Eid. Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation ist die moderne Palliativmedizin, welche die Kranken weitgehend von Schmerzen befreien und ihnen in der Endphase ihres Lebens erträgliche Lebensbedingungen schaffen kann. Es gibt schon viele Beispiele von Menschen, die sich bei Suizidhilfeorganisationen eingeschrieben hatten, auf Grund ihrer Erfahrungen mit der Palliative Care aber eine Möglichkeit sahen, in Würde auf den Tod hin zu leben. In der Folge sind sie vom assistierten Suizid wieder zurückgetreten. Ein ganz wichtiger Faktor in solchen Fällen ist auch die Einstellung der Angehörigen. Wenn die Angehörigen den Leidenden Achtung und eine echte Gemeinschaft entgegenbringen, dann werden die Patienten gar nicht erst auf Suizidgedanken kommen.
7.2.4 Einstimmung in das Sterben Auf dem Weg des Sterbens bis zum Tod gehen die Menschen, sofern sie es noch bewusst vollziehen können, durch wichtige Etappen des Wandels und der Reifung. Elisabeth Kübler-Ross hat diese Entwicklung bei vielen Sterbenden untersucht und in fünf Phasen eingeteilt. 42 Diese Phasen werden allerdings nicht immer in der gleichen Reihenfolge durchschritten und beinhalten deshalb keine strenge Abfolge. 1. Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen und Isolierung. 2. Phase: Zorn. Warum ausgerechnet ich? 3. Phase: Verhandeln um Vorteile und Annehmlichkeiten, um Verlängerung der Lebensspanne. Vielleicht geschieht noch ein Wunder. 4. Phase: Depression. Der Patient beginnt sich auf den Verlust aller geliebten Dinge vorzubereiten. Abschiedsschmerz, Trauer, Regelung der Verhältnisse, Testament. 5. Phase: Zustimmung und Ergebenheit in den Tod. Monika Renz bestätigt in ihrem Buch »Zeugnisse Sterbender« diese Phasen im Großen und Ganzen. Das für sie eindrücklichste Erlebnis an vielen Sterbebetten war die »spirituelle Öffnung, die … Erfahrung von so etwas wie Gottnähe, einem regelrecht überhandnehmenden 42
Kübler-Ross, Interviews. Nach Rager, Medizinische Anthropologie, 101.
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Frieden! Ungeachtet aller vorausgehenden Angst oder Verweigerung scheint hier nochmals etwas einzubrechen oder sich auszubreiten, das sich offensichtlich menschlicher Einmischung entzieht.« 43
7.2.5 Tod und Unsterblichkeit Diese Erfahrungen bringen uns zu der Frage: Ist mit dem Tod alles aus oder gibt es ein Leben nach dem Tod? Sind wir Menschen unsterblich? Sicher ist, dass die Philosophie einen exakten Beweis weder für noch gegen die Unsterblichkeit liefern kann. Dementsprechend gehen auch die Meinungen im Verlaufe der Geschichte der Philosophie weit auseinander. Wir können diese Meinungen, etwas vereinfachend, in drei Hauptgruppen gliedern: 1. Der Tod als Ende des individuellen Lebens. 2. Der Tod als Übergang zu einer anderen Daseinsform, die unsterblich, aber nicht personal ist. 3. Der Tod als Übergang zu einer anderen Daseinsform, in der die unsterbliche Person weiterlebt. Der Tod als Ende Demokrit und die Atomisten waren der Meinung, dass Welt und Seele aus Atomen bestehen. Beim Tod zerfallen die durch Atome zufällig zusammengesetzten Lebewesen unwiderruflich. Epikur und die Epikureer übernahmen diese Meinung. Dass mit dem Tod das Leben der Individuen radikal beendet wird, ist seither die Auffassung von Materialisten und Naturalisten. Wenn man einmal festgelegt hat, dass nur das als wirklich gelten kann, was den Methoden der Naturwissenschaften zugänglich ist, dann gibt es kein Leben nach dem Tod. Dass das Leben mit dem Tod endet, ist aber auch der Inhalt der Ganztod-These des protestantischen Theologen Karl Barth, die sich in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. »Der Mensch wird danach in seinem Sterben ganz und gar vom Tod erfasst; der Tod ist annihilatio, es gibt nichts an oder im Menschen, was den Tod überdauert, keine unsterbliche Seele, nichts.« 44 Vom Menschen bleibe »weder ein göttliches noch ein geschöpfliches Etwas, sondern ein Tun und Verhalten des Schöpfers seinem Geschöpf 43 44
Renz, Zeugnisse, 203. Greshake/Lohfink, Naherwartung, 102.
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gegenüber«. 45 Da es gemäß dieser These keinen menschlichen Identitätsträger zwischen irdischem und ewigem Leben gibt, wäre eine Neuschöpfung in der Auferweckung zu fordern. Heute rücken immer mehr protestantische Theologen von dieser These ab. Der Begriff der Unsterblichkeit wird wieder gebraucht, muss aber »vom Verständnis der spiritistischen Ewigkeit einer sich reinkarnierenden Seele abgegrenzt werden.« 46 Nicht-personale Unsterblichkeit Eine andere Denkrichtung in der Geschichte der Philosophie lässt zwar die Unsterblichkeit gelten – diese bedeutet aber nicht das Fortleben der individuellen Person. Vielmehr wird die Person im Tod von ihren Grenzen befreit und geht in ein größeres Allgemeines oder in das Ganze der Wirklichkeit auf. Diese Auffassung wird in den verschiedenen Formen des Pantheismus vertreten. Für die Philosophen des Deutschen Idealismus ist der Tod »der Übergang von einer begrenzten, partikularen Gestalt zu einer umfassenden Daseinsform und damit Versöhnung des Absoluten mit sich selbst. J. G. Fichte nennt ihn Geburt und sichtbare Erscheinung eines zweiten, höheren Lebens … ; F. W. J. Schelling spricht von … einem Übergang des Menschen vom Naturreich in das wahre Sein, und für G. W. F. Hegel ist ›der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit … das Hervorgehen des Geistes‹, der ›Übergang der Individualität in die Allgemeinheit‹.« 47 Die Prozessphilosophie (Prozesstheologie) von Alfred North Whitehead wird meist so gedeutet, dass sie eine kosmologische objektive Unsterblichkeit vertritt. Tobias Müller kommt jedoch zu dem Ergebnis, »dass es durchaus möglich ist, den theologischen Inhalt Ebd., 103. Greshake zitiert hier aus der Kirchlichen Dogmatik III, 2, 428 von Karl Barth. 46 Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11 (2001), 290. 47 »Notwendig ist der Tod, weil nur durch ihn der Widerspruch zwischen der besonderen Erscheinungsform und der allgemeinen Idee des Lebens gelöst werden kann. Worin man diesen Widerspruch auch sehen mag, ob im Gegensatz von Sein und Werden (Fichte) …, von Zufälligem und Wesentlichem (Schelling) … oder in der Unangemessenheit von Einzelnem und Allgemeinem (Hegel) … – die Grundform bleibt dieselbe: Indem der Einzelne in seiner Endlichkeit und Partikularität verharrt, entfernt er sich von der universalen Natur (F. X. von Baader) …, verliert den Zusammenhang mit dem Leben und verfällt dem Tod.« Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10 (1998), 1233. 45
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der Unsterblichkeit der Person in dem Rahmen der Prozessphilosophie zu denken, ohne dass damit gesagt ist, dass sich dieser Inhalt aus der Whiteheadschen Konzeption ergibt oder schon angedacht ist.« 48 Personale Unsterblichkeit Was uns Menschen jedoch am meisten interessiert, ist die Frage, ob wir als Personen nach dem Tod weiterleben. Platon bejaht dies. Für ihn ist der Tod die Trennung der Seele vom Körper. 49 Der Körper ist das Sterbliche, die Seele das Unsterbliche am Menschen. 50 Die Seele ist deshalb unsterblich, weil sie in notwendiger Verbindung mit der Idee des Lebens steht. Die Seele ist unser eigentliches Sein. Für Sokrates führt der Tod zur Befreiung der Seele. 51 Der Philosoph lebt auf diesen Tod hin, weil er zur Befreiung der Seele führt. »Dennoch darf er sich nicht das Leben nehmen, denn er steht gleichsam auf einem Wachtposten, von dem er sich nicht einfach entfernen darf.« 52 Im Gegensatz zu Platon ist für Thomas von Aquin die Geistseele keine volle Substanz, sie ist aber Form des Leibes und als solche unzerstörbar. 53 Wenn nun im Tod der Leib zerfällt und nur die Geistseele weiterlebt, wie ist dann das Verhältnis zum Leib zu denken? Diese Frage wurde im Laufe der Geschichte unterschiedlich beantwortet. Für Thomas und die klassische Scholastik bleibt die Seele auch nach dem Tod in einer wesentlichen Beziehung zu ihrem Körper. Karl Rahner und andere Autoren vertreten die Meinung, dass die Geistseele des Menschen auch nach dem Tod und vor der Auferstehung eine Beziehung zur Materie der ganzen körperlichen Welt beibehält. Sie existiert in einem »offenen Weltbezug«. 54 Kant geht einen anderen Weg. Wie wir bereits im Kapitel über Wissen und Wahrheit gesehen haben, ist die Freiheit der »Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen … Vernunft«. 55 Sie erweist ihre Wirklichkeit durch das moralische Gesetz. Die Begriffe Gott und Unsterblichkeit bekommen durch die Freiheit 48 49 50 51 52 53 54 55
Müller, Whiteheads, 294. Platon, Gorgias, 524 b2–4. Platon, Phaidon, 106 e3–6. Platon, Phaidon, 63 d Sokrates in Platon, Phaidon, 62b. Runggaldier, Seele. Rahner, Todes. Kant, KpV, A 4.
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Bestand und objektive Realität. Dass sie wirklich sind, sind Postulate der praktischen Vernunft. Kant versteht unter einem Postulat »einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz«, der »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt«. 56 Da der Wille das höchste Gut in der Welt bewirken will, dies aber zu keinem Zeitpunkt vollkommen leisten kann, fordert Kant einen unendlichen Progress, damit der Wille dem moralischen Gesetz vollkommen angemessen werden kann. Der unendliche Progress ist aber »nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz … möglich. Also ist das höchste Gut, praktisch, nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich.« 57 War für Kant die Freiheit der Ausgangspunkt für das Postulat der Unsterblichkeit, so ist es für einige Philosophen der Gegenwart (Gabriel Marcel, Emmanuel Lévinas) die Person und das personale Verhältnis zum Anderen. Die entscheidende Erfahrung ist die Liebe, die den Anderen um seiner selbst willen anerkennt und sich für ihn engagiert. Diese Liebe kann dem Tod des Anderen nicht zustimmen. Aus dieser Sicht formuliert Gabriel Marcel den vielzitierten Satz: »Jemanden lieben heißt sagen: Du wirst nicht sterben.« 58 Dostojewski lässt den Starez Sossima in »Die Brüder Karamasow« sagen: »Versuchen Sie, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben; in dem Maße, in dem es Ihnen gelingen wird zu lieben, werden Sie sich auch von der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit Ihrer Seele überzeugen.« 59
7.2.6 Der christliche Glaube an die Auferstehung Ein Grundpfeiler des christlichen Glaubens ist die Verkündigung der Auferstehung. Im ersten Korintherbrief schreibt Paulus: »Gäbe es keine Auferstehung der Toten, so wäre auch Christus nicht auferstanden; wäre aber Christus nicht auferstanden, so wäre ja unsere Verkündigung hinfällig, und hinfällig auch euer Glaube.« (1 Kor. 15, 13–14). Die Auferstehung meint nicht ein Leben ähnlich dem, Ebd., A 220. Ebd., A 219–220. 58 Gabriel Marcel (Le mort de demain, in: Trois Pièces, Paris 1921, 161), zitiert nach Splett, Freiheitserfahrung, 227. Siehe auch Marcel, Gegenwart. 59 Dostojewski, Karamasow, Teil 1, 2. Buch, 4. Kapitel, 93. Übersetzung von Swetlana Geier. Zum Tod als dialogische Situation siehe Splett, Tod. 56 57
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wie wir es jetzt auf der Erde führen. Die Offenbarung (Apokalypse) spricht von »einem neuen Himmel und einer neuen Erde« (Off 21,1). »Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu« (Off 21, 5). 60
7.3 Leben und Sterben Wir sagten bereits, dass die menschliche Vernunft keinen exakten Beweis für oder gegen ein Leben nach dem Tod erbringen kann. Sicher ist aber, dass der Tod auf uns zukommen wird. Wir sollten also so leben, dass wir würdig sterben können. Ich schließe mit einem Zitat von Franz Böckle. »Wir können die Frage nach dem eigenen Tod und was danach sein wird unterdrücken; aber wir können nicht vermeiden, was unaufhaltsam auf uns zukommt. Haben wir den Mut, die Frage auszuhalten, dann entbirgt sich uns mehr und mehr auch die Antwort, die im Grunde der Frage schon verborgen liegt. Wir hoffen, dass unsere Liebe, unser Suchen nach Geborgenheit einmal Erfüllung finden möge, und beachten zu wenig, dass alle Liebe, jedes Gefühl von Glück und Geborgenheit, das wir verschenken oder empfangen, bereits ein Hinüberragen … der Unsterblichkeit in unsere Zeit darstellt, dass Ewigkeit in uns selbst anbricht. Unsterblichkeit ist nicht zuerst Gegenstand unseres Wissens, sondern das Ausmaß und der Gehalt unserer Liebe. Je mehr die Liebe in uns wächst, desto mehr bricht … Ewigkeit in uns selbst an. Nur an der Oberfläche unseres Bewusstseins scheuen wir den Tod; jedoch der Grund unseres Daseins begehrt nach dem Ende des Unvollendeten, damit Vollendung sei.« 61
»In der katholischen Theologie wurde ein neuer Ansatz mit dem Modell Auferstehung im Tod (Greshake) entwickelt. Danach gelangt der Mensch mit verklärter Leiblichkeit (welche schon im gegenwärtigen Leben verinnerlicht wird) vor Gott. Die hieran anknüpfende Diskussion geht nicht nur um eine Unsterblichkeit der Seele, sondern auch um den Begriff von Materie und Vollendung des Menschen in seiner Ganzheit.« (Kasper, Theologie und Kirche, Band 10, 2001, 435). Siehe Greshake/Lohfink, Naherwartung, 113–120. 61 Böckle, Menschenwürdig, 318. 60
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Abkürzungen
De ver.: Thomas von Aquin, De veritate. Discours: René Descartes, Discours de la méthode, 1637. GMS: Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. KpV: Kant, Kritik der praktischen Vernunft. KrV: Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nik. Ethik: Aristoteles, Nikomachische Ethik. S.th.: Thomas von Aquin, Summa theologica. VS (manchmal auch mit DK abgekürzt): Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch (Berlin 1903), I–III, Hg. Walther Kranz, Berlin 61951/1952 (seither unveränderte Nachdrucke). Die Zahl nach VS bedeutet den Vorsokratiker (28 für Parmenides). B steht für Fragmente, A für Zeugnisse.
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Personenregister
Albertus Magnus 72 Anaximander 91, 94 Aristoteles 28, 29, 59, 68, 89, 145, 163, 164 Augustinus 50, 71, 89, 163 Aurobindo, Sri 52, 113 Averroes 72 Avicenna 72 Barth Karl 183 Bauer Joachim 103 Beckermann Ansgar 39 Bennett Maxwell 133 Böckle Franz 187 Boethius 27, 29, 62 Brentano Franz 39 Buber Martin 163
Fichte Johann Gottlieb 145, 184 Gingerich Owen 119 Goller Hans 176 Habermas Jürgen 58, 142, 155 Hacker Peter 133 Haeckel Ernst 92, 102 Haken Manfred 99 Harman Denham 171 Hayflick Leonard 170 Haynes John-Dylan 124 Hebb Donald 79 Hegel Georg W. F. 145, 184 Heraklit 65, 89 Herrmann Christoph 126 Homer 65 Huxley Julian 95
Chalmers David 37 Damasio Antonio 43, 47, 48, 61 Darwin Charles 92, 94, 98, 158 Dawkins Richard 93, 103, 158 Demokrit 183 Dennett Daniel 54, 93 Descartes 51 Dobzhansky Theodosius 95, 116 Dostojewski 186 Duns Scotus Johannes 145 Eccles John 58 Edelman Gerald 43, 48 Eigen Manfred 99 Epiktet 179 Epikur 183
James William 37 Jonas Hans 152 Kant 32, 38, 40, 51, 74, 89, 137, 138, 141, 153, 185 Keil Geert 137 Kolbe Maximilian 165 Kopernikus 63 Kornhuber Hans 122 Krings Hermann 163 Kripke 34 Kübler-Ross Elisabeth 182 La Mettrie Julien Offray de la 131 Leibniz Gottfried Wilhelm 135 Lévinas Emmanuel 186 Libet Benjamin 122
201 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Personenregister Lommel Pim van 175
Rizzolatti Giacomo 160 Roth Gerhard 56, 142, 147
Marcel Gabriel 186 Markowitsch Hans 130 Mayr Ernst 95 Metzinger Thomas 54 Monod Jacques 96 Müller Tobias 184 Mutter Theresa 166
Schelling Friedrich Wilhelm 145, 184 Schuster Peter 98, 117 Seneca 179 Singer Peter 33 Singer Wolf 55, 130 Strawson Peter F. 34, 52
Nagel Thomas 38 Neuweiler Gerhard 100, 103 Newman John Henry 92 Noll Peter 181
Teilhard de Chardin 114 Thomas von Aquin 29, 72, 89, 146, 165, 185 Treisman Anne 83
Parfit Derek 34 Parmenides 65, 89 Pauen Michael 142 Paulus 166, 186 Platon 66, 89, 162, 179, 185 Putnam Hilary 34
Weingartner Paul 97 Weismann August 95 Weizsäcker Viktor von 47 Whitehead Alfred North 184 Wilhelm von Moerbeke 72 Wuketits Franz 102
Rahner Karl 118, 185 Renz Monika 182
Zenker Wolfgang 108
202 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
Sachregister
Abbildtheorie 73 Abbildungen 41 –, erster Ordnung 43 –, zweiter Ordnung 43 Absolute 67 Abstammungslehre 92, 115 Agape 165 Agenskausalität 137 Ahaṃkāra 52 Aktualität 61 Alltagspsychologie 50 Altern 170 Alterungsprozess 170 Anamnesis 66 Ānanda 53 Anschauungsformen, a priori 75 Anthropologie 121 Anti-Aging 173 Antioxidantien 173 Antrieb, naturhafter 145 Apoptose 168 Apperzeption, transzendentale Einheit der 38, 75 Äquivalenzrelation 133 ARAS 45 Ars moriendi 179 Assoziationsfasern 82 Assoziationskortex 86 Ästhetik, transzendentale 75 Ātman 53 Auferstehung 186 Aufmerksamkeit 83 Autopoiese 24 Begriffe 68 Bereitschaftspotential 122
–, lateralisiertes 124 –, symmetrisches 123 Bewusstsein 37, 40, 42 –, elementare Form des 43 –, empirisches 38 –, erweitertes 46 –, erweitertes oder endloses 175 –, höheres 44 –, phänomenales 38, 133 –, psychologisches 38 –, reflexes 37 –, transzendentales 38 Bild 42 –, sinnliches 73 Biosphäre 115 Blastozyste 23 BOLD Signal 125, 134 Brahman 113 Brückenbegriffe 21 Brückentheorien 55 Buddhismus 53 Bündeltheorie 57 Carnegie Stadien 31 Conditio humana 164 Death Education 180 Deduktion, transzendentale 75 Definition des Todes 177 Design, intelligent 94 Determinismus 139 –, neuronaler 140 Deutscher Idealismus 184 Dialog, embryo-maternaler 25 Differenz –, epistemische 144
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Sachregister –, methodische 119 Dopamin 159 Dualismus 58, 149 Eigenschaften, emergente 100 Einbildungskraft 73 Einheit des Selbstbewusstseins, transzendentale 75 Embryo 22, 35, 154 Embryoblasten 23 Emergenz 100 Emotion 161 Empathie 161 Empfindungen 39 Enduranten 61 Ereignisontologie 34 Erkenntnistheorie 68 Erklärungslücke 144 Ethik 70 Eudaimonie 164 Evolution 113, 114 –, kulturelle 110, 115 –, natürliche 110 Evolutionstheorie 94 Exterozeptoren 42 Fehlschluss, mereologischer 133 Fernethik 152 Fertilisation 35, 36 Form 61 –, intelligible 69 –, sinnliche 69 Fortschritt 100 Freie Radikale 171 Freiheit 32, 76, 109, 120, 136, 163 –, endliche 145, 149 –, sittliche 137 Ganztod-These 183 Gedächtnis 44 –, autobiographisches 44, 47, 108 Gefühle 162 Geist 39, 40 Gen –, egoistisches 103, 158 –, kooperatives 158 Gesetz, moralisches 138
Gesinnungsethik 152 Gestaltkreis 47 Gewohnheit 127 Gradualismus 31, 95 Gründe 137 Gut, höchstes 165 Handlungsfreiheit 137 Hayflick-Limite 170 Hebbsche Synapsen 79 Hemisphärenasymmetrie 105 Hilfe beim Suizid 181 Hirnrinde 45 Hirntod 177 Höhlengleichnis 67 Homöostase 61 Homunculus 54 Hormone 159 Hospizbewegung 180 Hot spots 97 Hydranenzephalie 41 Hylemorphismus 61, 149 Hyperzyklen, katalytische 99 Ich 50, 57 –, empirisches 51 –, transzendentales 51 Ich-Bewusstsein –, begleitendes 50 –, reflexes 50 Ich-Du-Wir Beziehungen 87 Ideen 67 Ideenwelt 67 Identität 133 –, diachrone 26 Illusion 54, 121, 128 Imperativ –, kategorischer 153 –, moralischer 138 In-vitro Fertilisation 155 Individuum 22 –, biologisches 168 Inkompatibilismus 140 Instanz, zentrale 54 Intelligenz –, kognitive 106 –, motorische 106
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Sachregister Intentionalität 39, 137 Interozeptoren 42 Interpretation 84 Intersubjektivität 139, 163 Involution 113 Kausalbegriff 141 Kausale Geschlossenheit 141 Kehlkopf 108 Kern-Selbst 47, 48 Klone 155 Kluft, epistemische 58, 136 Kommissurenfasern 82 Kommunikation 139 Kompaktion 23 Kompatibilismus 142 Komplexität 101, 104 Kontingenz 88 Kontinuanten 35, 61 Kontinuität 26 Konvergenz-Divergenz 48 Korrelate, neuronale 40, 49, 57, 134 Kreationismus 93 Kunst des Sterbens 179 Laplace-Determinismus 139 Lebensende 155 Lebensprinzip 60 Lebenssinn 164 Lernen 128 Liebe 53, 157, 162, 187 Logik, transzendentale 75 Logos 65 M(aterie)-Prädikate 34 Manipulationen am Genom 155 Materie 61 Meditation 89 Mem 110 Memetik 111 Memtheorie 111 Metamorphose 167 Metaphysik 69 Mind 39 Monismus 148 Mutation 96
Nahethik 152 Nahtoderfahrungen 174 Natur, rationale 29 Natur des Menschen 149 Naturalismus, reduktionistischer 20, 121, 128 Naturforschung 72 Neodarwinismus 95 Nervensystem 27 Neuronenverbände, dynamische 79 Nidation 36 Noosphäre 115 Noumenon 76 Ontologie 69, 134 Östrogene 159 Oszillieren 82 Oxidativer Stress 171 Oxytocin 160 P(erson)-Prädikate 34 Pädophilie 130 Palliativmedizin 155 Pantheismus 184 Person 27, 51, 52, 62 Personale Unsterblichkeit 185 Persönlichkeit, moralische 32 Perspektive der dritten Person 131 Perspektive der ersten Person 131 Petitio principii 132 Phänomenon 76 Phasenübergang 55 Philosophie –, dialogische 163 –, erste 69 Planck-Zeit 91 Politik 70 Postulat 138 Potentialität 60 –, aktive und passive 29 Präferenzutilitarismus 33 Präimplantationsdiagnostik 155 Primitivstreifen 36 Propriozeptoren 42 Protein p53 172 Proto-Selbst 47, 48 Prozessphilosophie 184
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Sachregister Psychologie, evolutionäre 157 Punkt Omega 115 Purusa 52 Qualia 38 Qualitäten, phänomenale 38 Raum –, extrapersonaler 86 –, peripersonaler 86 –, personaler 86 Reduktionismus 55, 87 Reizschwelle 81 Rektangularisierung 173 Religion 110 Repräsentation 105 Repräsentationen 43 Reprogrammieren 154 Respektmodell 31 Restriktion, kalorische 173 Retinoblastomprotein 172 Rückkopplung 42 Saccidānanda 113 Schleifen 42 Schlussfolgerung 68 Scholastik 74 Schöpfungsbericht 116 Schöpfungstheologie 116 Schrift 109 Schuld 109 Schuldfähigkeit 147 Schuldparadoxon 147 Seele 50, 52, 59 –, animalische 60 –, rationale 60 –, vegetative 60 Selbst 44, 46, 47, 50 –, konzeptuelles 48 –, selbst-bewusstes 48 Selbst-Bewusstsein, elementares 44 Selbsterkenntnis 20 Selbstorganisation 99 Selbsttranszendenz 118 Selektionstheorie 95 Sexualität 157 Sirtuine 172
Sollensanspruch 139 Sorge 153 Sortal 61 Soziobiologie 157 Spiegelneurone 161 Spontaneität 145 Sprache 44, 107, 109 Stammzellen –, adulte 154 –, embryonale 154 –, induzierte pluripotente 154 –, pluripotente 154 Sterben 176, 182 Strebevermögen, vernunftbegabtes 145 Subjekt 44 –, sittliches 32, 137 Substanz, individuelle 27 Suizid 181 –, assistierter 155 Supermind 114 Synthetische Theorie 96 System, sich selbst organisierendes 35 Systeme –, biologische 24 –, sich selbst organisierende 24 Telomerase 170 Telomere 170 Telomertheorie 170 Testosteron 159 Thalamus 45 Theorie der freien Radikale 171 Totipotenz 36 Transformation, supramentale 114 Transzendental 75 Transzendental-Philosophie 75 Transzendenz 88 Trophoblasten 23 Tunnelerlebnis 174 Urknall 91, 119 Urteil 68, 73 Vasopressin 160 Verantwortung 109, 150, 152
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Sachregister Verantwortungsbereiche 153 Verantwortungsethik 152 Verbindungen, horizontale 82 Verbundenheit 159 Verfahren, normatives 30 Verliebtheit 159 Vernetzung 105 Vernunft –, praktische 76 –, reine 76 Verstand –, aktiver 73 –, erleidender 69 –, tätiger 69 Vestibularissystem 176 Vorsokratiker 65, 90 Wahrheit 63 –, logische 66
–, ontologische 66 Welterfahrung 88 Wende, kopernikanische 74 Wiedererkennungsnetzwerk 83 Willensfreiheit 137, 149 Wirkursachen 119 Würde 33, 37, 137, 155 Zeitbewusstsein 108 Zelltod –, morphogenetischer 167 –, programmierter 168 Zielursachen 119 Zirkelschluss 132 Zona pellucida 23 Zufall 97 Zustände, intentionale 39 Zwillingsbildung 36 Zygote 23, 35
207 https://doi.org/10.5771/9783495813836 .
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