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German Pages [418]
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus
MEMO Memoria and Remembrance Practices
Vol. 2 Series Editors Arnoud-Jan Bijsterveld (The Netherlands) Douglas Brine (U.S.A.) Truus van Bueren (The Netherlands) Samuel K. Cohn (Great Britain) Julian Gardner (Great Britain) Dieter Geuenich (Germany) Caroline Horch (Germany) Jens Lieven (Germany) Meta Niederkorn (Austria) Thomas Schilp (Germany) Corine Schleif (U.S.A.)
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle (28. August 1939 – 16. Mai 2016)
Herausgegeben von Thomas Schilp und Caroline Horch
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Cover illustration: ‘in resurrectionem vitae’ – Presentation of the Resurrection in the so-called ‘Perikopenbuch Heinrichs II.’, Reichenau (1007–12), Bayerische Staatsbibliothek München, CLM 4452, fol. 201v. Back cover illustration: Pienza, view from the cloister of the Franciscan monastery to Palazzo Piccolomini (right), bishop’s palace (in the background), Palazzo Ammanati-Piccolomini (left), in the background the tower of Palazzo pubblico (Foto: Annemarie Stauffer).
© 2019, Brepols Publishers n.v., Turnhout, Belgium. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise without the prior permission of the publisher. D/2019/0095/142 ISBN 978-2-503-58438-6 eISBN 978-2-503-58439-3 DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117159 ISSN 2565-8565 eISSN 2565-9804 Printed on acid-free paper.
Inhalt
Tabula memoriae
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Vorwort der Herausgeber
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Preface by the Editors
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Avant-propos des directeurs de publication
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Otto Gerhard Oexle (1939–2016) Jean-Claude Schmitt 31 Die ‘Historischen Kulturwissenschaften’ als selbstreflexive Disziplin. Begegnungen mit Otto Gerhard Oexle und seinem Werk Wilfried Reininghaus 39 Stiftung und Memoria. Ein mediävistisches Forschungskonzept in universalhistorischer Perspektive Michael Borgolte 75 Textile Schenkungen und memoriales Handeln im frühen und hohen Mittelalter Annemarie Stauffer 93 Wo ist die ‘mittelalterliche Ständegesellschaft’? Eine Suche bei Malern und Steinmetzen des Jüngsten Gerichts Bernhard Jussen 119 Stadtbau und Memoria. Das memoriale Pienza (1459–64) und Sabbioneta (1554–91) Thomas Schilp 139 ‘Abendland-Substanz-Literatur’? Über Ernst Robert Curtius, sein größtes Werk und die Mittelalterbilder des 20. Jahrhunderts Frank Rexroth 249 Wahrheit und Objektivität in der historischen Erkenntnis. Problemlinien mit offenen Enden Klaus Ries 267
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i n h a lt
Das Gesetz vom Sinai als literarisches Motiv Walter Pauly 287 Creating Commemorative Communities: Remembering the Holocaust in the 21st-Century Netherlands Arnoud-Jan Bijsterveld 315 Verzeichnis der Veröffentlichungen von Otto Gerhard Oexle
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Bibliographie 367 Curricula Vitae
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Farbtafeln 405
Tabula memoriae Im Gedenken an Otto Gerhard Oexle schreiben sich ein: Deutsches Historisches Institut, Paris Institut d’histoire de l’art et de muséologie, Université de Neuchâtel Arnold Angenendt, Münster Christina Antenhofer, Salzburg Julia Arnautova, Moskau Christoph Auffarth, Bremen Oliver Auge, Kiel Edeltraud und Manfred Balzer, Münster Heide Barmeyer, Hannover Ingrid Baumgärtner, Kassel Matthias Becher, Bonn Arnoud-Jan Bijsterveld, Tilburg Birgitte Bøggild Johannsen, Lyngby Michail A. Bojcov, Moskau Michael Borgolte, Berlin Douglas Brine, San Antonio (Texas) Truus van Bueren, Utrecht Bernd Carqué, Heidelberg Samuel K. Cohn, Glasgow Katharina Colberg, Hannover Hans-Jürgen Derda und Karin Dzionara-Derda, Hildesheim Charlotte Dikken, Ede Gerhard Dilcher, Frankfurt am Main Wolfgang Drews, Münster Arnold Esch, Rom Helmut Flachenecker, Würzburg Etienne François, Paris und Berlin Anna Lena Frank, Hamburg Eckhard Freise, Wuppertal Patrick J. Geary, Princeton (New Jersey) Julian Gardner, Warwick Dieter Geuenich, Freiburg im Breisgau Werner Hechberger, Koblenz Heinz-Dieter Heimann, Potsdam/Paderborn Knut Görich, München Sabine von Heusinger, Köln Andrea von Hülsen-Esch, Düsseldorf Franz-Josef Jakobi, Münster Peter Johanek, Münster Mayke de Jong, Utrecht Bernhard Jussen, Frankfurt am Main Caroline Horch, Halle an der Saale Thomas Kaufmann, Göttingen
Hagen Keller, Münster Matthias Theodor Kloft, Limburg Jürgen Kocka, Berlin Klaus Krüger, Berlin Nathalie Kruppa, Göttingen Dorothea Kuhrau-Neumärker und Eberhard Kuhrau, Köln Klaus Lange, Ennepetal Karin Lentge, Goslar Jörn Leonhard, Freiburg Ursula Lieb, Göttingen Jens Lieven, Bochum Laurenz Lütteken, Zürich Christina Lutter, Wien Christoph Markschies, Berlin Michael Matthiesen, Karlsruhe Vladimir I. Mazhuga, St. Petersburg Ulrich Meyer-Doerpinghaus, Bonn Jean-Marie Moeglin, Paris Marco Mostert, Utrecht Gisela Muschiol, Bonn Meta Niederkorn, Wien Klaus Oschema, Bochum/Paris Walter Pauly, Jena Klara Katharina Petzel, Dortmund Wilhelm Pohlkamp, Münster Nicole Danielle Pulichene, Cambridge (Massachusetts) Andreas Ranft, Halle an der Saale Wilfried Reininghaus, Bösensell Frank Rexroth, Göttingen Earl Jeffrey Richards, Wuppertal Klaus Ries, Jena Hedwig Röckelein, Göttingen Thomas Schilp, Bochum Uwe Schirmer, Jena Corine Schleif, Phoenix (Arizona) Bastian Schlüter, Berlin Jean-Claude Schmitt, Paris Sabine Schmolinsky, Erfurt Rüdiger Schnell, Basel/Tübingen Stefan Schweizer, Düsseldorf Rudolf Smend, Göttingen Annemarie Speetjens, Amsterdam Martial Staub, Sheffield Annemarie Stauffer, Köln Christoph Stiegemann, Paderborn Harry A. Tummers, Nijmegen Barbara Welzel, Dortmund Thomas Werner, Berlin Thomas Zotz, Freiburg im Breisgau
Vorwort der Herausgeber
‘Memoria – Erinnerungskultur – Historismus’, diese Begriffe erinnern an das weitgespannte und die Grenzen der Fachdisziplinen überschreitende wissenschaftliche Vermächtnis von Otto Gerhard Oexle (28. August 1939 – 16. Mai 2016). Der vorliegende Band soll seiner Person und seines Wirkens gedenken. Freunde und Kollegen haben darin Themen und Thesen, auch Anregungen von Oexle aufgegriffen – erweiternd, vertiefend und fortführend. Ausgehend von der Memorialforschung der Freiburger Schule hat Oexle während seiner frühen Lehrtätigkeit in Münster die Analyse mittelalterlicher Memoria zugleich intensiviert und ausgedehnt sowie ihr ein theoretisches Fundament verliehen. So hat er aus der Memorialforschung ein Exempel, wie er stets betonte, der sozialwissenschaftlich fundierten Historischen Kulturwissenschaften erarbeitet. Seine Untersuchungen haben uns die Erinnerungskultur der europäischen Gesellschaften im weitesten Sinne des Begriffs erschlossen. Zugleich beschäftigte er sich über den engeren Rahmen der Mediävistik hinausgehend seit der Mitte der 1980er Jahre intensiv mit epistemologischen Fragen der Geschichte und dem Historismus. Letzterem galt sein besonderes Interesse. Das Vorhaben dieses Gedenk-Buchs hat eine eigene Vergangenheit: Otto Gerhard Oexle hat es stets abgelehnt, dass ihm zu Ehren zu einem seiner runden Geburtstage eine Festschrift als ein akademischer Blumenstrauß oder ein Ehrenkolloquium gewidmet wurde. Sein Kommentar dazu war, die Zeit derartiger akademischer Ehrungen sei ebenso vorüber wie die Bildung wissenschaftlicher Schulen; der akademische Blumenstrauß in Gestalt einer Festschrift sei ein Zopf der Vergangenheit, dessen es nicht mehr bedürfe. Dennoch haben wir Otto Gerhard Oexle 2014 gefragt, ob wir ihm nicht zum 80. Geburtstag eine Festschrift widmen könnten, einen Sammelband, der von ihm ausgegangene Forschungsimpulse aufgreifen und von ihm formulierte Forschungsansätze weiterführen könnte. Unsere Frage verdankte sich auch dem Eindruck, dass Oexle in seinem Ringen um die Erforschung der Vergangenheit in der Form einer kritischen Kulturwissenschaft gar nicht so alleine war, wie er sich fühlte, denn der Einfluss seiner wissenschaftlichen Werke war in den internationalen Diskussionen offenkundig wesentlich intensiver, als er es selbst wahrnahm. Wie fast jeder große Wissenschaftler polarisierte Oexle zwar, schuf aber auch Gemeinschaften. Als einer der bedeutendsten Historiker seiner Generation und über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, hinterlässt Otto Gerhard Oexle, der von 1987 bis 2004 Direktor des Max-Planck-Instituts in Göttingen war, keine traditionsbildende Schule im akademischen Sinn, prägte jedoch gleichwohl künftige Historiker-Generationen.
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Bei einem der regelmäßigen Besuche in Berlin und nach einem Gang durch eine historische Ausstellung im Gropiusbau, wie stets begleitet von intensivem Gespräch, hat er dem Vorhaben einer Festschrift schließlich zugestimmt, freilich unter dem Vorbehalt mitsprechen zu können, wer sich an einer solchen Publikation beteiligt. In mehreren Gesprächen, es war damals – so dachten wir – ja noch ausreichend Zeit, wurde ein Kreis der für das Vorhaben anzusprechenden Kolleginnen und Kollegen vereinbart. Die schwere Erkrankung mit ihren belastenden Begleitumständen und schließlich der Tod von Otto Gerhard Oexle haben uns die Zeit genommen, in Ruhe abwägend und differenziert über die Festschrift zu sprechen. Er hat zum Ausdruck gebracht, wenn wir es wollten, so sollten wir nach seinem Tode doch einen Gedenkband zusammenstellen. Sein unbedingter Wunsch war und blieb, in jedem Falle den besprochenen Kreis von Kolleginnen und Kollegen um einen Beitrag für einen solchen Band zu bitten. Diesen Wunsch haben wir als Herausgeber respektiert; wir fühlten und wir fühlen uns an diese Vereinbarung mit Otto Gerhard Oexle gebunden. Allen Autoren und Autorinnen ist für ihre Mitwirkung an diesem Gedenkband herzlich zu danken. Bedauerlicherweise war es nicht allen der Angesprochenen möglich, dem Wunsch nach einem Beitrag nachzukommen: Schwere Erkrankung oder Arbeitsüberlastung haben leider die Teilnahme an diesem Gedenk-Projekt verhindert. Danken möchten wir auch Dr. Andrea Rzihacek, Wien, und Valentine Meunier, Berlin, für die fachkundige Übersetzung des Vorworts in das Englische und das Französische. Mehrere akademische Nachrufe sind publiziert worden,1 die in zum Teil sehr persönlichen Worten Leben und Werk Otto Gerhard Oexles würdigen und für die Nachwelt in Erinnerung halten. Oexles Wunsch, in diese Publikation keinen Nachruf aufzunehmen, haben wir nicht ganz entsprochen. Jean-Claude Schmitts Nachruf aus den Cahiers de civilisation mediévale würdigt die Person Otto Gerhard Oexle in besonderer Weise, indem er sowohl prägnant die Kernthesen seiner Arbeiten darlegt als auch seine Bedeutung in Frankreich erläutert. Deshalb erscheint dieser Nachruf hier in leicht überarbeiteter und ergänzter Fassung. Der von Oexle sehr geschätzte Walter Benjamin konstatierte im Hinblick auf die Einheit eines Lebens: ‘das wahre Maß des Lebens ist die Erinnerung’.2 Für Benjamin war Erinnerung eine ‘Schrift’, hervorgegangen aus der Transformation des Lebens, die rückwärts gelesen werden müsse und die so zur Selbstvergewisserung führe. Benjamin formulierte diesen Gedanken unter dem Eindruck des drohenden Krieges und sah in der Rückwärtsgewandtheit die Möglichkeit zur Flucht aus der Gegenwart. Der Gegenwart zu entkommen war freilich niemals die Intention im Schaffen Oexles, im Gegenteil, für ihn war ein klares Bewusstsein
1 Rexroth, ‘Nachruf: Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 464–71; Schmitt, ‘Otto Gerhard Oexle (1939– 2016)’, 211–16; Monnet, ‘Otto Gerhard Oexle, historien du Moyen Âge, de l’Europe et de l’histoire (1939–2016)’, 425–27; Jussen, ‘Otto Gerhard Oexle 28. August 1939–16. Mai 2016’, 8–9; Geary, ‘Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 421–25. 2 Benjamin, ‘Aufzeichnungen 1933–1939’, S. 529.
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der Standortgebundenheit konstitutiv für wissenschaftliche Arbeit gleich welcher Fachrichtung. Gleichwohl kann man auch im Hinblick auf ihn von der Erinnerung als maßgeblicher Größe sprechen. Wenn es mit dieser Gedenkschrift gelingt, die Memoria als Forschungsobjekt zu überführen in eine ganz spezielle Geschichte der Erinnerung, so wäre dies wunderbar. Zum Inhalt dieses Buchs: Jean-Claude Schmitt, französischer Kollege und Mitstreiter, würdigt in seinem Nachruf den akademischen Werdegang, die beruflichen Stationen und akademischen Auszeichnungen von Otto Gerhard Oexle. Er geht vor allem auf die Abhandlungen zum Historismus und auf die Entwicklung einer Historischen Kulturwissenschaft ein. Schmitt betont die Anknüpfung von Oexle an die deutsche Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte sowie in diesem Kontext die Reflexionen über die Entwicklungen der Geschichtswissenschaft und Mediävistik in Frankreich und in Deutschland seit Émile Durkheim und Marc Bloch sowie Georg Simmel und Max Weber. Oexle hat als Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte Forscher aus Großbritannien, Frankreich, Polen und Russland und darüber hinaus in Göttingen zusammengeführt und internationale Forschungsimpulse vermittelt. Ausführlich geht Schmitt auf die Bedeutung Oexles für das Verhältnis von französisch-deutscher Geschichtswissenschaft ein. Wilfried Reininghaus, Doktorand Oexles in dessen Münsteraner Zeit, beschreibt Wege Oexles zum Konzept der ‘Historischen Kulturwissenschaften’, indem er zunächst eigene biographisch-wissenschaftliche Bezugspunkte zu Oexle seit 1975/76 skizziert, um von hier aus zahlreichen Entwicklungslinien des Denkens von Oexle nachzuspüren. Reininghaus formuliert ‘Oexles Vermächtnis’ in zweifacher Hinsicht. Dieser propagierte erstens ein Programm der ‘Historischen Kulturwissenschaften’: Wissenschaft hat diachron und kulturvergleichend vorzugehen, muss alle Bereiche des Lebens, also auch Wirtschaft und Religion, Recht und Kunst, Politik, Gesellschaft und Musik erfassen und danach streben, alle diese Bereiche im transdisziplinären Diskurs zu vereinen. Oexle hat dieses Programm zweitens an Themenschwerpunkten exemplifiziert: mit der Erforschung der Memoria als grundlegendes Phänomen der vormodernen europäischen Gesellschaften, in seinen Überlegungen zu sozialen Gruppen, in seinen Ausführungen zu Armut und Arbeit und schließlich in seinen Auffassungen vom ‘historischen Material’, die den gängigen Quellenbegriff des Historikers gesprengt haben. Auch Michael Borgolte geht in seinem Beitrag von wissenschaftlich-biographischen Bezugspunkten aus. In Münster partizipierte er als studentische Hilfskraft an den Erweiterungen des Ansatzes der Memorialforschung durch Oexle, die sich Jahre später in dessen Abhandlung ‘Die Gegenwart der Toten’ (1983) niederschlug. Von diesen Weiterungen ausgehend hat Borgolte ‘Stiftung’ als einen wesentlichen Schwerpunkt seiner historischen Forschungen gefunden. In seinem Beitrag für diesen Band spürt Borgolte, in Konsequenz der von ihm geleiteten großen kulturvergleichenden Berliner Forschungsprojekte, dem Thema Stiftung (und Memoria) im Islam (und Vorgängerreligionen im Iran), in Byzanz,
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im Judentum, aber auch in Süd- und Ostasien nach. Hierbei wird evident, dass zwar alle bisher untersuchten Kulturen Stiftungen als Teil der Erinnerungskultur kennen, im strengen Wortsinne von ‘Memoria’ aber aufgrund der zugrunde liegenden Religionen nur in eingeschränktem Sinne oder in Asien überhaupt nicht gesprochen werden kann. Insofern habe die Forderung von Oexle, den Zusammenhang von Stiftung und Memoria kulturvergleichend zu analysieren, auf zum Teil uneinholbaren Voraussetzungen beruht. Oexles Forderung folgend, auch Sachzeugnisse als ‘historisches Material’ zu nutzen, und auf der Grundlage von mit ihm geführten Gesprächen, analysiert Annemarie Stauffer Dedikationsinschriften auf Textilien im Kontext von Bestattungen des frühen und hohen Mittelalters. Textilien gehören zu den wenigen materiellen Erzeugnissen, welche die Toten ins Grab begleiteten durften. Sie boten damit die Möglichkeit der direkten Interaktion eines Individuums mit einem Verstorbenen; dieser wurde durch die Nennung des Namens auf dem Textil als Mittler für das eigene Totengedenken eingesetzt. Durch solches Handeln verblieben die Namen unverändert in dieser privilegierten Position, die Perpetuierung der namentlichen Präsenz bei Gott war nicht mehr abhängig vom Handeln der Lebenden. Im Grab oder Sarg verblieb der Name nämlich fortwährend in der Nähe zu Gott und dem Heiligen. Eine solche Strategie unterscheidet sich von den üblichen Praktiken memorialen Handelns. Die Suche nach größtmöglicher Nähe zu einem Verstorbenen und damit zu Gott manifestiert sich auch in Tüchern mit individueller Namensnennung, die auf die Gräber gelegt wurden. Im Unterschied zur Praxis dieser Zeit werden in beiden Fällen Schenkungskontext und -intention deutlich kenntlich gemacht. Ausgehend vom sogenannten ‘Dreiständebild’ aus Johannes Lichtenbergers Pronosticatio von 1492 knüpft Bernhard Jussen an Überlegungen von Otto Gerhard Oexle zu den ‘Ständen’ als ‘Deutungsschemata sozialer Wirklichkeit’ an. Jussen hinterfragt diese Darstellung, die es als eine bildhafte Deutung des ‘Mittelalters’ bis in das Schulbuch sowie das akademische Lehrbuch unserer Tage geschafft hat. Bei der Suche nach weiteren Darstellungen der funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft stößt er nur auf eine Initiale des späten 13. Jahrhunderts und auf eine vierteilige Bilderzählung eines Traums oder einer Vision des englischen Königs Heinrich I., der im Schlaf in den ersten drei Bildsegmenten von je einem der Stände bedroht wird; im vierten Segment, in einem Boot auf stürmischer See, gelobt der König, seine Politik zu ändern. Dieses Bild des 12. Jahrhunderts wurde jüngst so montiert und gebessert, dass der Eindruck eines Dreierschemas der Gesellschaft entsteht! Er fragt sodann nach Darstellungen des Weltgerichts, in denen die Maler wie Steinmetze die Einteilung der Gesellschaft reflektierten, und diskutiert vor allem die Reichenauer Buchmalerei des beginnenden 11. Jahrhunderts sowie das Mosaik der Kathedrale in Torcello (um 1070) und die zeitgleiche Wandmalerei in Sant’Angelo in Formis (Capua). Die Deutung der Gesellschaft von Johannes Lichtenberger jedenfalls lässt sich in den Weltgerichten bis 1492 überhaupt nicht wiederfinden – im Gegenteil: diese berauben der Vorstellung die Selbstverständlichkeit. Jussen stellt erstmals ‘Jüngste Gerichte’ in den Diskurs zur ‘Überarbeitung des Deutungsmodells’ der funktionalen Dreiteilung.
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In seiner Abhandlung über Pienza und Sabbioneta geht Thomas Schilp mehreren Forschungsfragen nach: Enea Silvio Piccolomini erhob seinen Geburtsort nach seiner Wahl zum Papst Pius II. 1459 nicht nur rechtlich zur Stadt und zum Sitz eines neuen Bistums, sondern ließ am zentralen Platz neben Domkirche und Bischofspalast einen neuen Palazzo für sich und seine Familie sowie der Kommune einen Palazzo Pubblico nach toskanischem Vorbild erbauen. Gegen die bisherige Forschung vor allem von Kunst- und Architekturhistorikern, die Pienza als ideale Stadt oder gar als erste gebaute Stadtutopie der sogenannten Renaissance verstanden haben, gelingt in Anknüpfung an Überlegungen von Otto Gerhard Oexle der Nachweis, dass der Papst sich und seiner Familie ein memoriale errichtet hat. Entscheidende Intention des Papsthandelns beim Stadtbau ist die Erinnerung und das Gedenken seiner selbst wie seiner Familie; Pienza wurde als Ort der liturgischen Memoria mit profanisierenden Weiterungen dieses ‘totalen sozialen Phänomens’ der vormodernen europäischen Gesellschaften erbaut. Sabbioneta, ebenfalls von der bisherigen Forschung als Idealstadt klassifiziert, wurde von Vespasiano Gonzaga (*1531, †1594) erbaut. In habsburgischen Diensten durchlief er eine steile politische Karriere, in deren Verlauf die kleine Signoria Sabbioneta zur Markgrafschaft, zum Fürstentum und schließlich 1577 zum Herzogtum erhoben wurde; er baute den Ort seit 1554 zu einer modernen Festungs- und Residenzstadt in einem frühabsolutistischen Sinne aus. Die Stadt blieb ohne wesentliche Rechte der Selbstverwaltung, ja die Bürger waren Untertanen des Stadtherrn und mussten zum Umzug nach Sabbioneta gezwungen werden. Im Bewusstsein, für das Herzogtum Sabbioneta ohne männlichen Erben zu sein, rückte die Dimension des Totengedenkens für Vespasiano mehr und mehr in den Vordergrund: So wurde die frisch errichtete Kirche der Serviten, die auch als Hofkapelle fungierte, abgerissen, um mit einem neuen Zentralbau und Mausoleum einen Ort der Memoria und Erinnerung zu gewinnen. Die neue Stadt wurde zum Memorialort. Theoretisch reiht Schilp seine Überlegungen in die Kritik der noch immer gängigen Forschungsauffassung ein, nach der der Mensch angeblich nach eintausend Jahren der Barbarei und Unmündigkeit in der Renaissance zu sich selbst zurückfand. Damit stellt er die Periodisierung in die Epochen Mittelalter und Renaissance grundsätzlich in Frage. Frank Rexroth greift eine von Otto Gerhard Oexle 2011 in der Einleitung zum Sammelband seiner Aufsätze geäußerte Reminiszenz auf: In dessen ersten Freiburger Studiensemester hatte der Romanist Hugo Friedrich Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius, erschienen 1948, als grundlegende Lektüre für das Studium empfohlen – und dies war das erste wissenschaftliche Buch, mit dem Oexle sich auseinandersetzte.3 Rexroth geht der Bedeutung des großen Werks von Curtius, von zahlreichen Rezensenten
3 In Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), S. 11. In seinem Exemplar von Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, lagen – als Ergebnis der empfohlenen gründlichen Lektüre – obenauf zwei Blätter mit den Stichworten ‘Ernst Troeltsch’ und ‘Historismus’; worum es sich dabei handelte, habe ‘er erst viel später begriffen’, ebd. S. 11.
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ganz unterschiedlich bewertet, bezüglich der Bedeutung der Mittelalterbilder der Moderne nach, besonders für die Nachkriegsjahre. Angesichts der Bedürfnisse der Nachkriegszeit nach Mittelalterbildern bezeichnete Curtius sein eigenes Werk als gegenwartsrelevant. ‘Mittelalter’ war für ihn ein großer, die Moderne einbegreifender Zusammenhang; Lektüre mittelalterlicher Literatur verhalf Curtius zufolge der Gegenwart zu Reflexionsfähigkeit. Rexroth geht den gedanklichen Verbindungen des Buchs von Curtius zu Oexle nach, selbst wenn letzterer in seinem Œuvre kaum auf Curtius zurückgekommen ist. Sozusagen im Nachhinein ist Oexle in der zitierten Einleitung darauf zu sprechen gekommen, dass das Buch von Curtius an die ‘Krise des Historismus’ und die Debatten der 1920 Jahre darüber anknüpfte – und so ist mit Rexroths Überlegungen eine Scharnierstelle seines eigenen Schaffens berührt. Mit seinem Aufsatz ‘Wahrheit und Objektivität in der historischen Erkenntnis’ schließt Klaus Ries an epistemologische Überlegungen an, die für Otto Gerhard Oexle im Zentrum des historischen Denkens und Forschens standen: Seit der Aufklärung gilt historische Wissenschaft als Suche nach und nicht als Besitz von Wahrheit, eine Erkenntnis, die Teilen der heutigen Geschichtswissenschaft noch immer äußerlich bleibt. So behandelt Ries epistemologische Diskurse seit Kant und Lessing, Ranke und Droysen, Schiller und Goethe, über Nietzsches Kritik am Geschichtsbild Rankes und die Theoriebildung von Max Weber bis hin zur Kritik von Otto Gerhard Oexle an Werner Paravicinis ‘Wahrheit der Historiker’. Ries plädiert in der Situation der insgesamt noch immer zu unkritischen Geschichtsforschung für eine ‘stete und immer wieder neue Vergegenwärtigung von Vergangenheit’ im Sinne von Oexle und diese – in Anknüpfung an die Historische Kulturwissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts – als ‘ein erfrischendes und attraktives Unternehmen’. Ausgangspunkt der Überlegungen von Walter Pauly sind die fünf Bücher Moses als Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Redaktion; Moses und das Gesetz vom Sinai wurde in gesellschaftlichen Zeitumständen unterschiedlich gedeutet und gestaltet. Pauly greift auf philosophische und schöne Literatur zurück, vor allem den Bericht über die von Gott beschaffenen unverbrüchlichen Normen betreffend, weil gerade in Umbruchs- und Krisenzeiten Moses mit Bundes- und Gesetzgebungsmotiven für aktuelle Herausforderungen genutzt wurde. Er diskutiert die Moses-Bilder seit der Antike, insbesondere aber die Änderungen der Blickperspektiven seit der Aufklärung mit der Historisierung unserer Kultur und unseres Wissens. Setzte nach Schiller Moses etwa die Hebräer nach der Sklaverei unter den Ägyptern ‘wieder in die Menschenrechte ein’, machte Goethe Moses zu einem ‘Mann der That’, stilisierte ihn zum Feldherrn und Regenten; das an seiner Größe scheiternde Individuum erinnert an den ‘Faust-Stoff ’. Die Nachfolger der Klassik stellen einen Mangel an verwirklichter Freiheit fest (Hegel oder Heine) oder auch eine radikale Fälschung der Natur (Nietzsche). Pauly gelangt über den Moses-Roman Sigmund Freuds und Franz Kafkas ‘Der Prozess’ hin zur Moses-Novelle von Thomas Mann. Die Rezeption des Gesetzes vom Sinai belegt einmal mehr die Überlegungen von Otto Gerhard Oexle, dass und wie jede Zeit sich in Bildern von der Vergangenheit deutet.
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Neue Formen der Erinnerung an Holocaust und an die Zeit der NS-Herrschaft in den Niederlanden diskutiert Arnoud-Jan Bijsterveld. Mehr als 107.000 Juden wurden in Vernichtungslager deportiert. 2005 wurde ein digitales Denkmal der Jüdischen Gemeinschaft der Niederlande mit Basisdaten aller Opfer des Holocaust eingerichtet. 4.700 von Gunter Demnigs ‘Stolpersteinen’ wurden bis Oktober 2017 in mehr als 140 Orten verlegt; vor allem Juden werden hier nachhaltig erinnert, da Gruppen oder Einzelpersonen, einst Teil des lokalen Lebens, in ihrer Geschichte zuvor erarbeitet wurden. Die Namen vergegenwärtigen wie in der mittelalterlichen christlichen Liturgie oder auch in der jüdischen Tradition Personen. Aus diesem Grunde wurden im Deportationslager Westerbork vom 22. bis 27. Januar 2015 ohne Unterbrechung in über 160 Stunden die Namen aller niederländischen Holocaustopfer laut vorgelesen. In Amsterdam begann man 2016 mit der Errichtung einer Erinnerungsmauer: Für jedes Opfer wird ein Ziegelstein mit eingravierten Namen und Daten integriert. Seit einigen Jahren werden Häuser, die einst von Juden bewohnt waren, für ein großes lokales Publikum geöffnet und Geschichte sowie Schicksal der einstigen Bewohner aufgearbeitet; auch das von Bijsterveld selbst bewohnte Haus aktivierte nach der Ermittlung der noch lebenden Verwandten der jüdischen Erbauer eine Erinnerungsgemeinschaft. Neue Rituale dienen in den Niederlanden so zur Schaffung von neuen Orten der kollektiven kulturellen Erinnerung. Zu ergänzen ist eine redaktionelle Anmerkung: Aufgenommen in diesen Band ist gesondert ein ‘Verzeichnis der Veröffentlichungen von Otto Gerhard Oexle’. Bis kurz vor seinem Tod hat er publiziert, so dass hiermit eine abgeschlossene Bibliographie seiner Schriften vorliegt.4 Dies führte für diese Publikation auch zur Entlastung des Anmerkungsapparats, in dem für die Schriften Oexles durchgängig nur Titel, Erscheinungsjahr und Angabe der Nummer in diesem Verzeichnis angegeben werden. Thomas Schilp und Caroline Horch – November 2018
4 Nach dem Verzeichnis der Veröffentlichungen in Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270) sind bis Ende 2016 noch 22 Schriften von Otto Gerhard Oexle im Druck erschienen.
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Preface by the Editors
The terms ‘Memoria – Memorial Culture – Historcism’ are evocative of the widespread cross-disciplinary academic legacy of Otto Gerhard Oexle (28 August 1939 – 16 May 2016). This volume is meant as a memory to himself and his work. In it, friends and colleages have taken up Oexle’s subjects, theses and suggestions – expanding, amplifying and developing them. Proceeding from memory studies initiated by the ‘Freiburg School’, Oexle intensified and enlarged the analysis of medieval memoria during his early teaching career at Münster and provided it with its theoretical foundation. That way, he never tired to emphasise, he had succeeded in establishing the field of memory studies as an example of Historical Cultural Studies on a socio-scientific basis. His studies opened up memorial cultures of European communities in the broadest sense of this term. Beyond the framework of his medieval studies, since the mid-1980s, he simultaneously concentrated on epistemological questions of history and historicism, on which he specially focussed his interest. The plan for this book of remembrance has its own history: Otto Gerhard Oexle unfailingly rejected jubilee publications or colloquia in his honour to celebrate special birthdays or his academic achievements. He explained his reasons by pointing out that academic tributes of this kind were a thing of the past, as was, in fact, the formation of academic schools; an academic ‘bouquet of flowers’ in the form of a jubilee publication was a relic of the past which he no longer required. Nevertheless, we asked Oexle in 2014 if we might dedicate a volume of essays to him which could take up ideas and develop approaches that had been championed by him. Our request had been fuelled by the impression that, in his struggle for investigating the past by means of scrutinous cultural studies, he was not as solitary as he felt to be, the influence of his work being apparently far greater in international academic debates than he recognised. Like all great scholars, Oexle sparked controversy, but also created community. As one of the greatest historians of his generation and renowned far beyond Germany, Otto Gerhard Oexle, who was Director of the Max-Planck-Institute at Göttingen between 1987 and 2004, did not leave what could be called an academic school that started a tradition, but nevertheless had an impact on future generations of historians. On the occasion of one of our regular visits to Berlin, after viewing – as always deep in conversation – a historical exhibition at the Gropius building he eventually consented to the plan of a publication in his honour under the condition that he would have a say in the choice of contributors. During several discussions – at the time, we believed that there was still ample time – a group of colleagues who should be approached was agreed on.
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p r efac e by the editor s
His serious illness under trying circumstances and, finally, his death, deprived us of the opportunity to consider the plan carefully and in detail. He expressed his approval that after his death and if this was still our wish, we could compile a volume in his memory. It was and remained his express wish that we should approach the group of colleagues we had agreed upon and ask them for a contribution to the publication. As editors, we respected his will, felt and still feel bound to the arrangements made with Otto Gerhard Oexle before his death. We express our heartfelt thanks to all authors who agreed to participate in this commemorative volume. Regrettably, not all of those approached could comply with our request for a contribution: serious illness as well as overload of work prevented participation in this memorial project. The life and work of Otto Gerhard Oexle has been acknowledged in several academic obituaries,1 sometimes in very personal tributes, to be commemorated by future generations. Oexle’s wish to refrain from including an obituary in this volume has not entirely been met. Jean-Claude Schmitt’s obituary from the Cahiers de civilisation mediévale honours Otto Gerhard Oexle in a special way by giving a concise survey of Oexle’s core theories as well as by describing their influence on French scholars. This obituary has, therefore, been reprinted here in a slightly revised and supplemented version. Walter Benjamin, whom Oexle admired, had stated in regard of a life’s value: ‘life’s true measure is memory’.2 For Benjamin, memory was a ‘script’, formed by the transformations of life, that has to be read in reverse and thus leads to self-reassurance. Benjamin formulated his thoughts under the impression of an impending war and saw reflection of the past as a means to escape the present. Getting away from the present was certainly not what Oexle tried to achieve through his work, on the contrary, for him, a clear awareness of one’s ties was fundamental to any science regardless of discipline. Nonetheless, as for Oexle, memory can also be regarded as a measure for his life. It would be marvellous indeed, if this publication could help to transform memoria as a subject of study into a very special history of remembrance. As for the contents of this book: In his obituary Jean-Claude Schmitt, French colleague and ‘comrade-in-arms’, honours Otto Gerhard Oexle’s academic career, the positions he held and his academic distinctions. He focusses especially on his works on Historicism and the development of Historical Cultural Studies, emphasising Oexle’s ties to German History of Philosophy and Sciences, and in this respect, his reflections on the development of History as a science and Medieval Studies in France and Germany since Émile Durkheim and Marc Bloch, as well as Georg Simmel and Max Weber.
1 Rexroth, ‘Nachruf: Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 464–71; Schmitt, ‘Otto Gerhard Oexle (1939– 2016)’, 211–16; Monnet, ‘Otto Gerhard Oexle, historien du Moyen Âge, de l’Europe et de l’histoire (1939–2016)’, 425–27; Jussen, ‘Otto Gerhard Oexle 28. August 1939–16. Mai 2016’, 8–9; Geary, ‘Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 421–25. 2 Benjamin, ‘Aufzeichnungen 1933–1939’, p. 529.
preface by the editors
As Director of the Max-Planck-Institute for History, Oexle brought together scholars from Great Britain, France, Poland, Russia and elsewhere and imparted international stimuli for research. Schmitt gives a detailed description of Oexle’s significance for the relationship between French and German historical research. Wilfried Reininghaus, doctoral student in Oexle’s time at Münster, outlines Oexle’s approaches to achieve a concept of ‘Historical Cultural Studies’. He first sketches points of reference between Oexle and himself in his own biography and academic career since 1975/76, followed up by an investigation of various lines of development in Oexle’s thinking. Reininghaus defines Oexle’s legacy in two ways. Firstly, he publicised a program for ‘Historical Cultural Studies’: Scholarly investigations have to proceed along comparative lines between different periods of time and cultures, they need to cover all areas of life, including economy and religion, law and art, politics, society and music and must strive to unite all of them in a trans-disciplinary discourse. Secondly, these outlines were exemplified by Oexle in various areas of focus: the investigation of memoria as a fundamental principle in pre-modern European societies, his observations on social groups, his discussions of poverty and work, and, finally, in his concepts of ‘historical subject-matter’ which by far exceeded the conventional framework of historical sources. In his contribution, Michael Borgolte, too, proceeds from academic and biographical points of reference. As an undergraduate assistant at Münster, he witnessed Oexle’s enlargement of the theory of memorial studies, which, years later, would be outlined in his essay ‘Die Gegenwart der Toten’ (‘The presence of the dead’, 1983). Starting from there, Borgolte found one main focus of research in the concept of foundation (‘Stiftung’). As a result of various substantial projects of comparative cultural studies conducted by him in Berlin, Borgolte, in his paper, compares the concept of foundation (and memoria) in Islam (as well as pre-islamic communities in Iran), Byzantium and Judaism, but also in South and East Asia. He is able to show that although foundations as part of a culture of commemoration were known to all these communities, due to differing religious principles, the term ‘memoria’ in the strict sense of the term can be applied only in a limited way or, in Asia, not at all. In that sense, Oexle’s claim for a comparative study of the connections between foundations and memoria in different cultures rests on unattainable assumptions. Taking up Oexle’s demand to exploit material evidence and inspired by discussions with him, Annemarie Stauffer analyses dedicational inscriptions on textiles used for burials in the early and high Middle Ages. Textiles were among the few material items that could accompany the dead to his grave. They thus permitted a direct interaction between an individual and the deceased, as by including the latter’s name on the fabric he himself acted as intermediary for his own remembrance. Acts like this ensured that the names remained in their privileged position and the perpetual presence of the name with God no longer depended on the living. In a grave or a coffin the name stayed forever in God’s vicinity. Strategies like this are different from usual acts of remembrance. The quest for utmost closeness to a deceased and through him to God manifests itself also in silk panels that bore the name of the donator and which were spread over graves. In contrast to common practices of this time, in both cases the context and the intentions that were behind these donations become clear.
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Bernhard Jussen uses the ‘Dreiständebild’ (depiction of the three estates) from Johannes Lichtenberger’s Pronosticatio (1492) as a starting point to discuss Otto Gerhard Oexle’s reflections on the ‘estates’ as ‘a pattern for interpreting social realities’. Jussen scrutinises this picture that, as a figurative interpretation of the ‘Middle Ages’, can be found in textbooks for schools and university students even today. In his search for other similar illustrations of the functional division of society into three orders, he merely hits upon on a late 13th century initial and upon a series of four images depicting a dream or a vision of King Henry I, who in his sleep in each of the first three images is threatened by one of the three estates; as a result, in the fourth image, which shows a boat on a rough sea, the king vows to change his policies. As it turned out, however, it was only recently that this depiction from the 12th century had been altered and repaired in a way that should convey the impression of a social structure composed of three estates! Jussen then investigates depictions of the Last Judgement in which painters and sculptors reflected on social classes, concentrating on illuminated manuscripts from the monastery of Reichenau dating from the early 11th century, as well as the mosaics of the cathedral of Torcello (ca. 1070) and contemporary wall paintings at Sant’Angelo in Formis (Capua). He thus makes clear that Lichtenberger’s interpretation of society in no case corresponds to depictions of the Last Judgement until 1492, which, on the contrary, serve to strip this interpretation of its credibility. Jussen is the first to use presentations of the Last Judgement in the debate to revise the interpretation of a three-fold functional division of medieval society. In his paper on Pienza and Sabbioneta, Thomas Schilp, investigates various issues: in 1459, after having been elected Pope Pius II, Enea Silvio Piccolomini not only granted his birthplace the laws and privileges of a town and a new bishop’s seat, he also had a new palazzo built for himself and his family in the central square next to the cathedral and the bishop’s palace, as well as a Tuscan-style Palazzo Pubblico for the municipality. In contrast to previous art and architectural historians who understood Pienza as an ideal town or even as the first realised urban utopia of the so-called Renaissance, based on Otto Gerhard Oexle’s observations, he provides evidence that the Pope in fact created a memorial to himself and his family. Paramount in his intention to develop the town plan was his own and his family’s memory and commemoration; Pienza was built as a place of liturgical memoria with secular extensions to this ‘absolute social phenomenon’ of pre-modern European societies. Sabbioneta was built by Vespasiano Gonzaga (1531–94) and has also been classified by scholars as an ideal town. During his steep career in the service of the Habsburgs, the small Signoria Sabbioneta was raised to the status of margraviate, principality and eventually, in 1577, duchy; from 1554 on, Gonzaga fortified and modernised the town, turning it into a residence in a pre-absolutistic sense. The citizens remained without significant rights of self-administration, they were subjects of the sovereign and had been unwilling to settle there until forced. Without a male heir to the duchy of Sabbioneta, Vespasiano was more and more concerned about his memory after his death: so he had the only recently erected church of the Servites demolished, which had also served as a palace chapel, in order to gain space for a place of memoria
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and remembrance in the form of a new church building on a circular plan as a mausoleum. The new town became a place of memory. On a theoretical level, Schilp joins ranks with those who reject the view still held by many scholars that in the Renaissance, man found himself again only after more than a thousand years of barbarism and mental immaturity. By doing so, he challenges the conventional periodisation between the Middle Ages and the Renaissance. In his contribution, Frank Rexroth refers back to a reminiscence Otto Gerhard Oexle expressed in the introduction to a collection of his papers in 2011: during his first term of study at Freiburg, the Romance philologist Hugo Friedrich had recommended the book ‘European Literature and the Latin Middle Ages’ by Ernst Robert Curtius to his students as essential reading, which had been published in 1948 – and which became the first scholarly book Oexle studied.3 Rexroth investigates the influence of the important work by Curtius – judged by various reviewers in very diverse ways – in regard to the significance of perceptions of the Middle Ages in modern times, especially after the Second World War. Recognising the need for images of the Middle Ages in post-war times, Curtius regarded his own work as relevant in his time. For him, the term ‘Middle Ages’ spanned a wide context, even comprising the present; studying medieval texts, in his view, could provide the present with the capacity of reflexion. Rexroth traces the common lines of thought between Curtius’ book and Oexle, even if the latter in his œvre hardly ever again should refer back to Curtius. In a manner of speaking, it was only in retrospect that Oexle in the earlier mentioned introduction remarked that Curtius’ book was linked to the ‘crisis of Historicism’ and its debates in the 1920s. In this way, Rexroth’s observations touch on a pivotal point in Oexle’s own work. In his essay ‘Truth and Objectivity in Historical Awareness’, Klaus Ries refers to epistemological considerations that, for Oexle, were the focus of historical thought and research: since the Enlightenment, historical studies have been regarded as the quest for rather than the possession of truth, an awareness that is still not intrinsic to all historical study today. Thus, Ries describes epistemological debates since Kant and Lessing, Ranke and Droysen, Schiller and Goethe, from Nietzsche’s criticism of Ranke’s perception of history and Max Weber’s theories to Otto Gerhard Oexle’s criticism of Werner Paravicini’s ‘Truth of the Historian’. In the light of many still far too uncritical historical studies, following Historical Cultural Studies of the early 20th century Ries pleads for a ‘continuous and renewed visualisation of the past’ in Oexle’s sense as a ‘refreshing and attractive undertaking’. Walter Pauly reconsiders the five Books of Moses as a result of editorial work that spanned several centuries. Moses and the Sinai laws have continuously been
3 In Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), p. 11. As a testimony to his thorough study – as recommended – of Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Oexle kept two sheets of paper under the front cover of his copy with the key words ‘Ernst Troeltsch’ and ‘Historicism’ written on them; the meaning of which ‘he should grasp only much later’, ebd. p. 11.
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interpreted and shaped in various ways according to times and social situations. Pauly resorts to works of philosophy and literature that deal with God’s own assailable laws, as in times of change and crisis, Moses, motives for covenant and legislation were used in response to topical challenges. He discusses the way Moses has been presented since Antiquity, especially changes of his perception since the Enlightenment, along with the historicisation of our culture and knowledge. According to Schiller, after the slavery of the Hebrews under the Egyptians, Moses accorded them human rights again, whereas Goethe saw in Moses ‘a man of action’, stylised him as a military leader and ruler; Moses, like Faust, was as an individual who could not live up to his own greatness. Successors of the Classicists postulated a lack of fulfilled freedom (Hegel and Heine) or a radical fake of nature (Nietzsche). Pauly proceeds from Sigmund Freud’s Moses-novel and Franz Kafka’s ‘The Process’ to Thomas Mann’s Moses-novella. The reception of the Sinai law proves Otto Gerhard Oexle’s reflections that and in what way every time is reflected in its interpretations of the past. Arnoud-Jan Bijsterveld discusses new forms of remembering the holocaust and the time of NS-rule in the Netherlands, when more than 107 000 Jews were deported to extermination camps. In 2005, a digital memorial of the Jewish community in the Netherlands, including basic data about the victims, was created. Until October 2017, 4 700 of Gunter Demnig’s ‘stumbling blocks’ in more than 170 places were laid; they commemorate, in the first place, Jews, groups and individuals, who once were part of local life and whose story had been investigated before. Their names, like in medieval Christian liturgy and also in Jewish tradition, represent individual persons. Therefore, between 22 and 27 January 2015, in the deportation camp of Westerbork the names of all Dutch victims of the holocaust were read out loud during more than 160 hours. In 2016, the erection of a memorial wall was started in Amsterdam: it incorporates a brick for each victim, engraved with their names and biographical dates. For some time now, after investigating their history and the fate of their inhabitants, houses that were once the homes of Jews, have been open to a wider local public; even in the house in which Bijsterveld himself lives, a community of remembrance has been established after living relatives of the Jewish builders were identified. Thus, in the Netherlands new rituals have lead to the creation of new places of collective cultural remembrance. Finally, an editorial note: this volume contains a separate ‘List of publications by Otto Gerhard Oexle’. As he worked on publications until shortly before his death, it represents a complete bibliography of all his works.4 This permits us to streamline annotations throughout this volume, as for Oexle’s works only their titles, year of publication and the number in this list are given. Thomas Schilp and Caroline Horch – November 2018
4 According to the list of publications in Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270) until the end of 2016, 22 more publications by Otto Gerhard Oexle were published.
Avant-propos des directeurs de publication
‘Memoria – culture mémorielle – historisme’, ces notions rappellent le vaste héritage scientifique d’Otto Gerhard Oexle (28 août 1939 – 16 mai 2016) par-delà les découpages disciplinaires. Le présent volume souhaite lui rendre hommage. Des amis et des collègues se sont saisis de thèmes, de thèses ou de suggestions d’Oexle, les ont élargis, approfondis, poursuivis. Partant des recherches sur la memoria de l’école de Freiburg, Oexle a intensifié et étendu l’analyse de la memoria médiévale pendant ses premières années d’enseignement à Münster et l’a dotée d’un fondement théorique. La recherche sur la memoria – ainsi qu’il l’a toujours souligné – lui a servi à élaborer un exemple de science historique de la culture (‘Historische Kulturwissenschaft’) fondée sur les sciences sociales. Ses travaux nous ont révélé la culture mémorielle des sociétés européennes au sens le plus large du terme. Sortant du cadre étroit des études médiévales, il s’est simultanément de plus en plus intéressé, à partir du milieu des années 1980, aux questions épistémologiques de l’histoire et de l’historisme, auquel il s’est tout particulièrement consacré. Le projet de ces mélanges a sa propre histoire : Otto Gerhard Oexle a tou jours refusé que l’on célèbre l’un de ses anniversaires sous forme d’ouvrage ou de colloque. Son commentaire à ce propos était que le temps de ce genre d’honneur universitaire était tout aussi révolu que celui des écoles scientifiques ; le bouquet de fleurs académiques sous les traits de mélanges était une survivance vieillotte et inutile. Pourtant, en 2014, nous avons demandé à Otto Gerhard Oexle si nous ne pourrions pas lui dédier un ouvrage collectif en l’honneur de son 80e anniversaire, un volume qui reprendrait ses pistes de recherche et creuserait les approches qu’il avait initiées. Notre question se fondait également sur le sentiment qu’Oexle n’était pas aussi seul qu’il le pensait dans sa lutte pour l’étude du passé sous l’angle critique des sciences historiques de la culture, car l’influence de ses travaux scientifiques dans les débats internationaux était bien plus forte qu’il ne le croyait. Comme presque tous les grands chercheurs, Oexle a divisé les esprits, mais il a aussi su fédérer des communautés. Otto Gerhard Oexle, directeur du Max-Planck-Institut de Göttingen entre 1987 et 2004, a été l’un des historiens les plus célèbres de sa génération, bien au-delà des frontières allemandes. S’il n’a pas laissé d’école de pensée au sens académique du terme, il a marqué de son empreinte les générations suivantes d’historiens. Lors de l’une de nos visites régulières à Berlin et après avoir visité une exposition historique au Martin Gropius-Bau, comme toujours scandée par une conversation à bâtons rompus, il a fini par accepter le projet de mélanges – à
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condition qu’il ait son mot à dire sur ses contributeurs. Au cours de plusieurs entretiens, nous pensions alors avoir suffisamment de temps devant nous, nous avons circonscrit ensemble un cercle de collègues que nous souhaitions contacter. La grave maladie, ses effets secondaires éprouvants, puis le décès d’Otto Gerhard Oexle nous ont volé le temps de parler tranquillement des détails de ce recueil. Oexle nous a fait savoir que, si nous le désirions, nous pourrions finalement publier un volume commémoratif après son décès. Il a expressément formulé le vœu que nous demandions pour cet ouvrage une contribution aux collègues que nous avions évoqués ensemble. Notre souhait de directeurs de publication a été de respecter sa volonté ; nous nous sentions et sentons encore liés par l’accord conclu avec Otto Gerhard Oexle. Nous remercions tous les auteurs et autrices d’avoir contribué à ce volume. Malheureusement, certains parmi celles et ceux que nous avons contactés, empêchés par la maladie ou la surcharge de travail, n’ont pu répondre à notre demande de participer à ce projet. De nombreux hommages scientifiques ont été publiés1, qui retracent en des termes parfois très personnels la vie et l’œuvre d’Otto Gerhard Oexle et préservent son souvenir pour la postérité. Nous ne nous sommes pas tout à fait conformés à la demande d’Oexle d’exclure tout hommage biographique de cette publication. L’article de Jean-Claude Schmitt paru dans les Cahiers de civilisation médiévale dresse l’éloge d’Otto Gerhard Oexle d’une manière particulière, dans le sens où il expose en termes marquants les thèses principales de son travail et fait ressortir l’importance de l’auteur en France. C’est pour cette raison que nous publions ici cet hommage, dans une version légèrement remaniée et complétée. Walter Benjamin, un des auteurs de prédilection d’Oexle, constatait face à l’unité d’une vie : ‘La véritable mesure de la vie est le souvenir’.2 Le souvenir était pour Benjamin un ‘écrit’, résultant de la transformation de la vie, que l’on doit lire à l’envers et qui conforte ainsi notre confiance en nous. Benjamin a formulé cette maxime alors que la guerre menaçait et que se tourner vers le passé était pour lui un moyen de fuir le présent. Oexle n’a jamais eu l’intention d’échapper au présent, bien au contraire ; il considérait qu’avoir clairement conscience des paramètres situationnels était constitutif du travail scientifique, qu’importe la discipline. On peut cependant affirmer que la mémoire était, pour lui aussi, l’aune de la vie. Ce serait donc merveilleux si ces mélanges réussissaient à transformer l’objet de recherche memoria en une histoire très singulière de la mémoire. Les contributions de ce livre : Jean-Claude Schmitt, collègue français et compagnon de route, rend hommage au parcours universitaire d’Otto Gerhard Oexle, aux différentes étapes
1 Rexroth, ‘Nachruf : Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 464–71 ; Schmitt, ‘Otto Gerhard Oexle (1939– 2016)’, 211–16 ; Monnet, ‘Otto Gerhard Oexle, historien du Moyen Âge, de l’Europe et de l’histoire (1939–2016)’, 425–27 ; Jussen, ‘Otto Gerhard Oexle 28. August 1939–16. Mai 2016’, 8–9 ; Geary, ‘Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 21–25. 2 Benjamin, ‘Aufzeichnungen 1933–1939’, p. 529.
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de sa carrière et à ses distinctions académiques. Il s’intéresse en premier lieu à ses travaux sur l’historisme et à l’élaboration d’une science historique de la culture. Schmitt met en exergue les liens d’Oexle avec l’histoire de la philosophie et des sciences allemande et, dans ce contexte, ses réflexions sur l’évolution de la discipline historique et des recherches médiévales en France et en Allemagne depuis Émile Durkheim et Marc Bloch, Georg Simmel et Max Weber. En sa qualité de directeur du Max-Planck-Institut für Geschichte de Göttigen, Oexle a toujours veillé à réunir des historiens français, britanniques, polonais, russes ou d’ailleurs ainsi qu’à promouvoir l’internationalisation de la recherche. Schmitt s’arrête longuement sur l’importance d’Oexle comme intermédiaire entre les historiens de France et d’Allemagne. Wilfried Reininghaus, doctorant d’Oexle lorsqu’il était à Münster, décrit les cheminements de son directeur de thèse vers le concept de ‘science historique de la culture’, en commençant par évoquer leurs liens biographiques et scientifiques depuis 1975/1976, pour retracer ensuite les nombreuses perspectives du parcours intellectuel de son mentor. Pour Reininghaus, ‘l’héritage d’Oexle’ est double. Premièrement, il a promu le projet d’une ‘science historique de la culture’ : la science doit procéder de façon diachronique et comparative, embrasser tous les domaines de la vie, c’est-à-dire aussi l’économie et la religion, le droit et l’art, la politique, la société et la musique, et ensuite s’efforcer d’unir tous ces domaines dans un discours transdisciplinaire. Deuxièmement, Oexle a mis en pratique ce programme dans ses questionnements scientifiques : en étudiant la memoria comme phénomène fondamental des sociétés européennes prémodernes, dans ses réflexions sur les groupes sociaux, ses analyses de la pauvreté et du travail et, in fine, dans ses conceptions du ‘matériau historique’, qui ont révolutionné le concept usuel de sources en histoire. Michael Borgolte évoque lui aussi ses liens scientifiques et biographiques avec Oexle. Jeune étudiant muni d’un contrat d’assistant de recherche, il a participé à l’élargissement de l’approche scientifique de la memoria par Oexle, qui s’est reflété des années plus tard dans son ouvrage Die Gegenwart der Toten (1983). Borgolte est parti de cet enrichissement pour consacrer l’essentiel de son travail à la question de la ‘donation’ (Stiftung). Dans sa contribution à ce volume, il s’appuie sur le grand projet de recherche comparatiste qu’il dirige à Berlin et étudie la question de la donation (et de la memoria) dans l’islam (et des religions antérieures de l’Iran), à Byzance, dans le judaïsme, mais aussi en Asie du Sud et en Asie orientale. Borgolte met en évidence que toutes les civilisations étudiées à ce jour connaissent les donations, qui font partie de la culture mémorielle au sens premier de ‘memoria’. Toutefois, il est difficile, voire impossible en Asie par exemple, de parler de donation en raison des religions qui sous-tendent ces sociétés. En ce sens, l’appel d’Oexle à étudier les liens entre donation et memoria dans une approche culturelle comparative repose sur une prémisse en partie intenable. Partant de l’incitation d’Oexle à exploiter également les témoignages matériels comme ‘matériau historique’ et des entretiens qu’elle a eus avec le médiéviste, Annemarie Stauffer analyse les épigraphes sur les textiles utilisés
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dans les inhumations au haut Moyen Âge et au Moyen Âge central. Les tissus font partie des rares produits matériels autorisés à accompagner les morts dans leurs sépultures. Ils sont donc un vecteur d’interaction directe entre un individu et un défunt ; la mention du nom du vivant sur le textile est utilisée comme un intercesseur de sa future commémoration. Par ces actes, les noms restent immuablement dans cette position privilégiée, la pérennisation de la présence nominative auprès de Dieu ne dépend plus des actes du vivant. Dans la tombe ou le cercueil, le nom reste en effet perpétuellement près de Dieu. Cette stratégie se distingue des pratiques usuelles de memoria. La quête de la plus grande proximité possible avec un défunt et donc avec Dieu s’exprime aussi dans les étoffes en soie marquées d’un nom et déposées sur les sépultures. Contrairement à la pratique de cette époque, l’intention et le contexte de la donation sont ici clairement mentionnés. À partir de la gravure ‘Les Trois ordres’ qui illustre le Pronosticatio de Johannes Lichtenberger (1492), Bernhard Jussen poursuit les réflexions d’Otto Gerhard Oexle sur les ‘ordres’ comme ‘schémas d’interprétation de la réalité sociale’. Jussen réinterroge cette interprétation picturale du ‘Moyen Âge’ qui est passée à la postérité jusque dans les manuels d’histoire scolaires et universitaires d’aujourd’hui. Cherchant d’autres représentations de la trifonctionnalité de la société, il n’a pu trouver qu’une lettrine de la fin du XIIIe siècle et un tableau à quatre panneaux illustrant un rêve ou une vision d’Henri Ier d’Angleterre endormi. Dans les trois premiers segments, le monarque est menacé par un ordre différent ; dans le quatrième, Henri, dans un bateau sur une mer déchaînée, fait le serment de changer de politique. Ce tableau du XIIe siècle a été tout récemment agencé et remanié de manière à donner l’impression d’un schéma trifonctionnel de la société ! Jussen étudie ensuite des représentations du Jugement dernier, dans lesquelles peintres et tailleurs de pierre s’interrogent sur la division de la société ; il s’arrête longuement sur l’école de Reichenau au début du XIe siècle, puis sur la mosaïque de la cathédrale de Torcello (vers 1070) et sur la fresque contemporaine de Sant’Angelo in Formis à Capua. Jusqu’en 1492, on ne retrouve aucune interprétation similaire à celle de Johannes Lichtenberger dans les Jugements derniers – au contraire, ils réfutent l’évidence de cette représentation. Jussen inscrit pour la première fois des ‘Jugements derniers’ dans le débat de la ‘révision du modèle interprétatif ’ de la trifonctionnalité. Dans son étude sur Pienza et Sabbioneta, Thomas Schilp s’intéresse à plusieurs questions : après son élection pontificale sous le nom de Pie II en 1459, Enea Silvio Piccolomini éleva juridiquement sa bourgade natale au rang de ville et de nouvelle résidence épiscopale. Sur la place centrale, il fit non seulement construire une cathédrale et un palais épiscopal, mais également un nouveau palais pour lui et sa famille, ainsi qu’un palazzo pubblico pour la commune dans le modèle toscan. À rebours des recherches menées jusque-là, en premier lieu par des historiens de l’art et de l’architecture qui analysent Pienza comme une cité idéale, voire comme la première utopie urbaine de la Renaissance réalisée, Schilp s’appuie sur des réflexions d’Otto Gerhard Oexle pour démontrer que le pape a érigé un memoriale pour lui-même et sa famille. La principale intention du
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pape dans son programme architectural visait le souvenir et la commémoration de sa personne et de sa famille : Pienza est construite comme lieu de memoria liturgique, avec des extensions profanisantes de ce ‘phénomène social total’ des sociétés européennes prémodernes. Sabbioneta, elle aussi classée jusque-là comme cité idéale par les chercheurs, fut construite par Vespasiano Gonzaga (*1531, †1594). Au service des Habsbourg, il connut une carrière politique fulgurante, au cours de laquelle la petite signoria Sabbioneta fut d’abord élevée au rang de margraviat, puis de principauté et, en 1577 enfin, de duché. À compter de 1554, Vespasiano transforma le lieu en forteresse et siège de sa résidence, dans un esprit absolutiste avant l’heure. La ville ne se vit reconnaître aucun des droits fondamentaux d’administration autonome, ses bourgeois étaient des sujets du seigneur et il fallut les contraindre à y emménager. La commémoration des morts prit une importance croissante pour Vespasiano qui savait le duché de Sabbioneta sans héritier : c’est ainsi que l’église des servites, tout juste construite et qui servait aussi de chapelle à la cour, fut rasée au profit d’un bâtiment central en forme de mausolée pour créer un lieu de memoria et du souvenir. La nouvelle cité devint lieu de mémoire. Schilp inscrit ses réflexions théoriques dans le courant critique à l’égard de la conception scientifique encore répandue à ce jour et qui affirme qu’après un millénaire de barbarie et de sujétion l’homme de la Renaissance se recentre sur lui-même. Il remet donc fondamentalement en question la périodisation du Moyen Âge et de la Renaissance. Frank Rexroth s’intéresse à un souvenir raconté par Otto Gerhard Oexle dans l’introduction d’une anthologie de ses articles (2011) : pendant le premier semestre de ses études à Freiburg, le romaniste Hugo Friedrich avait recommandé la lecture du fondamental Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter [La Littérature européenne et le Moyen Âge latin, 1956] d’Ernst Robert Curtius paru en 1948 ; le premier ouvrage scientifique qu’Oexle ait jamais lu.3 Rexroth explore l’importance du magnum opus de Curtius – dont la réception a été fort contrastée – sous l’angle des images que les modernes avaient du Moyen Âge, notamment à la sortie de la guerre. Au vu de la forte demande d’après-guerre, Curtius a souligné la pertinence contemporaine de son propre ouvrage. Il replaçait le ‘Moyen Âge’ dans un vaste continuum qui incluait la modernité ; la lecture de la littérature médiévale aidait selon lui à porter un regard critique sur le présent. Sur la base de cet ouvrage, Rexroth met en lumière les liens intellectuels entre Curtius et Oexle, même si ce dernier ne s’est guère référé à Curtius dans son œuvre. C’est en quelque sorte a posteriori qu’Oexle en a parlé dans l’introduction de son anthologie, dans laquelle il tisse un lien entre l’ouvrage de Curtius, la ‘crise de l’historisme’ et les débats qu’elle a suscités dans les années 1920. Les réflexions de Rexroth touchent ainsi à l’une des charnières du travail d’Oexle.
3 In Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), p. 11. Son exemplaire de Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, contient – témoignage de sa lecture approfondie de l’ouvrage recommandé – deux feuilles ayant pour titre ‘Ernst Troeltsch’ et ‘Historismus’ ; il ‘avait compris bien plus tard seulement’ de quoi il retournait, ibid., p. 11.
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Dans sa contribution ‘Vérité et objectivité dans le savoir historique’, Klaus Ries aborde les questionnements épistémologiques qui figuraient au cœur de la pensée et des analyses historiques d’Otto Gerhard Oexle. Depuis le siècle des Lumières, la science historique est conçue comme une quête de vérité et non pas comme une détentrice de vérité – idée qui reste toujours étrangère à une partie des historiens d’aujourd’hui. Ries passe en revue les discours épistémologiques depuis Kant et Lessing, Ranke et Droysen, Schiller et Goethe, évoque la critique nietzschéenne de la vision historique de Ranke, la théorie de Max Weber, jusqu’aux réserves d’Otto Gerhard Oexle à l’égard de la ‘vérité de l’historien’ de Werner Paravicini. Dans cette situation où la recherche historique reste encore trop peu critique, Ries s’inscrit dans les pas d’Oexle et appelle à se ‘rappeler constamment le passé’, mais aussi, renouant avec la science historique de la culture du début du XXe siècle, à considérer cette démarche comme une ‘entreprise rafraîchissante et attirante’. Le Pentateuque, œuvre dont la rédaction s’est étalée sur un siècle, constitue le point de départ de l’article de Walter Pauly. Moïse et la loi du Sinaï ont fait l’objet d’interprétations et d’illustrations multiples à travers les siècles et les sociétés. Pauly se penche sur la littérature philosophique et les belles lettres, en premier lieu celles consacrées aux normes inébranlables de Dieu. Moïse ainsi que les motifs de l’Alliance et des lois ont été utilisés pour thématiser des défis contemporains, notamment en temps de crise et de troubles. L’auteur analyse les représentations de Moïse depuis l’Antiquité, en s’intéressant particulièrement aux changements de perspective depuis le siècle des Lumières, qui signe l’historisation de notre culture et de notre savoir. Si le Moïse de Schiller ‘réinscrivait’ les Hébreux après la servitude égyptienne ‘dans les droits humains’, celui de Goethe était un ‘homme d’action’, un général et un souverain. L’individu échouant sur sa propre grandeur rappelle le ‘thème de Faust’. Leurs successeurs classiques ont constaté un manque de prise de liberté (Hegel ou Heine) ou une falsification radicale de la nature (Nietzche). Pauly étudie ensuite le roman L’homme Moïse de Sigmund Freud, Le Procès de Franz Kafka ou encore la nouvelle de Thomas Mann sur Moïse (La Loi). La réception de la loi du Sinaï montre une fois de plus combien Otto Gerhard Oexle était dans le juste en affirmant que chaque époque s’interprète dans des visions du passé et en montrant comment. Arnoud-Jan Bijsterveld explore les nouvelles formes mémorielles de la Shoah et de l’occupation nazie aux Pays-Bas. Plus de 107 000 Juifs ont été déportés dans les camps d’extermination. En 2005 a été fondé un monument numérique de la Communauté juive des Pays-Bas, qui comprend une base de données de toutes les victimes de la Shoah. En octobre 2017, 4700 ‘pavés commémoratifs’ de Gunter Demnig ont été posés dans plus de 140 localités. Ils commémorent avant tout la mémoire des Juifs, puisqu’ils sont le résultat d’une enquête sur l’histoire des individus ou des groupes qui ont jadis fait partie de la vie locale. Comme dans la liturgie chrétienne médiévale ou dans la tradition juive, les noms rappellent les personnes à la mémoire. C’est pour cette raison que du 22 au 27 janvier 2015, pendant plus de 160 heures, les noms de toutes les victimes néerlandaises de la Shoah ont été lus sans interruption à haute voix dans le camp de déportation de
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Westerbork. La première pierre d’un mur de la mémoire a été posée à Amsterdam en 2016. Il est constitué de briques portant le nom et les dates de naissance et de décès de chacune des victimes. Depuis quelques années, des habitations dans lesquels résidaient autrefois des Juifs sont ouvertes au public local, qui peut y découvrir l’histoire et le destin de leurs anciens habitants. L’immeuble dans lequel habite Bijsterveld héberge également une communauté mémorielle fondée après les investigations des survivants de la famille de son bâtisseur juif. Des rituels novateurs servent ainsi à créer de nouveaux lieux de mémoire culturelle collective aux Pays-Bas. Une remarque rédactionnelle pour conclure: nous avons ajouté à ce volume une ‘liste des publications d’Otto Gerhard Oexle’, qui a publié jusque peu avant son décès. Cette annexe représente donc sa bibliographie définitive.4 Ce choix nous a également permis d’alléger l’appareil de notes de l’ouvrage, dans lequel nous mentionnons uniquement le titre de l’œuvre d’Oexle, son année de parution et son numéro dans notre liste. Thomas Schilp et Caroline Horch – novembre 2018
4 Fin 2016, on relève encore 22 articles d’Otto Gerhard Oexle publiés après la liste parue in Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270).
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En exergue à un article paru en allemand en 1995 sur ‘ce qui doit intéresser les médiévistes allemands dans la recherche française sur le Moyen Âge’, Otto Gerhard Oexle n’a pas craint d’inscrire en français cette dédicace bouleversante, disposée sur quatre lignes à l’instar d’une épitaphe : À la mémoire de Marc Bloch, assassiné au nom du peuple allemand le 16 juin 19441 Tout Oexle est là, pourrais-je dire, d’abord dans le choix de la langue française, qu’il parlait avec élégance, pour l’avoir apprise très jeune dans son BadenWürttemberg natal, à deux pas du Rhin, et l’avoir perfectionnée durant ses études de Romanistique, sa première spécialité, qui lui valut de passer une année à l’Université de Poitiers ; la langue française, Oexle l’utilise ici volontairement pour rappeler aux savants – à tous les savants et d’abord aux historiens – leur responsabilité morale, dont Marc Bloch a donné dramatiquement l’exemple. La référence à Marc Bloch, qui fut son grand modèle, a en effet deux raisons : la première, sur laquelle je reviendrai, est qu’Oexle a toujours reconnu en lui le premier historien à avoir introduit dans les questionnements des médiévistes français les apports décisifs des fondateurs des sciences sociales du tournant du XXe siècle. Les fondateurs, ce sont, en France, Emile Durkheim, et en Allemagne, Georg Simmel et Max Weber, ignorés voire méprisés par la plupart des médiévistes allemands contemporains de Bloch, à l’exception notable d’Otto Hintze. La seconde raison est que cette dédicace rappelle l’engagement de Bloch dans la Résistance jusqu’au sacrifice suprême ; par cette fin tragique consommée ‘au nom du peuple allemand’ – c’est Oexle qui le dit sans biaiser –, le grand médiéviste a résolu à sa manière un vieux dilemme de la philosophie allemande, énoncé par Nietzsche en 1881 : la vie doit-elle commander à l’esprit (réponse lourde de conséquences de Nietzsche qui a nourri plus tard le cercle
1 Oexle, ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muss’, 1995 (Nr. 102).
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 31–38. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117992
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de Stefan George et inspiré à travers lui les intellectuels allemands ralliés au nazisme) ou au contraire se soumettre aux exigences rationnelles et morales de la connaissance? Cette deuxième option fut celle, toute sa vie, d’Otto Gerhard Oexle, qui en a fait la motivation profonde d’un combat intellectuel, mémoriel, historiographique personnel, et la raison de son engagement à des postes de responsabilité administrative dans l’institution académique. Dans ce combat et cet engagement, il n’a pas remporté que des succès, on va le voir. Mais il a incontestablement compté parmi ceux qui ont le plus œuvré à modifier la conscience historique des historiens allemands nés pendant ou juste après la Seconde guerre mondiale, la génération de la Guerre froide, de l’Allemagne divisée et du Mur enfin abattu. Toute l’enfance d’Otto Gerhard Oexle, né à Singen am Hohentwiel le 28 août 1939, s’est déroulée en temps de guerre.2 On peut penser sans grand risque d’erreur que se trouve là la source de son questionnement inlassable, sans concession, des dérives intellectuelles et des manquements historiographiques qui contribuèrent à conduire l’Allemagne, depuis le XIXe siècle, jusqu’à la ‘catastrophe’ de 1933–45 ; mais là se trouvent aussi les raisons de son engagement de tous les instants, à Göttingen, en faveur de l’internationalisation de la recherche et du travail en commun des historiens allemands et français, en premier lieu, puis britanniques, polonais, russes.3 Au terme de ses études à Fribourg, Poitiers et Cologne, Oexle soutint sa thèse de doctorat en 1965 sur ‘Les Carolingiens et la ville de Saint Arnulf ’ – autrement dit Metz et la memoria liturgique dans l’Austrasie carolingienne – sous la direction de Gerd Tellenbach. Il est aussitôt associé aux recherches intenses menées alors collectivement par les médiévistes allemands, spécialement à Münster, Fribourg et Paris (à l’Institut historique allemand dirigé par Karl-Ferdinand Werner), sur les nécrologes monastiques comme source anthroponymique de l’histoire de l’aristocratie de l’Empire, des réseaux d’alliance et de parenté et de la memoria funéraire. Il est recruté comme assistant à l’Université de Münster où il collabore à la grande enquête sur la memoria (Sonderforschungsbereich 7) et où il est habilité en 1973 en présentant ses ‘Recherches d’histoire sociale sur les communautés religieuses dans le domaine d’influence de la Francie occidentale’.4 Il est nommé professeur dès 1975, à l’âge de trente-six ans. La même année, il est invité à enseigner à Tel Aviv et on devine l’importance qu’a pu revêtir cette invitation pour un historien allemand de sa stature morale. Sa carrière professorale se poursuit à partir de 1980 à l’Université
2 Il est étonnant que Otto Gerhard Oexle ne parle pas de cette première partie de sa vie dans son essai autobiographique, exclusivement centré sur sa carrière universitaire et ses publications, dans : Oexle, ‘Einleitung’, 2011 (Nr. 271). 3 Bien que plus modestement que pour la Mission historique française en Allemagne, des historiens de ces trois nationalités ont pu s’installer postérieurement à Göttingen dans les locaux mêmes du Max-Planck-Institut für Geschichte. S’agissant des historiens russes, Oexle était proche d’A. J. Gourevitch, Y. Besmertni, et de M. A. Bojcov avec qui il a dirigé des publications collectives germano-russes. 4 Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich, 1978 (Nr. 9). Une étude dont il a tiré plusieurs articles substantiels.
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de Hanovre, avant qu’il ne succède en 1987 à Josef Fleckenstein comme directeur du Max-Planck-Institut für Geschichte (MPIG) de Göttingen. Il consacre dès lors au rayonnement national et international de cette institution de recherche de premier plan l’essentiel de son énergie, s’entourant de jeunes chercheurs qui ont poursuivi depuis de brillantes carrières universitaires, renforçant les programmes de recherches collectives existants (notamment Germania sacra, sur les institutions religieuses, et l’enquête sur les palais – Pfalzenforschung), tout en en proposant de nouvelles sur l’histoire sociale et l’historiographie, et organisant d’innombrables colloques et publications dans de nouvelles séries éditoriales ambitieuses et novatrices ; le tout en veillant simultanément au rayonnement international de l’institut et particulièrement au resserrement des liens avec la Mission historique française en Allemagne, dont deux médiévistes furent tour à tour les directeurs, Michel Parisse et Pierre Monnet. C’est à ce titre qu’O. G. Oexle a, parmi d’innombrables autres réalisations, codirigé à Sèvres en 1997 et à Göttingen en 1988 les deux rencontres sur Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne5 et qu’il a reçu à Göttingen, en juin 1999, en collaboration avec la Mission historique française, le 30e congrès de la Société des historiens médiévistes français, consacré au thème de ‘L’étranger’.6 La ‘Wende’ de 1989 aura eu à terme pour conséquence, en invitant la Max-Planck-Gesellschaft à fonder de nouveaux instituts dans l’ancienne Allemagne de l’Est, de fermer inversement certains de ses instituts à l’Ouest tout en réorientant ses choix scientifiques : en dépit des efforts désespérés déployés par Otto Gerhard Oexle et des protestations de très nombreux historiens, notamment français,7 le MPIG fut finalement outrageusement rayé de la carte et sa bibliothèque dispersée. En 2004, son directeur, très affecté par ce dénouement brutal et incompréhensible, prit sa retraite, tout en restant professeur honoraire à l’Université de Göttingen et en multipliant les publications. Mais après des années d’une vie publique intense (il siégeait aussi dans un grand nombre de comités et de conseils scientifiques, dont ceux de la Mission historique française de Göttingen et de l’Institut historique allemand de Paris), ayant été fait docteur honoris causa des Universités de Paris I et de Torún en Pologne (un double symbole qui lui tenait à cœur), il est venu s’installer en 2008 à Berlin pour profiter le plus possible de la vie culturelle, théâtrale et musicale de la grande métropole, qu’il aimait beaucoup. Il n’en poursuivit pas moins ses travaux scientifiques personnels : en février 2012, il prononça devant l’Académie de Berlin-Brandenburg (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), une conférence publique qui est restée dans les
5 Oexle, ‘Présentation’ (avec J.-Cl. Schmitt), 2002 (Nr. 189) ; Ders., ‘L’historisation de l’histoire’, 2002 (Nr. 190) ; Ders., ‘Les tendances actuelles de la recherche médiévale française vues d’Allemagne’, 2002 (Nr. 191). 6 Oexle, ‘Conclusion’, 2000 (Nr. 158). 7 Je peux, avec bien d’autres, témoigner du sentiment de gâchis et de révolte qui fut le nôtre à cette époque, ayant été, conformément au souhait de O.G. Oexle, membre du conseil scientifique du MaxPlanck-Institut für Geschichte de 1992 à 1999, avant d’être nommé en 2002 membre d’un Kuratorium destiné à résoudre la crise, mais qui ne fut jamais réuni : le sort de l’institution était scellé.
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mémoires,8 sur l’un de ses thèmes de réflexion les plus chers : ‘Le présent du Moyen Âge’ (Die Gegenwart des Mittelalters). Ce texte a été publié en 2013 et fut aussitôt épuisé. En 2015 encore il prononçait la conférence d’ouverture de l’exposition du Musée diocésain de Paderborn sur le thème de la Caritas. Il travaillait à son livre tant attendu sur ‘La pauvreté au Moyen Âge’ (Armut im Mittelalter) quand il s’est éteint le 16 mai 2016 à l’âge de 76 ans. Otto Gerhard Oexle a beaucoup publié – près de 300 titres –, essentiellement des articles, souvent longs et toujours très denses, dont un bon nombre en français,9 et le plus souvent des contributions à des ouvrages collectifs, beaucoup d’entre eux édités sous sa direction et introduits par des textes méthodologiques et historiographiques toujours très éclairants. Il ne fut pas l’homme des gros livres, se résignant plutôt à publier des recueils de ses essais, dont l’un traduit en français et qui est essentiel : L’Historisme en débat. De Nietzsche à Kantorowicz.10 Le format de l’article scientifique était sans doute pour lui plus compatible avec le poids de ses nombreuses responsabilités dans l’administration de la recherche, mais il lui a surtout permis d’intervenir avec pugnacité sur un nombre considérable de sujets différents, tout en ramenant toujours son propos aux grandes questions historiographiques qui ont balisé son parcours intellectuel et qu’il n’a eu de cesse de préciser d’une étude à l’autre. L’horizon intellectuel de sa recherche, fortement interdisciplinaire et international, fut marqué d’une part par la lecture en profondeur des classiques de la sociologie de la fin du XIXe siècle et du début du XXe siècle, avant tout d’Emile Durkheim, Georg Simmel et Max Weber, mais aussi Ferdinand Tönnies, Ernst Troeltsch et Ernst Cassirer, et d’autre part sa dette à l’égard de de l’historiographie française renouvelée par Marc Bloch et les Annales, jusqu’à Georges Duby et Jacques Le Goff. Ce double horizon lui a donné les clefs pour identifier et penser le creuset intellectuel de la science historique contemporaine, à commencer par l’historisme ou l’historicisme (Historismus) triomphant du XIXe siècle, la soumission à la dimension historique de tous les domaines de la pensée et de la création (romanesque et artistique notamment, de Notre Dame de Paris aux peintres préraphaélites), l’objectivation du passé et le positivisme dont Leopold von Ranke s’était fait dès 1824 l’interprète en proclamant que l’historien avait le pouvoir de restituer intégralement la réalité de “ce qui s’était réellement passé” (was eigentlich gewesen ist). Une telle illusion n’est plus de mise à la fin du XIXe siècle pour les sociologues déjà nommés, portés par une véritable révolution copernicienne de toute la pensée scientifique, dont la découverte en physique 8 Voir la nécrologie de la Frankfurter Allgemeine Zeitung, signée par le médiéviste berlinois Michael Borgolte, ‘Erinnerung, sprich! Zum Tod des Mediävisten Otto Gerhard Oexle’, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 118, 23. Mai 2016, 13. 9 Je privilégie intentionnellement les traductions françaises dans les références ci-dessous. Elles aideront le lecteur non germanophone à se faire une idée au moins approximative de la richesse de l’oeuvre d’Oexle. 10 Oexle, L’Historisme en débat. De Nietzsche à Kantorowicz, 2001 (Nr. 167). Ce livre reprend l’essentiel d’un recueil en allemand paru en 1996. Aurell, Rez. : ‘Otto Gerhard Oexle : L’historismus en debat. De Nietzsche á Kantoriwicz’, 480–20.
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des lois de la relativité par Albert Einstein en 1905 est l’aspect le plus connu. Notons à ce propos l’intérêt de plus en plus marqué chez Oexle pour une réflexion collective des historiens de la culture et des historiens des sciences sur les rapports entre les sciences humaines et sociales (Geisteswissenschaften) et les sciences de la nature (Naturwissenschaften). Oexle a parmi d’autres combats œuvré pour cet autre élargissement du champ de l’histoire.11 Oexle, on l’a dit, a accordé à l’oeuvre de Marc Bloch une attention passionnée. Il a rappelé à maintes reprises que Bloch était très au fait de la sociologie allemande en raison de ses études à Leipzig et, à partir de 1918, de son enseignement à Strasbourg où il fut proche d’un autre observateur averti de la pensée d’outreRhin, Maurice Halbwachs ; ainsi, depuis la création des Annales (1929) jusqu’à Apologie pour l’histoire (1941), il a fait prendre à la science historique française le tournant épistémologique exploré antérieurement par la sociologie, en France (Durkheim, Marcel Mauss, Halbwachs) comme en Allemagne (Simmel, Weber). Un tournant que Oexle résume en disant que pour Bloch, la réalité historique n’est pas un donné objectif, mais une construction dont les conditions ne cessent d’évoluer dans le temps, au gré des conditions historiques de la création historiographique et singulièrement de ce que Oexle appelle l’imaginarium de l’historien.12 En Allemagne, pour des raisons diverses tenant aux structures hiérarchiques et autoritaires de l’Université comme aux conditions socio-politiques générales, depuis l’Etat bismarckien jusqu’au nazisme en passant par la défaite de 1918, laquelle a provoqué un repli sur soi de l’historiographie et non la volonté de changement qu’on aurait pu attendre, en dépit des voies qui avaient pu être précocement tracées (l’Historik de Gustav Droysen date de 1857, mais n’a pas été assimilé) et malgré la tentative intéressante d’‘histoire totale’ de la Landesgeschichte de Karl Lamprecht parfois rapprochée, à tort selon Oexle, des Annales, rien de tel ne s’est produit. Au contraire, de Georg von Below à Heinrich Heimpel et d’autres, la Verfassungsgeschichte n’aurait, bien après 1945 encore, rien perdu de sa superbe. C’est ainsi que O. G. Oexle a compté parmi les historiens qui, lors du mémorable Historikertag de Frankfurt en 1998 – la réunion annuelle de tous les historiens universitaires allemands – enfoncèrent avec virulence un coin dans les pesanteurs de l’institution académique en dénonçant les non-dits de la discipline quant aux compromissions de la génération précédente avec le régime nazi.13 Cependant, le nouveau paradigme défendu par Oexle dans la fidélité à Bloch comme à Weber, a mis l’accent non seulement sur la société (plus que sur l’Etat), mais sur la réflexivité critique de l’historien ; celle-ci n’est pas mise en œuvre parallèlement à la recherche empirique, mais au cœur du processus de recherche
11 Oexle (Hrsg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft. Einheit – Gegensatz – Komplementarität?, 1998, 22000 (Nr. 131). Voir aussi : Ders., ‘Les tendances actuelles de la recherche médiévale française vues d’Allemagne’, 2002 (Nr. 191), S. 432. 12 Oexle, ‘L’historisation de l’histoire’, 2002 (Nr. 190). 13 Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, hrsg. von Otto Gerhard Oexle und Winfried Schulze, 1999, 42000 (Nr. 139).
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et d’écriture ; mais elle ne doit pas être confondue avec le relativisme auquel certains, plus récemment, à la suite de Hayden White et du soi-disant linguistic turn, ont voulu réduire les ambitions de l’histoire : si d’un côté il ne sert à rien de vouloir s’accrocher malgré tout à l’illusion d’une réalité du ‘fait’ historique, il ne faut pas davantage, de l’autre côté, prétendre que l’historien ne produirait qu’un récit assimilable à une fiction littéraire, car la rigueur de sa méthode, la résistance des sources, sa propre réflexion sur les déterminations socio-culturelles du ‘métier d’historien’, le contrôle de la communauté scientifique, assurent qu’il énonce une vérité sur le passé, même si celle-ci n’est pas la vérité et a vocation, comme dans toute autre science, à être un jour remise en cause.14 Les réflexions historiographiques d’Oexle n’ont donc pas constitué un domaine à part de son activité scientifique ; bien au contraire, elles n’ont pas cessé d’innerver les recherches plus empiriques qu’il a menées conjointement. Cette exigence est toujours rappelée: il convient sans cesse d’historiser l’histoire.15 Ce faisant, Oexle s’est toujours posé en médiéviste, sans remettre vraiment en cause un découpage disciplinaire dont il n’ignorait pas le caractère arbitraire, mais qui convenait assez bien à son projet, même si sa recherche et sa réflexion se sont déployées dans la ‘longue durée’, jusqu’à l’époque contemporaine. On le voit bien à propos d’un des problèmes centraux de sa recherche, celui des guildes ou plus généralement des associations jurées (conjurationes, fraternitates), fondées sur un serment (Eid) en vue, en premier lieu, de l’assistance mutuelle de ses membres.16 Il en décèle les premières traces dans les campagnes du VIIIe siècle, contre les hypothèses d’une origine soit antique (tout sépare au contraire la société antique de la société médiévale), soit germanique (hypothèse völkisch aux relents sulfureux), ou d’un produit dérivé et tardif de la commune urbaine. C’est la commune, au contraire, qui dériva du principe englobant de la conjuratio, laquelle a aussi donné naissance à l’universitas scolaire ou aux confréries religieuses. Mais là encore, en resituant précisément le phénomène des guildes dans son contexte social et sa longue durée historique, ce qui intéressait Oexle était le problème posé par toutes les formes de ‘groupement’ volontaire: instruit de la formation et de la diversification de tous ces groupes de formes et de durées d’existence diverses, il avance que la société médiévale, en tant que ‘groupe des groupes’, ne fut pas la ‘communauté d’ordres’ qu’on a dite (la Gemeinschaft de Ferdinand Tönnies), où les ‘individus’ n’auraient eu 14 Oexle, ‘Im Archiv der Fiktionen’, 1999 (Nr. 147), en réponse à Paravicini, ‘Rettung aus dem Archiv? Eine Betrachtung aus Anlass der 700. Jahrfeier der Lübecker Trese’, 11–46. Cette polémique interne aux historiens allemands ayant ressurgi publiquement lors du colloque franco-allemand de Sèvres en 1997, à la grande surprise des médiévistes français présents, Oexle y revint par deux fois : ‘L’historisation de l’histoire’, 2002 (Nr. 190), 36–37 et ‘Les tendances actuelles de la recherche médiévale française vues d’Allemagne’, 2002 (Nr. 191), 431. J’ai tiré parti de la réflexion critique de O. G. Oexle dans Schmitt, La conversion d’Hermann le Juif. Autobiographie, histoire et fiction, S. 45–47. 15 Oexle, Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, 2001 (Nr. 170). 16 On se reportera, en français, à : Oexle, ‘Conjuratio et ghilde dans l’Antiquité et dans le haut Moyen Âge. Remarques sur la continuité des formes de la vie sociale’, 1982 (Nr. 26) ; Ders., ‘Les groupes sociaux du Moyen Âge et les débuts de la sociologie contemporaine’, 1992 (Nr. 70) et Ders., Art. ‘Guilde’, 1999 (Nr. 140).
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aucune place, mais qu’elle a représenté une étape essentielle dans l’avènement de la société contractuelle de notre modernité (die Moderne) et donc aussi de l’expression juridique de la volonté individuelle. Une telle histoire est donc à saisir comme un très long processus et suivant une dynamique multiforme de socialisation (Vergesellschaftung). Le cadre théorique et temporel de l’histoire des ‘groupes sociaux au Moyen Âge’ étant posé,17 Oexle s’est efforcé d’en éclairer plusieurs aspects essentiels, esquissant même des projets de livres qu’on aurait voulu voir éclore pleinement: non seulement, on l’a dit, sur La pauvreté au Moyen Âge,18 mais encore sur les communautés monastiques,19 sur la ville et le droit (notamment dans le cadre de la collaboration fructueuse avec la Mission historique française en Allemagne et son directeur Pierre Monnet,20 comme de ses relations étroites avec les historiens du droit, tel Dieter Simon21) ou sur la ‘représentation des groupes’ (en collaboration avec l’historienne de l’art Andrea von Hülsen-Esch), un thème qui illustre aussi la place croissante faite aux images dans ses préoccupations d’historien. À ce sujet, n’avait-il pas dès 1993 publié dans les Cahiers de Civilisation médiévale une belle étude sur la représentation du lignage et de la parenté dans le manuscrit enluminé de l’évangéliaire d’Henri le Lion, datant des années 1185–88?22 Entre lignage et image, Oexle retrouvait ainsi un thème qui lui était particulièrement cher depuis l’origine de son travail: celui de la memoria, de la commémoration des morts du groupe de parenté dans les listes nécrologiques et la liturgie de l’anniversaire (en échange des largesses aristocratiques faites aux églises),23 comme dans les miniatures des manuscrits princiers, en insistant sur les effets de présentification des disparus, sur ce qu’on pourrait appeler leur ‘agentivité’24 dans le maintien de la cohésion du groupe social et la succession réglée des générations, ce que Oexle lui-même a intitulé ‘le présent des morts’ (Die Gegenwart der Toten).25
17 On ne peut que renvoyer ici à ses travaux sur la ‘maison’ (Haus) comme groupe social de parenté et d’affinité, ou sur les trois ordres dans la société médiévale, un thème de recherche partagé avec Duby et Le Goff : Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung der ‘Gesellschaft’ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1978 (Nr. 18). 18 Oexle (Hrsg.), Armut im Mittelalter, 2004 (Nr. 214). Cette recherche sur la pauvreté a été initiée au Konstanzer Arbeitskreis de l‘île de Reichenau en 1998. 19 Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich, 1978 (Nr. 9). 20 Stadt und Recht im Mittelalter / La ville et le droit au Moyen Âge, hrsg. von Pierre Monnet und Otto Gerhard Oexle, 2003 (Nr. 199). 21 Oexle, ‘Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft’, 1987 (Nr. 44). 22 Oexle, ‘Lignage et parenté, politique et religion dans la noblesse du XIIe siècle : l’évangéliaire de Henri le Lion’, 1993 (Nr. 81). Cette étude reprend la présentation par l’auteur du facsimilé de l’évangéliaire : Ders., ‘Das Evangeliar Heinrichs des Löwen als geschichtliches Denkmal’, 1989 (Nr. 54). Oexle prit aussi l’initiative de lancer une série de débats et de publications du Max Planck Institut für Geschichte pour faire ‘dialoguer l’histoire et l’histoire de l’art’, à la quatrième édition de laquelle j’ai eu le privilège de participer avec un collègue allemand historien de l’art (Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, 1997 (Nr. 118)). 23 Oexle, ‘Memoria als Kultur’, 1995 (Nr. 97). 24 Terme que j’emprunte à Gell, L’art et ses agents, une théorie anthropologique. 25 Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28).
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À ce point, l’oeuvre d’Oexle retrouve une fois encore Marc Bloch, l’un des fondateurs de l’histoire des ‘mentalités’ à la française, qui n’hésitait pas à écrire dans l’Apologie que ‘les faits historiques sont par essence des faits psychologiques’.26 Autrement dit, les hommes n’agissent pas dans le monde en fonction de ce que celui-ci serait en soi, indépendamment d’eux, mais suivant la représentation qu’ils s’en donnent. Le monde n’est ‘agi’ que parce qu’il est d’abord ‘pensé’ (gedachte Welt). À la médiation de l’imaginarium de l’historien s’ajoute donc celle de la représentation du monde des acteurs historiques eux-mêmes ou si l’on préfère leur culture, évidemment située dans l’espace et le temps. C’est pourquoi, pour rendre compte de l’ensemble de ces médiations et montrer comment elles posent le problème central de la connaissance historique, Oexle en appelle, en s’inspirant toujours de Max Weber, d’Ernst Cassirer et de Marc Bloch, mais aussi des sociologues Peter L. Berger et Thomas Luckmann,27 au renforcement d’une ‘science historique de la culture’ – eine historische Kulturwissenschaft – véritable fil rouge de toute son œuvre, faisant fi du partage des disciplines comme des frontières nationales et se déployant généreusement dans le temps long, du Moyen Âge jusqu’à l’époque contemporaine, et inversement.28
26 Oexle, ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muss’, 1995 (Nr. 102). 27 Il reconnaît cette dernière dette intellectuelle dans son introduction autobiographique à Die Wirklichkeit und das Wissen, 2011 (Nr. 270), S. 14. 28 Oexle, ‘“Une science humaine plus vaste.” Marc Bloch und die Genese einer Historischen Kulturwissenschaft’, 1999 (Nr. 145).
Wilfried Reininghaus
Die ‘Historischen Kulturwissenschaften’ als selbstreflexive Disziplin Begegnungen mit Otto Gerhard Oexle und seinem Werk Mein Doktorvater Otto Gerhard Oexle lehrte mich, Geschichtswissenschaft selbstreflexiv zu betreiben. Das bedeutet die fortgesetzte Vergewisserung über eigene Positionen in einer sich ändernden Welt und deren Rückwirkung auf die eigene berufliche Tätigkeit. Auch und gerade Historiker unterliegen als Einzelne (und als Gruppe) der Zeitlichkeit: Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, dass auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist.1 Diesen Satz aus Johann Gustav Droysens Historik stellte Oexle 1978 an den Anfang seines Aufsatzes über die funktionale Dreiteilung, der in der Weiterentwicklung seiner Forschungen ein zentraler Rang zukommt. Im Gegensatz zum eher theoriefernen Karl Schmid, dem Oexle 1966 von Freiburg nach Münster folgte,2 machte Oexle seine Überlegungen und Überzeugungen, vor allem in der zweiten Lebenshälfte, öffentlich und erweiterte sie vehement zum Programm einer ‘Historischen Kulturwissenschaft’. Um einen angemessenen Beitrag über Oexles Werk zu schreiben, nähere ich mich ihm in drei Schritten. Erstens (I.) berichte ich über meine Begegnungen mit ihm seit 1975, so wie er es an den autobiographischen Werkstattberichten von Jacques Le Goff und Georges Duby geschätzt hat.3 Zweitens (II.) versuche ich, Entwicklungslinien seines Werks seit den Freiburger Anfängen aufzuzeigen, werde dabei aber nur jene Themenfelder behandeln, bei denen ich unmittelbar
1 Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung der ‚Gesellschaft‘ nach Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1978 (Nr. 18), 1–54, 1; Droysen, Historik, S. 332 § 19. – Für Hinweise und Anregungen danke ich Edeltraud und Manfred Balzer, Franz-Josef Jakobi und Thomas Schilp. 2 Oexle, ‘Gruppen in der Gesellschaft. Das wissenschaftliche Oeuvre von Karl Schmid’, 1994 (Nr. 92), 410–23, 415. 3 Oexle, ‘Die ‘Wirklichkeit’ und das ‚‘Wissen’. Ein Blick auf das sozialgeschichtliche Oeuvre von Georges Duby’, 1981 (Nr. 22), 61–91; Ders., ‘Das Andere, die Unterschiede, das Ganze – Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters’, 1990 (Nr. 62), 141–58.
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 39–73. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117993
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Einblicke in seine Werkstatt nehmen durfte. Abschließend (III.) versuche ich Antworten auf die Frage zu geben, was von diesem Werk bleibt – ein im Jahr nach seinem Tod natürlich vorläufiges und vor allem befangenes Unternehmen. I.
Begegnungen mit Otto Gerhard Oexle 1975–2016
Im Wintersemester 1975/76 boten Otto Gerhard Oexle und Thomas Pekáry in Münster ein vierstündiges Hauptseminar über ‘Ausgewählte Probleme zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des Mittelalters’ an. Bei Pekáry hatte ich im Semester zuvor ein Proseminar zur spätrömischen Republik absolviert; Oexle kannte ich noch nicht. Nach einer Gastprofessur in Jerusalem war er eben erst nach Münster zurückgekehrt. Die Aussicht, bei dieser Veranstaltung zwei Hauptseminar-Scheine auf einen Streich zu erwerben, sorgte für eine Überfüllung des Seminars. Diese Aussicht spielte wahrscheinlich auch bei mir eine Rolle. Mich motivierte jedoch noch etwas Anderes. Weil diese erste Begegnung mit Oexle im Nachhinein betrachtet ein Schlüsselerlebnis meines akademischen Werdegangs war, muss ich etwas weiter ausholen, um meine Zusatzmotivation zu begründen. Ich hoffte in diesem Seminar, mein erworbenes Wissen als Diplom-Volkswirt anwenden zu können. Während des Studiums der Volkswirtschaftslehre hatte ich nicht nur begleitend Soziologie-Vorlesungen gehört, sondern im Wahlpflichtfach Wirtschaftsgeschichte zum Studienschwerpunkt gemacht. Der gebürtige Amerikaner Richard Tilly lehrte es und faszinierte sowohl durch die Breite des Angebots als auch die Umsetzung ökonomischer Theorie in die Praxis.4 Der künftige Mitherausgeber von ‘Geschichte und Gesellschaft’ weckte 1970 definitiv mein historisches Interesse an Geschichte. Nach einer Diplom-Arbeit über den deutschen Kapitalexport nach Russland (1871–1914) schloss ich 1974 das Volkswirtschaftsstudium ab, ohne zu wissen, was ich damit anstellen sollte. Ich entschloss mich, das Staatsexamen anzustreben, zu dem das Diplom als Erstfach anerkannt wurde. Im Sommersemester 1975 nahm ich deshalb ein Zweitstudium in Geschichte auf, das ich durch Jobs als Sportreporter und Tischtennistrainer finanzierte. Die Lehrveranstaltung von Oexle und Pekary wandelte sich unter der Hand zu einem Hauptseminar über die ‘Krise der Spätantike und des Spätmittelalters’. Ich arbeitete zur Themengruppe ‘Theoretische ökonomische Erklärungen für die Wirtschaftsgeschichte des 2./3. Jahrhunderts beziehungsweise des Spätmittelalters’. Der Teil zur Antike behandelte die Münzverschlechterung und die daraus abzuleitende Inflation, der Teil zum Spätmittelalter Wachstums-, Konjunktur- und entwicklungsökonomische Theorien. Die Schlusssätze des 30seitigen Papiers will ich zitieren, weil sie eine gewisse Frustration beim Studium der Volkswirtschaftstheorie widerspiegeln und eine Brücke zum Zweitstudium schlugen: ‘Theorien sind unbedingt notwendig, um Anhaltspunkte
4 Die Vielfalt der behandelten Themen findet sich in der Aufsatzsammlung Tilly, Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung wieder.
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zu haben, ein Chaos von Fakten zu ordnen. Nur sollten sich Historiker davor hüten, jedwede Theorie zu verwenden und im Zweifel eher auf sie verzichten.’ Beiden Veranstaltern gefiel mein Papier, beide boten mir an, mich an ihrem Lehrstuhl wissenschaftlich weiter zu betätigen. Wegen fehlender GriechischKenntnisse schied die Alte Geschichte aus. Die Entscheidung für Oexle fiel mir aber nicht nur deswegen leicht. Vielmehr behandelte er attraktive Themen zur Sozialgeschichte des Mittelalters. Seine Vorlesung im Wintersemester galt 1975/76 Gilden, Zünften und Universitäten mit dem Untertitel ‘Formen der Entstehung sozialer Gruppen im Hoch- und Spätmittelalter’; ergänzend lief damals ein Kolloquium zur Mentalitäten-Geschichte. 1976 bot er neben einer Vorlesung über Frankreich im Mittelalter das Hauptseminar ‘Deutungsschemata sozialer Wirklichkeit im Mittelalter’ sowie das Kolloquium ‘Gilden und Genossenschaften als Forschungsaufgabe’ an. Innerhalb des Hauptseminars schrieb ich ein Papier über ‘Aussagen über “Bauern” im Rahmen der “société tripartie”’. Ich glich die Aussagen von Abbo von Fleury, Adalbero von Laon und Gerhard von Cambrai mit den Befunden der französischen Agrargeschichtsschreibung ab. Georges Dubys und Jacques Le Goffs Arbeiten wurden intensiv von mir ausgewertet. Nach diesem Semester zeichnete sich mehr als nur in Konturen eine Dissertation bei Oexle ab. Dieser Hochschullehrer begeisterte mich, nicht nur, weil ich im Anschluss an das Seminar Burgund besuchte, um auf romanischen Kapitellen Darstellungen arbeitender Menschen zu suchen, und Le Goff und Duby im Original las. Oexle machte mir schmackhaft, im Rahmen seines Gilden-Projektes die Gruppen der Handwerksgesellen zu untersuchen. Die Wartezeit auf den Termin für das Staatsexamen wollte ich so sinnvoll nutzen. Im Wintersemester 1976/77 begann ich mit der Literatursichtung und trat im Februar/März 1977 erste Archivreisen nach Freiburg und ins Elsass an. Der Bericht über die ersten Befunde in den oberrheinischen Archiven gaben den letzten Anstoß, um aus der zunächst geplanten Magisterarbeit eine Dissertation zu machen. Die daraus resultierende Unterwerfung unter die Promotionsordnung in Münster bedeutete allerdings, dass ich das Rigorosum nicht vor dem Sommersemester 1980 ablegen konnte. Vier Jahre engster Zusammenarbeit mit und neben Oexle zwischen 1976 und 1980 formten mich definitiv. Zwar behauptete er später gegenüber meiner Frau, er habe in mir einen fertigen Menschen getroffen, der sich über seinen Weg im Klaren gewesen sei. Wegen der Bewältigung mehrerer Nebenberufe zeitgleich zur Arbeit an der Dissertation mag dies von außen so ausgesehen haben. ‘Fertig’ fühlte ich mich erst später 1980 im Referendariat, wo ich den meisten anderen Kolleginnen und Kollegen genau diese Erfahrungen außerhalb der Universität voraushatte. Oexle betreute 1977 zwei Doktoranden neben mir, Theodor Helmert und Malte Ristau. Sie hatten ihm schon bei der Drucklegung seiner Habilitationsschrift zur Seite gestanden. Helmert schloss 1979 seine Dissertation über den Großen Kaland ab.5 Ristau sollte eine Dissertation über diffamierte Berufe schreiben,
5 Helmert, Der Große Kaland am Dom zu Münster im 14. bis 16. Jahrhundert, unveröffentlichte Phil. Diss. Münster 1979.
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entschied sich aber für einen Weg in der SPD und war zuletzt Abteilungsleiter in mehreren Bundesministerien. Abseits großer, überlaufener Lehrstühle war Oexle eine intensive Betreuung des Doktoranden möglich, die mir unmittelbar zugutekam. Er kommentierte und korrigierte meine Entwürfe mit Strenge. Der nebenberufliche Journalist kannte keine Hemmnisse, schnell zu schreiben. Oexles Kritik meiner Entwürfe zwang mich, durch sprachliche Mittel die Zeitenfolge ernst zu nehmen, und vermittelte mir die Freude an geschliffenen, wohl überlegten Formulierungen. Er lehrte mich, den Lesern (und Zuhörern) einleitend eine genaue Vorstellung von dem zu geben, was sie erwartete, klare Ziele zu formulieren und Texte sinnvoll zu gliedern. Oexles Sorge galt immer dem strategischen Publizieren, auch beim Schüler. Ende 1978 ergab sich die Möglichkeit, ein Teilergebnis meiner Dissertation vorab zu veröffentlichen. Er gewann Hansmartin Schwarzmaier, wie er ein Tellenbach-Schüler, dafür, einen Aufsatz über die Straßburger Knechteordnung als Ausschnitt aus meiner Dissertation in der ‘Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins’ zu drucken.6 Ich konnte darin quellengesättigt belegen, dass zentrale Vorschriften der Obrigkeiten für Gesellen und ihre Vereinigungen von 1436 auf 1407 vorzuverlegen waren. Oexle gab den Inhalt der ersten Fußnote vor, nämlich den Verweis auf meine bevorstehende Dissertation und der Dank an ihn für die Einsichtnahme in seine in Druck befindlichen Aufsätze zum Gildetypus. In fast jedem eigenen Aufsatz von Oexle übte die erste Fußnote ähnliche Funktionen aus. Penibel las er eigene und fremde Manuskripte. Nichts störte ihn mehr als eine nicht beachtete Korrekturanweisung. Die Arbeiten an meiner Dissertation waren im Dezember 1979 beendet.7 Sie umschlossen vier Bereiche, die sämtlich von Forschungsinteressen Oexles geprägt waren. Der erste Teil zog eine Bilanz der Forschungen, seitdem Georg Schanz als Schmoller-Schüler 1876 eine Dissertation zu diesem Thema geschrieben hatte. Schanz baute schon auf älteren Arbeiten auf, von denen wahrscheinlich Lujo Brentanos ‘Arbeitergilden der Gegenwart’ die wichtigste für ihn war. Brentanos Forschungsinteresse war auf den diachronen Vergleich mit den englischen Gewerkschaften seiner Zeit gerichtet. Dies erklärt, warum Brentano Oexles Aufmerksamkeit erregte. Von zeitgenössischer Aktualität war Schanz‘ Dissertation, weil Bismarck 1878 daraus im Reichstag Munition ‘gegen die negativen Bestrebungen der Sozialdemokratie’ bezog. Umgekehrt kamen Historiker der Arbeiterbewegung immer wieder auf die Gesellenverbände und damit auf Schanz zurück. Unter den volkskundlich ausgerichteten Arbeiten erregte Siemsens Buch ‘Germanengut im Zunftbrauch’ von 1942 meinen (und Oexles) Zorn, weil Siemsen in den Gesellengilden Nachfahren der Männerbünde germanischer Zeit sah. Die Auseinandersetzung mit den Begriffen ‘Gemeinschaft’ und ‘Ehre’ in der völkischen Wissenschaft führte zum Verzicht, beiden Begriffen
6 Reininghaus, ‘Die Straßburger ‘Knechteordnung’ von 1436. Ihre Entstehung und ihre Bedeutung für die Geschichte der Gesellengilden am Oberrhein’, 131–43. 7 Reininghaus, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter. Ich zitiere daraus im Folgenden, ohne dies im Einzelfall nachzuweisen.
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‘irgendeinen analytischen Gehalt’ beizumessen. Der Doktorvater hatte keine Einwände dagegen, obwohl seine eben erst erschienene Habilitationsschrift das Wort ‘Gemeinschaften’ im Titel verwendet hatte.8 ‘Gemeinschaft’ war in der Schule von Karl Schmid ein fester Begriff, über dessen Wurzeln und ambivalente Verwendung vor 1945 offenbar zu diesem Zeitpunkt nicht weiter nachgedacht wurde. Später sollte Oexle die Begriffe ‘Gemeinschaft’ wie ‘Ehre’ in enge Verbindung zu jenem ‘politisch-sozialen Mediävalismus’ bringen, der nach 1933 um sich griff.9 Kurze quellenkritische Überlegungen führten schließlich zum Begriff der Gilde als ‘soziale Gruppe’ in der Definition von Leopold von Wiese, auf den sich Oexle ‘im Rahmen seiner Neuakzentuierung von Gilden als sozialer Gruppe’ berief. Der zweite große Abschnitt der Dissertation galt der ‘Entstehung von Gesellengilden’. Warum entstanden diese sozialen Gruppen ausgerechnet im 14./15. Jahrhundert? Der Bezug zum Hauptseminar 1975/76 liegt auf der Hand. Sie waren eine Antwort auf die durch die Pest bedingte Krise jener Zeit. Mein Titel war an Edward Palmer Thompsons ‘The Making of the English Working Class’ angelehnt. Zur Freude von Oexle hatte Thompson das Vorkommen des Eids in der frühen englischen Arbeiterbewegung nachgewiesen.10 Eine monokausale Erklärung bei den Gesellengilden kam für mich allerdings nicht in Frage, vielmehr sah ich die Ablösung der Gesellengilden von den Zünften als eine strukturell-konjunkturell bedingte Abfolge von Lohnstreiks und anderen Arbeitskämpfen sowie als Folge der Wanderungen. Eine längere Passage zur Migration der Gesellen platzierte ich vorab 1981 in der ‘Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte’, in deren Beiheften später im Jahr dann auch die gekürzte Dissertation erschien.11 In einem dritten Abschnitt untersuchte ich die Struktur der Gesellengilden: das Gelöbnis und die sich daran anschließende Gerichtsbarkeit; die religiösen Aspekte, ihr soziales und wirtschaftliches Handeln (Kranken- und Arbeitsvermittlung, Streik und Boykott), ihre Feste und Feiern. Über die religiösen Aspekte zu schreiben, fiel mir als Protestant nicht leicht. Durkheims Religionssoziologie und die Ergebnisse des Münsteraner Sonderforschungsbereichs machte ich mir im Unterkapitel ‘Memorien als konstituierender Faktor der Gesellengilde’ zunutze. Es führte meinen Doktorvater und mich noch enger zusammen. An einem Beispiel konnte ich die Verquickung religiöser mit ökonomischen Aspekten belegen. Denn unter der sperrigen Überschrift ‘Das Eintreten der Gesellengilden für eine Ausdehnung der Freizeit’ verbargen sich Untersuchungen zur Geschichte des Blauen Montags, der durch
8 Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich, 1978 (Nr. 9). 9 Oexle, ‘‘1933’. Zur ‘longue durée’ mentaler Strukturen’, 2005 (Nr. 233), S. 235–65, 241 ff., 249. 10 Thompson, The Making of the English Working Class, S. 510; Oexle, ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’ (1985), 2011 (Nr. 270), S. 496–568, S. 505. 11 Reininghaus, ‘Die Migration der Handwerksgesellen in der Zeit der Entstehung ihrer Gilden (14./15. Jahrhundert)’, 1–21.
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die Einhaltung von Quatemberfasten den Montag als Tag des Totengedenkens plausibel machte. Das Schlusskapitel über die Gesellengilden nach 1500 trug Oexle und mir später einige Kritik ein. In einem knappen Aufriss fragte ich nach der weiteren Entwicklung auf die Gegenwart zu. Ich griff die Fragen Ulrich Engelhardts ‘zum komplexen Problem vorindustriell-zünftiger Ursprünge oder Vorläufer der Gewerkschaften’ auf. Zu diesem Schlusskapitel führte ich mit dem Münsteraner Neuzeithistoriker Karl-Georg Faber im Rigorosum eine noch im Rückblick aufregende Disputation. Oexle und Faber waren von meinen Befunden überzeugt, Oexle deshalb, weil er eine schroffe Gegenüberstellung von alten ‘Korporationen’ und modernen ‘Assoziationen’ nach 1800 ablehnte. Sein Bericht auf einer Reichenau-Tagung über diesen Teil meiner Dissertation fand 1979 die entschiedene Kritik durch František Graus, der es strikt ablehnte, Gewerkschaften mit sozialen Gebilden des Mittelalters auch nur gedanklich in Verbindung zu bringen. Mir wurde klar, dass ich mit empirischen Untersuchungen die steile und von Oexle übernommene These vom Beitrag der Gesellen- und anderer Gilden ‘bei der Formung sozialer Strukturen bis in die Gegenwart hinein’ untermauern musste.12 Den Anlass bot die Arbeitstagung des ‘Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte’ in Bad Homburg im Herbst 1982. Ulrich Engelhardt lud mich ein, Brentanos an England erprobte Fragestellung für Deutschland aufzugreifen. Das war ein ehrenvolles Angebot, aber doch zu hoch für mich angesetzt. Gleichwohl entschied ich mich, die Lücke zwischen dem späten Mittelalter und 19. Jahrhundert als dem Beginn der Arbeiterbewegung wenigstens in Ansätzen zu schließen. Mich trieben 1980/81 Studien um, die darauf abgestellt waren, die Kontinuitätsfrage empirisch zu untermauern. Deshalb untersuchte ich – in Abhängigkeit von den Standorten meines Archivreferendariats – nacheinander die westfälischen Gesellenladen und Fabrikunterstützungskassen im 19. Jahrhundert, die frühen Tabakarbeitergewerkschaften in Ostwestfalen-Lippe, hessische Gesellenvereinigungen des 16. bis 18. Jahrhunderts. In Veszprem (Ungarn) hielt ich im Sommer 1982 auf dem II. Handwerksgeschichtlichen Symposium einen Vortrag über ‘Gesellenvereinigungen als Problem der Kontinuität in der deutschen Sozialgeschichte’. In Anwesenheit von Helga Schultz und Helmut Bräuer aus der DDR suchte ich nach den Wurzeln des Symbols der verschränkten Hände, dem Symbol der ‘Arbeiterverbrüderung’ von 1848 und der SED von 1946.13 Nach meinen Forschungsergebnisse reichte das Symbol ‘Hand in Hand’ auf das Gelöbnis an Eides Statt als konstitutivem Moment der Gesellengilden zurück. Diese Vorarbeiten waren allerdings nicht genug, um in Bad Homburg meine Thesen zur Entwicklung der Gesellenvereinigungen in der Frühen Neuzeit überzeugend genug vorzutragen. Wolfram Fischer nahm mich nach allen Regeln der Kunst auseinander. Jürgen Kocka und Karl Heinrich Kaufhold verteidigten mich, ich selbst blieb defensiv-zurückhaltend. Fischers Argumente, meine Thesen 12 Reininghaus, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter, S. 234. 13 Reininghaus, ‘Gesellenvereinigungen als Problem der Kontinuität in der deutschen Sozialgeschichte’, S. 265–72.
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über Kontinuität und Wandel der Gesellenvereinigungen14 seien zu pauschal, teile ich inzwischen. Sichtbar wurde an diesem Beispiel eine Grundfrage diachroner Betrachtungsweise, die möglicherweise auch Oexle unterschätzt hatte: Wenn Forschungsfragen zu beantworten sind, die vom Mittelalter kommend gestellt werden, stößt man auf solch große Aktenmengen, die im Alleingang zu bewältigen vermessen, optimistisch oder naiv, je nach Gusto, erscheinen kann. Das Erlebnis im ‘Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte’ trübte nur kurz meine Bereitschaft, mich außeruniversitär in der Forschung zu betätigen. Nach Einreichung meiner Dissertation trat ich am 2. Mai 1980 in den Referendardienst als Archivar ein und noch vor diesem Termin bekam ich die Zusage für eine freie Stelle beim Westfälischen Wirtschaftsarchiv in Dortmund zwei Jahre später – ein glücklicher Zufall. Denn ich konnte an meinem Wohnort einen Beruf ausüben, in dem sich Archivarbeit und wissenschaftliche Ambitionen (und zwar Wirtschafts- und Sozialgeschichte) gut miteinander verbinden ließen. Als Oexle mich im April 1982 anrief – gerade hatte ich mein Referendarexamen bestanden –, um mir eine Stelle als sein Assistent in Hannover anzubieten, sagte ich ihm deshalb ohne großes Zögern ab. Er respektierte meine Absage, denn ich freute mich auf Dortmund und Westfalen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich den Oberrhein besser als die Region meiner Herkunft. Im Sommer 1981 hatte ich noch eine Edition zu Basler Quellen über Gesellen und ihre Migrationen auf den Weg gebracht.15 In Dortmund lag anfangs ein Schwerpunkt auf der Archivpflege im Handwerk. Mittelfristig war das Ziel, die Handwerkskammern als Träger des Wirtschaftsarchivs zu gewinnen. Dies gelang im Zeitraum eines Jahrzehnts, in dem ich begleitend die Geschichte des mittelalterlichen und neuzeitlichen Handwerks und Gewerbes in Westfalen und darüber hinaus unter mehreren Aspekten erforschte und auch außerhalb Westfalens vertrat. Der zweite Schwerpunkt lag auf der Archivpflege bei Unternehmen, konzentrierte sich auf den südwestfälischen Raum. Dabei entdeckte ich die mir privat wohlvertraute Stadt Iserlohn als Zentrum vor- und frühindustrieller Wachstumsprozesse und die dortigen Kaufleute als deren Triebkräfte. Aus der Beschäftigung damit entstand meine 1992 eingereichte Habilitationsschrift.16 Je länger ich in Dortmund arbeitete, desto seltener traf ich Oexle. Wir blieben per Brief oder den Austausch von Sonderdrucken in Kontakt und trafen uns auf Historikertagen. Vieles von dem, was er schrieb, las ich, insbesondere seine Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und zur Memoria. An einer der in Göttingen veranstalteten Tagungen zur Memoria, über die Repräsentation der Gruppen durch Texte, Bilder und Objekte, wirkte ich durch einen Beitrag über neue Fragen an die sogenannten ‘Zunftaltertümer’ mit. Die Kontakte zu Oexle wurden freilich insgesamt seltener, je mehr er als Direktor des Max-PlanckInstituts für Geschichte national wie international in Anspruch genommen 14 Reininghaus, ‘Die Gesellenvereinigungen am Ende des Alten Reiches. Die Bilanz von dreihundert Jahren Sozialdisziplinierung’, S. 219–41. 15 Reininghaus, Quellen zur Geschichte der Handwerksgesellen im spätmittelalterlichen Basel. 16 Reininghaus, Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute (1700–1815).
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wurde und ich Führungsverantwortung in den Archiven übernahm. Erst nach seiner Pensionierung und nach seinem Umzug nach Berlin bekamen unsere Begegnungen neue Impulse. Wir trafen uns dort seit 2009 mindestens einmal im Jahr, immer in herzlicher und freundlicher Atmosphäre, im ‘Cafe Einstein’ oder im ‘Xantener Eck’ in Charlottenburg. II. Entwicklungslinien in Oexles Werk Oexles beeindruckendes Oeuvre umfasst rund 300 Titel. Ihm wichtige Aufsätze veröffentlichte er in zwei Sammelbänden 1996 und 2011.17 Galt der erste Band seinen Arbeiten zum Historismus seit 1984, war der zweite thematisch breiter gestreut. Oexle leitete den Sammelband von 2011 mit autobiographischen Auskünften zu seiner Wissenschaftslaufbahn ein. Diese Information aufgreifend, will ich im Folgenden die Ableitung der von ihm behandelten Themen seit seiner Freiburger Zeit behandeln. Im Rückblick war die Zeit unserer intensiven Begegnungen zwischen 1975 und 1982 diejenige Phase seines Wissenschaftlerlebens, in dem er wie in einem Laboratorium an diesen Themen arbeitete und sie zu Projekten bündelte. Nachvollziehen lässt sich die Ableitung methodischer Fragen aus zahlreichen Aufsätzen Oexles zu spezifischen Aspekten der mittelalterlichen Geschichte. In der Regel leiteten sie grundsätzliche Erörterungen ein. Exemplarisch sei dies am Aufsatz aus dem Jahr 1977 über Pierre Dubois (1255–1321) und die Utopie im Mittelalter erläutert.18 Bevor Oexle auf die Terra Sancta als Wunschraum bei Dubois einging, legte er zunächst dar, warum ‘Utopie’ ein umstrittener Begriff war (und ist). Die ‘Problemgeschichte’ stand mithin vor der Sacherörterung. In diesem Fall behandelte Oexle Thomas Nipperdeys These, dass es im Mittelalter, das heißt vor Thomas Morus, keine Utopie habe geben können. Oexle griff ebenso Ernst Bloch wie Karl Mannheim auf, um sich schließlich Alfred Dorens Begriffe ‘Wunschräume’ und ‘Wunschzeiten’ zu eigen zu machen. Oexle gefiel an Dorens Vortrag von 1927 der ‘phänomenologische Reichtum’ und die ‘Prägnanz und Genauigkeit in der Findung geeigneter Begriffe’ – sie wurde zu einer Maxime für die eigene Arbeit. Doren war ein zu diesem Zeitpunkt in West- und Ostdeutschland weitgehend vergessener jüdischer Schüler Lamprechts und Freund Aby Warburgs. Oexle trug auf diese Weise zur Rehabilitierung eines 1934 Verstorbenen bei und beschäftigte sich auch ansonsten mit Autoren,
17 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, 1996 (Nr. 105); Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), darin: Einleitung, S. 11–29; ebd., S. 1023–50 Verzeichnis der Veröffentlichungen, siehe auch das Verzeichnis der Veröffentlichungen von Otto Gerhard Oexle in diesem Band, S. 331–67. 18 Oexle, ‘Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois’, 1977 (Nr. 8), 293–339. Auf Dorens Begrifflichkeiten (Doren, ‘Wunschräume und Wunschzeiten’, S. 158–205) kam er später noch einmal zurück: Ders., ‘Wunschräume und Wunschzeiten. Entstehung und Funktionen des utopischen Denkens im Mittelalter’, 1994 (Nr. 89), S. 33–83.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
die gewiss nicht auf dem Lektüreplan von deutschen Mediävisten dieser Zeit standen, sondern auch zehn Jahre nach 1968 eher mit spitzen Fingern angefasst wurden. Durch Doren ließ sich Oexle inspirieren, weitere ‘Wunschräume’ des Mittelalters aufzuspüren, wobei er einen Bogen von Architekturphantasien bis zum sozialistischen Wohnungsbau schlug. Dann wandte er sich der Textexegese anhand der erhaltenen Handschriften Dubois‘ zu. Oexles Forschungen war im Übrigen wie fast alle seine Veranstaltungen in den 1970er Jahren unmittelbar mit der Lehre verbunden; so bot er im Sommersemester 1974 ein Hauptseminar zur Geschichte utopischen Denkens an. Diese Beispiele zeigen, dass man die Entwicklung von Oexles Œuvre nicht in einfache Formeln fassen kann. Greift man seine frühe Kennzeichnung der Laufbahn (1970) von Karl Hampe als ‘eindrucksvollen Aufstieg von strenger Quellenkritik zu universalhistorischer Weite’ auf, so ließe sich analog zu Oexle behaupten, er haben einen Weg vom quellennahen Frühmittelalter-Experten zum Theoretiker der Historischen Kulturwissenschaften beschritten.19 Eine solche plakativ formulierte Entwicklungstendenz allein würde seinem Gesamtwerk jedoch keinesfalls gerecht. Die methodischen Reflexionen waren bei ihm wohl von Anfang an bis in Rezensionen hinein immanent, ohne immer schon deutlich hervorzutreten. In Oexles Anmerkungen zu Karl Hampes Autobiographie lesen wir freilich eine Formulierung, die im Nachhinein wie eine Charakterisierung seiner selbst klingt: Er war nie ‘politischer Professor’ und hat dennoch das Zeitgeschehen beobachtet und politisch wie wissenschaftlich Konsequenzen daraus gezogen. Hampe habe auf Seiten der Weimarer Verfassung gestanden, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen. Oexles Bemühung um eine wissenschaftsgeschichtliche Verortung seiner eigenen Denkansätze klingen zu diesem frühen Zeitpunkt bereits an. a)
Die Freiburger Zeit
Warum Oexle im Sommersemester 1958 sein Studium in Freiburg begann und nicht im verkehrsmäßig gleich gut erreichbaren Tübingen, hat er uns nicht überliefert. Ein Bericht aus dem Inneren seiner Werkstatt als Historiker fehlt im Unterschied zu Le Goff und Duby. War es die ehemalige Zugehörigkeit seiner Heimatstadt Singen zu Vorderösterreich oder zum Großherzogtum Baden, die den Ausschlag gab? Jedenfalls war Oexle in Freiburg näher an Frankreich, angesichts des Studienfachs Romanistik ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Den Romanisten Hugo Friedrich benannte er selbst als ersten von vier Leitfiguren unter den akademischen Lehrern in Freiburg.20 Bei Friedrich erfuhr er von Ernst Robert Curtius und dessen Buch ‘Europäische Literatur und lateinisches 19 Oexle, ‘Rezension zu: Karl Hampe 1869–1936, Selbstdarstellung, mit einem Nachwort hrsg. von Hermann Diener, Heidelberg 1969’, 1970 (nach Nr. 4), 449 f., 449. 20 Oexle, ‘Einleitung’, 2011 (Nr. 271), S. 11 f.; vgl. Hausmann, ‘Anglistik und Romanistik’, S. 238–60, 250 ff.
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Mittelalter’. Zusammen mit Erich Auerbachs ‘Mimesis’ gehörte es zu den dringenden Empfehlungen Oexles an seine fortgeschrittenen Studenten in Münster. Der Althistoriker Herbert Nesselhauf animierte ihn, Droysens Historik zu lesen und zwar in jener Version, die 1958 als Nachdruck bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschien. Auf Nesselhauf kam Oexle noch lange zurück, mehr noch aber auf Droysen.21 Heinrich Rombach eröffnete ihm die Welt des wissenschaftlichen Denkens seit dem Mittelalter und bereitete damit seine allgemeinen kulturwissenschaftlichen Arbeiten vor. Oexles Kenntnis des spätmittelalterlichen Nominalismus und die überragende Bedeutung des Wilhelm von Ockham für die Grundlegung des modernen Denkens verdankte er Rombach. Bevor Oexle begann, die Thesen zur Historischen Kulturwissenschaft zu entwerfen, hatte er durch Rombach die Ausbildung zum Philosophen erfahren. Nicht von ungefähr steht am Schluss seines Aufsatzes aus dem Jahr 1987 zu den ‘Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit’ ein Abschnitt über den Nominalismus unter Berufung auf Rombach. Mit Rombach attestierte Oexle dem Nominalismus, ‘den Überschritt [!] in eine neue Zeit’ ermöglicht zu haben. Er schloss den Abschnitt mit Verweis auf ‘den dezidiert “nominalistischen” Grundzug moderner Wissenschaft’ bei Max Weber, Otto Hintze, Otto Brunner und Émile Durkheim.22 Seine 1962 begonnene Dissertation über die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf (Metz) schrieb Oexle bei Gerd Tellenbach, in dessen Freiburger Arbeitskreis er Aufnahme fand. Die Atmosphäre in Tellenbachs Seminar bezeichnete er als eher ‘nüchtern’.23 Hier aber wuchs ‘die Überzeugung, daß das liturgische Gebetsgedächtnis für Lebende und Verstorbene besonderen Erkenntniswert für die Personen- und Sozialgeschichte hat’.24 Prominent manifestiert hatte sich das Interesse an Personengeschichte bereits in Tellenbachs Rektoratsrede von 1956, spezifiert wurde es in Karl Schmids Aufsatz 1957 über Familie, Sippe, Geschlecht, Haus und Dynastie. Sie bereitete dessen Habilitationsschrift von 1961 vor.25 Beide, Tellenbach und Schmid, betreuten seine Dissertation. Oexle selbst wählte ein Thema aus der Geschichte von Metz im 9. Jahrhundert und zu den kirchlichen Reformen dieser Zeit. Er fand darin Ansätze zur ‘Deutung der
21 Zum Beispiel in Oexle, ‘Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit’, 1981 (Nr. 23), S. 284–354, 323 Anm. 215; Ders., ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, 1985 (Nr. 37), S. 558 f. 22 Oexle, ‘Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens’ (1987), in 2011 (Nr. 270), S. 340–401, Zitate 396 (Binnenzitat von Rombach), 401. 23 Oexle, ‘Karl Hauck, 21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007’, 2007 (Nr. 250), S. 462–69, 462. 24 Schmid und Oexle, ‘Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny’, 1974 (Nr. 5), 71–123, 74 f. Zum Freiburger Arbeitskreis vgl. Schmid, ‘Der ‘Freiburger Arbeitskreis’. Gerd Tellenbach zum 70. Geburtstag’, 330–47; Oexle, ‘Gerd Tellenbachs Weg zu einer Geschichte Europas’, 2005 (Nr. 234), S. 53–64; Nagel, ‘Mittelalterliche Geschichte’, S. 387–410, 406 f. 25 Tellenbach, ‘Zur Bedeutung der Personenforschung für die Erkenntnis des früheren Mittelalters. Freiburger Rektoratsrede am 4. Mai 1957’, S. 943–63; Schmid, ‘Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema ‘Adel und Herrschaft im Mittelalter’’ (1957), S. 183–244.
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fränkischen Zeit’.26 Zitierte Autoren in der Dissertation waren deutsche und französische Forscher, aber noch keine Vertreter der Annales-Schule. Deren Rezeption setzte erst später in Münster ein. Mit Ernst H. Kantorowicz, Percy Ernst Schramm und Carl Erdmann finden wir jedoch schon Autoren, die ihm auch später wichtig waren. Es ist kaum vorstellbar, dass Oexle Kantorowicz‘ ‘Laudes regiae’ von 1958 las, ohne sich über dessen Vita zu informieren.27 Thematisch gehörte Oexles 1969 veröffentlichter Aufsatz über Bischof Ebroin von Poitiers noch der Freiburger Zeit an, wenngleich mit einer Fragestellung zum ‘Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der adligen Führungsschicht’ (des 9. Jahrhunderts), die sich bereits auf Georges Duby berief.28 Mit Hinkmar von Reims fand bereits ein Autor Erwähnung, der dann für Oexles Forschungen zur funktionalen Dreiteilung und zu den Gilden zentrale Bedeutung haben sollte. b)
Der Sonderforschungsbereich 7 in Münster und das Memoria-Projekt
Karl Schmid nahm im Wintersemester 1965/66 einen Ruf nach Münster an; Oexle folgte ihm als Assistent. Schmid begründete in Münster mit Karl Hauck und anderen den Sonderforschungsbereich 7, der seit 1965 beantragt war und am 13. Juni 1968 vom Wissenschaftsrat in die Förderung aufgenommen wurde. Karl Hauck vermittelte Oexle ‘neue und überraschende Eindrücke’.29 Er lenkte Oexle Blick auf den Übergang von der Antike zum Mittelalter und die ‘außerordentliche Diversität multiethnischer und multireligiöser Verschränkungen’. Sodann verschaffte Hauck ihm durch seine Forschungen zu den Goldbrakteaten einen weiteren Zugang zur Sachkultur. Schließlich lernte Oexle durch Hauck via Percy Ernst Schramm das Werk von Aby Warburg kennen. Ein anderer Mitbegründer des Sonderforschungsbereichs, Friedrich Ohly, weitete noch einmal Oexles Blick auf die Literatur. Ohlys Einfluss auf Oexle lässt sich an seiner Periodisierung des Mittelalters und der Memoria ermessen. Nach Ohly endete das Mittelalter bei Goethe (und den ‘Wahlverwandtschaften’). Dazu unten mehr. Das von Schmid geleitete Projekt B des SFB ‘Personen und Gemeinschaften’ knüpfte direkt an die Freiburger Forschungen an. Zur Bewältigung der massenhaften Eintragungen wurden die Totenannalen von Fulda durch nichtnumerische Datenverarbeitung erfasst. Sie konnten deshalb zu vergleichbaren Überlieferungen im west- und ostfränkischen Reich zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert in Bezug gesetzt werden. Oexles Beiträge zum SFB 7 lassen sich zum einen nachlesen in dem von Karl Schmid 1978 herausgegebenen Gemeinschaftswerk zum FuldaProjekt.30 Zum anderen schlugen sie sich nieder in seiner 1973 eingereichten und ebenfalls 1978 erschienenen Habilitationsschrift, die ausschließlich dem
26 Oexle, ‘Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf ’, 1967 (Nr. 1), 250–364, 264. 27 Ebd., 302, 345; vgl. Oexle, ‘Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz‘ ‘Kaiser Friedrich der Zweite’ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik’, in 1996 (Nr. 105), S. 163–215. 28 Oexle, ‘Bischof Ebroin von Poitiers und seine Verwandten’, 1969 (Nr. 3), 138–210, 149 Anm. 60. 29 Oexle, ‘Karl Hauck, 21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007’, 2007 (Nr. 250), S. 462, 464, 465. 30 Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter.
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westfränkischen Bereich galt. Oexle unterzog die Memorialüberlieferung von Saint-Germain-des-Prés, Saint Denis, Saint-Martin in Tours, Lyon und Langres quellenkritischen Verfahren und wertete sie sozialgeschichtlich aus. Die erforderlichen ‘Handschriftenreisen’ nach Paris vertieften über den eigentlichen Zweck hinaus die Kontakte zur französischen Forschung. Bereits 1970 hatte sich der Münsteraner SFB in Trier mit Mediävisten des Nachbarlandes offiziell ausgetauscht. Wie Karl Ferdinand Werner dürfte Oexle diese Kontakte als ‘großes Lebensgeschenk’ verstanden haben.31 Oexle gliederte aus seiner Habilitationsschrift von 1973 in publikationsstrategischer Absicht einen langen Aufsatz unter dem Titel ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’ in den ‘Frühmittelalterlichen Studien’ 1976 aus. Er hatte programmatische Bedeutung für alle seine weiteren Forschungsarbeiten, denn die meisten Themen und Forschungsfelder, die Oexle seitdem beschäftigten, lassen sich hieraus ableiten. Sie führten ihn über die Memoria hinaus. (1.) Die zwei Bedeutungsebenen des lateinischen Wortes memoria im Deutschen als ‘Gedächtnis’ und ‘Erinnerung’ betrafen die Reflexion über die Hervorbringung des Vergangenen, ein zentraler Punkt für alle weiteren erkenntnistheoretischen Überlegungen Oexles.32 Wegen der Engführung dieser Gedanken in Nietzsches Schrift ‘Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben’ und dem Ausschluss von Erinnerung als Teil der Geschichtswissenschaft zeichneten sich 1976 an dieser Stelle Oexles künftige Überlegungen zum Historismus ab. (2.) Memoria stiftet ‘Gemeinschaft’, wie Oexle damals noch schrieb. Er zog seinerzeit ‘Gemeinschaft’ dem ‘farblosen und unbestimmteren Begriff der “(sozialen) Gruppe” vor, hatte sich aber bereits mit Ferdinand Tönnies‘ Unterscheidung zwischen ‘Gemeinschaft’ und ‘Gesellschaft’ auseinandergesetzt.33 Naheliegend waren Forschungen zu sozialen Gruppen und die durch sie zum Beispiel qua Memoria organisierte Kranken- und Sterbefürsorge. Das Projekt über Gilden schien auf, zunächst vermittelt über Gabriel Le Bras, Jeanne Deschamps und Pierre Michaud-Quantin. Dessen Buch ‘Universitas’ von 1970 gewann zentrale Bedeutung für Oexle.34 (3.) Der Abschnitt ‘Gebet als Gabe’ war erkennbar von Marcel Mauss‘ ‘Essai sur le don’ inspiriert, der 1968 in einer Neuauflage und in einer deutschen Übersetzung erschienen war.35 Die gegenseitige Hilfe in den Gilden basierte auf dem Gabentausch, bestimmte aber auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen. Die im 11. Jahrhundert verbreitete Denkfigur eines in drei Teile gegliederten ‘sozialen Ganzen’ hing vom gegenseitigen Geben und Nehmen
31 Oexle, ‘Karl Ferdinand Werner, 21. Februar 1924 – 9. Dezember 2008’, 2009 (Nr. 266), 409–10, 410. 32 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’ (1976), in 2011 (Nr. 270), S. 157–86, S. 168 mit Anm. 66 (zu Droysen und Nietzsche). 33 Ebd., S. 175 mit Anm. 102. 34 Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le Moyen-Age latin. 35 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’ (1976) , in 2011 (Nr. 270), 176 mit Anm. 108.
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ab. Oexle rezipierte hierzu aktuelle Beiträge von Jacques Le Goff und vor allem Georges Dubys Buch ‘Guerriers et paysans’, das 1973 in Paris erschien. (4.) Weil Kleriker und Mönche aktiv an der Verbreitung dieser ‘société tripartie’ beteiligt waren, ließen sich Ansätze zu ihrer Erforschung in der sozialen Wirklichkeit des frühen Mittelalters entwickeln.36 (5.) Das gleiche gilt für die Armen, die nicht nur passiv Gegenstand von Stiftungen und Schenkungen waren, sondern durch ihr Gebet für die Stifter eingebunden waren in den Gabentausch.37 Noch Oexles Arbeit für den Katalog zur Paderborner ‘Caritas’-Ausstellung 2015 bietet zu diesem Thema einen grandiosen Überblick. (6.) Forschungen zum Verhältnis der Menschen zum Tod in früheren Zeiten und in der Gegenwart kündigten sich massiv im Schlussabschnitt des Aufsatzes von 1976 an. Oexle vertiefte seine Vorüberlegungen 1979 auf einer Tagung in Löwen in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel ‘Gegenwart der Toten’.38 Während die Franzosen Michel Vovelle und Philippe Ariès ihre Konferenzbeiträge 1983 in knapper Form auf je zehn Seiten zum Abdruck brachten, entfaltete Oexle auf 60 Seiten ein regelrechtes Panorama abendländischer Geschichte, das von Tertullian bis zu Goethes Wahlverwandtschaften reichte und nicht nur seine Forschungen zur Memoria rekapitulierte, sondern auch eine Kritik der Deutungen des mittelalterlichen Totenbrauchtums in der Moderne einschloss. Der Abschnitt über die große Mortalitätskrise durch die Pestepidemien und ihre Folgen ist im Übrigen eine der relativ seltenen Passagen in Oexles Werk, in denen er sich über jenes Thema ausließ, das uns zusammengebracht hatte. Sein Bezugspunkt war ein 1975/76 erschienene Buch von Jean-Noël Biraben, das er 1978 rezensierte.39 Oexle schloss diesen Aufsatz, dessen Genese ich mitverfolgen durfte, mit einem Zitat aus Marc Blochs ‘Apologie’ über das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart. Mehr als deutlich wurde nunmehr seine Wertschätzung Blochs, schon einige Zeit bevor er ausführlich auf ihn zurückkam.40 Allen frühen Beiträgen Oexles zur Memoriaforschung lag ein quellenkundlicher und -kritischer Ansatz zugrunde. Im Fulda-Projekt kam ihm die Aufgabe zu, Totenannalen zu untersuchen. Er arbeitete in päläographischen Fragen mit Bernhard Bischoff zusammen und bezog nicht nur Textquellen in seine Überlegungen ein, sondern auch die Würdezeichen der Äbte, die Buchmalerei eines fuldischen Sakramentars oder die Memorialaufzeichnungen auf einer Apsiswand.41 Die
36 Ebd., 183 f. 37 Ebd., 184 f. 38 Ebd., 185 f.; Ders., ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), S. 19–77, wieder abgedruckt in 2011 (Nr. 270), S. 99–156. 39 Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), S. 65–68; Biraben, Les hommes et la peste en France et dans le pays européens et mediteranéns, 2 Bde.; Rezension durch Oexle, 1978 (nach Nr. 18), 684–90. 40 Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), S. 77. 41 Oexle, ‘Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert’, 1978 (Nr. 11), S. 174–77 und S. 161; Ders., ‘Die Synoden von Reims und Mainz (1049) im Spiegel fuldischer Memorialüberlieferung’, 1978 (Nr. 14), S. 953–62, 958 f.
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Aufgeschlossenheit für Quellen aus der Sachkultur, noch einmal intensiviert durch Karl Hauck, brachten ihn früh in die Nachbarschaft zur Kunstgeschichte. Der Auftakt hierzu ergab sich durch eine gemeinsame Seminarübung mit Schmid im Sommersemester 1966 über welfische Hausüberlieferung. Hieraus entstand ein allein von Oexle verantworteter Aufsatz im ‘Deutschen Archiv’ 1968, der alle Kennzeichen seiner Arbeiten aus dieser Zeit trug: die bei Leibniz beginnende Editionsgeschichte; ein breiter problemgeschichtlicher Einstieg in die Forschungsgeschichte zum früh- und hochmittelalterlichen Adel, ein Aufriss der Methoden beim Abgleich verschiedener Quellenzeugnisse, darunter die bildlichen Darstellung des Stammbaums in der Handschrift aus Weingarten, schließlich die Ausformung des welfischen Herrschaftsbewusstseins, abgeleitet aus den genealogischen Quellen.42 Oexle gewann damit zum einen ein außerordentliches Renomee als Experte für welfische Überlieferung und Memoria, der immer wieder gefragt war, insbesondere nach der Rückkehr des Evangeliars Heinrich des Löwen nach Deutschland. Zum anderen vertieften sich seine Kontakte zur Kunstgeschichte. c)
Rezeption der französischen Forschung (Duby, Le Goff, Bloch), die Mentalitätengeschichte und die funktionale Dreiteilung
Es dürfte deutlich geworden sein, welche Rolle die französische Mittelalterforschung für Oexles Werk gespielt hat. Wer über das späte Karolingerreich und über westfränkische Totenannalen schrieb, musste sich mit den Befunden der Forschung im Nachbarland westlich des Rheins auseinandersetzen. Oexles Auslandssemester in Poitiers, die Handschriftenreisen nach Paris und persönliche Begegnungen intensivierten die Kontakte. Der Romanist Oexle hatte also bei der Rezeption der französischen Mediävistik Startvorteile. Wenn später die großen Namen der französischen Mediävistik publizistischen Erfolg hatten und ins Deutsche übersetzt wurden, hatte Oexle sie bereits alle im Original gelesen. Durch die Hinwendung der französischen Mediävistik zu Mentalitäten in den 1960er und 1970er Jahren und damit auch zur Gottesfriedenbewegung und ihrem gesellschaftlichen Umfeld fand Oexle eine gemeinsame Schnittmenge zu seinen damaligen Forschungen. Von einschneidender Bedeutung für seine aktuellen Forschungsfragen war für ihn die Lektüre des dreibändigen, von Jacques Le Goff und Pierre Nora 1974 herausgegebenen Sammelwerks ‘Faire de l’histoire’.43 Die Beiträge von Le Goff über Mentalitäten und Georges Duby über Sozialgeschichte und Ideologie interessierten ihn besonders. Einen hohen Stellenwert nahm für Oexle der von
42 Oexle, ‘Die ‘sächsische Welfenquelle’ als Zeugnis der welfischen Hausüberlieferung’, 1968 (Nr. 2), 435–97; eng damit verbunden ist: Ders., ‘Bischof Konrad von Konstanz in der Erinnerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferung während des 12. Jahrhunderts’, 1975 (Nr. 6), 7–40. Über die weiteren Schriften zur welfischen Überlieferung informiert das Verzeichnis der Veröffentlichungen von Otto Gerhard Oexle in diesem Band, Nr. 54, 100, 101, 134. 43 Faire de l’histoire, 3 Bde. Eine deutsche Übersetzung ist nicht erschienen.
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Le Goff herausgegebene Band ‘La Nouvelle histoire’ von 1978 ein.44 Für die im Entstehen begriffenen Arbeiten über die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft im 11. und 12. Jahrhundert rezipierte Oexle aber nicht nur die französische Forschung. Carl Erdmanns Buch ‘Die Entstehung des Kreuzzuggedankens’ von 1935 dürfte ihm schon wegen der Freundschaft von Gerd Tellenbach mit dem Autor nicht entgangen sein.45 Oexle war souverän genug, zum Gottesfrieden nicht nur Hartmut Hoffmanns Forschungen zu verarbeiten, sondern auch die des prominenten DDR-Historikers Bernhard Töpfer.46 Mit den Arbeiten an dem dann 1978 in den Frühmittelalterlichen Studien erschienenen Aufsatz ‘Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft bei Adalbero von Laon’ hatte Oexle schon 1975/76 begonnen.47 Ob das zu diesem Zeitpunkt schon angekündigte Editionsprojekt von Claude Carozzi zu Adalberos Carmen ad Robertum Oexle umtrieb48? Auch Dubys Buch ‘Les trois ordres ou l’imaginaire du feodalisme’ befand sich in Planung; es erschien 1978, 1981 übersetzt ins Deutsche. Oexle leitete den Aufsatz mit dem eingangs zitierten Satz aus Johann Gustav Droysen Historik zur Selbstreflexion als Voraussetzung historischer Forschung ein. Sodann erörterte er ‘Deutungsschemata’ der sozialen Wirklichkeit als Gegenstand historischer Forschung und verwendete einen Begriff, den Alfred Schütz 1932 eingeführt und den Peter L. Berger und Thomas Luckmann 1969 auf die Alltagswelt bezogen hatten.49 Zu den Deutungsschemata rechnete Oexle auch die Sozialmetaphern, die seit der frühen Christenheit auf mittelalterliche Autoren ausstrahlten. Wer diesen Teil von Oexles Aufsatz wahrnimmt, wird regelrecht zu einer sozialgeschichtlichen Lektüre der Bibel und ihrer Rezeption im Mittelalter inspiriert.50 Der Mittelteil analysierte textkritisch Adalberos Text, um abschließend Anfänge und Verbreitung der funktionalen Dreiteilung bis in die Antike zurückzuverfolgen. Die Spuren führten zurück zu Plato. Entscheidend für die Durchsetzung des Deutungsschemas war für Oexle jedoch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft nach der Jahrtausendwende. An dieser Stelle griff er Dubys Forschungen seit dessen Buch über das Maconnais 1954 auf. Nach Erscheinen der Originalausgabe von ‘Trois ordres’ wurde Duby Gegenstand eines räsonierenden Beitrags Oexles, der 1981 in der Historischen Zeitschrift erschien. Dieser Aufsatz war mehr als eine erweiterte Rezension. Oexle stellte das Gesamtwerk Dubys vor und vermittelte damit Begleitinformationen
44 Die deutsche Übersetzung erschien erst mit Verspätung und nicht vollständig; Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. 45 Tellenbach, Aus erinnerter Geschichte, S. 82–94; Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. 46 Hoffmann, Gottesfrieden und Treuga Dei; Töpfer, Volk und Kirche zur Zeit der beginnenden Gottesfriedensbewegung in Frankreich. 47 Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1978 (Nr. 18), 1–54. 48 Seine Kritik an Carozzis Edition wird unten besprochen. 49 Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie; Berger und Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 50 Eine Frucht dieser Anleitungen war mein Vortrag auf dem Berliner Historikertag 1984: Reininghaus, ‘Arbeit im städtischen Handwerk an der Wende zur Neuzeit’, S. 9–31.
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zu den mittlerweile anlaufenden Übersetzungen von Dubys Büchern. Kritiklos war der Beitrag nicht: Dieses Buch von Duby mache, so Oexles Resümee, deutlich, vor welchen methodischen Schwierigkeiten die Forschung steht, wenn sie das Verhältnis von ‘Wirklichkeit’ und ‘Wissen’ in vergangenen Epochen zu erhellen versucht.51 Oexle sprach unter anderem die ‘Problematik punktueller Verknüpfungen zwischen Deutungsschemata und den sozialen Prozessen’, ‘das gleichzeitige Auftreten’ konkurrierender Schemata und ‘die Traditionsbestimmtheit solcher Schemata’ an. Ein ähnliches Werkporträt widmete Oexle 1990 Jacques Le Goff.52 Ihn faszinierten an Le Goff dessen unübliche Einblicke in die enge Verflechtung von Wissenschaft und Leben. Deutsche Historiker scheuten davor lange zurück. Anlass war Le Goffs Beitrag für die ‘Essais d’ego-histoire’, die 1987 auf Französisch und in Auswahl 1989 in deutscher Sprache herausgekommen waren. Oexle referierte die Wurzeln der Mentalitätengeschichte, die zu Marc Bloch, Marcel Mauss und Georges Dumezil führten und komparatistisch angelegt waren, und die Überwindung und Weiterführung der Mentalitätengeschichte in einer ‘Histoire de l’imaginaire’, einer Geschichte der Bilder-Welt oder Bild-Welten. Auch Le Goff blieb von Oexles kritischen Fragen nicht verschont. Sie galten unter anderem wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten und betonten die Beiträge von Aby Warburg und Erwin Panofsky zur Ikonographie und zur Ikonologie, die in Frankreich nicht rezipiert worden waren. Oexle schätzte Le Goff wegen seiner Reflexionen, die dem Fach Geschichte, seinen Methoden, der Tragweite und der Grenzen der historischen Erkenntnis galten. Zustimmend nahm Oexle die lange Dauer des Mittelalters bei Le Goff zur Kenntnis. Es ist kein Zufall, dass er ausgerechnet im Werkporträt Le Goffs auf einen ähnlichen Befund von Friedrich Ohly aus dem Münsteraner Sonderforschungsbereich zurückkam: ‘Das Mittelalter endete erst bei Goethe’.53 Die unterstellte lange Dauer von Strukturen lässt die Lektüre der Arbeiten Fernand Braudels vermuten, die Oexle jedoch nicht engagiert rezipierte. Lag das an Braudels Brunner-Kritik, auf die noch einzugehen ist? Die Hinwendung zu Marc Bloch geschah über Duby, Le Goff und andere. Oexle schloss ja seinen 1979 gehaltenen Löwener Vortrag über die ‘Gegenwart der Toten’ in der Druckfassung 1983 mit einem Bloch-Zitat ab. Dies ist ein Indiz für seine erst in den 1980er Jahren einsetzende intensive Beschäftigung mit Blochs Werk. Für das Gilde-Konzept nahm Oexle jedenfalls Blochs Bemerkung in ‘La société feodale’ erstmals 1990 in Anspruch, obwohl dessen Betonung des Eids ein starkes Argument für Oexles Argumentation gewesen wäre.54 Bloch wurde 51 Oexle, ‘Die ‘Wirklichkeit’ und das ‘Wissen’. Ein Blick auf das sozialgeschichtliche Oeuvre von Georges Duby’, 1981 (Nr. 22), S. 73, folgende Zitate ebd., S. 73 f. 52 Oexle, ‘Das Andere, die Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters’, 1990 (Nr. 62). 53 Ebd., S. 152. 54 Oexle, ‘Le travail au XIe siècle: réalités et mentalités, 1990 (Nr. 58), S. 59 nach Marc Bloch, La société feodale, S. 492 f.; deutsch: Die Feudalgesellschaft, S. 427 f.
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in den Aufsätzen zum Historismus dann immer wieder zitiert und an oberster Stelle neben Max Weber eingeordnet in die Rubrik ‘wieder zu lesender und nicht überholter, sondern aktueller Klassiker’. Oexle erkannte die Ähnlichkeit mit Max Webers Anliegen in Blochs ‘Apologie’ und bewunderte Bloch dafür, nicht beim Empirismus stehen geblieben zu sein. ‘Le veritable chercheur […] pense par problemes’, leitete Oexle aus Blochs Werk ab.55 Indem Oexle indirekt Bloch für die Entstehung der Historischen Kulturwissenschaft reklamierte, trug er zu dem Missverständnis bei, ‘die Annales seien auf den Spuren Max Webers gewesen’.56 Dieser Befund Peter Schöttlers wird dem Anliegen Oexles aber nicht gerecht, denn er stellte lediglich eine Ähnlichkeit der Fragestellung zwischen Weber und Bloch her, keine direkte Einflussnahme. Seinen bilanzierenden Aufsatz von 1995 mit dem auffordernden Titel ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß’ widmete Oexle auf Französisch Marc Bloch, ‘ermordet im Namen des deutschen Volkes am 16. Juni 1944’.57 Diesen Beitrag prägte insgesamt eine nicht zu übersehende Ungeduld, weil nach Meinung Oexles die deutsche Forschung die französische Forschung immer noch nicht wahrnahm oder verstand. Dahinter standen nach Oexle jeweils unterschiedliche politische Positionierungen: Während auf der einen Seite Bloch den Weg in den Untergrund und Widerstand ging, kooperierten deutsche Historiker in der Zeit des Nationalsozialismus mit ‘Baal’.58 Konsequenterweise vermittelte Oexle als Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und mit der dortigen Mission Historique Française en Allemagne vielfach zwischen deutscher und französischer Mediävistik. Die Sorbonne dankte es ihm 2001 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde. JeanClaude Schmitt akzentuierte in seinem Nachruf gerade die auf Bloch aufbauende Funktion Oexles als Vermittler zwischen der Geschichtswissenschaft dies- und jenseits des Rheins.59 d)
Soziale Gruppen, Gilden und Zünfte
Oexles Beschäftigung mit mittelalterlichen Gruppen als Forschungsgegenstand war aus der Memorialforschung abgeleitet. Die Namensnennung in der liturgischen Memoria geschah in einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft […] Memoria schafft Gemeinschaft, sie ist ein konstituierendes Element von Gemeinschaften.60 55 Oexle, ‘Marc Bloch et la critque de la raison historique’, 1990 (Nr. 61), S. 419–33, 420. 56 So Schöttler, Die ‘Annales’-Historiker und die deutsche Geschichtswissenschaft, S. 13. 57 Oexle, ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß’, 1995 (Nr. 102), S. 89. 58 Nach dem Titel des Aufsatzes: Oexle, ‘“Zusammenarbeit mit Baal“. Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 – und nach 1945’, 2000 (Nr. 162), S. 1–27. 59 Schmitt, ‘Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 211–16, siehe auch in leicht überarbeiteter Fassung im vorliegenden Band, S. 31–38. 60 Oexle, ‘Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert’, 1978 (Nr. 11), S. 175, folgendes Zitat ebd., S. 175 Anm. 102.
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In den früheren 1970er Jahren tauschte Oexle ‘Gemeinschaft’ gegen den Begriff der ‘(sozialen) Gruppe’ aus; er griff dabei auf Leopold von Wieses Definition eines ‘sozialen Gebildes’ im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften zurück. Oexle prüfte um 1975 anstelle von ‘Gruppe’ den Begriff ‘Schicht’, entschied sich aber für Gruppe, obwohl dieser Begriff Spielräume zulässt.61 Zwischen 1977 und 1979 baute Oexle in drei Beiträgen zu wissenschaftlichen Tagungen sein Konzept von mittelalterlichen Gilden als sozialen Gruppen aus. Den Anfang machte ein Vortrag vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften im November 1977.62 Er berief sich gleich zu Beginn in der Druckfassung auf Otto Brunner, der die Erforschung von ‘Menschen und menschliche Gruppen in ihrem Zusammenleben’ zur zentralen Aufgabe der Sozialgeschichte erklärt hatte. Oexle verzichtete jetzt definitiv auf den Begriff ‘Gemeinschaft’, der im 19. und 20. Jahrhundert ideologisch befrachtet gewesen sei. ‘Soziale Gruppe’ sei in der Definition von Leopold von Wiese wegen ihrer vier konstituierenden Momente vorzuziehen: (1) wegen der relativen Dauer in der Zeit; (2) der inneren Organisiertheit; (3) der Abgrenzung nach außen; (4) des Vorhandenseins von Regeln und Normen. Für die mittelalterliche Sozialgeschichte kamen zum Beispiel als Forschungsgegenstände Verwandtengruppen, vasallitische und monastische Gruppen oder ‘Gilden’ in Frage. Im Unterschied zu Verwandtengruppen definierte Oexle den Forschungsbegriff ‘Gilden’. Sie konstituierten sich durch gegenseitigen Eid und gemeinsames Mahl. Dieser Forschungsbegriff trat in Konkurrenz zu einem reichen Vokabular zur Bezeichnung sozialer Gruppen seit der Karolingerzeit. Die Forschung hatte sich festgelegt: Kaufleute bildeten angeblich Gilden, Handwerker Zünfte. Eines der zentralen Anliegen Oexles war es, diese vermeintliche Dichotomie aufzulösen und nachzuweisen, dass Zünfte der sozialen Gruppe vom Gildetypus zuzurechnen waren. Für die ‘Gilden’ der Karolingerzeit tat sich jedoch die Schwierigkeit auf, ihre innere Struktur aus den Verboten herauszufiltern, denn Selbstzeugnisse über sie liegen nicht vor. Deshalb wertete Oexle unter anderem Hinkmar von Reims‘ Kapitular von 852 aus, in dem die gemeinsamen Mähler der Priester (convivia) aus feindlicher Perspektive beschrieben worden waren. Aus Verboten das gruppeninterne soziale Geschehen abzuleiten, ist ein methodisches Problem von Gewicht. Oexle sah ‘Gilden’ der späten Karolingerzeit unter anderem in den Ortsgilden der bäuerlichen Welt repräsentiert, die sich zum eigenen Schutz zu Zeiten einer verfallenden staatlichen Ordnung bildeten. Analoge Ursachen erblickte er bei der Entstehung der Kaufmannsgilden im 11. Jahrhundert. Sie waren wie die Ortsgilden eine Antwort auf neue Phänomene und auf wirtschaftliche und soziale Wandlungen, in deren Folgen die Gilde mehr und mehr auch ein das städtische Leben prägendes Sozialgebilde wird.63
61 Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung der ‘Gesellschaft’ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1978 (Nr. 18), 48 f. mit Anm. 284. 62 Oexle, ‘Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit’, 1981 (Nr. 23). 63 Ebd., S. 352 f.
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Der knapp ein Jahr später in Köln gehaltene Vortrag, im Druck erschienen bereits 1979, griff die zentralen Elemente und Definitionen des Göttinger Vortrags auf, beschrieb aber noch gründlicher die Struktur der Gilden in ihren verschiedenen diachronen Ausprägungen. Mit Pierre Michaud-Quantin sah Oexle die mittelalterliche Gesellschaft ‘zu einem sehr großen Teil gebildet durch ein dichtes Netz geschworener Verpflichtungen, die die Beziehungen der Individuen untereinander schaffen und regeln’.64 Oexle gab eine Übersicht über Details dieser Regeln bis hin zur Glocke der Kaufmannsgilde von St. Omer und beschrieb damit die ‘Gruppenkultur’. Sodann lenkte er den Blick auf unterschiedliche mittelalterliche soziale Gruppen vom Gildetypus: Kaufleute, Handwerker, Studenten, Pilger-, Schützen- und Elendengilden, Spielleute und andere diffamierte Berufe. Eine Auseinandersetzung mit Thomas Nipperdeys Aufsatz über Vereine des 19. Jahrhunderts65 diente der Frage nach der Kontinuität der Gilden über 1800 hinaus. Am Ende hielt Oexle die Verbreitung der Gilden für eines der Alleinstellungsmerkmale des Okzidents, weil es vergleichbare geschworene Einungen in anderen Kulturen nicht gegeben habe. Auf der Reichenau-Tagung im Herbst 1979 über ‘Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften (Gilden und Zünfte)’ griff Oexle die Schlusssequenz seines Göttinger Vortrags auf und schaute zurück bis in die Antike. Er untersuchte Klerikergilden des 6. Jahrhunderts und lehnte kategorisch eine germanische Herkunft ab. Die conjurationes der Zeit vor 400 einzubeziehen, bedeutete eine bewusste Provokation, denn Oexle überschritt die nicht nur auf der Reichenau üblichen Epochengrenzen. Er ließ dabei offen, ob die Christengruppen der ersten Jahrhunderte ‘nicht auch wirklich conjurationes im sozialen Sinn des Wortes, das heißt: geschworene Einungen gewesen sind.’66 Über Ablehnung, die Oexle auf der Reichenau erfuhr, wird noch zu sprechen sein. 1981 stand der ‘Tag der deutschen Landesgeschichte’ im Zeichen der Handwerksgeschichte, die damals wachsendes Interesse in der Forschung erfuhr.67 Oexle brachte aus diesem Anlass seine begonnenen Studien zur Zunft als Forschungsproblem zum Abschluss. Er ließ die bis etwa 1920 mit Heftigkeit ausgetragenen Kontroversen über die Zünfte des 12./13. Jahrhunderts Revue passieren. Auf die Protagonisten Georg von Below und Otto (von) Gierke ging er ausführlicher ein. Über beide schrieb er bald in einem Sammelband über die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900.68 Neu an Oexles Interpretation 64 Oexle, ‘Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen’, 1979 (Nr. 19), S. 203–26, 207. 65 Nipperdey, ‘Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung’ (1972), S. 174–205. 66 Oexle, ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, 1985 (Nr. 37), S. 561. 67 Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung vgl. Reininghaus, ‘Handwerk als Gegenstand historischer Forschung von 1978 bis heute’, S. 22–37. 68 Oexle, ‘Otto von Gierkes ‘Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft’. Ein Versuch wissenschaftlicher Rekapitulation’, 1988 (Nr. 50); Ders., ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, 1985 (Nr. 37), S. 198–218; Ders., ‘Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858–1927)’, 1985 (Nr. 38), S. 283–312.
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war die Rückbindung der Zunftforschung an seinerzeit aktuelle politische Prozesse. Gierke galt ihm als Repräsentant der liberalen bürgerlichen Bewegung im Deutschland des 1860er Jahre, die Below ein Dorn im Auge waren. Below betonte das Verhältnis der Zünfte zur Obrigkeit und reduzierte sie damit auf wirtschaftliche Zwecke. Damit trug er zu einer folgenreichen Engführung des Zunftbegriffs bei. Oexle behandelte an keiner Stelle die Realgeschichte der Zünfte. Ihm war wichtig, ‘die Geschichte der Erforschung der mittelalterlichen Zunft […] als Problemgeschichte’ darzustellen.69 An dieser Stelle wurde explizit Oexles Verständnis von ‘Problemgeschichte’ deutlich, die er später als ‘ein wissenschaftsgeschichtliches Vorgehen’ definierte, ‘das die einzelnen, fachlichen Fragestellungen zugrunde liegenden wissenschaftlichen wie lebensweltlichen Orientierungen zum Gegenstand hat’.70 Oexles Resümee zur Problemgeschichte der Zunft stand bereits im Zeichen seines bald folgenden Entwurfs einer ‘Historischen Kulturwissenschaft’: Zunftforschung müsse komparatistisch sein, unter Beteiligung mehrerer Disziplinen und epochenübergreifend. Er verwies unter Berufung auf Wolf Lepenies auf jene ‘vergessenen Ansätze’, ‘die sich nicht durchgesetzt haben, deren erneute Vergegenwärtigung jedoch sinnvoll erscheint’, und dachte an Gierke und andere. e)
Max Weber und Georg Simmel
Erste Spuren der Weber-Lektüre finden sich bei Oexle an versteckter Stelle und zwar in einer Rezension des Jahres 1975. Als Oexle die Edition der Rechnungen des Kloster Saint-Martin in Tours in der Zeitschrift ‘Francia’ anzeigte, erinnerte er nach Weber daran, dass solche Aufzeichnungen als Beleg für die spezifische rationale Methodik der Lebensführung in Klöstern dienen, deren Gemeinwirtschaft deutlich über das hinausführte, ‘was die normale Wirtschaft zu leisten pflegt’.71 Oexle zog zu dieser Zeit mehrfach die 1972 in fünfter Auflage von Johannes Winckelmann herausgegebene Studienausgabe von ‘Wirtschaft und Gesellschaft’ heran.72 Er zitierte daraus unter anderem für seine Studien zur Entstehung des Mönchtums, wobei er eine der Quellen Webers, nämlich Adolf Harnacks Schrift über das Mönchtum von 1882, ermittelte.73 Webers ‘Wirtschaft und Gesellschaft’ lieferte auch bei der Ausformung von Oexles Gilde-Konzept in den 1970er Jahren entscheidende Bausteine. Denn darin steht der Satz: ‘Der Eid ist
69 Oexle, ‘Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne’ (1982), in 2011 (Nr. 270), S. 691–742, 736 f., folgendes Zitat 737. 70 Oexle, ‘Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung’, 1984 (Nr. 32), 9. 71 Oexle, Rezension zu: ‘Documents comptables de Saint-Martin de Tours à l’époque mérovingienne, publiés par Pierre Gasnault, Paris 1975’, 877 f., 878, 1977 (nach Nr. 8). 72 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, S. 694 ff. Auf diese Ausgabe, die Oexle durchgängig benutzte, wird im Folgenden zurückgegriffen. 73 Oexle, ‘Koinos bios: Die Entstehung des Mönchtums’, in 2011 (Nr. 270), S. 470–95, 474, 476 ff.; Ders., ‘Max Weber und das Mönchtum’, 2003 (Nr. 209), S. 311–34.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
[…] eine der universellsten Formen aller Verbrüderungsverträge’. Auch die bei Weber aus dem Eid abgeleitete Form der Willkür als ‘durch die Tradition oder vereinbarte Satzung “ständischer Einverständnisgemeinschaften” in autonom gesatzten Ordnungen [geschaffenen] Rechts’ wirkte auf Oexles Konzept ein.74 Für einen komparatistischen Blick auf die Gilden und ihre Rolle im Okzident nahm er Bezug auf Webers Religionssoziologie.75 Freilich stützte sich Oexle bei der Abfassung seines Artikels ‘Stand, Klasse (Antike und Mittelalter)’ in den ‘Geschichtlichen Grundbegriffen’ ausdrücklich nicht auf Weber, obwohl dies nahe gelegen hätte. Oexle verwies auf konkurrierende rechtshistorische Definitionen und Widersprüche zwischen der sozialgeschichtlichen Wirklichkeit und der sie erschließenden Quellensprache.76 In den 1980er und 1990er Jahren, als Oexle verschiedene Beiträge zu einer ‘Theorie der historischen Erkenntnis und zur Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften’ zusammenfügte, diente Weber ihm quasi als Mentor. Oexle rekurrierte nun nicht mehr auf ‘Wirtschaft und Gesellschaft’, sondern auf Webers Aufsätze zur Wissenschaftslehre, insbesondere auf den Aufsatz zur ‘‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis’ (1904) und ‘Wissenschaft als Beruf ’ (1919). Oexle profitierte nicht nur von der einsetzenden Weber-Renaissance, sondern auch von der 1976 erschienenen zusammenfassenden Interpretation von Webers Wissenschafts- und Erkenntnistheorie durch Jürgen Kocka.77 Wohl von keinem anderen Befund Webers war Oexle nachhaltiger beeindruckt als von dem über den vom Sinn wissenschaftlicher Arbeit: ‘Wissenschaftlich […] überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck’.78 Mit Weber widersprach Oexle der ‘Behauptung, wissenschaftliche Erkenntnis sei schon sinnvoll an und für sich, weil sie wahre Erkenntnis sei’ – dies war ‘eine entscheidende Absage an die Hauptrechtfertigung aller positivistischen Wissenschaft’.79 Diese Überlegungen formulierte Oexle im Januar 1989, also weniger als drei Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, vor einem Umwelt-Arbeitskreis in Göttingen. Er nahm damals aktuelle unterschiedliche Positionen zur Nutzung der Atomenergie zum Anlass, um mit Weberschen Argumenten seine bereits 1984 74 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, S. 402, 417; vgl. Oexle, ‘Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen’, 1979 (Nr. 19), S. 203; Ders., ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, in 2011 (Nr. 270), S. 503 75 Oexle, ‘Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen’, 1979 (Nr. 19), S. 225 f.; Ders., ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, in 2011 (Nr. 270), S. 568. 76 Oexle, ‘‘Stand’ im lateinischen Europa’, in 2011 (Nr. 270), S. 289 zu Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, S. 179 f., 534 f. 77 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 246 Anm. 54; Kocka, ‘Kontroversen über Max Weber’, 281–301, 288 ff. 78 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 25. 79 Oexle, ‘‘Wissenschaft’ und ‘Leben’. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft’, 1990 (Nr. 65), 145–61, 154.
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begonnenen Studien zum Vergleich der Erkenntnistheorien in den Kultur- und Naturwissenschaften fortzuführen.80 Die Rezeption des Werks von Georg Simmel war in manchem der Aufnahme von Webers Werk ähnlich. Sie setzte später ein, stand aber in direktem Zusammenhang zum Gilde-Konzept. Um den Schutz der Gilden vor gegen sie gerichtete Aktionen ihrer Gegner zu erklären, bediente sich Oexle in Simmels ‘Soziologie’ von 1908.81 Dort besitzt das Geheimnis einen hohen Stellenwert. Und Simmels kleiner Essay ‘Soziologie der Mahlzeit’ von 1910 förderte Oexles Festschreibung des gemeinsamen Essens und Trinkens als konstitutiven Akt der Gilden.82 Solche Zugriffe auf das Einzelne und auf Details korrespondierten mit Simmels Frage, wie Gesellschaft möglich ist. Nach Oexle ist bei Simmel zu sehen, wie ‘mikroskopisch-molekulare Vorgänge’ zu erfassen sind und auf einer Makroebene wieder zusammengebunden werden können.83 Seit den späten 1980er Jahren befasste sich Oexle intensiv mit Simmels erkenntnistheoretischen Überlegungen, die in seiner ‘Philosophie des Geldes’ für Externe nicht sehr auffällig platziert waren. Oexle entdeckte diesen ‘vergessenen Ansatz’ wieder, nachdem die Soziologie Simmel als einen Klassiker ihres Fachs reklamiert hatte. Bei den Historikern war Simmel zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht angekommen. Oexle trug zu Simmels Bekanntwerdung unter ihnen maßgeblich bei, zuerst im Bad Homburger Arbeitskreis ‘Theorie der Geschichte’,84 und dann 1990 auf dem Bochumer Historikertag. Nichts kennzeichnet Oexles Wertschätzung dieses Autors mehr als die Anlehnung bei der Beschreibung seines eigenen sehr persönlichen ‘Romspaziergangs’ an Simmels ästhetische Analyse von Rom 1898.85 Die von Christian Meier geleitete Sektion des Bochumer Historikertags fragte nach der Aktualität von Weber für die Geschichte der Stadt in Antike und Mittelalter. Der gruppenbezogene Ansatz des Sektionsleiters veranlasste Oexle, die Texte von Tönnies, Simmel, Durkheim und Weber über Gruppen in der mittelalterlichen Stadt zu analysieren.86 Er arbeitete insbesondere Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Simmel und Weber heraus. Während Simmel Mittelalter und Moderne einander gegenüberstellte, verknüpfte Weber beide 80 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 34; Verzeichnis der Veröffentlichungen von Otto Gerhard Oexle in diesem Band Nr. 32, 63, 131, 137, 197, 231. 81 Oexle, ‘Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit’, 1981 (Nr. 23), S. 325 f.; Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, S. 282 f. 82 Oexle, ‘Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen’, 1979 (Nr. 19), S. 212; Simmel, ‘Soziologie der Mahlzeit’ (1910), wiederveröffentlicht in Ders., Brücke und Tür, S. 243–50; vgl. auch Oexle, ‘Nach dem Streit. Anmerkungen über ‘Makro’- und ‘Mikrohistorie’’, 1995 (Nr. 103), S. 195. 83 Oexle, ‘Georg Simmels Philosophie der Geschichte, der Gesellschaft und der Kultur’, 2004 (Nr. 221), S. 19–49, 39 f. 84 Oexle, ‘‘Der Teil und das Ganze’ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historischtypologischer Versuch’ (1990), in 1996 (Nr. 105), S. 216–40, 229 f. 85 Oexle, ‘Mein Romspaziergang’, in 2011 (Nr. 274), S. 1008–19. Der Aufsatz beschließt die selbst zusammengestellte Sammlung der Aufsätze 2011. 86 Oexle, ‘Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber’, 1994 (Nr. 91), S. 115–59, Zitat 159.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
Epochen. Weber habe, so Oexle, die ‘Genese der okzidentalen Moderne’ interessiert. Weber benutzte das Mittelalter nicht, um sich davon abzugrenzen, sondern er suchte die Elemente der Moderne im Mittelalter. Dabei spielten Gilden und Kommunen eine prägende Rolle. Deshalb ließ sich, zumal unter Rückgriff auf Webers Ausführungen zum Kontraktdenken, zur Willkür und zur Verbrüderung, mit Weber ein Programm zur Erforschung der sozialen Gruppen entwerfen – ‘eine andere sozialgeschichtliche Sicht der mittelalterlichen Gesellschaft’ sei möglich geworden. f )
Otto Brunner
Zwei Jahre nach Brunners Tod, 1982, veröffentlichte Oexle in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ‘Anmerkungen zum Werk’ des Verstorbenen.87 Angeregt wurden sie vermutlich durch Werner Conze, Brunners Mitherausgeber der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und des Handbuchs ‘Geschichtliche Grundbegriffe’. Im Rückblick auf die seither andauernde Distanzierung der deutschen Geschichtswissenschaft von Brunner könnte man geneigt sein, Oexle habe diesen Prozess in Gang gesetzt.88 Dieser Eindruck täuscht über Oexles ambivalente Bewertung von Brunners Werk hinweg. In seinem ‘kritischen Bericht’ von 1984 empfand er Brunners Bekenntnis zu ‘Führung und Volksgemeinschaft’ am Schluss der ersten Auflage von ‘Land und Herrschaft’ 1939 zwar als ‘peinigend’, doch hielt Oexle weiterhin Brunners Arbeiten für diskussionswürdig und nicht für obsolet. Das hatte Gründe. Schließlich berief sich Oexle in seinem Forschungsprogramm zu sozialen Gruppen vom Gildetypus an zentraler Stelle auf Brunner.89 Brunners Aufsatz ‘Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte’, der auf einem Vortrag vor dem Bremer Historikertag von 1953 beruht, bot Oexle reichlich Material für eigene Forschungen. So gab er ihn als Referenz bei einem Vortrag zum Stadtjubiläum von Rheine 1977 an, um die weltgeschichtliche Bedeutung der auf europäischen Boden erzielten ‘Durchbrüche’ zu erklären, namentlich die Bildung der Städte im Mittelalter zu belegen.90 Oexle berief sich also (noch) nicht auf Max Weber, sondern auf Brunner, stellte aber beide am Schluss seines Kölner Vortrags über die mittelalterlichen Gilden nebeneinander.91 Und noch in der Druckfassung des Reichenau-Vortrags zitierte er 1985 zustimmend Brunners Bemerkung über die drei Wurzeln der europäischen Geschichte, Antike, Christentum und
87 Oexle, ‘Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners’, 1984 (Nr. 33), 305–41; ‘kritischer Bericht’ ebd., S. 305; ‘peinigend’, ebd. S. 317. 88 Vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 289: Oexle habe als erster Brunners Aussagen im Zusammenhang interpretiert. 89 Oexle, ‘Gilden’ (1981), S. 80 zu Otto Brunner, ‘Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte’, in Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 80–101, 80. 90 Oexle, ‘Die Gegenwart des Mittelalters – Gedanken zu einem Stadtjubiläum’, 1978 (Nr. 15), S. 40–48, 47, zu Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 85, 91. 91 Oexle, ‘Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen’, 1979 (Nr. 19), S. 205, zu Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 85.
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germanische Wandervölker, bei denen es darauf ankomme, ‘das Neue zu sehen, in welchem solche “Wurzeln” aufgehen’.92 ‘Land und Herrschaft’ rezipierte Oexle zunächst in der fünften Auflage von 1965. In seinem Aufsatz über die funktionale Dreiteilung von 1978 stimmte er Brunners Überlegungen zur ‘Erkenntnismöglichkeiten einer sinnvollen Begriffswahl’ zu, ‘die an der Sprache der zu erforschenden Epoche der Vergangenheit anknüpft’.93 In eine überarbeitete und ansonsten gekürzte Fassung dieses Aufsatzes fügte er 1982 eine Passage neu ein, in der er jede notwendige Ideologiekritik mit Brunner begründete.94 Seine Referenz waren dessen Aufsatz über das ‘Zeitalter der Ideologie’ (1954) und der Artikel ‘Feudalismus’ in den Geschichtlichen Grundbegriffen (1975). Feudalismus sei, so formulierte Oexle mit Brunner, ein ‘Kampfbegriff der modernen Welt, der in der Folge von Aufklärung und Revolution entstand’. Seinen Beitrag für die Geschichtlichen Grundbegriffe über Wirtschaft im Mittelalter richtete Oexle auf Brunners Konzept vom Ganzen Haus aus, wenngleich er es durch eine neue Dimension, nämlich die genealogische, erweiterte.95 In seinem ‘kritischen Bericht’ 1984 rekapitulierte Oexle dann seine eigene bisherige Brunner-Rezeption und zwar als erstes die für ihn zentralen Aufsätze aus den Neuen Wegen. Beim Referat zu Land und Herrschaft stieß er schnell auf die erste Auflage von 1939 und die darin enthaltene ‘scharfe Konfrontation des liberalen und bürgerlichen Rechtsstaats mit den damals neuen politischen Überzeugungen des Nationalsozialismus’. Er griff Brunners Nähe zu Carl Schmitt auf, die Reinhard Koselleck 1982 nicht verschwiegen hatte.96 Oexle las Brunners Land und Herrschaft von nun an mit ‘einem Gefühl der Betretenheit’ und verstand nicht, warum Brunner die Rückwirkung der Gegenwart des Jahres 1939 auf den zentralen methodischen Ansatz seiner Begriffsgeschichte nicht einmal ansatzweise reflektierte. Unter den Kritikern Brunners gab Oexle vor allem Fernand Braudel Raum, fand aber, ‘daß Brunners strukturgeschichtliche Geschichtsforschung Braudel eigenem Ansatz ja nicht ganz und gar fern steht’.97 Oexles Erörterung der Bezüge und Querverbindungen zwischen Brunner einerseits, Hintze, Max
92 Oexle, ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, in 2011 (Nr. 270), S. 567 Anm. 356 zu Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 94 Anm. 61. 93 Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung der ‘Gesellschaft’ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1978 (Nr.18), S. 2 zu Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, S. 163 f. 94 Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1982 (bei 1978, Nr. 18), S. 445 mit Anm. 203. 95 Oexle, Art. Wirtschaft III: ‘Mittelalter’, 1992 (Nr. 69), S. 526–50. Der Beitrag wurde wohl bereits 1983 im Manuskript abgeschlossen. 96 Oexle, ‘Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners’, 1984 (Nr. 33), S. 319; Koselleck, ‘Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte’ (1979), Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, S. 365–401, 375–77. 97 Oexle, ‘Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners’, 1984 (Nr. 33), S. 321–23, Zitate 322 f. und 323 zu Fernand Braudel, ‘Sur une conception de l’histoire sociale’ (1959), in Écrits sur l’histoire, S. 175 ff., (deutsch: Zum Begriff der Sozialgeschichte, in Schriften zur Geschichte, Bd. 1: Gesellschaften und Zeitstrukturen, S. 167–82).
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Weber, Troeltsch, aber auch Curtius und Auerbach andererseits, mündete in der Frage, was Brunners Historismus von dem Meineckes unterschied. Oexle diskutierte 1984 Brunner unter den Vorzeichen seiner damals anlaufenden kritischen Beschäftigung mit dem Historismus. Geza Algadi machte 1997 deutlich: Oexles Analyse von Brunners Umgang mit Begriffsgeschichte und Begrifflichkeit stützt sich fast ausschließlich auf methodologische bzw. programmatische Aussagen Brunners, die zudem in der Regel einer späteren Zeit entstammen.98 Derweil hielt Oexle daran fest, ‘trotz aller Kontroversen über Brunners Land und Herrschaft’ sei ‘unsere Kenntnis des Œuvres von Otto Brunner noch nicht zureichend […], vor allem im Blick auf die sozialgeschichtlichen Ansätze und Fragestellungen, die er nach 1945 entwickelt hat.’99 So äußerte sich Oexle 1995 ausgerechnet im Beitrag über die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Mediävisten und berief sich wiederum auf Braudels ‘schroff ablehnenden, z. T. sogar übelwollenden Essai’ über Brunners Neue Wege. Oexle nahm zwar ‘die manifeste Prägung Brunners durch das völkische Denken der 1930er Jahre’ wahr, rückte aber endgültig erst von Brunner ab, nachdem Algadi den ‘Verwandlungsprozeß’ Brunners nach 1945 minutiös aufgedeckt hatte. 2002 verglich Oexle Brunners Land und Herrschaft mit Blochs La société feodale. Beide Bücher waren 1939 erschienen und redeten jeweils einer Abkehr der Geschichtswissenschaft von Staat und Politik das Wort. Je nach politischer Disposition unterschieden sich nach Oexle die Forschungsergebnisse des ‘Republikaners und Demokraten’ Bloch von denen des ‘völkisch und nationalsozialistisch inspirierten’ Brunner. Zugespitzt formuliert: ‘Bloch zeigt den “Gesellschafts”-Charakter der Vasallität, Brunner geht es um den “Gemeinschafts”-Charakter des “Hauses”’.100 In Sachen Otto Brunner legte Oexle seit den 1970er Jahren einen langen Weg zurück. Auf Oexles Einschätzung der Begriffsgeschichte, wie sie sich in den Geschichtlichen Grundbegriffen präsentierte, hatte dies Folgen. Immerhin beteiligte er sich mit zwei Beiträgen über ‘Stand’ und ‘Wirtschaft’ selbst an diesem Handbuch. Er verlegte nunmehr die Anfänge der Begriffsgeschichte wegen des Einflusses von Brunner und Schmitt in die Zeit vor 1945: Begriffsgeschichte und die Forderung nach einer ‘Revision der Grundbegriffe’ nach 1933 beruhten […] auf einer Aneignung älterer Ansätze und Konzepte, die allerdings nach 1933 im Sinne des Nationalsozialismus umgedeutet wurden.101
98 Algadi, ‘Otto Brunner – ‘Konkrete Ordnung’ und Sprache der Zeit’, S. 166–203, 197 Anm. 79 unter Bezug auf Oexle, ‘Sozialgeschichte– Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners’, 1984 (Nr. 33), S. 309, 325. 99 Oexle, ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß’, 1995 (Nr. 102), S. 125; folgende Zitate ebd. 100 Oexle, ‘Von der völkischen Geschichte zur modernen Sozialgeschichte’, 2002 (Nr. 188), S. 6. 101 Oexle, ‘‘Begriffsgeschichte’ – eine noch nicht begriffene Geschichte’ (2009), in 2011 (Nr. 270), S. 808–33, 815.
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Die angestrebte Überwindung der von Brunner 1937 und 1939 beklagten ‘Unterscheidungen’ und ‘Trennungen’ durch Leitmotive wie ‘Volk’, ‘Gemeinschaft’, ‘Ganzheit’ gehörten für Oexle ‘zu einer zentralen Problemgeschichte im Deutschland des 20. Jahrhunderts.’102 Er reflektierte damit die in den 1980er Jahren angelaufene Beschäftigung deutscher Historikerinnen und Historiker mit der Geschichte ihrer Disziplin im 20. Jahrhundert und die sich daran anschließenden Diskussionen, an denen er sich seit dem Frankfurter Historikertag 1998 wiederholt als Autor und Herausgeber beteiligte.103 III. Oexles Vermächtnis Am Ende seines Lebens glaubte Oexle manchmal nicht, sein Forschen und Publizieren habe sich gelohnt. Ich erinnere mich an die Situation im ‘Xantener Eck’ in Charlottenburg im März 2015. Er klang resignativ, voller Selbstzweifel und fühlte sich nicht verstanden. Ich kannte diese Stimmung und widersprach, freilich nicht ohne zu erwähnen, dass er an dieser gefühlten Situation nicht völlig unschuldig sei: Der Mehrzahl der deutschen Mediävistik wiederholt vorzuhalten, Max Weber nicht gelesen zu haben und erkenntnistheoretisch nicht auf der Höhe zu sein, mache auf Dauer einsam, so sehr Oexle in der Sache auch Recht gehabt habe. Mein Widerspruch trübte unser Vertrauensverhältnis nicht. Aber festzuhalten bleibt: Oexle konnte mit ‘messerscharfer Kritik’ unerbittlich sein.104 Wehe, wenn jemand Rankes Äußerung ‘[…] sagen, wie es eigentlich gewesen ist’, wieder aufleben ließ wie Werner Paravicini in seiner Rede auf das Lübecker Stadtarchiv 1999!105 Ähnlich wandte sich Oexle wiederholt gegen den Engländer Richard J. Evans, den er so las, als ob Fakten unabhängig vom Historiker existierten.106 Unabhängig von der Schärfe und Unbestechlichkeit, mit der Oexle argumentieren konnte, hat er die deutsche Geschichtswissenschaft weitergebracht und ihr gutgetan. Sein Programm einer ‘Historischen Kulturwissenschaft’, namentlich im Bereich der Mediävistik, öffnete ‘Bastionen’, um ein Bild von Georges Duby aufzugreifen. Duby selbst verkannte nicht seine Schuld gegenüber Münster, Freiburg und Göttingen und gegenüber den ‘Arbeiten von Karl Hauck, Gerd Tellenbach und ihren Schülern’ (darunter also auch Oexle).107 Er sah aber noch 1992 jenseits der Rheinlinie sämtliche Gebiete der mittelalterlichen Geschichte als ein geschlossenes Feld, eine Bastion, die ihre Tore noch nicht entriegelt hatte. Sehr ernsthaft, gewiß, und hocheffizient – zu ernsthaft,
102 Ebd., S. 810. 103 Oexle, Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 1999 (Nr. 139). 104 So Fulda, ‘Historismus in allen Gestalten’, 188–220, 195. 105 Paravicini, ‘Rettung aus dem Archiv? Eine Betrachtung aus Anlaß der 700-Jahrfeier der Lübecker Trese’, 11–46, 34. 106 Oexle, ‘Im Archiv der Fiktionen’, 1999 (Nr. 147), 511–25, 513 Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, S. 79. 107 Duby, Eine andere Geschichte, folgende Zitate S. 154, 134.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
wie er fand. Meine Aussage, Oexles Werk habe (und werde) deutliche Spuren hinterlassen, will ich in zwei Bereichen verifizieren. Zum einen will ich die Eckpfeiler seines Programms der Historischen Kulturwissenschaft nochmals aufgreifen und auf ihre Praxistauglichkeit überprüfen, zum anderen einige von Oexle schwerpunktartig behandelten Themenfelder auf ihre Nachhaltigkeit abklopfen. a)
Oexles Programm der ‘Historischen Kulturwissenschaften’
Oexle hat sein Programm einer ‘Historischen Kulturwissenschaft’ in mehreren Schritten entwickelt. Sie lassen sich ablesen zum einen an seinen Überlegungen zur (historischen) ‘Wirklichkeit’ und zum ‘Wissen’ darüber, die in den 1970er Jahren immer mehr an Fahrt aufnahmen. Genau unter diesem Titel erschien 1981 eine Gesamtschau auf Dubys Werk.108 Dass er 2011 den gleichen Titel – wenngleich ohne Anführungszeichen – für die Sammlung der eigenen Aufsätze wählte, war kein Zufall. Der Rückgriff auf kulturwissenschaftliche Autoren aus der Zeit um 1900 und deren unterbliebene Rezeption in der deutschen Mittelalterforschung spitzte seinen eigenen Ansatz zu. Zum anderen kreiste sein Denken immer wieder um das Mittelalter-Bild und um die Frage, was das Mittelalter für die jeweilige Gesellschaft bedeutet habe. Hieraus kreierte er Gegenstände einer Historischen Kulturwissenschaft, deren Fragestellungen er in ‘einer vierfachen, charakteristischen Weise’ ausgeprägt sah: (1.) ‘in diachronisch weit ausgreifender Weise’; (2.) in einem komparatistischen, kulturvergleichenden Vorgehen; (3.) in einer ständigen Verknüpfung aller Bereiche des Lebens: Wirtschaft und Religion, Recht und Kunst, Politik, Gesellschaft und Musik; (4.) und daraus abgeleitet die stete, transdisziplinäre Verknüpfung aller Wissenschaften als Aufgabe von Geschichte und Rechtsgeschichte, von Religionsgeschichte und Ökonomie, von Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft.109 Betrachten wir nacheinander diese Forschungsfelder: (a) Die diachrone Betrachtungsweise: Wie kaum ein anderer Historiker seiner Zeit in Deutschland ist Oexle diesem Anspruch gerecht geworden. Die Forschungen zur ‘Memoria’ und zu den ‘Gilden’ führten ihn zurück bis in die Zeit der griechisch-römischen Antike, des Judentums und des frühen Christentums. Gleichzeitig verfolgte er die Auswirkungen von ‘Memoria’ und ‘Gilden’ bis in die Gegenwart. Ihm selbst waren die dabei auftretenden Probleme bewusst. Wohl deshalb beschäftigten ihn ‘Kontinuität und Wandel’ zwischen 2005 und 2009 mehrfach. Schon früh finden wir in seinen Schriften Äußerungen, die sich gegen Lehrmeinungen über die Epochen der Geschichte richten. So erschien ihm die Grenze zwischen neutral-paganem Totenmahl und der Eucharistiefeier
108 Oexle, ‘Historische Kulturwissenschaft heute’ (2004), in 2011 (Nr. 270), S. 33–58. Diesen Aufsatz hat er ergänzt und überbearbeitet und mit guten Gründen dem Sammelband von 2011 vorangestellt. 109 Oexle, ‘Historische Kuklturwissenschaft heute’, 2011 (Nr. 270), S. 45 f.
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im ältesten Christentum 1976 fließend zu sein.110 Und noch fragwürdiger war ihm immer wieder die Ab- oder besser die Ausgrenzung des Mittelalters. Freilich war ihm schon 1977 bewusst, dass es auf die Perspektive ankomme: Wer von der späten Neuzeit her auf deren Beginn zurückblickt, wird diesen anders beurteilen als derjenige, der von seiner Beschäftigung mit der Geschichte des Mittelalters her den Beginn der Neuzeit quasi auf sich kommen sieht.111 Letztlich unterlaufen Oexles Überlegungen zu diachroner Geschichtsbetrachtung die Unterteilung der Geschichte in Epochen und damit verbunden die Arbeitsteilung zwischen den Subdisziplinen der Geschichtswissenschaften. Dies werden alle begrüßen, wie zum Beispiel der Verfasser, die das 15. und 16. Jahrhundert, das 18. und 19. Jahrhundert nicht kategorisch voneinander abgrenzen wollen. In einem Punkt war sich Oexle freilich sicher: mit dem Ende des 18. Jahrhundert ging die Memoria zu Ende. Das wies er an Goethes ‘Wahlverwandtschaften’ nach und thematisierte es noch in einem letzten, schon posthum veröffentlichten Aufsatz.112 (b) ‘komparatistisch’: Oexle forderte die Einbeziehung Chinas, Indiens und des Islams in das Programm einer zunächst auf Europa ausgerichteten Historischen Kulturwissenschaft. Die zunächst gesamteuropäische Perspektive war gewiss der Tellenbach-Schule in Freiburg geschuldet.113 Der spätere Rekurs auf Marc Blochs Projekt einer vergleichenden europäischen Geschichte hat diesen Aspekt nachhaltig verstärkt. Die an Max Webers Religionssoziologie angelehnte Forderung, zusätzlich außereuropäische Kulturen nicht außer Acht zu lassen, läuft im Zeitalter der Globalgeschichte offene Türen ein. Aber wer kann die Forderung, komparatistisch zu arbeiten, tatsächlich in der Forschungspraxis als Einzelner erfüllen? Dennoch ist sie nicht utopisch. Der Vergleich ist auch innerhalb Europas als ein fruchtbares Mittel in den Geschichtswissenschaften akzeptiert. So wendete es die Landesgeschichte mit Gewinn an, zum einen durch Vergleich unterschiedlicher Geschichtslandschaften, zum anderen durch Ermittlung von Unterschieden innerhalb einer ‘Landschaft’. (c) ‘die ständige Verknüpfung aller Bereiche des Lebens’: Marcel Mauss und ‘le fait social total’ standen Pate bei diesem Postulat. Über die Missverständnisse bei der Mauss-Rezeption in Deutschland hat Oexle selbst mehrfach berichtet. Ursache dafür sind die Schwierigkeiten in der Gegenwart, Denk- und Lebensformen des Mittelalters nachzuvollziehen. Die Wiederkehr der Religion als forschungsrelevantes Thema im 21. Jahrhundert nach 2001 in einer scheinbar säkularisierten Welt war gewiss Wasser auf Oexles Mühle. Ob und wie ‘ständig’ aber ‘alle Bereiche des Lebens’ miteinander verknüpft werden können, bedarf allerdings weiterer Versuche, denn diese Forderung steht konträr zur vorherrschenden immer weitergehenden Spezialisierung der Wissenschaften, die Oexle – vielleicht als einer der letzten – selbst unterlief. 110 111 112 113
Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, 1976 (Nr. 7), S. 159. Oexle, ‘Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois’, 1977 (Nr. 8), 296. Oexle, ‘Das Ende der Memoria’, 2016 (Nr. 295). Oexle, ‘Gerd Tellenbachs Weg zu einer Geschichte Europas’, 2005 (Nr. 234).
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
(d) ‘transdisziplinär’: Dieser von Oexle formulierten ‘Aufgabe’ ist er selbst umfassend nachgekommen. Freilich sind Nuancen zu beachten. Das Fulda-Projekt und die Memorialforschung ließen sich seit 1966 vom Selbstverständnis ihrer Beiträger nur ‘interdisziplinär’ betreiben. Dreißig Jahre später forderte Oexle ein ‘transdisziplinäres’ Vorgehen, also integrative, die Disziplinen übergreifende Forschungen. Er selbst hat auf dem Gebiet der Memorialforschung insbesondere die Kunstgeschichte in eigene Forschungen einbezogen und auch literarische Zeugnisse als Historiker interpretiert. Aus den Romanen des französischen Nobelpreisträgers für Literatur Claude Simon leitete er zum Beispiel Elemente einer ‘Gedächtnisgeschichte’ ab, die nicht nur mit einer Überprüfung der Neurowissenschaft, sondern auch mit einem Rück- und Ausblick auf die Memoriaforschung schloss: Von der Komplexität der Situationen und ihrer Objektivationen in Text und Bild, in Skulptur, Architektur und Musik hat gerade die Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen ‘Memoria’ außerordentlich reichhaltige Aufschlüsse erbracht.114 Auf allen genannten Feldern hat sich Oexle betätigt. Dazu gehörte Talent und ein in der Regel nicht immer karriere- und ruffördernder Mut zur Überschreitung von Grenzen; beides ist wohl nicht bei jedem oder jeder zu erwarten. Die Aufgeschlossenheit, Befunde aus anderen Disziplinen aufzunehmen, ist aber nicht als beliebig zu verstehen, sondern für viele Forschungsfragen unabdingbar. Ob dies ‘interdisziplinär’ oder ‘transdisziplinär’ genannt wird, spielt nach meiner Überzeugung keine entscheidende Rolle. Wichtig ist eine Offenheit der Geisteshaltung und kein ‘Schmoren im eigenen (disziplinären) Saft’. b)
Oexles Themenschwerpunkte
Das Programm der Historischen Kulturwissenschaften hat Oexle auf zahlreichen Forschungsfeldern konkretisiert. Es ist nicht angemessen, ihm vorzuhalten, einige Monographien nicht geschrieben zu haben.115 Der nicht mehr erschienene Band über die Armut im Mittelalter im Rahmen der ‘Enzyklopädie deutscher Geschichte’ markiert am deutlichsten eine Lücke. Allerdings schloss er diese Lücke noch mit seinem Beitrag zum Katalog der Paderborner Caritas-Ausstellung 2015. Von Max Weber und anderen wissen wir, dass sich die Langzeitwirkung eines wissenschaftlichen Werkes nicht an seinen Erscheinungsformen bemisst. Jenseits seiner programmatischen Äußerungen hat Oexle ein Werk von einer solch außerordentlichen Bandbreite hinterlassen, die weiterwirken und ‘viel
114 Oexle, ‘Geschichte, Gedächtnis, Gedächtnisgeschichte. Ein Blick auf das Œuvre von Claude Simon’, 2006 (Nr. 240), S. 359–76, 376; vgl. Ders., ‘‘Geschichte’ als Wissenschaft – ‘Geschichte’ im Roman’, 2013 (Nr. 286), S. 431–53. 115 Borgolte, ‘Erinnerung sprich! Zum Tod des Mediävisten Otto Gerhard Oexle’, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 118, 23. Mai 2016, 13, registrierte zwei steckengebliebene Monographien.
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Stoff zum Nachdenken’ geben werden.116 Ich beschränke mich auf fünf Felder, auf denen Oexle den Nachgeborenen Diskussionsstoff hinterlassen hat: 1. Memoria: Den größten Erfolg und die größte Wirkung erzielte Oexle durch seine Forschungen zur Memoria. Wenn die Bedeutung der Memoria als grundlegendes Phänomen der vormodernen Gesellschaft ‘eine Entdeckung der Mittelalterforschung’ ist,117 dann hat Oexle daran deshalb großen Anteil gehabt, weil er diese Forschungen gegenüber anderen Disziplinen anschlussfähig machte. Einer Disziplin näherte sich Oexle von Anfang in besonderem Maße: der Kunstgeschichte. Denn Memoria schlägt und schlug sich in der Architektur und in Bildern nieder, die er als originäre Bestandteile der Memorialbilder wertete. Um frühe Beispiele zu nennen: die Weingartener Kreuzrotunde als Zeugnis des Gedächtnisses des Hl. Konrad oder genealogische Bilddarstellungen wie den Welfen-Stammbaum. 1978 schrieb Oexle noch: ‘Memorialbilder bedürfen noch der Erforschung’. Sein Aufsatz über ‘Memoria und Memorialbilder’ (1984) eröffnete dann den Reigen der auf konkrete Objekte bezogenen Publikationen zu diesem Thema und legte eine Grundlage für alle weiteren Arbeiten. Wer diesen Aufsatz liest, ist gefesselt von der Vielzahl der Objekte, die Oexle heranzieht, nicht nur Stifterbilder und Handschriften, sondern auch Wandmalereien, Mosaiken, Bildteppiche, Skulpturenzyklen. In den Fokus gerieten dabei nicht nur Dürer und Cranach, sondern auch Max Ernst und Renato Guttuso. Immer wieder gerieten Oexle einzelne Objekte zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen jenseits disziplinärer Grenzen. Die Fuggerkapelle in Augsburg konnte ihm ebenso zum Zeugnis des kulturellen Gedächtnisses in der Renaissance werden wie das Krematorium von Peter Behrens in Hagen.118 Mitunter verschob sich der Schwerpunkt von Oexles Überlegungen weit weg vom Mittelalter. Ein in Moskau 2003 gehaltener Vortrag mit dem Titel ‘Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne’ erörterte den Platz der ‘Gotik’ im Mittelalterbild des 19. und 20. Jahrhunderts und analysierte dann ‘Deutungen’ der Gotik bei – um nur einige Namen zu nennen – Erich Heckel, Fritz Lang, Mies van der Rohe und Hans Scharoun.119 Der Eindruck täuscht nicht: Oexle hatte Freude an der Entfaltung eines solchen Panoramas. Seine Memoriaforschungen wirkten deshalb zugleich als Beiträge zu allgemeinen kulturwissenschaftlichen Forschungen über Gedächtnis, Gedenken und Erinnerung, die längst Teil gesellschaftlicher Positionen geworden sind.120 116 So Oexle, ‘Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber’, 1994 (Nr. 91), S. 159, über Weber und andere. 117 Oexle, ‘Das Krematorium als Monument der Moderne und die lange Geschichte der Toten’, 2014 (Nr. 291), S. 39–63, 40; zum Anteil Oexles an der Breitenwirkung der Memorialforschung treffende Bemerkungen bei Diefenbach, Römische Erinnerungsräume. Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts, S. 13. 118 Oexle, Kulturelles Gedächtnis in der Renaissance. Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg, 2000 (Nr. 152); Oexle, ‘Das Krematorium als Monument der Moderne und die lange Geschichte der Toten’, 2014 (Nr. 294). 119 Oexle, ‘Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne’ (2007), in 2011 (Nr. 270), S. 938–80. 120 Vgl. die Wahrnehmungen bei Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, S. 33 f., 49, 91, 98.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
2. Soziale Gruppen: Oexles Arbeiten zu ‘Gilden’ stießen anfangs auf wenig Zustimmung in der Mittelalterforschung. Auf der Reichenau wurde 1979 sein Referat und seine vorangegangenen Arbeiten mit Reserve, ja Ablehnung aufgenommen. Vor allem Franz Irsigler bestand darauf, weiterhin die Begriffe ‘Gilden’ für Kaufleute und ‘Zünfte’ für Handwerker zu verwenden, weil bei Zünften der Eid als konstitutiver Faktor nur ‘in den seltensten Fällen nachweisbar’ sei.121 Irsigler argumentierte strikt positivistisch, wofür Oexle kein Verständnis aufbrachte. Er setzte danach große Hoffnungen auf die Rechtsgeschichte bei der Erforschung von sozialen Gruppen, wie sein Vortrag auf dem Rechtshistorikertag 1986 zeigt: ‘Die Einsicht in die Bedeutung der die Formen des sozialen Lebens konstituierenden rechtlich-sozialen Handlungen’, unter anderem den Eid, ‘ist bei Historikern nicht eben verbreitet’.122 Dagegen entwickele die Rechtsgeschichte größere Aufmerksamkeit für die rechtliche Morphologie sozialer Gruppen. Wahrscheinlich war es im Rückblick kein besonders guter Schachzug von Seiten Oexles, den in Quellen vorkommenden Begriff ‘Gilde’ zugleich als Forschungsbegriff zu verwenden. Später verwandte er immer häufiger ‘soziale Gruppe’ als Leitbegriff und sah Europa durch eine ‘Gruppenkultur’ geprägt.123 Sein klarer Blick richtete sich unverändert auf zwei Typen von Gruppen und zwar auf solche, die auf realer oder imaginierter Verwandtschaft beruhen, und auf solche, die durch Vereinbarungen soziale Bindungen herstellen. Die von Oexle benannten konstitutiven Faktoren dieser Gruppen bleiben weiterhin Maßstab für räumlich und diachron ausgreifende Forschungen, zum Beispiel zu Bauerngilden,124 zu Zünften oder zu den Veränderungen, denen soziale Gruppen seit dem Spätmittelalter unterlagen.125 Unverändert gilt, was Oexle in seinem Heilbronner Vortrag über die Zunft als Forschungsproblem abschließend formulierte: Jedenfalls steht fest, daß es an einer historischen Phänomenologie und Typologie sozialer Gruppen im Mittelalter fehlt, die als ein noch fernes Ziel mittelalterlicher Sozialgeschichte anzustreben sind.126 3. Armut und Arbeit: Oexle entdeckte in den 1970er Jahren ‘Armut’ und ‘Arbeit’ als Themenfelder für sich.127 Arme waren durch das Gebet als Gabe in das Memoria-
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Irsigler, ‘Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie’, S. 53–70, Zitat 56 Anm. 11. Oexle, ‘Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft’, 1987 (Nr. 44), S. 77–107, 92. Oexle, ‘Einführung: Die Gruppenkultur Europas’, 2007 (Nr. 246), S. 169–76. Ein 1990 angekündigter Aufsatz Oexles zu bäuerlichen Kommunen des Mittelalters ist nicht erschienen; vgl. Oexle, ‘Le travail au XIe siècle: réalités et mentalités’, 1990 (Nr. 58), S. 59 Anm. 59. Gerade für Westfalen und seine Nachbar- und Bauerschaften besteht ein Desiderat für Forschung auf diesem Felde; vgl. eigene frühen provisorische Überlegungen unter dem Einfluss des Doktorvaters: Reininghaus, ‘Westfälische Nachbarschaften als soziale Gruppen des Gildetypus. Bemerkungen anläßlich neuer Untersuchungen über Nachbarschaften und Vereine’, 124–31. 125 Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, griff Oexles Thesen hierzu produktiv auf. 126 Oexle, ‘Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem’, in 2011 (Nr. 270), S. 738. 127 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, in 2011 (Nr. 270), S. 175, 178; Ders., ‘Die funktionale Dreiteilung der ‘Gesellschaft’ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter’, 1978 (Nr. 18), S. 12, 24, 30 f., 51; Ders., ‘Le travail
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Konzept eingebunden und spielten darin nicht nur eine passive Rolle. Denn das Mittelalter definierte Armut nicht nur über die Ökonomie; Armut bildete vielmehr verschiedene soziale Gegebenheiten ab, unter anderem die politische Mittellosigkeit, die sich im Gegensatz potens / pauper ausdrückte. Bahnbrechend an der funktionalen Dreiteilung war im 11. Jahrhundert die Neubewertung von Arbeit. Die laboratores fanden gleichberechtigt Aufnahme in das Deutungsschema des Adalbero von Laon neben den oratores und bellatores. Hieraus konnten Stadtbewohner ihr Selbstbewusstsein in ihren jeweiligen Kommunen ableiten – hier bot sich eine Brücke zur Gildeforschung an. Körperliche Arbeit erfuhr eine Neubewertung, womit die abwertende Gleichsetzung von Armut und Arbeit, zum Beispiel noch bei Thomas von Aquin, etwas wegweisendes Anderes mit Langzeitwirkung entgegengestellt wurde. Das ständische Denken stellte auch die Armutsbewegung des hohen Mittelalters in Frage. Oexle exemplifizierte 1981 am Beispiel der Heiligen Elisabeth den Skandal ihrer Arbeit im Dienst am Armen’, ‘die Härte des Konflikts zwischen ‘Armut’ und ‘Arbeit’ einerseits, ‘Stand’ andererseits.128 Oexle sah die Heilige Elisabeth involviert in die ‘Revolution der Caritas’ des 11./12. Jahrhunderts – eine Antwort auf wachsende Armut infolge der Bevölkerungsvermehrung, die zu Wandlungen in der Armutsfürsorge führte. Als Gegenreaktion zu den Bevölkerungsverlusten im Spätmittelalter stellte er eine veränderte Einstellung zu Arbeit heraus, die Betteln und Müßiggang verurteilte. Seine damaligen Überlegungen griff Oexle 2015 in einem Beitrag zum Katalog der Paderborner Caritas-Ausstellung wieder auf und skizzierte ‘Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen’ unter dem Titel ‘Zwischen Armut und Arbeit’.129 Es war sein letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Aufsatz. Er fasste ihn als Summe seines Denkens über dieses Thema auf, dessen Fertigstellung vor seiner Erkrankung ihn tief befriedigte. Noch einmal setzte er an bei der Wertschätzung der körperlichen Arbeit durch das Judentum und das Christentum im Unterschied zur antiken Kultur, nachzulesen im Alten und Neuen Testament. Oexles Perspektive reichte bis in die Gegenwart, denn ‘Armut ist ein grundlegendes Phänomen aller Gesellschaften, ein Angelpunkt sozialen Geschehens’. Dieser weite Horizont machte ihn in der Geschichtsschreibung von Armut und Arbeit zu einem begehrten Gesprächspartner außerhalb der Mittelalterforschung.130 Als Forschungsaufgabe bleibt die diachrone Betrachtung von Arbeit und Armut erhalten. au XIe siècle: réalités et mentalités’, 1990 (Nr. 58), S. 49, 60; Ders., Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens’, in 2011 (Nr. 270), S. 340–401, 405 f., 409, 412. 128 Oexle, ‘Die Armut der Elisabeth von Thüringen’, in 2011 (Nr. 270), S. 402–38, Zitate 405, 409. 129 Oexle, ‘Zwischen Armut und Arbeit. Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen’, 2015 (Nr. 293), S. 52–73, Zitat 52. 130 Vgl. Oexle, ‘Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter’, 1986 (Nr. 40), S. 73–101; Ders., ‘Arbeit, Armut, ‘Stand’ im Mittelalter’, 2000 (Nr. 157), S. 67–79.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
4. Das historische Material und Editionen: Leicht wird übersehen, dass Oexle bedenkenswerte Überlegungen zu dem von Historikern benutzten Material und zu Editionen vorlegt hat. Schon in seiner Dissertation stellte er Genealogien als Quelle sui generis vor; während der Arbeit im Fulda-Projekt ordnete und klassifizierte er die Memorialüberlieferung. Schon zu diesem Zeitpunkt erweiterte er die schriftliche Überlieferung um die Sachkultur. ‘Texte, Bilder, Denkmäler’ standen nebeneinander als Material zur Erforschung der Personengruppen des Mittelalters zur Verfügung.131 Die Einbeziehung und Interpretation der Memorialbilder durch Oexle darf als Meilenstein auf dem Weg zur Öffnung der Mittelalterforschung in Richtung Historische Kulturwissenschaften angesehen werden. Die Arbeit an und mit Editionen wurde ihm bereits von Tellenbach vermittelt. Oexles Maßstäbe waren streng, auch wegen der eigenen paläographischen und kodikologischen Expertise. In der Rezension zu der aus seiner Sicht missratenen Neuedition von Adalberos Carmen ad Robertum durch Claude Carozzi formulierte er eine Forderung, die für jede Edition eines solchen Textes von Rang zu gelten habe. Eine Edition müsse ‘auf eine sorgfältige Zusammenstellung aller Zusätze und Interpolationen’ gegründet sein, ‘geordnet nach Händen, und auf einen darauf aufbauenden Vergleich der Veränderungen mit dem ursprünglichen Text’.132 Später kam Oexle kaum noch auf das ‘historische Material’ zu sprechen – mit einer Ausnahme. Als 2004 in der Anna Amalia Bibliothek in Weimar auch die dort aufbewahrte Musikaliensammlung verbrannte, warf Oexle an entlegenem Ort in einer musikwissenschaftlichen Zeitschrift die Frage auf: ‘Was ist eine historische Quelle?’133 Er dekonstruierte den durch Metaphern überlagerten Begriff und kam auf Droysens Wortschöpfung ‘historisches Material’ zurück. Oexle lehnte die Metapher ‘Quelle’ auch wegen der Nähe zu Ranke und dessen Vorliebe für erzählende ‘Quellen’ ab. Gegenüber dem unter anderem in den Historischen Hilfswissenschaften vermittelten Quellenkanon bestand er auf der Aufhebung aller Hierarchien, aller Segmentierung und aller fächerspezifischen Eingrenzung des historischen Materials. Was sogenannte Quellen sind, ist jetzt also gar nicht mehr definierbar. Historisches Material ist, was zur Beantwortung einer historischen Frage jeweils herangezogen werden kann. Die Frage entscheidet, was jeweils im umfassenden Sinn die Materialgrundlage zur Beantwortung dieser Frage sein kann und muss. Diese Schlussfolgerung kann ich in ihrer Radikalität nicht nachvollziehen. So sehr die Ausweitung des Materials zu begrüßen ist (‘alles, wirklich alles, kann historisches Material werden’) und so sehr Oexles Kritik des metapherbeladenen Quellenbegriffs greift, so garantiert die Fragestellung allein noch keine validen
131 Oexle, ‘Gruppen in der Gesellschaft. Das wissenschaftliche Oeuvre von Karl Schmid’, S. 414, im Rückblick auf seine Freiburger Zeit. 132 Oexle, ‘Adalbero von Laon und sein ‘Carmen ad Robertum’. Bemerkungen zu einer Edition’, 1980 (Nr. 20), 629–38, Zitat 635. 133 Oexle, ‘Was ist eine historische Quelle?’, 2004 (Nr. 223), 332–50, Zitate 345 (gekürzter Nachdruck 2004 (Nr. 224), 165–86.
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Forschungsbefunde. Das würde bedeuten, die endogenen Möglichkeiten und Grenzen des historischen Materials bei seiner Auswertung auszublenden. Indirekt argumentiert Oexle wohl gegen Reinhart Kosellecks ‘Vetorecht der Quellen’ an und unterschätzt deren Beweisfunktion.134 Wie sollte ein Historiker, der sich nach Bloch als Untersuchungsrichter versteht,135 ohne Prüfung des Beweismaterials urteilen können? 5. Wissenschaftsgeschichte: Beinahe erstaunt registrierte Oexle im Jahr 2000: ‘Ihre eigene Geschichte hat die deutschen Historiker eingeholt’. Zweifellos löste die denkwürdige Sektion des Frankfurter Historikertags 1998 sein Erstaunen aus, obwohl er erheblichen Anteil an den um die Jahrtausendwende einsetzenden und bis heute nicht abreißenden Beiträgen zur deutschen Historiographiegeschichte hatte. Denn die Forderungen, die Historischen Kulturwissenschaften selbstreflexiv zu betreiben, ‘implizierte, daß auch die Historisierung der Historie zu den Voraussetzungen einer historischen Wissenschaft gehört’. Diese Selbsthistorisierung ist nicht eine bloße Bescheidenheitstopik. Sie ist vielmehr eine Konsequenz der epistemologischen, nämlich eines kritizistisch orientierten Selbstverständnisses von Wissenschaft.136 Auf Französisch klingt eingängiger, was Oexles Anliegen seit den 1980er Jahren war: ‘L’historisation de l’histoire’. Seine eigenen Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Historie in Deutschland (und Frankreich) bewegten sich auf drei Ebenen. Auf einer ersten legte er die erkenntnistheoretischen Orientierungen von Historikern, bei Ranke, Meinecke und anderen, offen. Dies bedeutete zugleich – auf einer zweiten Ebene – zu erklären, warum die von ihm geschätzten und oft genug zur (Wieder-)Lektüre empfohlenen Droysen, Max Weber, Tönnies, Simmel, Bloch und Mauss in Vergessenheit geraten waren. Emigranten wie Kantorowicz schloss er ein. Zugleich führte Oexle am Beispiel von Brunner, Gierke, Below und der von ihm als Vorbild verstandenen französischen Historiker vor, wie in Werkbiographien selbst in Aufsatzform die Politik und die Gesellschaft der jeweiligen Gegenwart in den Veröffentlichungen der porträtierten Historikers zu kontextualisieren waren. Eine dritte Ebene betrafen die zitierten persönlichen Erinnerungen an Tellenbach, Schmid, Hauck oder Werner. An versteckter Stelle sprach Oexle von einer ‘doppelte(n) Perspektive des sich erinnernden Zeitzeugen und des Historikers’, die er bei solchen Anlässen einnahm.137 Mindestens als Mitherausgeber der Rudolf Vierhaus gewidmeten ‘Erinnerungsstücke’ von zwölf Historikerinnen
134 Vgl. Reininghaus, ‘Die Quellen und das Archivgut. Anmerkungen zum Werk von Reinhart Koselleck aus archivischer Sicht’, S. 437–50. 135 Vgl. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, S. 218. 136 Oexle, ‘Historische Kulturwissenschaft heute’, 2011 (Nr. 270), S. 49. Das zweite Zitat war auf Max Weber bezogen. 137 Oexle, ‘Karl Hauck, 21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007’, 2007 (Nr. 251), S. 463.
die ‘historischen kulturwissenschaften’ als selbstreflexive disziplin
und Historikern lancierte er eine Disziplin, die der aus Frankreich vertrauten Form der ‘Essais d’Ego-histoire’ von Historikern entsprach.138 Wegen der gewählten Aufsatzform stützte sich Oexle nur auf veröffentlichtes Material. Im Gegensatz zu den Monographien etwa über Werner Conze, Gerhard Ritter, Hermann Aubin und Theodor Schieder oder zu den personenübergreifenden Monographien zur Rolle der Geschichtswissenschaften im 20. Jahrhundert griff er nicht auf Archivmaterial zurück.139 Dennoch dürfte – trotz der angeführten Ambivalenzen seiner Position – gerade der werkimmanente Aufsatz über Brunner 1984 erhebliche Folgen für die Historisierung der Disziplin gehabt haben. Oexle hat keine weiteren programmatischen Erklärungen zu diesem Themenfeld hinterlassen. Wegen seines kulturwissenschaftlichen Ansatzes erschien dies aus seiner Sicht wohl überflüssig. Er hat aber klare Maßstäbe dafür aufgestellt, wie eine ‘moderne Wissenschaftsgeschichte’ des eigenen Bereichs auszusehen habe. Zwei seiner Exempla seien benannt: Hans Cymoreks Below-Biographie (‘ein Glanzstück’) und das von ihm immer wieder herangezogene Bloch-Buch von Ulrich Raulff.140 Die von Oexle behandelten Themenfelder standen immer im Zusammenhang mit seiner Forderung, die Geschichtswissenschaft zur Historischen Kulturwissenschaft auszuweiten. Ohne die eigenen Beiträge, die sich zuweilen sehr weit von der Mittelalterforschung weg bewegten, stände diese Forderung im luftleeren Raum. Seine Beiträge zur materialen Geschichte wie die theoretischen Ansätze aber haben, wie Peter Johanek auf einem Kongress zur ‘Mediävistik im 21. Jahrhundert’ formulierte, weitreichende Folgen: ‘Die Wiederentdeckung der theoretischen Achsenzeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert’, die Oexle ‘in immer neuen Anläufen erläutert und zur Kenntnis der deutschen Mediävisten gebracht hat’, sei, so Johanek, ein wirkungskräftiger Faktor für die Zuwendung der Mittelalterforschung zu den Kulturwissenschaften gewesen.141 Der daraus resultierende Anspruch wird eine bleibende Herausforderung sein; das hat Oexle gewollt. Denn es gibt kein ‘ein für alle Mal “wahres”, “eigentliches”, “wirkliches” Wissen’, sondern nur ‘eine ständige epistemologische Verunsicherung […] Aber gerade darauf kommt es an’.142
138 Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit. Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet, 1997 (Nr.119). 139 Hier können nur einige wenige Beispiele genannt werden: Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918/45); Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert; Etzemüller, Sozialgeschichte als politischer Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945; Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung; Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert; Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert. 140 Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900; vgl. dazu Oexles Besprechung, 1999 (nach Nr. 148), 684–86, daraus die Zitate; Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch. 141 Johanek, ‘Mittelalterforschung in Deutschland um 2000’, S. 21–33, 32. 142 Oexle, ‘Historische Kulturwissenschaft heute’, 2011 (Nr. 270), S. 53.
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Michael Borgolte
Stiftung und Memoria Ein mediävistisches Forschungskonzept in universalhistorischer Perspektive In einer Gedenkschrift für Otto Gerhard Oexle mag es einem Autor erlaubt sein, persönliche Reminiszenzen an den hochgeschätzten Verstorbenen an den Anfang seiner Darlegungen zu stellen, zumal wenn sie auf das Thema des Bandes selbst hinführen. Ich schaue also zunächst auf einige Etappen meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Oexle zurück, der neben Karl Schmid (1923–93) mein wichtigster akademischer Lehrer gewesen ist; diese Zäsuren lagen Mitte der achtziger, Mitte der neunziger und Mitte der zehner Jahre. Memoriaforschung lernten Oexle als Assistent und ich als studentische Hilfskraft in Münster als Arbeit an frühmittelalterlichen Gedenkbüchern und im Kontext der Liturgiegeschichte kennen; sie ging ursprünglich auf Oexles und Schmids Lehrer Gerd Tellenbach (1903–99) in Freiburg zurück. In Münster war Oexle maßgeblich an der Erschließung und Edition der Fuldaer Totenannalen beteiligt (seit 1969)1 und untersuchte in seiner Habilitationsschrift (1973) die Namenlisten westfränkischer Klöster unter dem Aspekt des Gebetsgedenkens.2 Auch die große Memoria-Tagung von Münster (Mai 1980)3 und das kleinere, dem gleichen Thema gewidmete Symposion in Freiburg (Februar 1985)4 standen noch ganz im Zeichen des liturgischen Gedenkens und der Analyse von Libri
1 Vgl. zuerst: Schmid, ‘Die Mönchsgemeinschaft von Fulda als sozialgeschichtliches Problem’, S. 173–200; Ders., ‘Personenforschung und Namenforschung am Beispiel der Klostergemeinschaft von Fulda’, S. 235–67; Die Klostergemeinschaft von Fulda im frühen Mittelalter, hrsg. von Karl Schmid, 3 Bde. Darin: Oexle, ‘Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert’, 1978 (Nr. 11); Ders., ‘Die Überlieferung der fuldischen Totenannalen’, 1978 (Nr. 12); Ders., ‘Mönchslisten und Konvent von Fulda im 10. Jahrhundert’, 1978 (Nr. 13); Ders., ‘Die Synoden von Reims und Mainz (1049) im Spiegel fuldischer Memorialüberlieferung’, 1978 (Nr. 14). – Ergänzend zu Oexles Aufsatz ‘Memorialüberlieferung’ und unter ausdrücklichem Bezug auf ihn: Borgolte, ‘Eine Weißenburger Übereinkunft von 776/77 zum Gedenken der verstorbenen Brüder’, 1–15 (6–9). 2 Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich, 1978 (Nr. 9). 3 Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hrsg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. Darin: Oexle, ‘Memoria und Memorialbild’, 1978 (Nr. 35). 4 Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, hrsg. von Karl Schmid. Darin: Oexle, ‘Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria’, 1985 (Nr. 39).
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 75–92. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117994
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Memoriales und Nekrologien.5 Dabei hatte Oexle schon im ersten Kapitel seiner Habilitationsschrift den Ansatz von Karl Schmid und Joachim Wollasch entscheidend erweitert; merkwürdigerweise erschienen seine Ausführungen dazu als separater Aufsatz unter dem Titel ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’ (1976).6 Oexle analysierte den lateinischen Begriff ‘Memoria’ und unterschied ‘Gedächtnis (Mneme)’ von ‘Erinnerung (Anamnesis)’: Gedächtnis kann bestimmt werden als die Fähigkeit, in der Vergangenheit Erlebtes, Erfahrenes, Erlerntes festzuhalten und wieder hervorzurufen, als die Fähigkeit also, sich zu erinnern. Erinnerung ist nun aber nicht bloß eine Funktion des Gedächtnisses, sondern darüber hinaus die Fähigkeit, sich der Hervorbringung von Vergangenem bewusst zu sein, über den Vorgang der Hervorbringung des Vergangenen in der Gegenwart selbst zu reflektieren.7 Diese begriffliche Grundlegung bildete den Ausgangspunkt für ein For schungsprogramm. Erinnerung sei ‘als Vergegenwärtigung eine Grundkategorie der Historie’. Sie sei ‘in noch viel tiefer greifender Weise ein Grundphänomen in der jüdischen wie in der christlichen Religion. Judentum und Christentum sind historische Religionen und können deshalb geradezu als ‘Gedächtnisreligionen’ bezeichnet werden’.8 Im Christentum sei das eucharistische Mahl eine Gedächtnisfeier, aber noch allgemeiner begegne der Zusammenhang von Memoria und Mahl schon im heidnischen Totenmahl. Der Tote werde beim Mahl als wirklicher Teilnehmer erlebt, Lebende und Tote seien durch das Mahl in einer Gemeinschaft verbunden. Dem entspreche im Rechtsdenken, dass ‘noch im Mittelalter der Tote grundsätzlich als Rechtssubjekt mit Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit galt und dass er deshalb auch ‘Subjekt von Beziehungen der menschlichen Gesellschaft’ sein konnte’.9 Memoria, so heißt es noch grundsätzlicher, ‘bewirkte einen Modus wirklicher Anwesenheit physisch Abwesender, sei es, dass diese durch ihren Tod, sei es, dass sie durch räumliche Entfernung vom Kreis der die Memoria haltenden Personen getrennt waren’.10 In weitem Zugriff auf viele Zweige mittelalterlicher Überlieferung hat Oexle diese Ansätze zehn Jahre später in einer seiner berühmtesten Abhandlungen entfaltet, ‘Die Gegenwart der Toten’ (1983).11 Oexle suchte dabei zunächst Anschluss bei der französischen Mentalitätsgeschichte jener Zeit, um sich aber sogleich von dieser auch abzusetzen. Die ‘Histoire de la mort’ befasse sich mit 5 Vgl. auch Karl Schmid und Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters. 6 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, 1976 (Nr. 7). Der Aufsatz ist, ebenso wie andere, nachgedruckt in: Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270). Dies weise ich hier und im Folgenden nicht eigens nach, da es bei meinen Ausführungen um Wissenschaftsgeschichte, also vor allem um Erstdrucke, geht. 7 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, 1976 (Nr. 7), S. 79 f. 8 Ebd., S. 80. 9 Ebd., S. 81, mit einem Zitat von Hans Schreuer,‘Das Recht der Toten’, 333–432 (335). 10 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, 1976 (Nr. 7), S. 84. 11 Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), S. 19–77.
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den Haltungen der Menschen gegenüber dem Tod und deren Wandel im Lauf der Jahrhunderte bis zur Gegenwart; Oexle hingegen wollte der Geschichte der Einstellungen zum Tode eine Geschichte der Toten zur Seite stellen.12 Ein Schlüssel zur historischen Erkenntnis sei die Feststellung eines Mentalitätswechsels im 18. Jahrhundert:13 Nach Auffassung des modernen Rechts endet die Person mit dem Tode; es endet die Rechtsfähigkeit des Menschen, durch die er Subjekt von Rechtsverhältnissen, also Inhaber von Rechten und Adressat von Pflichten war, es enden seine Handlungsfähigkeit, seine Vermögensfähigkeit, seine personenrechtlichen Verhältnisse. Die Rechtspersönlichkeit ‘erlischt’. Was von der Person bleibt, ‘ist ein Ding, die Leiche’. Außer ihr bleibt nur das Andenken bei den Nachlebenden. Deshalb sind nur die Leiche und das Andenken des Toten noch Gegenstand rechtlicher Normen: die Leiche ist es im öffentlichen Recht unter dem Gesichtspunkt der Sicherung der Lebenden vor gesundheitlichen Gefahren und strafrechtlich im Sinne eines Schutzes gegen pietätloses Verhalten. Auch das Andenken wird vor Verunglimpfungen geschützt. Ansonsten aber gilt: ‘das Rechtssubjekt ist gewesen’, ‘der Tote ist aus unserem Kreise ausgeschieden. Er ist nicht mehr Subjekt von Beziehungen der menschlichen Gesellschaft’, auch wenn die zu Lebzeiten getätigten Rechtshandlungen fortwirken.14 In diesem Punkt unterschieden sich die modernen Auffassungen über den Status der Toten grundsätzlich von älteren Wahrnehmungen der europäischen Geschichte: Dort ist der Status des Toten nicht bestimmt vom subjektiven ‘Andenken’, das im Belieben der Lebenden steht, sondern er ist gewissermaßen eine objektive Gegebenheit: die Toten sind Personen im rechtlichen Sinn, sie sind Rechtssubjekte und also auch Subjekte von Beziehungen der menschlichen Gesellschaft. Mit anderen Worten: sie sind unter den Lebenden gegenwärtig.15 Den Übergang von der Gegenwart der Toten in der vormodernen Gesellschaft zum bloßen Andenken an die Verstorbenen als einer Mentalität des 19. und 20. Jahrhunderts erläuterte Oexle an einem literarischen Text, Goethes ‘Wahlverwandtschaften’ vom Jahr 1808/9. Es ging dabei um die Geschichte Charlottes, die als feudale Herrin eines Dorfes den Friedhof einebnen und die Grabsteine beiseite rücken ließ.16 Während ein Rechtsanwalt als Vertreter des Herkommens argumentierte, mit der Aufhebung des Ortes werde die Versammlung der Gedenkgemeinschaft am Grab unmöglich gemacht, bestand Charlotte 12 Ebd., S. 20. 13 Ebd., S. 65. 14 Ebd. S. 21 f., mit Zitaten von Werner Fuchs, Todesbilder in der modernen Gesellschaft, S. 71; Schreuer, ‘Das Recht der Toten’, 333–35; Strätz, Zivilrechtliche Aspekte der Rechtsstellung des Toten unter besonderer Berücksichtigung der Transplantationen, S. 13. 15 Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), S. 22. 16 Goethes Werke, hrsg. von Benno von Wiese und Erich Trunz, Bd. 6, S. 361–63.
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darauf, dass ein Andenken auch ohne Ort möglich sei. Es standen sich also die ältere Art der Memoria in Formen sozialen und rechtlichen Handelns und die neue Auffassung von Vergegenwärtigung im bloß kognitiven und emotionellen Sinn gegenüber.17 Als Oexles Aufsatz erschien, bereitete ich als junger Privatdozent eine Gastvorlesung an der Universität Basel vor, die ‘Stiftungen des Mittelalters als Problem der Sozialgeschichte’ gewidmet sein sollte (Sommersemester 1984). Schon die ältere Memoria-Forschung hatte Stiftungen in den Kreis ihrer Studien einbezogen. Als ‘Gedenkstiftungen’ galten Gaben an die Kirche oder zur Errichtung eigener Gotteshäuser beziehungsweise geistlicher Gemeinschaften, die auf die Gegengabe der Fürbitte zugunsten des Seelenheils des Spenders zielten;18 auch von karitativen Werken, etwa der Gründung eines Spitals, wusste man, dass von den geförderten Armen das Memorialgebet für den Wohltäter erwartet wurde.19 Nicht klar unterschieden wurden allerdings Schenkungen von Stiftungen; bei Rechtsgeschäften des ersten Typs werden Gaben nur einmal vergeben, Stiftungen dagegen finanzieren sich aus den Erträgen eines prinzipiell unantastbaren Vermögens, so dass die Gabe des Stifters ständig wiederholt wird.20 Für diesen waren dann die sogenannten ‘Stiftungsorgane’ in seinem Sinne tätig. Häufig wurde ebenso ungenau unterstellt, dass jede Gabe an die Kirche auch unausgesprochen die Gebetsfürsorge auslösen sollte.21 Einig waren sich die Gelehrten über den Endzweck frommer Stiftungen jeder Art; Karl Schmid urteilte geradezu, dass alle Stiftungen des Mittelalters ‘Stiftungen für das Seelenheil’ waren.22 Oexle selbst hatte sich mit Stiftungen nicht beschäftigt, aber ich konnte nun seine theoretischen und methodologischen Einsichten für mein Thema fruchtbar machen. Denn wenn es so war, dass nach mittelalterlicher Auffassung der Tote als Rechtssubjekt unter den Lebenden gegenwärtig blieb, dann war dieser es ja selbst, der durch die ‘Stiftungsorgane’ handelte und seine Gabe an Geistliche oder Bedürftige periodisch erneuerte. Ein Handeln dieser Art war notwendigerweise ein Akt der Memoria, der Vergegenwärtigung des Abwesenden oder Toten, auch wenn liturgisches Gedenken gar nicht vorgesehen war oder vollzogen wurde. In meinem Basler Vorlesungsmanuskript heißt es dementsprechend: Jede Stiftung ist dem Willen des Stifters verpflichtet. Gleichgültig, welche wohltätigen oder der Allgemeinheit nützlichen Ziele der Stiftung auferlegt sein mögen, ist es doch immer der Wille des Stifters, der ausgeführt werden 17 Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), S. 24 f. 18 Vgl. Borgolte, ‘Gedenkstiftungen in St. Galler Urkunden’, S. 578–602. 19 Vgl. Hagemann, Die Stellung der Piae Causae nach justinianischem Rechte; Reicke, ‘Stiftungsbegriff und Stiftungsrecht im Mittelalter’, 247–76; Ders., Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, 2 Bde. 20 Borgolte, ‘Totale Geschichte’ des Mittelalters. Das Beispiel der Stiftungen, S. 8. 21 Vgl. Borgolte, ‘Die Stiftungsurkunden Heinrichs II. Eine Studie zum Handlungsspielraum des letzten Liudolfingers’, S. 231–50 (S. 240). 22 Schmid, ‘Stiftungen für das Seelenheil’, in Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, S. 51–73; Revision dieser Lehre neuerdings bei Borgolte, ‘Stiftungen „für das Seelenheil“ – ein weltgeschichtlicher Sonderfall?’, 1037–56.
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muss. Auf ihn weist zurück, wenn die Stiftungsorgane handeln. Sie handeln – nicht zufällig drängt sich die sprachliche Formulierung auf – in seinem Namen. Da die Stiftung vom Stifterwillen nicht abstrahieren kann, bleibt der Stifter durch sie unter den Menschen gegenwärtig, auch wenn totenkultliche Handlungen gar nicht festgelegt sind. Methodisch folgte aus dieser Analyse: Um unter den Lebenden gegenwärtig bleiben zu können, braucht der Stifter Menschen, die zur Erfüllung des Stiftungszweckes aufeinander folgen. Diese Personen und Personengruppen führen aber nicht einfach den Willen des Stifters aus, sondern sie vergegenwärtigen den Stifter durch ihr Tun. Zwischen dem Stifter und den die Stiftung vollziehenden Menschen besteht also eine Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung ist der soziale Mechanismus, durch den die Stiftung existiert; von ihr aus müssen die Stiftungen des Mittelalters als Gegenstand der Sozialgeschichte erschlossen werden.23 Schon 1984 hatte mir Oexle also mit seiner Auffassung von Memoria und seiner Lehre von der vormodernen ‘Gegenwart der Toten’ den entscheidenden Impuls für meine Stiftungsforschungen gegeben; auch wenn im Laufe der Zeit andere Interpretamente hinzukamen, blieb für mich bis in jüngste Zeit der Zusammenhang von ‘Stiftung und Memoria’ so zentral, dass eine Sammlung meiner einschlägigen Aufsätze noch 2012 diesen Titel trug.24 Das zweite Ereignis, das sich in meiner Erinnerung besonders mit Oexle und der Memoriaforschung verbindet, war die Pariser Tagung über neue Tendenzen in der deutschen Mittelalterhistorie (November 1997); Oexle hatte sie zusammen mit Jean-Claude Schmitt geplant und mich gebeten, über Memoria zu sprechen.25 Was ich dann in Sèvres zu sagen hatte, fand Oexles nachhaltige Zustimmung,26 löste allerdings unter Schmids anderen Schülern fast einen Skandal aus. Unstrittig war mein Hinweis darauf, dass die seinerzeit aufsehenerregenden Arbeiten des Ägyptologen Jan Assmann über das ‘Kulturelle Gedächtnis’ (1992) zu Unrecht beanspruchten, Bahnbrecher eines ‘neuen Paradigmas der Kulturwissenschaften’ zu sein; dabei sollten nach Assmann ‘die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen’ erscheinen.27 Tatsächlich hatte Oexle dergleichen ja schon lange vorher dargelegt und gefordert. Zwar wies Assmann korrekt 23 Das erste Kolleg vom Frühjahr 1984 legte den Grund für meine Abhandlung ‘Die Stiftungen des Mittelalters in rechts- und sozialhistorischer Sicht’, 71–94 (hier bes. 91 f.). 24 Borgolte, Stiftung und Memoria. Hier sind meine in Anm. 18 und 20 f. und 23 genannten Aufsätze nachgedruckt. 25 Borgolte, ‘Memoria. Bilan intermédiaire d’un projet de recherche sur le Moyen Age’, S. 53–69. Deutsche Übersetzung siehe unten Anm. 27. 26 Vgl. Oexle, ‘Memoria und Kulturelles Gedächtnis. Kulturwissenschaftliche Ausblicke auf Mittelalter und Moderne’, 2003 (Nr. 206), 3–24 (3 Anm. 2). 27 Borgolte, ‘Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts’, 197–210, 198, mit einem Zitat aus Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, S. 11. Auch das Folgende ebd.
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darauf hin, dass sich ‘die Virulenz des Themas Gedächtnis und Erinnerung“’ ” in Ost und West ‘seit Beginn der achtziger Jahre bemerkbar’ machte, aber ein zeitgeschichtlicher Erklärungsversuch musste meines Erachtens im Hinblick auf Oexles erste Arbeiten (1973, 1976) früher ansetzen. Den Auslöser sah ich in der Krise der westdeutschen Gesellschaft und Universität, für die ‘1968’ als Sigle steht. Zu den Zielen der Studentenbewegung gehörte es, die Erinnerung an die schlimmste deutsche Vergangenheit zu provozieren und herrschende Tabus über die Nazizeit zu durchbrechen; zu ihren Mitteln zählte die theoretische Reflexion, zu ihren Ansprüchen, die Probleme im Grundsatz anzugehen. Auch wer kein Marxist war, konnte sich den intellektuellen Impulsen dieser Bewegung kaum entziehen.28 Ich charakterisierte also Oexles Neuansatz bei der von Tellenbach, Schmid und anderen überkommenen Memoriaforschung als Indiz eines Generationenwechsels, mit der die erste Phase der Nachkriegszeit endete. Die älteren Schüler Tellenbachs, zu denen Schmid zählte, hätten sich, traumatisiert durch die totalitäre Instrumentalisierung von Geschichte im Nationalsozialismus, einer dezidiert szientistischen Historie zugewandt; ebenso wie sie selbst und andere Angehörige ihrer Alterskohorte, scheuten sie nachweislich das Genus der Historiographie, die unvermeidlich auf einer ideologieanfälligen Geschichtsdeutung hätte beruhen müssen. Dies erkläre die Akzeptanz einer rein positivistischen Erforschung von spröden Namenzeugnissen in Gedenkbüchern und Nekrologien: ‘Die methodische Innovation, nicht die theoretische Selbstbestimmung, galt als Schlüssel für den wissenschaftlichen Erfolg’.29 Unverkennbar waren, wie mir schien, auch andere lebensweltliche Determinanten dieser älteren Memoriaforschung: Zum einen galt das für die Konzentration auf Zeugnisse des Bodenseeraums, denn ‘Heimatliebe (war) eines der wenigen außerwissenschaftlichen Motive, zu denen sich Tellenbachs Schüler bei ihrer Arbeit bekannten’. Ein anderer Wertbezug, fügte ich 1997 an, lag unausgesprochen im religiösen Gehalt der Studienobjekte. Denn jenem liturgischen Gebetsgedenken, für das die mittelalterlichen Codices die Grundlage bildeten, begegneten die überwiegend katholischen Forscher lebensweltlich wieder in der Sonntagsmesse.30 Es waren vor allem diese analytisch, und nicht denunziatorisch gemeinten Urteile, die noch in Paris und darüber hinaus vehementen Widerspruch auslösten.31
28 Borgolte, ‘Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts’, 204. 29 Ebd., 199 f. 30 Ebd., 200. 31 Vgl. noch Geuenich und Ludwig, ‘Einleitung’, in Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen, S. 9–13 (S. 12 f.). – Den Vortrag von 1997 weiterführend: Borgolte, ‘Zur Lage der deutschen Memoria-Forschung’, S. 21–28.
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Während die positivistische Memoriaforschung weiterging und in innovativen Editionen verdiente Anerkennung fand,32 begründete Oexle, wie ich vortrug und schrieb, eine problemorientierte Richtung, die sich nicht mehr damit begnügte, von den Namenlisten auf den liturgischen Zweck der Überlieferung zu schließen; vielmehr verstand sie Memoria als ‘totales soziales Phänomen’ (Marcel Mauss) und wies ihr als religiöse Praxis ihren Platz im Erinnern und Gedenken überhaupt zu.33 Nicht umsonst kennzeichneten Oexle und Zeitgenossen ihren umfassenden anthropologischen Anspruch mit dem Kirchenvater Augustinus und seiner Selbstanalyse: ‘Ich bin mein Erinnern’,34 Oexle galt mir zugleich als Exponent einer neuen Mediävistik, die sich ihr theoretisches Fundament bei Max Weber, Otto Hintze oder Marc Bloch (und anderen) erarbeitete.35 In denselben Kontext gehört, dass deutsche Mediävisten (nicht Oexle selbst) seit Beginn der siebziger Jahre wieder zaghaft begannen, Geschichte zu schreiben.36 Der dritte meiner Merkpunkte liegt erst wenige Jahre zurück, ist mir aber besonders wichtig. Ende der neunziger Jahre hatte ich mich vom Themenkomplex um ‘Stiftung und Memoria’ etwas zurückgezogen, um dafür Studien und Darstellungen zur vergleichenden europäischen Geschichte zu betreiben und zu schreiben.37 Auch hier wirkten Anregungen Oexles nach, der freilich eine Ausdehnung auf den interkulturellen Vergleich in islamische und außereuropäische Länder und Kulturen nicht ins Auge gefasst hatte.38 2003 veranstaltete ich eine Tagung über ‘Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam’ vor der Moderne und regte 2006 ein Forschungsprojekt zur vergleichenden Stiftungsgeschichte in der lateinischen Kirche und im griechisch-orthodoxen Christentum an.39 32 Vgl. Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau; Synopse der cluniacensischen Necrologien, 2 Bde.; Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg; Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia; Die Jahrzeitbücher des Konstanzer Domkapitels, 2 Bde. 33 Oexle, ‘Soziale Gruppen und Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit in der Memorialüberlieferung’, 1978 (Nr. 17), S. 33–38 (S. 35 f.); Borgolte, ‘Totale Geschichte’; unter Bezug auf Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften; zuerst französisch: Paris 1950. 34 Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, S. 524 f., cap. X.16; vgl. O’Daly, ‘Remembering and Forgetting in Augustine, Confessions X’, S. 31–46; Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, S. 49; Oexle, ‘Die Gegenwart der Lebenden und der Toten’, 1983 (Nr. 28). 35 Oexle, ‘ Der Teil und das Ganze“ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein ” historisch-typologischer Versuch’ 1990 (Nr. 63), S. 348–82; Ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105); Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270). 36 Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit, S. 137–68. 37 Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250; Ders., ‘Mediävistik als vergleichende Geschichte Europas’, S. 313–23; Ders., Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr.. Eine Sammlung meiner einschlägigen Aufsätze in: Ders., Mittelalter in der größeren Welt. Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung. 38 Vgl. Oexle, ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muss’, 1995 (Nr. 102), S. 106 f.; später zum Beispiel: Ders., ‘Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne’, 2003 (Nr. 210), S. 227–52 (S. 244–46). 39 Borgolte, Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen; Stiftung und Staat im Mittelalter. Eine byzantinisch-lateinische Quellenanthologie in komparatistischer Perspektive.
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Auf diesen Grundlagen konnte ich 2011 einen Advanced Grant des European Research Council erlangen, der mir ermöglichte, von 2012 bis 2017 eine dreibändige ‘Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften’ erarbeiten zu lassen.40 An allen Artikeln dieses Werkes waren neben Mediävisten Byzantinisten, Indologen, Judaisten, Islamwissenschaftler und zeitweilig auch ein Sinologe beteiligt. Parallel dazu verfasste ich eine ‘Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte’, die zeitlich (3000 v. u. Z. bis 1500 u. Z.) und räumlich (u. a. auch nach Mesopotamien und Persien) ausgriff und 2017 erschienen ist.41 Als der erste Band der Enzyklopädie bei einer Präsentation vorgestellt wurde (28. 10. 2014), war Oexle, der seit seiner Pensionierung 2004 in Berlin lebte, zugegen. Obwohl seit 1983 und 1997 viele Jahre vergangen waren und wir uns zeitweise aus den Augen verloren hatten,42 machte seine Gegenwart mir bewusst, wie stark seine Anregungen bis in diese letzten Werke gewirkt hatten,43 und ich brachte dies auch spontan in meiner Begrüßung zum Ausdruck. Oexle war beeindruckt, ja bewegt, zeigte sich aber irritiert, dass in diesem ersten Band über die ‘Grundlagen’ des Stiftungswesens noch nichts über Memoria gesagt worden war. Auch mein Hinweis auf den vorgesehenen Artikel ‘Gedenken und Kultus’ in Band 2 stellte ihn offenbar nicht recht zufrieden, da ich nicht der Autor sein würde.44 Als Herausgeber hatte ich mir nur vorbehalten, jeweils die Beiträge der einzelnen Disziplinen vergleichend zusammenzufassen.45 Den gegen Ende 2015 erschienenen zweiten Band habe ich ihm dann noch geschickt, aber er hat nicht mehr darauf reagiert. Was hätte er wohl über die mich selbst überraschenden neuen Einsichten gesagt? Die interkulturell vergleichenden Projekte der 2010er Jahre konnten allerdings zunächst auch auf einschlägige Forschungen jüngerer Zeit in mehreren Disziplinen aufbauen, die oft unabhängig voneinander betrieben worden waren; nicht immer wurde dabei ein Zusammenhang zwischen Stiftung und Memoria hergestellt. In Münster und unter dem Einfluss von Joachim Wollasch hatte 1990 der Osteuropahistoriker Ludwig Steindorff eine Habilitationsschrift über ‘Memoria in Altrußland’ vorgelegt; auch wenn wichtige Zeugnisse hier erst aus der Zeit nach 1500 stammen, konnte Steindorff zeigen, das Stiftungen von Klöstern oder zu deren Gunsten in der alten Rus ebenso wie im Westen dem
40 Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften, 3 Bde. 41 Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, 3000 v. u. Z. bis 1500 u. Z. Eine englische Übersetzung soll 2019 bei Brill in Leiden erscheinen. 42 Vgl. aber Oexle, Die Gegenwart des Mittelalters, 2013 (Nr. 284). Es handelte sich um die erste einer von mir an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Reihe von Vorlesungen zum ‘Mittelalterlichen Jahrtausend’. 43 Wie intensiv er umgekehrt die Berliner Forschungen zum Stiftungswesen verfolgt hatte, geht zum Beispiel hervor aus: Oexle, ‘Memoria. Institutionalisierung und Kulturelles Gedächtnis’, 2009 (Nr. 259), S. 7. 44 Siehe dann Lohse, ‘Gedenken und Kultus – Lateinische Christen’, S. 91–108; vgl. jetzt auch Ders., Stiftungen im Okzident, ca. 500 bis 1500. 45 Borgolte, ‘Gedenken und Kultus – Interkulturelle Perspektiven’, S. 87–91.
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Toten- und Gebetsgedenken der frommen Spender dienten.46 Im Unterschied zum lateinischen, aber auch zum griechisch-orthodoxen Christentum waren aber keine karitativen Stiftungen bekannt. Unbemerkt von der lateineuropäischen Stiftungsforschung hatte zur gleichen Zeit die Iranistin Maria Macuch (Freie Universität Berlin) gezeigt, dass es im Reich der Sasaniden (224–642/651 u. Z.) und in der Religion des Zoroastrismus ‘Stiftungen für die Seele’ gegeben hat; nichts lässt umgekehrt darauf schließen, dass Macuch von der westlichen Memoriaforschung angeregt war.47 Die Zeugnisse belegen, dass die Stiftungen auch zum eigenen Nachruhm beziehungsweise für Werke der öffentlichen Wohlfahrt, wenn nicht aus karitativen Motiven errichtet wurden. Obwohl die Ursprünge dieser persischen Stiftungen im Götter-, Ahnenund Totenkult lagen, kommt diesen offenbar eine Schlüsselrolle beim Übergang zu den ‘Stiftungen für das Seelenheil’ zu.48 Schon Oexle hatte ja den archaischen Toten-(oder Seelen-)kult, der nur auf die Versorgung der Verstorbenen im Jenseits zielte, klar unterschieden von der (christlichen) Förderung des Seelenheils, das eine gesteigerte jenseitige Existenz als Gabe Gottes bezeichnete.49 In der Islamwissenschaft war noch 1980 das Stiftungswesen der Muslime scharf von demjenigen der Christen abgesetzt worden; während diese Gebete und Messen zugunsten lebender und verstorbener Wohltäter in den Vordergrund rückten, sei der muslimische ‘waqf ’ ausdrücklich diesseitig orientiert gewesen und habe die ‘moralische Neigung’ des Islam zur Umformung der Gesellschaft nach den Normen des Korans und des heiligen Gesetzes zum Ziel gehabt.50 Um das Jahr 2000 haben aber eine Reihe von Autorinnen und Autoren den Memorialzweck auch der islamischen Stiftungen betont.51 Den ungeheuren Aufwand, den ein konvertierter persischer Muslim Anfang des 14. Jahrhunderts bei seiner Stiftung in Täbriz trieb, charakterisierte eine Historikerin im Untertitel ihrer Monographie mit dem Motiv der ‘Sorge um Nachruhm und Seelenheil’.52 Im selben Sinne schrieb Johannes Pahlitzsch öffentlichen muslimischen Stiftungen
46 Steindorff, Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge; Ders., ‘Glaubenswelt und Prestige. Stiftungen in der Geschichte Altrußlands’, S. 159–77. – Vgl. Borgolte, Weltgeschichte der Stiftungen, S. 72–74, 258–260. 47 Macuch, ‘Die sasanidische Stiftung für die Seele“ – Vorbild für den islamischen waqf ?’, S. 163–80; vgl. ” danach: Dies., ‘Die sasanidische fromme Stiftung und der islamische waqf. Eine Gegenüberstellung’, S. 19–38. 48 Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 37–52. 49 Oexle, ‘Mahl und Spende im mittelalterlichen Totenkult’, 1984 (Nr. 34), 401–20 (bes. 401 Anm. 1). Zu Seelenkultstiftungen, die ‘das ganze Altertum hindurch das Stiftungswesen beherrscht’ haben, siehe Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Bd. 1: Geschichte des Stiftungsrechts, bes. S. 13 f.; vgl. Bruck, ‘Die Stiftungen für die Toten in Recht, Religion und politischem Denken der Römer’, S. 46–100. – Vgl. Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 10. 50 Jones, ‘Pious Endowments in Medieval Christianity and Islam’, 23–36 (bes. 23 f., 28 f., 32). – Vgl. Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 74-87. 51 Vgl. Homerin, ‘Saving Muslim Souls. The Khānqāh and the Sufi Duty in Mamluk Lands’, 59–83 (bes. 82 f.). 52 Hoffmann, Waqf im mongolischen Islam. Rašīduddīns Sorge um Nachruhm und Seelenheil.
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in Jerusalem seit dem 12. Jahrhundert ‘the concern for spiritual salvation and memoria’ zu und bezog sich dabei ausdrücklich vergleichend auf die westliche Christenheit.53 Andere Studien der folgenden Jahre haben diese Deutung generell bestätigt.54 Was Byzanz beziehungsweise die griechisch-orthodoxe Christenheit angeht, hat erst die Berliner Tagung von 2003 das Gebetsgedenken als Stiftungsmotiv ins allgemeine Bewusstsein der Experten gehoben.55 Kompliziert sind die Verhältnisse in der griechischen und römischen Antike sowie im Judentum. Die althistorische Forschung bestreitet bis in die Gegenwart, dass das Stiftungswesen überhaupt aus der Sorge um Memoria, hier verstanden als Totenkult, abgeleitet werden kann.56 Niemand kann freilich in Abrede stellen, dass Götter- und Ahnen- bzw. Totenkultstiftungen einen wichtigen Zweig des vorchristlichen griechischen und römischen Stiftungswesens dargestellt haben.57 Andererseits steht auch fest, dass im Hellenismus sowie im römischen Reich Könige, Magistrate und wohlhabende Bürger bei Stiftungen für das öffentliche Wohl (darunter für Spiele, Gymnasien, Brücken, Bewässerung, Straßenbau etc.) einer Pflicht zum standesgemäßen Verhalten folgten.58 Man spricht von Euergetismus oder Philanthropie, nicht vom Motiv der Nothilfe wie früher im Alten Ägypten oder von barmherziger Liebe wie später im Christentum.59 Auch wenn auf den Inschriften oder erzählenden Quellen das Motiv nicht ständig aufgerufen wird, ist indessen sicher, dass Stiftungen dieser Art, zum Beispiel für die Versorgung (Alimentierung) von Kriegswaisen oder Kindern von Bedürftigen, auch dem Ansehen des Wohltäters dienten und dienen sollten.60 Die Memoria war hier kein postmortales Gedenken zugunsten der Seele in der anderen Welt, sondern sollte dem Ruhm unter Zeitgenossen und künftigen Generationen im Diesseits dienen. Wie Bäderstiftungen in Rom zu augusteischer Zeit gerade diesem dauernden Stiftergedenken unter den künftigen Nutzern dienen sollten, hat
53 Pahlitzsch, ‘The Concern for Spiritual Salvation and Memoria in Islamic Public Endowments in Jerusalem (XII–XVI. C.) as Compared to the Concepts of Christendom’, S. 329–44; vgl. Ders., ‘Memoria und Stiftung im Islam. Die Entwicklung des Totengedächtnisses bis zu den Mamluken’, S. 71–94. – Mit J. Pahlitzsch veranstaltete ich im Wintersemester 2001/2002 an Freier und Humboldt-Universität zu Berlin ein Hauptseminar über ‘Stiftungen des Mittelalters im lateinischen Christentum und im Islam. Ein Vergleich’. 54 Jetzt besonders Sánchez, ‘Gedenken und Kultus – Muslime’, S. 109–27. 55 Horden, ‘Memoria, Salvation, and Other Motives of Byzantine Philanthropists’, S. 137–46; Thomas, ‘In Perpetuum. Social and Political Consequences of Byzantine Patrons’ Aspirations for Permanence for their Foundations’. Zum Forschungsstand vgl. aber noch die Bemerkungen von Grünbart, ‘Zur Memorialkultur im byzantinischen Mittelalter’, S. 373–94 (S. 373–76). – Jetzt Chitwood, ‘Gedenken und Kultus – Griechisch-orthodoxe Christen’, S. 147–65. 56 von Reden, ‘Glanz der Stadt und Glanz der Bürger. Stiftungen in der Antike’, 21–36 (24); Holman, The Hungry are Dying. Beggars and Bishops in Roman Cappadocia, S. 14 Anm. 64; Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, S. 225. 57 Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 26–29. 58 Ebd., S. 167–186, 214–216, 537–551. 59 Zu Ägypten ebd., S. 32–37. Zur christlichen Caritas ebd., S. 59 f. 60 Ebd., S. 215 f., 537–540.
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die Althistorikerin Susanne Pickert 2003/2008 gezeigt.61 Festzuhalten ist aber, dass bei Wohlfahrtsstiftungen in der Antike von Memoria nur als begleitendem Motiv gesprochen werden kann. Im Judentum waren, wie in anderen Religionen auch, Seelenglaube und Jenseitsvorstellungen unklar, widersprüchlich und umstritten.62 Anders als im Christentum fanden die damit verbundenen Fragen aber überhaupt wenig Interesse. Weithin Einigkeit herrscht in der Wissenschaft darin, dass im Buch Daniel (12, 2 f.) zum ersten Mal eindeutig von der individuellen Auferstehung die Rede ist. Man darf sich allerdings nicht vorstellen, dass sich seither der Auferstehungsglaube ungehindert durchsetzte. Wo aber Jenseitshoffnungen und -befürchtungen im Judentum virulent waren, ging es um die Vergeltung der Taten im vergangenen Leben. Ein undatierbarer Kommentar zum Buch Deuteronium drückt die Erwartung einer Gegenleistung Gottes für ein gutes Werk so aus: Und so sprach der Heilige, gepriesen sei Er, zu Israel: ‘Meine Söhne, wann immer ihr die Armen versorgt, rechne ich es euch an, als ob ihr mich versorgen würdet.’63 Umstritten war, ob auch andere zugunsten eines Verstorbenen intervenieren konnten; begünstigt wurde diese Annahme immerhin mit einer Episode aus dem zweiten Makkabäerbuch (2. Makk 12, 39–46).64 Der Lehre, dass mit guten Gaben Memorialleistungen für das Seelenheil Dritter begründet werden könnten, wurde von vielen Gelehrten verworfen. Der Rabbi Maharam Chalawa, der in Tortosa unter christlicher Herrschaft wirkte (ca. 1350), wurde einst gefragt: Ist es wünschenswert, gute Gaben für Menschen aufzubringen, die schon verstorben sind? Können noch nach ihrem Tod Werke zu ihren Gunsten ihre Lage entscheidend verändern?’ Der Rabbi urteilte kompromisslos: ‘Es gibt keinen Zweifel, dass, was jemand für einen Verstorbenen tut, diesen nicht unterstützen oder zum Heil bringen kann, denn jedermann wird entsprechend seiner Verdienste zum Zeitpunkt seines Todes gerichtet.’65 Ähnlich hatte sich auch schon Abraham bar Hiyya ha-Nasi (ca. 1070–ca. 1136) in Katalonien geäußert: Jeder, der glaubt, dass ihm die Taten und Gebete seiner Söhne und Enkel nach seinem Tod behilflich sein könnten, [vertritt] fingierte Gedanken, die
61 Pickert, Sehnsucht nach Ewigkeit. Römische Stiftungen aus der Zeit des Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.), S. 57–92; vgl. Dies., ‘Die römischen Stiftungen der augusteischen Zeit’, S. 23–45. – Grundlage der Publikationen von Pickert war eine bei mir 2003 angefertigte Magisterarbeit. – Vgl. Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 551 f. 62 Zum Folgenden eingehender Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 87–106. 63 Midrasch, zit. von Koch, ‘Typologisierungen – Juden’, S. 200–12 (S. 202); Holman, Hungry are Dying, S. 45. 64 Vgl. Bowker, The meanings of death, S. 62 f. 65 Lévi, ‘Une consultation inédite sur l’intercession des vivants en faveur des morts’, 214–20; vgl. Galinsky, ‘Commemoration and Heqdesh in the Jewish Communities of Germany and Spain during the 13th Century’, S. 191–203 (191).
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in den Augen der Weisen und Vertreter der Wissenschaft einer falschen Erwartung entsprechen.66 Der Effekt solcher Vorbehalte müsste sich natürlich an Stiftungen ablesen lassen, aber es ist gar nicht leicht, jüdische Stiftungen überhaupt zu ermitteln. Stiftungen waren im Judentum fast ausschließlich der Fürsorge gewidmet; als Empfänger der Gaben traten aber in aller Regel nicht die Armen und Bedürftigen selbst, sondern die Gemeinden beziehungsweise ‘Gemeindefonds’ in Erscheinung, die die Verwaltung und Distribution der aufgebrachten Mittel ausübten. Eine Wechselbeziehung zwischen dem Stifter und dem Begünstigten, der die Stiftungen für das Seelenheil im Christentum und im Islam kennzeichnet, wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Gabe als besonders fromm und verdienstlich galt, wenn sie unbekannter Weise erfolgte.67 Außerdem kam eine Stiftung durch mündliche Vereinbarung zustande, so dass es überhaupt nur sehr wenige Urkunden gibt, in denen der Stifter seine Motive und Erwartungen hätte festhalten können. Schließlich bedingten die weite Zerstreuung der Juden und deren Leben unter den Einflüssen anderer Religionen, dass generelle Aussagen sehr problematisch wären. Man muss sich also auf punktuelle Feststellungen beschränken. Aus Nürnberg ist mit dem ‘Memorbuch’ von 1296/1297 u. Z. ein Totenkalendar überliefert, das sehr stark den lateinchristlichen Martyrolog-Nekrolog-Handschriften ähnelt. Älteste Eintragsschichten bezogen sich auf die Opfer der Pogrome des Ersten Kreuzzuges (1096).68 Aus den Einträgen lässt sich ableiten, dass einzelne Nürnberger Stadtbewohner zugunsten ihrer jüdischen Gemeinde Stiftungen errichtet haben, um durch Gott die Seelenruhe mit den Erzvätern im Paradies zu finden. Vermutlich war der Zweck des Buches, ein persönliches Anniversargedenken der Stifter nach dem Vorbild der Märtyrerverehrung zu ermöglichen. Listen von Wohltätern sind auch im Bestand der jüdischen Gemeinde von Fustat (Altkairo), also unter muslimischer Herrschaft, überliefert und sollen in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts zurückgehen.69 Diese Namenverzeichnisse waren, wie S. D. Goitein gezeigt hat, stark familiär geprägt und lassen den Stifter nach mehreren (oft sieben oder mehr) Generationen seiner Vorfahren und als Ahn seiner Nachkommen erscheinen. Als ‘Memoriallisten’ dienten sie dazu, im öffentlichen Gemeindegottesdienst rezitiert zu werden; ein Besucher Ägyptens klagte noch im 16. Jahrhundert, die Verlesung nehme mehr als die Hälfte der
66 bar Ḥiyya, ‘Higayon ha-Nefesh he-Aṣuvah’ [‘Meditationen der traurigen Seele’] (1865/1976), S. 58; zit. nach Koch, ‘Typologisierungen’, S. 203. 67 Kozma, ‘Wohltätigkeit und Bildung – Juden’, S. 223–41 (S. 224); Cohen, Poverty and Charity in the Jewish Community of Medieval Egypt, S. 190. 68 Vgl. jetzt Barzen, ‘Das Nürnberger Memorbuch. Eine Einführung’; zit. nach: http://www.medievalashkenaz.org/NM01/einleitung.pdf. 69 Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza, Bd. 2, bes. S. 92 f., 97 f., 162 f.; 470–510; Bd. 3 (ebd., 1978), S. 2–6; Cohen, The Voice of the Poor in the Middle Ages. An Anthology of Documents from the Cairo Geniza, S. 164–87; Mann, Text and Studies in Jewish History and Literature, Bd. 2, S. 257–83.
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Liturgie in Anspruch.70 Besondere Anlässe für die jüdische Memoria waren aktuelle Todesfälle oder der ‘Tag der Buße’, an dem alle wohlhabenden Häuser ihrer Toten gedachten. Im Unterschied zu Nürnberg bietet die Geniza von Fustat auch eine Reihe von Stiftungsakten, zum Teil als letztwillige Verfügungen.71 Die Stifter oder Stifterinnen haben hier aber soweit erkennbar niemals ihre Hoffnung auf das Paradies oder die Gebetshilfe der Gemeinde als Gegenleistung zum Ausdruck gebracht.72 Wertvolle Einsichten in die den Wohltätern zugeschriebenen Erwartungen bietet eine größere Anzahl von Bittbriefen, mit denen sich Arme, andere Bedürftige und Fremde an die Führer oder weitere Amtsträger der Juden wandten. Als Gegengabe für die erhoffte Hilfe wünschten die Bittsteller ihren Adressaten weit überwiegend ein gutes Leben im Diesseits, Schutz vor Ungemach, Erfolg und Wohlergehen, vor allem aber eine gesegnete Nachkommenschaft.73 Gelegentlich formulierte Heilswünsche könnten sich auf das Jenseits beziehen,74 aber nur selten wird dies wortreich und klar angesprochen. Ein dritter Raum jüdischen Lebens, für den wenigstens einige neue Studien vorliegen, ist das von christlichen Herrschaften bestimmte Spanien. Robert I. Burns hat eine eindrucksvolle Reihe von urkundlichen jüdischen Verfügungen in lateinischer Sprache aus dem 13./14. Jahrhundert u. Z. behandelt und ediert, Judah D. Galinsky einschlägige Responsen spanischer Rabbiner untersucht.75 Aus den Quellen ergibt sich der eindeutige Befund, dass Zustiftungen für den (karitativen) Gemeindefonds und selbstständige Stiftungen nach Art des muslimischen ‘waqfs’ (oder, wie man in Spanien und im nördlichen Afrika sagte, ‘ḥubs’76) ‘für meine Seele’, ‘für den Nachlass meiner Sünden’ oder ‘in der Hoffnung auf das ewige Leben’ errichtet wurden. Galinsky ist aber darauf aufmerksam geworden, dass die jüdischen Stiftungen im christlichen Spanien beziehungsweise in Südfrankreich keine Gebetsauflagen zum Totengedenken aufweisen, wie sie in Aschkenas, etwa in Nürnberg, zu erschließen sind.77 Tatsächlich weiß man, dass sich die Praktiken der liturgischen Totenmemoria unterschieden haben. Nur in Aschkenas bildete sich der Rhythmus eines Totengedenkens an vier Tagen im Jahr aus, am Yom Kippur und an den drei Pilgerfesten. Das Totengebet des haskavah für die persönlichen Angehörigen scheint in den anderen jüdischen Kulturen erst dem Vorbild des aschkenasischen hazkaroth neshamoth gefolgt zu
70 Goitein, A Mediterranean Society, Bd. 3, S. 2 f. 71 Ebd., Bd. 2, S. 112–21; dazu ebd., Bd. 5 (1988), S. 128–87. 72 Documents of the Jewish Pious Foundations from the Cairo Geniza. 73 Cohen, Voice of the Poor, S. 21, 28 f., 31, 34, 40, 44 f., 56, 59, 61 f., 69, 72, 86 f., 89, 99, 101, 103. Vgl. auch Ders., ‘Geniza Documents for the Comparative History of Poverty and Charity’, S. 283–341. 74 Cohen, Voice of the Poor, S. 21, 28, 34, 40, 49. 75 Burns, Jews in the Notarial Culture. Latinate Wills in Mediterranean Spain, 1250–1350; Galinsky, ‘Jewish Charitable Bequests and the Hekdesh Trust in Thirteenth-Century Spain’, 423–40; Ders., ‘Commemoration’. 76 Vgl. García Sanjuán, Till God inherits the earth. Islamic Pious Endowments in al-Andalus (9–15th Centuries); Debasa, ‘The Role of Endowments in the Framework of Andalusian Society’, S. 109–21. 77 Galinsky, ‘Commemoration’, bes. S. 195, 201.
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sein.78 Bezieht man im Hinblick auf die spanischen Urkunden noch ein, dass diese von christlichen Notaren in lateinischer Sprache und in Anlehnung an christliche Formeln und Motive verfasst wurden, dann liegt der Schluss nahe, dass wir es bei diesen Quellen mit dem Niederschlag christlicher Einflüsse zu tun haben.79 Trotz aller Einschränkungen, die angesichts des noch unbefriedigenden Forschungsstandes gemacht werden müssen, kann bei den jüdischen Stiftungen des Mittelalters keineswegs von einem Leitmotiv des Seelenheils und des Gebetsgedenkens die Rede sein. Wenn Oexle auch zu Recht das Judentum neben dem Christentum als eine ‘Gedächtnisreligion’ bezeichnet hat, so war die Verpflichtung zur Memoria zugunsten abwesender und toter Stifter bei den Juden doch entschieden schwächer als bei Christen ausgeprägt. Die Behauptung eines generellen Zusammenhangs von ‘Stiftung und Memoria’ ist erst recht fraglich, wenn man in den Vergleich, wie hier geschehen ist, die heidnische griechische und römische Welt sowie den Islam einbezieht; treffend wäre es wohl, von einer abgestuften Geltung des Gedenkmotivs im Kreis der westlichen Religionen und Kulturen zu sprechen. Im Hinblick auf Süd- und Ostasien, genauer Indien und China, wäre die allgemeine Redeweise von ‘Stiftung und Memoria’ sogar abwegig. Indien war im Mittelalter und ist bis heute von einer ungewöhnlichen Pluralität indigener Religionen geprägt; die Erlösungsreligionen Hinduismus, Buddhismus und Jainismus hatten eine gemeinsame Grundlage in der Religion der Brahmanen, die freilich neben ihren Derivaten unter wiederholten Wandlungen fortlebte.80 Trotz dieser Vielfalt fällte Annette Schmiedchen in der ‘Enzyklopädie des Stiftungswesens’ 2016 ein generelles, zweifellos zutreffendes Urteil: ‘Eine ausgeprägte memoria im christlichen (oder islamischen) Sinne lässt sich in Dokumenten aus dem mittelalterlichen Indien nicht nachweisen.’81 Zur Erklärung wies Schmiedchen darauf hin, dass die Toten auf dem asiatischen Subkontinent, abgesehen von bestimmten Ausnahmen beispielsweise im Buddhismus, nicht in Gräbern bestattet wurden, so dass sich eine Stiftung zum Gedenken gar nicht an einem konkreten Platz wie im Christentum hätte festmachen können. Wichtiger ist aber der Hinweis auf eine völlig andere Erlösungslehre als im Westen. Nach indischer Auffassung liegt nämlich das gesamte Lebensschicksal in der Hand des Einzelnen; durch gute Werke sammelt er Verdienst (‘puṇya’) an, was ihm schon im Diesseits zugutekommen und Erlösung bringen kann. Der zentrale zweite Begriff ist das Sanskrit-Wort ‘karman’, ‘Tat’, ‘Werk’, und die dabei eingeschlossene Erwartung, dass jedes Handeln Folgen habe.82 Nach dem
78 Vgl. Anonymus, ‘Memorial prayers and services’, S. 517 f.; Freehof, ‘Hazkarath Neshamoth’, 179–89 (bes. 179, 181, 188 f.). 79 Galinsky, ‘Jewish Charitable Bequests and the Hekdesh Trust in Thirteenth-Century Spain’, S. 432; vgl. Burns, Jews in the Notarial Culture, S. 29. 80 Zum Folgenden eingehender Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 106-128. 81 Schmiedchen, ‘Gedenken und Kultus – Indien’, S. 165–83 (S. 165 f.). 82 Lipner, ‘Karman’, Sp. 778–88.
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karman-Gesetz wirkt ein ‘Tatvergeltungsmechanismus’ automatisch;83 wer also beispielsweise einen Brahmanenpriester oder einen hinduistischen Tempel beschenkt, ist nicht auf die Fürbitten seiner Adressaten angewiesen. Es fehlt nämlich ein göttliches Gegenüber des Menschen, das ihn – etwa in einem Gericht – für seine Tat belohnt, sei es zu seinem Wohlergehen im Leben, sei es zu seinem Heil im Tode. Das Mauss’sche Gesetz, dass jede Gabe nach einer Gegengabe verlangt, ist hier außer Kraft gesetzt.84 Trotzdem sind aus Indien nach Hunderten, wenn nicht Tausenden zählende Stiftungen ‘an Brahmanenpriester ohne erkennbaren Tempelbezug sowie Stiftungen im Kontext von Tempeln und Schreinen hinduistischer Gottheiten’ überliefert.85 Ähnliches gilt von der Förderung des Buddhismus und, wenn auch weniger belegt, vom Jainismus. In diesen beiden Religionen bestand eine klare Trennung zwischen Mönchen und Nonnen einerseits und Laien andererseits; diese konnten sich Verdienste durch Stiftungen zugunsten jener oder von Klöstern erwerben, die eine bessere Wiedergeburt begünstigten. Ein ewiges Heil und eine diesem dienende Memoria wie im Christentum und Islam waren für den Einzelnen nicht vorgesehen; der Endzweck allen frommen Bemühens war vielmehr die Auslöschung der Person, die Befreiung von der Welt. Der Buddha selbst hatte die Vorstellung von einer Seele radikal abgelehnt. ‘Der Buddhismus ist die Lehre vom Nicht-Selbst’.86 Ein nachhaltig wirkendes Hindernis für einen Zusammenhang von ‘Stiftung und Memoria’ bestand darin, dass eine Verdienstübertragung zugunsten lebender und verstorbener Angehörigen, zum Beispiel der eigenen Eltern, eigentlich nicht vorgesehen war. Vermutlich bringen deshalb fallweise anderslautende urkundliche Verfügungen gerade die Ausnahmeregelung zum Ausdruck.87 Schon Max Weber hatte im selben Sinn darauf hingewiesen, dass bei diesen Werken für Dritte die Praxis der altüberlieferten Totenopfer nachwirkte, die – wie Opfer und Gebete im Christentum – das Schicksal der Verstorbenen hatten beeinflussen sollen.88 Normative Rechtstexte sahen vor, das Motiv des Verdiensterwerbs für den Stifter und seine Eltern zu verbinden, und lassen den zeitlich begrenzten Effekt der guten Tat erkennen. Die Gegenleistung der Asketen für die Gaben der Laien bestand in deren Belehrung.89 Auf die Verbesserung ihrer Wiedergeburt als Lohn erworbenen Verdienstes sahen sich die Laien auf Dauer auch nicht beschränkt. Am Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends bildete sich eine neue Form des Buddhismus heraus, die ‘Mahāyāna’, ‘Großes Fahrzeug’, genannt wurde und sich polemisch vom
83 Schmiedchen, ‘Gedenken und Kultus – Indien’, S. 166. 84 Heim, ‘Gift and Gift Giving’, Sp. 747–52. 85 Schmiedchen, ‘Typologisierungen – Indien’, S. 229–48 (S. 230); Dies., ‘Schriftzeugnisse –Indien’, S. 423–41. 86 Lamotte, ‘Der Buddha, Seine Lehre und Seine Gemeinde’, S. 33–67 (S. 48). 87 Schmiedchen, ‘Gedenken und Kultus’, S. 167. 88 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2: ‘Hinduismus und Buddhismus’, S. 119 f. 89 Gombrich, ‘Einleitung: Der Buddhismus als Weltreligion’, S. 15–32 (S. 26 f.).
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älteren ‘Hīnayāna’, ‘Kleines Fahrzeug’, absetzte.90 Die Anhänger verpflichteten sich, die Laufbahn eines ‘Bodhisattva’, eines künftigen Buddhas, einzuschlagen. Im Unterschied zum Buddha selbst und seinen ersten Schülern wollten sie den Eingang ins Nirvāṇa auf unvorstellbar lange Zeit hinausschieben und unzählige Existenzen durchlaufen, und zwar, um möglichst vielen Menschen aus Mitgefühl auf ihrem Weg zur Erlösung helfen zu können. Wo Memoria in Indien eine Rolle spielte, handelte es sich um den Nachruhm der Stifter. Zahllose buddhistische Bauten (Stupas, Klöster) und Skulpturen sind mit Stifterinschriften belegt. Nur ausnahmsweise finden sich aber in den indischen Stiftungsurkunden ausdrückliche Wünsche eines Stiftergedenkens, wie es für die monotheistischen Gabentauschkulturen typisch war.91 Immerhin hat im Jahr 1245 u. Z. die ‘gekrönte Hauptgemahlin’ eines Vasallenfürsten der Kādamba-Dynastie namens Daśāvaī Padmaladevī zu diesem Zweck im Ort Hulluṃgūru (heute Hulgur) eine Götterstatue aufstellen und in die Obhut einer bereits angesiedelten Brahmanengemeinschaft überführen lassen. Neben dem Götterkult, der Versorgung von 64 viśṇuitisch orientierten Brahmanen sowie zweier Lehrer, dem Unterricht von Knaben und einer Speisehalle sollten die gestifteten Ländereien für die Ahnenverehrung der Kādambas verwendet werden. Vorgesehen war dafür ein eigener ‘großer Festtag der Ahnenverehrung’.92 Nach China drang der Buddhismus von Indien her bald nach der Wende unserer Zeitrechnung vor, und zwar vor allem in Gestalt des ‘Großen Fahrzeugs’.93 Das buddhistische Klosterwesen animierte auch die Daoisten zur Nachahmung, und es waren vor allem buddhistische Mönche, die in dem ostasiatischen Reich das Wohlfahrtssystem anregten und weitgehend auch selbst betrieben. Stiftungen konnten sich in China nur insofern entfalten, als der hierarchisch und bürokratisch durchorganisierte Staat dazu Freiräume ließ. Was die Memoria und auch Gedenkstiftungen betrifft, so entfalteten sie sich fast ausschließlich in der uralten und bis heute praktizierten Ahnenverehrung. Der Konfuzianismus hat hierbei keine neuen Impulse entbunden.94 Konfuzius selbst (gest. 479 v. u. Z.) lehnte den Ahnenkult keineswegs ab,95 entzog sich aber klaren Aussagen über die Welt der Geister und Götter, um desto energischer auf die Pflichten gegenüber Mitmenschen, ‘Gesellschaft’ und ‘Staat’ hinzuweisen. Weltgeschichtlich zum ersten Mal formulierte ‘Konfuzius’ (oder der in seinem Namen Sprechende) die ‘goldene Regel’ der Mitmenschlichkeit:
90 Freiberger und Kleine, Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung, S. 48–53; Schumann, Mahāyāna-Buddhismus. Das Große Fahrzeug über den Ozean des Leidens. 91 Vgl. Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 192–194, 521 f. 92 Schmiedchen, ‘Typologisierungen’, S. 235; Dies., Herrschergenealogie und religiöses Patronat. Die Inschriftenkultur der Rāṣṭrakūṭas, Śilāhāras und Yādavas (8.–13. Jahrhundert), S. 391–94. 93 Jetzt zusammenfassend Sen, ‘The spread of Buddhism’, S. 447–79 (S. 452 f.). – Zum chinesischen Stiftungswesen, das reich überliefert, aber schlecht erforscht ist, siehe Olles, ‘Religiöse Stiftungen in China’, S. 681–760; Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte, S. 25 f., 129–132, 502–520. 94 Zum Konfuzianismus zusammenfassend van Ess, Der Konfuzianismus. 95 Konfuzius, Gespräche. Aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm, S. 21 III.12, vgl. S. 20 f. III.11; zu II.24, IV.19.
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Dsï Gung fragte und sprach: ‘Gibt es ein Wort, nach dem man das ganze Leben hindurch handeln kann?’ Der Meister sprach: ‘Die Nächstenliebe. Was du selbst nicht wünschest, tu nicht an andern.’96 Wo Verdienst zu erwerben war, winkte diesseitiges Gedenken, ja Ruhm: Der Meister sprach: ‘Der Edle hasst (den Gedanken), die Welt zu verlassen, ohne dass sein Name genannt wird.’97 Eine Transzendenzerfahrung, also die Vorstellung von einem Bruch zwischen Diesseits und Jenseits, den Gedenkstiftungen überbrücken sollten, fehlt im Konfuzianismus. Schüler und Familie sorgten indessen für das Andenken des Konfuzius selbst in Qufu, wo der Meister geboren und begraben worden war; entscheidend für den Konfuzius-Kult wurde schließlich die Zuwendung der Kaiser.98 Der Gründer der Han-Dynastie, Han Gaozu (reg. 206–195 v. u. Z.), war der erste, der am Konfuziustempel persönlich opferte; die folgenden Herrscher statteten die ‘Kongs’, Nachkommen des Konfuzius, mit erblichen Ehren und Ländereien aus und brachten wiederholt Spenden zur Renovierung des Tempels auf. In der mittleren Han-Zeit verfügten die Kongs bereits über 3.800 Haushalte, die ihnen für die Opfer an Konfuzius in ihrem Tempel übertragen worden waren.99 Später spendete Kaiser Ming Taizu im Jahr 1368 allein 98.400 Morgen Land. Natürlich dienten die Gütergaben, die durch Steuerbefreiungen ergänzt wurden, auch der Versorgung der Kong-Familie selbst.100 Zweifellos handelte es sich bei diesen materiellen Ausstattungen des Konfuziustempels von Qufu um Stiftungen – Stiftungen freilich, die ‘nur’ einem diesseitigen Gedenken dienen und die lebenden Angehörigen des Beistands ihres Ahnen versichern sollten. Beachtenswert ist, dass sich der Kult des Konfuzius, zu dem auch die Verehrung seiner Schüler und später weiterer Gelehrter trat, nicht auf einen einzigen Ort beschränkte. Bereits unter Kaiser T’ai-tsung (627–49 u. Z.) war der Befehl ergangen, in allen Provinz- und Distriktschulen Konfuziustempel zu errichten;101 die Maßnahme stand im Zusammenhang mit dem Ausbau des Prüfungssystems für Beamte. In der Forschung hat man deshalb davon gesprochen, Konfuzius sei ‘zu einer Art Gottheit der Staatsverwaltung’ erhoben worden, was ‘natürlich etwas ganz anderes (sei) als der buddhistische Appell an das Erlösungsstreben jedes einzelnen Individuums’.102
96 Ebd., S. 122 XV.23; van Ess, Der Konfuzianismus, S. 23, gibt den Text folgendermaßen wieder: ‘[Der Schüler] Tzu-kung sprach: Was ich nicht will, das andere mir zufügen, das will ich auch ” nicht anderen zufügen“. Der Meister sprach: Tz’u, da kommst du nicht heran.“’ Vgl. ferner die ” Ausführungen und Belege ebd., S. 23 f. 97 Konfuzius, Gespräche, S. 121 XV.19. 98 Zum Folgenden besonders: Lamberton, ‘The Kongs of Qufu. Power and Privilege in Late Imperial China’, S. 297–332. 99 Ebd., S. 319. 100 Ebd., S. 311. 101 Ebd., S. 297; van Ess, Konfuzianismus, S. 57. 102 van Ess, Konfuzianismus, S. 59; Shryock, The Origin and Development of the State Cult of Confucius. An Introductory Study, S. 137.
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Wie ist also der Zusammenhang von ‘Stiftung und Memoria’ zu beurteilen, den ich noch 2012 auf der Grundlage von Oexles Abhandlungen über ‘Memoria’ und ‘Gegenwart der Toten’ für konstitutiv gehalten habe? Kann die These auch nach den universalhistorischen Stiftungsforschungen der letzten Jahre Anspruch auf allgemeine Geltung erheben? Abstrakt gesehen, trifft das sicher zu. Denn es bleibt ja dabei, dass die Stiftungsorgane, indem sie den Willen des Stifters ausführen, seine Gegenwart evozieren und durch ihr Handeln dessen ‘Memoria’ erneuern. Dem widerspricht aber, dass von Memoria eigentlich nicht die Rede sein kann, wo die zugrundeliegende ‘Weltanschauung’ oder Religion ein dauerndes Gedächtnis gar nicht intendiert oder wo Stiftungen diesem Zweck gar nicht dienen sollen. Bezieht man diesen wohl durchschlagenden Einwand ein, dann kann man dem Konnex von ‘Stiftung und Memoria’ schon in der griechischen und römischen vorchristlichen Antike und im Judentum nur eine eingeschränkte Geltung zuschreiben, und erst recht gilt dies für Indien und China mit ihren indigenen Religionen und Lehrsystemen. Ob Oexle diese Relativierung seiner eigenen These akzeptiert hätte? Ich glaube das schon, denn als ‘Weberianer’ und Verehrer von Marc Bloch103 wusste er natürlich nur zu gut, dass die Wissenschaft weitergehen muss und unsere beste Leistung darin besteht, diesen Prozess zu fördern.104
103 Vgl. Oexle, ‘ Une science humaine plus vaste“. Marc Bloch und die Genese einer Historischen ” Kulturwissenschaft’, 1999 (Nr. 145), S. 102–44; Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, S. 29, 56 f. 104 Vgl. nur Oexle, ‘Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung’, 1984 (Nr. 32), 17–55, nachgedruckt in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 17–40.
Annemarie Stauffer
Textile Schenkungen und memoriales Handelnim frühen und hohen Mittelalter
I.
Zur Einführung
In der Erforschung der vormodernen Memoria und in der modernen Geschichts wissenschaft, die Otto Gerhard Oexle als ‘historische Kulturwissenschaft’ verstanden hat,1 weil sie alle Bereiche menschlichen Handelns und der aus diesem entstehenden kulturhistorischen Werke und Schöpfungen im materiellen wie im geistigen Sinn umfasst, finden Textilien nach wie vor wenig bis kaum Beachtung. Dies erstaunt umso mehr, als sie unabdingbarer Teil jeder menschlichen Existenz sind. Sie sind die erste Materie, mit dem der neugeborene Mensch in Berührung kommt, und die letzte, die seinen toten Körper umhüllt. Mit textilen Requisiten werden öffentliche und private Räume ausgestattet: Mit Vorhängen und Behängen lässt sich entweder die Aufmerksamkeit auf eine Handlung beziehungsweise Person fokussieren oder diese aber dem Blick der Öffentlichkeit entziehen. Textilien kam und kommt deshalb die Rolle vielschichtiger Bedeutungsträger in Verbindung mit einzelnen oder mehreren Akteuren zu. Sie sind – und das wurde in jüngster Zeit von verschiedener Seite angesprochen – ein wichtiges Element der nonverbalen Kommunikation, ein Medium der intentionellen Interaktion.2 Die vernachlässigte Beachtung der Textilien durch die historische Kul turwissenschaft ist vornehmlich damit zu erklären, dass der Textilwissenschaft der Ruf einer auf Herstellungstechniken konzentrierten Beschäftigung mit handwerklichen Erzeugnissen anhaftet. In der Tat erschöpfen sich viele Publikationen in einer ikonografischen Beschreibung und der technologischen Erfassung historischer Textilien. Die Frage nach dem Warum, nach den kulturhistorischen Kontexten, in denen bestimmte Textil-Produkte erworben,
1 Zusammenfassend: Oexle, ‘Die Memoria der Reformation’, 2016 (Nr. 294), S. 33–36. 2 Exemplarisch für einen erweiterten kulturhistorischen Ansatz bei der Betrachtung historischer Textilien seien erwähnt: Rudy und Baert, Weaving, Veiling and Dressing: textiles and their metaphors in the late Middle Ages, sowie Aufsätze in folgenden Tagungsbänden Beziehungsreiche Gewebe; Textilien im Mittelalter; Der Hl. Severin von Köln. Verehrung und Legende, Befunde und Forschungen zur Schreinsöffnung von 1999; Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift. Besitz – Bedeutung – Umnutzung.
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 93–118. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117995
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gehandelt, weitergeschenkt oder einem Verstorbenen ins Grab gelegt wurden, ist bisher in der Regel gar nicht gestellt worden. Eine umfassende Ikonologie textiler Erzeugnisse, welche Materialität, Farbigkeit und Kontexte mit einander in Beziehung setzt, steht noch aus.3 Auch Otto Gerhard Oexle waren historische Textilien als Sachzeugnisse und kulturhistorisches Quellenmaterial wenig vertraut – umso aufmerksamer hat er bei einem Gedankenaustausch 2010 zugehört und darum gebeten, ‘im Gespräch’ zu bleiben. Die nachfolgenden Ausführungen konnten leider nicht mehr persönlich mit ihm diskutiert werden. Sie sind – wie bei einem Gedankenaustausch – als Denkanstöße und Fragen formuliert, die leider ohne Antwort seitens des Angesprochenen bleiben müssen. Die folgenden Überlegungen berücksichtigen Textilien: 1. als Mittel memorialen Handelns durch direkten Kontakt mit den Verstorbenen im Grab und 2. als Medium memorialen Handelns durch Kontakt mit Verstorbenen am Grab. II. Textilien als Geschenke Kirchliche Einrichtungen waren im frühen Mittelalter auf Schenkungen von Seide angewiesen. Das Umwickeln von Gebeinen und Reliquien der Heiligen mit Seidentüchern oder winzigen Seidenabschnitten ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass gemusterte Seiden neben Gold zu den auserwähltesten Gütern gehörten und ihre Kostbarkeit in direkter Beziehung zu Wert und Wertschätzung der Überreste der Heiligen stand. Bis ins 13. Jahrhundert waren im lateinischen Westen gemusterte Seiden lediglich über diplomatische oder familiäre Beziehungen verfügbar und aus diesem Grund nur einem auserwählten Kreis hoher weltlicher und kirchlicher Würdenträger zugänglich. Darin begründete sich die außerordentliche Wertschätzung dieser Erzeugnisse. Um Seide für eine Reliquienerhebung oder Reliquienrekondierung zur Hand zu haben, aber auch um den Gottesdienst mit festlichen Paramenten feiern zu können, war zunächst jemand erforderlich, der Seide besaß und dieses kostbare Gut zur Verfügung stellte: Es brauchte einen Schenker. Schon in den Akten zur Synode von 836 in Aachen werden die vermögenden Familien des karolingischen Reiches ermahnt, Schmuck, Edelsteine und Seide zu Ehren Gottes den Heiligen und nicht den Nachkommen zu überlassen.4 Die Übereignung von Seide an eine Kirche war zudem offensichtlich eine Maßnahme zur Gewährleistung des Totengedenkens. Zahlreich sind schriftliche Hinweise auf kostbare Textilien, vornehmlich Seiden, in Inventaren kirchlicher
3 Beachtenswert in diesem Kontext sind verschiedene Beiträge im Sammelband Farbe im Mittelalter: Materialität – Medialität – Semantik, sowie Böse, ‘Spürbar und unvergänglich. Zur Visualität, Ikonologie und Medialität von Textilien und textilen Reliquiaren im mittelalterlichen Reliquienkult’. Zur Materialikonologie auch Stauffer, ‘Bedeutungsebenen textiler Reliquienhüllen im frühen und hohen Mittelalter’. 4 Concilia 2,1, S. 421–56.
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Institutionen.5 Bis ins späte Mittelalter wurden jedoch in der Regel nur die Geschenke selbst verzeichnet, nicht aber die Namen jener, die diese Zuwendungen getätigt hatten. Die handelnden Personen bleiben meistens anonym, obwohl der Zweck des Schenkens immer auf Gegenseitigkeit beruhte: Durch ihr großzügiges Handeln wurden die Schenker durch die Gebete und das Bußopfer der Messe in der Gemeinschaft der Kleriker vergegenwärtigt – sie konnten sich so des Totengedenkens bei Gott und den Kirchenpatronen versichern. Wurden besonders wertvolle Gaben mit einem Individuum verbunden, geschah dies oft erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte später, häufig im Zuge der Legendenbildung um eine besonders verehrte Person. Beispiele sind etwa der Mantel Karls des Großen in Metz, die Paramente Heinrichs und Kunigundes für den Bamberger Dom, die Kaseln und die Velamen der Heiligen Harlindis und Relindis aus Aldeneik und viele andere mehr.6 In der Regel genügte der Schenkungsakt selbst, um als Donator in Erinnerung zu bleiben und als Wohltäter in der Geschichte der kirchlichen Institution verankert zu sein. Seit dem 13. Jahrhundert änderte sich diese Praxis: Seitdem wurden die Namen weltlicher und kirchlicher Schenker sichtbar mit den Gaben verbunden, offensichtlich im Kontext der Stadt, die memoriales Handeln als Teil der kommunalen Öffentlichkeit praktizierte.7 Die Zahl der Paramente mit Namensnennungen beziehungsweise Familienwappen stieg jetzt sprunghaft an; aus dem 15. Jahrhundert sind in kirchlichem Kontext kaum mehr wertvolle Ornate, Decken oder Teppiche ohne Namen und Wappen des Schenkenden zu finden. In Köln entwickelten sich im 14. Jahrhundert nachgerade Formen der seriellen Produktion von Borten, die zur Nennung und Kennzeichnung von Stiftern oder Schenkern bestimmt waren.8 Das deutlich sichtbare Anbringen von Namen und Wappen an Paramenten des Altars im Spätmittelalter fehlte in der früheren Zeit. Dennoch ist von einer intensiven Schenkungspraxis auszugehen und diese ist auch belegt – freilich fehlt die offensichtliche und sichtbare Namensnennung. Es erhebt sich deshalb die Frage nach den Gründen dieser augenscheinlichen Diskrepanz zwischen den früh- und hochmittelalterlichen Formen des Schenkens von Textilien und jenen des späten Mittelalters. Spiegeln die verzeichneten oder überlieferten Zuwendungen an die Kirche nur einen Teil der Gaben, die zur Gewährleistung
5 Lesne, Histoire de la propriété ecclésiastique, S. 251 f. Weitere Beispiele bei Stauffer, ‘Seide aus Byzanz im Westen’, bes. S. 26 f. 6 Soubigou, ‘La ‘Chape de Charlemagne’ de la Cathédrale de Metz: étude historiographique’. Baumgärtel-Fleischmann, Ausgewählte Kunstwerke, S. 10–20; S. 26–29; Dies., Kaisermäntel, 93–123. Ein aktuelles DFG-Forschungsprojekt zu den Bamberger Kaisermänteln unter der Leitung von Stephan Albrecht verspricht neue Hinweise zur zeitlichen Verortung der Prachtmäntel im Diözesanmuseum Bamberg. Zu den Paramenten aus Aldeneik siehe weiter unten. 7 Dazu und die ältere Forschung zusammenfassend siehe den Aufsatz von Thomas Schilp in diesem Band. 8 Scheyer, Die Kölner Bortenweberei, sowie ferner: Kölner Bortenweberei im Mittelalter. Ein exemplarisches Beispiel stellt die Paramentenschenkung des Juristen und Theologen Segebodo Berswordt Mitte des 15. Jahrhunderts dar, vergleiche dazu Bertram-Neunzig und Sporbeck, Die ‘Kunststiftungen der Familie Berswordt, S. 259–62, Taf. VIII, sowie Schilp, ‘Memoria: Jenseitsvorsorge und Erinnerungskultur in der Stadt’, S. 236–40 (Thementext) und S. 249–51 (Exponatbeschreibungen).
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des Totengedenkens eingesetzt wurden oder fand die Vergegenwärtigung vor Gott und die Vergewisserung des Totengedenkens bei den Lebenden auf andere Weise statt? Die nachfolgenden Ausführungen sind als Annäherung an diese Problematik zu verstehen. III. Memoriales Handeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit 1940 sollten im Hinblick auf das 1600-jährige Jubiläum der Geburt des hl. Ambrosius (340–97) die beiden sogenannten Dalmatiken des Heiligen, die um 1850 im Sarkophag des Kirchenvaters in Sant’ Ambrogio in Mailand entdeckt worden waren, für eine Ausstellung hergerichtet werden. Die Seidenkleider waren seit 1863 in einen Rahmen montiert als eine Art Altarvorsatz in der capella del transito präsentiert worden. Angesichts der Kostbarkeit der Funde wurde 1940 der Mailänder Kunsthistoriker Alberto De Capitani D’Arzago zu einer näheren Prüfung beigezogen. Dieser stellte fest, dass es sich bei den Textilien um ein Konvolut aus mehreren Seidengeweben unterschiedlicher Zeitstellung handelte.9 Nach der ersten Bestandserfassung durch De Capitani D’Arzago, führten vor allem die textilhistorischen Untersuchungen durch Hero GrangerTaylor zu bemerkenswerten Ergebnissen. Sie konnte nachweisen, dass es sich bei den Reliquien um eine gemusterte und eine ungemusterte Seidendalmatika aus spätantiker Zeit handelt, welche als Gewänder des Heiligen verehrt und zum Schutz vor Zerfall im Laufe der Zeit einzeln in prachtvolle Seiden- und Leinengewebe eingenäht worden waren.10 Auf dem Reliquienpaket, das die gemusterte Dalmatika umschloss, war außen ein weißes Band mit den beträcht lichen Maßen von 190 x 4 Zentimeter angebracht, das eine blaue eingewebte Inschrift in Kapitalis aufweist (Abb. 1).11 Das lange Band mit der klaren Schrift muss auf dem Reliquienpaket den Eindruck einer textilen Cedula erzeugt haben. Die Inschrift lautet wie folgt: + SVB HOC PALLIO TEGITVR DALMATICA S(AN)C(T)I AMBROSII + SVB QUO EANDEM DALMATICAM TEXIT DOM(I)NVS HERIBERTUS ARCHIEPISCOPVS12 9 De Capitani d’Arzago, Antichi Tessuti della Basilica Ambrosiana, S. 64–67, Taf. XX, Abb. 59 f. Die Befunde werden nachfolgend in aller Kürze zusammengefasst. Ein aktuelles Forschungsprojekt der Universität Bonn unter Leitung von Sabine Schrenk und unter Mitarbeit von Ulrike Reichert Köln, widmet sich seit 2015 der neuen wissenschaftlichen Erfassung und Publikation der Gewebe aus Sant’Ambrogio. Eine Vorstellung der ersten Ergebnisse fand anlässlich eines Kolloquiums am 21. März 2018 statt. Mein Dank geht an Sabine Schrenk und Ulrike Reichert für die Einladung zu diesem Expertengespräch und die zahlreichen Informationen zum Thema. 10 Granger-Taylor, ‘The Two Dalmatics of Saint Ambrose?’, 130–35. Die neuen Forschungen von Sabine Schrenk und Ulrike Reichert belegen, dass nur die gemusterte Dalmatik aus der Zeit des Ambrosius herrührt. 11 Das Band ist in der Technik der sogenannten Brettchenweberei hergestellt. Zur technischen Ausführung siehe Martiniani-Reber, ‘Stoffe tardo antiche e medioevali nel tesoro di Sant’Ambrogio’ S. 181 f. 12 De Capitani d’Arzago, Antichi Tessuti della Basilica Ambrosiana, S. 64.
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Abb. 1: Milano, Sant’Ambrogio, Seidenband aus dem Sarkophag des hl. Ambrosius, 1. Viertel 11. Jahrhundert: Ausschnitt mit dem Namen Ariberts (Foto: Thomas Schilp).
(Unter dem Schutz dieses Seidentuches befindet sich die Dalmatika des hl. Ambrosius. Unter diesem (findet man) die besagte Dalmatika. Erzbischof Heribert ließ es (das Band) weben.) Die Schriftzeile besagt also, dass Erzbischof Aribert von Mailand (1018–45) jener war, der die Dalmatika des Heiligen mit einem Seidentuch (pallium) bedecken ließ.13 Aribert sprach damit in formelhafter Verkürzung seine nachweislich umfassenden Maßnahmen zur Sicherung und Verschönerung der beiden antiken Gewänder an.14 Das herausragendste Gewebe, das Aribert verwendete, ist eine einfarbige, dunkelblaue Seide mit feinteiligem wabenartigem Muster.15 Es handelt sich dabei um ein technisch aufwändiges Erzeugnis mit einer eingewebten kufischen Inschrift, welche den Namen des Marwanidenfürsten Nasr al-Dawlah Abu Nasr (vor 1011–61) preist. Ugo Monneret de Villard hat überzeugend argumentiert, dass der einfache Titel des Marwanidenfürsten, wie er bei der Inschrift erscheint, für eine Entstehung der Seide vor der Eroberung von Diyarbakir 1024/1025 spricht.16 Diese eindeutige Datierung belegt, dass es sich bei der Seide nicht etwa um ein Gewebe handelt, das sich schon lange im Besitz der Basilika befand und 13 Granger-Taylor ist der Ansicht, dass mit dem Wort pallium das Band selber gemeint ist: GrangerTaylor, ‘The Two Dalmatics of Saint Ambrose?’, 130. Meines Erachtens ist damit aber das islamische Seidentuch angesprochen. 14 Auf die besondere Art, wie die spätantiken Gewänder gesichert wurden, und auf die unterschiedlichen Gewebe, die dabei Verwendung fanden, kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Siehe dazu Granger-Taylor, ‘The Two Dalmatics of Saint Ambrose?’, passim. Die Forschungen von Schrenk und Reichert präzisieren und korrigieren die Befunde von Granger-Taylor (Publikation in Vorbereitung). 15 De Capitani d’Arzago, Antichi Tessuti della Basilica Ambrosiana, S. 24–28, Taf. II. Technische Beschreibung und Musterzeichnung bei Schorta, Monochrome Seidengewebe des hohen Mittelalters, S. 26 f. Farbabbildung bei Martiniani-Reber, ‘Stoffe tardo antiche e medioevali nel tesoro di Sant’Ambrogio’, S. 186. 16 Monneret de Villard, ‘Un iscrizione marwanide su stoffa del secolo XI nella Basilica di Sant’Ambrogio a Milano’, S. 506. Farbige Abbildung bei Martiniani-Reber, ‘Stoffe tardo antiche e medioevali nel tesoro di Sant’Ambrogio’, S. 186.
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außer Gebrauch gekommen war, sondern im Gegenteil wohl um ein Erzeugnis aus einer Tiraz-Werkstatt, das nur wenige Jahre alt und ursprünglich für einen muslimischen Fürsten bestimmt war. Auf unbekannten Wegen, aber sicher in Form eines kostbaren Geschenks, hatte die Seidenbahn ihren Weg von Anatolien nach Mailand gefunden. Dabei ist wenig wahrscheinlich, dass die Seide von Nasr al-Dawlah direkt an den Erzbischof übergeben wurde. Vielmehr ist an eine Ehrengabe des arabischen Fürsten an den byzantinischen Hof zu denken, von wo das kostbare Tuch – als diplomatisches Geschenk – ins Abendland gelangt ist. Seidengeschenke des byzantinischen Hofes hatten stets auszeichnenden Charakter; sie implizierten deshalb einen dieser Gunst werten ‘Beschenkten’.17 Im 10. und 11. Jahrhundert sind westliche Gesandtschaften an den Hof des byzantinischen Kaisers besonders zahlreich. Peter Schreiner hat die spärlichen im Abendland erhaltenen Quellen zu diesen Vorgängen gesammelt und gezeigt, dass Seide und Seidenkleider noch vor Reliquien an erster Stelle der im Westen angelangten Ehrengeschenke standen.18 De Capitani d’Arzago und Granger-Taylor haben bei der Frage nach der Herkunft der Seide auf die Krönung Konrads II. zum König von Italien auf merksam gemacht, die im März 1026 durch Erzbischof Aribert in Sant’Ambrogio vollzogen wurde.19 Aribert war auch ein Jahr später bei der Kaiserkrönung Konrads II. in Rom anwesend. Die Seide könnte bei einem dieser Anlässe als Geschenk Konrads II. in den persönlichen Besitz von Aribert gelangt sein. Für Konrad II. ist einer jener seltenen Belege zum diplomatischen Kontakt nach Konstantinopel und zum Austausch von Geschenken 1027 überliefert.20 Dass in diesem Zusammenhang Konrads Krönung und den damit verbundenen intensivierten Versuchen des Kontaktes nach Konstantinopel eine Seide wie jene aus dem Schrein des hl. Ambrosius nach Mailand gelangt ist, lässt sich nicht nachweisen, aber vermuten. Unbesehen der islamischen Inschrift erachtete Aribert die blaue Seide als erlesenstes Geschenk, das er dem Heiligen übereignen konnte. Mit seiner Tat handelte Bischof Aribert – im christlichen Sinne über jeden Zweifel erhaben – vorbildlich. Er verzichtete auf die Nutzung der Seidenbahn zur eigenen Repräsentation21 und schenkte das Kostbarste, was man außer Reliquien damals besitzen konnte, zur ‘Neueinkleidung’ des Heiligen.
17 Dazu Schreiner, ‘Seide in der schönen Literatur der Byzantiner’, S. 36–39. In der Folge geht es immer um die in staatlichen Betrieben hergestellten, mit aufwändiger Musterung versehenen und für repräsentative Zwecke hergestellten Seidengewebe und Seidenkleider. 18 Schreiner, ‘Diplomatische Geschenke zwischen Byzanz und dem Westen ca. 800–1200’, S. 251 f. und S. 275 Nr. 22. 19 Granger-Taylor, ‘The Two Dalmatics of Saint Ambrose?’, 132. 20 Schreiner, ‘Diplomatische Geschenke zwischen Byzanz und dem Westen ca. 800–1200’, S. 251 f. und S. 275 f. 21 Zur Verwendung von Seide zur eigenen Repräsentation siehe den Bericht von Notker Balbulus (840– 912) zur Ausstattung des Audienzsaales von Erzbischof Richulf von Mainz in: Monachi Sangallensis de gestis Karoli M., S. 737.
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Aribert tat aber nicht nur Gutes, sondern sprach auch davon. Allein, seine schriftliche Nachricht richtete sich nicht an die Priester am Altar oder die Besucher am Grab des hl. Ambrosius. Er forderte nicht Anerkennung, Bewunderung oder Nachahmung bei den Lebenden ein. Seine Botschaft, die den Namen Ariberts mit jenem des hl. Ambrosius vereinte, richtete sich – dauerhaft in ein Band eingewebt – ausschließlich an den Heiligen selber. Er brachte seinen Namen und seine Funktion als Erzbischof von Mailand in direkten Kontakt mit dem Heiligen und erhoffte sich von ihm Fürsprache bei Gott am Jüngsten Tag. Durch die real durchgeführte Verwebung seines Namens mit jenem von Ambrosius in dem Band und die unlösliche Verbindung dieses Bandes mit den Reliquien, welche ja für den Heiligen selbst stehen, war er mit ihm auch im übertragenen Sinn verbunden. Das Bild vom Band der Liebe, das die Gläubigen mit Gott verbindet, taucht im neuen Testament im dritten Brief an die Kolosser auf, wo es auch um das Weltgericht und die Verheißung des ewigen Lebens geht. Der Brief wird wie folgt eingeleitet: Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so sucht, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. (Kol. 3.1) Nach der Aufforderung zu einem rechtschaffenen Leben folgt: So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr. Zu diesem allen aber ziehet die Liebe an, welche das Band der Vollkommenheit ist. (Kol. 3. 12–14) Mit dieser engen Verbindung mit Ambrosius im Grab brachte sich Aribert aber nicht nur beim Heiligen in immerwährende Erinnerung. Durch die Verklammerung seines Namens mit Ambrosius versicherte er sich auch des ständigen Totengedenkens durch die Lebenden: Jedes Mal, wenn eine Messe in Sant’Ambrogio gelesen und das Bußopfer vollzogen wurde, – und nicht nur am Hauptaltar, sondern an allen in der Basilika errichteten Altären – war er zusammen mit dem Patron der Kirche in das Totengedenken eingeschlossen. Wären die Reliquien nicht zufällig umgebettet und später der Forschung zugänglich gemacht worden, wüssten wir nichts von solchem Handeln. Noch zu Lebzeiten traf Aribert aus eigener Initiative Vorkehrungen, damit sein Name nicht in Vergessenheit geriet. Er verließ sich dabei auf den Hl. Ambrosius. Sein Privileg war, dass er als Erzbischof die Möglichkeit und Befugnis besaß, aufgrund seines Amtes eine Öffnung des Schreines vorzunehmen, mit dem Heiligen in direkte Interaktion zu treten und seinen Namen unauslöschbar in nächster Nähe zum Kirchenvater zu deponieren. Ähnlich handelte schon zwei Jahrhunderte früher Hinkmar, Erzbischof von Reims (845–82). Auch er übte sein Amt am Grab eines bedeutenden Heiligen aus und wusste diese Situation zu nutzen. Er erhob die Gebeine des hl. Remigius
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und überführte sie in einen Schrein in seiner Kathedrale.22 Die Vita berichtet, wie er aus dem eigenen Besitz ein Kissen, ein Grabtuch (pallium) und ein Schweißtuch (sudarium) zur würdigen Umbettung des Heiligen spendete.23 Die drei Objekte sind erhalten und zeigen, wie durch Inschriften, welche auf dem Kissen und auf dem Schweißtuch angebracht sind, eine Verbindung zwischen der handelnden Person und dem Adressaten geschaffen wurde. Das Kissen aus roter byzantinischer Seide ziert ein umlaufendes goldenes Band, auf dem in weißer und roter Seide zu lesen ist, dass Hinkmar Alpheid beauftragt hatte, den Schmuck für das Haupt des heiligen Remigius herzustellen. Zusammen erhofften Hinkmar und Alpheid, dass durch den hl. Remigius ihre Gebete über die Sterne (super astra) getragen würden.24 Anders als Aribert empfahl Hinkmar sich nicht allein bei dem Heiligen, denn an seiner Seite stand Alpheid (um 797 bis nach 852), Tochter Kaiser Ludwigs des Frommen und Äbtissin des Klosters Saint-Pierre-le-Bas in Reims.25 Die beiden haben die Umbettung des hl. Remigius und die kostbare Ausstattung offensichtlich zusammen geplant und Alpheid hat die Anfertigung des Kissens veranlasst, wenn nicht in diesem Fall auch selber ausgeführt. Beide hatten als Angehörige des geistlichen Standes Zugang zum Grab des Heiligen; als Mitglieder bedeutender Adelsgeschlechter war es ihnen möglich, in Besitz der kostbaren Seiden zu gelangen oder diese aus Familienbesitz zu requirieren. Sie nutzten ihre hohen geistlichen Ämter, um direkt mit dem hl. Remigius in Kontakt zu treten. Sie versicherten sich der Fürsprache des Heiligen und damit auch des Totengedenkens der Lebenden am Altar und am Grab des Heiligen in der Krypta. Anders als Angilbert machte Hinkmar auf sein großzügiges Handeln auch in Form von Inschriften auf dem Schrein und an der Fenestella in der Krypta aufmerksam.26 Er mehrte dadurch nicht nur sein eigenes Totengedenken und jenes von Alpheid, sondern gab all jenen, die am Schrein des hl. Remigius stehen, die Möglichkeit, die im Schrein durch Seidengewebe mit Inschrift untrennbar vereinten drei Personen als Fürsprecher und Mittler für deren Totengedenken einzusetzen. Jedes der Gebete erhielt damit dreifache Wirkung. Hinkmar, Alpheid und Aribert waren Geistliche und profitierten von einem privilegierten Zutritt zu Altar, Schrein und Grab. Angehörigen des weltlichen Standes war dies nicht möglich. Memoriales Handeln in eigenem Interesse brauchte für die Absicherung einen Vertreter des geistlichen Standes. Eines der frühesten Zeugnisse der persönlichen Interaktion mit Gott unter Zuhilfenahme eines geistlichen ‘Fürsprechers’ kam im Sarkophag eines unbekannten ravennater
22 Vita Remigii Episcopi Remensis auctore Hincmaro, S. 325 f. 23 Schorta, ‘Von Hinkmar bis Aribert. Vom Umgang mit seidenen Stoffen’, 247 f. mit Abb. 7, und Dies., ‘Central Asian Silks in the East and West during the Second Half of the First Millenium’ S. 47 f. mit Abb. 2 (Farbabbildung). Zu den Textilien auch Schorta, Monochrome Seidengewebe, S. 298–300. 24 Transkription mit Ergänzungen bei Schorta, ‘Von Hinkmar bis Aribert. Vom Umgang mit seidenen Stoffen’, 247, Anm. 34. 25 Werner, ‘Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000’, S. 445 f. 26 Schorta, ‘Von Hinkmar bis Aribert. Vom Umgang mit seidenen Stoffen’, 247, Anm. 32.
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Bischofs aus Sant’A pollinare in Classe aus der Zeit um 800 zum Vorschein.27 Es handelt sich um ein vollständig erhaltenes seidenes Tuch von ca. 94 Zentimeter Länge und 53 Zentimeter Breite. Während Mario Mazzotti angesichts der feinen Seide von einem velo di seta spricht, hat Hero Granger-Taylor das rundum mit seinen Kanten erhaltene Gewebe als mappa – als antikes Handtuch – bezeichnet.28 Der ursprünglichen Funktion des Tuches kommt indes für unsere Fragestellung keine nähere Bedeutung zu. Neben geometrischen Formen gehören auch sechs quer über die Fläche verlaufende Zierbänder zum Schmuck des Tuches. Zwei von ihnen sind rein ornamental gehalten, vier mit Schrift verziert. Auf den ersten beiden ist in Unzialschrift folgender Text zu lesen: + SUSCIPE D(O)M(IN)E HANC OBLATIONEM QUE TIBI OFFERT JOHAN + NES ET MARIA PER MAN[UM S]ACERDOTIS UT INPINGUATA29 (Nimm oh Herr diese Gabe (dieses Opfer) entgegen, welche dir Johannes und Maria durch die Hand des Priesters darbieten damit sie (die Gabe) gesalbt/fett sei.) Dieses ‘Dedikationsschreiben’ wird begleitet und kontextualisiert durch die beiden anderen erhaltenen Schriftbänder: + BEATI OMNES QUI TIMENT D(O)M(I)N QUI AMBULANT [IN VIIS EIUS] (Selig sind die, welche den Herrn fürchten und auf seinen Wegen gehen.) (Psalm 127) und + EXAUDIAT TE D(O)MINU)S IN DIE TRIBULATIONIS PROTEGAT TE [NOMEN DEI JACOB] (Der Herr möge dich erhören am Tag des Gerichtes und der Name des Gottes von Jakob beschütze dich.) (Psalm 19.2).)
27 Mazzotti, ‘Antiche stoffe liturgiche ravennati’, passim; Ders., La basilica di Sant’Apollinare in Classe, S. 209–11, Abb. 79. Granger-Taylor, ‘The Weft-patterned Silks and their Braid: The Remains of an Anglo-Saxon Dalmatic of c. 800’, S. 306–09. Zur Datierung Mazzotti, ‘Antiche stoffe liturgiche ravennati’‚ 41, und Granger-Taylor, ‘The Weft-patterned Silks and their Braid: The Remains of an Anglo-Saxon Dalmatic of c. 800’, S. 308 f. 28 Mazzotti, ‘Antiche stoffe liturgiche ravennati’, 40; Granger-Taylor, ‘The Weft-patterned Silks and their Braid: The Remains of an Anglo-Saxon Dalmatic of c. 800’, S. 307. Zu den mappae siehe: Braun, Die Liturgische Gewandung in Orient und Okzident, S. 517. Gegen eine mappa spricht das Material Seide. Antike mappae sind in der Regel aus Leinen gefertigt; vgl. die mappae aus dem Domschatz in Monza bei Devoti, ‘Le stoffe paleocristiane e medievali’, S. 5–64. 29 Mazzotti, ‘Antiche stoffe liturgiche ravennati ravennati’, 41.
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Zwei Christen aus der Gemeinde oder Familienmitglieder des Bestatteten empfahlen sich auf diese Weise Gott durch die Hand des zuständigen Priesters. Sie überreichten ein Geschenk als Opfer in der Hoffnung, damit zu den Auserwählten zu gehören, die in das Reich Gottes übergehen. Ihrer Hoffnung gaben sie Nachdruck durch die Wahl der beiden Psalmenzitate. Während Psalm 127 jene preist, die auf dem rechten Weg gewandelt sind, also restrospektiv Belohnung für ein gottesfürchtiges Leben verheißt, ist Psalm 19 auf die Zukunft, auf Auferstehung und Erlangung des ewigen Lebens ausge richtet. Nur in Kontext mit Psalm 19 ist denn auch der Ausdruck ut impinguata zu verstehen. Dort nämlich steht: [Dominus] memor sit omnis sacrificii tui et holocaustum tuum pingue fiat (19.4). Erinnert wird hier an die beiden antiken Formen des Opfers und bildlich das Wort fett, fetttriefend für ein Opfer, das von Gott angenommen wird, verwendet. Mit der gleichen Wortwahl ist die Spende des Tuches, das Opfer von Johannes und Maria, mit dem Psalm 19 verklammert. Der einleitende Teil dieses Psalms ist auch – wie oben erwähnt – Inhalt des dritten Schriftbandes, welches den Dedikationstext begleitet. Psalm 19 thematisiert in aller Deutlichkeit das Jüngste Gericht, den Tag des Ungemachs (tribulationis). Die Segenswünsche benannten nicht nur die Opfer für den Herrn, sondern setzten sich gleich fort mit dem Wunsch: ‘Gott möge dich nach deinem Herzen beurteilen und erfülle all dein Begehren’ (19.5). Das Begehren und Streben aller Sterblichen war die vita aeterna, die Errettung vor Tod und Vergessen. Die beiden Psalmen bilden damit nicht nur kompositorisch einen Rahmen um die Dedikationsinschrift, sondern auch im übertragenen Sinn. Sie bringen die Hoffnung der drei genannten Personen auf das ewige Leben zum Ausdruck, verbinden Opfergabe und Lohn miteinander und wirken zusammen für die Bittsteller vor Gott am Tag der Auferstehung. Die Inschriften sind kunstvoll in das Seidentuch eingewebt; dieses muss also nach einer vorher besprochenen Vorlage absichtsvoll in Auftrag gegeben worden sein. Material, Webtechnik und Umsetzung des Werkes erforderten eine Planung, die nicht erst nach dem Tode des Bischofs einsetzten, geschweige denn in der kurzen Zeit zwischen Tod und Beisetzung erfolgen konnten. Die Auftraggeber mussten sich mit einem Weber ins Benehmen setzen, der über Seide verfügte und diese auch verweben konnte. Im 8. / 9. Jahrhundert ist dies im Abendland nicht selbstverständlich. Seide gelangte zwar als Rohmaterial in den Westen, aber nur in kleinen Mengen. Das Verarbeiten der feinen Seidenfäden mit Hilfe eines speziellen Webgerätes erforderte Geschick. Dass dies gerade in Ravenna mit seiner traditionell engen Bindung an die Gebiete des Nahen Ostens und byzantinischen Reiches möglich war, erscheint einleuchtend. Es genügte aber nicht, das Tuch nach genauen Vorgaben herstellen zu lassen. Johannes und Maria müssen auch mit dem Bischof vor dessen Tod in Kontakt getreten sein und Absprachen getroffen haben, möglicherweise begleitet von Sachspenden oder Stiftungen. Die gezielte Auswahl der Texte und die inhaltliche wie sprachliche Verklammerung derselben spricht dafür, dass der Geistliche die beiden beraten
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hat.30 Auf gegenseitige Absprache und gemeinsame Planung weist darüber hinaus ein weiterer Fund hin. Im gleichen Sarkophag wurden zwischen den prachtvollen liturgischen Gewändern und dem besprochenen Seidentuch sechs Fragmente eines schmalen Seidenbändchens mit eingewebtem Text gefunden. Trotz ihres fragmentarischen Zustandes ist der ursprüngliche fortlaufende Wortlaut noch zu rekonstruieren: BENEDICAT TE D(OMI)N(U)S EX (S)ION UT VIDEAS QUAE BONA […] IN HIERUSALEM OMMNIBUS DIEBUS VITA […]31 Es handelt sich dabei um einen weiteren Ausschnitt aus Psalm 127, so dass die ursprüngliche Inschrift wie folgt ergänzt werden kann: Benedicat tibi Dominus ex Sion et videas bona Jerusalem omnibus diebus vitæ tuæ (Psalm 127.5). Auf weiteren Fragmenten des Bändchens sind lediglich die Worte LUX und PAX erhalten. Welche Funktion das schmale Band von nur 1 Zentimeter Breite hatte, ist ungewiss.32 Mario Mazzotti denkt an ein Cingulum oder Subcinctorium.33 Es muss jedoch nicht unbedingt als Teil der liturgischen Gewandung oder der Insignien des bestatteten Erzbischofs interpretiert werden, sondern mag ihm auf eigenen Wunsch oder von der Gemeinde als solches in den Sarkophag gelegt worden sein. Wahrscheinlich ist ersteres, denn der Text nimmt Bezug auf jenen des Seidentuchs, welcher den Anfang von Psalm 127 enthält (siehe oben). Psalm 127 definiert den Lohn für jene, die den rechten Weg eingeschlagen haben und verheißt ihnen, jeden Tag ihres (neuen) Lebens der heiligen Stadt Jerusalem ansichtig zu sein.34 Die inhaltliche Verklammerung mit dem Seidentuch kann nicht zufällig sein. Es scheint, als sollte den Wünschen an Gott durch akklamatorische Wiederholung zusätzliches Gewicht verliehen werden. Die Schrift – darauf hat Mazzotti hingewiesen – ist auffällig, die unzialen Buchstaben O sind mit einem eingeschriebenen Kreuz versehen. Dies lässt auf eine andere Vorzeichnung, vielleicht auf einen anderen Weber schließen. Weitere derartige Bänder sind bislang nicht überliefert. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass hier nicht ein Einzelstück vorliegt, sondern dass solche Bänder in spätantiker und frühmittel alterlicher Zeit häufiger existiert haben und auch schon von den Lebenden auf sich getragen worden sind.
30 Mildred Budny zitiert einen Passus aus der Vita des hl. Dunstan (entstanden zwischen 995 und 1004), in dem beschrieben wird, dass eine Frau aus dem hohen englischen Adel den hl. Dunstan bat, für sie den Schmuck einer Stola zu entwerfen, die sie anschließend mit Gold und Edelsteinen gestickt hat. Vergleiche Budny, ‘The anglo-saxon embroideries at Maaseik, Belgum: Their historical and arthistorical context’, 62 f. 31 Mazzotti,‘Antiche stoffe liturgiche ravennati’, 42. 32 Das Band ist nicht als Dekor eines anderen Objektes zu sehen, sondern ohne Nahtspuren unabhängig von den anderen textilen Beigaben gefunden worden. Mazzotti, ‘Antiche stoffe liturgiche ravennati’, 42. 33 Ebd., 42 f. 34 Zum heiligen Jerusalem siehe den Aufsatz von Thomas Schilp in diesem Band.
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Die erhaltenen Gaben mit ihren klaren schriftlichen Mitteilungen belegen, dass die handelnden Personen – ein Ehepaar oder zwei Geschwister – bemüht waren, sich direkt bei Gott in Erinnerung zu rufen. Zu diesem Zweck überreichten sie ihm durch die Hand des verstorbenen Bischofs, der vor ihnen das Angesicht des Herrn sehen wird, ein Geschenk, in das ihre beiden Namen eingewebt sind. Der Bischof tat Gutes für die beiden, indem er eine Vermittlerrolle übernahm, vermutlich auch über Stiftungen oder Schenkungen berichtete, welche die beiden getätigt hatten. Das Handeln der Beteiligten beziehungsweise der Hintergrund, vor dem ein solches Handeln zu verstehen ist, wird durch die beiden ebenfalls eingewebten Psalmen klar definiert. Wie Aribert und Hinkmar deponierten Johannes und Maria ihre kostbare Gabe nicht dort, wo sie die Lebenden rezipieren und das Sühneopfer ausführen konnten, sondern dort, wo Gott allein ihrer ansichtig wurde. Ein solches Vorgehen scheint zunächst jenem des Namenseintrages in die Libri vitae vergleichbar. Indem das Buch mit den verborgenen Namenseinträgen auf den Altar gelegt wurde, wurden alle eingetragenen Personen vor Gott evoziert. Die Interaktion der genannten Personen mit Gott fand auch beim Deponieren des Namens im Grab, also im Verborgenen statt. Durch solches Handeln verblieben die Namen aber unverändert in dieser privilegierten Position, die Perpetuierung der namentlichen Präsenz bei Gott war nicht mehr abhängig vom aktiven Handeln der Lebenden: Der Liber vitae musste immer wieder auf den Altar gelegt werden. Im Grab oder Sarg verblieb der Name fortwährend in der Nähe zu Gott und dem Heiligen, es war keinerlei Aktion durch die Lebenden erforderlich. Eine solche Strategie unterscheidet sich von allen bislang bekannten Praktiken memorialen Handelns. Sie konnte aber für Angehörige des weltlichen Standes nur über die Vermittlung eines geistlichen Fürsprechers funktionieren. Für Johannes und Maria ist der verstorbene und damit ihnen vorausgegangene Erzbischof ein sicherer Garant für das immerwährende Totengedenken. Gleiches belegt ein ähnlicher Befund nördlich der Alpen. In Maaseik werden die textilen Reliquien aus dem Schrein der heiligen Harlindis und Relindis verwahrt. Diese gelangten zusammen mit dem Schrein der Heiligen 1571 von Aldeneik in die heutige St. Catharinenkirche in Maaseik.35 Harlindis wurde im frühen 8. Jahrhundert als erste Äbtissin im Kloster Aldeneik eingesetzt, ihre Schwester Relindis folgte ihr in diesem Amt. Die Heiligsprechung und Rekondierung der Gebeine der Schwestern erfolgte Mitte des 9. Jahrhunderts.36 Die textilen Reliquien aus dem Schrein der heiligen Harlindis und Relindis umfassen eine Kasel sowie je ein ‘Velamen’.37 Bei dem sogenannten Velamen der Harlindis handelt es sich um
35 Die Reliquien befinden sich heute in der St. Catharinen Kirche in Maaseik, wohin sie zusammen mit dem Schrein 1571 von Aldeneik ausgelagert worden sind. Vgl. Budny, ‘The anglo-saxon embroideries at Maaseik: Their historical and art-historical context’, 97–104, Taf. V. 36 Budny und Tweedle, ‘The early medieval textiles at Maaseik, Belgium’, 354. 37 Budny, ‘The anglo-saxon embroideries at Maaseik: Their historical and art-historical context’, 97–104, Taf. V.
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einen langen Gewebestreifen aus einer Seide des 7. bis 9. Jahrhunderts.38 An den beiden Enden des Streifens ist jeweils eine Tabula aus roter Seide angebracht. Die beiden Endstücke zieren ein großes Kreuz und eine umlaufende goldene Borte mit einer Inschrift (Abb. 2). Die heute gleichmäßig auf die beiden quadratischen Felder verteilten Bortenfragmente bildeten ursprünglich einen zusammenhängenden Streifen, auf welchem als fortlaufender Text zu lesen war: Quadrat 1: HOC PARVUM MU/NUS ERLVINUS SV[…] Quadrat 2: SORORE SUA / [S](AN)CTO PETRO OFFE[R]RE CVRAUIT PRO / ANIME ILLIU[S]39 (Dieses kleine Geschenk ließ Erluinus […] durch seine Schwester dem hl. Petrus für sein Seelenheil überreichen.) Der erste Teil der Borte ist am Ende leicht zerstört (Abb. 2–4). Es können sich dort aber höchstens ein bis zwei weitere Buchstaben befunden haben, der Text wäre dann vielleicht als su[is] oder su[isq] (suisque) zu ergänzen. Die Entstehung des Bandes ist um 800 anzusetzen.40 Ein gewisser Erluinus, dessen nähere Identität von der Forschung bislang nicht festgestellt werden konnte, tritt in Interaktion mit dem hl. Petrus. Er bemühte sich (curavit), dem Hüter des Himmelstores eine kostbare Gabe zu überreichen. Bei dem Geschenk kann es sich kaum um das Band allein gehandelt haben, sondern vielleicht um die Seide, aus dem das Velamen gefertigt worden ist, oder um jene rote Seide, mit der die Endstücke unterlegt sind. Sein groß zügiges Handeln konnte Erluinus nur über die Vermittlung eines Mitglieds der Kirche, in diesem Fall über seine Schwester, vollziehen. Seine Schwester muss Angehörige, vermutlich sogar Äbtissin des Klosters in Aldeneik gewesen sein. Ein Bruder von Harlindis und Relindis namens Erluinus ist bislang historisch nicht nachzuweisen.41 Es kann sich deshalb auch um einen Bruder jener nament lich nicht bekannten Äbtissin handeln, unter deren Abbatiat die Gebeine der heiligen Schwestern erhoben worden sind. Ein Geschenk in Form von Seide hätte sich dann besonders angeboten. Warum das Geschenk sich an den hl. Petrus richtete, bleibt ebenfalls offen. 38 Zur Überlieferungsgeschichte des Velamens siehe Budny und Tweedl, ‘The early medieval textiles at Maaseik, Belgium’, 354 f. und 372–81. Die Datierung ergibt sich aus der Nähe der Seide zu einer Gewebebahn, die im Schrein des hl. Severin von Köln zum Vorschein kam. Die Seide aus Köln ist einer C14-Datierung zufolge zwischen 680 und 870 entstanden. Vgl. Schrenk und Reichert, ‘Die Textilien aus dem hölzernen Schrein in St. Severin’, S. 271. Dort auch die überzeugende Lokalisierung dieser Gruppe nach Zentralasien, S. 279–83. 39 Budny und Tweedle, ‘The early medieval textiles at Maaseik, Belgium’, 378. 40 Budny und Tweedle haben auf die kugelige Verzierung am Querbalken des A hingewiesen und dafür Beispiele aus dem späten 8. beziehungsweise frühen 9. Jahrhundert genannt. Diese Datierung deckt sich folglich mit jener der Seide. Vgl. Budny und Tweedle, ‘The early medieval textiles at Maaseik, Belgium’, 378. 41 Ebd., 378.
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Abb. 2–4: Maaseik, St. Catharinenkirche, sogenanntes Velamen der hl. Harlindis, 9. Jahrhundert, Gesamtansicht (Abb. 2) und Dedikationsinschriften, verteilt auf die beiden Zierelemente der Enden (Abb. 3 und 4) (Foto: ©KIK-IRPA, Brussels). (Farbtafel I)
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Wenngleich weder die Identität von Erluinus noch jene der angesprochenen soror sua bekannt ist, sind das Ansinnen, der Plan zur Ausführung und die erfolgreiche Durchführung des Vorhabens durch die Inschrift belegt. Damit liegt ein weiteres Zeugnis vor, wie ein Laie, der angesichts des wertvollen goldenen Bandes der obersten Adelsschicht entstammen muss, seine Beziehungen zu der Äbtissin oder einer Kanonikerin des Klosters nutzte, um für sein Seelenheil und wohl auch das seiner Angehörigen (su[is]) zu sorgen und dies wiederum über eine Kette von ‘Fürsprechern’, begonnen bei seiner Schwester, über die hll. Relindis und Harlindis bis hin zum hl. Petrus. Als Laie konnte er nicht selber mit Gott und Petrus in Beziehung treten. Wie die beiden Schenker aus Ravenna traf er Absprachen mit einer verlässlichen Person, in diesem Fall seiner Schwester. Schwester und Bruder schlossen in ihr Handeln direkt bei den beiden Heiligen nicht nur sich, sondern vermutlich die ganze Familie ein. Das Band wurde wie eine Authentik in den Schrein gelegt und den Augen der Lebenden entzogen. Das memoriale Handeln war dadurch ausschließlich auf Gott und die angesprochenen Heiligen fokussiert. Ein Vorteil für Erluinus bestand darin, dass er zur Gewährleistung des Totengedenkens für sich und seine Sippe familiäre Beziehungen nutzen konnte. Diese ideale Konstellation bot sich auch König Aethelstan (895–939) von Wessex. 934 besuchte Aethelstan den Schrein des hl. Cuthbert (um 635–87) in Chester-Le-Street.42 Die entsprechenden Aufzeichnungen zu diesem Vorgang erwähnen, dass König Aethelstan sieben vollständige Seidenbahnen (pallia) sowie eine Stola und einen Manipel in den Schrein des Heiligen legte.43 Diese sind durch die Jahrhunderte erhalten geblieben und kamen anlässlich der Öffnung des Schreins 1827 ans Tageslicht.44 Die beiden priesterlichen Textilien sind überaus reich mit Seide und Gold figürlich bestickt. An ihren Enden weisen sie folgende Inschrift auf: AELFLED FIERI PRAECEPIT/PIO EPISCOPO FRIDESTANO45 (Königin Aelfled ließ dies für den frommen Bischof Fridestan herstellen.)
42 Bereits ein Jahr nach dem Tod des hl. Cuthbert in Lindisfarne fand 698 die Erhebung seiner Gebeine statt. Der Schrein mit den sterblichen Überresten des Heiligen wurde 875 beim Verlassen des Klosters von den Mönchen mitgenommen und fand um 883 in Chester-Le-Street eine vorübergehende Bleibe, bevor er 995 zu seinem heutigen Standort nach Durham transferiert wurde. Der Besuch König Aethelstans im Sommer 934 und die Überbringung reichster Gaben ist durch die nur wenige Jahre später (um 944) entstandene Historia de sancto Cuthberto von Beda Venerabilis überliefert. Vergleiche dazu ausführlich The Relics of Saint Cuthbert, S. 1–98. Zur Entstehung der Historia de sancto Cuthberto um 944 Simpson, ‘The King Alfred/St Cuthbert Episode in the Historia de sancto Cuthberto’, S. 397–441. Granger-Taylor, ‘The Earth and Ocean Silk form the Tomb of St Cuthbert at Durham; Further Details’, S. 162. 43 Plenderleith, Hohler and Freyhan, ‘The Stole and Maniples’. 44 Zur Öffnung des Schreines 1827 zusammenfassend Bailey, ‘St Cuthbert’s Relics: Some Neglected Evidence’, S. 231–37. 45 Ebd., S. 237 f.
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In der Forschung ist allgemein akzeptiert, dass es sich bei Aelfled (gestorben 909) um die Gattin Edwards des Älteren handelt.46 In dieser Zeit gab die Königin für Fridestan, Bischof von Winchester (um 870–932) diese kostbaren Paramente in Auftrag. Sie war zuständig für die Beschaffung von Seide und Gold, die dann von einer geschickten Stickerin bearbeitet wurden.47 Die Auftraggeberin Aelflad schenkte Fridestan die beiden für den die Messe zelebrierenden Priester unabdingbaren Paramente. Ihr Name war dadurch präsent am Altar, sie war eingeschlossen in das Bußopfer immer dann, wenn Fridestan mit dem kostbaren Manipel und der wertvollen Stola die Eucharistie vollzog. Zur Gewährleistung, dass ihr Geschenk bei der Messefeier auch tatsächlich Verwendung fand, schloss sie den Bischof namentlich in ihre Schenkung ein. Auch dieser musste ein Interesse haben, mit seinem Namen vor dem Herrn evoziert zu werden. Diese beiden Paramente sind vermutlich bis zu dessen Tod im Besitz Fridestans verblieben und eng mit seiner Person verbunden gewesen. Zwei Jahre nach dem Tod des Bischofs nahm König Aethelstan die kostbaren Gaben mit auf seine Reise nach Chester-Le-Street und legte sie in den Schrein des Heiligen Cuthbert. Aethelstan war der Stiefsohn Königin Aelflads. Nach dem Tod Fridestans setzten vermutlich die Messfeiern mit den beiden Paramenten, welche den Namen Aelflads trugen, aus – denn die beiden Geschenke waren an die Person des Bischofs gebunden. In diesem Moment wird Aethelstan aktiv und sorgte für die Fortsetzung des Totengedenkens seiner Stiefmutter und jenes des Bischofs. Er versicherte sich damit der Fürsprache der Wohltäterin Aelflad und des Bischofs Fridestan, die ja dem Heiligen und damit Gott durch ihr Handeln namentlich schon ‘bekannt’ waren. Anders als Aribert von Mailand deponierte der König seinen eigenen Namen nicht im Schrein des Heiligen, sondern rief sich bei Gott durch die Fürsprache von Fridestan und Aelfled in Erinnerung, indem er bei der Rekondierung, für die er auch edle Stoffe schenkte, Fridestan und seine Stiefmutter in nächste Nähe zum heiligen Cuthbert brachte und damit das Totengedenken der beiden nach dem Tod des Bischofs nicht erlöschen ließ. Durch diese Tat erhoffte sich Aethelstan entsprechende Gegenleistung für sein eigenes Totengedenken. Heute würde man solches Handeln als win-win Situation bezeichnen; alle drei, Königin Aelfled, Bischof Fridestan und König Aethelstan, waren auf gegenseitiges Handeln angewiesen. Ein abschließendes Beispiel lenkt den Blick nach Köln. In St. Kunibert befindet sich nicht nur der Schrein des Namenspatrons, sondern auch jener der beiden Ewalde, die um 690 bei den Sachsen das Martyrium erlitten haben sollen und seit frühkarolingischer Zeit in Köln verehrt worden sind.48 Erzbischof Anno II. ließ 1074 die Gebeine der beiden angelsächsischen Missionare in einen neuen Schrein 46 Schorta, ‘Von Hinkmar bis Aribert. Vom Umgang mit seidenen Stoffen’, S. 246, Anm. 28. 47 Zu den englischen Stickerinnen im frühen Mittelalter Budny, ‘The anglo-saxon embroideries at Maaseik: Their historical and art-historical context’, 60–63, bes. 62. 48 Schneider, ‘Die heiligen Ewalde im Schatten von St. Kunibert’, 15.
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umbetten. Weitere Schreine folgten 1380 und 1879. Anlässlich der Umbettung 1879 kam im Schrein der heiligen Ewalde unter anderem eine großformatige Seidenstickerei zutage. Diese präsentiert sich in Form einer langen Decke mit zwei figürlich gestalteten Seitenteilen und einem geometrisch gehaltenen Mittelteil.49 Auf Grund dieser besonderen formalen Einteilung wurde und wird das Tuch als Altardecke angesprochen. Eine solche Funktion hat das Tuch jedoch höchstens in Zweitverwendung eingenommen, denn jüngste Forschungen belegen, dass die figürlichen Seitenteile mit ihrer kosmologischen Thematik früher als das Mittelteil und unabhängig davon entstanden sind. Aufgrund stilistischer und formaler Besonderheiten ist eine Entstehung im späten 9. Jahrhundert zu vermuten.50 Auf die Besonderheiten der Schrift und der kosmologischen Darstellungen soll und kann hier nicht näher eingegangen werden. Das Augenmerk richtet sich aufgrund meiner Fragestellung auf jenen Teil, in dessen Mitte der antike Gott Annus als Lenker und Angelpunkt des kosmischen Geschehens thront, umrundet von den Zeichen der Jahreszeiten, der Winde und der Monate im Wechsel des Jahres (Abb. 5). In antiker Manier sind alle Bildsymbole mit Tituli erklärt. Über dem Lenker des Kosmos steht in ehemals goldenen Lettern ANNUS.51 Das ungestörte, stets sich wiederholende Verschwinden und Wiederkehren der Gestirne sowie der Jahres- und Tageszeiten war Ausdruck und Zeichen der felicitas temporum, des geordneten und deshalb glücklichen Verlaufs der Dinge. Die antike Vorlage wurde allerdings – in mittelalterlicher Interpretation – durch die Zeichen A und Ω, beide mit einem Kreuz verbunden, ergänzt. Dadurch wurde das kosmische Geschehen nun Christus unterstellt, das antike Bild der Unvergänglichkeit der Welt durch das christliche Verständnis der Endlichkeit aller irdischen Dinge ersetzt. Das Bild und damit der Lauf der Welt, von dem der Mensch einen Teil bildet, vermittelt eine klare Ausrichtung hin zu Christus, der als der Garant der himmlischen felicitas galt. Die ursprüngliche Funktion der Stickerei und des zweiten Gegenstücks bleibt uns bislang verborgen. Beide Tücher bildeten möglicherweise in spät karolingischer Zeit Teil eines mehrteiligen textilen Schmuckensembles oder Behanges.52 Irgendwann muss dieses Ensemble seine Bedeutung verloren haben oder so beschädigt gewesen sein, dass die noch brauchbaren Teile einer anderen Funktion zugeführt worden sind. Dazu hat man ein neues Mittelteil sticken lassen, das sich technisch und farblich an die beiden Seitenteile angleicht. Dass dies 1380 geschah, ist wenig glaubhaft. Kölner Erzeugnisse des späten 14. Jahrhunderts
49 Literatur bei Stauffer, ‘Die geordnete Welt – Ein antikes Himmelsbild. Die Decke aus dem Schrein der heiligen Ewalde in St. Kunibert’. Dort wurden die beiden Ewalde irrtümlich als irische Missionare bezeichnet (S. 33), was zu berichtigen ist. 50 Die von Kohwagner-Nikolai vorgeschlagenen Datierung in die Zeit um 970 erachte ich als zu spät angesetzt. Siehe Kohwagner-Nicolai, ‘O Decus Europae Cesar Henrice? Die Saumumschrift des sogenannten Bamberger Sternenmantels Kaiser Heinrichs II.’, 151. 51 Zu Ikonographie und Vorlagen Stauffer, ‘Die geordnete Welt – Ein antikes Himmelsbild. Die Decke aus dem Schrein der heiligen Ewalde in St. Kunibert’, S. 37–40, S. 46–49. 52 Ebd., S. 49 f.
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zeigen vollständig andere technologische und stilistische Merkmale.53 Eher ist davon auszugehen, dass die Umarbeitung vor 1074 stattgefunden hat. Ob die aus alten und neuen Teilen zusammengefügte Gewebebahn als Altardecke diente, bleibt offen. Das Tuch wurde auf jeden Fall für angemessen und würdig befunden, als kostbare Gabe in den Schrein der angelsächsischen Missionare gelegt zu werden. Dass dies unter Erzbischof Anno geschah, hat vieles für sich. Anno war den beiden Ewalden sehr zugetan, seine Rettung vor den Aufständischen der Stadt 1074 soll er dem hl. Kunibert und den beiden Missionaren zugeschrieben haben, und die Umbettung der Heiligen aus St. Kunibert in neue Schreine erfolgte noch im gleichen Jahr.54 Wenngleich wir keine konkreten Anhaltspunkte zur Geschichte des Tuches aus dem Schrein der Ewalde haben, ist es verlockend, in der Namenskoinzidenz von Annus und Anno mehr als einen zufälligen Befund zu sehen. Indem Anno die wertvolle Stickerei in den Schrein der Märtyrer legte, gelangte auch sein Name in unmittelbare Nähe zu den Heiligen. Die felicitas temporum, das glückliche Geschick, die Rückkehr nach der Flucht, war auch ihm zuteilgeworden; er schrieb es der Vermittlung der beiden Brüder zu, er setzte das antike und zugleich christlich umgeformte Bildprogramm möglicherweise in Beziehung zu seiner erfolgreichen Flucht. Vor allem aber eröffnete ein Tuch mit dem Namen Annus wiederum die Möglichkeit, sich in nächster Nähe bei den Heiligen der Fürsprache der beiden Patrone bei Gott am Jüngsten Tag zu versichern. Dazu musste keine neue Seide bestickt werden, sondern es bot sich Anno die Gelegenheit, sich eines überkommenen Gegenstandes zu bedienen, der würdig und programmatisch war und an ihn als den Wohltäter erinnerte, welcher die beiden Märtyrer in einem neuen Schrein bestatten ließ. Die angeführten Exempla zeigen Facetten memorialen Handelns mit dem stets gleichen Bestreben, die eigenen Person namentlich in nächste Nähe zu Gott und seinen engsten Vertrauten zu bringen. Der auserwählteste Ort waren die Gräber der Heiligen. Textilien waren das Medium, durch das man Einlass in das Grab des Heiligen erlangte. Mit Gold und Seide eingefügte Namen versprachen angesichts der Vergänglichkeit aller Materie die längste Dauerhaftigkeit. Diese ‘intime’ Nähe zu Gott und den verehrten Nachfolgern Christi blieb jedoch den Klerikern vorbehalten. Nichtklerikale Adelige brauchten dazu einen Vermittler. Auch im späten Mittelalter, in dem uns auf allen künstlerischen Erzeugnissen zum Schmuck der Kirchen und des Gottesdienstes Personen beiden Standes durch unzählige Bespiele namentlich bekannt werden, bleibt das Grab, beziehungs weise der Schrein des Heiligen der bevorzugte Ort, mit diesem und mit Gott in engsten Kontakt zu kommen. Die jüngst im Schrein des hl. Evergislus vorgefundenen Dokumente belegen solches Handeln auch noch für das späte Mittelalter.55 Dort wurden anlässlich der 53 Die liturgischen Gewänder, 11. – 19. Jahrhundert: Bestandskatalog, S. 97–100. 54 Schneider, ‘Die heiligen Ewalde im Schatten von St. Kunibert’, 17. 55 Oepen, ‘Die Öffnung des Evergislusschreins in St. Peter’, S. 113 f.; Reichert und Stauffer, ‘Die Textilien aus dem Schrein des heiligen Evergislus’, S. 128 f.
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Abb. 5: Köln, St. Kunibert, sogenannte Decke der hll. Ewalde, vermutlich 9. Jahrhundert, Ausschnitt: Kosmische Darstellung mit dem antiken Gott Annus (Foto: Thomas Schilp).
jüngsten Rekondierung im Juni 2011 am Innendeckel und in der Lade selber – also wiederum dem Heiligen zugewendet – eine gesiegelte Urkunde von Albertus Magnus, damals noch Bischof von Regensburg, sowie Schriftzeugnisse zweier Äbtissinnen von St. Cäcilien – Elsa von Reichenstein (1443–86) und Elisabeth von Reven (1486–1515) – aufgefunden.56 Die Nachricht von Albertus Magnus besagt, dass er 1270 die Lade mit den Gebeinen des hl. Evergislus wieder verschlossen habe.57 1456 übernahm diese Funktion Elsa von Reichenstein, die letzte Äbtissin
56 Albertus Magnus authentifiziert den Inhalt der Lade noch vor seiner Investitur als Erzbischof von Köln. Dazu sowie zum ganzen Befund: Oepen, ‘Die Öffnung des Evergislusschreins in St. Peter’, S. 114. 57 Abbildung der Urkunde mit Siegel bei:www.ksta/ st-evergislus-urkunde-von-albertus-magnus-gefunden-11824978.
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der Kanonikerinnen von St. Cäcilien.58 Nur wenig später, im Jahr 1498, wurden die Gebeine von ihrer Nachfolgerin im Amt, Elisabeth von Reven, noch einmal neu ausgestattet. Sie hinterlegte – wie ihre Vorgänger – in der Holzlade eine Nachricht, gezeichnet mit ihrem Namen und ihrer Funktion, bevor diese in den Metallschrein eingeschlossen wurde. Auch diese Dokumente rufen wohltätiges Handeln verbunden mit dem Namen des Handelnden direkt bei Gott und dem verehrten Erzbischof in Erinnerung. Dieser Befund erstaunt deshalb, weil in jener Zeit die städtische Öffentlichkeit bereits ein vielgenutztes Medium zur Mehrung des Totengedenkens darstellte. Aber immer noch war offensichtlich die physische Nähe zum Heiligen und damit zu Gott die verlässlichste Garantie für das Erlangen der Unsterblichkeit der Seele. Exkurs: Siegel in Schreinen
Besondere Aufmerksamkeit unter den Funden aus dem Schrein des hl. Evergislus in St. Peter verdient die oben erwähnte Urkunde von Albertus Magnus mit seinem Siegel. Die ursprünglich in den Evergislusschrein eingelegte, zur Zeit von Albertus Magnus noch existierende Holzlade wurde im 15. Jahrhundert ersetzt. Es lässt sich also nicht mit Sicherheit sagen, ob das gesiegelte Dokument inwendig oder außen an dem Holzkasten – dem eigentlichen Reliquienbehältnis – angebracht worden war. Der hervorragende Zustand von Urkunde und Siegel lassen ersteres vermuten.59 Albertus Magnus rief sich wie ehemals Aribert von Mailand beim Heiligen als Wohltäter in Erinnerung, wie Aribert hat er den Glanz des Heiligen durch Restaurierung – in diesem Fall des metallenen Schreines (renovavo exteriorem decore) – vermehrt.60 Durch das Anbringen seines Bischofssiegels an dem Bericht über seine guten Taten erfuhr die Evokation seiner Person eine Verdoppelung und gleichzeitig eine unverwechselbare Authentifizierung: Albertus hatte das alles ausgeführt, das Siegel beglaubigte seine eigenen guten Taten und wiederholte seinen Namen. Es ist allgemein davon auszugehen, dass Siegel im Kontext von Reliquienrekondierungen nicht bloß zur Authentifizierung des Inhalts, son dern auch dem Totengedenken der siegelnden Person dienten.61 Deshalb finden wir Siegel bei Schreinen und Laden nicht allein außen, sondern auch in den Behältnissen selbst. Nur wenige Beispiele für Siegel in Schreinen und Reliquiaren sind bislang bekannt geworden, ein Befund, der mit Sicherheit der schlechten Überlieferungslage zuzuschreiben ist. Das Siegel Bischof Liuthards von Paderborn (862–87) wurde den Reliquien der hl. Saturnia im Frauenstift Neuenheerse beigelegt.62 Im Schrein des hl. Abundius in Hildesheim wurde
58 Oepen, ‘Die Öffnung des Evergislusschreins in St. Peter’, S. 115, Abb. 4. 59 Die an der überkommenen Lade von 1498 außen angebrachte Urkunde von Elisabeth von Reven ist in viel schlechterem Zustand. 60 Freundliche mündliche Mitteilung von Joachim Oepen, Köln. 61 Röckelein, ‘Schätze in Altären. Profane Gebrauchsgegenstände im sakralen Raum’, S. 188, 195 f. 62 Honselmann, ‘Reliquientranslationen nach Sachsen’, S. 190 f. und Abb. 1.
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ein Siegel des Bischofs Gerdag von Hildesheim (990–92) mit Gewebeabdruck gefunden.63 Die Praxis, sich durch Deponierung eines Siegels im und nicht auf dem Schrein oder außen an einem Reliquiar bei Gott und den Heiligen in Erinnerung zu rufen, ist ein Aspekt memorialen Handelns, der meines Wissens bislang seitens der Forschung noch kaum Beachtung gefunden hat. IV. Memoria am Grab von Verstorbenen und Heiligen Neben dem direkten physischen Kontakt mit dem Heiligen im Grab, war die Präsenz im Altarbereich für Angehörige des weltlichen und geistlichen Standes eine der erstrebenswertesten Positionen im Hinblick auf die Gewährleistung des Totengedenkens. Von verschiedener Seite wurde darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund das Schenken von Paramenten, insbesondere Paramenten des Altars, und von liturgischem Gerät zu verstehen ist, bestand doch darin für Laien die Möglichkeit, sich Zutritt in den Bereich des Altars zu verschaffen.64 Darauf soll hier nicht näher eingegangen, sondern das Augenmerk auf zwei andere Formen der Präsenz im Altarraum gerichtet werden. In Quellen des 8. bis 10. Jahrhunderts vor allem aus England und den west fränkischen Gebieten wird mehrfach von adeligen Damen gesprochen, die palliola – kleine Tücher aus Seide – mit kostbaren Materialien bestickten oder besticken ließen, welche sie als Geschenke einer Kirche oder einem kirchlichen Würdenträger übereigneten.65 In diesem Kontext ist die Beschreibung solcher Tüchlein aus der Hand der oben erwähnten heiligen Relindis und Harlindis aus Aldeneik besonders wertvoll, lässt sich daraus doch deren Funktion herleiten. In der Vita der Schwestern, aufgezeichnet in der Mitte des 9. Jahrhunderts, ist zu lesen: Quadam palliola, quae propriis manibus contexuerant, et quae multis modis variisque compositionibus diversae artis innumerabilibus ornamentis, Deum santosque decentibus […] ornata, composuerant Sanctae […]66 (Die Heiligen haben selber die Anfertigung kleine Tücher geplant, welche sie mit eigenen Händen gewebt und auf vielfältige Weise und in unterschiedlicher Art in unterschiedlichen Techniken mit unzähligen Mustern wie es für Gott und die Heiligen […] angemessen erscheint, schmückten) Wenngleich – wie Mildred Budny gezeigt hat – solche Beschreibungen literarischen Topoi folgen, wie sie vor allem in England bekannt waren, ist die Bemerkung interessant, dass die Kostbarkeit des Materials dieser Tüchlein Gott und den
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Schorta, ‘Von Hinkmar bis Aribert. Vom Umgang mit seidenen Stoffen’, Anm. 50. Röckelein, ‘Schätze in Altären. Profane Gebrauchsgegenstände im sakralen Raum’, S. 189 f. Beispiele bei Budny und Tweedle, ‘The early medieval textiles at Maaseik, Belgium’, 354–57. Ebd., 355.
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Heiligen angemessen (decentibus) war.67 Es wird dadurch klar, dass schon bei der Vorbereitung zu ihrer Herstellung ein Verwendungszweck intendiert war, dass für die palliola eine bestimmte Funktion feststand, bei der die textilen Kunstwerke offensichtlich direkt mit den heiligsten Gegenständen in Kontakt kommen sollten. Man kann sich vorstellen, dass sie bei bestimmten Anlässen auf Altäre, Schreine oder Reliquiare gelegt wurden oder Objekte bedeckten, die den Augen des Betrachters entzogen werden sollten.68 Was wir uns unter den palliola, ‘welche Gott und den Heiligen würdig waren’, konkret vorzustellen haben, entzieht sich unserer genauen Kenntnis. Vielleicht handelt es sich um Objekte wie das Seidentuch einer namentlich erwähnten Gerberga (Gerberga me fecit), das heute in der Domschatzkammer in Köln aufbewahrt wird. Thema der figürlichen Stickerei, eingestickte Texte und historischer Kontext lassen dieses als Gabe der sächsischen Königstochter und französischen Königin Gerberga (913–84) an ihren Bruder Erzbischof Bruno von Köln (925–65) für geleistete Hilfe schließen.69 Das kleine Tuch (33 x 33 Zentimeter) aus feinster, schleier artiger Seide ist höchst kunstvoll mit bunter Seide und Goldfäden bestickt. Reste einer roten Seide an der Unterkante verweisen an ein ehemals auf der Rückseite angebrachtes Futter. Das Seidentuch Gerbergas ist erhalten geblieben, weil es als Hülle für die Reliquien des hl. Gregor von Spoleto verwendet wurde, welche Bruno kurz vor seinem Tod 965 nach Köln hatte bringen lassen.70 Es gibt keinerlei Hinweise, wann die Gebeine des hl. Gregor in das Tuch mit dem Namen Gerbergas eingeschlagen worden sind. Spätestens 1220, bei der Schließung des Dreikönigschreins, bildeten sie eine Einheit. Da beide mit dem Wirken Erzbischof Brunos zusammenhängen, liegt die Vermutung nahe, dass bereits bei der Ankunft der Gebeine aus Rom diese in das Tuch Gerbergas eingeschlagen wurden. Denkbar ist auch, dass damit das Grab Brunos oder ein Behältnis mit der Reliquie des heiligen Gregor bedeckt worden ist. Mit Sicherheit handelte es sich bei dem Seidentuch mit seiner speziellen und programmatischen Ikonographie nicht um ein gewöhnliches Geschenk, mit dem Gerberga ihren Bruder erfreute. Vielmehr ist wiederum an eine zweckgebundene Komposition zu denken, wie sie auch schon für die palliola der Harlindis und Relindis gerühmt wurden, ebenso an eine klare Intention, warum Gerberga sich namentlich in Erinnerung rief. Mit ihrem Bruder als Reichskanzler und Erzbischof hatte sie die Möglichkeit, an vornehmstem Ort für ihr Totengedenken zu sorgen. Bis 1220 muss das Tuch
67 Zu den literarischen Topoi vgl. Budny, ‘The anglo-saxon embroideries at Maaseik: Their historical and art-historical context’, 61–65. Budny und Tweedle, ‘The early medieval textiles at Maaseik, Belgium’, 355 ziehen in Erwägung, ob mit palliola auch Umhänge, Schleier, kleine Behänge oder Altartücher gemeint sein könnten. Diese Interpretation scheint mir nicht zwingend. 68 Zu den literarischen Topoi vergleiche Budny, ‘The anglo-saxon embroideries at Maaseik: Their historical and art-historical context’, 61–65 69 Oedinger, ‘SCS Lario – SCS Baso. Zur Herkunft der Kriegsfahne im Kölner Domschatz’. Von Euw, ‘Zur Ikonographie der sog. Kriegsfahne im Kölner Domschatz’. Schorta, ‘Die Kriegsfahne der Gerberga’, S. 455–57. Ich danke Dr. Leonie Becks, Köln herzlich für die freundliche Unterstützung bei der Untersuchung des Objekts. 70 Oedinger, ‘SCS Lario – SCS Baso. Zur Herkunft der Kriegsfahne im Kölner Domschatz’, 87.
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der Gerberga eine andere Funktion zugekommen sein; erst dann gelangte es jedenfalls als Reliquienhülle zusammen mit anderen Reliquien in den neuen Schrein. Selbst wenn uns die Quellen weitgehend fehlen, lassen das Tuch der Gerberga und die palliola, von denen in der Vita der beiden Schwestern aus Aldeneik in der Mitte des 9. Jahrhunderts berichtet wird, den Schluss zu, dass es sich hierbei wiederum um ein textiles Medium handelt, das im Hinblick auf das persönliche Totengedenken in nächster Nähe zum Altar oder zu den Schreinen und Gräbern der Heiligen eingesetzt werden konnte und wurde. Gerberga lenkt den Blick auch auf eine andere Praxis der Textilspende im Kontext mit der Grablege besonders verehrter oder heiliggesprochener Personen. In der älteren Vita Mathildis (um 973) wird nämlich berichtet, dass die westfränkische Königin nach dem Tod ihrer Mutter 968 ein prachtvolles Seidentuch nach Quedlinburg überbringen ließ: venerunt nuncii filie eius regine Gerburgis pallium ferentes auro intextum, quod suam dominique suii regis Henrici sepulcram aptum erat ad cooperiendum.71 (Gesandte der Königin Gerberga brachten ein Tuch, das mit Gold durch woben war und so groß war, dass damit ihr Grab zusammen mit jenem ihres Gemahls, König Heinrichs, bedeckt werden konnte.) Dieses Tuch hat die Zeiten nicht überdauert. Der Bericht bezeugt aber die Praxis, die Gräber von besonderen Verstorbenen, die Anrecht hatten, in der Kirche, ja sogar im Chorbereich bestattet zu werden, mit kostbaren Textilien zu bedecken. Durch den wertvollen Schmuck, den solche Tücher darstellten, wurden die Bestatteten, deren Körper sie symbolisch bedeckten und schmückten, besonders geehrt.72 Vermutlich sind diese Tücher nicht permanent dort liegen geblieben, sondern zu besonderen Anlässen – etwa: Totenmessen, Anniversarien oder Kirchenfesten – jeweils aufgelegt und danach wieder entfernt und sorgfältig auf bewahrt worden. Das Tuch der Gerberga ist dem Verfasser der Vita noch bekannt. Der Name der Tochter blieb mit dem kostbaren Geschenk an die verstorbenen Eltern untrennbar verbunden. Ob allein durch mündliche Überlieferung oder den Umstand, dass Gerberga auch dieses Tuch mit ihrem Namen versah, wie beim Seidentüchlein in Köln, entzieht sich unserer Kenntnis. Dass Gerberga mit ihrem textilen Geschenk an das Grab der Mutter offensichtlich in einer Tradition steht, lässt der Bericht Gregeors von Tours vermuten, der ebenfalls von einem solchen Tuch (palla) auf dem Grab des hl. Martin bericht.73 Der Vergänglichkeit des Materials ist es geschuldet, dass wir über diese Art memorialen Handelns so wenig wissen, wie über den Gebrauch der palliola oder der Siegel. Erst aus dem späten Mittelalter sind Textilien erhalten, die von der Forschung als textiler Schmuck von Gräbern angesprochen worden sind, beispielsweise 71 Schilp, ‘Kleidung aus Seide in Frauengemeinschaften?’, S. 80, Anm. 85. 72 Zur Gleichstellung gemusterter Seide mit Gold und anderen kostbaren Materialien siehe Stauffer, ‘Ein kostbares Geschenk – Der originale Einband des Theophanu-Evangeliars in Essen’. 73 Zum Bericht und zum Kontext Päffgen, ‘Grab und Schrein des hl. Severin in ihrem architektonischen Kontext vom 5.–13. Jahrhundert’, S. 410.
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das Grabtuch des hl. Holger aus Skokloster bei Stockholm.74 In der für das späte Mittelalter typischen Art der bildlichen Vergegenwärtigung wird der Verstorbene durch das Tuch visuell in Erinnerung gebracht. Gleichzeitig wird seine Person auch durch die eingestickte Inschrift des Namens sowohl evoziert als auch angerufen. Der Verstorbene erschien so den Zisterzienserinnen bei besonderen Anlässen in seiner leiblichen Gestalt; sie konnten mit ihm in direkte Interaktion treten, sich an seinem Grab bei ihm in Erinnerung rufen, sich des Totengedenkens versichern. Die Funktion des Seidentuches und eines möglichen Vorgängertextils muss jedenfalls mehr als bloßer Schmuck des Grabes gewesen sein.75 Auch hier ergibt sich für die Memorialforschung also aus der Objektwelt ein neues Forschungsfeld. Die erwähnten Beispiele belegen, dass Textilien nicht nur in Form von Paramenten eine besondere Rolle im abgetrennten Bereich von Chor und Altar zukam. Es existierte weiterer textiler Schmuck, der bei der Heiligenverehrung und festlichen Inszenierung von Gedenktagen temporär als visuelles Mittel eingesetzt wurde und den Schenkern einmal mehr die Möglichkeit gab, in nächster Nähe zu Gott und den Heiligen für ihr Totengedenken zu sorgen. V. Conclusio Memoriales Handeln – das hat Otto Gerhard Oexle immer wieder betont – ist die wichtigste gemeinschaftsbildende Komponente der mittelalterlichen Gesellschaft, denn die Gewährleistung des Totengedenkens funktionierte nur über die kollektive Erinnerung. Im späten Mittelalter – so Thomas Schilp – wird ‘die Stadt als Sakralgemeinde für das Totengedenken nutzbar gemacht’.76 Seit dem frühen Mittelalter lässt sich jedoch noch eine andere Form des Totengedenkens feststellen, die auf Öffentlichkeit verzichtet und sich in unmittelbarer Nähe zu einem verehrten Verstorbenen abspielte, indem noch lebende Individuen sich bei dem Toten in Erinnerung riefen. Sie bedienten sich dabei unterschiedlicher textiler Erzeugnisse. Textilien gehören zu den wenigen materiellen Erzeugnissen, welche die Toten ins Grab begleiteten, ja begleiten durften. Im Kontext mit Christi Tod und Auferstehung kommt den Grabtüchern Christi metaphorische Funktion zu: Sie heilen und heiligen den toten Körper, sind unabdingbarer Teil von Tod und Bestattung, bilden die letzte Hülle, aus der der neue Mensch in das ewige Leben übergeht. Gleiche symbolische Bedeutung kommt den Reliquienhüllen zu, denn auch sie sind die Hüllen der Heiligen, in ihrer Kostbarkeit aber verweisen sie auf die besonderen Qualitäten von Heiligen und heiligen Gebeinen.77 Textilien, 74 Die Zisterzienser – Das Europa der Klöster, S. 213 f. Branting und Lindblom, Medeltida vävnader och broderier i Sverige, S. 113–16. 75 Branting und Lindblom erwähnen ein mögliches Vorgängertuch. Dort ist auch das Schriftband publiziert, das in oben genanntem Katalog keine Erwähnung findet und auf der Katalogabbildung nicht zu entziffern ist. Diese Publikation war mir leider nicht zugänglich. 76 Vergleiche dazu ausführlich Thomas Schilp in diesem Band, S. 139–248. 77 Stauffer, ‘Bedeutungsebenen textiler Reliquienhüllen im frühen und hohen Mittelalter’, S. 154–59.
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welche in die Schreine und Gräber gelegt wurden, konnten aber offensichtlich auch als Botschaftsträger genutzt werden. Durch Inschriften auf Geweben und Bändern riefen sich Wohltäter bei den Verstorben in Erinnerung, versicherten sich deren Fürsprache vor Gott. Gräber, Schreine oder Reliquiare waren als sakraler Ort im frühen und hohen Mittelalter jedoch vornehmlich Geistlichen zugänglich. Grundsätzlich war es auch Angehörigen des weltlichen Standes möglich, ihren Namen in die Nähe der Heiligen zu deponieren. Im sogenannten Pontifikale von Narbonne aus dem 11. Jahrhundert wird Menschen weltlichen und geistlichen Standes der Eintrag ihres Namens auf Geschenke ausdrücklich gestattet,78 aber nur Geistliche konnten eine Graböffnung oder Rekognition veranlassen und eine Umbettung zelebrieren, und nur sie hatten direkten Zugang zu den Gebeinen und konnten dort auch Geschenke niederlegen. Das Pontificale Romanum sieht keine Präsenz von Laien an den Gräbern der Heiligen vor. Die Einsetzung von Reliquien in Altäre und vermutlich auch der Akt der Umbettung heiliger Gebeine war ihrem Blick entzogen.79 Eine direkte Interaktion von Laien bei den Gräbern oder Reliquien von Heiligen war liturgisch nicht vorgesehen. Angehörige des weltlichen Standes brauchten deshalb einen Geistlichen als Vermittler, um namentlich direkt an den Heiligen ‘heranzukommen’, mit ihm und Gott in Interaktion zu treten. Diese Form des memorialen Handelns unterscheidet sich von bekannten Handlungsmustern, wie sie durch die Libri vitae oder durch Sachobjekte aus dem späteren Mittelalter belegt sind, wo die Qualität des Totengedenkens durch die Menge der ‘in Pflicht genommenen Gläubigen’ bestimmt wird. Ob es sich hier um einen Formenwandel handelt, lässt sich meines Erachtens nicht entscheiden. Viel eher scheint es mir eine zu bekannten Formen des Totengedenkens parallel existierende, andere Strategie zu sein, denn sie lässt sich ja, wie am Beispiel der Befunde aus der Lade des hl. Evergislus in Köln gezeigt wurde, bis an den Übergang in die Neuzeit belegen. Klaus Gereon Beuckers kommt in seinen Forschungen zu Schatz und Stiftungen zum – für ihn offensichtlich erstaunlichen Ergebnis – dass weder in personali sierten Quellen noch auf personalisierten bildlichen Darstellungen von Stiftern und Schenkern deren Stiftungsmotivation genannt wird, auch nicht, wenn sie nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre familiäre Herkunft kenntlich machen.80 Bei memorialem Handeln, das die Lebenden mit einbezieht, ist der Zweck von Stiftungen und Schenkungen – die Gewährleistung des kollektiven Totengedenkens – so offensichtlich, dass er nicht besonders hervorgehoben
78 Röckelein, ‘I alter hölzerner Kasten voller Reliquien als alten schmutzigen Zeugflicken jeder Farbe und alte Knochen’, S. 189. 79 Popp, ‘Reliquien im hochmittelalterlichen Weiheritus. Die Gandersheimer Seide und die Kirchweihe von 1007’, S. 171. Röckelein, ‘Schätze in Altären. Profane Gebrauchsgegenstände im sakralen Raum’, S. 392. 80 Beuckers, ‘Schatz und Stiftung. Allgemeine Bemerkungen zu Stiftungsmotivationen im Früh- und Hochmittelalter’, S. 24 f., 29.
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werden muss. Bei der anderen Form des memorialen Handelns, welche die Nähe zu den Heiligen in deren Grab unter Ausschluss der Öffentlichkeit suchte, werden Schenkungskontext und -intention sehr wohl kenntlich gemacht; erinnert sei an die Geschwister aus Ravenna oder an Erluinus. Parallel zur namentlichen Interaktion in Berührung mit den Heiligen im Grab oder Schrein ermöglichten textile Geschenke auch die Präsenz am Grab. Die Erzählung über das Geschenk Gerbergas, das die Gräber von Mutter und Vater auszeichnete, die Verstorbenen würdigte und gleichzeitig die Tochter der Fürsprache der Eltern empfahl,81 sowie der Bericht über ‘die kleinen Tüchlein, welche den Heiligen angemessen’ waren, sind Zeugnisse dafür, dass nicht nur Paramente und liturgische Geräte einen solchen Zugang zum Altarbereich und in die Nähe der Gräber von Personen ermöglichten, welche ihr vorbildliches Leben zu Vermittlern für die Lebenden als geeignet erscheinen ließ. Dass gerade Textilien zur persönlichen und intimen Vergegenwärtigung bei den Verstorbenen und Gott ausgewählt wurden, hängt mit der erwähnten, besonderen Konnotation zusammen, die diesen als Grabbeigaben zukam und ihre Verwendung im Grab ermöglichte. Der extremen Vergänglichkeit des Materials ist es geschuldet, dass diese Art der Jenseitsvorsorge bislang nur anhand einiger Exempla diskutiert werden kann, aber ebenso der Tatsache, dass viele Gräber bis in unsere Zeit verschlossen geblieben sind.
81 Dazu Schilp, ‘Kleidung aus Seide in Frauengemeinschaften?’, S. 80.
Bernhard Jussen
Wo ist die ‘mittelalterliche Ständegesellschaft’? Eine Suche bei Malern und Steinmetzen des Jüngsten Gerichts I.
Du bete demütig – du beschütze – und du arbeite. Eine Massenillustration des frühen Buchdrucks rettet die ‘mittelalterliche’ Ständegesellschaft
Publikationen zur Geschichte des sogenannten ‘Mittelalters’ – von der Synthese über Hand- und Lehrbuch bis zum Schulbuch – kondensieren üblicherweise ihre im darstellenden Text entwickelten Botschaften in Bildern. Als schnell zu erfassende ‘Quelle’ authentifizieren die Bilder die geschichtswissenschaftlichen Narrative. Würde man die Bilder in diesen Büchern quantifizierend auswerten, so hätte besonders eines – jedenfalls in Deutschland – gute Chancen auf den ersten Platz: das sogenannte ‘Dreiständebild’ (oder die ‘Ständeordnung’) aus einem Buch mit astrologischen Weissagungen, der Pronosticatio des Johannes Lichtenberger von circa 1440–1503 (Abb. 1). In aktuellen deutschen Schulbüchern ist das Bild Standard, kaum ein Buch verzichtet darauf. Der Holzschnitt soll besonders einprägsam – eben holzschnitthaft – ins Bild setzen, was man sich beim Stichwort ‘Mittelalter’ zu merken hat: Ständegesellschaft als Ausdruck der göttlichen Ordnung. Christus weist die soziale Ordnung mit drei Imperativen an – ‘Du bete demütig’ (tu supplex ora), ‘du beschütze’ (tu protege) ‘und du arbeite’ (tuque labora). Eingängiger lässt sich kaum visualisieren, was eine transzendent begründete Legitimierung von Hierarchie im Rahmen einer umfassenden gottgewollten Ordnung ist. Wenn das Ständebild der Pronosticatio in Lehrbüchern und Referenzwerken zum ‘Mittelalter’ im akademischen Betrieb deutlich weniger präsent ist als im Schulbuch, so bedeutet dies nicht, dass das Bild als ungeeignet gilt, sondern eher, dass der Status dieses Bildes – wie überhaupt die Frage nach einem Bilddiskurs ständischen Denkens – für die Vorstellung ‘Mittelalter’ nicht weiter reflektiert wird. Das Ständebild steht für ‘Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen’.1
1 Mit dem berühmten Titel von Aron Gurevič, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, das Ständebild hier auf Tafel 31. Insgesamt ist die Zahl der Abbildungen in akademischen Lehrbüchern und Synthesen in Deutschland zumeist ohnehin schmal; das Bild findet man etwa in der 2015 als
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 119–138. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117996
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Als man seit den 1970er Jahren ‘Stände’ umdeutete von Akteuren zu Denkformen, zu ‘Deutungsschemata sozialer Wirklichkeit’ (Oexle), war die Geschichtswissenschaft noch weitgehend eine Textwissenschaft und noch weit entfernt von jenem ‘visual turn’, der seit der Jahrtausendwende verstärkt reklamiert wird.2 In Textzeugnissen ist das Nebeneinander sehr unterschiedlich funktionierender, für unterschiedliche Belange genutzter, aber untereinander nicht harmonisierbarer Klassifikationen herausgearbeitet worden – so die Dreiteilungen der im Jenseits Belohnten in Jungfrauen, Witwen und Verheiratete oder die Deutung der sozialen Wirklichkeit nach kirchlichem Status in Kleriker, Mönche und Laien. Im Fokus der Forschung stand aber besonders die ‘funktionale Dreiteilung der Gesellschaft’ in Krieger, Beter und Arbeiter – jene Dreiteilung, deren Karriere in Texten des 11. Jahrhunderts begann und die in Lichtenbergers Pronosticatio in Holz geschnitzt ist.3 Doch wer die ständischen Diskurse medienspezifisch betrachtet und neben Textcorpora auch Bildcorpora zusammenstellt, bemerkt schnell, dass die Allgegenwärtigkeit dieses Holzschnitts in heutigen Publikationen in die Irre führt. Die Forschung setzt die diskursive Präsenz ständischer Deutungsschemata als Grundmuster sozialer Vorstellungen in jenen distanten Monarchien vor ‘Luther’ und der ‘Neuzeit’ eher voraus, als sie empirisch zu validieren.4 Denn als dieses in Holz geschnitzte ‘Weltbild des mittelalterlichen Menschen’ (Gurevič) 1488 im Druck erschien, war der Gründungsheld der ‘Neuzeit’ – Martin Luther – schon fünf Jahre alt.5 Der Holzschnitt, der in Schulbüchern ebenso wie in akademischen Lehrbüchern und Synthesen als ‘mittelalterlich’ verkauft wird,
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Lizenz von Kröner erschienenen Reclam Ausgabe von Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden (niederl. orig. 1941), im Kapitel 3 ‘Die hierarchische Auffassung der Gesellschaft’, während es in den früheren Kröner-Ausgaben fehlt. Zu verweisen ist besonders auf die einflussreichen Artikel von Oexle, ‘Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters’, 1988 (Nr. 48), S. 19–51; Ders., ‘Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens’, 1987 (Nr. 45), S. 65–117 und Neudruck in Die Wirklichkeit und das Wissen: Mittelalterforschung, historische Kulturwissenschaft, Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), S. 340–401; Ders., ‘Stand, Klasse (Antike und Mittelalter)’, 2011 (Nr. 270), S. 287–339. Auf der Ebene des Lehrbuchs vgl. Ders., ‘Einführung. Die Gruppenkultur Europas’, 2007 (Nr. 246), S. 169–76. Aus der seinerzeit besonders diskursmächtigen französischen Forschung vgl. das weit verbreitete Buch Duby, Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme); Iogna-Prat, ‘Ordre(s)’, in Dictionnaire Raisonné de l’Occident Médiéval, S. 845–60; ferner Constable, ‘The Orders of Society’, S. 249–360. Ich greife hier ein Argument wieder auf aus Jussen, ‘Geeignet oder ungeeignet? Bilder in aktuellen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht’, S. 165–201. Das derzeit in Deutschland wohl am meisten genutzte Lehrbuch, das Oldenbourg Lehrbuch Mittelalter, hat als erstes Lehrbuch programmatisch einen gruppensoziologischen Zugriff verfolgt. Das Thema ‘Stände’ kommt nur weit untergeordnet im Rahmen zweier sehr knapper Überblicke über Deutungsschemata vor (Oexle, ‘Einführung. Die Gruppenkultur Europas’ und Selzer, ‘Abbildungskommentar zum Ständeschema in der Pronosticatio’, hier S. 284–85). Auch in diesem Lehrbuch des Geschichtsstudiums hielt man die Pronosticatio anscheinend für unverzichtbar; der Text verweist auf das späte Entstehungsdatum und problematisiert dann im Wesentlichen die Distanz zwischen Deutungsmuster und Realität; dass das Bild eigentlich in das Lehrbuch ‘Frühe Neuzeit’ gehört, fehlt auch hier.
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Abb. 1: Johannes Lichtenberger, Pronosticatio [lateinische Ausgabe], gedruckt von Jakob Meydenbach, Mainz 1492, fol. 6r: Dreiständebild. (BSB-Ink L-164, GW M18225 S. 6r).
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startete seine Karriere zur gleichen Zeit wie der Rebell von Wittenberg. Über 50 vollständige Druckausgaben von Lichtenbergers Pronosticatio sind bekannt, die meisten aus dem 16. Jahrhundert, dazu 29 Druckausgaben von Auszügen, zumeist aus dem 17. Jahrhundert. Noch die Zeitgenossen Friedrichs des Großen (Ausgaben von 1748 und 1758), der französischen Revolutionäre (1793) oder Napoleons (1810) kauften Lichtenbergers Weissagungen und Holzschnitte. Jene Zeitgenossen aber, denen man seit den Tagen des Ancien Régime und bis heute unterstellt, im ‘Mittelalter’ gelebt und entsprechend gedacht zu haben, haben diese Bildidee nicht gekannt.6 Dass in fast jedem aktuellen Schulbuch gerade dieses eine, seit 1488 publizierte Ständebild genutzt wird, deutet auf ein in geschichtswissenschaftlichen Synthesen verbreitetes mediologisches Defizit: Es mag zwar sein, dass man in der Textproduktion ausreichend Belege für die Annahme findet, dass die funktionale Dreiteilung seit der Jahrtausendwende ein zunehmend verbreitetes Deutungsmuster der Gesellschaft war; dies muss hier nicht beurteilt werden. Die Suche in Bildmedien aber macht deutlich, dass man kaum frühere Versuche als in der Pronosticatio findet und dass man buchstäblich nichts findet, das als Bilderfindung erfolgreich gewesen wäre. Zwei frühere, vielleicht vergleichbare Darstellungen werden bisweilen in universitären Lehrbüchern und populären Synthesen genutzt. Ein Manuskript des späten 13. Jahrhunderts, wohl aus Lille, mit Schriften des italienischen Arztes Aldobrandino von Siena (gestorben circa 1296/99) in der British Library (Sloane 2435, fol. 85) bietet eine Initiale ‘C’ für ‘Clergie’ (Klerus), die neben einem Kleriker auch einen Ritter und einen Bauern zeigt. Für den Autor interessieren sich Synthesen üblicherweise nicht, auch findet man ihn weder im ‘Lexikon des Mittelalters’, noch in der ‘International Encyclopedia for the Middle Ages’ (auch nicht in der deutschen und englischen Wikipedia). Allein die kleine Initiale auf folio 85 hat es in die wissenschaftliche Produktion geschafft, weil sie genau das zeigt, was die Forschung für ihre Idee von ‘Mittelalter’ benötigt.7 Die zweite Darstellung der funktionalen Dreiteilung findet sich in einer vierteiligen Bilderzählung in jener Handschrift der Chronik des englischen Mönches John of Worcester, die der Autor selbst bearbeitet hat (Oxford, Corpus Christi College, MS 157, vor 1140).8 Sie zeigt eine Vision oder einen Albtraum des englischen Königs Heinrich I., der im Schlaf in den ersten drei Bildsegmenten von je einem der drei Stände bedroht wird und im vierten Segment in Todesangst in einem Boot auf stürmischer See gelobt, seine Politik zu ändern (Abb. 2). Offenbar kann die authentische und vollständige Illustration kaum einen Autor oder Verlag zufriedenstellen, jedenfalls wird die doppelseitige Bilderzählung
6 Kurze, ‘Prophecy and History. Lichtenberger’s Forecast of Events to Come (From the Fifteenth to the Twentieth Century. Their Reception and Diffusion’, 63–85, zu den Auflagen besonders 63–64. 7 Vgl. London, British Library, Catalogue of Illuminated Manuscripts, Detailed record for Sloane 2435. 8 www.ccc.ox.ac.uk/The-Chronicle-of-John-of-Worcester. Zu den erhaltenen Handschriften der Chronik und zu den Bildern vgl. Cleaver, Illuminated History books in the Anglo-Norman World, 1066–1272, S. 65–72.
Abb. 2: Die vierteilige, über zwei Seiten verteilte Bilderzählung vom Albtraum Heinrichs I. in der Chronik des englischen Mönches John of Worcester (gest. um 1140). Die Bilderzählung befindet sich in der vom Autor selbst bearbeiteten Handschrift (Corpus Christi College, Oxford MS 157, S. 382–83, vor 1140). (Farbtafel II)
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selten als ein Ganzes genutzt. Die Handschriftenmaler haben es den heutigen Verlagen so schwer wie möglich gemacht: Die drei Szenen sind nicht auf einer Seite ordentlich untereinander geordnet, sondern auf einer Doppelseite in zwei Blöcke geteilt. Zudem stört offenbar das vierte Segment. Für Robert Bartletts weit verbreitete ‘Welt des Mittelalters’ (‘The Medieval World Complete’ 2001, ‘Medieval Panorama’ 2001, seitenidentische Übersetzungen ins Deutsche 2001, Spanische 2002, Ungarische 2002, Französische 2004) ist das Bild manipuliert worden (Abb. 3): Durch präzises Ausschneiden und neu Zusammenfügen der getrennten Bildsegmente wurde die Bildidee aus dem 12. Jahrhundert für die Leser des 21. Jahrhunderts so geschickt ‘verbessert’, dass der Eindruck eines ‘mittelalterlichen’ Dreierschemas entsteht.9 Wer im Jahr 2018 den Artikel zu John of Worcester in Wikipedia öffnet, findet in fast allen Sprachen10 diese Erfindung des 21. Jahrhunderts – als ‘public domain because of its age’. Es sind im Wesentlichen11 diese drei Bilder, die das ‘Weltbild des mittelalterlichen Menschen’ augenfällig machen sollen – eine im 21. Jahrhundert didaktisch ‘verbesserte’ Bilderzählung des 12. Jahrhunderts, eine singuläre Initiale des 13. Jahrhunderts in einem ansonsten kaum beachteten medizinischen Traktat, schließlich ein 1488 publizierter Bestseller des 16. bis 18. Jahrhunderts. Unstrittig beruhen diese drei Bildideen auf dem gleichen Klassifizierungsgedanken, doch diese Beobachtung ändert nichts daran, dass der Klassifizierungsgedanke im Medium des Bildes vor dem 16. Jahrhundert kein diskursives Gewicht hatte. Jacques Le Goff hat die Geschichte dieser Bildidee schon vor Jahrzehnten auf den Punkt gebracht: ‘Das 16. Jahrhundert ist das große Jahrhundert der Ikonografie der dreigeteilten Gesellschaft’ – das 16. Jahrhundert, nicht das sogenannte ‘Mittelalter’.12 Die Ausbeute wäre auch dann nicht viel besser, wenn man sich
9 Die manipulierte Form des Bildes stammt aus Bartlett, The Medieval World Complete und Ders., Medieval Panorama, Deutsch: Ders., Die Welt des Mittelalters: Kunst, Religion, Gesellschaft. Enzyklopädie mit 800 Bildern. Das manipulierte Bild ist inzwischen auch in anderen deutschsprachigen Synthesen zu finden; üblich ist auch, nur die erste Hälfte der Bilderzählungen (Bauern und Ritter) abzubilden, so etwa bei Bartlett, England under the Norman and Angevin Kings, 1075–1225, Abb. 1. 10 Nur die deutsche Seite bietet das korrekte vollständige Bild, die portugiesische verzichtet auf den Traum. Alle anderen (englische, französische, italienische, catalanische, russische, esperanto, galizische, norwegische, ungarische) Seiten bieten das manipulierte Bild. 11 Vereinzelte Verweise auf weitere Bilder sind mühsam zu prüfen. Bartlett, 2001 a-c, S. 100 bietet ein weiteres Bild der funktionalen Dreiteilung, das die drei Stände in übereinanderliegenden Kassetten zeigt, aus der Handschrift Brüssel, Bibliothèque Royale, MS 11201–02 (Nicolas Oresme, Franz. Übersetzung von Aristoteles’ Politik); das Bild ist beschnitten, eine vollständige Version bietet Richter, Imaging Aristotle: Verbal and Visual Representation in Fourteenth-Century France (http://ark. cdlib.org/ark:/13030/ft4m3nb2n4/), S. 255; das Bild bei Bartlett ist senkrecht halbiert, tatsächlich zeigt es nicht drei Stände, sondern sechs – beschriftet als Genz d’armes, Genz de conseil, Gent sacerdotal, Cultiveurs de terres, Genz de mestier, Marcheans. 12 Jacques Le Goff, ‘Les trois fonctions indo-européennes, l’histoire et l’Europe féodale’, 1187–1215, S. 1202: ‘Le XVIe siècle est le grand siècle de l’iconographie de la société tripartie, ce dont témoignent par exemple les illustrations de la Pronosticatio du moine allemand Johannes Lichtenberger qui connut 42 éditions entre 1488 première édition Heidelberg et 1587’. Vgl. etwa Vignjevic, ‘Darstellungen der drei Stände an der Schwelle zur Neuzeit. Zum Verhältnis von bildlicher Darstellung und gesellschaftlicher Realität’, 31–50.
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Abb. 3: Die manipulierte Version in der oft und in verschiedenen Sprachen aufgelegten Publikation von Bartlett, Die Welt des Mittelalters, S. 100. (Farbtafel III)
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auf die bildlichen Spuren anderer Dreiteilungen machen würde. Die drei Stände der Geretteten – der Jungfrauen mit 100-fachem, Witwen mit 60-fachem und Verheirateten mit 30-fachem Lohn – haben zwar für einige Generationen im 12. und 13. Jahrhundert ein seriell kopiertes Bildformular gefunden, doch dieses Bildformular hat es nicht aus den Abschriften des immer gleichen Werkes geschafft – des um die Mitte des 12. Jahrhunderts von einem unbekannten Autor verfassten ‘Jungfrauenspiegels’ (Speculum virginum).13 Auch für die Dreiteilung der Gesellschaft in Kleriker, Mönche und Laien hat sich kein Bildschema entwickelt. Das bildliche Material gibt also Anlass zu fragen, wie präsent die ständischen Denkformen der Gesellschaft, insbesondere die verschiedenen Arten der Klassifizierung in ‘drei Sorten von Menschen’ (tria genera hominum14, seien es der Kleriker – Mönche – Laien, Jungfrauen – Witwen – Verheirateten, oder Krieger – Beter – Arbeiter), nach Ausweis bildlicher Diskurse überhaupt waren. Eine Probe sei im Folgenden diskutiert mit Blick auf ein Bildmotiv, bei dem Maler und Steinmetze immer wieder über die Einteilung der Gesellschaft nachdenken und eine solche Einteilung bildlich darstellen mussten: das Weltgericht. Die Masse des Materials erlaubt nur einen selektiven Blick auf die Anfänge des Bildformulars mit einem sehr skizzenhaften Ausblick. II. Das Weltgericht ausmalen. Soziale Ordnung in der Jenseitsprojektion Das mit Abstand am weitesten verbreitete Bildprogramm, das sich immer wieder mit der Klassifikation der Gesellschaft befassen musste, spielt in der Forschung zum Ständedenken und zur ständischen Gesellschaft so gut wie keine Rolle – das Jüngste Gericht. Wenn Steinmetze, Miniatur- oder Freskenmaler ein Bild des Jüngsten Gerichts entwarfen, mussten sie Stellung beziehen zu Grundfragen sozialer Klassifikation und zu der Art ihrer Projektion oder Nichtprojektion ins Jenseits. Stets mussten diese Darstellungen des Unvorstellbaren die Nähe oder die Ferne der irdischen Welt zur zukünftigen, ewigen Welt visualisieren. In diesem umfangreichen Corpus lässt sich beobachten, wie (und wie nicht) Maler oder Steinmetze sich im Diesseits bedient haben, um das Jenseits zu entwerfen. Was sehen wir aus der Sozialordnung der Erfahrungswelt in den imaginierten, jenseitigen Räumen? Wie sehen die Menschen nach der Auferstehung aus? Was erkennt man wieder? Kommunizieren die Auferstandenen, und mit wem? Sind sie in Gruppen dargestellt, durchmischt, isoliert? Nehmen sie etwas mit aus dem irdischen Leben, finden sie etwas oder jemanden wieder? Verhüllt ein Leichentuch die erwachenden Toten, bekommen sie neue Kleider, verweisen
13 Vgl. zu einer bildlichen Aneignung jenseits des Jungfrauenspiegels unten die Passage zu Herrad von Hohenburg; zu den Bildern in den Handschriften des Jungfrauenspiegels vgl. Jussen, Der Name der Witwe: Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur, S. 95–114, Abb. 2–11. 14 Oexle, ‘Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter’, 1984 (Nr. 31), S. 483–500.
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die Kleider auf ihr irdisches Dasein, oder umhüllt nichts die Auferstandenen? Sind sie schön, verletzt, alt, jung, tonsuriert, frisiert, modisch? Wohin gehen sie? Erkennt man ihren Wohlstand, ihre Funktion, ihr Geschlecht? Zeigen die Bilder vom Jüngsten Gericht eine Vorstellung von Menschen aus anderen Erdteilen oder Zeitaltern, mit anderen Religionen, Hautfarben, Kleidern – und auf welcher Seite des Richters stehen diese? Entwerfen die Weltgerichte eine Vorstellung der Ewigkeit in Himmel und Hölle, oder verzichten sie darauf und beschränken sich auf den Tag des Gerichts? Maler, die das Formular des Weltgerichts bedienen wollten oder sollten, befassten sich – neben vielen anderen Bildelementen, die hier unbeachtet bleiben können – üblicherweise (1) mit den am Jüngsten Tag aus den Gräbern in ihrem ‘Fleisch’ Auferstehenden und (2) mit den nach der ‘Auferstehung des Fleisches’ (resurrectio carnis), wie es seit den Zeiten Tertullians und noch in jenen Luthers hieß,15 vor dem ewigen Richter Harrenden. Schließlich setzten sie (3) die zu Fleisch gewordenen Verdammten und Geretteten nach dem Richterspruch ins Bild, Figuren in Erwartung oder gar im Angesicht der bevorstehenden, unvorstellbaren Ewigkeit. Ganz ungeachtet aller ästhetischen, bildtheoretischen, theologischen oder politischen Interessen, die einen Maler oder Steinmetz oder Auftraggeber geleitet haben mögen, war eine Aussage zum Bezug des diesseitigen zum jenseitigen Menschen unvermeidbar, wenn die ‘Auferstehung des Fleisches’ im Bild auftauchte. Über viele Jahrhunderte lässt sich im Weltgericht beobachten, wie Maler oder Steinmetze, die dieses leicht wiedererkennbare Bildformular bedienten, die diesseitige Ordnung in ihren Jenseitsprojektionen mehr oder weniger explizit kommentiert haben – in immer anderen Bezugsrahmen von Theologie bis Kunsttheorie, immer anderen Organisationsformen von Kloster bis Kommune, anderen Interessen der Auftraggeber und Käufer, anderen Sehgewohnheiten, Bildtheorien und Ontologien. So dürfte das Bildthema des Jüngsten Gerichts ein naheliegendes Corpus sein, wenn Kategorien gesellschaftlicher Klassifikation – etwa ‘Stände’, Geschlechter oder soziale Funktionen – auf der Grundlage eines Massencorpus beobachtet werden sollen. Immer wieder sieht die Forschung in Weltgerichtsbildern ‘Stände’ inszeniert. Doch die verschwindend geringe Zahl von Bildern ständischer Dreiteilung in anderen Zusammenhängen vor dem 16. Jahrhundert legt nahe, dass auch das umfangreiche Corpus der Weltgerichtsbilder nicht ohne weiteres authentifizieren dürfte, was die Forschung auf der Grundlage verschiedener Textsorten (zu Recht oder zu Unrecht, das mag hier offenbleiben) als ‘mittelalterliches’ ständisches Denken herausdestilliert hat. Der folgende, noch sehr skizzenhafte Einstieg in diese Frage deutet darauf hin, dass es auch Malern oder Steinmetzen des Weltgerichts kaum einmal in den Sinn kam, ihre Energie in
15 Martin Luther, ‘Katechismuspredigt (23. Maij. Symbolum Apostolicum)’ in D. Martin Luthers Werke, kritische Gesamtausgabe (sog. Weimarer Ausgabe), Bd. 30 I, S. 9–11, hier S. 10, Z. 36–37; und öfter: ‘Et sic expectamus donec veniat resurrectio carnis et vita aeterna.’; Tertullian, Treatise on the Resurrection (de resurrectione carnis liber).
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die Visibilität ständischer Klassifikation zu investieren. Nur in sehr wenigen Ausführungen ist ein solcher Impuls zu sehen. Die Karriere des Weltgerichts ist eine Geschichte des 11. bis 16. Jahrhunderts. Für die lateinische Welt gelten zwei kurz nach der Jahrtausendwende entstandene, ungewöhnlich aufwendige Handschriften als erste Zeugnisse für die Darstellung des Weltgerichts in jener gestalterischen Grundstruktur, die einige Generationen später weite Verbreitung finden sollte.16 Eine offensichtlich an außergewöhnlichen Erfindungen interessierte und seinerzeit sehr erfolgreiche Gruppe von Miniaturmalern auf einer Insel im Bodensee, im Kloster Reichenau, hat die beiden Handschriften illuminiert.17 (Abb. 4 und 5) In auffälliger räumlicher Nähe zu dieser Reichenauer Malergruppe sind auch die frühesten Fresken mit dem Thema des Jüngsten Gerichts erhalten geblieben – das eine rund 20 Minuten Fußweg von der Klosterwerkstatt entfernt in der St. Georgsbasilika auf der Reichenau, das andere in der zu Fuß rund 15 Stunden nördlich gelegenen Kirche der seinerzeit vergleichsweise großen Pfarrei Burgfelden. Im folgenden Jahrhundert begannen nördlich der Alpen insbesondere Steinmetze, Weltgerichte über Eingangsportalen von Kathedralen und Klosterkirchen zu installieren. Seit dem 13. Jahrhundert wurde das Jüngste Gericht zum omnipräsenten Bildmotiv in diversen Medien. Im 15. Jahrhundert bot jede größere Kirche südlich wie nördlich der Alpen innen oder außen an zentraler Position ein Weltgericht. Wohl kurz nacheinander18 hat die Malergruppe auf der Reichenau zwei Bücher für den Königshof aufwendig illuminiert, eines heute in Bamberg (Staatsbibliothek Msc. Bibl. 140), das andere in München (Staatsbibliothek Clm 4452). Beide Codices beinhalten sogenannte ‘Evangelistare’, sie versammeln die für die Messe an Heiligenfesten und Herrenfesten (wie Weihnachten, Ostern) notwendigen Auszüge aus den Evangelien. Im Bamberger Codex ist diesen Auszügen die Offenbarung des Evangelisten Johannes vorangestellt. In beiden Handschriften folgen, aus heutiger Sicht erstmals in der lateinischen Welt, Hinweisen auf das Jüngste Gericht großformatige Illuminationen im später
16 Vgl. unter anderem Christe, Das jüngste Gericht, S. 111; oder der Artikel in Lexikon der Kunst, Bd. 3 (Art. ‘Jüngstes Gericht’), S. 573–76; Klein, ‘Le développement du jugement dernier dans le Haut Moyen Age à Reichenau’), S. 45–51. Für das Verhältnis des Schoßes Abrahams als Leitmotiv der Jenseitsimaginationen, das in seiner Verbreitung von den Darstellungen des Weltgerichts abgelöst wurde, vgl. Baschet, Le sein du père. Abraham et la paternité dans l’Occident médiéval, S. 58, hier im Überblick auch die Statistiken auf S. 406–07; für die in der Forschung stets ausführlich diskutierte Vorgeschichte des Bildformulars, das sich seit dem 11. Jahrhundert stabilisierte, in der griechischen wie der lateinischen Welt, sei auf die genannten Bücher von Christe und von Pace/Angheben verwiesen. 17 Über den Hang der Gruppe zu ungewöhnlichen Bildlösungen, der sich durchweg in ihren Arbeiten beobachten lässt, vgl. etwa Kahsnitz, ‘Ungewöhnliche Szenen im Aachener Liuthar-Evangeliar. Ein Beitrag zum Problem des christologischen Zyklus der Reichenauer Buchmalerei’, S. 63–91. 18 Die Datierungsauseinandersetzung ist ausgehend von der Münchener Handschrift zusammengetragen bei Klemm, Die ottonischen und frühromanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, S. 207; vgl. zur Bamberger Handschrift: Suckale-Redlefsen, Katalog der illuminierten Handschriften der Staatsbibliothek Bamberg, S. 90, mit Zusammenstellung konkurrierender Datierungen (zum Beispiel Hartmut Hoffmann: um 1000). Datierungen auch auf den Informationsseiten der Staatsbibliotheken zu den Digitalisaten.
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etablierten Bildformular: In der Bamberger Handschrift, die ungewöhnlich reich mit einseitigen Illuminationen ausgestattet wurde, folgt das Bild des Weltgerichts im vorletzten Kapitel der Apokalypse des Johannes (Apk 21,5-7) den Sätzen: Vnd der auff dem Stuel sass / sprach / Sihe / Jch machs alles new. Vnd er spricht zu mir / Schreibe / denn diese wort sind warhafftig vnd gewis. 6 VND er sprach zu mir / Es ist geschehen. Jch bin das A vnd das O / der anfang vnd das ende. Jch wil dem Durstigen geben von dem Brun des lebendigen Wassers vmb sonst. 7 Wer vberwindet / der wirds alles ererben / vnd ich werde sein Gott sein / vnd er wird mein Son sein.19 In der ebenso aufwendigen Münchener Handschrift, die beinahe durchgängig mit doppelseitigen Illuminationen ausgestattet ist, gehört das Gerichtsbild zum letzten Textblock der Handschrift, der die Texte zur Totenmesse versammelt (Agenda Mortuorum). Hier folgt das Bild des Weltgerichts einem Satz aus dem Evangelium des Johannes ( Joh. 5,28f.): 28 Verwundert
euch des nicht / Denn es kompt die stunde / in welcher alle die in den Grebern sind / werden seine Stimme hören / 29 Vnd werden erfürgehen / die da Guts gethan haben / zur aufferstehung des Lebens.20 Auf der Suche nach Visualisierungen des Ständischen fällt bei beiden frühen Reichenauer Weltgerichtsbildern auf, dass eine Differenzierung der aus ihren Gräbern Herausschauenden und Heraussteigenden offenbar nicht intendiert war. Die Maler haben sich darauf konzentriert, Staunen und Orientierungslosigkeit der Toten zu fassen, aber sie haben keine Energie in die Unterscheidbarkeit der aufgewachten Toten investiert. In der doppelseitigen Version (München, BSB Clm 4452) ist die gesamte linke Seite der Szene des Aufwachens und des Aussteigens aus den Gräbern gewidmet. Nicht einmal die Repräsentation der Geschlechter war ein Anliegen.21 In der einseitigen Version (Bamberg, Msc. Bibl. 140) tragen alle ein ähnliches Gewand, haben alle volles Haar gleicher Länge, nicht einmal Signale zur Unterscheidbarkeit der Geschlechter gibt es. Demgegenüber haben die schon den Gräbern entkommenen Geretteten zur Rechten und Verdammten zur Linken der Engel wieder Zeichen ihres irdischen Daseins. Man erkennt in der Bamberger Handschrift neben vielen nicht spezifizierten Figuren einen König auf dem Weg in die Hölle, einen Bischof 19 Zitiert mit den Worten der Lutherbibel von 1545. Originaltext der Hs. fol. 52v: ‘Et dixit q[ui] sedebat in throno ∙ Ecce ∙ nova facio ∙ om[ni]a ∙ Et dicit mihi ∙ scribe ∙ quia hec verba fidelissima sunt ∙ & vera ∙Et dixit mihi ∙ factu[m] e[st] ∙ Ego sum A & ω ∙ initium & finis ∙ Ego sicienti de fonte dabo aquae vivae ∙ gratis ∙ q[ui] vicerit possidebit eam ∙ & ero illi d[eu]s & ipse erit mihi filius ∙’. 20 Zitiert mit den Worten der Lutherbibel von 1545. Text der Hs. fol. 201r: ‘Nolite mirari hoc ∙ quia venit hora in qua omnes qui in monumentis sunt audient vo-cem filii d[e]I ∙ Et procedent qui bona fecerunt [201v] in resurrectionem vitae’; die zweite Hälfte des Satzes fehlt im Manuskript: ‘Die aber Vbels gethan haben / zur aufferstehung des Gerichts’ (qui vero mala egerunt in resurrectionem iudicii). 21 Selbst wenn man bei genauem Hinsehen einige Figuren mit langen Haaren ausmachen kann. Zum Vergleich mögen ausdrücklicher formulierte nackte Figuren herangezogen werden, so im Bamberger Codex fol. 29v (nackter Mann in den Händen der apokalyptischen Frau), fol. 60r (Personifikationen der Laster), fol. 68v (der gekreuzigte Christus).
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Abb. 4: Darstellung des Weltgerichts gegen Ende des Textes der Apokalypse des Johannes, Reichenau, (circa 1010) (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 140, fol. 53r). (Farbtafel IV)
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Abb. 5: Darstellung des Weltgerichts bei den Texten zur Totenmesse im sogenannten ‘Perikopenbuch Heinrichs II.’, Reichenau (ca. 1007–12) (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, fol. 201v–202r). (Farbtafel V)
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auf jeder Seite, einige Frauen mit Schleiern oder einen als Laie gewandeten Geretteten. Energie in den Einbau eines Mönches mit Habit und Tonsur haben die Reichenauer Maler in keinem der beiden Weltgerichte aufgewandt. Kurz, in diesen beiden frühen Versionen des Weltgerichts – Arbeiten einer Klosterwerkstatt für die Königshöfe – ist kein Interesse daran zu erkennen, eine nach Ständen klassifizierte Gesellschaft zu visualisieren. Augenscheinlich soll man in den beiden Ansammlungen der Geretteten und Verdammten einige wenige Figuren in ihren ehemaligen Funktionen als Könige oder Bischöfe erkennen können. Aber dadurch entsteht keine Bildlichkeit einer ständischen Gesellschaft, nicht mit Blick auf Gerettete und Verdammte, schon gar nicht mit Blick auf die gerade aufwachenden Toten. Auffällig bleibt zudem, dass die Reichenauer Maler zwar in beiden Darstellungen den Weg der Verdammten in den Höllenkrater zur Linken des Richters bildlich gefasst haben, aber der Weg der Geretteten in die Orte der Ewigkeit ist kein Bildthema. Die Hölle ist noch nicht wie später ausgemalt, aber immerhin angedeutet. Die Zukunft der Geretteten und ihre Beziehung zu den im oberen Segment sitzenden Heiligen bleibt eine bildliche Leerstelle. Das Desinteresse an der Klassifizierung oder Differenzierung der Auferstehenden in diesen frühen lateinischen Darstellungen des Weltgerichts fällt insbesondere auf im Vergleich mit den – heute berühmten – monumentalen Darstellungen des Weltgerichts, die kaum zwei Generationen später in ganz anderen Zusammenhängen – in den italienischen Städten Torcello und Capua – realisiert worden sind. Beide Bildwerke werden üblicherweise mit stilistischen und ikonografischen Argumenten dem Kontext der griechischen Kirche zugeordnet.22 Wohl in den 1070er Jahren hat die seinerzeit noch pulsierende Hafenstadt Torcello im Zuge ihres Repräsentationskampfs mit Venedig in ein aufwendiges, wandfüllendes Mosaik des Weltgerichts an der Westwand der Basilika Santa Maria Assunta investiert, zu einer Zeit, zu der das Weltgericht noch weit entfernt von einem gängigen Bildformular war.23 Der hier zu diskutierende Aspekt des Weltgerichts – die Darstellung der Geretteten – ist auf der Laguneninsel mit einem deutlichen Klassifizierungsinteresse gelöst worden. Die Geretteten sind, durch Lücken getrennt, in vier Segmente aufgeteilt, in denen die Figuren jeweils trotz gewisser Variationen eine interne Ähnlichkeit haben. (Abb. 6) Wenn man mit Liz James die Erretteten in Torcello als ‘eingeteilt in Bischöfe, Adlige, Mönche und Frauen’ deuten will,24 so mag in diesen vier Segmenten eine Grundfriktion der ständischen Deutungsmuster jener Zeit aufscheinen.
22 Christe, Das jüngste Gericht, S. 38 findet in Torcello ‘das Bild des byzantinischen Weltgerichts schlechthin, sein monumentales ‘Schaufenster’’; ähnlich Angheben, ‘L’époque Romane (les XIe–XIIe siècles)’, S. 52–84. James, Mosaics in the Medieval Word. From late antiquity to the fifteenth century hingegen summiert ihre Argumentation: ‘It is difficult to be sure what of the Last Judgement iconography is ‘Byzantine’ or ‘Western’’; in Capua findet Christe, Das jüngste Gericht, S. 36 ‘keine Spur von byzantinischem Einfluß’. 23 Zum damaligen Status der heute verschwundenen Stadt Torcello vgl. Crouzet-Pavan, La mort lente de Torcello. Histoire d’une cité disparue; ferner James, Mosaics in the Medieval Word. From late antiquity to the fifteenth century. 24 James, Mosaics in the Medieval Word. From late antiquity to the fifteenth century, S. 346.
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Die Erfinder der Predigten hatten nicht das Problem, verschiedene Arten gesellschaftlicher Dreiteilung miteinander harmonisieren zu müssen – etwa nach kirchlichen Organisationskriterien in Kleriker, Mönche und Laien (rectores – quieti – coniugati, clerici – monachi – laici) oder nach dem Grad ihrer Enthaltsamkeit und des zu erwartenden Lohns in Jungfrauen, Witwen und Verheiratete (virgines – viduae – coniugati) oder funktional in Krieger, Beter und Arbeiter (oratores – bellatores – laboratores, vgl. Abb. 1).25 Sie nutzten je nach Bedarf das eine oder das andere und ließen die Inkohärenzen auf sich beruhen. Die Maler und Steinmetze der Weltgerichtsdarstellungen haben aufs Ganze gesehen ähnlich agiert wie die frühen Maler auf der Reichenau im 11. Jahrhundert; soviel zeigt im Vorgriff auf eine breitere empirische Validierung schon das Studium der berühmten und viel diskutierten Beispiele. Sie haben auf die bildliche Aneignung der aus Predigten geläufigen Klassifikationen verzichtet, haben eher sozial unscharfe Menschenansammlungen bevorzugt, in denen einzelne Figuren durch Tonsur oder Krone mit einer Funktion oder Lebensweise markiert sind. Umso auffälliger sind die sehr wenigen Versuche, ständische Klassifikationen sichtbar zu machen. Die Mosaikleger in Torcello gehören zu jenen sehr wenigen, die eine Klassifizierung ins Bild gesetzt haben, aber entgegen den tradierten Modellen der Sermones vier statt drei Segmente gemalt und diese nicht vereindeutigt haben. Die Mönche und Bischöfe haben keine Tonsuren, obgleich diese in der lateinischen wie in der griechischen Welt das einfachste Erkennungszeichen gewesen wären,26 unter den weltlichen Herrschaftsträgern gibt es niemanden mit Krone oder einer anderen deutlichen Markierung. Wie immer man die drei Gruppen in eine Klassifikation übersetzen mag, eine Kategorie ‘Frauen’ lässt sich nicht sinnvoll einfügen. Auffällig ist diese Lösung in Torcello insbesondere mit Blick auf das in etwa zeitgleich entstandene, ebenfalls die Westwand füllende Fresko in der Klosterkirche Sant’Angelo in Formis in Capua. (Abb. 7) Das Kloster gehörte in den 1070er Jahren zur Abtei Monte Cassino unter Abt Desiderius. Dieser hat die Kirche wiederaufbauen und ausmalen lassen. Der hier interessierende Ausschnitt zeigt zunächst auffällige Ähnlichkeit mit der Lösung in Torcello. Auch hier sind die Geretteten in vier Kategorien eingeteilt. Deutlich voneinander geschieden sind sie aber nicht durch Abstände, sondern durch Kleidung. In Sant’Angelo sollte auf den ersten Blick erkennbar sein, worum es geht: In vier Gruppen klassifiziert stehen die Erwählten ganz so nebeneinander, als sollten ‘Sorten’ – genera oder ordines – ins Bild gesetzt werden. Zur Rechten des Engels ist zunächst eine Gruppe Mönche in mehreren Reihen gestaffelt dargestellt, alle im gleichen schlichten Gewand, alle die Kapuze tragend und dadurch bis in die letzte Reihe deutlich zu identifizieren. Daneben stehen Kleriker gestaffelt, alle bis in die letzte Reihe durch eine unübersehbare Tonsur markiert, daneben eine Gruppe Laien – durchweg Könige – alle bis in die letzte Reihe durch eine Krone
25 Vgl. die Literatur in Anm 2. 26 Für die griechische Welt vgl. Talbot und Kazhdan, ‘Art. Tonsure’, S. 2093–94.
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markiert. Daneben schließlich eine Gruppe von Frauen, alle mit einem Schleier um das Haupt. Deutlich zielten die Maler darauf, dass man die Kategorien sofort erkennen kann und dass die Geretteten wie Schachfiguren nebeneinanderstehend aufgereiht sind – in Orantenhaltung ohne jede Kommunikation. Hier dürften die ‘drei Sorten Menschen’ der Kleriker, Mönche und Laien, von denen seit den Zeiten Augustins gepredigt wurde, Pate gestanden haben, obgleich sie als Bildaussage augenscheinlich auch hier nicht plausibel erschienen, wie die an den Rand gemalte vierte Kategorie der nicht genauer bestimmbaren Frauen nahelegt. Im Paradies (das hier wie in Torcello ganz unten, besonders gut sichtbar angeordnet ist), sind diese klaren Klassifikationen wieder verschwunden, einige klerikale Habits in der ersten Reihe ragen aus einer ansonsten unüberschaubaren und letztlich einheitlichen Menge heraus. Sucht man nach derart deutlichen Klassifizierungen des Ständischen in Weltgerichten der Folgezeit, so bleibt den beiden Monumentalwerken wenig hinzuzufügen. Ausgesprochen fixiert auf die bildliche Darstellung von Ständen war das Weltgericht im ‘Garten der Wonnen’ (Hortus Deliciarum) der Äbtissin Herrad von Hohenburg (gest. 1195), einer enzyklopädisch angelegten, über weite Strecken bildlich argumentierenden Lehrschrift zu Glaubens- und Kirchenfragen.27 In Herrads (im Jahr 1870 verbrannter) Enzyklopädie nimmt die Darstellung des Komplexes von Endgericht, Weltneuschöpfung, Paradies und himmlischer Hierarchie mehrere, aufeinander folgende Seiten ein. Viele Bildsegmente sind – dem didaktischen Impuls folgend – beschriftet. Dabei ist die Denkweise der Traktate und Predigten in Bildsegmente übertragen und beschriftet worden. Klar voneinander geschiedene, jeweils einheitlich gestaltete Gruppen von Geretteten sind unmissverständlich bezeichnet als ‘Eremiten und Inklusen’, ‘Äbte und Mönche’, ‘Päpste, Bischöfe und Kleriker’, ‘Märtyrer’, ‘Kluge Jungfrauen’, ‘Witwen’ (251r) und entsprechend auf der Seite der Verdammten als ‘falsche Jungfrauen’, ‘Pseudo-Äbte und Mönche’ und so weiter (252v). In diesem Werk sollte durch Bild und Beischriften jeder Zweifel daran ausgeschlossen werden, dass die Auferstehendenen nach Ständen getrennt auftreten. Derart getrennt enden die Geretteten auch in der Hierarchie des Himmels zwischen den Propheten, Patriarchen, Aposteln, Märtyrern und Bekennern: Auf einer eigenen, den Weltgerichtsdarstellungen vorausgehenden Seite (fol. 244r) ist der Himmel in neun Etagen eingeteilt, deren jeweilige Bevölkerung nach ordines geschieden ist – ganz oben virgines und dann absteigend apostoli, martyres, confessores, prophete, patriarche, continentes, conjugati und zuunterst die [peni] tentes. Alle tragen Kronen, was auf der folgenden Seite (fol. 244v) – und noch auf zwei weiteren (fol. 247r Erwählte im Paradies, fol. 263r, Schoß Abrahams) – eigens erklärt wird: Coronae designant premia justorum.28 So weit Hohenburg, Capua und Torcello voneinander entfernt sind und so unterschiedlich die Bedingungen waren – die Maler und Mosaikleger der beiden 27 Edition beziehungsweise Rekonstruktion der verbrannten Handschrift von Rosalie B. Green, Herrad of Hohenbourg (Herrad von Landsberg), Hortus Deliciarum. 28 Ebd., S. 216 und 225.
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Abb. 6: Torcello, Kathedrale, Westwand: Die Geretteten nach der Auferstehung, Ausschnitt aus dem Weltgerichtsmosaik, zumeist in die 1070er Jahre datiert (Foto AKG Stock Photo). (Farbtafel VI)
südalpinen Monumentalwerke geben eine Vorstellung davon, dass die ständische Sortierung der Menschen vor dem Weltgericht eine bildliche Option war, die zumindest an einigen weit voneinander entfernten Orten manifest geworden ist. Versuche dieser Art, die Geretteten zu genera – ‘Sorten’, ‘Arten’, ‘Gattungen’ – zu gruppieren, lassen sich also hier und dort in Bildern finden.29 Doch in der Masse der Arbeiten im Formular des Weltgerichts gehen diese Monumente mit ihren Bildformeln des Ständischen unter. Als sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert das Bildformular des Jüngsten Gerichts in vielen Medien etablierte – von Wandfresken über die Tympana der Kirchenportale, Altarbilder, Epitaphien, Miniaturen in Handschriften bis zum Holzschnitt im Frühdruck – setzte sich nichts durch, das mit der Konzentration in Hohenburg, Capua und Torcello auf das Herausarbeiten von ordines oder genera vergleichbar wäre. Die Steinmetze der Tympana an französischen Kathedralen seit dem 12. Jahrhundert kümmerten sich nicht um eine nach Ständen geordnete Gesellschaft, ihre Aufmerksamkeit galt etwa der Fleischlichkeit der Auferstehung oder der Dramatik des Gerichts, sie galt einer Bildlichkeit für Ordnung und Harmonie bei den Geretteten, der Unordnung bei den Verdammten, oder sie galt diversen Einzelheiten des Weges ins Jenseits (von
29 Das Weltgericht im Lippoldsberger Evangeliar (Helmarshausen circa 1150/70, ehemals Kassel, Landesbibliothek, verschollen) wäre ein weiteres Objekt in dieser insgesamt überschaubaren Zusammenstellung.
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denen einige auch autonome Bildthemen waren) – etwa dem Platz Abrahams mit den Seelen der Verstorbenen auf dem Schoß im Rahmen der Gesamtkomposition, dem Moment der Wiederbekleidung der Geretteten durch Engel, der Begegnung mit Petrus vor dem himmlischen Portal und vielen Einzelheiten mehr. Zumeist, nicht immer, sind dabei einige Figuren als Könige oder Mönche gemeißelt. Zwar könnte man derartige Markierungen als Verweise auf ein ständisches Deutungsschema lesen, aber solche Deutungsschemata waren weder ausdrücklich als Thema ins Bild gesetzt, noch eine beiläufige Selbstverständlichkeit. Sie fehlen einfach. Um einige der vielen Varianten zu skizzieren: Die Steinmetze der Abteikirche in Beaulieu um 1130/40 konzentrierten sich offenbar darauf, eine Bildform für die Wiederkehr des Fleisches zu finden. Die Auferstehenden sind merkwürdige Gestalten, die sich kaum einem vertrauten Muster zuordnen lassen. Entsprechend viele, stark divergierende Deutungen haben sie provoziert. Neben Kopfbedeckungen, die vielerlei Vermutungen hervorgerufen haben, fallen die Figuren besonders dadurch auf, dass sie mit einer Hand ihr Gewand hochheben, den Blick auf die Beine freigeben und mit der anderen Hand entweder gestikulieren oder ihr Bein betasten, ganz so, als wollten sie sich ihrer wiedergewonnenen Fleischlichkeit vergewissern.30 Die Steinmetze von Saint Lazare in Autun haben sich um 1130 ganz auf das Drama des Gerichts konzentriert, auf Angst, Verzweiflung, Festkrallen, Schutzsuche, auf Verstecke unter dem Gewand der Engel, auf Schuldige, die – wie bei Darstellungen des Sündenfalls – Rettung in der Bezichtigung anderer suchen. Die Auferstehenden klettern nackt aus den Gräbern, bleiben nackt durch den ganzen dramatischen Prozess des Gerichts, bis sie schließlich, immer noch nackt, in den Fängen eines Monsters landen oder von einem Engel in die himmlische Architektur hochgereicht werden. Funktion oder Status im vergangenen irdischen Dasein spielten für diese Steinmetze oder ihre intellektuellen Ideengeber keine Rolle. Ein halbes Jahrhundert später haben die Steinmetze der Kathedralen im heutigen Frankreich immer wieder verschieden Gekleidete und Nackte kombiniert oder kontrastiert und diese mit Kronen, Tonsuren und anderen Zeichen individueller Distinktion im Irdischen versehen. Aber auch hier sind die Auferstehenden nicht in ständische genera oder ordines gruppiert worden. In Amiens ließen die Steinmetze rechts und links der Gerichtswaage zumeist Nackte aus den Gräbern steigen, in einem eigenen Register, darüber werden die Erwählten und die Verdammten ihrem Schicksal zugeführt. Die Geretteten sind inzwischen bekleidet, aber so wenig distinkt und sortiert, dass es nicht um eine Projektion von Ständen gegangen sein kann – wie die Geretteten an ihre Kleider kommen, wird nicht gezeigt. Die Verdammten bleiben in Amiens nackt, klagend,
30 Die Auferstehung des Fleisches gilt als zentrale Botschaft der Weltgerichtsdarstellungen, so dass Experimente für eine Bildsprache für Fleisch zu erwarten sind. Man diskutiert, ob in Beaulieu ein Weltgericht oder ‘nur’ eine Wiederkehr Christi gemeißelt worden ist; da in beiden Fällen die Toten auferstehen, muss diese Frage hier nicht weiterverfolgt werden; die divergierenden Deutungen sind zusammengetragen bei Büttner, Die Körper verweben. Sinnproduktion in der französischen Bildhauerei des 12. Jahrhunderts, S. 215–25.
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Abb. 7: Capua, Sant’Angelo in Formis: Die Geretteten nach der Auferstehung, Ausschnitt aus dem Weltgerichtsfresko der Westwand (Foto AKG Stock Photo 2068283). (Farbtafel VII)
werden von Engeln bewacht und von Monstern einem monströsen Schlund zugeführt. Hier wie bei den Geretteten sind bisweilen Reste des Irdischen vor Augen geführt, zumeist die aus der Distanz am einfachsten erkennbaren, Kronen und Tonsuren. Andere Steinmetze, so jene von Notre-Dame in Paris, haben schon die aus den Gräbern Kletternden detailreich bekleidet. Ein Ritter in sorgfältig ausgeführter Rüstung, ein König, eine Königin, und diverse andere öffnen in präzis ausgeführten Kleidern die Grabplatten. Aber eine Etage höher sind zur Rechten des Engels alle Gerechten gleich gewandet und durchweg gekrönt, zur Linken hingegen bleiben die Verdammten so variabel wie in den Gräbern. Seit der Verbreitung des Bildthemas auf Altarbildern und generell Tafelbildern verschwanden die Register zugunsten durchgängiger Auferstehungslandschaften, die an die Logik des Erfahrungsraums anknüpfen. Damit gerieten auch neue narrative Augenblicke in den Fokus, die den Weg der Einzelnen vom Hochheben des Grabdeckels bis zum Durchschreiten des Himmelstores zu einer durchgängigen bildlichen Erzählung machen. Aus den diversen Bildlösungen für diese Auferstehungswanderungen diskursive Trends im Umgang mit den Erretteten, den Vorstellungen vom Jenseits und der Rolle des Ständischen vor und nach dem Weltgericht herauszuarbeiten, kann im Rahmen dieser Skizze nur vorbereitet und als eine ertragreiche Perspektive entwickelt werden. Die Bildform der Ständegesellschaft, mit der Johannes Lichtenbergers Pronosticatio (Abb. 1) die
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modernen Autoren, Verlage und Illustratoren des ‘Mittelalters’ weniger gerettet als zur bequemen, aber falschen Lösung verführt hat, diese Bildform der funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft von 1488 wird man auch in den Weltgerichten von Lichtenbergers Zeitgenossen nicht finden. Die vielen verschiedenen Lösungen im Umgang mit Kleidung und der Bekleidungsszene, ebenso mit der immer dominanter werdenden Nacktheit auf dem Weg vom Grab in die himmlische Ewigkeit dürften Perspektiven auf soziale und ontologische Reflexionen ermöglichen, die dem Narrativ der ‘mittelalterlichen Ständegesellschaft’, einem zentralen Baustein des Epochenkonzepts, die Selbstverständlichkeit nehmen. Natürlich kann es nicht darum gehen, allein mit Blick auf die Produkte der Maler und Steinmetze eine Gegenerzählung zu entwickeln. Es geht eher darum, dass die Geschichtswissenschaft in einem geisteswissenschaftlichen Kontext arbeitet, der längst medientheoretische und medienvergleichende Perspektiven zentral stellt. Das Reservoir der medienspezifischen Diskurse, die für die geschichtswissenschaftlichen Vergangenheitsbilder gleichermaßen konstitutiv sein sollten, ist größer geworden. Es geht also darum, die Vorstellung einer ‘mittelalterlichen Ständegesellschaft’ zu überprüfen und dabei bildliche Diskurse in den Kreis des konstitutiven Materials zu integrieren. Wenn eine zur Bestätigung eines geschichtswissenschaftlichen Narrativs immer wieder herangezogene Bildidee so offensichtlich die Sicht auf die Materiallage verstellt wie im Fall der Pronosticatio, dann bedarf es einer Überarbeitung des Deutungsmodells.
Thomas Schilp
Stadtbau und Memoria Das memoriale Pienza (1459–64) und Sabbioneta (1554–91) Die Zeit, in der die Historiker glaubten, sie müßten ausschließlich mit schriftlichen Zeugnissen arbeiten, ist seit einer Weile vorbei. Bereits Lucien Febvre forderte dazu auf, Unkräuter, Feldformen und Mondfinsternisse in Untersuchung zu nehmen; weshalb dann nicht auch Gemälde […]? Auch sie sind schließlich Zeugnisse politischer oder religiöser Geschichte.1
I. Prolegomena S. 140 – II. Handlungsfelder der ‘Frührenaissance’ – zwei Exempla S. 146 – III. Pienza (1459–64): 1. Pius II.: Biographie, Pienza, Commentarii S. 161 – 2. Rezeption und Forschung S. 170 – 3. Pius besucht Corsignano S. 175 – 4. Die Kathedrale S. 181 – 5. Palazzo Piccolomini; Bischofspalast und Domkanonikerhaus S. 192 – 6. Stadtbau, Stadterhebung S. 199 – 7. Das memoriale Pienza S. 207 – IV. Sabbioneta (1554–91): 1. Zur Biographie des Stadtgründers Vespasiano Gonzaga S. 211 – 2. Der Stadtbau S. 213 – 3. Gebäude und Ausstattung S. 219 – 4. Testament und Grablege S. 232 – 5. Intentionen: Sabbioneta – Residenzstadt und profanisierte Memoria S. 237 – V. Conclusio S. 244
1 Ginzburg, Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, S. 23, eine Aussage, die Otto Gerhard Oexle mit seinem Ansatz der Entwicklung einer historischen Kulturwissenschaft und bereits mit dem Aufsatz über das Memorialbild (‘Memoria und Memorialbild’, 1984 (Nr. 35), S. 384–440) zweifellos und mit gutem Grund wesentlich offensiver formuliert hätte. Siehe hierzu auch den Beitrag von Wilfried Reininghaus in diesem Band. – ArnoudJan Bijsterveld, Klaus Lange, Martin Loiperdinger, Michael Schilp und Annemarie Stauffer ist für die kritische Lektüre und Diskussion des Aufsatzes, Arnd Lülfing, Dortmund, für die Umzeichnung und graphische Gestaltung der Stadtpläne beziehungsweise -grundrisse (Abb. 7 und 36) zu danken. Dank gebührt auch den kritischen Studierenden meiner Seminare im Sommersemester 2018 und Wintersemester 2018/2019, mit denen ich einige Teile der folgenden Überlegungen diskutieren konnte.
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 139–248. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117997
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I. Prolegomena Die Städte Pienza in der südlichen Toskana und Sabbioneta in der Lombardei sind heute touristische Reiseziele. Pienza ist im Sog des toskanischen Massentourismus vor allem für angelsächsische und deutschsprachige Reisende eine Kulisse italienischer Lebensart, ein Ort der Italiensehnsucht; die Stadt versinnbildlicht nostalgische Romantik südlicher Landschaften und italienischen Lebens. Sabbioneta hingegen stößt eher auf das wachsende Interesse intellektueller Reisender. Beide Orte symbolisieren als Kleinstädte einen wesentlichen Teil dessen, was wir mit Italien des 15. und 16. Jahrhunderts verbinden; in beiden Städten sind deren Bauherren bis heute präsent. Im Folgenden sind der Kontext von Memoria und Fama der Erbauer sowie von deren Familien Gegenstand der Diskussion. Pienza hat erst anlässlich des Baus und der rechtlichen Erhebung zur Stadt 1459 bis 1464 den Namen angenommen: Enea Silvio Piccolomini, am 19. August 1458 zum Papst Pius II. gewählt, hat zu Beginn seines Pontifikats und des Jahres 1459 – auf einer Reise nach Mantua zu einer von ihm einberufenen Fürstenversammlung – seinen Geburtsort Corsignano besucht, um hier eine neue Stadt errichten zu lassen, die von nun an nach seinem Papstnamen Pienza genannt wurde. Der Papst hatte beschlossen, im Zentrum – rund um eine Piazza gruppiert – einen Palazzo für sich und seine Familie, eine Domkirche, einen Palazzo für den Bischof mit benachbartem Gebäude für die Domkanoniker, und schließlich nach dem Vorbild der toskanischen Rathäuser einen Palazzo Pubblico für die Stadtgemeinde errichten zu lassen. Eine neue Stadt entstand binnen weniger Jahre. Ebenso wird Sabbioneta zwischen 1554 und 1591 von Vespasiano Gonzaga zur Residenz und Stadt ausgebaut.2 Otto Gerhard Oexle hat sich wiederholt kurz zu diesem Vorgang in Pienza geäußert, am ausführlichsten in einem Aufsatz zur Fama und Memoria Heinrichs des Löwen,3 da für Pienza die von Pius II. in den von ihm geschriebenen Commentarii selbst formulierten Intentionen völlig andere gewesen sein müssen als die von der modernen kulturwissenschaftlichen, vor allem architekturhistorischen Forschung zugeordneten: Die Piusstadt sei ‘Stadt in Utopia’, ‘Idealstadt’4 oder der ‘Entwurf
2 Wenn im Folgenden wiederholt über Objekte der Kunst und Architektur gehandelt wird, so geschieht dies selbstredend aus Sicht des Historikers, dem seine spezifischen fachlichen Methoden der Fragestellung und deren Bearbeitung zur Verfügung stehen. Damit werden Kunstwerke oder Architektur, auch von Elementen oder Details, nicht in ihrer Ganzheit erfasst, aber dennoch gelingt es Fragen des Historikers durchaus, den Funktionen der Kunst oder Architektur näher zu kommen, Fragen der Ikonographie mitzudiskutieren, soziale, religiöse, philosophische, politische oder ökonomische Einordnungen vorzunehmen und dergleichen mehr, ähnlich, wie es bereits Carlo Ginzburg 1981, noch sehr vorsichtig, aber paradigmatisch aus Sicht des Historikers für Interdisziplinarität argumentierend in seiner Einleitung zu Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, S. 15–26, formuliert und wie es Otto Gerhard Oexle in zahlreichen Arbeiten getan hat. 3 Oexle, ‘Fama und Memoria Heinrichs des Löwen: Kunst im Kontext der Sozialgeschichte’, 1998 (Nr. 134), S. 1–25, 1–3. 4 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 20–33, passim.
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einer humanistischen Weltsicht’.5 Pius nämlich gibt als Motiv für den Neubau und die Stadterhebung Corsignanos an, ut memoriale sue originis quam diuturnum relinqueret,6 stellt mithin als konstitutives Motiv seiner Bemühung um Corsignano beziehungsweise Pienza einen Zusammenhang von Memoria, Herkunft und Geschlecht her. Es ging ihm um Erinnerung und Ruhm der Piccolomini, um Memoria und Fama der Papstfamilie sowie des Papstes, seiner selbst: Pienza als […] das Familiendenkmal ist auch ein Monument der Person. Das Individuum definiert sich und expliziert sich in Erläuterung seiner Zugehörigkeit zu der familialen Gruppe, der es entstammt, und für deren Memoria und Fama es Sorge trägt, – und das ist gewiß nicht nur in der sogenannten Renaissance so.7 Für Oexles, die Felder der Erforschung des Totengedenkens im Sinne einer Historischen Kulturwissenschaft weitenden Blick8 war der Zusammenhang zwischen Stadterhebung, Stadtbau und Memoria in Pienza evident. Diesen Kontext gedanklich weiter zu verfolgen, ist Aufgabe dieser Abhandlung. Über viele Jahre hat Oexle mit mir über den Kontext von Stadterhebung beziehungsweise Stadtgründung und Totengedenken, nicht nur Pienzas, diskutiert. Überhaupt haben wir uns in den langen Jahren unserer Bekanntschaft und späteren Freundschaft über die Bedeutung des Totengedenkens für die Kultur und das Selbstverständnis der spätmittelalterlichen Stadt ausgetauscht.9 Oexle hat das Projekt zur Memoria und Kultur der mittelalterlichen Stadt Dortmund, das ich seit 2002 und bis 2014 zusammen mit der Dortmunder Kunsthistorikerin Barbara Welzel moderiert habe,10 stets interessiert und kritisch begleitet; unsere
5 So der Buchtitel der umfangreichen und wertvollen architekturhistorischen Untersuchung: Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, auch mit einer Erfassung zahlreicher Schriftquellen und der Diskussion der wichtigsten Literatur. Ohne dieses Buch wäre die vorliegende Studie nicht in überschaubarer Zeit bearbeitbar gewesen. 6 Enea Silvio Piccolomini – Papa Pio II, I Commentarii, (2 Bde.), Edizione a cura di Luigi Totaro, hier: Bd. 1, Liber II, 20, S. 314; im Folgenden sind die Commentarii von Enea Silvio Piccolomini / Pius II. stets nach dieser Edition unter Angabe des Editionsbandes und des Liber zitiert, in der Form: Commentarii 1 oder 2, Liber und Abschnitt sowie die Seitenangabe der Edition; zur hier zitierten Textstelle siehe im Einzelnen unten S. 177 ff. Weitere textkritische Editionen: Pii II commentarii rervm memorabilivm qve temporibvs svis contigervnt (2 Bde.), hrsg. von Adrianus van Heck; Pii Secundi Pontificis Maximi Commentarii, Textum recenserunt atque explicationibus (2 Bde.), hrsg. von Ibolya Bellus und Iván Boronkai. Zuvor unterlagen die Commentarii der kurialen Zensur und waren für die Forschung als Handschrift nicht, oder in Druckform in verschiedenen Ausgaben zensiert, also nur eingeschränkt, zugänglich. Alle Überlegungen beruhten bis 1983/1984 auf der aufgrund der Zensur beschränkten Edition: Pii secunid Pontificis Max. Commentarii rerum memorabilium […] (Romae: 1584) (Nachdruck Frankfurt am Main, 1974, sowie http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver. pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10165682-2). 7 Oexle, ‘Fama und Memoria Heinrichs des Löwen: Kunst im Kontext der Sozialgeschichte’, 1998 (Nr. 134), S. 2 f. 8 Siehe hierzu den Aufsatz von Wilfried Reininghaus in diesem Band. 9 Schilp, ‘Stadtkultur im spätmittelalterlichen Dortmund. Der Berswordt-Altar im Kontext spätmittelalterlicher Denk- und Handlungsformen’, S. 13–68, und Oexle, ‘Die Stadtkultur des Mittelalters als Erinnerungskultur’, 2004 (Nr. 219), S. 11–28. 10 Siehe hierzu die Publikationen der Reihe Dortmunder Mittelalter-Forschungen, Bd. 1–15 (Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2003–2012) sowie der Reihe Dortmunder Exkursionen zur Geschichte und Kultur, Bd. 1–4 (Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2009–2013).
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Dortmunder Tagungen hat er durch Vorträge und folgend Aufsätze in den Tagungsbänden tatkräftig unterstützt.11 Auch die vorliegende Untersuchung, die auf meine Antrittsvorlesung an der Ruhr-Universität Bochum am 3. Februar 2016 zurückgeht12 und einen Teil eines größeren Forschungsprojekts vorstellt, geht auf den regen gedanklichen Austausch mit Oexle zurück.13 Die Erörterung der Intentionen und Handlungen von Pius II. für die Stadterhebung und den Stadtbau in Pienza sowie von Vespasiano Gonzaga in Sabbioneta, und der von ihnen eingesetzten Mittel, werden im Folgenden Hauptgegenstand der Diskussion sein. Damit wird zugleich der grundlegenden Frage der europäischen Kultur-Geschichtsschreibung nachgegangen, ob und inwiefern ‘Renaissance’ die Lösung vom Denken und Deuten des Mittelalters beinhaltete,14 da sowohl für Pienza als auch für Sabbioneta ‘Renaissance’ als Erklärung angeführt wird: Zu fragen ist doch, ob der von der Forschung seit etwa 1850 aufgemachte Gegensatz von Mittelalter und einer Moderne, die sich in Renaissance spiegelt, aufrechtzuerhalten ist. Dies ist auch deshalb relevant, weil nicht zuletzt diese Deutungen sehr rasch zu einem wesentlichen Bestandteil des breiten bürgerlichen Bildungsbewusstseins wurden und bis zum heutigen Tag sind. Mit der Anknüpfung von Renaissance und Humanismus an Philosophie und Literatur, Architektur und Kunstformen der Antike – so diese Ansicht – sei das Mittelalter, das ‘dunkle Jahrtausend’, überwunden und der neue,
11 Es entstanden die Aufsätze von Oexle: ‘Die Stadtkultur des Mittelalters als Erinnerungskultur’, 2004 (Nr. 219), S. 11–28; ‘ Erinnerungsorte“ – eine historische Fragestellung und was sie uns sehen lässt’, ” 2009 (Nr. 263), S. 17–38; ‘Das Mittelalter in unserer Gegenwart’, 2011 (Nr. 279), S. 23–44. 12 Mit dem Vorlesungstitel: Utopie – Ideal – Vision? Stadtgründungen zum Totengedenken: Der Fall Pienza (1459–64). 13 Bei den regelmäßigen Besuchen bei Oexle in der von Krankheit überschatteten und sein Leben abschließenden Refrather Zeit haben wir (fast) immer angeregt fachlich diskutiert. Am Krankenbett habe ich Oexle auf dessen ausdrücklichen Wunsch, aber mit persönlicher Verhaltenheit ob der ungewöhnlichen Situation, meine Bochumer Antrittsvorlesung wiederholt; Oexle, so seine Worte, wollte einfach sehen und hören, wie ich den Inhalt vortrage, um dann bei den nächsten Besuchen nicht nur den Vortrag ausführlich mit mir zu diskutieren, sondern auch die zugrundeliegenden Fragestellungen über die Bedeutung der Memoria für die Konstitution von mittelalterlicher Stadt, die Bedeutung der sakralen Selbstdeutung der Stadt, den Stadtbegriff, Webers Stadtbegriff und dergleichen mehr. Für diese anregenden Gespräche war und bin ich außerordentlich dankbar – sie haben mich tief beeindruckt sowie manche Überlegung für die Zukunft, auch für diesen Aufsatz, gefördert. 14 Vgl. hierzu kritisch Oexle, ‘Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte’, 1997 (Nr. 122), S. 330: ‘Dabei enthalten die Imaginationen immer eine Bejahung der Gegenwart, eine Bejahung des Fortschritts nämlich, der – in der Überwindung des Mittelalters – von der Renaissance her zur Moderne und gerade durch die Renaissance zur Moderne geführt haben.’ Siehe zum Komplex auch den Überblick von Hageneier, Jenseits der Topik. Die karolingische Herrscherbiographie, S. 9–31. Zur Kritik der Renaissance als Epochenbegriff siehe grundsätzlich Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, vor allem S. 53–88 mit dem Nachweis, wie von Jules Michelet (1798–1874) im 19. Jahrhundert die ‘Renaissance erfunden wurde’ (S. 55, siehe dort auch die Nachweise der Werke von Michelet sowie der einschlägigen Literatur). Michelet hat die Renaissance als ‘Übergang zur modernen Welt’ bezeichnet und meinte damit eine Epoche der ‘Rückkehr zum Heidentum, zum Genuss, zur Sinnlichkeit und zur Freiheit’. Jacob Burckhard habe diese ‘Erfindung der Renaissance’, so Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, S. 61, erst popularisiert.
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der moderne Mensch geformt worden.15 Jacob Burckhardt hat dies 1860 in seinem großen Werk ‘Die Kultur der Renaissance in Italien’ paradigmatisch formuliert und damit das Zeitbewusstsein der Moderne über das Mittelalter nachhaltig geprägt: Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber dem Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den andern Asiaten als Rassenmenschen.16 Burckhardt kennzeichnete die Moderne im Gegensatz zum Mittelalter – die Befreiung aus mittelalterlichen Bindungen bedeutete ihm hier Ausbildung des ‘modernen Menschen’, des ‘Individuums’. Damit hat er theoretisch eine wesentliche Bestimmung des Menschen negiert, eine anthropologische Grundkonstante 15 Zweifellos hat die sogenannte Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts mit der erneuten Rezeption der Antike eine neue laikale Kultur ausgeprägt, nicht die erste während des Mittelalters. Gerade in der bildenden Kunst hat diese Zeit Formen entwickelt, die fast zwanglos bis in die Moderne zu wirken scheinen – denken wir etwa an die Werke von Albrecht Dürer, des jüngeren Holbein, von Giovanni Bellini und Andrea Mantegna, der florentinischen Renaisancekünstler, von Antonello da Messina, Raphael, Leornardo da Vinci, aber auch an die der niederländische Maler seit van Eyck mit Memling und Rogier van der Weyden, um nur einige wenige Meister der Zeit zu nennen. Ihre Formen des Porträts bringen wirkliche Individuen zur Geltung, zugleich aber etwa den Herrscher, den Patrizier, den hohen Beamten, die vornehme Frau in jeweiliger Typik. In all diesen Werken ist man wie die Zeit selbst bemüht, das Erbe der Antike mit dem Christentum zu vereinen und zu versöhnen, ein Unternehmen behaftet mit der Problematik, das Wissen und die Kenntnis der paganen Antike mit christlicher Religion in Übereinstimmung zu bringen, selbst wenn sie gar nicht passt; denken wir etwa an die antiken Götterwelten oder auch an die Rezeption der Kritik jeder religiösen Welterklärung durch Epikur, überliefert durch Lukrez. Siehe zum Problemkreis Oexle, ‘Das Menschenbild der Historiker’, 2002 (Nr. 183), hier zitiert nach 2011 (Nr. 270), S. 987–91, mit der Fassung als ‘laikale Sonderkultur […], die sich der dominanten aber keineswegs ausschließlich wirksamen Kultur des Mittelalters und der von ihr propagierten Form der Gesellschaft entgegenstellen und doch zugleich auch ein Teil von ihr sind.’ (S. 988). Die Kultur Siziliens im Hochmittelalter mag als Exempel einer mittelalterlichen Sonderkultur angeführt sein. 16 Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 99. Vgl., auch zum Folgenden, Oexle, ‘Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber’, 1994 (Nr. 91), S. 115–18, den ich weitgehend referiere, mit den Hinweisen auf weiterführende Literatur. Von der bisherigen Forschung übergangen ist, soweit ich dies überblicke, der der Argumentation Burckhardts im angeführten Zitat, und auch den sogleich anzuführenden Gedanken ‘Über das Mittelalter’, zugrundeliegende Rassismus, der die Gedankenführung zur Kultur der Renaissance in Italien a priori als fragwürdig erscheinen und einmal mehr als eine Selbstdeutung der Moderne in der kontrastierenden Wertung von Renaissance und Mittelalter erkennen lässt. Siehe zudem Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S.100: ‘Dantes große Dichtung wäre in jedem andern Lande schon deshalb unmöglich gewesen, weil das übrige Europa noch unter jenem Banne der Rasse lag.’
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geleugnet: Mit seinem Willen nämlich definiert und erklärt sich der Mensch stets als Individuum.17 Zu Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts äußerte sich Burckhardt im Übrigen abermals zur diametralen Entgegensetzung von Mittelalter und Moderne: Erstmals die Renaissance habe über das Mittelalter von einem Jahrtausend gesprochen, das durch die ‘Züchtigung der Menschheit […] in den Ruf der Barbarei kam’.18 Bei den Fragmenten zu den ‘Weltgeschichtlichen Betrachtungen’, die sich in seinem Nachlass fanden und eigentlich nach seiner Verfügung nicht veröffentlicht werden sollten, lagerte auch ein Manuskript ‘Über das Mittelalter’. Burckhardt formulierte hier desillusioniert im allgemeinen Niedergang der Fortschrittseuphorie von Industrie, Naturwissenschaft und Technik, Nationalstaaten und neuer politischer Welt, enttäuscht vom Fortschrittsglauben, der das Denken seiner Lebenszeit bestimmt hatte: ‘[…] das Mittelalter war die Jugend der heutigen Welt […] Was uns lebenswert ist wurzelt dort. Für unseren jetzigen Niedergang ist das Mittelalter nicht verantwortlich!’19 Im Gegensatz zur Moderne war das Mittelalter jetzt ‘eine Zeit der selbstverständlichen Autoritäten’ und war nicht den ‘Wogen der Majoritäten von unten herauf ’ ausgeliefert, denen die moderne Kultur ‘verfallen’ sei. Das Mittelalter geriet ihm zur positiv besetzten Welt im Gegensatz zu den aktuellen gesellschaftlichen Prozessen der Zeit, die Burckhardt als Verhängnis, als destruktiv wertete: Indem wir nun überzeugt sind, daß die Kunde vom Mittelalter mit zum Teuersten gehört, was wir besitzen, nämlich zu der großen allgemeinen Kunde von der Kontinuation des Geistes, welche uns von den Barbaren (auch den sehr modernen) unterscheidet. Lassen wir alles Urteil nach bloßen Wünschbarkeiten, nach angeblichem Glück und Unglück in der Vergangenheit möglichst aus dem Spiel, als Täuschungen.20
17 Dies ist Grundannahme jeder Philosophie, siehe etwa Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 665 f.: ‘Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit – Bis dahin jedoch sind seine Wünsche gränzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen.’ 18 Burckhardt, ‘Über das Mittelalter’, in Ders., Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 248–55, abgefasst (1882/1884), hier S. 248. Burckhardt fährt hier fort: ‘Diese Auffassung hat sich zuerst im Namen und Sinn der Renaissance ausgesprochen, dann im Namen besonders des modernen Großstaates – man bemitleidete die Zersplitterung der Macht im Staat des Mittelalters –, dann im Namen der Weltkultur.’ Siehe zu ‘Über das Mittelalter’ die Bemerkungen und Ergänzungen der Herausgeber, ebd., S. 470 f., unter anderem S. 471: ‘Die Kunde des Mittelalters aber ist ein großes, unentbehrliches Glied der Kunde von der Kontinuität der menschlichen Entwicklung, ohne welche der heutige Mensch ein Barbar ist. Es ist Teil vom Ganzen des Lebens der Menschheit.’ 19 Ebd., S. 254. 20 Ebd., S. 249. Interessanterweise hatte zuvor Jules Michelet eine genau umgekehrte Entwicklung der Deutung von Mittelalter und Renaissance durchlaufen: In seiner großen Geschichte Frankreichs, die seit 1833 erschien, rühmte er das Mittelalter als ‘lichtvolle, schöpferische Periode, die seiner Vorstellung von einer fruchtbaren, glanzvollen Geschichte bis zum Aufbruch des 16. Jahrhunderts und der Reformation entsprach’, so umreißt Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, S. 53 die Kernthese Michelets, um dann seit 1840, wie geschildert, das genaue Gegenteil zu vertreten. Offen
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Auffällig ist hinsichtlich der sogenannten Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts im Übrigen, dass wir es nicht mit der ersten ‘Wiedergeburt der Antike’ zu tun haben: Bereits die Regentschaft Karls des Großen wurde und wird immer wieder als ‘karolingische Renaissance’ benannt,21 weil das politische System im Rahmen der Bemühungen um die Wiederherstellung des Imperium Romanum nicht nur an Konstantin den Großen anschloss,22 sondern eine Renovatio Imperii durch politische und rechtliche Anknüpfungen an die Antike versuchte, das antike Wissen durch eine gigantisch anmutende Abschriftensammlung in den Klosterund Dombibliotheken zu bewahren, und zudem eine reichsweite Schriftreform durchführte, damit dieses Wissen einheitlich überliefert und rezipierbar wurde, um nur einige Aspekte zu nennen. Für das (11. und) 12. Jahrhundert ist von einer aristotelischen Renaissance gesprochen worden,23 die auch die dominikanische Rezeption antiker Philosophie und die Umsetzung in neue theologische und philosophische Konzepte während des 13. Jahrhunderts zur Renaissance werden lässt. Mir scheint auch hier, dass die Moderne in der Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit sich selbst in der Deutung des Mittelalters reflektiert, doch berühren wir damit eine Thematik, die den Rahmen unserer Überlegungen sprengt, und belassen es bei diesen Hinweisen. Es wird im Folgenden unter Zugrundelegung der entwickelten Fragestellungen 1. um die Auffassung von ‘Stadt’ in der sogenannten Renaissance gehen, denn das Dorf Corsignano wurde zur Stadt Pienza erhoben und Sabbioneta wurde als Stadt erbaut. Hierbei wähle ich als Ausgangspunkt zwei Kunstwerke in Arezzo und in Prato aus der Zeit des Pontifikats Pius II. (1458–64), die allgemein als herausragende Werke der Mitte des 15. Jahrhunderts und der ‘Renaissance’ anerkannt sind, um von hier aus Hypothesen zum Charakter und zur Selbstdeutung der spätmittelalterlichen Stadt und der Menschen dieser Zeit zu formulieren. 2. Es sind sodann, im eigentlichen Hauptteil, die Intentionen der Stadterhebung Pienzas unter Berücksichtigung des Forschungsstands zu analysieren und neu zu bewerten, um 3. auf den Stadtbau in Sabbioneta im Kontext von Memoria und Fama einzugehen.
bleibt bei Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay und seinem Plädoyer für die Auffassung eines ‘langen Mittelalters’ (S. 115–56) die grundsätzliche Frage, warum das 19. Jahrhundert mit Michelet und Burckhardt begann, den Auftakt der Moderne in der Deutung eines ‘dunklen Mittelalters’ und einer areligiösen, der Zukunft zugewandten Epoche der sogenannten Renaissance zu ‘erfinden’. 21 Bis hin zu Buch- oder Aufsatztitel ist diese Bezeichnung üblich geworden, siehe etwa nur: Patzelt, Die karolingische Renaissance. Beiträge zur Geschichte der Kultur des frühen Mittelalters, oder Schupp, ‘Althochdeutsche Bibeldichtung und karolingische Renaissance’. 22 Siehe hierzu Grimme, ‘NOVUS CONSTANTINUS. Die Gestalt Konstantins des Großen in der imperialen Kunst der mittelalterlichen Kaiserzeit’, 11–14, mit zahlreichen Hinweisen auf die Ikonographie des politischen Programms der Erneuerung des Reichs Karls des Großen im Geiste Konstantins. 23 Siehe Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, sowie ähnlich: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert. Kritisch dazu neuerdings Rexroth, Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters, S. 264–83, der in anderem Zusammenhang sachlich mit Berechtigung von der ‘Renaissance des wissenschaftlichen Denkens und Wissens (um 1070–1115)’ spricht, so die Überschrift eines Kapitels, S. 119.
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II. Handlungsfelder der ‘Frührenaissance’ – zwei Exempla 1. Handlungsort: Arezzo in der Toskana, Hauptchorkapelle der Kirche des Franziskanerklosters, ausgemalt zunächst von Bicci di Lorenzo, vor allem aber, und für unseren Kontext von Bedeutung, von Piero della Francesca (vor 1466):24 Dargestellt sind in den durchaus modern anmutenden und über Jahrhunderte weitgehend unbeachtet gebliebenen Wandmalereien25 Szenen der Kreuzlegende nach der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, verfasst um 1263. Wie in der Legenda aurea stellt der Aretiner Gemäldezyklus Episoden des Alten Testaments einige Szenen der Legende der Kreuzfindung, -erhebung und -rückführung nach Jerusalem gegenüber. Die Forschung hat nicht nur über die Datierung des Großwerks diskutiert,26 sondern im Zusammenhang der Datierung auch um die Gründe gestritten, warum der Maler in der Mitte des 15. Jahrhunderts für die von der Familie des Aretiner Fernhändlers Baccio di Masi Bacci und Verwandten finanzierte Ausstattung der Hauptchorkappelle des Franziskanerklosters die Kreuzlegende zum Gegenstand gewählt hat. In Anknüpfung an Überlegungen von Aby Warburg hat vor allem Carlo Ginzburg einen geschichtlichen Bezug hergestellt, indem er die Schlachtenbilder des Zyklus27 auf die Eroberung von Konstantinopel (1453) und die Belagerung Belgrads durch die Türken (1456) bezog und so die Datierung dieser Gemälde Pieros auf die Zeit nach 1456 vornahm.28 Mit einem Teil der Forschung weist Steffi Roettgen demgegenüber darauf hin, dass die Kreuzlegende für Franziskaner eine geläufige Thematik war, zumindest seit 1342, als der Orden mit der Pflege der heiligen Stätten in Jerusalem betraut worden war. Die aretinische Darstellung Pieros nähme, so die Argumentation, aus diesem Grunde deutlichen Bezug auf die Heiligen Stätten in Jerusalem, brauche also den ‘profanen Bezug’ überhaupt nicht. Die beiden Argumentationen müssen indes nicht als unauflöslicher Widerspruch verstanden werden, zumal Steffi Roettgen selbst betont, dass die Franziskaner zu den entschiedenen Befürwortern eines Kreuzzugs gegen die Türken nach dem Fall Konstantinopels und deren Vorrücken in den christlichen Okzident zählten.29
24 Zum Ausmalung der Hauptchorkapelle siehe Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Band 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, S. 224–53, mit hervorragenden Abbildungen; siehe hier auch die Nachweise der wichtigsten älteren Literatur und der Diskussionen in der Kunstgeschichte um dieses Werk Pieros della Francesca. Instruktiv das ‘Vorwort’ von Martin Warnke zu Carlo Ginzburg, Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, S. 7–14. 25 Siehe hierzu Warnke, ‘Vorwort’, S. 7. 26 Siehe die Übersicht bei Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Band 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, S. 226–28. 27 Schlacht an der Milvischen Brücke: Konstantin besiegt Maxentius im Zeichen des Kreuzes; Schlacht des Kaisers Heraklius gegen die Perser und Hinrichtung des Perserkönigs Chosroe. 28 In Anknüpfung an Aby Warburg, ‘Piero della Francescas Konstantinsschlacht in der Aquarellkopie des J. A. Ramboux’ (1912), S. 254, mit der These, dass in der Konstantinsschlacht des Piero della Francesca Byzanz im Sinnbild der Kreuzlegende seinen ‘Hilferuf gegen den Türkenschrecken’ vorgetragen habe, vor allem Ginzburg, Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance, S. 39–71. 29 Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Band 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, S. 230 f.
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Es dürfte sich um zwei Bedeutungsebenen der Ausmalung der Hauptchorkapelle der Franziskanerkirche in Arezzo handeln. Für unseren Kontext entscheidend ist jedoch ein ganz anderer Sachverhalt: Über die Szene mit der Auffindung der drei Kreuze vor den Mauern Jerusalems30 durch Helena, Mutter Konstantins des Großen und später als Heilige verehrt, hat Piero anstelle Jerusalems eine Ansicht der Stadt Arezzo in hügeliger Landschaft platziert. (Abb. 1) Die Stadtansicht erscheint durchaus modern, das heißt dem Geist des beginnenden 20. Jahrhundert entsprechend gestaltet; sie erinnert mich persönlich an Gemälde Paul Klees im Zyklus der Tunisreise (1914), und auch spätere, denn die Stadt mit ihren Gebäuden (Häusern, Geschlechtertürmen, Kirchen mit Türmen) ist durch Farbtupfer gleichsam nur angehaucht und sie wirkt leer, ohne menschliche Bewohner, und doch ist die Stadtdarstellung Pieros eindeutig als Arezzo auszumachen. Dies ist wohl ein Aspekt, warum die Kunst Pieros und der Freskenzyklus in Arezzo von Martin Warnke als ‘ein Erzeugnis unseres Jahrhunderts’ (des 20. Jahrhunderts, der Verf.) bezeichnet worden ist: Lange unbeachtet, wurde sein Werk wiederentdeckt und bewundert, wo immer die Komplexität und der Sinnverwirrung im 20. Jahrhundert mit bewußter Reduktion, mit einer Sehnsucht nach dem Einfachen, Primitiven, mit griffigen Formeln oder mit trotziger Sachlichkeit begegnet werden sollte. In den zwanziger Jahren vor allem hat Pieros Werk eine vielseitige Wirkung entfaltet. Den nach-futuristischen Malern der pittura metafisica und der valori plastici, die in Deutschland in dem ‘Magischen Realismus’ ihr Pendant hatten, bot Piero Beschreibungshilfen des modernen Menschen: Gesichtslose, anonymisierte Figuren, die wie Dinge oder Automaten in einen leeren, vereinsamten Raum gestellt waren.31 Die Bedeutung dieser von Piero della Francesca gestalteten Szenerie vor Arezzo wurde von der Forschung eigenartigerweise – soweit ich das übersehe – bislang noch gar nicht thematisiert. Arezzo wird hier mit dem Ort der Kreuzigung und Kreuzfindung assoziiert, mit Jerusalem identifiziert. Jerusalem war und ist eine irdische heilige Stadt der Weltreligionen, nicht nur der Christen, sondern auch der Juden und der Muslime. Nicht erst seit den Kreuzzügen ist Jerusalem heilige Stadt der Christen und als irdische Stadt Symbol für die Himmlische Stadt; nach dem Kreuzestod Jesu steht diese Stadt für die Erlösungsvorstellung aller Christen.32 Wenn Arezzo im Bild Pieros an die Stelle der heiligen Stadt Jerusalem rückt, wird ein eigentümlicher Zusammenhang thematisiert und eine besondere Deutung der eigenen mittelalterlichen Stadt evident: Das Himmlische Jerusalem 30 Neben Helena (mit Gefolge) steht Judas, bekleidet in hellem Gewand und roter Kopfbedeckung, und weist auf das Kreuz, das gerade ausgegraben wird. Ein Mann steckt noch halb in der geschaffenen Grube; drei weitere Männer mit Axt und Schaufel umgeben das bereits geborgene Kreuz. Drei Kreuze wurden nach der Legenda aurea gefunden und nach Jerusalem in die Stadt gebracht. 31 Warnke, ‘Vorwort’, S. 7. 32 Zu Jerusalem und seinen mannigfachen Konnotationen im Kontext von ‘Stadt’ siehe Ehbrecht, ‘Überall ist Jerusalem’, S. 129–85, sowie Ders., ‘Jerusalem: Vorbild und Ziel mittelalterlicher Stadtgesellschaft’, S. 73–100. Siehe hier auch zum Folgenden und weitere Hinweise auf die Literatur.
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Abb. 1: Arrezzo, Chorkapelle der Franziskanerkirche San Francesco, Wandmalerei zur Kreuzlegende, Piero della Francesca (und Bicci di Lorenzo), vor 1460: Ausschnitt aus der Szene der Kreuzfindung, im Hintergrund: Ansicht der Stadt Arezzo (aus: Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, Tafel 146, S. 246).
war Richtschnur und Hoffnung auf Erlösung, die sich auch in der Versammlung einer Gemeinde zum Gottesdienst um den Altar realisierte; immer war diese himmlische Stadt mit Zügen der irdischen Stadt Jerusalem versehen, um den Kreuzestod Christi für die Menschen zu erinnern. Für Christen war das Heilige Jerusalem also transformierbar, auch und in besonderem Maße in die eigene städtische Lebenswelt des Mittelalters, als Idee und Vision sowie als Vorbild und Ziel der eigenen Bürgergemeinde.33 Giordano da Pisa, Predigerbruder in Florenz, hielt am 4. und am 8. Oktober des Jahres 1304 in Santa Maria Novella – Hauptkirche der Dominikaner in der Toskana und Sitz eines Studium generale –, im Dom und schließlich auf dem Platz vor dem Bischofspalast, also dreimal kurz hintereinander, eine Predigt zu einem Thema und Leitmotiv, zu dem Satz nämlich aus Mt. 9,1: Venit in civitatem
33 Die folgenden Überlegungen stützen sich auf Überlegungen meines Buchprojekts mit dem Arbeitstitel Im Bann des Todes. Memorialpraxis als Konstituierung von Stadt im Spätmittelalter – das Beispiel Dortmund, das für diese Reihe vorbereitet wird.
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suam.34 In der zweiten Predigt dieses Zyklus widmete sich Giordano zunächst der Frage, warum man das Paradies denn überhaupt als ‘Stadt’ bezeichnen könne – und er gab seinen Hörern sogleich eine Antwort, wegen der Liebe (amore) und wegen der bestimmten Ordnung (ordine).35 Liebe und Stadt nämlich, so führt der Dominikaner aus, gehörten eng zueinander: Bürger hegten gegeneinander Liebe und seien deswegen verbunden wie mit Ketten aus Eisen (l’amore ha catene di ferro); Liebe werde evoziert, wenn man eine Stadt betrachte, ein solch edles Gebilde, in der keine Not und kein Übel bestehe. Vor allem jedoch, so hob er an, deute Liebe in der Stadt auf unità di volontà, auf die Einheit des Wollens, die Bürger der Himmelsstadt seien einander boni compagni, gute Gefährten, die ein Herz, ein Wollen und ein Streben hätten. Er hielt den Florentinern in diesem Kontext natürlich auch kritisch einen Spiegel vor, in dem man Parteiung, Zwietracht, Uneinigkeit ihres eigenen bürgerlichen Daseins sehen könne. Mit Recht dürfe man aber den Begriff ‘Stadt’ auf das Himmelreich anwenden, denn l’altra cosa sei die Ordnung der Stadt, die in Belezza, Fortezza und Grandezza, in Schönheit, Stärke und Großartigkeit, bestehe. Zwietracht und Schwäche der Stadtgesellschaft seiner Zeit könne überwunden werden, wenn Angelegenheiten von allen Bürgern geordnet und geregelt würden (se le cose andassero ordinate per tutti i cittadini).36 Für die Beschreibung der Himmlischen Stadt wählte Giordano da Pisa sodann die folgenden Worte: Vedete come è bella la cittade quando è ordinata, e sonci le molte arti! […] Bellezza dà come ti dissi. Come è bella cosa la cittade bene ordinata, ove sono le molte arti, e catuna per se, e sono comuni tutte le arti? troppo è grande bellezza: perocchè non ci ha arte nulla, che non sia utile; il calzolaio è utile a tutta la cittade, ch’egli calza; il fornaio è utile e necessario, che ti cuoce i pane; il sartore altresì; il cavaliere è utile a tutta la cittade, chè la difende […] A questo modo è quella città gloriosa di vita eterna; chè siccome ciascheduno quaggiù è utile l’uno all’altro nell’arte sua, ovvero nell’ufficio suo a che è posto; così in quella cittade beata bon avrà nullo, che ci sia in vano […] Ma quella colassù è la diritta Fiorenza. (Seht nur, wie schön die Stadt ist, wenn sie wohl geordnet ist, und wie viele Handwerke (Zünfte) gibt es dort. Eine Schönheit, von der ich gerne berichte. Oh, ist die wohl geordnete Stadt nicht wunderschön, in der es so viele Zünfte gibt, die alle zusammen eine Gemeinschaft bilden? All zu
34 Zum Folgenden siehe die Überlegungen von Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, S. 47–54, und Ders., ‘Urbane Utopien. Die mittelalterliche Stadt in Dominikanerpredigten’, S. 16–20. Ich danke Ulrich Meier für die Gespräche zu stadtgeschichtlichen Themen und die Unterstützung der Dortmunder Projekte zur Stadtkultur und Memoria über Jahre hinweg herzlich. Aus der Predigtsammlung des Dominikaners Giordano da Pisa (1260–1311): Prediche del Fra Giordano, Bd. 2: XLIV–XLVI, S. 64–100. 35 Hierzu: Prediche del Fra Giordano, Bd. 2, XLV, S. 78–80; Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, S. 50 f. 36 Prediche del Fra Giordano, Bd. 2, XLV, S. 83 f.
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groß ist die Schönheit, weil es nicht ein Handwerk gibt, das nicht nützlich wäre: Der Schuster ist für die ganze Stadt nützlich, für die er Schuhe macht, der Bäcker ist nützlich und notwendig, weil er Brot bereitet; der Schneider ist ebenso nützlich; der Ritter ist nützlich für die gesamte Stadt, die er verteidigt […] Auf diese Weise also ist auch die ruhmreiche Stadt des ewigen Lebens eingerichtet, denn wie im Diesseits ein jeder dem anderen dienlich ist mit seinem Handwerk und mit dem Amt, mit dem er betraut ist, so wird sich auch in der seligen Stadt niemand finden, der überflüssig ist. […] Jene Stadt dort oben aber ist das wahrhaftige Florenz.)37 Die irdische Stadt Florenz rückt in dieser Beschreibung des Dominikaners recht nahe an die Himmlische Stadt – ein Stück weit entdeckte der hörende Bürger von Florenz hierin sicher seine eigene Welt, und er dürfte verstanden haben, auf dem richtigen Weg zu sein, eben bereits in einer schönen, geordneten Stadt zu leben und zu arbeiten, mehr auf Eintracht solle er nur achten, und so werde seine irdische Stadt dem Vorbild der Himmlischen immer näherkommen. Seine Stadt sei Schritt für Schritt auf dem Weg zur Vollendung der Civitas Dei. Die irdische und die Himmlische Stadt jedenfalls rücken in der Predigt des Giordano da Pisa nahe zusammen. Gottes Reich wurde seit dem frühen Mittelalter als eine gebaute Stadt gedeutet – mit Mauern, Türmen und Toren. Schon die Vision des Propheten Ezechiel beschreibt quasi aedificium civitatis mit Mauern und Toren, quadratisch angelegt, auf einem hohen Berg, dessen Maße in exakter Form angegeben sind (Ez. 40 ff.).38 Die Apokalypse des Johannes hat diese Vision aufgegriffen (Apk. 21, 9–22): Und es kam einer der sieben Engel […] Und er entrückte mich im Geiste auf einen großen hohen Berg und zeigte mir die große Stadt, das heilige Jerusalem, die von Gott aus dem Himmel herniederstieg in der Herrlichkeit Gottes […]. Sie hat eine mächtige, hohe Mauer mit zwölf Toren und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben: dies sind die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels […] Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine, und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf Apostel […] Gottes Reich ist geschildert als herrliche Stadt – und die Vorstellung der Himmlischen Stadt wurde im Mittelalter in ein direktes Verhältnis zu der irdischen Stadt Jerusalem gesetzt, der Stadt mit den Stätten des heiligen Geschehens, das für Christen Erlösung nicht nur ermöglicht hat, sondern stets verheißt. Und das heilige Jerusalem lebt einerseits weiter in jeder christlichen Kirche, dem symbolisch nachgebauten Jerusalem, indem durch jede Feier der Eucharistie der Kreuzestod und die Möglichkeit der Erlösung erinnert wird. Andererseits kam der ‘Stadt’ des christlichen ‘Bürgerstands’, in der die Herkunft 37 Prediche del Fra Giordano, Bd. 2: XLIV–XLVI, S. 64–100, hier XLV, S. 80 f. und S. 96. 38 Johanek, ʻDie Mauer und die Heiligen. Stadtvorstellungen im Mittelalter’, S. 26–38.
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der Gemeindemitglieder keine sozialen Schranken mehr mit sich brachte, von hier aus betrachtet eine immense symbolische Kraft zu. Die mittelalterliche Stadt als christliche Gemeinde, die unter dem Patronat des Stadtheiligen und im Bündnis mit diesem in der der ‘Stadt’ feindlichen Welt steht, hat bereits selbst ein ganzes Stück auf dem Weg zur Civitas Dei zurückgelegt. Wilfried Ehbrecht versieht diesen Zusammenhang mit einer Frage: Uns scheint dies sehr fremd; für den Historiker ist es zudem schwierig aus Einzelzeugnissen auf allgemeine Mentalitäten zu folgern, gar die Frage nach der Grenze der Eingeweihten zu stellen. Ich jedenfalls habe lange danach gesucht, theologisch-philosophische Aussagen zum Verständnis der mich interessierenden städtischen Einwohner zu finden. Warum für diese heterogenen Gesellschaftsgruppen?39 Max Weber hat auf der Grundlage seines religionssoziologischen Interesses diese Frage auf spezifische Weise beantwortet, indem er nicht nur die Bedeutung des oder der Stadtheiligen für die Identität der mittelalterlichen Bürgergemeinde betont und die Stadt als Sphäre der Bürger in ‘allgemeiner sakraler und bürgerlicher Rechtsgleichheit’40 gefasst hat. Er ordnete christliche Religiosität durchaus der Konstituierung von ‘Stadt’ im Okzident zu, nämlich dem Aspekt der Verbrüderung und der Vergemeinschaftung. In der christlichen Gemeinde der Antike verwirklichte sich nach Weber die Ausschaltung jeglicher rituell-sakralen Exklusivität – und dies griff die Bildung der mittelalterlichen Kommune rund ein Jahrtausend später als ihr Wesensmerkmal auf, als Element der eigenen Identität und Selbstdeutung. Das Christentum ist damit in einem sehr viel tiefer gehenden Sinne als Grundlage der okzidentalen Stadt verstanden. Für Max Weber steht ‘Stadt und Religion’ im Kontext eines christlich-religiösen Elementarereignisses, ohne das die okzidentale Stadt nicht verstanden werden kann:41 Auf dem Tag von Antiochien, ausführlich geschildert im Brief von Paulus an die Galater (Gal. 2, 11 ff.), stellte die christlich-rituelle Gemeinschaft mit den unbeschnittenen Brüdern die unbeschränkte Gleichheit der Christen her – die christliche Gemeinde sollte keine sakrale Exklusivität der Juden sein, sondern allen offenstehen. Im Unterschied zu anderen Kulturkreisen wurde die christliche Gemeinde als Gemeinde von gleichen Gläubigen formiert, unabhängig von allen Bindungen an Sippe, Stamm, Herkunft und Stellung in der Welt. Die Abstreifung aller rituellen Geburtsschranken für die Gemeinschaft der Eucharistie, wie sie in Antiochia vor sich ging, war auch – hingesehen auf die religiösen Vorbedingungen – die Konzeptionsstunde des ‘Bürgertums’ des Occidents, wenn auch dessen Geburt, in den revolutionären ‘conjurationes’ der 39 Ehbrecht, ‘Jerusalem: Vorbild und Ziel mittelalterlicher Stadtgesellschaft’, S. 77. 40 Weber, ‘Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung’, S. 651, sowie Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 5: Die Stadt, S. 109. Zum Folgenden siehe Dilcher, ‘Max Webers Stadt und die historische Stadtforschung der Mediävistik’, S. 101–03. 41 Siehe Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 265 und S. 754.
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mittelalterlichen Städte erst mehr als ein Jahrtausend später erfolgte. Denn ohne Kommensalität, christlich gesprochen: ohne gemeinsames Abendmahl, war eine Eidbrüderschaft und ein mittelalterliches Stadtbürgertum nicht möglich.42 Das ‘Ereignis von Antiochia’ ist nach Max Weber die Grundlage der Konzeption der mittelalterlichen Stadt, die Bildung der Bürgergemeinde als christliche coniuratio die Geburtsstunde des okzidentalen Bürgertums – nur so konnte der Bürger als einzelner mit seinem Eid Stadtkommune konstituieren. Der Zusammenschluss als Stadtgemeinde ist auf das Individuum und seine Willensbildung gestützt, unabhängig von Herkunft und ohne Schranken kann sich die Stadt als Form der Vergesellschaftung entwickeln zu einer anstaltsmäßigen Gemeinde, die okzidentale Stadt ist christliche Sakralgemeinschaft in diesem Sinne. Arezzo also steht im Gemälde Pieros della Francesca in diesem Sinne für das heilige Jerusalem; in der Selbstdeutung der Stadtgemeinde ist Arezzo eine heilige Stadt, in der Stand oder Herkunft keine Bedeutung zukommen soll. Arezzo ist im Bild verstanden als christliche Sakralgemeinschaft. Der gemalte Blick auf die eigene Stadt im heiligen Geschehen der Kreuzfindung macht evident: Die Himmlische Stadt, das Himmlische Jerusalem, ist übertragen auf das irdische Jerusalem und von hier aus auf die eigene Stadt, ganz so, wie Giordano da Pisa dies in der zitierten Predigt für Florenz ausgeführt hatte. Die eigene Stadt ist in der Selbstdeutung der mittelalterlichen aretinischen Bürger also auf dem Weg zur Civitas Dei. Und nicht nur die Bürger von Arezzo oder Florenz äußerten ein solches Selbstbewusstsein, eigentlich alle Städte und Städter lebten in und mit dieser Selbstdeutung des eigenen Gemeinwesens. 2. Handlungsort: Prato, Hauptchorkapelle der Pfarr- und Kollegiatkirche Santo Stefano (1653 zur Domkirche erhoben), ausgemalt mit Szenen aus den Leben der Heiligen Stephan und Johannes der Täufer von Filippo Lippi (und in kleineren Teilen von Fra Diamante di Feo) (1452–65).43 Auch hier wird nur ein Detail der stupenden und grandiosen Ausmalung Gegenstand der Betrachtung sein. Die Patronatsrechte der Hauptchorkapelle hatte die Kommune von Prato, der Rat, inne. Der Kommune oblag einerseits die Pflicht für die bauliche Instandhaltung der Kirche und andererseits das Recht der Gestaltung ihrer Ausstattung. Das schloss in Mittelalter und früher Neuzeit für den Patronatsherrn stets das Recht ein, durch Bilder, Zeichen, Wappen, Symbole oder auch Inschriften als Herr der Kirche im öffentlichen Raum repräsentiert zu sein; zugleich war includiert, durch das Bild oder die Inschrift als Patronatsherr, hier als Führungsgruppe der Stadt in Vertretung der Stadtgemeinde, stets in der Liturgie der Kirche vergegenwärtigt zu sein – eine Form des Totengedenkens, das für die Jenseitsökonomie des Spätmittelalters nahezu vollkommen erscheinen musste. Die in der Kirche zum Gottesdienst versammelte Stadtbevölkerung erkannte die Stadtführung in einer
42 Weber, ‘Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus’, S. 96 f. 43 Siehe hierzu Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Band 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, S. 302–25 mit exzellenten Abbildungen und den Hinweisen auf die wichtigste Literatur.
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ersten Bedeutungsebene implizit als legitim an; sie vergegenwärtigte nach der Auffassung des 15. und auch 16. Jahrhunderts auf einer zweiten Bedeutungsebene nämlich die verstorbenen Vertreter ihrer Stadt, ließ sie – wie die gegenwärtigen und zukünftigen – Tag für Tag am Bußopfer der hier gefeierten Messe teilhaben und mehrte auf diese Weise deren Seelenheil durch Linderung der Sündenstrafen im Fegefeuer. Zugleich konstituierte sich die Stadtgemeinde durch die Messe und das Totengedenken als Sakralgemeinschaft Tag für Tag neu. Wichtig zu betonen ist, dass alle Besucher der Messe immer auch etwas für das eigene Seelenheil taten, ein Bußopfer nicht nur für andere, sondern stets auch für sich vollbrachten. Im wohl bekanntesten Gemälde der Hauptchorkapelle – mit den Szenen: Übergabe des Hauptes Johannes des Täufers an Salome, Gastmahl der Herodes und Tanz der Salome, Salome vor Herodias, die auf Herodes (rechter Hand) weist – ist im untersten Feld auf der vom Betrachter aus rechten Wand an zentraler Stelle im Hintergrund des eigentlichen Geschehens ein Stifterwappen angebracht, wohl nachträglich, aber zeitnah, wie die durch das Wappen scheinenden Architekturelemente nahelegen. (Abb. 2) Unschwer ist es als das Wappen des Prateser Fernhändlers und Bankiers Francesco di Marco Datini (* 1335, †1410) auszumachen: in Silber drei rote Schrägrechtsbalken.44 Der Schild ist mit einer blau-grünen (Anjou-)Lilie auf gerautetem silbernen Feld belegt, ein Wappenemblem, das Ludwig II. von Anjou im Juli 1410 anlässlich seines Besuchs in Prato und kurz vor Datinis Tod am 10. August 1410 als Gegengabe für die im Palazzo Datini gewährte Gastfreundschaft (von immerhin 18 Tagen) und die Einräumung eines größeren Kredits verliehen hatte.45 Im Palazzo Datini begegnet uns die (Anjou-)Lilie heute in anderen Farben (vor allem silbern auf blaugrünem Grund) und in zahlreichen weiteren Kontexten. Diese Farbgebung war entweder eigens als Referenz für den Empfang der hochrangigen Gäste 44 Origo, „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini, 1335–1410, S. 205. Zum Folgenden siehe auch Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Band 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, S. 303; sie irrt, wenn sie meint, das Datini-Wappen (Anjou-Lilie) sei hier vom Prateser Stadtwappen umgeben. Auch die Kommune Prato führte seit spätestens 1351 die Anjou-Lilie als neues Wappen; siehe hierzu Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs, S. 399–404. Die (Anjou-)Lilie über dem Eingangsbogen zur Kapelle, über dem Fenster und auf den Gewölberippen repräsentiert die Kommune und den Rat von Prato als Patronatsherr der Stadtpfarrkirche und sorgt insofern für das Totengedenken und das Seelenheil des Rates und der Kommune Prato (auch für die Kommune sind freilich die Farben des (stadtherrlichen) Anjou-Wappens – blauer Grund, bestreut mit goldenen Lilien) nicht stimmig. 45 Es ist hier nicht der Ort, die heraldische Problematik der Anjou-Lilie im Gebrauch Datinis näher zu diskutieren, da wir in den überlieferten Exemplaren in Prato grundsätzlich von Farbveränderungen im Laufe der Jahrhunderte, auch infolge von Restaurierungen sowie von dem weitgehenden Verlust der Blattgold- und Blauauflagen der Kapellenausmalung Filippo Lippis ausgehen müssen. Ser Lappo Mazzei, Vol. I, S. CXXVII–CXXIX, geht auf die König Ludwig II. gewährte Gastfreundschaft (bereits im November 1409 und dann im Juli 1410) näher ein und ediert die urkundliche Verleihung der (Anjou-)Lilie für das Wappen des Prateser Kaufmanns und Bankiers vom 15. Juli 1410, S. CXXVIII f. Hiernach privilegiert Ludwig II. Datini, ‘quod ex nunc in antea deferat et deferre possit in medio armorum ipsius, et eorum tam anulis, sigillis et sculpturis, quam locis aliis, unum lilium aurei coloris de armis nostris im campo azzurro […] Hoc autem eidem Francisco pro se et dictis suis posteris, ut per colorem aureum probitas, et per colorem azzurrum mentis sue sinceritas designetur’, ebd. Vol. I, S. CXXIX.
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Abb. 2: Prato, Chorkapelle der Pfarrkirche Santo Stefano und San Giovanni Bapt., (heute Domkirche), Wandmalerei mit Szenen aus der Enthauptung des Johannes, Filippo Lippi, 1452–65: Ausschnitt mit Wappen von Francesco di Marco Datini (aus: Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, Tafel 190, S. 322).
geändert, für deren Besuch Datini mit Familie aus seinem Haus ausgezogen war, oder aber erst nach dem Tod Datinis aufgebracht worden. In der Hauptchorkapelle der heutigen Domkirche, an exklusivstem Ort jedenfalls, überrascht das private Wappen Datinis. Rund fünfzig Jahre nach seinem Tod wurde der Fernkaufmann und Bankier mit dem Wappen an exponierter Stelle in unmittelbarer Nähe des Hauptaltars zur Geltung gebracht, an ihn und seine Taten für die Kommune erinnert, indem seine Memoria über das Medium des Bildnisses seines Wappens in die Liturgie der (Haupt-)Pfarrkirche einbezogen wurde. Die Erklärung liegt auf der Hand: Die Kommune nämlich hatte für die Finanzierung der repräsentativen Kapellenausmalung Filippo Lippis auf die überschüssigen Finanzmittel der städtischen Almoseneinrichtungen zurückgegriffen, den Ceppo vecchio, eine Armenstiftung aus verschiedenen Zuwendungen Prateser Bürger, sowie auf die Casa del Ceppo dei Poveri di Francesco di Marco (Datini), in Abgrenzung zum Ceppo vecchio später meist kurz als Ceppo nuovo bezeichnet. Dieser geht exklusiv auf die testamentarische Stiftung von Francesco di Marco Datini zurück.46 Fast dessen gesamter Nachlass fiel mit seinem Tode laut umfang 46 Edition des Testaments und der Kodizille in Ser Lappo Mazzei, Vol. II, S. 273–310. Zum Testament siehe den Bericht von Origo, „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini, 1335–1410, S. 305–09, und ebd., S. 293–95 zu den noch anders ausgerichteten Fassungen seit 1400.
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reichem Testament, verfasst angesichts des Todes, bei guter geistiger Gesundheit, aber geplagt von Nierensteinen und einer heftigen Blasenentzündung,47 an diese Stiftung.48 Dies schloss sein Wohn- und Geschäftshaus mit Nebengebäuden in Prato und seinen Grundbesitz im Territorium von Prato ein – hier fand die Stiftung Ceppo nuovo ihren Sitz und ist bis zum heutigen Tag in diesem Palazzo untergebracht; dazu zählten alle seine übrigen Häuser und Höfe mit umfangreichem Grundbesitz sowie seine Anteile an Handelsgesellschaften, die innerhalb von fünf Jahren nach seinem Tode aufgelöst werden sollten.49 Nur einige Legate, die hier nicht alle gesondert aufgeführt werden müssen, sind mit dem Testament vorgesehen: zugunsten seiner Frau, die das Haus in Prato für den Sitz des Ceppo nuovo verlassen musste (für ihren Lebensunterhalt),50 zugunsten seiner engen Mitarbeiter und Diener, Bekannter und bisher schon geförderter Armer in Prato,51 oder von 1000 Gulden an das Ospedale di Santa Maria Nuova in Florenz für die Gründung des kurz nach seinem Tod begonnenen Baus des berühmten Findelhauses Ospedale di Sante Maria Nuova degli Innocenti.52 Allen seinen Sklaven, überall in der Welt, gab er mit seinem Tod die Freiheit zurück: Ancora, per l’amor di Dio, liberó ogni e qualunque sua schiava, dovunque e in qualunque parte del mondo fosse, e essa e esse nella pristina libertà ripuose.53 Seelenmessen waren nach seinem Tod in allen Kirchen der Stadt Prato und des Prateser Territoriums zu feiern.54 Das Testament verfügte Zuwendungen an das Franziskanerkloster in Prato, wo er seine letzte Ruhestätte finden sollte – hier wurde unter anderem auch eine Geldzahlung von 10 Florin für die Verbesserung der beiden Altäre in der Klosterkirche verfügt55 –, legte Gaben an Kirchen und Konvente in Prato für sein Seelenheil fest, unter anderem auch eine Pitanzstiftung zugunsten der Prateser Predigerbrüder, wofür seiner Seele gedacht werden sollte und sein Wappen zur Sicherung seiner Vergegenwärtigung im Dominikanerkonvent angebracht wurde.56 Der Kapelle, die der Berührungsreliquie Heiliger Gürtel der Gottesmutter in der Pfarrkirche von Prato geweiht ist, vermachte er so etwa zwölf silberne Leuchter, die immer brennen sollten.57 Auffällig ist hier wie bei allen Zuwendungen an kirchliche Institutionen des Testaments, dass ausdrück-
47 Ser Lappo Mazzei, Vol. II, S. 287: ‘dalla sua infermitá della renella e arsione dell’orina molta e oppressato’. 48 Es kann hier nur auf einige wenige Bestimmungen des Testaments eingegangen werden, siehe hierzu die Edition des Testaments Ser Lappo Mazzei, Vol. II, S. 273–310, sowie den knappen Überblick bei Origo, „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini, 1335–1410, S. 305–09. 49 Ser Lappo Mazzei, Vol. II, S. 288–92 et passim. 50 Ebd., S. 284 f. et passim. 51 Ebd., S. 276–78 et passim. 52 Ebd., S. 276. 53 Ebd., S. 279. 54 Ebd., S. 280. 55 Ebd., S. 278 f. et passim. 56 Ebd., S. 282. 57 Ebd., S. 274.
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lich auf die Erfüllung der Gegengaben für die Zuwendung des Testators Wert gelegt wird: Sowie die Leuchter nicht wie im Testament bestimmt Verwendung fänden, sollten sie eingezogen und dem Vermögen des Ceppo nuovo zugeführt werden. Auch die Zahlungen an die Konvente in und um Prato, und an kirchliche Einrichtungen überhaupt, sollten meist vom Ceppo nuovo vorgenommen werden; die Erfüllung des memorialen Zwecks der Stiftung oder Schenkung war immer von den Vorstehern (uficiali) des Ceppo nuovo zu überwachen. Aus der Lebenserfahrung Datinis heraus formuliert das Testament, wegen der von ihm offensichtlich wahrgenommenen und erlebten Missbräuche, dass auf keinen Fall eine Kirche oder ein Kleriker direkter Empfänger einer Zuwendung sein sollte und auch die Ausführung und Aufsicht zunächst den Treuhändern und dann stets den Vorstehern des Ceppo nuovo zustand. Der allergrößte Teil seines immensen Erbes ging an die von ihm gegründete Almosenstiftung über, wobei auffällig ist, und das kann nicht oft genug gesagt sein, dass diese Armeneinrichtung zur immerwährenden Verfügung der Armen in Christo auf keinen Fall der Kirche oder irgendwelchen Klerikern unterstellt werden durfte, sondern allein der Stadt Prato.58 In seinem Namen sollte die Armenstiftung von einem von der Kommune auf je ein Jahr bestimmten Gremium verwaltet werden, den vier buonomini, die jeweils ein Stadtviertel repräsentieren und für die eigentliche Verwendung der Gelder verantwortlich waren. Jährlich waren von diesem Gremium gegenüber dem Rat Rechenschaft abzulegen und die Rechnungen zur Prüfung vorzulegen. Als buonomini bestimmte Datini zunächst die von ihm benannten Testamentsvollstrecker selbst: Seine Frau Mona Margherita, seine Gesellschafter Luca del Sera und Lionardo di Giunta sowie seinen engsten Vertrauten in Geschäftsangelegenheiten, seine rechte Hand in Pisa, Barzalone di Spedaliere. Diese und deren Nachkommen sollten die Hand stets über die Stiftung halten und ebenso für die stiftungsgemäße Verwendung der Erträge des Ceppo nuovo Sorge tragen.59 Die Stiftung Datinis ragt heraus, denn nicht nur quantitativ aufgrund des immensen Vermögens, sondern auch qualitativ beschritt der Kaufmann und Bankier neue Wege des Totengedenkens. Die übliche Strategie der Jenseitsvorsorge, etwa vermögender Hansekaufleute, wurde von ihm durchaus befolgt, indem kirchliche Einrichtungen an Orten seiner sozialen Kontakte im Verlauf des Lebens für das eigene Seelenheil aktiviert wurden. So bedenkt das Testament eben nicht nur den Ceppo nuovo, Kirchen und Klöster in seiner Heimatstadt Prato, sondern ebenso Kirchen und Klöster in Florenz, in Pisa oder in Avignon, wo die steile Kariere des Kaufmanns Francesco di Marco Datini begonnen hatte.60 Datini bündelte seine testamentarischen Stiftungen aber auf den Ceppo nuovo seiner Heimatstadt: Sein Vermächtnis ‘sempre sia de’ poveri, e a perpetuo uso
58 Für den Ceppo nuovo formuliert das Testament explizit, ebd., S. 289 f.: Er solle sein ‘privata, e non sacra, in niuno modo sottoposta alla Chiesa o ecclesiastici ufici o prelati ecclesiatici o a altra persona ecclesiastica’. 59 Ebd., S. 288–300. 60 Ebd., S. 282: So für die Kirche ‘Santa Maria de Alpuon’ bei Avignon.
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de’ poveri di Giesu Cristo, e loro alimento et emolumento perpetuo’.61 Niemals sollten Verkauf, Entfremdung, Verpfändung erfolgen, damit die Erträge des Vermögens stets den Armen zukommen.62 Vertrauensvoll legte Datini das Vermögen für den Ceppo nuovo über die Testamentsvollstrecker außerdem in die Hände der Kommune Prato. Sein Gedenken war schon dadurch gesichert, dass die große Casa Datini zum Sitz des Ceppo nuovo erhoben wurde – hier wurde im Innenhof, der Loggia, wo die Almosen dieser Stiftung vergeben wurden, an einem Tabernakel ein Tafelgemälde angebracht (Abb. 3): Das Tafelgemälde von Filippo Lippi aus dem Jahr 1453 zeigt die Stadtheiligen (und Patrone der Stadtpfarrkirche) Stephan und Johannes der Täufer, die die thronende Jungfrau mit dem Kind begleiten. Zu Füßen Stephans kniet Datini als Stifter mit den kleiner dargestellten vier Buonomini des Ceppo nuovo, die 1453 amtierten63 – war der Stifter auf dem Weg zu einem Heiligen? Der großzügige Fernkaufmann und Bankier hatte seine Geschäftsgewinne an die Stadtarmen übergeben – zusammen mit den buonomini war Francesco di Marco Datini in diesem Memorialbild entsprechend seiner Bedeutung stets bei den Almosenvergaben gegenwärtig. Unter der Voraussetzung der Anwesenheit eines geweihten Priesters konnte aus dem Tabernakel auch eine geweihte Hostie vergeben werden, doch sichert allein das Memoriabild Datini als Wohltäter im Sinne der Caritas für seine Erinnerung in der Stadt Prato. Hierfür sprechen auch verschiedene Inschriftentafeln mit Nennung Datinis im Herzen der Stadt Prato, vor allem aber das Standbild vor dem Palazzo Pretorio.64 Datini wusste um die religiöse Kritik an Zins und Gewinn, am Bankier und Kaufmann, der Geld zum Zweck der Bereicherung verleiht und Waren mit dem alleinigen Zweck kauft, um sie mit Gewinn zu verkaufen.65 Auf die Frage eines Jünglings, was zu tun sei, um das ewige Leben zu erlangen, antwortet Christus im Matthäus-Evangelium (Mt 19,16–24): Gehe hin, verkaufe alles, was Du hast und gib es den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben. Als der reiche Jüngling sich abwendet, weil er gar so viele Reichtümer besitzt, spricht Christus zu den Jüngern: Wahrlich, ich sage euch, es ist schwer, dass ein Reicher ins Himmelreich eingehe […] Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Himmelreich eingehe. Hier tat sich dem reichen Kaufmann eine bedrohliche Perspektive für die Zeit nach dem Tod auf; Almosen, Armen- und Hospitalstiftungen in der Nachfolge 61 Ebd., S. 290. 62 Sollte dies dennoch geschehen, fiel das Vermögen an die ‘Compagnia di San Michele in Orto’ in Florenz, siehe ebd., S. 290. 63 Heute im Museo Communale in Prato. 64 Statue Datinis in Überlebensgröße von Antonio Garella, 1896. 65 Zum Folgenden Schilp, ‘Stadtkultur im spätmittelalterlichen Dortmund. Der Berswordt-Altar im Kontext spätmittelalterlicher Denk- und Handlungsformen’, S. 32–37 und 45–52.
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Abb. 3: Prato, Gebäude des Ceppo nuovo, ursprünglich Palazzo Datini, heute Museo Communale Prato: Filippo Lippi, Jungfrau mit Kind und den Heiligen Stephan und Johannes Bapt.; im Vordergrund kniet der Stifter Francesco di Marco Datini hinter den vier Buonomini des Ceppo, 1453, (Tempera auf Holz, 183 x 120 cm) (aus: Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 1: Anfänge und Entfaltung 1400–70, S. 302).
Christi wurden ebenso wie Altar- und Messstiftungen allein aus diesem Grunde zum festen Bestandteil des städtischen Lebens im Mittelalter. Datini kam mit der Stiftung seines Testaments in einer ersten Bedeutungsebene dem Imperativ zum Almosen aus Furcht vor dem Schrecken der Dunkelheit des Todes und den jenseitigen Strafen für die Sünden im Diesseits nach. Wiederholt spricht das Neue Testament Arme als Vertreter Christi an, was einen fundamentalen Zusammenhang von Christentum und der mittelalterlichen Stadt des Okzidents begründet. Der Glaube allein reichte im diesseitigen Leben nicht aus, das Gute Werk sozialen Handelns war gefordert. Das Neue Testament beinhaltet insofern die radikale Verurteilung des Reichtums; im Unterschied zur antiken Welt ist das frühe Christentum von einer Hochschätzung von Armut und körperlicher Arbeit geprägt.66 Die sechs Werke der Barmherzigkeit entschieden nach Matthäus (Mt. 25, 35–40) über das Schicksal des Christen: Almosen für den Hungernden, den Durstigen, den Fremden, den Nackten, den Kranken und den Gefangenen. Die Almosen galten eigentlich Christus. Schon für die Jüngerschaft Christi war persönliche Armut eine wesentliche Bedingung, und von hier aus wurden im Mittelalter die Armen als Vertreter Christi und der Toten im Diesseits verstanden. Gaben an die Lebenden bewirkten eine Gegengabe des
66 Zum Folgenden Oexle, ‘Zwischen Armut und Arbeit. Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen’, 2015 (Nr. 293), S. 52–73 mit den Hinweisen auf seine älteren Arbeiten und weiterführende Literatur.
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Armen in der Form des Gebets oder der Teilnahme an einem Gottesdienst. Die Almosenvergabe der Stiftung Datinis im Hof seines einstigen Hauses erfolgte vor Tabernakel und Marienbild (Abb. 3), das Stifter und Buonomini in das Geschehen einschloss, mithin in einen religiösen Kontext, der liturgische Handlungen und Gebet wahrscheinlich macht. Als Empfänger der Gaben begegnet früh auch schon Christus selbst, dem stets ein Teil des Erbes eines wohlhabenden Städters zustand. Kirchen fungierten als Treuhänder der Almosen für Christus auf Erden. Hierzu kamen in der spätmittelalterlichen Stadt die Stiftung von Kapellen oder Altären und Messstiftungen, Schenkungen kostbarer liturgischer Geräte, von Textilien, Leuchtern, Büchern etcetera, die in ihrer Mehrung der Gottesdienste im öffentlichen Raum der Stadtkirchen als Dienst des Wohlhabenden und der Korporationen und Gilden für das Allgemeinwohl galten. Das Almosen als Gabe des wohlhabenden Bürgers an die Armen als Vertreter Christi jedenfalls wurde zu einem festen Bestandteil des städtischen Lebens, auch in der Pfarrkirche, den Stadtklöstern und den Kapellen. Die seit dem 11. Jahrhundert entstehenden Städte Europas, welche eine Bevölkerungsvermehrung auf dem Lande zur Voraussetzung hatten, waren Anziehungspunkt für Arme und machten Armut plötzlich öffentlich sichtbar. Die religiöse Bewegung des beginnenden 13. Jahrhunderts im Zeichen der freiwilligen Armut des Franziskus von Assisi, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns,67 und die Ordensgründungen der Bettelorden überhaupt oder auch das Leben der Elisabeth von Thüringen, waren Antworten der städtischen Gesellschaft auf diese Herausforderung, ja Provokation der Stadtgesellschaft durch die Armut. In diesem Kontext nimmt die Bedeutung von Bruderschaften und Hospitälern zu, die selbstredend Vorgänger seit dem Frühmittelalter, etwa an Klöstern und Bischofssitzen hatten, aber in der Stadt erheblichen Bedeutungszuwachs erlangten.68 Matthias Kälble hat herausgearbeitet, wie die Entwicklung des Spitalwesens eng mit der Entwicklung städtischer Autonomie in Reichs- und Bischofsstädten verknüpft war. Hier öffneten sich Handlungsfelder der Kaufleute mit ihren Korporationen, die auf kommunaler Ebene in der Ratsverfassung erst sehr viel später möglich wurden. Die Sorge um die Armen wurde konstitutiv für soziale Gemeinschaften in der Stadt und in der Folge für die Stadtgemeinde. Die tradierten kirchlichen Institutionen waren von der ‘neuen’ Armut in der Stadt überfordert und überließen die Hospitäler den neuen bürgerlichen (Laien-) Bruderschaften und den Stiftungen der wohlhabenden Kaufleute.69
67 Zu erinnern ist die besondere Beziehung Datinis zu den Prateser Franziskanern: in der Klosterkirche wählte er seine Grabstätte, traf besondere Zuwendungen zugunsten des Konvents im Testament, der Beichtvater Datinis war Franziskaner, siehe oben und Ser Lappo Mazzei, Vol. II, S. 273–310. 68 Ebd., S. 68–70. 69 Kälble, ‘Sozialfürsorge und kommunale Bewegung. Zur Bedeutung von Hospitälern für die politische Gruppenbildung in der Stadt’, S. 237–71, passim, sowie Oexle, ‘Zwischen Armut und Arbeit. Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen’, 2015 (Nr. 293), S. 68–70.
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Dieser Kontext blieb konstitutiv für ‘Stadt’: Er legitimierte den Reichtum durch die Gabe für die Armen; Almosen waren ein Mittel der sozialen sowie politischen Repräsentation und der Memoria. Armenfürsorge wurde konstitutiv im Sinne der frühen christlichen Gemeinde: Das Almosen überwand die Schranke von Herkunft, Stand und ökonomischer Stellung, machte die Mitglieder der Stadtgemeinde durch Gabe und Gegengabe der Armen zu Gleichen. Almosen und Spitalgründung konstituierten Stadtgemeinde; Armut verlor, auch durch die freiwillige Armut, die negative Konnotation, die wir aus der Moderne und auch aus der Antike kennen. Ähnlich war die Stiftung privater Messen, Altäre und Kapellen in der Stadt als eine Mehrung des Gottesdienstes durch die Kaufleute und die Korporationen als Dienst an Christus konstitutiv für Stadt: Sie mehrten für alle, Reiche wie Arme, die Möglichkeit, in den Kirchen als öffentlichen Räumen der Stadt Bußopfer für das eigene wie das Seelenheil der Stifter zu leisten; Tag für Tag bestimmten Almosen und Memorialgottesdienst ebenso wie Arbeit, politisches Leben, soziale Gruppenbildung in den Gilden und Zünften, aber auch den Bruderschaften, den Rhythmus des städtischen Alltags.70 Die beiden diskutierten Handlungsorte dienten dem Verständnis der Selbstsicht und -deutung in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Die aufgezeigten Deutungen bewegten sich im ‘common sense’ der Religiosität der Zeit. Sie dokumentieren menschliches Handeln, das sich nicht, um in der Diktion von Burckhardts ‘Kultur der Renaissance in Italien’ zu sprechen, von der Vergangenheit löste und ‘mit voller Macht das Subjektive’ freisetzte, mit dem ‘der Mensch geistiges Individuum wird und sich als solches erkennt’. Das Wandgemälde reflektiert vielmehr die Deutung der Stadt als Sakralgemeinschaft, ja der Himmlischen Stadt, die schon seit Jahrhunderten auf die eigene Stadt übertragen worden war. Die Stiftung des Ceppo nuovo durch einen sehr reichen Patrizier folgte der tradierten Deutung der christlichen Memoria und Erinnerungskultur. Die Stiftung zeigt Memoria als ‘totales soziales Phänomen’ […] dessen Dimensionen das bloß Liturgische und sogar das bloß Religiöse weit überschreiten. Memoria integriert alle Lebensbereiche, und alle denkbaren Aspekte der Lebenswelt kommen in Memoria zum Ausdruck. […] Memoria der Vorfahren und eigener Ruhm (fama) […] sind ineinander verschlungen […]71 Wenn wir mit Otto Gerhard Oexle ‘die moderne Geschichtswissenschaft als eine Historische Kulturwissenschaft verstehen’, und auf Denkformen, Mentalitäten und geistige Haltungen von Individuen und Gruppen sowie auf die aus diesen resultierenden sozialen Handlungen mit entsprechenden Objektivationen beziehen, hier schriftliche und künstlerische Werke sowie eine soziale Einrichtung, so sind hier ‘Hervorbringungen des Menschen’ in Religion und Wirtschaft, in 70 Siehe hierzu in Zukunft mein Buch mit dem Arbeitstitel Im Bann des Todes. Memorialpraxis und Konstituierung von Stadt im Spätmittelalter – das Beispiel: Dortmund, das in absehbarer Zeit in dieser Reihe erscheinen soll. 71 Oexle, ‘Memoria als Kultur’, 1995 (Nr. 97), S. 39 f.
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Kunst und Recht gewürdigt und damit einerseits über Formen des kulturellen Gedächtnisses in der Mitte des 15. Jahrhunderts informiert und andererseits in Formen von wissendem kulturellen Gedächtnis transformiert.72 Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, und auch Pius II. oder Vespasiano Gonzaga, verstanden sich als Teil einer Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen, als Teil eines ‘rollierenden’ Systems, das im Sinne der Confessiones des Augustinus (XI, 20, 26: ‘praesens de praeteritis’, ‘praesens de praesentibus’ und ‘praesens de futuris’) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinte, Gruppen organisierte und die Gesellschaft der Stadt (mit) konstituierte. Der Stadtbau in Pienza und Sabbioneta verdankte sich wesentlich auch dieser Deutung von Leben und Tod, von Memoria, und von der Fama der Stadterbauer. Hierbei ist stets zu berücksichtigen, dass das Totengedenken einem diachronen Formenwandel unterworfen war und in jeder Zeit neuen Ausdruck fand – Memoria und Fama wurden an der Wende zur frühen Neuzeit durchaus profanisiert, ohne für Jahrhunderte den religiös-liturgischen Ursprung gänzlich abzustreifen.73 Die die Stadt als Sakralgemeinschaft konstituierenden Aspekte nutzten Stadterhebungen des 15. und 16. Jahrhunderts für die Fama und Memoria, für die Erinnerung, das Gedächtnis und liturgisches Gedenken des Stadtherren und seiner Herkunft wie seines Geschlechts aus. Schauen wir zunächst auf Stadtbau und -erhebung von Pienza. III. Pienza (1459–64) 1. Pius II.: Biographie, Pienza, Commentarii
Giovanni Antonio Campano, Sekretär und Panegyriker Papst Pius’ II., wies in einer Lobpreisung des Papstes auf die Verleihung von Statuten und neuen Gesetzen anlässlich der Erhebung von Corsignano zur urbs Pienza hin, was Pius II. in die Commentarii zitierend übernommen hat: Per idem tempus Pius in Senatu rettulit de loco nativitatis suae in civitate erigendo; quod summo consensu factum est et pro Corsiniano Pientia dicta. Quam rem Campanus his versibus explicavait: Quae nova sublimi prosurgo Pientia colle Causa mei quae fit nominis ipsa loquar Me Pius ornatam templo murisque refectam Esse urbem voluit quae fueram oppidulum Texta suae gentis primis in moenibus aedes Tangere marmoreum sidera iussit opus
72 Siehe zuletzt Oexle, ‘Die Memoria der Reformation’, 2016 (Nr. 294), S. 33 f. 73 Siehe exemplarisch Schilp, ‘Totengedenken des Mittelalters und kulturelles Gedächtnis. Überlegungen zur Perspektive der Memoriaforschung für das Frauenstift Essen’, S. 19–36.
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Addidit et nomen lectoque e more Senatu Urbanos ritus et nova iura dedit Ad vos vicina quae surgitis oppida terra Invidiae nihil est nam genui ipsa Pium.74 (Zu dieser Zeit trug Pius dem Senat vor, den Ort seiner Geburt zu einer Stadt zu erheben; dies wurde mit größter Zustimmung angenommen, und Corsignano wird nun Pienza genannt. Dies hat Campanus in den folgenden Versen ausgedrückt: Ich, das neue Pienza, erhebe mich auf einem hohen Hügel, und werde selbst erklären, was der Grund meines Namens ist. Pius hat gewollt, dass ich, geschmückt von einer Kirche und mit Mauern umgeben, Stadt werde, der ich vorher nur ein kleines Örtchen war. Das Haus seines Geschlechts sollte, nahe bei den Mauern und ein Palazzo in Marmor, den Himmel berühren. Er hat mir auch (s)einen Namen gegeben, und nachdem dieser, wie es Brauch ist, vom Senat bestimmt war, hat er mir städtische Satzung und neue Gesetze gegeben. Ihr benachbarten Städte, seid nicht von Neid erfüllt: denn ich selbst habe doch Pius hervorgebracht.) In den gewählten Zusammenhang der Commentarii passen diese Worte von Giovanni Antonio Campano eigentlich nicht so recht, berichten die zitierten Verse des Panegyrikers doch über die Stadterhebung zu Pienza, obwohl es eigentlich in diesem Abschnitt um ganz Anderes geht: um die Aufhebung der Abtei Sant’ Antimo bei Montalcino nämlich. Aus deren Grundbesitz wurden die von Pius gegründeten Bistümer Pienza und Montalcino fundiert und vermögensrechtlich ausgestattet. Zusammen sollten sie aber nur einen Bischof, jedoch in beiden Orten je eine Kathedralkirche und ein Domkapitel erhalten. Es kam also de facto zur Gründung einer Diözese Montalcino-Pienza, ein Vorgang, dem das Kardinalskollegium, so der Bericht der Commentarii, zustimmte.75 Die Zustimmung zur Stadterhebung und den Großbauten im Geburtsort des Papstes sind in dieses Projekt eingegliedert und die Zustimmung der Kardinäle einfach unterstellt. Pienza, die kleine Stadt, über deren rechtliche Erhebung zur civitas durch Papst Pius II. kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts es im Folgenden gehen wird, liegt in der südlichen Toskana über dem Orciatal, gut 50 Kilometer südöstlich von Siena. (Abb. 4) Enea Silvio Piccolomini hatte sich nach seiner am 19. August 1458 erfolgten Wahl zum Papst Pius II. offensichtlich entschlossen, aus seinem Geburtsort Corsignano, einem Dorf, das zum Territorium der Stadt Siena zählte, eine Stadt zu machen und diese nach seinem Papstnamen Pientia,
74 Pius lässt 1462 das Kardinalskollegium, seinen ‘Senat’, damit auch der Stadterhebung von Corsignano und der Umbenennung des Ortes in Pienza zustimmen. In diesem Zusammenhang zitieren die Commentarii das Lobgedicht: Commentarii 2, Liber VIII, 5, S. 1576. 75 Die Commentarii zitieren aus: Giovanni Antonio Campano, ‘Vita Pii Papae’, in Rerum Italicarum scriptores, Bd. 3, 2, hrsg. von Ludovico Antonio Muratori (Mediolani: 1734), S. 969–92.
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Abb. 4: Blick aus dem Orciatal auf die (südliche) Silhouette von Pienza mit dem Turm des Palazzo Pubblico, Dom und Palazzo Piccolimini im Zentrum (Foto: Annemarie Stauffer). (Farbtafel VIII)
Pienza zu nennen.76 Nördlich des Flusses Orcia gelegen, liegt Corsignano beziehungsweise Pienza gegenüber dem Monte Amiata (Abb. 5), dem mit 1738 Metern höchsten Berg der Süd-Toskana, der die Region beherrscht und bis heute als einst paganer Kultberg mit Legenden und Mythen belegt ist.77 Enea Silvio Piccolomini war 1405 als Sohn einer sienesischen Adelsfamilie geboren worden, die im Kontext der republikanischen Entwicklung Sienas entmachtet und an den Rand des städtischen Territoriums, eben nach Corsignano, verdrängt worden war und dort zusehends verarmte. Als Papst hat er mit den
76 Zur Biographie und Person von Enea Silvio Piccolomini / Pius II., auf die hier ebenso wenig wie auf die Bewertung seines Pontifikats im Einzelnen eingegangen werden kann, siehe aus der reichen Fülle der Literatur den Überblick von Esch, ‘Auf Ausflug mit Pius II. Ein Papst erlebt die Landschaft der Frührenaissance’, S. 6–13, Ders., ‘Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II.: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung’, S. 112–40 sowie zuletzt Ders., Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance 1378–1484, S. 243–63 (mit den Nachweisen weiterführender Literatur). Paparelli, Enea Silvio Piccolomini – Pio II. Die Deutung des Lebens vor dem Pontifikat von Pius II. selbst (einschließlich der berühmten Beschreibung des Konklave mit seiner Papstwahl in Commentarii 1, Liber I, 36, S. 194–226,) siehe Liber I–V der Commentarii 1. Schwerpunkt der Commentarii, und immer ausführlicher beschreibend, ist eindeutig der Pontifikat mit den vergeblichen Bemühungen um den Kreuzzug gegen die Osmanen, die scheiternden Versuche der Vereinigung von West- und Ostkirche in dieser Situation sowie die päpstlichen Siege gegen die Widersacher des Kirchenstaats und des Papsttums in Italien Giovanni Pandolfo Malatesta aus der Emilia Romagna (Rimini) und Jacopo Piccinino aus Umbrien. 77 Commentarii 2, Liber IX, 1, S. 1646–54 mit der Beschreibung des Monte Amiata und der Abbadia San Salvatore, die von Pius als verarmt und heruntergekommen beschrieben wird. Pius hielt sich mit Gefolge wiederholt am Monte Amiata auf, siehe hierzu die Beobachtungen und Überlegungen von Esch, ‘Auf Ausflug mit Pius II. Ein Papst erlebt die Landschaft der Frührenaissance’, S. 6–68.
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Abb. 5: Blick von der Loggia des Palazzo Piccolomini in Pienza auf den Monte Amiata, links Radicófani (Foto: Annemarie Stauffer).
Commentarii ‘Memoiren’ oder eine ‘Autobiographie’78 hinterlassen, die aber, bei aller persönlichen Zeichnung, insgesamt eher als ein Rechenschaftsbericht für sein Pontifikat zu verstehen sind. Pius schrieb die Commentarii zum Teil eigenhändig, zum Teil diktierte er die Texte seinen Sekretären, er redigierte jedoch stets selbst.79 Bereits die Bezeichnung dieser durchaus persönlich gehaltenen Aufzeichnungen für die Jahre 1458 bis 1464 als Commentarii lässt aufmerken, knüpfte Pius hiermit doch bewusst an eine Textgattung der Antike an. Commentarii der römischen Antike verzeichneten ausgehend von privaten Haushaltsbüchern denkwürdige Ereignisse des eigenen und des politischen Lebens, schließlich Rechenschaftsberichte von Verwaltungs- oder Priesterkollegen sowie tagebuchartige private Aufzeichnungen. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. entwickelte sich hieraus ein Medium politischer Selbstdarstellung,80 die schließlich in Cäsars Commentarii belli Gallici gipfelten.
78 So Esch wiederholt in den zitierten instruktiven Aufsätzen (siehe Anm. 75). 79 Siehe hierzu Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 84–86. 80 Die archaische Literatur von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v. Chr., S. 57, 63 f. Jörk Rüpke, Artikel: ‘Commentarii’, in Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3 (Stuttgart und Weimar: Verlag J.B. Metzler, 1997) Sp. 99 f. sowie Anton vom Premerstein, Artikel: ‘Commentarii’, in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Bd. 7,1 (Stuttgart: Druckenmüller Verlagen, 1958), Sp. 726–59. Siehe hierzu in differenzierter Bewertung O’Brien, ‘Arms and Letters: Julius Caesar, the Commentaries of Pope Pius II, and the Politicization of Papal Imagery’, 1067–97.
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Pius zitiert mit der Bezeichnung seiner Aufzeichnungen den antiken Brauch der Großen und vor allem Cäsars, auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung und des Ruhms, der Fama, die Schilderung der eigenen Taten folgen zu lassen. Ich gehe zu den Römern über. Was wäre gewählter, was sprachgewaltiger geschrieben als die Commentarii, die Julius Caesar gegeben? Er hat, während er in Gallien Krieg führte, den Tag dem Waffenhandwerk, die Nacht dem Schrifttum gewidmet.81 Der humanistische Papst nahm also Maß an dem als ‘groß’ empfundenen kriegerischen Vorbild des römischen ‘Diktators auf Lebenszeit’, dem ‘Totengräber’ der Republik und Vorbereiter des Kaiserreichs. Ohne mit der Wimper zu zucken verknüpfte Pius mit den Commentarii, schon mit der Bezeichnung und in der Vorrede beziehungsweise Einleitung, die Bedeutung des Ruhms in der römischen Antike mit der christlichen Hoffnung und Orientierung auf Erlösung, auf die jenseitige Seligkeit, die nur durch die Aktion der Lebenden erreicht werden kann. Dementsprechend lautete die Begründung des Papstes für die Abfassung der Commentarii in der Vorrede: Si perit morte animus, ut falso censuit Epicurus, nihil habet fama quod ei conferat […] Accusatur, reprobatur dum vivit inter nos Pius secundus; extinctus laudabitur […] Cessabit invidia post obitum, et […] vera resurget fama, Piumque inter claros pontifices collocabit.82 (Wenn die Seele mit dem Leib im Tode zugrunde geht, wie Epikur irrig behauptet, so hätte der Ruhm nicht den geringsten Sinn […] Heute, da Pius II. noch lebt, wird er angeklagt und verflucht; erst wenn er tot ist, wird man ihn loben […] Nach seinem Tod wird der Neid verstummen, sein wahrer Ruhm wird verkündet werden und man wird ihn unter die großen Päpste einreihen.) In vielfacher Hinsicht nahm Enea Silvio Maß an antiken Vorbildern, auch in der Diktion bewegt er sich mit templum für die Domkirche, mit forum für die zentrale Piazza oder mit urbs für civitas nahe am antiken Sprachgebrauch; schon der gewählte Papstname beschwört den pius Aeneas Vergils.83 Der Stadtbau und die Stadterhebung Pienzas rekurriert auf spätantike und ältere Traditionen, auch da dieser Akt direkt hinter die Schwelle der Wahl zum Papst gesetzt ist. Die Commentarii sind in zwölf Büchern niedergeschrieben und nehmen damit im christlichen Sinne auch Bezug auf die Himmlische Stadt mit ihren zwölf
81 Aus einem Brief an Herzog Siegmund von Tirol, zitiert nach der Übersetzung von Bürck, Selbstdarstellung und Personenbildnis bei Enea Silvio Piccolomoni (Pius II), S. 13. 82 Commentarii 1, Prefatio, S. 2–4. 83 Vergil, Aeneis I, 378 f.: Aeneas gibt sich seiner Mutter mit dem Vers zu erkennen: Sum pius Aeneas, raptos qui ex hoste penates / classe veho mecum, fama super aethera notus. Enea Silvio Piccolimini wird Pius II., er interpretiert sich – mit höchstem Anspruch und Geltungsbewusstsein – als der wiedererstarkte, der zweite Aeneas! Die mythische Kraft des Stammvaters der Römer erwacht in seinem Pontifikat, in seiner Person!
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Türmen. ‘Gottes Reich’ wurde seit dem frühen Mittelalter als eine gebaute Stadt gedeutet – mit Mauern, Türmen und Toren. Schon die Vision des Propheten Ezechiel beschreibt quasi aedificium civitatis mit Mauern und Toren auf einem hohen Berg, quadratisch angelegt, dessen Maße in exakter Form angegeben sind (Ez. 40 ff.). Die Apokalypse des Johannes hat diese Vision aufgegriffen (Apk. 21, 9–22).84 Stadtbau und Stadterhebung Pienzas nehmen breiten Raum in den Commentarii ein. Pienza, und das muss Pius gespürt haben, sollte das werden, was nachhaltig an seinen Pontifikat erinnerte. Die Commentarii und Pienza, die interessiert geschönte ‘Autobiographie’ und seine Stadt Pienza, erinnerten nun und vor allem die Fama des humanistischen Papstes. Freilich wurde Pius auf eigenen Wunsch nicht in Pienza, sondern in St. Peter in Rom bestattet, wohl den ‘neuen Aufgaben des Papsttums seiner Zeit’ folgend.85 Hinzu kommt als Quelle der berühmte Freskenzyklus mit zehn Szenen aus dem Leben des Papstes in der Libreria Piccolomini des Doms zu Siena, auf den hier hinzuweisen ist, obwohl Pienza gar nicht begegnet. Über der Libreria befindet sich eine Kapelle des 16. Jahrhunderts, in die man nur über eine Treppe im Innern der Kirche gelangt.86 Der Zyklus, dessen meist profaner Gehalt so überhöht dargestellt ist, dass sich Parallelen zu einer Heiligenvita ergeben, wurde von Kardinal Francesco Todescho Piccolomini, dem späteren 26-Tage-Papst Pius III. (gewählt 22. September 1503, † 18. Oktober 1503) initiiert; er beauftragte für das Kunstwerk (1502 begonnen und 1508 beendet) Bernardino di Betto genannt il Pinturicchio. Der Stifter erinnerte mit dem Zyklus an Enea Silvio Piccolomini und dessen Familie, mütterlicherseits sein Onkel, der ihn selbst und die Familie im Rahmen des päpstlichen Nepotismus sehr gefördert hatte. Piccolomini, deren Verwandte und Sienesen besetzten unter Pius II. Bischofsstühle, Ämter an der Kurie und im Kirchenstaat; Arnold Esch weist darauf hin, dass von den 820 Ernennungen seines Pontifikats rund 15% Verwandten oder Sienesen galten,87 und auch der Urheber und Schenker der künstlerischen Bibliotheksausstattung 84 Siehe hierzu bereits oben S. 150. 85 Vgl. Borgolte, Petrusnachfolge und Kaiserimitation. Die Grablegen der Päpste, ihre Genese und Traditionsbildung, S. 276–81, 276. Hier auch zur Bedeutung des Empfangs der Reliquien des Apostels Andreas, vor allem des Hauptes, das die Paleologen Thomas und Andreas vor den Türken geflüchtet hatten; die Reliquien wurden am Palmsonntag 1462 in Rom übergeben. Pius hat in der Peterskirche für den Apostel einen eigenen Altar im Südosten errichtet, und dort fand Pius auf eigenen Wunsch seine letzte Ruhestätte. Mit dem Bau von Neu-St. Peter und der Errichtung der Apostelkirche St. Andrea della Valle in Rom wurde das Grab Pius II. mit dem monumentalen Grab, das Andrea Bregno geschaffen haben soll, verlegt (ebenso das Grab seines Neffen Papst Pius III.). Sowohl auf die Reliquien des Apostels Andreas, dessen griechisches Reliquiar nach Pienza gebracht wurde (und den dortigen Dom aufwertete), als auch das Grabmonument kann hier nicht näher eingegangen werden (siehe hierzu auch S. 188‚ Abb. 21). 86 Zum Folgenden siehe die die Forschung zusammenfassenden Bemerkungen von Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2: Die Blütezeit 1470–1510, S. 296–331, mit hervorragenden Abbildungen. 87 Pius II. gilt als erster Nepotenpapst der Geschichte, vgl. Esch, ‘Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II.: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung’, S. 127 f.
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war von Pius II. 1460 in Siena zum Kardinal ernannt worden, um erst 1466, nachdem er zuvor päpstlicher Administrator von Siena war, als Kardinal investiert zu werden. In der Ausgestaltung der Libreria steht die Memoria Pius II. im Vordergrund, doch auch der Stifter weiß für das Gedenken seiner Person im Bild zu sorgen, unter anderem durch Wappen des Kardinals und Papstes Pius III. im Mittelfeld der Decke, durch Inschriften und vor allem durch die stupende Darstellung der Krönung seiner selbst auf der Schauseite der Außenfassade der Libreria; dort sehen wir in der Lünette über dem Portal auch das Wappen des Stifters, noch als Kardinal, und rechts daneben in der Lünette das Papstwappen seines Onkels Pius II.88 Die zehn Szenen des eigentlichen Zyklus, die zur Entstehungszeit bereits historisch geworden waren, erinnern Etappen des Lebens von Pius II. und folgen den Commentarii: 1. Aufbruch zum Konzil nach Basel im Gefolge von Domenico Capranica, Bischof von Fermo; mit Errettung von Enea Silvio Piccolomini aus dem Sturm auf See, 1431. 2. Audienz bei König Jakob I. von Schottland als Abgesandter des Basler Konzils, 1431. 3. Dichterkrönung durch den Habsburger Friedrich III., 1442. 4. Huldigung im Namen Friedrichs III. vor Papst Eugen IV., im Hintergrund Priesterweihe von Enea Silvio, 1445. 5. Zusammenführung Kaiser Friedrichs III. mit Eleonora von Portugal als Bischof in Siena; im Hintergrund vedutenhafte Ansichten Sienas, 1452. 6. Erhebung zum Kardinal, 1456. 7. Krönung zum Papst, 1458. 8. Fürstenkongress zu Mantua, auf dem über einen Kreuzzug gegen die Osmanen beraten wird, 1459. 9. Kanonisation der Katharina von Siena, 1461. 10. Die letzte Szene, 1464 am Abend vor dem geplanten Aufbruch der rudimentären Kreuzzugsflotte, zeigt eine Versammlung, die so gar nicht mehr stattgefunden haben kann. (Abb. 6) Die Darstellung ist bloßes Programmbild: Im Hintergrund rechts ist Ancona mit Trajansbogen, Stadttor und -mauern, mit einer venezianisch-gotischen Kirchenfassade, überragt auf dem Hügel von der Kathedrale St. Ciriaco zu sehen; im Hintergrund mittig und links Galeeren und Schiffe der venezianischen Flotte für den Kreuzzug. Der sichtlich erkrankte Papst in Pontifikalgewändern und Tiara thront in einer Sänfte hoch über den um ihn Versammelten, unter denen eindeutig nur der venezianische Doge Cristoforo Moro, begleitet von einem den Dogenhut tragenden jugendlichen Pagen auszumachen ist; hinter ihm steht ein bärtiger Würdenträger in blauem Gewand und Hut, der als byzantinischer Prinz Thomas Palaiologos identifiziert wurde. Die Männer in orientalischer Kleidung rechts sind als Vertreter der osmanischen Geiseln zu deuten, die auf dem Kreuzzug mitgeführt werden sollten. Die Bemühungen um den Kreuzzug gegen die den Okzident massiv bedrohenden Osmanen setzten den politischen Hauptakzent des Pontifikats von Pius II. Als schließlich eine von den Venezianern gestellte Flotte mit Galeeren, die teuer bezahlt werden musste, mit einem Rumpfheer von Ancona aus in See stechen
88 Siehe Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2: Die Blütezeit 1470–1510, Tafeln 153–73, S. 310–31.
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Abb. 6: Siena, Dom, Libreria Piccolomini, Wandmalerei mit zehn Szenen aus dem Leben des Enea Silvio Piccolomini / Papstes Pius II. von Bernardino di Betto genannt il Pinturicchio, 1502–08; hier: Huldigung der zum Kreuzzug vor Pius II. in Ancona Versammelten, 1464 (am Tage vor dem Tod Pius II.) (aus: Roettgen, Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2: Die Blütezeit 1470–1510, Tafel 173, S. 331).
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wollte, starb Pius am 15. August 1464 und der Kreuzzug fand gar nicht mehr statt. Das zentrale Anliegen des Pontifikats, eine Allianz des christlichen Abendlandes gegen die osmanische Bedrohung, war gescheitert – die Rumpfmannschaft verließ den Hafen gar nicht mehr und zerstreute sich rasch.89 Pius lässt die Commentarii mit dem Satz beginnen: Familia Picolomineorum ex Roma in Senas translata, und fährt fort, in Siena hätten die Piccolomini stets zu den ältesten und edelsten Geschlechtern gehört.90 Erst als die Nobiles von der Plebs aus dem Regiment über die Stadt Siena verdrängt wurden, demütigte (humaliata est) Siena die domus Piccolomini.91 Wichtig für den Papst war die Herkunft seines Geschlechts aus Rom, denn die Abstammung prädestinierte für große Aufgaben. Der Ort Corsignano wurde von Pius erhöht zu einer römischen Gründung des Corsinius, eines wichtigen Offiziers von Sulla.92 Die alte und vornehme Herkunft zeichnete gemäß seiner Auffassung den Lebensweg, die Karriere zum Papst entsprechend göttlicher Vorsehung vor, und das zieht sich dann wie ein roter Faden durch die ‘Autobiographie’: Die Errettung aus Gefahren, schon in der frühen Kindheit, die Überwindung von Krankheiten, Träume, Visionen, auch der Mutter, determinierten die eigene Karriere;93 und all dies lässt uns Irrungen, und durchaus Aberglauben, des gelehrten Humanisten des 15. Jahrhunderts erkennen. Enea Silvio hat in den Commentarii sogar sein Geburtsdatum geändert: Er diktierte seinem Sekretär zunächst den 24. August 1405 und korrigierte dann eigenhändig im Manuskript auf den 18. Oktober, den Tag des Evangelisten Lukas. Das Geburtsdatum wird vom Sekretär mit den achten Kalenden des Septembers 1405 angegeben: Eneas etiam patris Silvii nomen accepit, et quia septembris octavo kalendas natus est, ob reverentiam apostoli, quem tali die martirio coronatum asserunt, Bartholomaeus appellatus est.94 89 1453 war Konstantinopel und damit die ‘Brücke’ nach Europa von den Osmanen eingenommen worden, 1456 wurde Belgrad von einem osmanischen Heer belagert – die Gefahr der Eroberung Europas und damit der Gefährdung der Existenz der christlichen Kirche wurde nicht nur von der Kurie empfunden. Zur Problematik siehe den Überblick nach den Commentarii von Reinhardt, Pius II. Piccolimini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann, S. 208–67 und 336–62. 90 Commentarii 1, Liber I, 1, S. 6: Familia Picolomineorum ex Roma in Senas translate, inter vetustiores et nobiliores civitatis habita, dum optimates rei publicae praefuerant. 91 Ebd., S. 6. 92 Siehe hierzu Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 84. 93 Commentarii 1, Liber I-V, passim. 94 Ebd., Liber I, 2, S. 8. Der Codex Reginensis (Bibliotheca Vaticana Cod. Reg. 1995, fol. 2v) wurde von Pius einem Sekretär diktiert und anschließend von ihm redigiert, überarbeitet und korrigiert. Diese Korrekturen sind dann in der endgültigen Reinschrift des Codex Corsinianus (Rom, Bibliotheca dei Lincei Nr. 147, Reinschrift abgeschlossen am 12. Juni 1464) nicht mehr erkennbar, da einfach übernommen. Siehe hierzu die Edition der Commentarii nach dem Codex Reginensis von van Heck (Bd. 1, Liber I, 2, S. 41 mit Abbildung der Seite mit der Korrektur des Geburtsdatums, Tafel 8), der die Korrektur der Hand von Pius II. zuweist. Siehe auch Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 84–87, ebenfalls mit einer Abbildung der entsprechenden Seite fol. 2v des Codex Reginensis.
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Pius korrigierte diese Textstelle wie folgt: Eneas etiam patris Silvii nomen accepit «et ob reverentiam apostoli, quem Indorum barbari decoriarunt, Bartholomei, trinomin(i)s enim fuit, Eneas Silvius Bartholomeus appellatus. Editus autem est in lucem ipsa luce sancti evangeliste Luce 14. kalendas novembris anno salutis 1405».95 Das überrascht und verblüfft; warum beging der Papst diesen ‘Betrug’, der zwar von den Editoren festgestellt, aber bisher kaum Gegenstand der Forschung war? Wir können, Jan Pieper folgend,96 hier nur begründete Vermutungen anstellen: 1. Die Sterne am eigentlichen Geburtstag standen schlecht, das Horoskop versprach Krankheit, kurzes Leben, körperliche Behinderung und geistige Lähmung. 2. Auf dem 24. August lastete ein Fluch – es war einer der Unglückstage des römischen Altertums, an dem die Manen und Lemuren der Unterwelt aufstiegen, um den Lebenden ihren unheimlichen Besuch abzustatten; an diesem Tag war der Vesuv ausgebrochen und hatte Pompei zerstört – und ausgerechnet an diesem Tag sollte ein Papst geboren sein? 3. Mit dem Tag des Evangelisten Lukas wurde ein Tag mit gutem Omen gefunden: Hier gab Pius sogar seine Geburtsminute ‘mit dem ersten Licht’ an, also mit dem Sonnenaufgang. Herrschereigenschaft des Geborenen, Gabe der Schrift und der Rede, diplomatisches Geschick und wissenschaftliche Begabung bedeuteten ein positives Horoskop für diesen Tag der Geburt von Enea Silvio Bartholomeo. Zudem: In mehrfacher Anspielung auf den Namen Lukas mit deklinierten Formen von lux wird in den Commentarii eine antik verstandene Lichtgeburt des späteren Papstes, ein natus ad lucem, wie es ähnlich nur von Augustus hieß. Der Erfolg des Lebenswegs von Enea Silvio war nach dessen Auffassung durch die Sterne vorgezeichnet. 2. Rezeption und Forschung
Seit dem 19. Jahrhundert gilt das in Pienza mit großem Aufwand in nur wenigen Jahren, nämlich zwischen 1459 und 1464, errichtete Zentrum als der ‘Frührenaissance-Platz’ mit Stadtanlage. (Abb. 7) Nach 1464 freilich versank Pienza in einen Dornröschenschlaf – nach dem Tod von Pius II. entfielen Geist und Motor der geplanten Stadt, es fehlte plötzlich das politische Subjekt für
95 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 84–87, die Korrektur auf dem linken Rand von fol. 2v des Codex Reginensis ist von mir in « » gestellt. Mit den 14. Kalenden des November (= 19. Oktober) liegt freilich eine Verschreibung von Pius vor, denn der Tag des Evangelisten Lukas ist (eindeutig) der 18. Oktober, ebenso ist der Bartholomäustag falsch mit den 8. statt den 9. Kalenden des September angegeben; siehe hierzu und einer lokalen sienesischen Gewohnheit der Nutzung des römischen Kalenders Anm. 137 zu S. 85 bei Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 591. In der Korrektur der Commentarii von Pius erlitt Bartholmäus sein Martyrium, wie in der Legende, indem ihm die Haut (bei lebendigen Leib) abgezogen wurde, der Apostel wird also im Zitat nicht enthauptet, wie Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 85 meint. 96 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 85 f.
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Pienza. Es war auch gar nicht alles zu Ende gebaut worden, was geplant war.97 Die Kardinäle und Bedienten der Kurie, die von Pius zum Bauen animiert und gedrängt worden waren, zogen zum Teil in die errichteten Häuser gar nicht erst ein. Der Dornröschenschlaf sorgte freilich für die weitgehende Erhaltung der Bausubstanz Pienzas. So hatten verschiedene Autoren des späten 15. und des 16. Jahrhunderts immer wieder auf die Piusstadt Bezug genommen, aber die Beschäftigung kam bald zum Erliegen. Das mag auch daran gelegen haben, dass Pienza circa eine Stunde von der via Cassia als der Hauptstraße nach Rom entfernt lag; von Buonconvento, dem wichtigsten Etappenort nach Süden im Sieneser Gebiet, war die Ewige Stadt in nur noch zwei bis drei Tagesreisen zu erreichen. Bei Radicófani betrat der Reisende zudem bereits den Kirchenstaat. So nimmt es nicht wunder, dass schon Giorgio Vasari, der 1568 über Pienza schrieb, den Ort gar nicht besucht haben kann, denn den vielleicht wichtigsten Bau, den Dom, erwähnt er mit keinem Wort und weist Pienza auch noch einem falschen Architekten zu.98 Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich allmählich ein wissenschaftliches Interesse an Pienza. Den Anfang setzte Carl Friedrich von Rumohr 1826/1827, der Pienza regelrecht neu entdeckte, dessen städtebauliche Bedeutung erkannte und auch Bernardo Rossellino als den Architekten von Pius identifizierte.99 Jacob Burckhardt kannte Pienza zunächst offensichtlich nur vom Hörensagen; 1855 beschreibt er im für Generationen grundlegenden Werk Cicerone Pienza, das er wegen der abgeschiedenen Lage noch gar nicht selbst besucht hatte, in wenigen Worten: Der Papst erbaute das alte Corsignano […] zu P i e n z a, zur ‘Stadt des Pius’ um; dort sollen noch ein grösserer Palast, eine Bischofswohnung, die Kirche und die Hallen des Platzes eine vollständige Baugruppe edler Frührenaissance darstellen. Leider kann der von Rom Abreisende aus bekannten Gründen nur mit unverhältnismäßigen Opfern seine Etappen selber bestimmen, und so wird Pienza selbst bei mehrmaligen Reisen dem Kunstfreund in der Regel entgehen.100 Erst die neuen Verkehrsmittel des späten 19. und des 20. Jahrhunderts haben Pienza, das zum Jahresende 2016 mit 2.086 Einwohnern nur wenig mehr Bewohner als 1460101 zählt, zugänglicher gemacht und belebt; neben Landwirtschaft und
97 Selbst der Palazzo des Papstes war nicht fertig gebaut worden; vor allem das zweite Obergeschoss blieb mit dem Tod als Baustelle liegen. Siehe hierzu Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 57. 98 Vasari, Le vite de’ più eccelenti pittori, scultori e archettori, S. 410. Vasari schrieb Pienza noch dem Sieneser Architekten Francesco di Gorgio Martini zu. 99 Rumohr, Italienische Forschungen, Zweyter Theil, S. 177–99. 100 Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens, S. 183 f. Dies wird nach einem Besuch Burckhardts in Pienza für die dritte Auflage des Cicerone 1869 korrigiert. 101 Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus, S. 39 gibt, unter Hinweis auf eine ungedruckte Arbeit von Nicholas Adams, The Construction of Pienza (1459–64) and the Consequences of „Renovatio“, 1983, S. 8–13, für Corsignano im Jahre 1320 350 Häuser und mindestens 1.500 Einwohner an.
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Abb. 7: Stadtgrundriss von Pienza, um 1460
( nach Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus, Beilage) A B C D E F G H I K L M
Dom Palazzo Piccolomini Bischofspalast Domkanonikerhaus Palazzo Pubblico Palazzo Ammanati-Piccolomini, Kardinal von Pavia Chiesa San Francesco mit Kloster Palazzo Jean Jouffroy, Kardinal von Arras Palazzo Francesco Gonzaga (später Kardinal von Mantua) Palazzo eines Kardinals oder eines hohen kurialen Beamten Case Nuove weitere Case Nuove, nach 1464?
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Pecorino-Käse hat der moderne Tourismus dem Ort ein weiteres wirtschaftliches Standbein verschafft. Beim Überblick über die Forschung konzentriere ich mich auf einige Kernthesen vor allem der jüngeren deutschen Forschung: Hanno-Walter Kruft hat 1989 Pienza den ‘Städten in Utopia’ zugewiesen, als ‘die erste Idealstadt der Renaissance’ und als den ‘ersten Realisierungsversuch einer Utopie’ der europäischen Geschichte bezeichnet, als den ‘ersten Versuch einer urbanistischen Erneuerung größeren Ausmaßes seit der Antike’ und zugleich als ‘höchst subjektiven und ästhetischen Eskapismus’ eingeordnet.102 Andreas Tönnesmann bezog 1990, an Überlegungen Krufts anknüpfend, in einer insgesamt grob bleibenden Baubeschreibung für Pienza politische Utopie, Architekturtheorie und -praxis des Humanismus aufeinander.103 Er bleibt leider weitgehend bei dem theoretischen Anspruch der Einleitung stehen und er fasst in lockerer Folge Ergebnisse älterer Forschungen zusammen. Pienza, so sein Urteil, sei ‘als Denkmal konzipierte Stadtgründung’, sei ‘Konsequenz einer subjektiv gefärbten autobiographischen Reflexion’,104 sei mithin ein autobiographisches Denkmal.105 Jan Pieper hat 1997 nicht nur erstmals eine exakte Baubeschreibung Pienzas vorgelegt, sondern auch die fundierte Einordnung der Baugestalt in den Humanismus der Mitte des 15. Jahrhunderts vorgenommen, die nicht in allen Einzelheiten geteilt werden muss, aber mannigfache weiterführende Überlegungen bietet und ermöglicht. Er bezeichnet Pienza als ‘Entwurf einer humanistischen Weltsicht’.106 Das Buch breitet eine Materialfülle aus, die auf jahrzehntelanger Beschäftigung mit Pienza beruht. Die Erkenntnisse von Pieper sind für jede neue Arbeit über Pienza unverzichtbar.107 Haben wir bisher in aller Kürze Thesen von Architektur- und Kunsthistorikern vorgestellt, so geht der Historiker Volker Reinhardt in seiner 2013 erschienenen Biographie Pius’ II. eigentlich nur dilatorisch und ruppig auf die Gründung Pienzas ein. Zur Stadt, so sein moralisierendes Verdikt, urteilt er: ‘Er (Pius II., d. Verf.) investierte das viele Geld in das Museum seiner persönlichen Größe’. ‘Pienza sei bloße Bühne für ein immerwährendes Ruhmesschauspiel’, ‘dieses Stück handelt allein von Enea Silvio Piccolomini’. Pienza sei insofern keine humanistische Idealstadt, sondern das ‘Zeugnis einer Selbsterhöhung, das die Idee persönlicher Größe in schwindelerregende Höhen steigerte.’108 Bernd Roeck geht in seiner 102 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 22, 25, 30 und 32. 103 Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus. 104 Ebd., S. 46. 105 Ebd., S. 125. 106 So schon der Buchtitel: Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht. 107 Umso verwunderlicher, dass neuere Arbeiten das Buch von Pieper in der Regel nicht benutzt haben, so etwa Tönnesmann, der es in der dritten, überarbeiten Auflage von 2013 zwar in der Bibliographie auflistet, aber nicht bereit war, neue Erkenntnisse Piepers zu verarbeiten oder auch nur darauf hinzuweisen. 108 Reinhardt, Pius II. Piccolimini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann, S. 328 f. Das Buch basiert vor allem und zum Teil auf einer unkritischen Lektüre der Commentarii, bezieht so gut wie keine Ergebnisse der Forschung über Pius ein, auch für Pienza nicht, so dass die moderne
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2017 erschienenen umfangreichen Geschichte der Renaissance selbstredend nur am Rande auf Pius II. und Pienza ein, sein zwieschlächtiges Urteil aber fasst unreflektiert Teile der bisherigen Forschung quasi in einem Satz zusammen: Als wäre er ein römischer Imperator, setzte er sich ein einzigartiges Denkmal: Seinen Geburtsort, das Dorf Corsignano südlich von Siena, ließ er zu einer kleinen Idealstadt ausbauen. Er nannte sie nach sich: Pienza. Zum ersten Mal formulierte humanistisches Denken ein urbanistisches Programm.109 Pienza bot und bietet Anlass zu einem breiten Spektrum von Hypothesen: Stadtutopie, Idealstadt, Denkmal, Entwurf und Vision humanistischer Weltsicht, Selbstdarstellung und Selbstmusealisierung einer sich selbst erhöhenden Persönlichkeit. Die Bauten von Pius II. in Pienza: die Kathedrale mit einer der frühesten Kirchenfassaden der ‚Renaissance’ mit dem Zitat des antiken Triumphbogenschemas; der Palazzo, einer der frühesten Bauten des neuen Florentiner Typs; der kleine Platz mit seinem einzigartigen Bauensemble, der viel größer wirkt, als er ist; der Platz, der die befestigte Stadt zugleich visuell zur Landschaft hin öffnet und damit die humanistische, neue Sicht auf ungebändigte, auf wilde Natur, auf die durch Landwirtschaft gebändigte Natur und die in der Stadt zur Kultur verdichteten Natur erkennen lässt – all dies hat dazu geführt, dass die breite Forschung und Rezeption über Pienza sich weitgehend auf die stilistisch innovativen Aspekte und deren Wirkungen konzentriert hat. Die Analyse zielt bislang vor allem auf Form, Stil und Gestalt der Bauten und des Stadtbauprojekts. Immer wieder und fast gebetsmühlenhaft wurde und wird dabei die soeben an Burckhardt kritisierte Deutung der ‘Renaissance’ reproduziert. Damit interpretieren die zitierten Autoren im Medium Pienza die Moderne – und geben dabei häufig ein Stück von sich selbst preis. Den Intentionen des Stifters und Gründers aber wurde die Forschung noch nicht gerecht. Die folgenden Überlegungen werden daher aus der Sicht und mit den Methoden des Historikers einen anderen Weg beschreiten, ohne alle Einzelheiten der Überlieferung und der Baubefunde einbeziehen zu können. Ich möchte versuchen, einer wesentlichen Intention des Erbauers nachzugehen, die bislang übersehen worden ist, und tue dies in dem Bewusstsein, dass Pienza nicht allein mit einer – und dann alle anderen Dimensionen ausschließenden – Deutung erklärt werden kann. 3. Pius II. besucht Corsignano
Pius II. selbst – und dies ist eine Besonderheit – ging ausführlich auf die eigenen Motive und Intentionen der Gründung ein. Lassen wir den Papst zunächst also
Deutung Reinhardts extrem moralisierend ausfällt. Nach diesen Maßstäben kann kaum ein Gebäude oder Gebäudeensemble der Geschichte dem strengen Blick des Historikers im 21. Jahrhundert standhalten – seine Überlegungen werden daher weder den Intentionen noch den Bedeutungsebenen von Stadtbau und Architektur gerecht. 109 Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, S. 552.
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für sich selbst sprechen. Seine Schilderung ist literarisch hochinteressant, da der Humanist seine Gedanken und Gefühle, Deutungen und Intentionen in Zitate antiker Autoren verpackt, ohne, wie in der Zeit üblich, seine Vorlagen im Einzelnen zu benennen. Entgegen mancher Forschermeinung110 ist gerade dies als Leistung des literarisch gebildeten Humanisten des 15. Jahrhunderts zu bewerten, eben eigene Beweggründe durch das Zitat antiker Autoren auszudrücken. Dies war den gebildeten Humanisten und Zeitgenossen verständlich, bot auch Räume für eine kritisch-ironische Distanz zur Antike und zum eigenen Ich. Heute sind diese feinen Differenzierungen in der Verwendung antiker Autoren ohne philologische Kenntnisse in der Regel schwer zugänglich. Beginnen wir mit dem Bericht der Commentarii über den ersten Besuch von Enea Silvio Piccolomini in Corsignano, im Februar 1459 nach seiner Wahl am 19. August 1458: De Corsiniano nunc Pientia. […] Maior oppidi pars Picolomineorum quondam fuit, et Sylvius Pii pater avitas hic possessiones habuit. Atque hic natus est Pius et hic pueritiae rudimenta peregit. Quo tunc rediens speravit voluptatem aliquam sumere, eos allocuturus quibuscum adoleverat et aspectum natalis soli cum gaudio revisere. Sed contra evenit, quando maior pars aequalium vita excesserat et qui adhuc spirabant, gravati senio morbisque, domi detinebantur et si qui sese exhibeant, mutatis vultibus vix agnosci poterant, exhausti viribus, deformes et quasi mortis nuncii. Offendebat Pontifex ubique suae senectutis inditia: non poterat se non senem et cito casurum recognoscere, cum iam aetate graves filios inveniret eorum quos pueros reliquerat. Fuit oppidum mirifice ornatum, gestiente populo et nimium festivo ob praesentiam maximi praesulis, quem apud se natum gloriabantur; nec satis aut intueri aut consalutare eum poterant. Mansit hic Pius in festo quod beati Petri Cathedram appellant, ac rem divinam peregit, statuitque hoc in loco novam ecclesiam et palatium aedificare, conduxitque architectos et operarios
110 Siehe hierzu Esch, ‘Auf Ausflug mit Pius II. Ein Papst erlebt die Landschaft der Frührenaissance’, S. 15 mit Anm. 20. Zahlreiche kritisch-philologische Bemerkungen siehe im textkritischen Apparat der Edition von van Heck, Pii II commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt; sodann hierzu Widmer, Enea Silvio Piccolomini in der sittlichen und politischen Entscheidung, S. 30–32: ‘Heute aber ist man vorsichtiger geworden, weil man weiss, dass Eneas Worte nicht stets so neu sind, wie sie auf den ersten Anblick erscheinen möchten. Jedenfalls stammen gerade die gelungensten seiner poetischen und stimmungshaften Wendungen nicht von ihm. Was wie persönliche Beobachtung aussieht, ist oft wörtliches Zitat, wofür seine glänzende Beschreibung der Wettfahrt auf dem Bolsener See nur als eines unter vielen Beispielen gelten kann: Er hat sie in strenger Anlehnung an Vergil erfunden.’ (Vergil, Aeneis, 5, 123–243 und Commentarii 2, Liber VIII, 10, S. 1616–32). Ähnlich urteilt auch Seeber, Enea Vergilianus. Vergilisches in den ‘Kommentaren’ des Enea Silvio Piccolomini (Pius II.), S. 20–31, zum Ruderwettlauf auf dem Bolsena-See: ‘Die Wettfahrt auf dem Bolsena-See ist also der Versuch einer imitatio im antiken Sinn, wobei Piccolomini der Großgliederung, dem von Vergil gesteckten Rahmen genau folgt’, (S. 31). Ebd., S. 32–42 zum Festtag in Pienza am 21. September 1462, siehe hierzu unten S. 200–02, oder ebd., S. 69–80 zu Schilderung eines Unwetters in Ostia, Commentarii 2, Liber XI, 19, S. 2210–16. Dagegen zuletzt Esch, Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance 1378–1484, S. 243–63.
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non parva mercede, ut memoriale suae originis diuturnum relinqueret. Concessit et indulgentias plenarias quotannis in festo Inventionis Sanctae Crucis his qui parrochialem ecclesiam visitarent, quae postea cathedralis effecta est. De quibus rebus suo loco dicemus.111 (Über Corsignano, jetzt Pienza. […] Der größere Teil des Ortes gehörte früher den Piccolomini. Hier hatte Silvio, der Vater von Pius, seine ererbten Güter, hier wurde Pius geboren und hier verbrachte er seine Kindheit. Dorthin kehrte er nun zurück und freute sich auf das Wiedersehen von Leuten, mit denen er aufgewachsen war, und auf den Ort seiner Geburt und des Heranwachsens. Es kam völlig anders: Der größere Teil seiner Altersgenossen war bereits gestorben, und wer noch lebte, war von Alter und Krankheit so niedergedrückt, dass er das Haus nicht mehr verlassen konnte. Und wenn sich jemand zeigte, dann so verändert, dass man ihn kaum wiedererkennen konnte, heruntergekommen mit den Kräften, erschlafft und gleichsam Vorbote des Todes. Der Papst traf überall auf Anzeichen seines eigenen Alters und musste sich eingestehen, dass er selbst nunmehr ein Greis war und bald dahingehen werde, da doch auch die Söhne der Leute, die er als Junge verlassen hatte, schon im vorgerückten Zustand des Alters waren. Festlich geschmückt empfing der Ort den Papst, das Volk jubelte dem Papst zu, der aus ihrem Ort stammte und zurückkehrt war. Pius blieb dort bis zum Fest Cathedra Petri [id est 22. Februar]. An diesem Tag las er eine Messe und ordnete an, in diesem Ort eine neue Kirche und einen neuen Palazzo zu bauen, für die er Architekten und (Bau-) Werkleute anstellte und keine Kosten scheute, um ein dauerhaftes memoriale seiner Herkunft zu hinterlassen. Jährlich gewährte er all jenen einen vollkommenen Ablass, die künftig am Fest der Kreuzfindung die Pfarrkirche besuchen werden; die Pfarrkirche wurde später zur Kathedralkirche erhoben. Darüber werden wir an passender Stelle sprechen.) Pius freute sich auf das Wiedersehen seines Geburtsorts, die Erinnerung an Kindheit und Jugend, die Menschen des Ortes, in deren Mitte er aufgewachsen war. Allein, niemand vermochte mehr die Erinnerung zu teilen. Dies war für Pius Anlass, Vergänglichkeit, das Wissen um den eigenen Tod und die Sorge um die Erinnerung und Vergegenwärtigung sowie die Angst vor dem Vergessen der eigenen Person zu reflektieren. So werden Vergangenheit, die Gegenwart des Besuchs im Geburtsort und die Zukunft der Erinnerung an die eigene Person und an die Familie in wenigen Zeilen miteinander verbunden. Memoriale ist deshalb der zentrale Begriff der Commentarii, die nachhaltige Erinnerung von Person und Herkunft. Noch ist nicht von der Stadt die Rede. Erinnerung und
111 Commentarii 1, Liber II, 20, S. 312–14. Zu bedenken ist, dass der Papst in den Commentarii stets von sich selbst in der dritten Person spricht.
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Gedenken werden hier zunächst allein mit der Kirche und mit dem Bau des Palazzo, an der Stelle seiner Geburt und Vorfahren, verknüpft. Die Übersetzung des Begriffs memoriale erscheint wesentlich für die Intention des Papstes und ist von der Forschung wiederholt diskutiert worden. Er bereitete sowohl der kunst- und architekturhistorischen als auch der historischen Forschung bislang offensichtlich erhebliche Mühe, aber in diesem Begriff liegt ein wesentlicher Schlüssel seiner Absichten in und mit Pienza.112 Andreas Tönnesmann überträgt memoriale als ‘Denkmal seiner Herkunft’, um kurz darauf festzuhalten, memoriale stamme aus der Vulgata-Übersetzung des Alten Testaments und meine ‘eigentlich ein schriftliches Erinnerungszeichen’, den Bauten des Papstes in Pienza sei ‘damit eine präzise Lesbarkeit zugesprochen’.113 Hanno-Walter Kruft hingegen versteht das memoriale als ‘dauerhaftes Monument’ des Papstes, übersetzt es wörtlich als ‘dauerhaftes Zeichen’.114 Jan Pieper überträgt memoriale mit ‘immerwährendes Gedächtnis’ und versteht es in seiner breit angelegten Untersuchung als Gründung eines Monumentes, das geeignet war, seine Persönlichkeit darzustellen, also seine Rolle, seine Ansprüche und seinen ‘monumentalen Geist’ zu umschreiben.115 Volker Reinhardt versteht das memoriale, ohne auf den Begriff selbst einzugehen, als ‘Auftrag, Corsignano zum Monument und Museum seines Lebens umzugestalten’.116 Die Bedeutungen dieses Begriffs liegen meines Erachtens unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Erforschung der Erinnerungs- und Gedenkkultur des ausgehenden Mittelalters nahe: 1. memoriale verstärkt sprachlich den mittelalterlichen Begriff der Memoria, des für das Leben fundamentalen liturgischen Gedenkens der Toten in der christlichen Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten. Die Nennung des Namens beziehungsweise auch ein Bild oder Symbol einer Person im Kontext liturgischen Geschehens an christlich-heiligem Ort evozierte hiernach das Subjekt, den verstorbenen Menschen, als gegenwärtig bei einem Handeln, einer Aktion im diesseitigen Geschehen. Die Commentarii knüpften mit dem Begriff memoriale an die spätantike Bibelübersetzung der Vulgata an, in der – bei aller philologischen Problematik – an 14 Stellen der Begriff des memoriale 112 Im Folgenden konzentriere ich mich auf einige wichtige Arbeiten über Pienza aus der jüngeren Zeit. 113 Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus, S. 43: ‘weil er für künftige Zeiten ein memoriale, Denkmal seiner Herkunft, hinterlassen wollte’, und ebd., S. 46: ‘memoriale (ist, d. Verf.) ein seltenes Wort, das aus der Vulgata-Übersetzung des Alten Testaments stammt und eigentlich ein schriftliches Erinnerungszeichen meint’. Das ist reichlich verwaschen formuliert, zumal nur die Textstellen aus Mos. 2 angeführt sind. Siehe unten alle Belegstellen der Vulgata in Anm. 117: Der überwiegende Sinn der Verwendungen von memoriale ist das nachhaltige Gedenken des Namens des Herrn. 114 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 22. 115 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S.104 mit Anm. 259, die auf einige Textstellen des Alten Testaments eingehen. 116 Reinhardt, Pius II. Piccolimini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann, S. 240.
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begegnet; in elf Fällen ist eindeutig das immerwährende, das ewige Gedenken Gottes und seines Namens bezeichnet. Das memoriale für ‘Gott, den Herrn’ ist im Alten Testament gegen die schlichte memoria der sterblichen Menschen abgegrenzt, es betont den Charakter der Erinnerungskultur des Christentums bereits im Alten Testament.117 Pius jedenfalls griff mit der Verwendung dieses Begriffs bewusst auf die Würdensprache des Alten Testaments zurück, um seine Intention, die Sicherung seiner Memoria auf Dauer, auszudrücken, für die die Pientiner Bauten, und auch die Stadterhebung, Form und Gestalt boten. Als Papst und Vertreter Gottes auf Erden will er seine Memoria von der der anderen Menschen absetzen, seinen Namen und den seines Geschlechts wie den Namen Gottes besonders gewürdigt wissen, eine Zielsetzung, die gut zur Ablehnung des Konziliariusmus durch Papst Pius und zu der Hinwendung zur Stärkung, ja Unfehlbarkeit des Papstes passte, die mit Pius II. Priorität erhielt.118 In seinem Geburtsort Corsignano jedenfalls suchte der Papst nach Wegen, diese Intentionen
117 Es sind die Textstellen der Biblia sacra vulgata, in freier Übertragung, wobei memoriale hier von mir neutral als Erinnerung, Gedenken übertragen wird (hinzugefügt sind in Klammern die Zitate der entsprechenden Textstellen nach https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/biblia-sacravulgata/lesen-im-bibeltext/): I. 2. Mose 28,12: Die Namen der zwölf Söhne Israels dienen, auf Steinen eingraviert, zur ewigen Erinnerung (memoriale) vor Gott. (… et pones in utroque latere superumeralis memoriale filiis Israhel portabitque Aaron nomina eorum coram Domino super utrumque umerum ob recordationem …) – II. 2. Mose 28,29: Aaron soll die Namen der Söhne Israels auf dem Brustschild tragen, wenn er das Heiligtum betritt, zum ewigen Gedenken (memoriale) des Herrn. (… in rationali iudicii super pectus suum quando ingreditur sanctuarium memoriale coram Domino in aeternum …) – III. 2. Mose 3,15: Gott sprach zu Moses: Sage dies zu den Söhnen Israels: Gott … hat mich zu euch gesandt! Dies soll mein Name sein auf ewig und so sollt ihr meiner gedenken (memoriale) von Generation zu Generation. (… Isaac et Deus Iacob misit me ad vos hoc nomen mihi est in aeternum et hoc memoriale meum in generatione et generatione …) – IV. 3. Mose 2,2: Speiseopfer mit süßestem Geruch zum ewigen Gedenken (memoriale) des Herrn. (… quorum unus tollet pugillum plenum similae et olei ac totum tus et ponet memoriale super altare in odorem suavissimum Domino …) – V. 3. Mose 2,9: Speiseopfer zum ewigen Gedenken (memoriale) Gottes. (… qui cum obtulerit eam tollet memoriale de sacrificio et adolebit super altare in odorem suavitatis Domino …) – VI. Jdt 9,15: Judiths Gebet: Erinnerung (memoriale) des Namens Gottes. (… erit enim memoriale nominis tui cum manus feminea deiecerit eum …) – VII. 1. Makk 8,22: Friedensvertrag mit Rom wird auf ewig auf steinerne Tafeln geschrieben und nach Jerusalem geschickt als Gedenken (memoriale) des Friedens und der Bundegenossenschaft. (… in tabulis aereis et miserunt Hierusalem ut esset apud eos ibi memoriale pacis et societatis …) – VIII. Ps 101,13: Du aber, Herr, bleibst als Gedenken (memoriale tuum) auf ewig. (… tu autem Domine in aeternum permanes memoriale tuum in generatione et generatione …) – IX. Ps 134,13: Herr, dein Name währt ewig, Herr, dein Gedenken (memoriale) währt von Generation zu Generation. (… Domine nomen tuum in aeternum Domine memoriale tuum in generatione et generatione …) – X. Jes 26,8: Deinen Namen und dein ewiges Gedenken (memoriale) ist das Verlangen unserer Seelen. (… nomen tuum et memoriale tuum in desiderio animae …) – XI. Jes 57,8: Hinter Tür und Pfosten brachtest du ein Zeichen deines Gedenkens (memoriale) an. (… et post ostium et retro postem posuisti memoriale tuum …) – XII. Hos 12,5: Der Herr, Gott der Heerscharen, der Herr seines Gedenkens (memoriale) an ihn, sprach zu Jakob (…). (… et Dominus Deus exercituum Dominus memoriale eius …) – XIII. Hos 14,8: Man wird wieder im Schatten Gottes wohnen und Getreide anbauen. Wie von einem Weinstock im Libanon wird das Gedenken (memoriale) an Gott gedeihen. (… germinabunt quasi vinea memoriale eius sicut vinum Libani …) – XIV. Sach 6,14: Anlässlich der Krönung von Josua: Im Tempel des Herrn soll die Krone für Helem, Tobia, Idaia und den Sohn Sofoniae als memoriale (des Herrn) bleiben. (… memoriale in templo Domini …). 118 Siehe hierzu Esch, ‘Auf Ausflug mit Pius II. Ein Papst erlebt die Landschaft der Frührenaissance’, S. 8 f.
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zu realisieren, seine Person und seine Herkunft zum memoriale, zur besonders nachhaltigen Form der mittelalterlichen Memoria werden zu lassen. 2. Eine zweite Deutungsebene liegt für den Humanisten Enea Silvio Piccolimini und seine gebildeten Zeitgenossen in der Mitte des 15. Jahrhunderts aufgrund der intensiven Antikenrezeption auf der Hand. Die Stadtgründung, von der an dieser Stelle der Commentarii zwar noch gar nicht die Rede ist, die Pius aber im Auge gehabt haben muss, knüpfte an die Schilderung der Stadtgründung Alexandrias durch Vitruv an – denn als Alexander, so Vitruv, sich aller Dinge bemächtigt und in Dinokrates einen geeigneten Architekten und in Ägypten den geeigneten Ort gefunden hatte, ließ er in seinem Namen Alexandria errichten: ‘iussit eum suo nomnine civitatem Alexandriam constituere.’119 In dem Handeln des Papstes, dies war Wissen der Humanisten des 15. Jahrhunderts, lebte die Praxis des antiken Herrschergeistes fort, zur erhöhenden Verklärung und Erinnerung der eigenen Fama eben eine Stadt zu gründen. Der Humanist Flavios Biondo berichtet über die Stadterhebung Pienzas in den Worten: Ea nos […] ingentia et pulcherrimaque opera inspexisse delectavit, non solum quia talis sumus animoi geniti, ut saeculi nostri ornamenta amare non nequeamus, sed quia bono ea exemplo facta recognoscimus: optimos namque et principibus viris quosque scimus amorem suum, quo naturaliter abundarunt, in omnes passim, sed in suos et sua propensius ostendisse. Sic Severus Afer imperator Romanus doctrinae praesertim eloquentiae ingentis, morum gravitate continentia et bonitate meliores qui umquam fuerunt Romanos principes aut aequans aut superans, non dissimili tuae causa quae te Mantuam duxit, in Africam se contulit; qui, ad Leptim natalis sui soli locum perveniens, destinatas in accessu aedes, ibi rediens, extruere coepit, et Romae agens amplissimas perfici curavit. M. vero Antonius Aurelius, philosophus, laudatissimae imperator probitastis, aedes in quibus natus educatusque est avitas apud Lateranensem […] Et si huius operis conditio volumenque pateretur, facile mihi fuerit principum et praestantissimorum hominum atque etiam pontificum Romanorum et ecclesiasticorum virorum mille in exemplum afferre, quibus pro posse et supra studium cura fuit opera extruere ingentia, quibus suam et suorum saeculi ac regionum virtutem et gloriam posterorum memoriae commendarent.120 (Wir erfreuen uns […] an diesem wunderschönen Werk, vor allem weil wir sehen, dass es dem guten Beispiel der Alten folgt. Die größten unter den bedeutenden Männern nämlich haben ihre Fürsorge nicht allein der 119 Vitruv, De Architectura Libri Decem, Liber II, Praefatio 1–4, S. 68–70.: ‘[…] Dinocrates […] qui ad te cogitationes et formas affero dignas tua claritate […]’, ebd. S. 68, sowie: ‘Ibi (in Aegyptum; d Verf.) Alexander cum animadvertisset portum naturaliter tutum, emporium egregium, campos circa totam Aegyptum frumentarios, immanis fluminis Nili magnas utilitates, iussit eum (Dinokrates, d. Verfasser) suo nomine civitatem Alexandriam constituere.’, ebd., S. 70. 120 Flavio Biondo, Additiones correctionesque Italia Illustrata (1474), zitiert nach Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, S. 167 (Appendix 1 Document 2). Zu Flavio Biondo siehe Esch, Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance 1378–1484, S. 192–94 et passim.
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Allgemeinheit zukommen lassen, sondern vor allem auch ihrem Geschlecht und ihren Gütern. Septimius Severus, ein römischer Kaiser, reich begabt mit Geist und Beredsamkeit wie kaum ein zweiter unter den römischen Großen, begab sich nach Afrika aus ganz ähnlichen Gründen, die dich (Pius II., der Verfasser) nach Mantua führten. Er kehrte zurück an den Ort Leptis, an dem er geboren wurde, und er begann dort, gewaltige Bauten zu errichten, die er schon geplant hatte, als er den Thron bestieg, Wieder in Rom, trug er weiterhin Sorge, dass sie vollendet würden. Auch Mark Aurel, Kaiser und Philosoph zugleich und für seine Ehrenhaftigkeit hoch gerühmt, hielt die Bauten seiner Ahnen im Lateran […] in Ehren, wo er geboren und erzogen wurde. […] Es wäre mir ein Leichtes, noch tausend Beispiele von römischen Großen und herausragenden Gestalten anzuführen, darunter auch Päpste und Männer der Kirche, die alles daran gesetzt haben, gewaltige Bauten zu errichten, die der Memoria ihrer eigenen Verdienste gewidmet waren, aber auch dem ihrer Zeit und Region, und schließlich dem Gedenken ihrer Nachfahren übergeben wurden.) Die Stadtgründung zur Erinnerung des Namens und der Person wurde in der römischen Antike als Tradition fortgesetzt, denken wir nur an das von Flavius Blondus genannte Beispiel des Septimius Severus mit Leptis Magna in Nordafrika,121 an Diokletian mit dem Bau des stadtartigen Spalatum oder an Konstantin und die Gründung Konstantinopels im Jahr 326. Bei Pius erfährt diese Tradition im Unterschied zu den zitierten Ausführungen von Flavius Blondus aber stets eine weitere Überhöhung durch die Verschmelzung mit religiös-christlichen Weltdeutungen. Die Commentarii griffen die antike Tradition auf und deuteten sie in deren Verarbeitung im christlichen Sinne des memoriale um: Kirche, Palazzo und Stadt Pienza sollten für seine und seiner Familie Memoria und Fama einstehen, vereinigten geistliche und weltliche Herrschaft des Papstes, um Enea Silvio und die Piccolimini immerwährend zu erinnern und zu gedenken. Mit dem Begriff des memoriale erinnert er an Gott, deutet sich als Vertreter Gottes auf Erden. Pius beschreibt in den Commentarii sein memoriale Pienza ausführlich, vor allem zunächst die Domkirche und den Palazzo; folgen wir also dem Gedankengang des Papstes. 4. Die Kathedrale
Die Kathedrale ist ein gebautes ‘Manifest’ der religiösen Deutungen und Intentionen des humanistisch gebildeten Bauherrn, sie ist als Gesamtwerk ohne Vorbild in der Architekturgeschichte, ein besonderer Fall.122 Sie beherrscht die zentrale 121 Heute gelegen in Libyen bei der Stadt al-Chums, etwa 120 km östlich von Tripolis – es ist die größte in Ruinen erhaltene antike Stadtanlage. 122 Die umfassendste Beschreibung des Baus bietet Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 170–207, dort auch zur Unterkirche, die aufgrund der Topographie und Geländebeschaffenheit erforderlich wurde. Auf die Unterkirche kann hier nicht näher eingegangen werden. Zur Architektur siehe auch Mussolin, ‘L’architettura tra Siena e Pienza. „Cathedralis effecta
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Piazza, die ebenfalls in Form und Gestalt singulär ist und in den Commentarii wiederholt als forum bezeichnet wird,123 als der Ort der Öffentlichkeit in Pienza also. Die Kirche ist nicht geostet, sondern gesüdet, freilich nicht ganz exakt, sondern um 12° 30’ nach Südwesten ausgerichtet, genau auf den Gipfel des Monte Amiata, der bei guter Sicht auch durch das transparente Chorscheitelfenster zu sehen ist.124 Mit der Gruppierung von Dom, Palazzo Piccolimini, Bischofspalast mit Domkanonikerhaus sowie dem Rathaus auf engstem Raum um den trapezförmigen Platz ist ein besonderes Stadtzentrum geschaffen. (Abb. 8). Die Domfassade beherrscht in ihrer Monumentalität und Materialität den zentralen Platz der Stadt, sie wird in den Commentarii wie folgt beschrieben: Frons ipsa templi […] ex lapide tyburtino simili et marmoreum imitanti candorem, vetustarum aedium prae se formam tulit, columnis spiris et emiciclis quae statuas recipere possent perpulchre adornata. Tris portas habuit congrua dimensione venustas, mediam ceteris amplioren, et in morem cyclopis oculum late patentem, et insigne Piccolimineum et desuper pontificalem infulam corona triplici redimitam clavibus Ecclesiae interpositis.125 (Die Front der Kirche ist aus Travertin gestaltet, ähnlich dem Marmor mit seinem Glanz; sie hat die Form eines antiken Tempels, ist reich geschmückt mit Säulen, Windungen und halbkreisförmigen Nischen, die Statuen aufnehmen könnten. Sie hat drei Portale, in herrlich ausgewogenen Proportionen, wobei das mittlere größer als die beiden äußeren ist. Über dem mittleren Portal öffnet sich weit ein Auge wie das eines Zyklopen, und darüber ist das Wappen der Piccolomini angebracht, und darüber das des Papstes mit Tiara, dreifach umwundener Krone und dahinter den Schlüsseln der Kirche.) Gestaltet mit Travertin in der Form eines antiken römischen Tempels oder auch Triumphbogens ist die Fassade eine der frühesten der Renaissance dieses Typs und richtungsweisend für die Entwicklung der Architektur des späteren 15. Jahrhunderts. (Abb. 9) Im Unterschied zu antiken Vorbildern blieben in der Pientiner Fassade die eigentlich für Skulpturen verwendeten Nischen über den seitlichen Türen ohne Figuren, und auch die in den Commentarii gar nicht genannten Inschriftentafeln ohne die eigentlich vorgesehenen Schriftzüge. Im christlich-humanistischen Sinn gingen die Gläubigen im unbefangenen Zustand für einen ‘reinen’ Einzug in die Kirche, nicht von einer überbordenden Fülle von Bildern und Texten abgelenkt. Allein der Erbauer und Stifter ist beim Betreten der Kirche vergegenwärtigt, denn im Giebel der Fassade prangt über dem Oculus, den Pius als Zyklopenauge bezeichnet, ein Wappen: Die Commentarii selbst preisen es als das der Familie Piccolomini unter dem Papstwappen mit der
est“: il Duomo di Pienza e il rinascimento cristiano di Pio II’, S. 215–49. 123 So etwa Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1760. 124 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 28. 125 Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1760.
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E Stadtgrundriss von Pienza, um 1460 (vgl. Abb. 7). Abb. 8: Ausschnitt: F
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Abb. 9: Pienza, Domfassade (Foto: Annemarie Stauffer).
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Tiara und gekreuzten Schlüsseln. Auf diese Weise wird der Triumphbogen des Herrschers der römischen Antike zitiert und christlich umgedeutet. (Abb. 10) Jeder, der die Kirche mit ‘reiner Seele’ betritt, erinnert bis zum heutigen Tag – so die Forderung und Unterstellung – allein den Papst und dessen Familie gedenkend und vergegenwärtigend im heiligen Ort des Kirchenraums. Vom Innenraum ist der Besucher beim Betreten nach der Wahrnehmung der Fassade zunächst frappiert, denn er befindet sich in einer gotischen Hallenkirche nach deutsch-österreichischem Vorbild, einem lichtdurchfluteten Raum (Abb. 11), von dem man meine, so Pius, er sei aus Glas und nicht aus Stein erbaut.126 Es handelt sich um eine dreischiffige gotische Hallenkirche mit einem abschließenden Kapellenkranz. Die Commentarii berichten, Pius sei dem Vorbild der österreichischen Hallenkirchen gefolgt, einer Architekturform, die 1460 in Italien zwar kaum unbekannt war, aber doch wohl eher als konservativ galt. Pius und sein Architekt Bernardo Rossellino machten mit ‘moderner’ Fassade und konservativ gestaltetem Innenraum für die Domkirche Unvereinbares vereinbar! Aufgrund der weitgehend transparent verglasten Fenster wirkt der Raum taghell, auch weil er im Chor völlig freigestellt und nach Süden ausgerichtet ist. So ist bei guter Witterung im Chorscheitelfenster die Silhouette des Monte Amiata zu sehen. Dieser war in vorchristlicher Zeit ein Kultzentrum paganer Kulturen, Ort der Mythologie und der Legenden – die Kirche versteht Pius als Zeichen des Sieges des christlichen Gottes über diese pagane Welt. Eher konservativ ist auch die Ausstattung; denn kein florentinischer Maler der Zeit wurde beauftragt, die Kirche mit Fresken in ‘moderner’ Art zu gestalten, sondern fünf Altarretabel mit Marienbildern und Assistenzheiligen wurden bei Sieneser Meistern im eher traditionellen Stil der Tafelmalerei in Auftrag gegeben. Ein Chorgestühl mit einem großen Cantorenpult in der Mitte, ausgeführt im gotischen Stil, und der Papstthron beziehungsweise Bischofsstuhl ergänzen diesen konservativen Duktus. Dass die Gesamtausstattung auf Pius zurückgeht, offenbaren die Commentarii, denn hier lässt Pius eine päpstliche Verfügung vom 16. September 1462 im Wortlaut aufnehmen: Pius episcopus servus servorum Dei, ad futuram rei memoriam. In hoc templo, quod beate Mariae Virgini, Domini et Dei nostri genitrici, ereximus et dedicavimus, nemo mortuum sepelito, exceptis tumulis, qui sacerdotibus et episcopis assignati sunt; nemo candorem parietum atque columnarum violato; nemo picturas facito; nemo tabulas appendito; nemo cappellas plures quam sint aut altaria erigito; nemo formam ipsius templi, sive quae superius sive quae inferius est, mutato. Si quis contra fecerit, anathema esto, 126 Zur Beschreibung des Innenraums der Kathedrale Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1760–64. Die Beschreibung beginnt: ‘Ingredienti mediam portam universum templum cum sacellis et altaribus in conspectu datur, paecipua luminis claritate et operis nitore conspicuum. Tres, ut aiunt, naves aedem perficiunt: media latior est, altitudo omnium par. Ita Pius iusserat, qui exemplar apud Germanos in Austria vidisset. Venustius ea res et luminosius templum reddit.’
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Abb. 10: Pienza, Domfassade, Detail: Papstwappen im Giebel (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 11: Pienza, Dom, Innenraum (Foto: Annemarie Stauffer).
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solus Romani pontificis, excepto mortis articulo, auctoritate absolvendus. Datum Pientiae anno incarnationis dominicae 1462, 16. kalendas octobris pontificatus nostri anno quinto.127 (Bischof Pius, Diener der Diener Gottes (verordnet), um die Erinnerung für die Zukunft (zu bewahren): In dieser Kirche, die wir der heiligen Jungfrau Maria, Mutter unseres Herrn und Gottes, errichtet und geweiht haben, soll niemand einen Toten bestatten, mit Ausnahme der Grabplätze, die für Priester und Bischöfe vorbehalten sind. Niemand darf das Weiß der Wände und die Säulen schänden; niemand in der Kirche Gemälde anbringen; niemand Tafel(gemälde) aufhängen; niemand Kapellen oder Altäre, die über den vorhandenen Bestand hinausgehen, errichten; niemand darf die Gestalt der Kirche, weder den oberen noch den unteren Kirchenraum, ändern. Wer hiergegen verstößt, soll vom Bann getroffen sein; nur der Römische Papst kann ihn davon erlösen, außer er befindet sich in Todesgefahr. Gegeben in Pienza an den 16. Kalenden im Jahr des Herrn 1462, im fünften Jahr unseres Pontifikats.) Bis auf einige Änderungen im Zuge der großen Restaurierungen des 20. Jahrhunderts128 hat man sich über nun gut 550 Jahre an diese Gebote des Papstes gehalten und wir erleben die Kirche im Gesamtduktus wie zur Zeit der Weihe. Auch hier ist viel intensiver nach der Intention von Pius II. zu fragen als dies die bisherige Forschung getan hat. Bei näherem Hinschauen sehen wir überall Wappen der Familie Piccolomini und des Papstes; die Familie und Pius sind dadurch im Raum omnipräsent, ein Aspekt, dessen Interpretation die bisherigen Forschungen übersehen haben: Im Oculus der Nordseite und im Chorscheitelfenster oben, am Triumphbogen vor dem Hochaltar, an den Pfeilerpilastern unten, am Chorgestühl ebenso wie am Pult der Cantoren, auf nahezu jeder Seite der eigens für den Dom gefertigten liturgischen Handschriften, auf Reliquiaren und am liturgischen Gerät, auf den Paramenten,129 all überall Wappen. (Abb. 12–21) Die Wappen im Kirchenraum sollten als Symbole für Person und Familie im Sinne der Repräsentation des päpstlichen Bauherrn wirken. In einer zweiten Bedeutungsebene haben diese ihren eigentlichen Sinn und kommen der von Pius in den Commentarii formulierten Intention des memoriale nach. Sie vergegenwärtigen nämlich Pius II. und die Piccolomini in der Liturgie des heiligen Raumes und sie fordern den Betrachter zur Erinnerung der in den Wappen repräsentierten Personen(gruppen) auf. Das bedarf der näheren Erläuterung: Enea Silvio hält sich und seine Familie durch die Wappen an der Fassade und im Kirchenraum bis heute präsent; hiermit sicherte er nach mittelalterlicher Auffassung die Erinnerung,
127 Commentarii 2, Liber IX, 25, S. 1768. 128 Siehe hierzu die Dokumentation von Barbacci, Il restauro del Duomo di Pienza. 129 Zur Ausstattung des Pientiner Doms und des dortigen Kirchenschatzes durch Pius II. siehe Martini, ‘Tabulae pictae e altri ornamenti per la Cattedrale di Pienza’, S. 251–79 und Dies., Il Museo Diocesano di Pienza.
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Abb. 12: Oculusfenster
Abb. 14: Triumphbogen
Abb. 16: Chorgestühl
Abb. 18: Liturgische Handschrift, 1462, Graduale (Museo diocoesano di Pienza)
Abb. 13: Chorscheitelfenster
Abb. 15: Pfeilerpilaster
Abb. 17: Pult der Cantoren
Abb. 19: Ersetzter Papststuhl beziehungsweise Bischofsstuhl, 1576, Detail mit Papstwappen Pius II.
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t h om a s sc hilp Abb. 20: 1 Bischofsstab, um 1462, Detail mit Papstwappen (Museo diocoesano di Pienza), Inschriften: Über den Wappen: ECCLESIAE PIENTINAE, PIUS SECUNDUS PONTIFEX MAXIMUS PROPRIA IMPENSA FIERI FECIT, und unter den Wappen: PASTORALIS OFFICII ET AUCTORITATIS SIGNUM
Abb. 21 a: Kopfreliquiar des Apostels Andreas von Simone di Giovanni Ghiu, 1462/1463 (Museo diocoesano di Pienza): Das Reliquiar war von Pius II. nach der Überführung der Apostelreliquien für den Petersdom in Auftrag gegeben worden (siehe oben Anm. 84). Nach Pienza wurden einige Reliquien des Apostels im byzantinischen Reliquiar überführt. Erst 1964 wurde dieses Reliquiar mit den Überresten des Apostels an die griechisch-orthodoxe Kirche zurückgegeben – bei dieser Gelegenheit erhielt Pienza das (römische) Kopfreliquiar mit den Papstwappen auf dem reich verzierten Sockel. (Fotos 12-21: Annemarie Stauffer)
Abb. 21 b: Kopfreliquiar des Apostels Andreas, 1462/1463: Sockel.
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das Gedenken an seine Person und aller Familienmitglieder in der Liturgie der Domkirche. Bilder von und für Stifter im Kirchenraum galten als höchste und effektivste Form des Totengedenkens des Spätmittelalters, denn sie erinnern den Stifter auf Dauer durch deren bloßes Vorhandensein.130 Die Piccolomini sind im Verständnis des Papstes eine Gemeinschaft der Toten und Lebenden, und dies wird durch den Dombau noch erweitert: Alle hier anwesenden Lebenden vergegenwärtigen den Stifter und seine Verwandten in der Liturgie, indem sie diese nach Auffassung des 15. Jahrhunderts an den Bußopfern der Eucharistie, des Gebets, der Andacht teilhaben lassen. Die Reinigungs- und Leidenszeit der Seelen im Fegefeuer wurde hiernach durch Bußopfer gelindert und verkürzt, ja die Seelen konnten schon vor dem Jüngsten Gericht zum ewigen Heil gelangen. Diese Frömmigkeit seiner Zeit hat der Papst als Humanist ohne Vorbehalt geteilt. Erinnern wir uns an den zitierten Anfang der Commentarii, der für Pienza alle Besucher der zu erbauenden neuen Kirche mit einem vollkommenen Ablass der Sündenstrafen im jenseitigen Fegefeuer privilegierte. Wenn also der Kirchenraum des Domes von Pienza auf ewig unverändert zu bleiben hatte, so, wie ihn Pius hat erstehen lassen, so soll die Vergegenwärtigung der Verstorbenen im heiligen Raum exklusiv für den Stifter und seine Familie sein und bleiben! Für die Ausstattung der Kirche ließ Pius fünf Altarretabel von Künstlern der Sieneser Schule fertigen,131 verzichtete also bewusst auf die zeitgemäße, ‘moderne’ und großflächige Gestaltung durch Wandmalerei: 1. Nikolausretabel im zweiten Joch des linken Seitenschiffs von Matteo di Giovanni / da Siena, wahrscheinlich 1464/1465, auch ‘Gelehrtentafel’ genannt;132 2. Antoniusretabel im zweiten Joch des rechten Seitenschiffs von Giovanni di Paolo, 1463; 3. Jakobusretabel in der ersten Seitenkapelle links von Sano di Pietro, wohl 1461; 4. Matthäusretabel in der ersten Seitenkapelle rechts von Desiderio Matteo di Giovanni, vemutlich 1462; 5. Himmelfahrtsretabel in der zweiten Kapelle links von Lorenzo di Pietro, genannt Vecchietta, vermutlich 1462; 6. Hinzu kommt noch der aufwändige Sakramentsaltar im Stil der Florentiner Wandnischengräber, die häufiger als Tabernakelbauten rezipiert wurden. Die Architekturrahmen der Retabel sind in den unteren Rahmenecken entweder mit dem Piccolomini-Wappen oder dem Papstwappen Pius’ verziert. Es sei exemplarisch auf das Himmelfahrtsretabel und das Matthäusretabel hingewiesen. (Abb. 22 und 23) Nur das Retabel des Nikolausaltars macht hier eine Ausnahme, aus gutem Grund (Abb. 24): Wir sehen in der Mitte die thronende Gottesmutter mit Kind, begleitet von drei Kirchenvätern und einem Heiligen, die anhand der Attribute und der namentlichen Bezeichnung auf der unteren Rahmenleiste identifiziert werden können: Links kniet der heilige Ambrosius von Mailand vor
130 Siehe hierzu grundlegend Oexle, ‘Memoria und Memorialbild’, 1984 (Nr. 35), S. 384–440. 131 Zu den Retabeln siehe zuletzt Martini, ‘Tabulae pictae e altri ornamenti per la Cattedrale di Pienza’, S. 250–67; Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 310–25 (mit den Hinweisen auf die ältere Literatur). 132 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 310 f.
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Abb. 22 und 23: Pienza, Dom, Details: untere Rahmenecken des Himmelfahrts- und des Matthäusretabels mit Papstwappen (Fotos Annemarie Stauffer).
Abb. 24: Pienza, Dom, Nikolausretabel im zweiten Joch des linken Seitenschiffs von Matteo di Giovanni / da Siena, wahrscheinlich 1464/1465, auch ‘Gelehrtentafel’ genannt (Foto: Annemarie Stauffer). (Farbtafel IX)
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Abb. 25: Pienza, Dom, Nikolausretabel, Detail: Maria mit Kind und Pius II. als Augustinus (Foto: Annemarie Stauffer).
Hieronymus, rechts der heilige Nikolaus von Bari vor Augustinus. Ingrid Severin hat im knienden Ambrosius und im stehenden Augustinus überzeugend zwei Porträts ausgemacht, indem sie die Gesichtszüge des Ambrosius als Nikolaus von Cues sowie die des Augustinus als Pius II. identifizierte, was bis heute in der kunsthistorischen Forschung unwidersprochen blieb.133 (Abb. 25 und 26) Nicht ohne Ironie dürfte sich Pius II., von dem zahlreiche Porträts erhalten sind,134 im Bild in den in ein Buch vertieften Augustinus, eine der zentralen Leitfiguren des Papstes, verwandelt haben. Wie Augustinus war er selbst zunächst der ‘Lust und Sünde’ der Welt ergeben, bevor er, geläutert zum Priester geweiht, die steile kirchliche Karriere einschlug. Es handelt sich um das jüngste Retabel der Domkirche, denn es wurde zweifellos erst nach dem Tod von Nikolaus von Cues am 11. August 1464 und nach dem Tod von Pius nur vier Tage später 133 Severin, ‘Ein Porträt des Nikolaus von Cues und des Papstes Pius II. in einer Tafel des Matteo di Giovanni in Santa Maria Assunta in Pienza’, 149–51, und, ihr folgend, Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 310–12. Ohne Kenntnis des Aufsatzes von Severin kommt van Os, Sienese Altarpieces 1215–1460. Form, Content, Function, Vol. II: 1344–1460, S. 199, ohne nähere Ausführung ebenfalls zum Schluss, Nikolaus von Cues sei hier porträtiert, freilich mit dem Fehlschluss, Cues habe dies selbst nach dem Tod von Pius veranlasst: ‘Evidently shortly after Pius’ death in 1463 (sic!) Nicholas wanted to have himself represented in the most beloved sanctuary of his best friend.’ Zuletzt, zustimmend zu den Porträts des Nikolaus von Cues und Pius’ II. auf diesem Retabel und mit der Diskussion von sonstigen Porträts von Pius, siehe Martini, ‘Tabulae pictae e altri ornamenti per la Cattedrale di Pienza’, S. 264–66. 134 Siehe hierzu Severin, ‘Ein Porträt des Nikolaus von Cues und des Papstes Pius II. in einer Tafel des Matteo di Giovanni in Santa Maria Assunta in Pienza’, 150.
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fertig- und im Dom aufgestellt. Nikolaus von Cues war Freund und Ratgeber des Papstes, und sicher war er mit Pius auch über Bauprogramm und Ausstattung des Pientiner Doms im Gespräch gewesen – das Retabel ist als Freundschaftsdienst zu werten, es erinnert Cues, mit dem Pius über viele Jahre im kritischen Diskurs stand, und bezieht diesen in das memoriale des Papstes ein. Und auch Nikolaus von Cues ist hier in ein Vorbild, Ambrosius, gesteckt und kniet vor Hieronymus im Kardinalshabit – und der ebenfalls ein Buch studierende Hieronymus hatte erhebliche Bedeutung für den vielleicht bedeutendsten humanistischen Gelehrten im Umfeld der Kurie. Ganz beiläufig ist auf dem Boden der Kardinalshut des Humanisten platziert. Wahrscheinlich wurde das Bild gemäß dem Auftrag von Pius erst nach den Totenmasken beider fertig gemalt, wie vermutet worden ist. Wenn dem so ist und beide hier porträtiert sind – so ist in kritischer Abgrenzung auf die von Severin formulierten Fragen zu Abb. 26: Pienza, Dom, Nikolausretabel, antworten –, braucht das Retabel kein Detail: Nikolaus von Cues als Ambrosius Wappen, denn das Bild hält den Papst (Foto: Annemarie Stauffer). nach Auffassung der Zeit vor Gott im Geschehen der Domliturgie gegenwärtig – die Memoria, die Vergegenwärtigung Pius II. und des Nikolaus von Cues ist Intention und Zweck des formal aus der Reihe der anderen Retabel gerutschten Tafel des Nikolausaltars.135 5. Palazzo Piccolomini; Bischofspalast und Domkanonikerhaus
In der Intention von Pius gehören templum, palatium und forum als Einheit zusammen. Kirche, Palast und der Platz sind Sphäre des städtisch-öffentlichen Lebens. Die Commentarii beginnen die Berichte über den zweiten Besuch des Papstes in Pienza im Jahre 1462 mit dem palatium und geben eine dataillierte
135 Nach Abschluss der überzeugenden Identifizierung der beiden Porträts fragt Severin, ebd., 150, nach den Beweggründen der beiden Porträts auf dem Retabel und vermutet spätere Stifter; sie fragt auch nach den Gründen für das Fehlen der Piccolomini- und Papstwappen in den unteren Ecken des Architekturrahmens, Fragen, die durch die Ausführungen zur Funktion des Memorialbildes beantwortet sind.
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Baubeschreibung; Pieper hat den Bau, die Aufteilung und Nutzung der Räume, auch den ‘hängenden Garten’, den Bauablauf sowie zahlreiche Details und Besonderheiten aufgespürt, beschrieben und rekonstruiert, so dass ich mich hier mit dem Verweis auf sein Buch beschränken kann.136 Auch der Palazzo Piccolomini ist ein für die Zeit richtungsweisender Palastbau des Architekten Bernardo Rossellino, der von Pius mit dem Gesamtprojekt Pienza beauftragt war.137 Der Pientiner Palast ähnelt stark dem Bau des Palazzo Ruccellai in Florenz und ging diesem unter Umständen sogar voraus. Auf die zentrale Piazza wirkt ein mächtiger, von außen quadratisch anmutender Bau (126 x 144 Fuß), ein dem Betrachter als Würfel erscheinender Quader, der voluminöser als die Kirche ist: Bei aller Eleganz und Harmonie der Bauformen dominiert mit dem Palazzo Piccolomini eine erhebliche Baumasse den Platz – und den Betrachter. (Abb. 27) Der Bau öffnet sich nach Süden in einer dreigeschossigen Loggia (Abb. 28) – zum ‘giardino pensile’ hin –, die den Palazzo auf das Orciatal und den Monte Amiata ausrichtet. Der quadratische Garten, angelegt auf einer zweigeschossigen Unterkonstruktion, die als Raum laut Commentarii Platz für die Unterbringung von 100 Pferden bot,138 ist wohl der erste seiner Art seit der Antike und fand zahlreiche Nachfolger in den kommenden Jahrzehnten. Er war offensichtlich den humanistischen Bedürfnissen nach Erlebnis und Auseinandersetzung mit der Natur adäquat, dem neuen Blick auf Natur und Kunst sowie Kultur, und er entsprach daher dem Zeitgeist.139 Der Garten bezog die Natur als Sinnbild des Paradieses in die Architektur ein, stellte eine Verbindung von Haus und Natur her, und grenzte zugleich zur wilden Natur des Monte Amiata und zur durch Agrikultur der Menschen gestalteten Natur des Orciatales ab. Der Garten findet im Übrigen ein Pendant im Chor der östlich benachbarten Kathedrale, er befindet sich parallel auf gleicher Höhe mit dem Allerheiligsten – so korrespondieren palatium und templum trefflich, die Himmlische Stadt um Hochaltar und Chor auf der einen und der Garten als gedachtes Paradies des Palazzo auf der anderen Seite. Wie die Kathedrale ist der gesamte Palast lichtdurchflutet, da sich die genutzten Räume im ersten und zweiten Obergeschoss befinden; der Eintritt durch das Hauptportal gewährt einen (Durch-)Blick in den Garten und zum Monte Amiata – der Durchgang ist stufenlos begehbar –, eine weitere Parallele zur Domkirche in der östlichen Nachbarschaft. Pius beschreibt in den Commentarii auch, dass sein Geburtshaus für den Bau des neuen Palazzo weichen musste (Abb. 29) – nur ein Fragment des alten
136 Commentarii 2, Liber IX, 23, S. 1744–66; Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 144–69. 137 Commentarii 2, Liber IX, 25, S. 1766. Pius verteidigt hier den Architekten, der die Baukosten auf 18.000 Gulden veranschlagt, aber über 50.000 ausgegeben habe, gegen heftige Kritik. Bernardo Rossellino sei den Sienesen schon wegen seiner Geburt in Florenz verhasst. Nach der Besichtigung der Bauwerke ließ der Papst den Architekten zu sich rufen, um ihn für das Werk zu loben, ihm zu danken und nicht nur den vereinbarten Lohn auszuzahlen, sondern 100 Gulden zusätzlich sowie ein Gewand aus Scharlach (vestem coccineam). 138 Commentarii 2, Liber IX, 23, S. 1756; der Raum bot aber, so Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 157, tatsächlich nur zwölf bis 18 Pferden Platz. 139 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 155–58.
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Abb. 27: Pienza, Palazzo Piccolomini, Blick vom forum (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 28: Pienza, Palazzo Piccolomini, dreigeschossige Loggia (Foto: Annemarie Stauffer).
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Abb. 29: Pienza, Palazzo Piccolomini, Reste des Geburtshauses Pius II., Blick von Südosten (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 30: Pienza, Palazzo Piccolomini, Reste des Geburtshauses Pius II., Blick aus dem giardino pensile, von Südwesten (Foto: Annemarie Stauffer).
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Familiensitzes wurde bewahrt und in der östlichen Loggia als Ruine im nach Süden gerichteten Garten (Abb. 30) eingebaut.140 Der Neubau bezog Reste des Geburtshauses am Übergang zum symbolischen Paradiesgarten ein, um Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Familie Piccolomini im neuen Haus zu vereinen. Der Einbau hat auch nichts von der romantisierenden Ruinenschwärmerei des späten 18. Jahrhunderts und der Moderne, sondern Pius wollte die Erinnerung an sich, seine Fama und seine Memoria auf das Geburtshaus beziehen, sich und seine Herkunft in dieser Weise historisieren. Memoria außerhalb des Kirchenraums ist in dieser Dichte in den Pientiner Bauplanungen des Papstes etwas Neues, in der Einbeziehung von Resten des Geburtshauses einerseits entsakralisiert, profanisiert – wie auch an anderen Stellen in Pienza, wie wir sehen werden – und bleibt andererseits sehr eng an christlichen Weltdeutungen und traditionellen Formen liturgischer Praxis orientiert. Der Palazzo selbst war durch einige Wappenschilde auf der Außenfassade als die domus des Papstes kenntlich, ein herrschaftlicher Bau, der Distanz zur Stadt wahrte. Anders als die Kirche, war der Palast weitgehend nicht-öffentlicher Raum; er war als Residenzpalast des Papstes und später dessen Familie für die meisten Stadtbewohner nicht zugänglich, mithin memoriale nur für eine beschränkte Öffentlichkeit. Dies findet eine Entsprechung in den angebrachten Wappen des Papstes und der Piccolomini im Innenhof des Palazzo. (Abb. 31 und 32) Das Wappen ist Mittel der Repräsentation des Bauherrn und dessen Geschlechts. Auch diese Wappen dürfen wir nicht vorschnell als puren Protz verstehen, sondern als Geltendmachung des Erbauers im Kontext seiner Familie. Die Piccolomini sind im traditionellen Konventionen verhafteten Verständnis des Papstes eine Gemeinschaft der Toten und Lebenden aller Familienmitglieder. Die Memoria wird von Enea Silvio mit dem Palazzo im profanen Bereich für die eingeschränkte Öffentlichkeit der Besucher geltend gemacht. Der Bau war als Residenz des Papstes konzipiert141 – als solcher wurde er wegen des frühen Todes Pius’ II. eigentlich kaum genutzt, allenfalls 1462 zur Weihe des Doms und anlässlich der eigentlichen Erhebung Pienzas zur Stadt mit den entsprechenden Festlichkeiten, auf die gleich zu reden kommen sein wird. Pius nutzte seine Position als Oberhaupt der Kirche und des Kirchenstaats, um seine Familie nicht nur in Siena und dessen Territorium, sondern auch in Pienza zur Sicherung seines memoriale zu fördern. So übertrug er am 19. Juli 1463 den Pienteser Palazzo an seine Familie, an die Neffen Antonio, Giacomo und Andrea.142 Bereits am 7. Februar 1459 hatte Pius aus der päpstlichen Schatulle ein Landgut gekauft, das dem Unterhalt des Palazzo Piccolomini in Pienza diente;143 140 Ebd., S. 165 f. und Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, S. 64. 141 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 144–69. 142 Die Urkunde ist ediert bei Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, S. 205 f. Anm. 87 und Mannucci, Pienza. Arte e storia, S. 90–92. Der Palazzo Piccolomini sollte hiernach in männlicher Folge vererbt werden. 143 Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus, S. 47 mit Anm. 14; Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, S. 37 mit Appendix 2, S. 181, weist darauf hin, dass Pius auf Kosten der Kurie am 19. Januar 1459 200 Gulden für eine Kapelle in der Klosterkirche der Franziskaner in Pienza verwendet
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Abb. 31 und 32: Pienza, Palazzo Piccolomini, Innenhof / cortile (Fotos: Annemarie Stauffer).
weitere Käufe für den Unterhalt von Familie und Palazzo sollten folgen;144 ausgestattet mit Vermögen des Papstes wurde die Familie auch selbst als Käufer von Häusern und Landbesitz in Pienza aktiv.145 Die Familie Piccolomini wurde durch Pius auch ökonomisch erheblich gestärkt, so dass der Palazzo bis zur Umwandlung in eine museale Einrichtung in der Hand einer Stiftung mit dem Zweck der Bewahrung als Kulturdenkmal vor einigen Jahren kontinuierlich von der Familie bewohnt wurde. An der Piazza östlich der Kirche, so beschreibt Pius, sind der Bischofspalast und das Kanonikerhaus errichtet worden, zunächst das kleine Haus für die Domkanoniker, und direkt nördlich am Platz anschließend der repräsentativere Bischofspalast.146 (Abb. 33) Überhaupt wurde viel gebaut, ich paraphrasiere die Commentarii:147 Der Vizekanzler des Papstes, Rodrigo Borgia, erbaute den Bischofspalast; dahinter baute Jean Jouffroy, Kardinal von Arras, daneben der Thesaurar und dahinter Gregorio Lolli, einer der Vertrauten – und Verwandten – von Pius II.; als erster hatte Giacomo Ammanati-Piccolomini, Kardinal von Pavia, vom Papst adoptiert und gefördert, ein großes und bequemes Haus gebaut; der spätere Kardinal von Mantua, Francesco Gonzaga, hatte bereits ein Grundstück für den Hausbau gekauft, und so hatten es auch Thomas, der Kammerdiener von Pius, sowie die Bullatoren getan, und auch Einheimische (oppidani) rissen alte Häuser ab und setzten neue an deren Stelle, so dass entlang des Corso nur noch Spuren des früheren Corsignano blieben. Die Commentarii
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hat, möglicherweise für das Seelenheil seiner Eltern. Ebd., Appendix 2, S. 180–89 listet die Ausgaben der Kurie für Pienza in den kommenden Jahren auf. Siehe hierzu Adams, ‘The Acquisition of Pienza 1459–1465’, S. 103 mit Anm. 23 und 24, sowie den urkundlichen Belegen Nr. 22, 23, 26–29, 31, 43–47, S. 107–09. Siehe ebd., S. 102 f. Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1768: ‘Aedificavit Pontifex et domum iuxta templum a sinistris, in qua praepositus et canonici commode habitarent et per ianuam quandam parvam eorum causa in latere templi dimissam ad nocturna diurnaque munera nullo impediente procederent. E regione palatii, interiecto foro, domus antiqua fuit quam praetor et reliqui magistratus oppidi incolere consueverunt. Hanc Pius coemit diruendamque Vicecancellario ea lege tradidit ut palatium ibi episcopale construeret ac beatae Mariae virginis dono daret.’ Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1770. Auf diese Bauten braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.
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Abb. 33: Pienza, Palazzo Pubblico und Bischofspalast (Foto: Annemarie Stauffer).
berichten selbstredend nicht von den Friktionen dieser Baumaßnahmen: Es gab Widerstand gegen die Zwangsverkäufe von Häusern und Grundstücken für die Neubauten, die kaum ausgeglichen und entgolten werden konnten – die Bewohner von Corsignano verloren durch die päpstlichen Zwangsmaßnahmen doch ihre gewohnten Wohn- und Arbeitsverhältnisse.148 Kardinal Francesco Gonzaga wurde wiederholt von Pius bedrängt, auch mit dem Argument: ‘Vui siete richo, potite fare la casa!’ (Ihr seid reich, also könnt ihr das Haus bauen!) Der Ankauf der Häuser für den Palastbau des Kardinals Francesco Gonzagas gelang jedoch nur […] cum grande fatiga e rumore de’ povri homeni quali non voleano vendere le loro habitatione […] ([…] nur unter großer Mühe und Geschrei dieser armen Leute, die ihre Wohnungen nicht verkaufen wollten […]).149 Die Kardinäle sowie Angehörige der Kanzlei und Verwaltung der Kurie waren, mit Ausnahme der Piccolimini und Piccolomini-Adoptierten, nicht gerade begeistert, in der Provinz bauen zu müssen, und hatten sich mit massiven Pressionen des Papstes auseinanderzusetzen. Immerhin mussten 38 der rund 350 Häuser Corsignanos angekauft werden, meist von einfachen Handwerkern;150
148 Esch, ‘Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II.: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung’, S. 137 f. 149 Zitiert nach Chambers, ‘The Housing Problems of Cardinal Francesco Gonzaga’, Anhang 12, S. 48 f. 150 1320 ist von 350 Häusern auszugehen, siehe oben Anm. 101. Die Aufstellung der überlieferten Ankäufe siehe bei Adams, ‘The Acquisition of Pienza 1459–1465’, S. 104 f.
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doch wurden Umbauten von Bürgern, die am Corso zum Teil fast Neubauten waren, auch von Pius und der Kurie subventioniert.151 So weit betrachtet, könnte man durchaus zu meinen geneigt sein, Pius habe sich aus päpstlicher Machtfülle bloß eine Residenz erbaut – und gesichert, dass diese nach seinem Tod von der Familie Piccolomini weiter genutzt werden konnte. Doch schon der Bau der Kathedrale, deren feierliche Weihe durch den Papst an Decollatio Johannis (29. August 1462) erfolgte, gibt Anlass zu Fragen, die über den Charakter Pienzas als Residenz hinausgehen. Der Kardinal von Ostia assistierte dem Papst bei der Weihe – der Papst persönlich nahm die Salbung des Hochaltars vor und versiegelte die Einbringung der Reliquien in dessen Mensa, ließ sich die Weihe seines und seiner Familie memoriale nicht nehmen; Pius versetzte den Bischof von Chiusi nach Pienza, um seinen Verwandten Gabriele Piccolomini dort zum Bischof machen zu können.152 Bürger und Einwohner von Pienza waren an der Weihe und den folgenden Festlichkeiten beteiligt, gefordert und gefördert zugleich. 6. Stadtbau, Stadterhebung
Die commentarii nennen Corsignano anfangs locus oder oppidum beziehungsweise oppidulum, als habe der Ort bereits vor 1459 stadtähnlichen Charakter getragen, was wir aber im rechtlichen Sinn keinesfalls annehmen dürfen. Binnen fünf Jahren wurde aus dem locus eine ansehnliche kleine Stadt mit einer Befestigung, eine civitas oder gar urbs. Urbs spielt stets auf das Vorbild Rom an. Die 1463 gegossene Turmglocke der Kathedrale, deren Guss als memoriale für die Herkunft des Papstes aus den Materialien der alten Glocke von Corsignano gefertigt wurde, trägt die Inschrift: Parva fui nuper qualis delubra deceret Et non urbani moenia pressa loci. Mox Pius ut templum construxit et intulit urbem Quantam urbs atque aedes postulat esse iubet. Ergo Pientinos si latius impleo campos Nunc urbi nuper oppidulo sonui. A(nno D(omini) 1463, Gihanes Tofani de Senis me fecit.153 (Noch jüngst war ich klein, ganz der kleinen Kirche entsprechend, und der Ort noch nicht von städtischen Mauern umschlossen, als Pius diese Kirche erbaute und die Stadt verfasste und befahl, Gebäude zu errichten, wie sie eine Stadt verlangt. So erfülle ich nun weiter die
151 Siehe hierzu Esch, ‘Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung’, S. 136 f. nach einem Briefwechsel Kardinal Francesco Gonzagas mit seinen Eltern. 152 Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1770. 153 Die Transkription folgt Carli, Pienza. La Città di Pio II, S. 23 mit Anm. 21.
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pientinischen Felder mit meinem Klang, läute jetzt der Stadt (urbs), die kürzlich noch ein Dorf (oppidulo) war.) Das oppidulum Corsignano ist also zur urbs, zur rechtlich gesichertem civitas Pienza erhoben; Status von oppidulum und urbs sind in der Inschrift einander gegenübergestellt. Pius hatte am 12. August, am 2. September und 23. September 1462 an der Nordseite der Piazza,154 gegenüber der Domkirche, Bürgerhäuser aufgekauft, um diese abreißen und an deren Stelle ein Rathaus errichten zu lassen, mit Porticus / Halle im Erdgeschoss, einem großen Saal für die Versammlung der Bürger, mehreren Zimmern für Wohnzwecke des Stadtrats, mit Rüstkammer, Gefängnis und zinnenbekröntem Turm mit Uhr und Glocke (Abb. 33) – alles in allem der Bau eines Palazzo Pubblico nach dem Muster der Selbstdarstellung einer toskanischen Kommune des Mittelalters. Emit et alias aedes civium oppositas, ultra forum, templo; quibus dirutis, tertium aedificari palatium iussit, cum porticu et aula magna et cubiculis et armamentariis et turri quae campanis et horologio serviret et carceri, magistratus urbis ut hic habitarent et consilia civium fierent; conduxitque operarios et partem magnam mercedis tradidit, volens quatuor nobilibus aedificiis circundari forum.155 (Pius kaufte auch noch weitere Bürgerhäuser auf der Seite des Forums gegenüber der Kirche; Nach dem Abriss dieser Häuser ließ er hier einen dritten Palast errichten, der über eine Loggia, einen großen Saal, Zimmer und Waffenräume, einen Turm, der als Glocken- und Uhrturm dienen sollte, und ein Gefängnis verfügte. Die Mitglieder des Magistrats sollten hier wohnen können und die Beratungen der Bürger stattfinden. Hierfür warb er Arbeiter an und bezahlte den größten Teil der Kosten – er wollte, dass das Forum von vier vornehmen Gebäuden umgeben wird.) Mit der Stadterhebung und der Verleihung einer entsprechenden Stadtrechtsurkunde nahm der Papst im Territorium Sienas Herrschaftsrechte wahr, die ihm und seiner Familie nicht zustanden. Dies wurde von Siena offensichtlich abwartend geduldet; das befestigte Pienza stärkte das Territorium, die zu erwartende Geschäftsbelebung kam Siena zugute. Die stadtrechtlich entscheidende Urkunde aus den Jahren 1462 bis 1464 ist leider nicht überliefert, so dass wir uns der Stadterhebung nur indirekt annähern können. Die Zeitgenossen jedenfalls geben eindeutig die Stadterhebung wieder, so der bereits zitierte Giannantonio Campano im Jahre 1462 in seinem Lobgedicht auf Pius und Pienza.156 In Anspielung auf die antiken Spiele für das Volk der urbs (panem et circenses), ein weiteres Romzitat, wurde der Weihezyklus des Doms und die symbolische 154 Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, S. 113. 155 Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1768. 156 Siehe oben S. 161 f.
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Erhebung zur Stadt mit einem Festtag abgeschlossen. Der Festtag wurde auf den Matthäustag (21. September) gelegt; an diesem Tag wurde in Corsignano seit alters wohl ein einwöchiger Markt (nundinae) eröffnet, der mit Wettläufen der Männer und Knaben endete: zu Pferde, auf Eseln, aber auch zu Fuß. Pius ersetzte, weil er wollte, dass das Fest feierlicher als üblich gehalten werde, nicht nur alle Auslagen für das Fest, sondern stellte auch Siegerpreise: für das Pferderennen 8 Ellen Scharlachstoff (panni coccinei),157 für die Eselrennen und den Männerwettlauf je 4 Ellen Stoff einer anderen Farbe (coloris alterius), für den Knabenwettlauf 1 Gans. Der Wettlauf der fast nackt wetteifernden Knaben nimmt den größten Teil der Schilderung ein. Pius stattete auch alle Ratsherren der Stadt mit einer ‘Amtskleidung’, nova veste, aus.158 Durch die Einkleidung nahmen diese ihr neues Amt ein, wurden regelrecht investiert! Alles hat den Anschein, als sei an diesem Tag Pienza zur Stadt erhoben worden. Ausführlich wird der die Stadtgemeinde konstituierende Festtag beschrieben: Frühmorgens erfolgte ein feierlicher Gottesdienst in der vor kurzem geweihten Kathedrale in Anwesenheit des Papstes. Die meisten Teilnehmer gingen nach der Messe zu einer Mahlzeit vor die Stadt, wo Wirte dreißig Ochsen und dazu noch viele kleinere Tiere gebraten hatten. Bis zum Abend war dann wie üblich Markttag. Der Tag wurde mit den Rennen abgeschlossen – ob sie so spannend verliefen, wie es die Commentarii berichten, sei dahingestellt, da Pius seine Schilderung des Rennverlaufs in großen Teilen an Vergils Aeneis anlehnt,159 der wiederum ‘Leichenspiele für Patroklos aus dem 23. Gesang der Ilias zum Modell nimmt.’160 Wichtig jedoch war, dass Pius als Stadtherr Pienzas mit den anwesenden Kardinälen die Spiele aus einem Fenster seines Palazzo verfolgte, nicht ohne dabei ‘natürlich’ über politische Angelegenheiten beraten zu haben:
157 Scharlachgefärbtes Tuch kann als vornehme Tuchqualität gelten. 8 Ellen Tuch sind für einen Schneider hinreichend für ein mittellanges Gewand. 158 Siehe den ausführlichen Bericht des Tages und der Wettkämpfe in den Commentarii 2, Liber IX, 26, S. 1770–66. Die Annahme von Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, S. 116, die Einkleidung der Ratsherren sei am Tage zuvor erfolgt (Abschluss des von ihm rekonstruierten 40-tägigen Weiherhythmus von Dom und Stadt Pienza), findet in den Commentarii keine unbedingte Bestätigung; seine Annahme hat nur Wahrscheinlichkeit, da der 20. September im antik-römischen Festkalender als der Tag der Geburt des Stadtgründers Romulus begangen wurde. Insofern wäre die Einkleidung und Investitur der Ratsherren an diesem Tag in der humanistisch geprägten Planung plausibel – mit dieser einheitlichen Kleidung könnten sie als Vertreter und Obrigkeit der Stadtgemeinde am feierlichen Gottesdienst am 21. September teilgenommen und den Festtag insgesamt als Führungskorporation begleitet haben. Leider ist die Qualität dieser nova veste nicht näher bezeichnet. 159 Siehe Vergil, Aeneis, 5, 315–60. Die Rennen verliefen mit Betrügereien, die aufgedeckt wurden, die Läufer waren schlammbespritzt und eingedreckt, stürzten auch häufig, weil es geregnet hatte und die präparierte Laufstrecke sehr stark durchnässt war. 160 Seeber, Enea Vergilianus. Vergilisches in den ‘Kommentaren’ des Enea Silvio Piccolomini (Pius II.), S. 34, und ebd. S. 41: ‘[…] so geht es bei dieser imitatio […] weiter: Ohne sprachliche Anspielungen überträgt er in freier Variation heroische Motive auf die Bauernbevölkerung von Corsignano […]’. Diese philologische Kritik der Commentarii negiert die Absicht von Pius, der die konkrete Situation in Pienza durch das antike Vorbild – und für jeden humanistisch gebildeten Zeitgenossen transparent – nobilitierend besonders gewürdigt hat.
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’Haec Pontifex ex altissima fenestra cum cardinalibus non sine iocunditate spectavit, quamvis interea de publicis negotiis consultaret.’161 Leider zitieren die Commentarii den Wortlaut der Privilegierung von Stadt und Bürgergemeinde nicht, und auch die entsprechende Ausfertigung der Urkunde ist nach heutigem Kenntnisstand nicht überliefert. Wir können mit einiger Berechtigung nur davon ausgehen, dass Corsignano in den Jahren 1462 bis 1464 durch eine Urkunde des Papstes rechtlich zur Stadt Pienza erhoben worden ist, denn wiederholt ist in den Commentarii die Erhebung des oppidulum beziehungsweise locus Corsignano zur urbs beziehungsweise civitas beschrieben. Giovanni Battista Mannucci, Kanoniker und Direktor des Museo della Cattedrale di Pienza vor dem Zweiten Weltkrieg, hat auf eine Überlieferung der Pientiner Statuten aufmerksam gemacht, der kurz nachzugehen ist.162 Pienza gehörte zum Territorium der Republik Siena, und teilte deren historisches Schicksal. Die Stadt Siena geriet 1552 unter französischen Einfluss, der die Unabhängigkeit garantierte, aber schon das Jahr 1554 brachte das Ende der Republik: Die Stadt wurde im Kontext des Krieges um das Königreich Neapel von Florenz militärisch eingenommen; schließlich belehnte 1557 die spanische Krone, die Neapel zurück erworben hatte, Cosimo von Medici mit Stadt und Territorium Siena, wobei die Stadt einen politischen Sonderstatus bewahrte. Im Zusammenhang dieser Ereignisse wurden offensichtlich auch Status und Verhältnisse der civitas Pienza geklärt, denn am 5. Dezember 1564 bestätigten die neuen Herren städtische Statuten. Manucci nimmt an, anlässlich dieser Bestätigung seien die von Pius verliehenen Statuten verloren gegangen oder vernichtet worden, denn diese waren 1563 in der Ausfertigung zur Überprüfung nach Neapel geschickt worden.163 In den Statuten sind nur drei Bedingungen für die Teilhabe am Stadtregiment benannt: Bürgerrecht, Wehrfähigkeit (‘resistenza’) und die Bereitschaft, Bürden für die Kommune zu tragen, das heißt am allgemeinen Rat teilzunehmen und gegebenenfalls eine Wahl für eines der Magistratsämter anzunehmen. Diese Partizipation an der Selbstverwaltung der Stadt ist das Recht aller Bürger; es gibt in der Bürgergemeinde keine Standesprivilegien, alle Bürger sind rechtlich gleichgestellt. Pienza hat also einen Bürgerstand, weist Verbandscharakter auf; die Bürger sind Genossen gleichen Rechts. Das Wahlverfahren zu den Verwaltungsorganen ist kompliziert: Prioren haben vor dem 15. Dezember jeden Jahrs den allgemeinen Rat der Bürger einzuberufen,164 um die Ratsherren (‘li Consiglieri’) zu wählen:
161 Commentarii 2, Liber IX, 26, S. 1776. 162 Mannucci, Pienza. Arte e storia, S. 225–40, dem ich weitgehend folgen kann. Eine Edition der Statuten nimmt Mannucci hier leider nicht vor, sondern er fasst die Statuten lediglich zusammen. Eine Sichtung der Ausfertigung der Statutenbestätigung war für diesen Aufsatz leider nicht möglich und wird in anderem Zusammenhang erfolgen. 163 Ebd., S. 227 164 Diese Versammlung aller Bürger im Großen Saal des Palazzo Pubblico begegnet in der Beschreibung der Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1768.
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[…] nel qual Consiglio si abbino a scrutinare tutti li Consigleri per lupini bianchi e neri pigliando il bianco per si e il nero per il no […].165 ([…] in diesem Rat haben sie alle Consiglieri zu wählen durch weiße und schwarze Lupinen(-samen), die weißen für ja und die schwarzen für das nein […]) Die vier, die am meisten Stimmen auf sich vereinigen, bilden zusammen mit den (vier) Prioren ein Gremium der Acht: […] otto sufficienti huomini della città di Pienza e che famigliarmente abitavano, i quali chiamati et i detti devino parimente infra di loro scrutinare come di sopra, e quattro di essi aventi maggior somma di lupini bianchi, habbino libera facoltá fare otte polize et ciascuna di esse scrivere tre uomini e un Camarlengo, di modo che siano quattro huomini per pallotta della città di Pienza et ivi nati. L’offizio dei quali Priori e Camarlengo duri tre mesi e il Bossolo si rinnovi e faccia oni due anni nel medesimo modo. Quali imbossolatori, come di sopra eletti habbino parimenti autorità chiamare trentadue huomini pientini però idonei e sufficenti a governare la sud.a Communità di Pienza e cosi siano Consiglieri per du anni.166 (Acht der Stadt Pienza, die vertraulich zusammenwohnen;167 sie wählen zu gleichen Rechten wie oben beschrieben vier aus ihrem Kreis, indem jeder der Acht einen Stimmzettel (‘polize’) abgibt und auf jeden drei Namen und den Namen eines Kämmerers (‘Camarlengo’) schreibt; auf diese Weise werden Männer aus der Stadt Pienza gewählt, die dort geboren sind. Die Ämter der Prioren und des Kämmerers währen drei Monate, die Große Wahl (‘Bossolo’) erfolgt alle zwei Jahre auf diese Weise. So gewählt kommt den Acht die Autorität zu, 32 geeignete Männer für die Regierung der Kommune Pienza zu bestimmen, und auf diese Weise sind sie Consiglieri für zwei Jahre.) Diese Wahlmodalitäten lassen durchaus eine Urheberschaft aus dem 15. Jahrhunderts annehmen, denn es sind von der Bürgerschaft mehrere Gremien der Selbstverwaltung und der Stadtpolitik bestimmt. Die Prioren, zusammen mit dem Gremium der Acht, sind mit ihrer Autorität und Amtsgewalt Obrigkeit der Stadt und ihrer Bürger; sie bestimmen die Amtspersonen der Kommune für das auf die Wahl folgende Jahr. Auch das entspricht der Selbstverwaltung einer mittelalterlichen Stadt. Im dreimonatlichen Wechsel übernehmen die Prioren die Leitung der Amtsgeschäfte und Verwaltung der Kommune; sie sind auch verantwortlich für die Anzeige von Delikten, Übeltaten und Exzessen an das Gericht in Pienza oder in Siena. Ein Amt (‘operai delle mura’) ist für den
165 Mannucci, Pienza. Arte e storia, S. 229, wörtliches Zitat der Bestätigungsurkunde von 1564. 166 Ebd., S. 229 f., wörtliches Zitat der Bestätigungsurkunde von 1564. 167 Die Commentarii 2, Liber IX, 24, S. 1768 erwähnen Räume, in denen die Magistratsmitglieder auch (zeitweise?) wohnen sollen.
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Bau und Unterhalt der Stadtmauern eingerichtet; das Amt hat zur Zeit der Weinlese an den beiden auf den Corso führenden Stadttoren al Murello und al Ciglio das einfahrende Weinlesegut für die Versteuerung zu notieren – die Einnahmen kommen der Stadtbefestigung zugute. Weitere Bestimmungen der Statuten sind: Salzmonopol der Kommune, das von den Kämmerern verwaltet wird; Immobilienverkäufe unter kommunaler Aufsicht durch zwei ‘alliratori’; Maße und Gewichte; Schäden, verursacht durch Mensch oder Tier, sind vor dem Gericht vom ‘Camparo’ (Feldschütz) anzuzeigen; Festlegung gerichtlicher Verfahrensfragen. Gerichtsfragen werden geregelt, es wird verordnet, wer die Vergehen vor Gericht anzuzeigen hat und dergleichen mehr; Regelung der kommunalen Rechtssicherheit in Schriftform, verbunden mit der Verpflichtung, ein Archiv zu führen. Jeden Donnerstag wird auf der Piazza Markt gehalten; Marktrecht und Marktabgaben zugunsten der Kommune werden wie üblich in dieser Urkunde verfügt. (Ober-)Richter (‘Capitano di Giustizia’), dessen Vertreter, Notar und Kanzlisten leisten vor Amtsantritt den Amtseid gegenüber dem Herzog von Florenz und Siena – leider ist nicht erwähnt, wer diese ernennt (möglicherweise die Prioren).168 Der Amtseid dürfte als Reflex der herrschaftlichen Einflussnahme auf die Kommune zu werten sein und damit eher der Zeit um 1564 angehören. Dafür spricht auch, dass der Rat zwar von Prioren und Kämmerer einberufen wird, aber vom ‘Capitano di Giustizia’ oder seinem Vertreter dafür gesondert Erlaubnis zu erteilen ist. Die Souveränität der Selbstverwaltung scheint mithin beschränkt worden zu sein. Zu Ratssitzungen wird mit zweimaligem Schlagen der Glocke des Palazzo Pubblico geladen. Rat und Prioren vereinen sich an zahlreichen Terminen (Wahltermine, regelmäßige Ämterwechsel) zu gemeinsamen Mahlzeiten – auch dies eine Tradition, die auf das 15. Jahrhundert schließen lässt. Zu den höchsten Festtagen hat der ‘Camarlingo generale’ sich im Palazzo Pubblico einzufinden, die Finanzen der Kommune offenzulegen und seine Einnahmen und Ausgaben im von ihm zu führenden Rechnungsbuch prüfen zu lassen, um dieses gegebenenfalls an seinen Amtsnachfolger zu übergeben. Alle finanziellen Unregelmäßigkeiten hat er aus eigenem Vermögen auszugleichen. Es folgt eine für 1564 atavistisch klingende Verpflichtung des ‘Camarlingo generale’, die zweifellos auf die Zeit Pius’ zurückzuführen ist: Debbi ogni Sabbato a sera e in ciascun Vigilia di Maria Vergine, conferirsi nel palazzo (pubblico, d. Verf.) e avanti al cospetto di sua Immagine accendere la lampada sotto pena di soldi dieci per volta.169
168 Mannucci, Pienza. Arte e storia, S. 230. 169 Ebd., S. 232; im großen Saal ist noch heute ein Wandgemälde des 15. Jahrhunderts erhalten, das Maria mit Kind zusammen mit den Heiligen Sanus, Gregorius, Matthäus und Vitus zeigt; es dürfte sich um das Bildnis handeln, vor dem der Kämmerer die Lampe zu entzünden hatte. Das Gemälde wurde laut Inschrift von dem sienesischen (?) Maler IACOMO gemalt und von Antonio Dangelo, Luca di Bagio, Orsano di Menicho und Marcho di Marzo geschenkt. Die Datierung in der Inschrift ist leider zum Teil zerstört und nur mehr zu lesen: ‘MCCCC[…]II del mese aprile’. Zwei der ursprünglich wohl vier Wappen der Schenker sind erhalten.
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( Jeden Samstagabend und an jedem Vorabend der Marienfesttage hat er (‘Camarlingo generale’, der Kämmerer) sich im Palazzo Pubblico einzufinden und vor dem Marienbildnis die Lampe zu entzünden; für jedes Versäumnis hat er 10 soldi Strafe zu zahlen. Mit dieser regelmäßigen Verehrung der jungfräulichen Gottesmutter im Palazzo Pubblico wurde das Haus der Pientiner Bürgergemeinde spirituell mit dem Dom verzahnt, der Maria Assunta als Hauptpatronin geweiht war – die Bürgerschaft wurde auch im profanen Stadtleben einmal mehr für das memoriale Pius II. aktiviert. Eingeführt sind in den Statuen von 1564 zudem zwei ‘Sindaci’, denen ein Vetorecht in vielen kommunalen Fragen zusteht und ähnlich wie die Volkstribune im antiken Rom die kommunale Selbstverwaltung überwachen. Sie nehmen an allen Ratssitzungen teil. Die Sindaci in dieser Form, so betont Mannucci, sind eine Besonderheit der Pientiner Stadtverfassung und könnten als Leitung der Selbstverwaltung, durch den Rat gewählt, auch auf die Privilegierung der Kommune durch Pius zurückgehen. Leider lässt die Teiledition der Pientiner Statuten und der Bericht von Mannucci die Beantwortung solcher Fragen nicht zu. Alles spricht jedoch dafür, dass wesentliche Teile der urkundlich privilegierten Stadterhebung durch Pius verfügt worden waren und 1564 von der neuen Herrschaft in Neapel überprüft und in geänderter, erweiterter Form bestätigt worden sind.170 Viele Bestimmungen der Selbstverwaltung waren essentiell für eine politische Emanzipation der Bürgergemeinde, die sich selbst verwaltete und das städtische Leben mit Hilfe einer komplizierten Stadtverfassung organisierte und kontrollierte. Mit der Stadterhebung sowie den städtischen Gebäuden und kommunalen Einrichtungen sorgte Enea Silvio Piccolomini als Papst für ein weiteres Element seines memoriale. Die Stadt war mit weiteren kommunalen Institutionen ausgestattet, denn neben dem Palazzo Pubblico waren auch ein Hospital und ein Gasthaus für arme Reisende und Pilger errichtet worden,171 so dass auch für die – die Stadt unabdingbare – Caritas gesorgt war; ein Franziskanerkloster mit zugänglicher Klosterkirche war bereits im 13. Jahrhundert gegründet und von Pius 1460 mit einer Kapellen-Stiftung für seine Eltern bedacht worden. Wohl als Gegenleistung des Konvents wurden in der Klosterkirche zum Gedenken zahlreiche Papstwappen aufgemalt. Die Stadtmauer war fertig gestellt, der Corso angelegt, freilich um das forum und entlang der südlichen Seite überwiegend von herrschaftlichen Gebäuden geprägt. Für die Stadtarmen, die nicht in der Lage waren, aus dem Erlös der verkauften Gebäude selbst neu zu bauen, ließ Pius mit den Case Nuove im Nordosten der Stadt Reihenhäuser errichten,
170 Es finden sich auch zahlreiche Bestimmungen der frühneuzeitlichen obrigkeitlich orientierten ‘Policey’ in den Pientiner Statuten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 171 Siehe hierzu Mack, Pienza. The Creation of a Renaissance City, S. 147 (Hospital) und S. 147 f. Gasthaus, wohl mit der Verwechslung eines Gasthauses im modernen Sinne (gegenüber dem Franziskanerkloster am Corso).
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Abb. 34: Pienza, Brunnen auf dem forum vor dem Palazzo Piccolomini (Foto: Annemarie Stauffer).
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eine Sozialwohnungssiedlung im modernen Sinne.172 Über den Bau des Castel nuovo, der Befestigung und der Stadttore unterrichten die Commentarii leider nicht eingehender. Auch im städtischen Leben trifft man zur Erinnerung und Gedenken an Pius II. auf das Piccolomini- und Papstwappen, so vor allem am Palazzo Pubblico und am zentralen Brunnen auf der Piazza an der Ostfassade des Palazzo. Dieser Brunnen war die Hauptquelle für Frischwasser in der Stadt. Bei jeder Nutzung dieses Brunnens wurden die cives wie die Einwohner von Pienza durch Inschrift und Wappen an den Stifter erinnert und zum aktiven Gedenken ermahnt – das memoriale des Papstes war also in mehrfacher Hinsicht profanisiert. (Abb. 34) 7. Das memoriale Pienza
Warum eigentlich hat Pius nicht einfach ein Kloster zum memoriale, zur dauernden Erinnerung seiner Fama und Memoria errichtet, sondern seinen Geburtsort zur Stadt erhoben? Warum beließ er es nicht bei einer Residenz mit repräsentativen Bauten für sich und seine Nachkommen? Die Sicherung der Zukunft seiner Familie mag eine Überlegung des Papstes gewesen sein, die, wie wir gesehen haben, zu berücksichtigen ist. 1463 nämlich übertrug Pius alle neuen Rechte in Pienza mit deren ökonomischen Absicherungen zwei Neffen als unveräußerliches Erbe. Die Dimension der Erinnerung an Geschlecht und Fama des Papstes machte aus dem Bau und der Nutzung von Palazzo, Dom und Stadt zweifellos einen Akt der sozialen und politischen Repräsentation, aber in den Worten von Pius selbst verdankte sich dies wesentlich weiter gefassten Intentionen. (Abb. 35) Wir haben es offensichtlich mit einem mehrdimensionalen Phänomen zu tun, das Anlass zu divergierenden Hypothesen der Forschung gibt: Residenzbildung, Ort der gebauten humanistischen Weltsicht, Erinnerungsort, Monument – all dies benennt Dimensionen, denen mehr oder weniger Berechtigung zukommt, ohne das Phänomen des memoriale erschöpfend zu füllen. All das nämlich macht noch kein memoriale aus, denn dieses sollte dauerhafte Erinnerung der Person und des Ruhmes im spirituell-religiösen Sinne sein, abgehoben vom Totengedenken für Normalsterbliche, eine herausgehobene mittelalterliche Form der spirituellen Zukunftssicherung bis zum Jüngsten Tag. Wie passte die ‘Stadt’ in ein solches Konzept? Dies ist meine Hauptfrage an die Vorgänge in Corsignano beziehungsweise Pienza in den Jahren 1459 bis 1464. Überall stoßen wir auf das Wappen des Papstes, in einem doppelten Sinne: Erst dieses schuf im Kontext der Architektur ein memoriale, denn es hielt und hält den Papst gegenwärtig und fordert zum aktiven Gedenken durch Menschen auf. Die Fundation des Domes und die Erhebung zur Stadt institutionalisierten Memoria und Fama des Papstes: Die Bürger und Einwohner in Pienza sind in der Gestaltung des memoriale als Akteure verankert und verpflichtet worden; sie sind durch ihr bloßes Dasein zu Akteuren geworden, denn sie vergegenwärtigen
172 Siehe ebd., S. 150–52.
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Abb. 35: Pienza, Blick aus dem Kreuzgang des Franziskanerklosters auf den Corso mit Palazzo Piccolomini rechts, gegenüber ehemaliges Gasthaus und Palazzo AmmanatiPiccolomini, im Hintergrund der Bischofspalast an der zentralen Piazza und der Uhrturm des Palazzo Pubblico (Foto: Annemarie Stauffer). (Farbtafel X)
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Pius und seine Familie durch die Teilnahme an Gebet und Gottesdienst – das galt als die beste Sicherung gegen das Vergessenwerden. Die ganze Stadt ist bis heute verschränkt mit dem Gedenken, der Jenseitsvorsorge und der Fama des Papstes. Pius ist in diesem Sinne die Historisierung seiner Person gelungen! Jan Pieper hat erarbeitet, wie die Gestaltung der Piazza die Weltdeutung des Humanismus von gesellschaftlicher Hierarchie erkennen lässt,173 durchaus in neuen Formen, aber verhaftet in den Deutungen des Mittelalterst: Das Haus Gottes, der Dom, im Zentrum am forum gelegen, in den sich Pius als Vertreter Gottes auf Erden exklusiv einklinkt in der ersten Ebene, der alles überragende Palast des Papstes am Platz, elegant und doch massiger wirkend als die Kirche in der zweiten Ebene – und ebenso der Bischofspalast. Der Kirche gegenüber die dritte gebaute Hierarchie-Ebene der Gesellschaft, das repräsentative Haus des Rates der Bürger. Die Stadt ist ein neues Element für das Ensemble des memoriale. Der Palazzo Pubblico, das Rathaus, bezog die universitas civium ebenso ein wie den Rat als Obrigkeit für die Stadt, er knüpfte eine Verbindung zur Rezeption des antiken Rom, der Stadt der Städte, das zur Heiligen Stadt des Christentums geworden war. Mit der Stadt und dem Neubau der (Dom-) Kirche für die Stadt nutzt er die mit Stadt verbundene Öffentlichkeit für seine Intention eines memoriale seiner Person und Herkunft.174 Dass Pius dies im humanistischen Sinne mit der architektonischen Gestaltung des Platzes realisierte, in pulchritudo und dignitas, in Schönheit und Würde, wie er selbst es formuliert hat, ist neu und interessant zugleich: Er realisierte mit dieser Gestaltung eine Einheit von wilder Natur (Monte Amiata), nährender Natur (Orciatal) und Pienza als zur Kultur gestalteten Natur, und ließ die Pientiner an der neuen Weltdeutung teilhaben. Vom Platz, noch besser von der Loggia des Palastes aus sind alle drei Dimensionen der Weltsicht visuell wahrzunehmen. Der Platz in Pienza bietet reale Abbilder der hierarchischen Gesellschaft, vereint die Allmacht Gottes mit der geistlichen und weltlichen Herrschaft des höchsten kirchlichen Fürsten über Kirche und Welt mit der communitas der Bürger und weist über bisherige Konzepte der Erinnerungskultur hinaus. Die öffentlichen Räume der Stadt wurden für die Erinnerung des Papstes genutzt. Die Stadt des Mittelalters verstand sich selbst als Sakralgemeinde. Als communitas rechtlich gleichgestellter Bürger ohne persönliche Abhängigkeit von einem Herrn im inneren Leben der Stadt war sie in gewisser Weise ein Fremdkörper in der von feudaler Herrschaft geprägten Welt. Die Stadt insgesamt verstand sich auch im Sinne der Memoria als Gemeinschaft der lebenden mit den toten Städtern aus Bürgern wie Einwohnern. Für diese Gemeinschaft gab es den Anspruch und das Bewusstsein als der vorweggenommenen Civitas Dei, von der dominikanischen
173 Pieper, Pienza. Der Entwurf einer humanistischen Weltsicht, passim. 174 Zur ‘Öffentlichkeit’ der Stadt siehe Monnet, ‘Die Stadt, ein Ort der politischen Öffentlichkeit im Spätmittelalter? Ein Thesenpapier’, S. 329–59, und allgemeiner Oschema, ‘Die Öffentlichkeit des Politischen’, S. 41–86; zum Problemkreis mit Bezug zur Memoria des Spätmittelalters siehe in Zukunft, für diese Reihe vorgesehen: Schilp, Im Bann des Todes. Memorialpraxis und soziale Beziehungen im spätmittelalterlichen Dortmund.
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Theologie und Philosophie des 13. und 14. Jahrhunderts propagiert, wie wir eingangs gesehen haben. Die Bürger konstituierten mit ihren Stiftungen zum Seelenheil Familie, Zunft, Gruppe und damit Stadt immer wieder neu, keine Gruppe konnte sich ohne den memorialen Bezug selbst verstehen, sie deutete sich in diesem Glauben. Das Gedenken verschränkte Glauben und Welt, schuf Institutionen. Es nimmt von daher eigentlich nicht Wunder, wenn im 15. und im 16. Jahrhundert die gesellschaftliche Organisationsform Stadt in memorialen Stiftungen nicht nur zum Zwecke des Totengedenkens von Bürgern eingesetzt, sondern Städte auch als Mittel des Herrschers, sozusagen als ‘Apparatur’, ja als ‘Maschinerie’ oder ‘Generator’ der Memoria verstanden wurden, indem sie mit dem Ziel der Sicherung von Memoria gegründet wurden. Nach den Anweisungen von Enea Silvio Piccolomini wurden in Pienza Palazzo, Dom und Stadt geplant und erbaut; Pienza wird von Architektur- und Kunsthistorikern immer wieder als eine ‘Idealstadt’ bezeichnet, um, so ist hinzuzufügen, die Erinnerung wachzuhalten und Zukunft zu sichern, zum ewigen Heil des Erbauers und seiner Familie. Für die Gestalt der Gebäude, des Platzes, des Stadtbaus nutzten Pius und sein Architekt Bernardo Rossellino die neuen Möglichkeiten, die neue Sprache der Architektur. Vor allem der Platz spiegelt humanistische Weltdeutung, die wesentliche Dimension der Stadtanlage ist jedoch die Sicherung von Fama und Memoria, das memoriale, eine Intention, die in die Gestaltung der Architektur übersetzt wird. Schon in dem von Pius gewählten Namen der Stadt ist ersichtlich, dass Pienza zu seiner Memoria errichtet worden ist. Die Anlage von Pienza, das memoriale sui generis, sicherte das fortwährende Gedenken seiner selbst und seiner Herkunft. Für diese spezifische Form der Erinnerungskultur spannte der Papst den sozialen Zusammenhang Stadt ein sowohl für das liturgische Gedenken als auch für die Erinnerung im weltlichen Kontext. All dies legitimierte seine Papstherrschaft und ließ zugleich die Sorge des Papstes um die liturgische Memoria der Stadtgemeinde zur Erinnerung seiner Person und seiner Herkunft im städtischen Leben als Movens des Handelns erkennen. Das ist verstanden als eine gigantische Mehrung des Gottesdienstes durch Pius, die nach mittelalterlicher Auffassung auch den Bewohnern von Pienza zugutekam, denn diese taten etwas für ihr Seelenheil, indem sie diese Gabe von Enea Silvio Piccolomini mit der Gegengabe der Teilnahme an Gebet und Gottesdienst erwiderten.175 Die Ausdehnung des memoriale in das profane Leben der Stadtgemeinde sichert zudem beiläufiges Gedenken an Pius.
175 Zu dieser Auffassung des Mittelalters siehe, schon im Buchtitel, Bijsterveld, Do ut des. Gift Giving , Memoria, and Conflict Management in the Medieval Low Countries. Noch heute tagt die Versammlung der Bürgervertreter im Saal des 15. Jahrhunderts und der Vorsitzende nimmt unter einer – modernen – Büste von Pius Platz.
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IV. Sabbioneta (1554–91) Die in dieser Abhandlung für Pienza angesprochenen Phänomene sind nicht singulär, denn eine ganze Reihe anderer Städte springt vor allem in Italien ins Auge, ohne dass Anlass und Intention der Stadtgründung oder -erhebung sich auf das Jota gleichen würden. Forschungsstand und Quellenlage sind für keine Stadt so günstig wie für Pienza, denn die politischen Subjekte dieser Stadtbildungen äußerten sich niemals so ausführlich zu ihren Intentionen wie Pius II. In der Lombardei sind etwa Castiglione Olona, schon um 1430 angelegt, Sabbioneta oder Vigevano für das 16. Jahrhundert zu nennen. Auch das 17. und 18. Jahrhundert kannte Stadtgründungen mit der Intention der Erinnerung eines Fürsten, die zugleich neue Dimensionen der Bedeutung erkennen lassen, denken wir nur an die Stadtneugründungen im Südosten Siziliens nach dem großen Erdbeben 1693, etwa an Grammichele oder Noto, Niscemi oder Scigli, in ganz anderen Kontexten aber auch an Karlsruhe oder etwa an Petersburg und weitere Residenzstädte, die schon in ihrem Namen an die Erbauer erinnern. Dies berührt einen Themenbereich, den wir auf unserem Spaziergang durch die sogenannte ‘Renaissance’ Italiens nicht mehr als erwähnen wollen. Lediglich auf Sabbioneta, nördlich des Po etwa in der Mitte zwischen Parma und Mantua gelegen, möchte ich eingehen, weil diese Stadt von der Forschung immer wieder an vorderer Stelle der ‘Idealstädte’ behandelt worden ist. 1. Zur Biographie des Stadtgründers Vespasiano Gonzaga
Vespasiano Gonzaga (*1531, †1591) hat Sabbioneta, rund einhundert Jahre nach der Stadterhebung von Pienza, als Herzog, Feldherr und Festungsbauer in habsburgischen Diensten sowie als Humanist gleichsam auf grüner Wiese gegründet. Vespasiano entstammte einer Nebenlinie der Mantovaner Gonzaga, die 1478 die Signoria Sabbioneta aus der Vorherrschaft Mantuas gelöst und die dortige Burg (‘Rocca’) zu deren Mittelpunkt ausgebaut hatte.176 Sein Vater Luigi, genannt ‘il Rodomonte’, war – humanistisch und literarisch gebildet – ein erfolgreicher Soldat und Condottiere im Heer Karls V., und unter anderem auch am Sacco di Roma beteiligt. Luigi heiratete mit Herzogin Isabella Colonna, einer Enkelin des berühmten Prospero Colonna, äußerst vornehm; die Ehe wurde 176 Zur Biographie von Vespasiano Gonzaga und auch zu Sabbioneta siehe vor allem Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta unter Verarbeitung der älteren Biographien: Giulio Faroldi, Vita di Vespasiano Gonzaga Colonna, duca di Sabbioneta [ca. 1587–92], in Ercolano Marani, Sabbioneta e Vespasiano Gonzaga (Sabbioneta: Amministrazione communale e dell’ Associazione Pro Loco, 1977), S. 51–78; Alessandro Lisca, Vita Vespasiani Gonzagae, Sablonetae ducis (Verona, 1592), sowie La cronaca di Lodovico Messirotti, um 1610 niedergeschrieben von einem Bedienten, der bis zum ‘luogotenente’ in Sabbioneta aufgestiegen war. In der modernen Forschung am ausführlichsten: Sarzi Amadè, Il Duca di Sabbioneta. Guerre e amori di un europeo errante. In der deutschsprachigen Literatur ausführlich: Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 47–92, sowie Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 34–51. Im Folgenden verzichte ich mit diesen Hinweisen weitgehend auf detaillierte Anmerkungen zur Biographie und zur Bauentwicklung Sabbionetas.
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1528 heimlich gegen den Widerstand der Familie Colonna geschlossen. Aus dieser Ehe ging Vespasiano hervor, benannt nach seinem Großvater und geboren am 6. Dezember 1531 in Fondi im Herzogtum seiner Mutter, gelegen nahe der Grenze des Königreichs Neapel zum Kirchenstaat. Sein Vater starb 1532; seine Mutter heiratete als Witwe schon bald den ehemaligen Vizekönig von Neapel, Filippo di Lanoja. So wurde Vespasiano von seiner Tante Giulia, der zweiten Frau des Vespasiano Colonna, bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres in Fondi, aber auch in Rom und Neapel erzogen: nach der Etikette des höfischen, hochadeligen gesellschaftlichen Umgangs und Auftretens, in den Sprachen des klassischen Altertums, in Mathematik sowie im Führen von Waffen und Pferden. 1540 starb der Großvater Luigi und Vespasiano erbte als Neunjähriger die Signoria Sabbioneta, die zunächst von seinen Vormündern Kardinal Ercole Gonzaga und seiner Tante Giulia verwaltet wurde. 1545 wurde er Ehrenpage des künftigen Königs Philipp II. und an den spanischen Hof entsandt – eine Entscheidung, die sein gesamtes weiteres Leben bestimmte.177 Nach einer Reise im Gefolge Philipps durch Flandern und Deutschland heiratete er 1549 Diana Cordona aus sizilianisch-spanischer Familie. Zurückgekehrt nach Italien, nahm er 1550 sein väterliches Erbe Sabbioneta in Besitz, das auch die kleinen benachbarten Signorie Commessagio, Bózzolo, Rivarolo und Ostiano inkludierte. Sabbioneta wurde nun zu seinem ‘ersten Wohnsitz’; die Aufenthalte wurden freilich immer wieder unterbrochen, vor allem durch Beteiligung an zahlreichen Feldzügen.178 Nachdem seine Frau Diana bereits 1559 verstorben war, heiratete Vespasiano 1564 Anna von Aragon, die 1565 zwei Zwillingstöchter gebar, von denen nur Isabella überlebte. Noch im gleichen Jahr wurde auch der Sohn Filippo Nicolò Giovanni Luigi geboren; dessen Taufpaten waren König Philipp II. von Spanien (vertreten an der Taufe durch Raphaele Manricco, den Castellan von Cremona) und die Herzogin von Alba; der Sohn verstarb bereits 1580. Schon 1567 verstarb Anna von Aragon. Darauf kehrte Vespasiano Gonzaga noch einmal für zehn Jahre nach Spanien zurück, stieg zum Vizekönig von Navarra und auch von Valencia auf; er war in diesen Jahren als kundiger Festungsbauer gefragt, vor allem auch in Pamplona und Cartagena sowie in Nordafrika, da man in Spanien eine Reislamisierung durch die Osmanen befürchtete. Aufgrund seiner Verdienste in habsburgisch-spanischen Diensten erlebte Sabbioneta eine erhebliche politische Aufwertung. Die Signoria wurde von den habsburgischen Herrschern 1565 zur Markgrafschaft, 1574 zum Fürstentum und 1577 zum Herzogtum erhoben, und Sabbioneta war von Maximilian II. als Stadt anerkannt worden.179 Seit 1578 war Gonzaga in der Lombardei tätig und hielt
177 Eine jugendliches ‘Porträt’ Vespasiano Gonzagas, geschaffen als Erinnerung an den Einzug des Infanten Philipp von Spanien in Mantua ist enthalten im Gonzaga-Zyklus von Tintoretto, siehe hierzu Marten, ‘Vespasiano Gonzaga – ein Außenseiter im Familienbild’, S. 147–50 mit Abb., S. 146. 178 Siehe die ausführlichen Notizen in La cronaca di Lodovico Messirotti, S. 28–32. 179 La cronaca di Lodovico Messirotti, S. 35: ‘1577. Il signor Vespasiano Gonzaga, mio signore, fu creato duca di Sabioneta da Rodolfo imperator, et prima da Masimiliano imperatore, suo padre, era stato creato marchese et poi principe.’
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sich vor allem in Sabbioneta auf; wohl aus gesundheitlichen Gründen war er von Philipp. II. aus dem Dienst für die Habsburger entlassen worden. 1582 heiratete er in dritter Ehe Margherita Gonzaga; Vespasiano wurde 1585 zum Mitglied des Ordens vom Goldenen Vlies ernannt. 1588 reiste der Herzog mit großem Gefolge nach Venedig, um den bereits im Vorjahr verliehenen Adelstitel eines venezianischen Patriziers und Großfürsten von Italien in Empfang zu nehmen. Vespasiano Gonzaga starb am 26. Februar 1591 in Sabbioneta. Seine Tochter Isabella, verheiratet mit Luigi Carafa della Marra, Fürst von Stigliano in der Basilicata, wurde Alleinerbin des Vaters. Dies sollte nicht ohne Friktionen bleiben: Das Herzogtum Sabbioneta nämlich fiel an Habsburg zurück, das es nur nach Zögern an Isabella zurückgab; die weibliche Erbfolge wurde nach langwierigen Verhandlungen zwar grundsätzlich genehmigt, aber nur unter der Auflage einer wesentlichen Verkleinerung des Herzogtums. Die eigentlichen Herrschaftsrechte gingen an den Herzog von Mantua, die zugehörigen Signorie an die Gonzaga in Guastalla. Isabella hielt sich meist in Neapel auf und wurde vor Ort von Brüdern ihres Ehemannes als Statthaltern vertreten.180 Sabbioneta verlor den Status der Residenzstadt, verlor mit dem Tod des Gründers seinen Lebensnerv und verfiel in einen Dornröschenschlaf, dem wir – ähnlich wie in Pienza – die Erhaltung wesentlicher Bausubstanz verdanken. 2. Der Stadtbau
Von der äußeren Gestalt der neuen Stadt her betrachtet, nutzte Vespasiano Gonzaga seine Kenntnisse als Festungsbauer, denn Sabbioneta wurde nach allen Regeln der Baukunst der Zeit zu einer Festung mit mächtigen Bastionen, die sämtlich Heiligen gewidmet waren, errichtet.181 Noi presso il fiume u’ gia codde Fetonte Di fossi e muri una perpetua mole Contra l’ira di Marte intenti ergemo.182 (Wir haben in der Nähe des Flusses, in den einst Phaeton stürzte, aus Gräben und Mauern ein dauerhaftes Bollwerk gegen den Zorn von Mars errichtet.) Für die Architektur und Ausstattung des ‘Inneren’ kamen Kriterien des gebildeten Humanisten zur Anwendung, der mit Sabbioneta ein ‘Neues Rom’ errichten wollte. Der Biograph Ireneo Affò, später Panegyriker und Autor wohl der besten Vita, beschrieb 1780 ausführlich die Errichtung der Festung und Stadt, für die Gonzaga die alte Familienburg im Bestand erhielt, aber die ‘verstreut
180 Vgl. Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 85 sowie 89 f. 181 Die Heiligen der sechs Bastionen sind: Maria, Nikolaus, Johannes, Georg, Elmo und Franziskus, wobei Affinitäten des Gründers zu diesen Heiligen vorausgesetzt werden können. 182 Vespasiano Gonzaga, zitiert nach Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 93. Phaeton soll der Legende nach in den Po abgestürzt sein, und auch Ferrara oder Mantua nahmen in ähnlicher Weise auf diesen Mythos Bezug, siehe hierzu unten S. 220.
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liegenden wenigen und heruntergekommenen Häuser’ des Weilers abreißen ließ, um hinzuzufügen: Il Gonzaga considerando essere piu durevole fama il fabbricare città, di quello che distruggerle coll’ armi, erasi accinto alla magnamia impresa di farne ivi forgere una bella, e forte insieme.183 (Gonzaga bewertete den Bau einer Stadt als dauerhafteren Ruhm als deren Zerstörung durch Waffengewalt. Daher hat er hier (in Sabbioneta) mit großmütiger Geste begonnen, eine Stadt in Schönheit und eine Festung als Einheit zu schaffen.) Affò bezeichnete die Zielsetzungen des Stadtgründers ideologisch überhöhend – und wohl schon ganz im Zeichen der Aufklärung seiner eigenen Lebenszeit – gar als ‘lo Stato renduto felice’.184 Schon 1554 wurde mit dem Ausheben der Gräben, dem Aufschütten der Wälle sowie den Arbeiten an Festungsmauern, Bastionen und Vorwerken begonnen.185 Der Bauherr musste Sabbioneta freilich schon 1555 für einen Krieg gegen Papst Paul IV. wieder verlassen, um nach Erfüllung verschiedener politischer und militärischer Aufträge erst 1559 zurückzukehren. 1559 hatte der Bauleiter Pietro Botazzo gemeldet, ein Drittel der Befestigung und auch das westliche Stadttor – die ‘Porta Vittoria’, benannt in Erinnerung an den militärischen Sieg der Heere Karls V. gegen Frankreich in der Schlacht bei Pavia 1525 – seien fertig gestellt.186 Etwa gleichzeitig wurde mit dem Bau des Palazzo Ducale und der kommunalen Gebäude an der Piazza Maggiore begonnen. Der neue Palazzo ersetzte die Burg ‘Rocca’ und sollte auch den Versammlungen der Kommune Platz bieten. 1561 öffnete eine humanistische Schule, die vor allem in den klassischen Sprachen unterrichtete; Vespasiano gründete, mit der Berufung des rhetorischen Philosophen Mario Nozzolio187 als Leiter, am 6. Oktober 1562 auch eine humanistische Akademie, die Sabbioneta den Ruf einer ‘piccola Atene’ eintrug:
183 Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 43. Zuvor heißt es hier idealisierend: ‘Quivi dalla Rocca, o Castello in fuori, e salvo poche case disunite, e mal concie, altro poc’ anzi non si vedeva. Una gran fossa ingombrava buona parte del luogo, e intorno a quella vasto campo stendevasi pieno di sterpi, ed incolto.’ Die humanistisch geprägte Stadt wird ideologisierend in einen Gegensatz zur vorhergehenden kleinen Siedlung um die Burg ‘Rocca’, zum Leben auf dem Land in der Umgebung gestellt. 184 Ebd., S. 49. 185 Zur Stadtplanung, den Bauphasen und zum Stadtgrundriss der ‘Modellstadt’ Sabbioneta siehe noch immer Forster, ‘From ‘Rocca’ to ‘Civitas’: Urban Planning at Sabbioneta’, 5–40, erschienen 1969 – die erste moderne wissenschaftliche Publikation zu Sabbioneta; hier auf S. 7 noch immer den besten Stadtgrundriss, den ich nur durch die Eintragung von Forster übersehener oder ignorierter ‘öffentlicher’ Gebäude ergänzt habe (Abb. 36). 186 Zitiert nach Forster, ‘From ‘Rocca’ to ‘Civitas’: Urban Planning at Sabbioneta’, S. 12. Pietro Botazzo war bis 1584 mit der Bauleitung in Sabbioneta betraut. 187 Zu ihm siehe Wesseler, Die Einheit von Wort und Sache. Der Entwurf einer rhetorischen Philosophie bei Marius Nizolius. Im Umfeld der Gründung von Hoher Schule und Akademie drängt sich geradezu zwangsläufig eine Assoziation zum Wandgemälde ‘La scuola di Atene’ von Raphael in den Stanzen des Vatikans (1510/1511) auf.
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Oppidum nostrum Sabulonetae nuper a nobis conditum replere, ac frequentare magna hominum habitantium multitudine, et praeterea etiam decorare, ac ornare ipsum non modo omnibus artibus mechanicis, et ad vitam humanam tuendam necessariis, sed praecipue etiam humanioribus studiis, et liberalibus disciplinis, sine quibus bene vivi non potest, atque his de causis, cum primum in eo instituissemus Academiam literariam novam […]188 (Vor kurzem ist von uns die Stadt Sabbioneta gegründet worden und dort wohnen viele Menschen. Die Stadt soll nicht allein durch alle ‘Handwerke’ (artibus mechanicics) ausgezeichnet und geschmückt sein, die für ein menschliches Leben erforderlich sind, sondern besonders durch humanistische Studien und freie Wissenschaften, ohne die ein gutes Leben nicht möglich ist. Aus diesem Grunde haben wir eine neue humanistische Akademie eingerichtet […]) Immer wieder musste der Stadtgründer Sabbioneta im Dienste der Habsburger verlassen, ohne dass die Bautätigkeit jemals eingestellt worden wäre. Seit 1554 wurde ein planerisches Ziel verfolgt, eine Planung, an der ohne Zweifel Vespasiano aufgrund seiner Kenntnis und Erfahrung im Festungs- und Stadtbau ein erheblicher Anteil zukam. Beraten wurde er wohl von dem erfahrenen Architekten Domenico Giunti da Lodi, der 1549 das benachbarte Guastalla als Residenzstadt und Festung für Ferrante Gonzaga entworfen hatte, aber auch von anderen.189 Der Mauerring Sabbionetas wurde in den 1570er Jahren geschlossen, und – wohl als Dank für die Verleihung der Herzogswürde durch Kaiser Rudolf II. 1577 – wurde das Osttor mit der Fertigstellung 1579 ‘Porta Imperiale’ genannt.190 Konzipiert ist Sabbioneta 1554 (Abb. 36) in der Form eines fast regelmäßigen Sechsecks, das die Burg ‘Rocca’ als Teil der Stadt – und nicht für eine Bastion der Festung – einbezog.191 Bewusst ist die Achse zwischen den beiden Stadttoren um etwa sieben bis acht Grad versetzt – das Verlassen der idealen Achse verdankt sich 1. militärischen Überlegungen: Ein Eroberer wäre nach der Stürmung des Tores auf eine geschlossene Häuserfront gestoßen, nach rechts oder links geleitet worden und zum Teil in Sackgassen und einem Straßengewirr geendet. 2. Die Piazza Maggiore in der ‘natürlichen’ Mitte des Stadtgrundrisses wäre von der Masse der Burg visuell erdrückt worden. 3. Wären die Blickachsen nicht gebro-
188 Die Gründungsurkunde der Akademie mit Ernennung des Leiters ist ediert bei Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 50 f. Die Schule sollte hiernach den heranwachsenden Jünglingen aus allen Städten der Signoria Sabbioneta offenstehen und zu zwei Dritteln von den Städten des kleinen Territoriums und zu einem Drittel von Vespasiano Gonzaga finanziert werden. Zugleich wurde den Absolventen der Schule der Besuch einer Universität ermöglicht. 189 Siehe hierzu Confurius, ‘Sabbioneta’, S. 114, und Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 37, der zudem auf eine mögliche Beteiligung von Girolamo Cataneo hinweist. 190 Die Architektur der beiden Stadttore zitiert die Grundstruktur des antiken Triumphbogens, wobei alleiniger ‘figürlicher’ Schmuck das fürstlichen Wappen mit der Devise LIBERTÀ ist. 191 Die Burg wurde 1786 abgerissen, vgl. Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 38.
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t h om a s sc hilp Abb. 36: Stadtgrundriss von Sabbioneta im ausgehenden 16. Jahrhundert (auf der Grundlage des Plans von Forster, ‘From “Rocca” to “Civitas”: Urban Planning at Sabbioneta’, 7).
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1 Areal der Burg ‘Rocca’, von der zwei Türme in die Festung einbezogen wurden
8 Chiesa Santa Maria Assunta
2 Palazzo Ducale
9 Chiesa dell’ Incoronata mit Servitenkloster und Hospital
3 ‘Casino’, mit
10 Theater
4 Galleria
11 Porta della Vittoria
5 Ursprünglicher Platz der Aufstellung der Minerva- / Athene-Statue
12 Porta Imperiale
6 Casa del Luogotenente 7 Palazzo della Ragione
13 Synagoge 14 Cappella San Rocco 15 Chiesa Beata Vergine del Carmine
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chen, hätte man beim Betreten der Stadt zudem sofort deren geringe Ausmaße wahrgenommen – so wirkt die Stadt wesentlich größer als sie eigentlich ist. Der Grundriss mit den rechtwinklig angeordneten Straßen reflektiert – trotz der Unregelmäßigkeit der Größe der insulae – das römische System aus decumanus (heute: Via Vespasiano Gonzaga) und cardo (heute: Via Dondi), denn der ursprüngliche Aufstellungsort der Säule mit der antiken Minerva- / Athene-Statue lag auf der (gedachten) Achse zwischen den Stadttoren, die hier von einer wichtigen Straße geschnitten wird.192 (siehe Abb. 36) Die zentrale Platzanlage der Stadt ist, wie bereits ausgeführt, wegen der Dominanz des Baukörpers der einstigen Burg aus der Achse nach Norden verschoben. Die Hauptachse der Stadt ist am Sonnenstand des 6. Dezember orientiert – dem Geburtstag des Stadtbauers Vespasiano, der die Kräfte der Gestirne auf diese Weise für seine Stadt und sich aktivieren wollte.193 Die Stadt ist im Übrigen in vier fast gleichmäßige Bereiche gegliedert – im nordwestlichen liegt die zentrale Piazza mit dem Palazzo Ducale, dem Palazzo Ragione, der Pfarrkirche, dem Palazzo Luogotenente, dem Theater und auch der Grabkirche von Vespasiano Gonzaga, also alle wichtigen herrschaftlichen und öffentlichen Gebäude. (Abb. 37) Die Piazza Maggiore ist Versammlungsort der Stadt und Marktplatz, zugleich aber auch ‘Vorhof ’ des Palazzo Ducale, gewissermaßen dessen Resonanzraum. Im südwestlichen Viertel war mit der Burg der militärische Bereich platziert, der auch die Pferdeställe, Zeughaus etcetera umfasst haben muss; hier befand sich die Piazza d’Armi, deren ursprüngliche Gestalt und Wirkung wir uns nach dem Abriss der massigen Burg (ca. 100 x 70 Meter) mit umgebendem Wassergraben kaum mehr vorstellen können. Die beiden übrigen Viertel dienten Wohnzwecken; Ausnahmen machen im Süden der Garten- und Jagdpalast, ‘il Casino’, mit der großen Gallerie, die zum privaten Bereich des Fürsten zählten, sowie die Synagoge im Norden. Ein eklatanter Widerspruch zu dem von Ireneo Affò verspürten Versuch, mit der Stadt Sabbioneta einen ‘Stato felice’ zu errichten, war und blieb die Position der Stadtbewohner, die allein durch fürstliche Zwecke bestimmt war. Selbstverwaltung und politische Autonomie einer Bürgergemeinde sind in den Quellen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht zu erkennen. Für die (Rück-) Besiedlung Sabbionetas erging am 27. September 1562 der herrscherliche Befehl: […] il Signor Vespasiano Gonzaga […] si ordina e commanda, che tutti li cittadini, e altre persone comprese nelle passate gride ad habitar dentro la Terra di Sabioneda con tutta la lor famiglia per tutto l’otto del mese Ottobre prossimo sotto pena […] di Scudi cento d’oro […]194
192 Heute nach Süden versetzt, wirkt die Säule als schmückendes Denkmal in der Grünanlage und ist ihres ursprünglichen Sinns beraubt. 193 Siehe hierzu Pieper, ‘Beispiel Sabbioneta quadrata. Die römischen Grundlagen des Stadtplans von Sabbioneta’, 31–45, der die römischen Wurzeln des Stadtgrundrisses aufspürt und als planerische Grundlage ein Quadrat nachweist. 194 Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 47 f.
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Abb. 37: Sabbioneta, Piazza Maggiore mit Palazzo Ducale, Chiesa dell’ Incoronata im Hintergrund, Casa del Luogotenente (Foto: Annemarie Stauffer). (Farbtafel XI)
([…] Herr Vespasiano Gonzaga […] ordnet an und befiehlt, dass alle Untertanen und andere Personen, die in die vergangenen Verordnungen eingeschlossen sind, in Sabbioneta zu wohnen haben und sich bis zum 8. Oktober unter Androhung einer Strafe von 100 Scudi einfinden müssen […] Die Untertanen, die zum Abriss ihrer Häuser für den Festungs- und Stadtbau seit 1550/1554 aus Sabbioneta vertrieben worden waren, wurden nun aufgefordert, zurückzukehren. Dass dies als Befehl und unter Strafandrohung erfolgte, zeigt, dass sie dies offensichtlich nicht freiwillig taten. Der Befehl galt auch für alle Künstler, Kaufleute und offensichtlich für Handwerker; selbst die Kleriker der Sabbioneter Pfarrkirche hatten bei Androhung des Verlusts ihres Kanonikats oder ihrer Präbende in der Stadt zu wohnen. Das Servitenkloster und die alte Pfarrkirche des Weilers waren ebenfalls für den Stadtneubau abgerissen worden und mussten neu errichtet werden.195 1562 – so können wir annehmen – waren offenbar bereits viele Wohnhäuser, die Pfarrkirche an der Piazza Maggiore und offensichtlich auch eine neues Servitenkloster mit Hospital nordöstlich hinter dem Palazzo Ducale angelegt. Auch die Ausschmückung der Wohngebäude bedurfte der obrigkeitlichen Anordnung, etwa die einheitliche Bemalung der Gebäude gegenüber dem Casino.
195 Confurius, ‘Sabbioneta’, S. 112.
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Bewohner jedweder sozialen Stellung zogen mithin mehr oder weniger unter Zwang in die Stadt; allein Juden kamen gern.196 Seit 1436 schon lebten in Sabbioneta Juden. Deren Ansiedlung wurde seit 1551 durch die Privilegierung zur Gründung einer Buchdruckerei und eines Verlags erheblich gefördert; in einer Zeit der erneuten Judenverfolgung in Europa war dies zweifellos ein Zeichen der Toleranz. In der produktiven Druckerei der Familie Foà erschienen bis 1590 lateinische und italienische Schriften, Übersetzungen, aber auch Literatur von Bewohnern Sabbionetas; vor allem wurde die Druckerei durch ausgezeichnete Drucke hebräischen Schrifttums berühmt.197 Erfuhr das höfische und städtische Leben hiermit eine wesentliche Bereicherung, so ist auf eine weitere Funktion der Juden hinzuweisen: das Kreditgeschäft. Zur Vor- und Zwischenfinanzierung der Baumaßnahmen war Kredit für Gonzaga dringend erforderlich und konnte vor Ort bei abhängiger Stellung des jüdischen Bankiers stets problemlos aufgenommen werden. Über Gewerbeansiedlungen und wesentlichen regionalen Handel sind wir darüber hinaus nicht unterrichtet. Wir können von Handwerken zur Versorgung der Stadt und des Hofes für den Alltag ausgehen, der Produktion von Nahrungsmitteln jedweder Art und der Bekleidung; Luxuswaren wurden entweder von angeworbenen Fachleuten vor Ort hergestellt, oder aber über Parma, Mantua oder Mailand und die anderen größeren Städte der Lombardei beschafft. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist auch stets von der Anwesenheit einer erheblichen Zahl von Handwerkern und Tagelöhnern des Baugewerbes auszugehen, auch von Künstlern. Die Funktion Sabbionetas als fürstliche Residenz bedingte eine große Zahl höfischer Dienstleute und ‘Beamter’, aber auch von Soldaten, Wachleuten, Stallknechten, Lehrkräften und Wissenschaftlern der hohen Schule und Akademie. Das Stadtbild blieb geprägt durch die herzogliche Nutzung als Residenz mit entsprechenden Bauten – und das ist bis heute wahrnehmbar: Der mächtige Palazzo Ducale am zentralen Platz, Casino mit Gallerie, Theater, die Kirche Santa Maria del’ Incoronata der Serviten mit der Grablege Vespasiano Gonzagas, Festung und Stadttore, Minerva- / Athene-Säule sind selbstbewusste Zeugen der humanistisch geprägten Intention, mit der neuen Stadt eine ‘Roma Nova’ zu errichten, eine Intention, die in zahlreichen Details der Ausstattung der fürstlichen Gebäude zum Ausdruck gebracht wurde. 3. Gebäude und ihre Ausstattung
Vespasiano zählte zu den herausragenden Fürsten Italiens seiner Zeit, selbst wenn seine Geltung eng an die habsburgische Durchsetzung in Italien seit Karl V. gekoppelt blieb. Als Fürst nahm er mit dem Bau und der Gestaltung Sabbionetas 196 Siehe Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 104, freilich ohne nähere Quellenangabe. 197 Siehe hierzu Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 137–67 mit einem Verzeichnis der hebräischen Drucke.
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Maß an den Vorbildern in Mantua, Ferrara oder Florenz. Mit der prächtigen, herrscherlichen Ausstattung dieser Städte wollte er unbedingt mithalten. Gebäude und Ausstattung, die Gestaltung der gesamten Stadt mit einheitlich farblich geschmückten und einst zum Teil durch Malerei dekorierten Häusern, mit Marmorstufen in den Hauseingängen der Hauptstraßen, sind für die Zeit als erstrangig zu bezeichnen. Mit Bernardino Campi, mehreren Vertretern der Malerfamilie Pesenti, Alberto Cavalli und anderen wurden vorzügliche Künstler mit Werkstatt für die Wandmalereien in Sabbioneta, zum Teil für mehrere Jahre, engagiert.198 Die baugeschichtliche und die kunsthistorische Forschung haben die Gebäude und ihre Ausstattung zum Teil äußerst detailliert beschrieben,199 ohne jedoch die Chance zu nutzen, in den Formen und in der Gestaltung der Gebäude sowie deren Zuordnungen den historischen Bedingungen und den möglichen Bedeutungsebenen des Stadtbaus gerecht zu werden; dies liegt, noch immer, wesentlich an der Beschränkung auf die je unterschiedlichen Methoden und Sichtweisen der einzelnen Disziplinen. Wie kann eine Analyse der Stadtgründung des 16. Jahrhunderts ohne Kenntnis dessen, was okzidentale Stadt ausmacht, möglich sein? Die bisherige Analyse blieb weitgehend in der verdienstvollen baugeschichtlichen und kunsthistorischen Beschreibung der Bauten und ihrer reichen erhaltenen Ausstattung stecken. Im Folgenden kann schon aus Raumgründen auf diese Beschreibungen und die in ihnen steckenden Widersprüchlichkeiten und Fehler der Deutung nicht näher eingegangen werden. Die Untersuchung ist konzentriert auf zwei Dimensionen der Gründerintention, lässt also viele Bereiche außerhalb der Betrachtung:200 Sabbioneta als Residenzstadt und als memoriale eines Fürsten, dem nach dem kometenhaften politischen Aufstieg im Kontext der kriegerischen habsburgischen Eroberung Italiens seit dem Tod
198 Vgl. Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 106–08, der zudem Tätigkeiten von Carlo Urbino, Giovanni und Cherubino Alberti aus San Sepolcro, die Brüder Tusardi, Fornaretto Mantovano, den Niederländer Giovanni Villa, die Cremoneser Allesandro Lamo, Bernardino Balso aus Urbino, Camillo Ballino, Giuseppe Robone, Bartolomeo Conti, Michelangelo Veronese und Andrea Sentellari in Sabbioneta aufführt, alle renommierte Künstler ihrer Zeit, wenn auch nicht der absoluten Maler-Elite zuzurechnen. 199 Siehe vor allem Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 34–51; Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung sowie Ders., ‘Sabbioneta’, S. 111–31; Grötz, Sabbioneta, die Selbstinszenierung eines Herrschers, für Casino, Theater und die Grabkirche Vespasiano Gonzagas. 200 Manches Urteil, manche Überlegung sind damit zweifellos vorläufig und mit der Unsicherheit verbunden, später entkräftet oder anders getroffen werden zu müssen. Es geht jedoch darum, bislang von der Forschung übergangene Fragestellungen nach den Intentionen des Stadtbaus Vespasiano Gonzagas aus der Sicht des Historikers zu bearbeiten. Da für große Bereiche schriftliche Überlieferung bislang allenfalls fragmentarisch bearbeitet wurde, werden die Bauten, Bilder und Skulpturen, die Ikonographie Sabbionetas, von mir unterschieden von bauhistorischen und kunsthistorischen Methoden und Fragestellungen analysiert. Einige Aspekte, wie etwa die Rombezüge oder die Zitate und die Verwendung des reichen Schatzes antiker Mythen und Legenden können nur am Rande gestreift werden, was deren Bedeutung keinesfalls mindern soll.
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seines Sohnes 1580 bewusst war, ohne männlichen Erben keine Dynastie bilden zu können, die ihn und seine Fama nachhaltig hätte in Erinnerung halten können. a) Palazzo Ducale: Die herrschaftlichen Gebäude strukturierten die Stadtgestalt im Inneren. Als erstes war der Palazzo Ducale mit reicher Ausstattung an der Stirnseite der Piazza Maggiore 1568 fertiggestellt, wenn er auch später immer weiter aus- und angebaut wurde und vor allem die Ausstattung Zug um Zug wuchs; gegenüber lag am Platz der Palazzo della Ragione, niedriger als der herzogliche Palast. Die beiden Längsseiten des Platzes werden von Arkaden auf der westlichen, von der Pfarrkirche mit Nebengebäuden und unter anderem dem heutigen Rathaus auf der östlichen Seite geprägt; diese Anordnung vermittelt eine gelungene, auf den Palazzo Ducale ausgerichtete Raumwirkung des Platzes (siehe Abb. 37). Die Fenstersimse der Fassade tragen die Inschrift: ‘VESP(asianus) D(ei) G(ratia) DUX SABLON(etae) I.’. Der erlangte Ruhm des Stadtgründers ist auch in die Ausstattung fast aller Räume aufgenommen, und schon durch die Wappen und Insignien der Herrschaft präsent, die die jeweils erreichten politischen Karrierestufen dokumentieren. Die Fama Vespasiano Gonzagas ist allgegenwärtig. Der Palazzo ist zu großen Teilen der öffentliche Bau des fürstlichen Sabbioneta – er diente der Repräsentation des Erbauers und seiner Vorfahren, legitimierte Herrschaft über Stadt und Umland, zeigte Vespasiano als den Inhaber der Signoria Sabbioneta bis hin zur Erringung herzoglicher Gewalt. Der größte Raum, der ‘Salone del Duca d’Alba’, dokumentierte die Fama des Soldaten Vespasiano und seiner Vorfahren, diente der Erinnerung an die Bedeutung seines Geschlechts. In diesem Saal waren nämlich einst zehn lebensgroße Reiterstandbilder aufgestellt, neun Vorfahren und Vespasiano Gonzaga selbst darstellend, alle in militärisch-herrscherlichem Habitus. Dies war ein einzigartiges Ensemble, ohne Vorbild, und dürfte auf Besucher verblüffend und überraschend zugleich gewirkt haben. Bis auf vier sind diese farbig gefassten Holzskulpturen, die von einem unbekannten Künstler gefertigt und 1588 in Venedig in Auftrag gegeben worden sein könnten, bei einem Brand zerstört worden. Von den übrigen Standbildern der Vorfahren sind nur die Brustskulpturen mit verlorener farbiger Fassung erhalten geblieben. Sie werden zusammen mit den Reiterstandbildern noch immer im Palazzo Ducale präsentiert. Die erhaltenen Reiterstandbilder stellen Vespasiano selbst dar, der den Orden vom Goldenen Vlies trägt (und dadurch eindeutig identifizierbar ist) – die Skulptur muss also nach 1585 entstanden sein; sodann Vespasianos Vater Luigi ‘Rodomonte’, außerdem Ludovico II. ‘il Turco’, den zweiten Marchese von Mantua (†1478), und Gianfrancesco Gonzaga, Graf von Rodigo.201 (Abb. 38 und 39) Die Reiterstandbilder der Ahnen und Vespasianos sind mehr als bloße ‘Dekoration’ und sind auch nicht auf ‘ein säkularisiertes Gonzaga-Mausoleum’ 201 Zur Identifizierung siehe Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 150. Zu den verlorenen Reitern siehe die Ausführungen zu den Stuckskulpturen in der ‘Sala degli Antenati’ unten mit Anm. 204.
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Abb. 38: Sabbioneta, Palazzo Ducale: Vier Reiterstandbilder, um 1588 (Foto: Annemarie Stauffer).
beschränkt.202 Die Holzskulpturen vermittelten die vornehme Herkunft der Herren von Sabbioneta, die sich aus der Abhängigkeit von einem Lehnsherren zur weitgehend unabhängigen adeligen Herrschaft eines Territorialfürsten emporgeschwungen hatten. In der Präsentation der zehn Reiterstandbilder stellte sich Vespasiano als Spross und strahlender Höhepunkt des (Hoch-)Adels der Familie Gonzaga-Sabbioneta dar. Die Herkunft, das Geschlecht, zeichnete nach dieser Deutung Vespasiano aus und seinen Weg vor; die vornehme Herkunft gestattete dem Fürsten auch, für Sabbioneta Brücken in die römische Antike zu schlagen und den eigenen Stadtbau als ein ‘neues Rom’ zu bezeichnen und zu deuten. Nichts lag dem Fürsten näher, als sich in seiner Stadt Sabbioneta und in seinem Palazzo Ducale als legitimer Herrscher mit stolzer Herkunft zu repräsentieren. In mehrfacher Hinsicht hatte die kleine ‘Sala degli Antenati’, der Raum der Vorfahren, im Obergeschoss diese Selbstdeutung vorweggenommen. Der Raum ist zwischen 1565 und 1567 ausgestattet worden, denn Vespasiano Gonzaga ist hier als Marchese tituliert (ernannt 1565) und seine hier dargestellte Frau Anna von Aragon starb bereits 1567. Den Raum betritt man durch einen kleinen Vorraum, der mit einer die (Halb-)Kuppel vollständig ausfüllenden goldenen Sonne auf blauem Grund geschmückt ist. (Abb. 40) Dem kommt mehrfacher Sinn 202 Confurius beschränkt begriffslos und unkritisch, ebd., S. 150, die Funktion der Reiterstandbilder auf die Dekoration des Saales, Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 41, die ‘steifen Figuren’ vorschnell auf ein säkularisiertes Familienmausoleum.
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Abb. 39: Sabbioneta, Palazzo Ducale: Reiterstandbild Vespasiano Gonzaga mit Goldenem Vlies (Mitglied des Ordens seit 1585) (Foto: Annemarie Stauffer). (Farbtafel XII)
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Abb. 40: Sabbioneta, Palazzo Ducale: Vorraum der ‘Sala degli Antenati’, Halbkuppel mit Sonne (Foto: Annemarie Stauffer).
zu: Die Sonne ist Licht und Heil, Medium im Kampf gegen die Schrecken der Dunkelheit.203 Die Sonne gilt zudem als ein Emblem der Familie Gonzaga, sie steht hier aber sicher für das Aufleuchten der Dynastie der Gonzaga-Sabbioneta durch Vespasiano zu dem Zeitpunkt, als die Dynastie mit dem männlichen Erben Luigi garantiert erschien. Der Raum enthält 21 männliche und weibliche Stuckporträts.204 (Abb. 41) Die Reihe schließt mit Vespasiano und Anna von Aragon, seiner Frau und Mutter ihrer beiden Kinder, um den männlichen Erben und Garanten der Fortsetzung der Dynastie, Luigi, im Stuckprofil aufzunehmen, ein Erbe, der freilich bereits 1580 verstarb. Die Linie der männlichen Vorfahren 203 Pieper, ‘Beispiel Sabbioneta quadrata. Die römischen Grundlagen des Stadtplans von Sabbioneta’, 40–43, hat dies auf das astronomische Programm des Stadtbaus in Sabbioneta bezogen. Vom Fürstenbalkon auf die Piazza Maggiore nahm Vespasiano Gonzaga am 6. Dezember, seinem Geburtstag, hiernach die aufgehende Sonne mit in die ‘Sala degli Antenati’ des Palazzo Ducale, durchschritt dann den mit der Sonne geschmückten Vorraum, um von hier aus den Thronsaal des Palazzo zu erreichen. 204 Dargestellt und in den Tituli beschrieben, also identifizierbar, sind: Luigi Gonzaga (†1366), der erste ‘capitano del popolo’ in Mantua und Reichsvikar, mit Frau Maria Ramberti; dessen Sohn Guido (†1369), 1362 von Karl IV. zum Grafen von Mantua ernannt, mit Frau Viridia Beccaria; Luigi II. Gonzaga (†1382), Sohn von Guido, mit Frau Alda d’ Este; dessen Sohn Francesco I. (†1407), mit zweiter Frau Margerita Malatesta; dessen Sohn Gianfrancesco (†1444), der erste Markgraf von Mantua, mit Frau Paola Malatesta; Luigi II. Markgraf, genannt ‘il Turco’ (†1478), mit Frau Barbara von Brandenburg; dessen nachgeborener Sohn Gianfrancesco der Jüngere (†1496), Begründer der Nebenlinie Sabbioneta, mit Frau Antonia del Balzo; deren Sohn Ludovico (†1540), mit Frau Francesca Fieschi (Tochter eines Genueser Dogen), der Großvater von Vespasiano; schließlich dessen Vater Luigi genannt ‘Rodemonte’ (†1532) mit Frau Isabella Colonna.
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antizipiert die in den Reiterskulpturen ursprünglich neun männlichen Ahnen des ersten Principe von Sabbioneta, hier aber zusammen mit ihren Frauen. Im Scheitel des Gewölbes der ‘Sala degli Antenati’ sind in drei Deckenmalereien der (durch einen Blitz Jupiters) auf dem Sonnenwagen seines Vaters Helios ins Straucheln geratende Himmelsstürmer Phaeton sowie seitlich flankierend der Götterbote Merkur und der Kriegsgott Mars dargestellt. (Abb. 42) Phaeton stürzt in der Mythologie in den Eridanus, den Po. Phaeton scheint hier gerade Sabbioneta zu überfliegen. Er steht für einen Wagemut, der zu Hochmut entartet und in eine Katastrophe führt. Auf jeden Fall ist das von Phaeton eingegangene Risiko hier jedoch positiv bewertet. Mit einem die Risiken abschätzenden Wagemut haben Vespasiano und die Gonzagas in Sabbioneta ihren sozialen und politischen Aufstieg gestaltet. Vermischt wird das mit dem Regional-Mythos, der Sturz von Phaeton in den Eridanus habe die wiederholten Überschwemmungen der Po-Ebene mit verheerenden Zerstörungen verursacht, während im griechischen Mythos als Folge seines Himmelsritts die Erde verbrennt.205 b) ‘Casino’ mit ‘Galleria degli Antichi’: Das ‘Casino’ – auch ‘Giacinto’, Hyazinthe, genannt206 – ist wohl der privateste fürstliche Bau, ein Garten-, Jagd und Lustschloss innerhalb der Festungsmauern. Es diente der Entspannung und Kurzweil, aber auch für humanistische Studien. Humanistisch wird der Kaiserkult der römischen Antike im metaphorischen Sinn für die fürstliche Macht Vespasianos aufgegriffen und daher in der malerischen Ausstattung auf die römische Antike und auf antike Mythologien Bezug genommen – Sabbioneta folgt der Vision eines neuen Rom, das ‘Casino’ ‘bietet eine historisch-mythische Interpretationsebene von Sabbioneta’,207 eine Welt der deutenden Bilder, in die Gonzaga mit seinem Stadtbauprogramm durch Wappen, Insignien, Embleme, Devisen einbezogen ist. In der ‘Sala dei Miti’ ist unter anderem der Sturz von Phaeton in den Po dargestellt. Die freistehende gewaltige ‘Galleria degli Antichi’ – fast 100 Meter lang – führt, in der architektonischen äußeren Gestalt an einen römischen Aquädukt erinnernd (Abb. 43 und 44), aus der Stadt auf das ‘Casino’ zu. Im Erdgeschoss ist der Bau offen als Portikus gestaltet und lädt zum Wandeln ein. Die Galleria nahm eine Sammlung von rund 3.000 antiken Statuen, Büsten und Reliefs auf, die schon Vespasianos Vater begonnen hatte und zu den größten in Italien zählte, nachdem Vespasiano selbst systematisch angekauft hatte. 1583/1584 errichtet, wurde sie bis 1587 ausgemalt.208 Sie ließ von beiden Seiten natürliches Licht ein und brachte die Antikensammlung sehr gut zur Geltung, was die Rombezüge in 205 Pieper, ‘Beispiel Sabbioneta quadrata. Die römischen Grundlagen des Stadtplans von Sabbioneta’, 33–45, identifiziert im Bild stattdessen (für den üblicherweise ermittelten Phaeton) ohne Begründung Phoebus, Beiname für Apollon, der den Sonnenwagen in den Palazzo Ducale lenke. 206 So etwa im Testament Vespasiano Gonzagas: ‘mio Casino detto Giacinto’, Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 115. 207 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 45. 208 Zur malerischen Ausgestaltung und dem ikonographischen Programm siehe die Beschreibung bei Wulz, Die ‘Galleria degli Antichi’ des Vespasiano Gonzaga in Sabbioneta.
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Abb. 41: Sabbioneta, Palazzo Ducale: Blick in die ‘Sala degli Antenati’ (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 42: Sabbioneta, Palazzo Ducale: Gewölbegemälde der ‘Sala degli Antenati’: Phaeton auf dem strauchelnden Sonnenwagen, Merkur und Mars (Foto: Annemarie Stauffer).
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Abb. 43: Sabbioneta, Galleria (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 44: Sabbioneta, Galleria-Portikus (Foto: Annemarie Stauffer).
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Abb. 45: Sabbioneta, Galleria, Blick in den Innenraum (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 46: Sabbioneta, Galleria, Innenraum: Stadtperspektive (Foto: Annemarie Stauffer).
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der Ausgestaltung des ‘Casino’ betonte. Die Antiken wurden unter Maria Theresia 1773/1774 abtransportiert und auf verschiedenste Sammlungen in Europa verteilt.209 So lassen die reichen Ausmalungen der Galleria mit Stadtlandschaften, den Raum verlängernden Kolonnaden an den Stirnseiten und mit allegorischen sowie göttlichen Figuren die Pracht der ursprünglichen Raumwirkung noch heute erahnen. (Abb. 45 und 46). c) Theater: In sehr kurzer Bauzeit ließ der Herzog ein Theater zwischen Palazzo Ducale und ‘Casino’ errichten: Seit Mai 1588 wurde gebaut und schon im Februar 1590 konnte das Theater eingeweiht werden. Im Zusammenhang der Reise des Herzogs nach Venedig im Jahr 1588 war der Architekt Vincenzo Scamozzi mit dem Bau beauftragt worden – er hatte gerade das Teatro Olimpico in Vicenza vollendet. Das Theater in Sabbioneta folgte einem anderen Konzept, denn es stand völlig frei – und es ist das erste dieser Art in der Neuzeit. Funktionell war das Gebäude für verschiedene Zwecke zu nutzen: klassisches Theater, kleine Räume für Versammlungen, Proben, Garderoben etcetera, Orchesterraum, Sitzstufen im Zuschauerraum. (Abb. 47) Eine zusätzliche Zuschauerloggia mit Kolonnade im Obergeschoss über den stufenförmigen Sitzreihen vergrößert den Raum nicht nur visuell erheblich, was durch illusionistische Malereien (unter anderem auch Zuschauer und Musiker, römische Imperatoren, musizierende Musen) für die Wahrnehmung des Besuchers noch unterstützt wird. Auf der Balustrade der Loggia stehen Skulpturen antiker Götter. Die festeingebaute Bühnendekoration des Odeo, wie Scamozzi selbst das Theater bezeichnete, aus farblich gefasstem Holz stellte eine Piazza mit vornehmer Straße in der Mitte und weiteren links und rechts abzweigenden Straßen sowie verschiedensten Gebäuden dar;210 diese ist leider nicht erhalten. Das Gebälk der Obergeschossfenster an der Fassadenseite trägt die Inschrift: ROMA QUANTA FUIT IPSA RUINA DOCET – dieser Bezug auf Rom verbindet mit anderen Elementen der Gestaltung Sabbionetas (Abb. 48), und führt regelrecht über in die Gestaltung des Innenraums: Dem seitlichen Haupteingang gegenüber ist ein gemalter Blick durch einen Triumphbogen auf das Kapitol in
209 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 46. 210 Der Biograph von Scamozzi, Tommaso Temanza, zitiert 1778 eine Äußerung des Architekten zum Bau: ‘Così pochi anni poi […] facessimo fare tutto da fondamenti l’Odeo, e Teatridio all’ Eccellenza del Sig. Duca Vespasiano Gonzaga nella sua Città di Sabbioneta, capace di buon numero di persone, oltre alcune stanze da un capo, e dall’ altro, accomodate a vari usi, e con l’orchestra, e gradi per sedere. Il proscenio, e le prospettive degli edifizj rappresentano una gran piazza, con una strada nobilissima nel mezzo, ed altre poi di qua, e di là, con molti e variati edifizj pur di legname, coloriti ad imitazione del’ naturali.’ Zitiert nach Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 153 Anm. 53. Wie man sich eine fest eingebaute Bühnendekoration dieser Zeit vorstellen kann, zeigen Gemälde, etwa ‘Christus und die Ehebrecherin’ von Jacopo Tintoretto (um 1547–49) oder ‘Bathseba im Bade’ von Paris Bordone (um 1547/1548), zuletzt abgebildet in: Tintoretto. A Star was Born, S. 115 (Kat. 22 mit Beschreibung von Roland Krischel, S. 121) und S. 116 (Kat. 23 mit Beschreibung von Roland Krischel, S. 122).
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Abb. 47: Sabbioneta, Theater, Innenraum mit stufenförmigen Sitzreihen und Zuschauerloggia im Obergeschoss hinter Balustrade mit Skulpturen antiker Götter (Foto: Annemarie Stauffer).
Abb. 48: Sabbioneta, Theater, Fassade (Foto: Annemarie Stauffer).
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Rom, über dem Haupteingang innen ein Blick, ebenfalls durch einen gemalten Triumphbogen, auf die Engelsburg zu sehen – der Sabbioneter Theaterraum ist auf diese Weise so zwischen Kapitol und Engelsburg im antiken Zentrum Roms untergebracht. Inwieweit das Theater über das höfische Leben hinaus auch von den Bürgern und Bewohnern der Stadt genutzt und besucht werden konnte, ist in der Überlieferung nicht zu klären, denn das Theater wurde bis zum Tod des Herzogs nur ein knappes Jahr bespielt. d) Kirchen und Klöster: Die Pfarrkirche S. Maria Assunta an der Flanke der Piazza Maggiore wurde nach Confurius 1582 geweiht;211 sie war als Kirche für die Stadtbevölkerung offensichtlich aber bereits vorher fertiggestellt und Kirche eines Kollegiatstifts, denn schon 1562 wurden die Kleriker bei Strafandrohung des Verlusts ihres Kanonikats und ihrer Präbende ‘col consenso del Reverendo Preposto della prefata Chiesa’ Santa Maria (mit Zustimmung des Propstes an Santa Maria Assunta) gezwungen, in Sabbioneta zu wohnen, um ihren Verpflichtungen zum Gottesdienst angemessen nachzukommen.212 1571 war die Bruderschaft San Rocco gegründet worden, die hinter der Pfarrkirche auch ein Oratorium errichtete.213 Vespasiano Gonzaga hatte 1575 im nur etwa einen Kilometer entfernten Weiler Vigoreto an der dortigen Kirche ein Kapuzinerkloster gegründet und fundiert.214 Die Kirche Beate Vergine (oder Madonna) del Carmine (der heute erhaltene Bau stammt aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert) in der Nähe der Porta Imperiale geht ebenfalls auf eine Fundierung Vespasianos zurück: Er hatte sie den Karmelitern in Mantua mit der Verpflichtung übertragen, hier jährlich ein Seelenamt für seine Vorfahren zu begehen.215 Für das für den Stadtbau abgerissene Servitenkloster mit Kirche war nur wenige Schritte hinter dem Palazzo Ducale ein neues Kloster errichtet worden und zunächst auch die Klosterkirche San Niccolò; diese wurde, 1562 geweiht und als Hofkapelle genutzt, wohl 1586 abgerissen,216 um einer neuen Kirche Platz zu machen: Die neue Klosterkirche Santa Maria dell’ Incoronata war nämlich nun als Grablege Vespasiano Gonzagas vorgesehen; konzipiert als oktogonaler Zentralbau, war sie auf das Grab Vespasianos ausgerichtet. Kuppel und Laterne wurden erst im 18. Jahrhundert ausgeführt und führen den Betrachter durch illusionistische Architekturmalerei in der Raumwirkung in schwindelerregende Höhe symbolisch in den Himmel und zur Erlösung empor. (Abb. 49) 1588 war
211 So Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 187 ohne Angabe einer Quelle. 212 Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 48. 213 La cronaca di Lodovico Messirotti, S. 34. 214 Ebd., S. 35. 215 www.iatsabbioneta.org/chiesadelcarmine. 216 Grötz, Sabbioneta. Die Selbstinszenierung eines Herrschers, S. 83, teilt mit, die Serviten seien in der Übergangszeit bis zur Vollendung der neuen Klosterkirche in das Kloster San Rocco umgezogen. Das scheint sich jedoch nur auf die Nutzung der Kirche der Bruderschaft San Rocco bei der Pfarrkirche Maria Assunta zu beziehen.
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Abb. 49: Sabbioneta, Chiesa Santa Maria dell’ Incoronata, Kuppel, 18. Jahrhundert (Foto: Annemarie Stauffer).
diese Kirche zwar geweiht, aber baulich noch nicht fertiggestellt;217 sie zitierte als Zentralbau die Architektur antiker und frühchristlicher Mausoleen. 4. Testament und Grablege
Am 25. Februar 1591, einen Tag vor seinem Tod, der auf den 26. oder 27. Februar datiert wird, erklärte Vespasiano Gonzaga vor dem Notar Francesco Caletti sein Testament, das von der Forschung noch nicht erschöpfend untersucht worden ist.218 Ausführlich wurde im Testament die Gestaltung seiner Grablege geregelt. Zudem bestimmte es zahlreiche Testate aus dem Nachlass. Auf die Form und Gestaltung seiner Grablege ‘nella Chiesa dell’ Incoronata dell’ Ordine de’ Servi’, komme ich zurück. Wiederholt verwendet die Erklärung des letzten Willens die Formulierung ‘per salute dell’ anima mia’; Vespasiano bedachte testamentarisch auch viele Angehörige des Sabbionetaner Hofes, die ich in der Abfolge des Testaments kurz aufführe. Seiner Tochter Isabella als Haupterbin Sabbionetas mit gleichnamigem Herzogtum übertrug er die Pflicht, aus seinem Nachlass der Baukasse (‘fabbrica’)
217 La cronaca di Lodovico Messirotti, S. 45. Zum Kirchenbau und zur Klosterkirche siehe Grötz, Sabbioneta. Die Selbstinszenierung eines Herrschers, S. 83–104. Sie stellt hier auch, S. 98 f., die Quellen für einen direkten oberirdischen Zugang vom Palazzo Ducale auf die Empore beziehungsweise in die Loge der Kirche zusammen, die den Charakter einer für den Herzog geplanten Hofkapelle deutlich hervortreten lassen. Der hölzerne Verbindungsgang blieb bis 1793 erhalten. 218 Das Testament ist ediert von Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 111–24.
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des Servitenkonvents in Sabbioneta, den er hat errichten lassen (‘ho fatto fabbricare’), 2.000 (Gold-) Scudi für die Fertigstellung der Kirche innerhalb der nächsten drei Jahre auszuzahlen sowie alle im Einzelnen aufgeführten Besitzverfügungen zugunsten des Konvents auszuführen. Die acht Priestermönche sowie die anderen Kleriker und Novizen des Klosters waren als Gegengabe zu zwei feierlichen Totenämtern im Jahr verpflichtet. Dem Servitenkonvent überließ er sodann seine große Bibliothek aus dem herzoglichen Palast, mit der Auflage der Inventarisierung und dem Gebot, die Bibliothek für immer ungeteilt in Sabbioneta zu belassen. Seiner Tochter übertrug er auch die Verpflichtung, die Ausgaben für die Fertigstellung der Mauer des Kapuzinerkonvents bei Bozzolo zu tragen. Seiner Frau Margarita Gonzaga überließ er den Schmuck, den er ihr geschenkt hatte und jährliche Einkünfte von 2.000 Scudi. Seinem Schwiegersohn vermachte er die kleine Bibliothek aus dem Palazzo Ducale, die sich in seinem Zimmer (‘in […] la Camera mia’) befand. Den Dompropst von Cremona bedachte er mit 1.500 Scudi und zwei der alten Tapisserien (Seide enthaltend), aus dem Esther-Zyklus im Palazzo, den er einst in Madrid erworben hatte; sodann Teile eines silbernen Tafelgeschirrs. Aus dem Kreis der Hofangehörigen bedachte er seinen Beichtvater mit 300 Scudi; den Hauptmann der Wache mit 1.000 Scudi und drei Pferden aus der herzoglichen Kavallerie nach eigener Wahl sowie Tafelgeschirr nach Gutdünken der Erben; seinen Castellan und Rat Ludovigo Messirotti mit 1.500 Scudi, Einkünften von 96 ‘biolche’ aus Vidala und sodann auf Lebenszeit das Casino mit dem Gemüsegarten und den zugehörigen Einkünften von den 35 ‘biolche’, soweit sie nicht den Serviten zugewiesen worden sind;219 nach dessen Tod sollten Casino und Einkünfte an die Haupterbin Isabella zurückfallen, unter der Auflage jedoch, dass dann für sechs Jahre die Einkünfte an die Kirche von Comessaggio für deren Bau und Ausstattung entrichtet werden; seinen Sekretär mit 200 Scudi; den Mathematiker mit 100 Scudi, den Fiskal mit 200 Scudi; den Notar und Kriminalrichter mit 200 Scudi; den Giovanni Battista Masserotti, dessen Funktion nicht näher bezeichnet ist, mit zwei seiner besseren Gewänder (‘vestiti’) ohne Goldfäden (‘senza oro’) und nicht aus Pelz; zudem mit einem Pferd aus der herzoglichen Kavallerie nach Gutdünken seiner Erben; den Kammerdiener mit 200 Scudi; seinen Mundschenk mit zwei seiner Gewänder (‘un pajo di vestiti’) ohne Goldfäden, zudem mit einem Pferd aus der herzoglichen Kavallerie nach Gutdünken seiner Erben; seinen Chirurgen (‘Barbiere’) in Sabbioneta mit 100 Scudi; seinen (Leib-)Pagen (‘Paggio’) mit 100 Scudi und für zehn Jahre Einkünfte; seine drei Pagen (‘Paggi’) mit je 30 Scudi und der Livree, die für sie neu angefertigt worden ist; seinen Küchenmeister (‘Credenziere’)
219 Ebd., S. 119; siehe auch La cronaca di Lodovico Messirotti, S. 49. ‘Biolca’ ist ein Flächenmaß und bezeichnet in Parma und Mantua ein Grundstück von etwa 3100 Quadratmetern, also etwas mehr als üblicherweise ein Morgen.
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mit 60 Scudi; seinen (leitenden) Reitknecht mit 40 Scudi und seine drei Reitknechte mit je 30 Scudi; den Helfer des ‘Credenziere’ mit 60 Scudi und seinen Reitlehrer mit 70 Scudi; seinen Einkäufer (‘compratore’) mit 30 Scudi; den Pökelmeister (’Salmistrato’) mit 50 Scudi sowie mit Haus und Land in Comessaggio; seinen Reitlehrer (‘Cavallerizzo’) mit einem Pferd nach Gutdünken seiner Erben aus der herzoglichen Kavallerie; seinen Baumeister Bassano Trussardi mit 100 Scudi; seinen Maler Giovanni mit 50 Scudi; seinen (Hauptmann) der Artilleristen mit 60 Scudi und darüber hinaus mit einem Gewand aus Tuch; den Artilleristen, den Souschef in der Küche, die zwei Küchenhelfer, den Kutscher, die Stallknechte und die Maultiertreiber zusammen mit 100 Scudi, die sie unter sich teilen sollten; er überließ ihnen auch die mobilen und immobilen Dinge, die zu ihrer Tätigkeit gehören; den Martino Carbone, dessen Funktion im Testament nicht geklärt werden kann, mit seiner Garderobe. Vespasiano Gonzaga bestimmte mit dem Testament seine letzte Ruhestätte in der Kirche des Servitenklosters hinter dem Palazzo Ducale, in der Kirche Santa Maria dell’ Incoronata: Seine Tochter hatte in dieser Kirche das Grab nach seinen Vorstellungen einzurichten; 1.500 Scudi konnten dafür ausgegeben werden. Den Marmor hatte er selbst von Rom bereits nach Sabbioneta bringen lassen. Auf dem Grab – so das Testament – war die Bronzeskulptur mit dem Bildnis seiner selbst aufzustellen, die am Todestag noch auf der Piazza Maggiore in Sabbioneta stand (‘che nel luogo di detto mio sepolcro sia portata la Statua mia di bronzo, che di presente è sulla piazza di Sabbioneta’).220 Seine Tochter sollte seine Grabkirche zudem nicht nur ausschmücken, wofür weitere 2.500 Scudi bereitgestellt waren, sondern auch mit einer Zahlung von 2.000 Scudi an den Servitenkonvent dafür Sorge tragen, dass der noch nicht vollendete Kirchenbau binnen drei Jahren nach seinem Tod abgeschlossen wurde. (Abb. 50 und 51) Mit dem in Rom besorgten kostbarsten Marmor in mehreren Farben für das Grab und mit der Sitzskulptur des Herrn über Sabbioneta spannte die Grablege abermals einen Bogen vom antiken Rom zur ‘Roma Nova’ Sabbioneta. Das Grab selbst wurde von Bildhauer Giovanni Battista della Porta ausgeführt, der auch allegorische Figuren von Justitia und Fortitudo schuf, wie im Testament als ‘ornamento di detto sepolcro’ gewünscht. Die überlebensgroße Sitz-Bronze mit dem Bildnis Gonzagas stand vor dem Tod und spätestens seit 1588 also im Zentrum der Stadt, auf der Piazza Maggiore, unter den Lebenden wollte Vespasiano also zunächst präsent sein. Sie erinnerte Hof und Stadt stets an den Herren und ‘Wohltäter’ Sabbionetas. Die Skulptur war in vorzüglicher Qualität von Leone Leoni geschaffen worden, einem renommierten Bildhauer, der wiederholt auch für Karl V. und Philipp II. gearbeitet hatte. In der Grabkirche blieb der Herzog nun im Bildnis auf dem Grab präsent unter den Lebenden, und nach der religiösen Auffassung der Zeit wurde er in der Liturgie des Servitenkonvents dort vergegenwärtigt – auch dann, wenn kein 220 Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 115.
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Abb. 50: Sabbioneta, Chiesa Santa Maria dell’ Incoronata, Grabmonument Vespasiano Gonzagas (Foto: Annemarie Stauffer).
besonderes und feierliches Totenamt für sein Seelenheil begangen wurde, wie dies explizit nur zweimal jährlich im Testament festgelegt worden war. Die Funktion der Bronzeskulptur als Memorialbild ist hier von erheblicher Bedeutung, sicherte sich Vespasiano Gonzaga nach der Auffassung des 16. Jahrhunderts damit doch das immerwährende Gedenken seiner Seele, das dadurch eigentlich bis heute aufrechterhalten wird. Unterstrichen wird dies durch das Wappen in Bronze über der Skulptur, das alle Vor- und Nachfahren des Herzogs in die Memoria einbezieht, denn das Wappen steht für ihn selbst und für seine Herkunft sowie für sein Geschlecht in Vergangenheit und Zukunft. Die Inschrift auf der Basis der Skulptur nennt VESPASIANUS GONZAGA COLVMNA,221 die Inschrift auf der Tafel des Sockels lautet: VESPASIANUS D(ei) G(ratia) DUX SABLON(etae). Mit diesen Inschriften evoziert die Liturgie nach Auffassung der Zeit ebenfalls die Person. 221 Grötz, Sabbioneta. Die Selbstinszenierung eines Herrschers, S. 102, weist zu Recht darauf hin, dass diese Inschrift als Indiz für eine Fertigung der Skulptur vor der Erhebung zum Herzog erfolgt sein könnte, also vor 1577.
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Abb. 51: Sabbioneta, Chiesa Santa Maria dell’ Incoronata, Bronzeskulptur Vespasianos Gonzaga (Foto: Annemarie Stauffer). (Farbtafel XIII)
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Abb. 52: Rom, antikes Reiterstandbild Mark Aurels auf dem Kapitol (Kopie), Ausschnitt (Foto: Annemarie Stauffer).
Mit seinem Bildnis ließ sich Vespasiano Gonzaga im Gestus eines römischen Cäsaren darstellen, als italienischer Fürst metaphorisch in der Tradition des antiken Kaiserkults: Vespasiano sitzt auf einem massiven thronähnlichen Stuhl, dessen Vorderansicht die geflügelten Blitze Jupiters zeigt, ein Symbol für das kriegerische Handwerk des Soldaten. Neben der Uniform eines antiken Feldherrn mit Brustpanzer und Paludamentum, das von der linken Schulter herabhängend über die Beine drapiert ist, trägt die Figur Pluderhosen, wohl ein Reflex auf die modische Kleidung der Zeit. Der linke Fuß in antiken Sandalen stützt sich auf Erde – Symbol seiner territorialen Machtstellung; auf diesem Stück Erde ist die Skulptur mit ‘Leo’ signiert. Die linke Hand ruht auf einem Buch, das für humanistische Bildung steht; über Buch und Hand kommt gerade noch ein Schwertknauf in Form eines Adlers zum Vorschein. Die rechte ist im Gestus des antiken Feldherrn erhoben, zum Kommando oder zur Ansprache an das Heer, eine Anspielung auf das Reiterstandbild Mark Aurels auf dem Kapitol (Abb. 52): Dem Philosophenkaiser Mark Aurel zu folgen, war der hochgesteckte Anspruch Vespasiano Gonzagas als Fürst. 5. Intentionen: Sabbioneta – Residenzstadt und profanisierte Memoria
a) Von der Nachwelt und der modernen Forschung muss sich Vespasiano einige Vorwürfe gefallen lassen. Nur einige typische Äußerungen seien angeführt: Der Herzog habe unter ‘persönlicher Selbsterhöhung, selbst über den Tod hinaus’,
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gelitten.222 Vespasiano habe ‘Züge signoralen Eigensinns ebenso wie solche mißtrauischer Kleindespotie’ getragen, ja ‘von einem gewissen Größenwahn’ könne man ihn ‘nicht gänzlich freisprechen’.223 Die Bestimmungen zur Grablege wurden im Testament mit dem christlichen Glauben und den religiösen Intentionen des Testators eingeführt. Es ist ausgerichtet ‘specialmente per la salute dell’ anima mia’, da Leben und Tod in der Hand Gottes liege, und es fährt kurz darauf fort: Essendo l’anima più nobile del corpo, e delle altre cose mondane, confidandomi appieno nella misericordia dell’ Onnipotente Iddio, raccomando l’anima con ogni umiltà e divozione all’ Altissimo Creatore di tutti, alla gloriosissima Madre Vergine, a S. Niccolò, ed alli Santi Appostoli Pietro e Paolo, ed a tutti gli Santi della Corte trionfante del Paradiso.224 (Die Seele ist edler als der Körper und alle anderen weltlichen Dinge; ich vertraue mich ganz der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes an. Dem allerhöchsten Schöpfer der Welt überantworte ich die Seele in aller Demut und Andacht, auch dessen ruhmreicher Mutter und Jungfrau, dem heiligen Nikolaus und den heiligen Aposteln Petrus und Paulus sowie allen Heiligen des triumphierenden Hofes im Paradies.) Das Testament insgesamt und die gewünschte Gestaltung der Grablege sind Zeugnisse für den aufrichtigen christlichen Glaubens und für die Frömmigkeit des Herzogs, und nicht als eine ‘Heuchelei’ in Erwartung des eigenen Todes abzutun, wie dies implizit von der Forschung mit der Behauptung vertreten worden ist: ‘Von christlicher Frömmigkeit ist bei Vespasiano Gonzaga wenig zu spüren.’225 So nahm Vespasiano im gerade zitierten Beleg auf Nikolaus wohl deshalb Bezug, weil der 6. Dezember sein Geburtstag war und er sich von Nikolaus und der Stellung der Sterne an diesem Tag stets besondere Kraft und Förderung erwartete.226 Confurius meint gar, eine ‘Koexistenz von Maria und Minerva in Sabbioneta’ feststellen zu können, die eine ‘humanistische und relativ undogmatische Position in der damaligen Diskussion über das Verhältnis von Christentum und Antike widerspiegelt’, und merkt dabei gar nicht, dass er einen Gemeinplatz kulturhistorischer Erforschung des Humanismus verlässt, der darum bemüht war, nicht nur für Rom eine Synthese der paganen Antike mit dem Christentum herzustellen.
222 So Grötz, Sabbioneta. Die Selbstinszenierung eines Herrschers, S. 103. 223 So Confurius, Sabbioneta oder die Kunst der Stadtgründung, S. 87 und 92 und ähnlich passim. 224 Ebd., S. 113 f. 225 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 50. 226 Siehe oben Anm. 203. So wurde auch der erste Neubau der Klosterkirche der Serviten und zugleich Hofkapelle Nikolaus geweiht, bevor sie schon bald abgerissen wurde, um der Grablege von Vespasiano in Santa Maria dell’ Incoronata Platz zu machen.
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b) Diese und ähnliche Argumentationen sind wohl den eng verstandenen Überlegungen von Baugeschichte oder Kunstgeschichte geschuldet. So lange diese sich auf Methoden und eng gezogene Fragestellungen ihrer Disziplin und damit auf äußere Erscheinungsformen beschränken, muss es zwangsläufig zu irrigen Deutungen kommen. Dem Stadt-Projekt Sabbioneta fehlte mit dem Tod des Stadtbauers schlicht die Nachhaltigkeit. Es wurde und wird daher von der Forschung häufig mit dem Vorwurf der Erfolglosigkeit konfrontiert. Aus dem kometenhaften politischen Aufstieg Vespasiano Gonzagas in die europäische Spitzennobilität erwuchs eben keine Dynastie Gonzaga-Sabbioneta, die mit nachhaltigem politischen Gewicht Sabbioneta auf Dauer hätte mit Leben erfüllen können. Es fehlte schlicht der männliche Erbe, so dass das Projekt Sabbioneta mit dem Tod des Gründers regelrecht stecken blieb. Nur von diesem Gesichtspunkt aus erschien der bisherigen Forschung die qualitätvolle und wohldurchdachte Ausstattung der geplanten Stadt mehr oder weniger als ‘Wolkenkuckucksheim’ und der Stadtbauer als ein sich selbst erhöhender und von Größenwahn getriebener Selbstinszenierer – Vespasiano Gonzaga, ein Subjekt mit pathologischem Befund? Ein solches Urteil wird weder über das Mantua der Gonzaga noch das Florenz der Medici oder das Mailand der Sforza und ähnliche Städte gefällt, denn hier wurden Bauprogramme realisiert, die über einen längeren Zeitraum von einer Dynastie erfolgreich mit Leben erfüllt waren. Letztlich ist auf diese Weise, ähnlich wie in Pienza, allein der Erfolg einer Dynastie ahistorisch zum Kriterium und Maßstab der modernen Bewertung und Deutung von Stadtgründung und Stadtbau geworden. Mit dem Tod des Gründers hatte Sabbioneta seine Funktion als Residenz und die Stadt die Bedeutung des Resonanzraums der fürstlichen Herrschaft verloren und konnte sich aufgrund des Verlusts dieser Grundlage nicht weiterentwickeln.227 Dass die Beschäftigung mit Sabbioneta dennoch für die moderne Forschung von erheblichem Interesse ist, hat einen anderen Grund: Die Stadt gilt wie Pienza als Mustertyp einer Idealstadt,228 gerade weil sie nach dem Tod des Gründers nicht weiterentwickelt wurde. Hanno-Walter Kruft hat Sabbioneta als Idealstadt bezeichnet, ‘insofern sie versucht, ein humanistisches Weltbild in Architektur umzusetzen’. Vespasiano Gonzaga sei Gründer eines idealen Stadtstaates, einer Nova Roma, der mit dieser Gründung der Vision eines neuen gesellschaftlichen Zusammenlebens folge.229 Die Frage, ob und inwieweit Sabbioneta den begrifflichen Bestimmungen und Kriterien der okzidentalen Stadt entsprach
227 So geht Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, S. 650, jedoch davon aus, das Scheitern Sabbionetas als Stadt habe an der Geometrie der ‘Reißbrettstadt’ gelegen: ‘Zuviel Geometrie tut dem Leben nie gut.’ Wie ist dann nach Meinung von Roeck eine Entwicklung von Mannheim oder Karlsruhe (und vielen weiteren ‘Reißbrettstädten’) möglich gewesen? 228 Zuletzt ebd., S. 649 f., der das Kapitel ‘28. Reisen nach Utopia, Kunstwelten’ unter der Überschrift ‘Schöne Städte’ mit Sabbioneta beginnen lässt. 229 Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, S. 50. Dass Vespasiano dies in Auseinandersetzung mit Rom als dem humanistischen Leitbild von Stadt tut, wird hier mit dem Urteil konfrontiert: ‘Aussage und Programm der Stadt orientieren sich mit ziemlicher Unbekümmertheit an der römischen Antike.’
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(Verbandscharakter, Selbstverwaltung und politische Autonomie der Bürger) und insofern einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhang konstituierte, hat sich meines Wissens bislang jedoch noch gar niemand gestellt. Eine Plausibilität für die These der Idealstadt liegt allein in dem im 15. und 16. Jahrhundert eröffneten Diskurs über Stadtbau und Urbanistik im modernen Sinne, in Anknüpfung an Vitruv begonnen von Alberti und Filarete – mit den Überlegungen zu den Idealen eines harmonischen Stadtbaus. Diese Überlegungen sind fokussiert auf die architektonische und damit vor allem die äußere Gestalt der Stadt, und sie verblieben weitgehend im Bereich der Fiktion. Diese theoretischen Arbeiten von Architekten über den idealen Stadtbau wurden unter Humanisten intensiv diskutiert und gehörten zu einem wesentlichen Teil der Antikenrezeption der Zeit. Zu diesem Diskurs über Stadtbau zählen auch die drei berühmten Gemälde mit zentralperspektivisch konstruierten Stadtansichten der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die heute in Museen in Baltimore, Berlin und Urbino bewahrt und gemeinhin als ‘Idealstädte’ tituliert werden: Sie zeigen unter anderem Plätze, Palazzi, einen Triumphbogen, Säulen mit Statuen, Brunnen, Kirchen als Zentralbauten (rund und oktogonal), Portici, ein Theater, Porphyrsäulen mit vergoldeten Kapitellen und Statuen, auch einen Blick in die Ferne auf das Meer im Hintergrund.230 c) Zweifellos ist der Stadtbau in Sabbioneta im Kontext dieses Diskurses entstanden. Die Gestalt einer nach den zur Entstehungszeit modernsten Gesichtspunkten befestigten Stadt wurde hier benutzt, um der Residenz des Fürsten in Rezeption des antiken Rom einen entsprechenden Resonanzraum zu geben. Vespasiano beanspruchte ‘la piena potestà sopra i nostri Sudditi’, als er am 10. Oktober 1562 anordnete, alle Sabionetaner hätten ihre männlichen Kinder in die neue Schule zu entsenden, und diese stünde auch den Knaben der anderen Städte seines Territoriums offen.231 Und es ist dieses hier zum Ausdruck kommende Verhältnis von Herr und Untertan für die Stadt, das dem Prinzip der Emanzipation des Stadtbürgers von der abhängigen Bindung an Herr und Scholle zu persönlicher Freiheit und Freizügigkeit widerspricht; diese beiden Formen gesellschaftlicher Organisation aber schließen sich grundsätzlich aus. Die Bewohner mussten aus diesem Grunde, wie wir gesehen haben, zum Leben in der neuen Stadt gezwungen werden. Der Befestigung kam für die politisch autonome Stadt des Mittelalters neben der militärischen eine wesentliche weitere Funktion zu: Die Mauer grenzte die Stadt als einen geschlossenen Rechtsbezirk vom Umland ab, wobei der Verbandscharakter der Stadtgemeinde entscheidend war. Das Stadtbürgerrecht formierte eine Gebietskörperschaft, eine Gemeinschaft aus Genossen gleichen Rechts, die sich selbst verwaltete und als Körperschaft auch nach außen politisch
230 Siehe hierzu zuletzt Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, S. 650–52, wobei er sich mit der Datierung der drei Gemälde auf einhundert Jahre nach Alberti gründlich vergaloppiert. 231 Die entsprechende Urkunde ist ediert bei Affò, Vita di Vespasiano Gonzaga, Duca di Sabbioneta, S. 52 f.
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Abb. 53: Sabbioneta, Porta Imperiale (Foto: Annemarie Stauffer).
autonom agierte.232 Die Herrschaft des Fürsten Vespasiano Gonzaga schloss eine solche Emanzipation zur Bürgergemeinde a priori aus. Die Stadt war mithin in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts anders bestimmt: Die ‘großen’ italienischen Städte hatten den Charakter der bürgerlichen Stadtrepublik eingebüßt und waren jetzt der diktatorischen Gewalt eines aus dem städtischen Patriziat hervorgegangenen Fürstengeschlechts unterworfen. Vespasiano Gonzaga knüpfte als Fürst an diese neue Realität von ‘Stadt’ an. So erbaute er Sabbioneta als seine Residenz mit Festung und Stadt als Kunstwerk, wobei den Bürgern und Einwohnern die Funktion eines Resonanzkörpers unter seiner Gewalt zukam. Eine Emanzipation zum Bürgerstand, zur Stadtgemeinde aus Genossen gleichen Rechts, die zugleich Träger von Souveränität waren, war unerwünscht – gefragt waren die Bewohner allein als ‘sudditi’, als Untertanen. Wenn Vespasiano Gonzaga in Briefen 1558 begann, statt wie bisher von der ‘fortezza’ nun von Sabbioneta als ‘città’ oder ‘civitas’ zu sprechen,233 so kann er nicht eine Stadtrepublik, sondern muss den Baukörper ‘Stadt’ gemeint haben. d) Sabbioneta in dieser Form diente Vespasiano Gonzaga als Gedenkort für die Herkunft und Fama des Geschlechts und seiner selbst. Die Stadt war lange auch nur durch den Akt der Erinnerung an den Stadtbauer zu betreten, nämlich durch die Porta Vittoria oder die Porta Imperiale unter dem herzoglichen Wappen
232 Siehe hierzu in Zukunft Schilp, Im Bann des Todes. Memorialpraxis und soziale Beziehungen im spätmittelalterlichen Dortmund (Arbeitstitel) in dieser Reihe. 233 Siehe Forster, ‘From ‘Rocca’ to ‘Civitas’: Urban Planning at Sabbioneta’, S. 12.
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Abb. 54: Sabbioneta, Wappenstein, Porta Vittoria (Foto: Annemarie Stauffer).
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mit der Devise ‘LIBERTAS’. (Abb. 53 und 54) Alle Gebäude der Stadt sind auf den Fürsten ausgerichtet, der Fürst ist in den Gebäuden selbst durch Wappen, vor allem aber durch Memorialbilder omnipräsent: am deutlichsten in den Reiterstandbildern und in der ‘Sala degli Antenati’ im Kreis seiner Vorfahren des Palazzo Ducale sowie durch die bronzene Sitz-Skulptur, die von der Piazza Maggiore auf sein Grab in der Chiesa dell’ Incoronata wanderte. Dass die erst 1562 geweihte Klosterkirche der Serviten abgerissen wurde, um der neuen Klosterkirche als Zentralbau und Mausoleum Platz zu machen, dokumentiert die Rezeption der Antike, vor allem aber die Intention, dem Ruhme des eigenen Lebens und des Geschlechts in einem Mausoleum bleibende Erinnerung und Gedenken zu sichern. Insofern wurde Sabbioneta als Residenz und, durchaus ähnlich wie Pienza, als Memorialort gegründet, um einiges profaner als die Piusstadt, aber doch mit steter Anbindung des humanistisch gebildeten Fürsten Vespasiano an die tradierten Formen des liturgischen Gedenkens. Dass der Erinnerungsort in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wesentlich profaner gestaltet wurde, ist dem Zeitgeist geschuldet. Die Gestaltung der Residenzstadt Sabbioneta erinnert die Fama eines Fürsten, der sich sowohl liturgisch als auch säkular durch eine in Architektur und künstlerischer Gestaltung einzigartige Realisierung auf Dauer in Erinnerung gehalten hat. Die liturgische Memoria wurde vom Fürsten aus der Öffentlichkeit der Stadt in die relative Abgeschiedenheit des (Stadt-)Klosters historisch zurückverlagert. Das erscheint in gewisser Weise in der Geschichte der Formwandlungen des liturgischen Totengedenkens als Rückschritt in die Tradition adliger Gedenkkultur des Hochmittelalters, der Zeit der Dynastiebildung mit Kloster- oder Stiftsgründungen, die Gedenkorte dieser Art ganz ähnlich brauchte wie eben auch der Fürst des Frühabsolutismus einen exklusiven klösterlichen Ort für sich gestaltete. Pius II. hingegen nutzte mit Pienza städtische Öffentlichkeit für seine Memoria, nahm die Bürger durch die Gabe der Privilegierung zur Stadt in die Pflicht zur Gegengabe des Gedenkens; in Sabbioneta sind die Bürger dafür nach dem Tod Vespasianos nicht gefragt. Dass sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Versuche mehren, Formen einer profanisierten Memoria zu gestalten, zeigt etwa der von Vicino Orsini (1523–85) angelegte Garten in Bomarzo, gelegen nördlich von Rom in Latium. Dieser soll hier kurz über die oben erwähnten Stadtgründungen hinaus als Exempel dienen. Aufgrund der Lebenserfahrung des Bauherren ist der Garten zur Unterhaltung seines gebildeten Erbauers und von dessen Gästen als ‘Sacro Bosco’ angelegt worden, mit grotesk wirkenden und zum Teil nicht oder kaum verständlichen Skulpturenensembles und Architekturformen, die klassisch-antike Elemente mit etruskischer Bestattungskultur vereinen. Der Garten ist durchaus in einem antikirchlichen und antichristlichen, aber nicht areligiösen Sinn konzipiert:234 Er war gedacht als ‘Tor in die Unterwelt und 234 Siehe zuletzt zu Vicino Orsini und dem ‘Sacro Bosco’ Vergeiner, Bomarzo. Ein Garten gegen Gott und die Welt, S. 15: ‘Der oppositionelle, antikirchliche, ja sogar häretische Charakter seiner Schöpfung […]’.
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somit ins Unterbewusstsein’.235 Wichtig für den Kontext ist, dass Vicino Orsini den Garten als Abbild seiner selbst verstand; glücklich war die Fügung, dass der Garten vollendet war, als er starb, denn er galt ihm als Vermächtnis, das sein Fortleben über den Tod hinaus sicherte, Erinnerung garantierte. Und auch der ‘Sacro Bosco’ fiel mit dem Tod seines Schöpfers in einen Schlaf der Jahrhunderte, verwahrloste regelrecht, bevor ihn das 20. Jahrhundert entdeckte, und nicht zufällig zählen Salvador Dalí oder Niki de Saint Phalle zu seinen Entdeckern.236 V. Conclusio Sowohl Pienza als auch Sabbioneta werden von der bisherigen Forschung durchweg als ‘Idealstädte’ bestimmt, als ‘Vorposten des künftigen Staates Utopia’. ‘Als Idealstädte’ seien sie ‘realisierte Städte […] denen eine Staats- oder Sozialutopie zugrunde liegt, die von einem einzelnen oder einer Gemeinschaft entwickelt worden ist.’237 Zugleich werden beide Städte grundsätzlich und unhinterfragt als Musterexemplar der Kultur von Renaissance und Humanismus im Sinne der ‘Konsequenz einer subjektiv gefärbten autobiographischen Reflexion’238 eingeordnet, die – im Urteil Jacob Burckhardts verharrend – die dunklen Jahrhunderte des Mittelalters überwanden, indem sie ‘mit voller Macht das Subjektive erhoben’.239 Aus diesem Grunde nahm diese Abhandlung ihre Ausgangspunkte einerseits in einer Kritik des von Burckhardt geprägten Renaissancebegriffs, andererseits in einer Analyse zweier renommierter Kunstwerke der Zeit um 1450/1460 aus Arezzo (Piero della Francesca) und Prato (Filippo Lippi), um aus der Sicht des Historikers die Selbstdeutung einer Stadt sowie des Individuums durch die vormoderne Memoria aufzuspüren. Stadt nämlich wurde in dieser Zeit verstanden als Sakralgemeinschaft, als Jerusalem, das sich durch Egalität und Fraternität der Bürger auf dem Weg zur Civitas Dei deutete. Memoriales Handeln reichte weit über die liturgische Vergegenwärtigung eines Menschen hinaus, denn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren in der Memoria vereint und auf einen sozialen Zusammenhang konzipiert, der allein Gedenken sichern und das Vergessen einer Person oder Personengruppe verhindern konnte. Hierbei erwies sich die Stadtgemeinde als Korporation im christlichen Sinne, die memoriales Handeln als wesentliches Element ihrer sich stetig wiederholenden Konstitution im städtischen Alltag generierte. Ja Städte erschienen als ‘perfekte’ Form der Sicherung von Memoria durch den sozialen Zusammenhalt der Stadtgemeinde, die sich in sozialen Gruppen (Gilden und
235 Ebd., S. 37. 236 Ebd., S. 37 f. 237 Kruft, ‘Utopia und Idealstadt’, S. 32. 238 Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus, S. 46 für Pienza. 239 Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 99. Siehe hierzu die einleitenden Bemerkungen oben S. 143 f.
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Zünften, Bruderschaften, Kirchgemeinden etcetera) organisierte und auf diese Weise alle christlichen Bewohner der Stadt, Bürger wie Einwohner, erfasste. Der von Pius II. in den Commentarii benutzte Begriff des memoriale für Pienza verstärkte den mittelalterlichen Begriff der Memoria, indem, an die Vulgata anknüpfend, das immerwährende Gedenken Gottes und seines Namens in Textstellen des Alten Testaments für die päpstliche Memoria verwendet wird. Hier war eine zentrale Intention des Papstes für Stadtbau und die Stadterhebung auszumachen. Der zentrale Platz in Pienza realisierte diese Intention in drei baulichen Elementen, die zugleich Stufen gesellschaftlicher Hierarchie abbildeten: 1. Der elegante und repräsentative Palazzo Piccolomini – ein durchaus massig anmutender Baukörper – sicherte nicht nur Fama und Erinnerung des Papstes, sondern auch die seiner Herkunft und seines Geschlechts. Der Bau, auf Dauer kenntlich gemacht durch Wappen des Papstes und der Familie, bezog daher einerseits Überreste des Geburtshauses von Enea Silvio Piccolomini ein, andererseits war die Errichtung verbunden mit der ökonomisch-politischen Sicherung der Familie des Papstes. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren auf diese Weise vereint. 2. Bistumsgründung und Bau wie Ausstattung der Pientiner Kathedrale sicherten exklusiv die Memoria des Papstes und erinnerten auf Dauer dessen Fama: Das durch Bulle verordnete Gebot, den Dom und dessen Innenausstattung für alle Zeiten in der von Pius II. gestalteten Form zu belassen, sicherte die Liturgie der Domkirche auf Dauer als Ort der exklusiven Memoria des Papstes und seiner Familie. Der Papst ist in der Ausstattung durch Wappen in den Fenstern, auf dem Baukörper, im Chorgestühl, auf den Retabeln, auf den vasa sacra, in den liturgischen Handschriften etcetera gleichsam omnipräsent; nur das Bildnis des Nikolaus von Cues auf dem Nikolausretabel zusammen mit dem des Papstes macht hier eine Ausnahme, die als Freundschaftsdienst einzuordnen ist. Bis heute hat die Kirche trotz der Eingriffe der Restauratoren des vergangenen Jahrhunderts zur Sicherung des Gebäudes diesen Eindruck bewahrt. 3. Dieses memoriale brauchte Öffentlichkeit. Neben dem Palazzo des Bischofs und dem Kanonikerhaus wurde vom Papst im Norden des Platzes daher auch ein Palazzo Pubblico nach toskanischem Vorbild errichtet und das Dorf (oppidulum) Corsignano zur Stadt (civitas) Pienza erhoben. Zwar lässt sich das verlorene Privileg der Stadtrechtsverleihung nur mittels einer späteren Bestätigung rekonstruieren, doch ist die Erhebung zur Stadt in den Commentarii, durch die Inschrift auf der Glocke des Doms sowie literarische Zeugnisse gesichert. Die mit Bürgerrecht privilegierten Bewohner von Pienza, wie auch die Einwohner ohne Bürgerrecht, fanden in der Domkirche ihre neue Pfarrkirche und im zentralen Platz einen neuen Mittelpunkt ihres Lebens mit Rathaus und einem Brunnen mit dem besten Frischwasser für die Stadt. Durch ihre Anwesenheit bei liturgischen Akten vergegenwärtigten Bürger wie Einwohner den Papst und dessen Familie, sicherten deren Memoria, und leisteten damit stets ein Bußopfer auch für sich selbst. Pius II. hatte mit der Gründung des Bistums inklusive Neubau des Doms und der Erhebung von Corsignano zur Stadt Pienza in vollendeter Form das Gotteslob gemehrt: Sein Gedenken hatte er mit Menschen verbunden, die für ihn – und stets zugleich für sich selbst – agierten. Stadt war also zum
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optimierten Mittel seiner Memoria gestaltet, hatte die Qualität des Gedenkens mit der Quantität von Gedenkenden vereint. Bau und Stadterhebung von Pienza und die Commentarii als besondere Form der Rechtfertigung des humanistisch geprägten, aber in den großen Zügen gescheiterten Pontifikats wurden zu den Säulen der Erinnerung von Pius II. Hinzuweisen ist darauf, dass das memoriale Pienza neben der liturgischen Sicherung des Gedenkens durch profane Züge ergänzt wurde. Inschriften auf dem Brunnen vor dem Palazzo Piccolomini und der Palazzo Pubblico schufen säkulare Erinnerungsorte, machen Pienza insgesamt bis heute zu einem Erinnerungsort für Pius II. Der Stadtbau von Sabbioneta, 1554 bis 1591 und damit gut hundert Jahre später als Pienza, ist ganz anders einzuordnen: Vespasiano Gonzaga, einer Nebenlinie der Mantovaner Herrscher entstammend, baute den Weiler um die Familienburg Rocca zu einer fürstlichen Stadt aus. Dies erfolgte im Kontext seines steilen politischen Aufstiegs im Dienste der Habsburger, die sich im Verlauf seiner Lebenszeit politisch in Italien durchsetzten. In Sabbioneta wurden die Bürger freilich nicht als eine sich selbst verwaltende Gemeinde konstituiert, sondern als ‘sudditi’, als Untertanen gefasst, die zwar von den geschaffenen Einrichtungen (hohe Schule, Stadtbefestigung, Pfarrkirche, Markt etcetera) profitieren konnten, aber grundsätzlich dem Gebot und der Gewalt des frühabsolutistischen Herrschers unterworfen blieben. Die ‘sudditi’ mussten nach der Zerstörung ihrer Häuser (und damit der Lebensverhältnisse) durch die Niederlegung des Weilers für den Neubau der Stadt später per Dekret zur Rückkehr nach Sabbioneta gezwungen werden. Die Stadt mit einer Festung, nach allen technischen Kenntnissen der Zeit gebaut, wurde unter Mitwirkung des Fürsten konzipiert, der zunächst Page Philipps II., dann hoher Militär und Festungsbauer in Spanien war. Der humanistisch gebildete Fürst orientierte sich im Stadtgrundriss an römischen Prinzipien des Stadtbaus und wollte eine ‘Roma nova’ errichten; er bezog hierbei den Diskurs seiner Zeit über den Stadtbau ein. Die zentrale Piazza Maggiore wurde vom Palazzo Ducale beherrscht; hier wurden aber auch der Palazzo Ragione mit der Kommunalverwaltung, die Stadtpfarrkirche und der Palazzo des ‘Luogotenente’ errichtet. Vespasiano Gonzaga förderte die jüdische Ansiedlung mit Synagoge und bedeutender Druckerei, gründete eine wissenschaftliche Akademie wie auch eine hohe Schule. Der Fürst nutzte mit dem Palazzo Ducale, mit dem Garten- und Lustschloss mit der einem Aquädukt nachempfundenen Galleria zur Bewahrung und Präsentation der umfangreichen Antikensammlung, mit dem bedeutenden Theater, mit dem Servitenkloster hinter dem Palazzo Ducale mit Hofkapelle und auch einem Hospital die Gestalt der Stadt, deren ‘Baukörper’, für die fürstliche Residenz. Die Stadt war für ihn Kunstwerk und bot der herrscherlichen Residenz die gewünschte Kulisse und einen Resonanzraum; der frühabsolutistische Herrscher war und blieb beherrschend – insofern war Sabbioneta Ausweis der Fama des Fürsten und sicherte dessen Erinnerung. In der Ausgestaltung des Palazzo Ducale mit zehn überlebensgroßen Reiterstandbildern des Fürsten und seiner Vorfahren – in dieser Form für die Zeit einzigartig – verwies Vespasiano Gonzaga auf Herkunft und Geschlecht;
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dem hatte Vespassiano Gonzaga in der ‘Sala degli Antenati’ mit 21 Stuckporträts seiner Vorfahren mit deren Frauen, seiner selbst und seiner zweiten Frau Anna von Aragon mit ihrem Sohn Luigi, die Zukunft der Dynastie Gonzaga-Sabbioneta hinzugefügt. Herkunft und Geschlecht waren verknüpft mit der Zukunft der Fürstenfamilie, eine Perspektive, die sich durch den frühen Tod des Sohnes bald zerschlug. Die Dynastie erlosch mit dem Tod Vespasianos, und im Bewusstsein dieser Tatsache rückte die Intention der Stadt als memoriale mehr und mehr in den Vordergrund seines Agierens. Die Bronzeskulptur des humanistisch gebildeten Herzogs im Gestus eines römischen Philosophen-Caesaren erinnerte Vespasiano in seiner Selbstdeutung – sie wurde auf der Piazza Maggiore aufgestellt, um ihn schließlich nach dem Tod auf dessen Grablege in der Klosterkirche des Servitenklosters zu präsentieren. Sein Handeln war stets auch von der Sorge um die Memoria bestimmt – und das Urteil der Forschung, von christlicher Frömmigkeit sei bei ihm kaum etwas zu spüren, wird durch den Stadtbau selbst, durch sein Testament und die Sorge um die angemessene Grablege ad absurdum geführt. 1586 ließ der Herzog die Klosterkirche der Serviten, die als seine Hofkapelle diente, niederlegen, um an deren Stelle einen Zentralbau für seine Grablege zu errichten. Minutiös wurde die Grablege in der neuen Klosterkirche im Testament, das die Sorge ‘per salute dell’ anima mia’ in das Zentrum rückte, geregelt. In der Grab- und Klosterkirche blieb Vespasiano im Bildnis präsent unter den Lebenden, wurde in der Liturgie des Servitenkonvents stets vergegenwärtigt. Die Beteiligung der Städter Sabbionetas freilich war hierbei nicht explizit vorgesehen, was dem Verhältnis des Herrn zu ‘sudditi’ entsprach: Hauptintention des Stadtbaus war die Errichtung einer Residenz, und dies ließ die Stadt zu einem Gedenkort werden, der mithin in der ersten Dimension profan bestimmt war. Vespasiano Gonzaga war und blieb in seiner Stadt omnipräsent! Die liturgische Vergegenwärtigung erfolgte in der Klosterkirche der Serviten unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit, wo sich sein Grab befand. Sabbioneta diente als Residenz und als Ort der Herkunft und Fama des Geschlechts, um einiges profaner gestaltet als Pienza, aber durchaus an ältere und tradierte Formen des liturgischen Gedenkens des Adels anknüpfend. Die Stadtrepubliken mit den Prinzipien von Egalität und Fraternität der Bürger waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weitgehend untergegangen, so dass sich Vespasiano Gonzaga mit der Stadt Sabbioneta säkular und liturgisch durch eine in Architektur und künstlerischer Gestaltung einzigartige Realisierung auf Dauer in Erinnerung hielt. Der Blick auf die Deutungen beider Städte in der modernen Forschung ernüchtert: Die Intentionen der Stadtherren wurden bislang nicht ernst genug genommen und meist durch Selbstdeutungen der Moderne in Urteilen und Wertungen dieser Vergangenheit idealisiert. Hierbei sind in der Forschung auch negativ wertende Urteile, moralisierend und in irriger Weise psychologisierend, noch immer gang und gäbe. Dass für beide Städte mit dem Tod der Stadterbauer die politischen Subjekte entfielen, war der Grund, warum die Entwicklung von Pienza und Sabbioneta abbrach und daher der Bauzustand der Gründungszeit bis heute mehr oder weniger wie erstarrt erhalten geblieben ist. Die Forschung
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konfrontierte bisher dies 1. wiederholt mit dem Vorwurf, die Stadtgründer hätten sich selbst überhöht, ein Vorwurf, der sie mitunter nahe an eine Kritik der Überheblichkeit im Sinne unrealistischer Deutung der eigenen Stellung oder gar an Wahnsinn grenzenden Handelns rückt und die beiden Herrscher mit fehlendem Erfolg und mangelnder Nachhaltigkeit konfrontiert. Das Misslingen der Bildung einer neuen und erfolgreichen Dynastie Gonzaga-Sabbioneta beziehungsweise die Misserfolge des Pontifikats Pius II. werden so unter der Hand zu den Kriterien moralisierender und unwissenschaftlicher Bewertung. Damit werden im Übrigen von der heutigen Forschung Maßstäbe angelegt, die für kaum eine andere Herrschaftsarchitektur Anwendung finden. 2. Vor allem Kunst- und Architekturhistoriker haben sich auf der Grundlage des Diskurses über Stadtbau und Urbanität des 15. und 16. Jahrhunderts mit diesen beiden Städten beschäftigt – und dabei die neuen Formen von Bauten und deren Ausstattung diskutiert. Die neue Form wurde und wird dabei aber vorschnell zum Beleg für den unkritischen Begriff der sogenannten ‘Renaissance’, der vermeintlichen Selbstfindung des Menschen nach den Jahrhunderten der Fremdbestimmung des ‘barbarischen Mittelalters’. Die bisherige Forschung ignoriert dabei bisher weitgehend die Intentionen der beiden Stadtbauer und formuliert infolgedessen krasse Fehlurteile. Die kritische Sichtung der Überlieferung für beide Städte mit Methoden und Fragestellungen der Geschichtsschreibung ergab in unterschiedlicher Weise die Übernahme aus dem Mittelalter tradierter Motive und Intentionen der Gedenkkultur: Beide Städte nämlich verknüpften liturgische Memoria mit der Erinnerung an die Fama der Stadterbauer, um – in unterschiedlicher Gewichtung – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander zu verschränken. Hierbei wurde das Gedenken durchaus profanisiert, in Sabbioneta wesentlich intensiver als in Pienza. Eine völlig andere Frage und ein anders gelagertes Problem der Forschung ist, wie wir diese tradierten Formen und die sogenannte ‘Renaissance’ bewerten: Ob wir die Deutungen der Menschen der Vergangenheit (wie auch der Moderne) nämlich durch die (Re-)Konstruktion bloß beschreiben oder aber einer Kritik unterziehen – dies aber ist ein ganz anderes Thema.
Frank Rexroth
‘Abendland-Substanz-Literatur’? Über Ernst Robert Curtius, sein größtes Werk und die Mittelalterbilder des 20. Jahrhunderts Autobiographisches teilte Otto Gerhard Oexle in seinen Schriften so gut wie nie mit. Es ist bezeichnend für ihn, dass er erst nach seiner Emeritierung das Erscheinen eines Bandes mit ausgewählten Schriften zum Anlass nahm, auf seinen Werdegang und die Prägungen seines Denkens einzugehen.1 Und selbst dieser kurze Text war verschwiegen und ließ Dinge aus, die er im persönlichen Gespräch durchaus mitteilte. Statt seiner eigenen Person rückte er prägende Lehrergestalten und entscheidende Lektüren aus der Zeit seines Studiums und seiner wissenschaftlichen Anfänge in Freiburg und Münster ins Zentrum seiner Schilderung: den Romanisten Hugo Friedrich und Troeltschs Historismus und seine Probleme, den Althistoriker Herbert Nesselhauf und Droysens Historik, den Mediävisten Gerd Tellenbach und Peter L. Bergers beziehungsweise Thomas Luckmanns Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, den Philosophen Heinrich Rombach und Kant sowie die Neukantianer. Umso mehr fällt eine Reminiszenz auf, die Oexle ganz an den Anfang der besagten Einleitung von 2011 rückte und die sein Grundstudium seit dem Sommersemester 1958 berührte. Im persönlichen Gespräch berichtete er noch etwas ausführlicher von dem Erlebnis. Der Leiter seines romanistischen Proseminars, der Lehrstuhlinhaber Hugo Friedrich, habe den Anwesenden einen Auftrag von entwaffnender Schlichtheit erteilt: Besorgen Sie sich das Buch von Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (ELLMA), arbeiten Sie es unverzüglich durch und notieren Sie sich sämtliche Namen und Begriffe, die Sie nicht verstehen. Dann begeben Sie sich mit Ihren Zetteln in die
1 Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270). Autobiographisches dort in der Einleitung, S. 11–18. Zu seiner Biographie siehe die Nachrufe Rexroth, ‘Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 464–71; Geary, ‘Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 421–25; Monnet, ‘Otto Gerhard Oexle, historien du Moyen Âge, de l’Europe et de l’histoire (1939–2016)’, 425–27, und den Beitrag von Schmitt in diesem Band. Für Gespräche und Lektüren danke ich Per Øhrgaard, Kopenhagen, und Matthias Büttner sowie Veit Groß, Göttingen.
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 249–65. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117998
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Bibliothek und fangen Sie an zu recherchieren.2 Die Pointe war, dass der Emeritus Oexle die Listen mit unbekannten Begriffen, die er als Erstsemesterstudent angefertigt hatte, wiederfand – ganz oben lagen die Einträge ‘Ernst Troeltsch’ und ‘Historismus’! Und tatsächlich wurden Troeltsch und der Historismus, die bekanntlich beide im Zentrum seiner späteren Interessen stehen sollten, gleich auf der zweiten Seite von Curtius’ erstem, tief gelehrten und reichlich vertrackten Kapitel erwähnt. Die Anekdote sollte nicht suggerieren, dass er schon zu Beginn seines Studiums seinen späteren Weg vorgezeichnet fand. ‘Erst viel später’ habe er begriffen, ‘um wen und worum es sich dabei handelte’.3 Und doch scheint er die Begebenheit für so beziehungsreich gehalten zu haben, dass er sie mitteilenswert fand. Hugo Friedrich sprach, so betonte er, stets auch über die realgeschichtlichen Hintergründe der französischen Literatur, mithin über historische Fakten, und zugleich über ‘die Bedingungen des Wissens von „Fakten‟’. Dem romanistischen Proseminar und den zugehörigen Vorlesungen habe er, so Oexle, paradoxerweise zu verdanken, dass er Historiker statt Romanist geworden sei.4 Eine tiefere Beziehung zwischen Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, dem opus eximium des großen Romanisten Ernst Robert Curtius (1886–1956) und seinem eigenen Schaffen war also keineswegs impliziert. Es lohnt sich aber, nach gedanklichen Verbindungen zu suchen und dabei diejenige Relation besonders zu beleuchten, die dem Historiker Oexle zu einem besonderen Anliegen, ja zur Scharnierstelle seines Schaffens werden sollte: die Verbindung zwischen der Erforschung des Mittelalters und der Erforschung derjenigen Mentalitäten und Denkstile, die während der Moderne politisch relevante Bilder vom Mittelalter erzeugten. Denn dies war ja eine von Oexles Kernüberzeugungen: dass man es beim Mittelalter mit mehr als einer Epoche der europäischen Geschichte zu tun hat, dass es sich bei ihm vielmehr um ein zentrales ‘Denkbild’ handelt, das sich moderne Kulturen zur Reflexion über sich selbst geschaffen haben. Seit den frühen 1990er Jahren betonte er immer wieder diesen ‘instrumentalen Charakter’ der zeitgenössischen Mittelalterbilder; sie seien in Wirklichkeit nicht einfach ‘Aussagen über das Mittelalter, sondern vielmehr Aussagen über die Moderne’ gewesen.5 Diese aber waren für den größeren Teil von Curtius’ Lebenszeit prekär gewesen, hatten rechtskonservative und völkische Publizisten doch beharrlich das Mittelalter als ‘Waffe’ (Oexle) bemüht, als ein Denkbild, das als Leitbild 2 In verkürzter Form Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), S. 11. Friedrichs Rat beim Wort zu nehmen, hätte bedeutet, sich auf ein Himmelfahrtskommando einzulassen. Alleine S. 60 f. hätte den Stoff für ein Semester geboten. Friedrich hatte neun Jahre zuvor selbst eine Rezension von ELLMA geschrieben; Richards, Modernism, Medievalism and Humanism. A Research Bibliography on the Reception of the Works of Ernst Robert Curtius, S. 81 f. Nr. 198. 3 Oexle, Die Wirklichkeit und das Wissen, Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), S. 11. 4 Ebd., S. 12. 5 Otto G. Oexle, ‘Das entzweite Mittelalter’, in Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011 (Nr. 270), S. 837–66, S. 845.
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fungieren sollte, wenn es um die Überwindung der Moderne ging, um den Sieg über den zeitgenössischen Rationalismus und Individualismus, den Liberalismus und – wie die Zeitgenossen gerne sagten – den ‘Demokratismus’ der Gegenwart. Denn die Kräfte der Moderne, so hatte ein junger Autor vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Einklang mit diesen kulturkritischen Sichtweisen geschrieben, seien negierende Kräfte, denen man nun mit der Orientierung am Mittelalter ein positives Prinzip entgegensetzten müsse.6 Oexles Kronzeugen dafür, dass es zur selben Zeit eine andere, gründlichere und aufrichtigere Auseinandersetzung mit der europäischen Vergangenheit gegeben hat, sind allgemein bekannt, denn er hat sie beharrlich zur Sprache gebracht, ja er hat seine eigenen Publikationen als einen Dienst an der Memoria dieser eminenten Gestalten gesehen: Georg Simmel (1858–1918) und Max Weber (1864–1920), Ernst Troeltsch (1865–1923) und Aby Warburg (1866–1929), Ernst Cassirer (1874–1945) und, in Frankreich, Émile Durkheim (1858–1917) und Marc Bloch (1886–1944).7 All dies hat der Historiker in so vielen Publikationen dargelegt, dass sich jede weitere Erläuterung dazu erübrigt. Ernst Robert Curtius (1886–1956) und sein Werk wurden von Oexle nur selten in Beziehung zur Tradition der historischen Kulturwissenschaften der ‘klassischen Moderne’ gesetzt, obwohl dessen Verehrung für Troeltsch und Warburg einen solchen Brückenschlag durchaus nahegelegt hätte. Doch Oexles Arbeiten betonten stärker den Abbruch der kulturwissenschaftlichen Traditionen seit circa 1930 und weniger deren vereinzelte Fortführungen. Zu letzteren wäre Curtius fraglos zu rechnen gewesen. Am ausführlichsten äußerte sich Oexle zu Curtius, als er erfuhr, dass der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht ELLMA einem zeittypischen Genre zugeschlagen hatte, das er polemisch ‘Abendland-Substanz-Literatur’ nannte.8 Diese Zuordnung, so schrieb Oexle, sei das Ergebnis einer ‘unhistorische[n] Wahrnehmung, die den Kontext der Genese des Buches und Curtius’ Distanz zu den gleichgerichteten, dominanten Mittelalter-Wahrnehmungen der 1920er und 1930er Jahre ganz außer Acht’ lasse.9 Dies war sicher zutreffend, denn ELLMA war kein nach der deutschen Niederlage mit heißer Feder geschriebenes Buch. Vielmehr hatte es eine Vorgeschichte, die bis 1932 und teils noch weiter in die Vergangenheit zurückreichte. Zugleich lag dem opulenten Werk (‘eines der nahrhaftesten geisteswissenschaftlichen Bücher, die mir zu Gesicht gekommen sind’, hatte Erich Auerbach
6 Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters. Curtius kannte Landsberg seit 1921 und hielt ihm, dem getauften Juden, auch während der NS-Zeit die Treue, vermittelte ihn beispielsweise an José Ortega y Gasset; Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert. Eine Auswahl, S. 295–97. 7 Zu der memorialen Qualität von Oexles charakteristischem Stil Rexroth, ‘Nachruf: Otto Gerhard Oexle (1939–2016)’, 470 f. 8 Zuerst 1989, wiederabgedruckt in Gumbrecht, ‘„Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit‟. Ernst Robert Curtius’ unhistorisches Verhältnis zur Geschichte’, Der böse Begriff , ebd., S. 66: ‘Das Werk paßte in den Horizont der Abendland-Substanz-Literatur, der den deutschen Buchmarkt zwischen 1945 und 1950 – und darüber hinaus – beherrschte.’ 9 Oexle, ‘Memoria als Kultur’, 1995 (Nr. 96), S. 9–78, S. 75 f. mit Anm. 362 (dort das Zitat).
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geschrieben) aber ganz unbestreitbar ein Anliegen zugrunde, das der Generallinie jener ‘Abendland’-Literatur durchaus entsprach. Denn es war seine Absicht, ‘die europäische Literatur als Einheit zu begreifen und diese Einheit auf die lateinische Tradition zu gründen’’.10 Inwieweit ELLMA tatsächlich ‘Distanz’ zu den dominanten Mittelalterbildern der Zwischenkriegszeit hielt, ist eine lohnende Frage, die im Folgenden gestellt werden soll. Oexle selbst kam nicht darauf zurück, so wie er ja generell loyal zu den Toten stand, deren Memoria er sein eigenes Schaffen verschrieben hatte. Daher ist es sinnvoll, die Frage nach einer angemessenen Sicht auf dieses Werk aufzuwerfen. Im Folgenden sollen zu diesem Zweck drei Themen angesprochen werden. (1) Zunächst muss es darum gehen zu klären, welche Verortung Gumbrecht mit jener polemischen Formulierung von der ‘Abendland-Substanz-Literatur’ vornahm. Hierdurch soll der Problemhorizont deutlicher erkennbar werden, vor dem die Bewertung von ELLMA angemessen erfolgen kann. (2) Im Anschluss daran wird zu erörtern sein, welchen Weg das Schaffen des Autors bis zum Erscheinen von ELLMA genommen hatte und welchen Stellenwert dabei Reflexionen über das Mittelalter einnahmen. (3) Und zuletzt soll gezeigt werden, dass Inhalt und Form des großen Werks von 1948 als Zeugnis für ein aktives Ringen um die Differenzierung zeitgenössischer Mittelalterbilder zu verstehen ist. (1) ‘Abendland-Substanz-Literatur’: Mit unverhülltem Sarkasmus sprach Gumbrechts Neologismus die Kontuinitäten an, die zwischen dem Denken rechtskonservativer Geister der Zwischenkriegszeit und den konservativen Gegenwartsdiagnosen der Jahre ab 1945 bestanden. Denn diese – Stefan George und sein ‘Kreis’ gingen hier voran – waren überzeugt gewesen, dass sie befähigt seien, Kulturphänomene jenseits ihrer Historizität in ihrem ‘Wesen’ beziehungsweise ihrer besagten ‘Substanz’ zu erfassen. Gumbrechts Begriff unterstellte völlig zu Recht, dass zahllose literarische Erzeugnisse, die nach 1945 über das ‘Abendland’ reflektierten, diesen Denkweisen verhaftet geblieben waren und dass der unheilige Jargon der Wesentlichkeit mit ihnen in die Nachkriegsdebatte eintrat. Jene Reflexionen auf die europäische Vergangenheit, die Handlungsanleitungen für die Zukunft bereitstellen sollten, blieben den Idealen der 1920er und 1930er Jahre verhaftet: ihre Gegnerschaft gegenüber den sozialen Modernisierungsprozessen, ihr Ekel vor der vermeintlich grassierenden ‘Vermassung’ der Gesellschaft, und ihren elitär-ständischen Ideen.11
10 Beide Zitate Auerbach, ‘Rezension von Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter’, S. 330–38, S. 330 f. 11 Gumbrecht, ‘ Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit”’, S. 54. Das Zitat stammt von Otto Heuschele ” (Beitrag in Neues Abendland 1950), zitiert bei Schildt, Zwischen Abendland und Amerika: Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, S. 49. Die Einordnung von Curtius’ Buch in diesen
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In der Tat erschien bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Vielzahl von Arbeiten, die die Europäer mit dem Gestus der umfassenden historischen Sinngebung dazu mahnten, sich auf ihre ‘christlich-abendländischen’ Traditionen zu besinnen und so dem aggressiven Nationalismus der jüngsten Vergangenheit abzuschwören. Diese Texte wollten Europa als einen einheitlichen kulturellen und politischen Handlungshorizont aufweisen, indem sie an das mittelalterliche Jahrtausend erinnerten, in welchem der christliche Universalismus und überhaupt das einigende Band ‘der Kultur und der Religion’ ‘eine Überbetonung des Nationalen’ verhütet und stattdessen die Würde des Individuums angemahnt habe.12 Die Mittelalterbilder der Zwischenkriegszeit feierten in diesen Schriften fröhliche Urständ’, so viel war klar. Mit dieser Betonung ‘abendländischer’ Gemeinsamkeiten zogen die Publikationen, die in der Tat die ‘Substanz’ der abendländischen Kultur benennen wollten, zugleich innere und äußere Grenzen. Diese waren keineswegs neu, sollten in der Nachkriegssituation aber neue politische Orientierungen ermöglichen: innere Grenzen, insofern die Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozesse der Moderne durch den starken Bezug auf die christliche Tradition marginalisiert wurden – für die Apologeten des Abendlands war die Aufklärung ein historischer Sündenfall. Aber auch äußere Grenzen wurden gezogen, die die Distanzierung vom Osten und Westen zugleich anmahnten. Denn das Abendland sollte in Antithese zum Kollektivismus des Sowjetstaates und seiner Verbündeten und zugleich zur angloamerikanischen atlantischen Welt stehen, der man Materialismus, ‘Vermassung’ und allgemein Kulturlosigkeit unterstellte.13 Der ‘Bolschewismus’ und die Freiheit der westlichen ‘Formaldemokratie’ (‘eine Freiheit für beliebige Inhalte’, eine ‘rein formale Freiheit’) waren für die politischen Propagatoren der neuen Abendland-Bewegung letztlich Ausdruck des selben gottfernen ‘Nihilismus’. Die Besinnung auf die im Mittelalter bestehenden christlichen Kontext diskutiert auch Schlüter, Explodierende Altertümlichkeit. Imaginationen vom Mittelalter zwischen den Weltkriegen, S. 373 f. 12 So der Kunsthistoriker, Archäologe und Romancier Herbert Alexander Stützer (alias Herbert Alexander). Stützer, Nation, Abendland, Welt, Die Grundlagen, S. 9. Kritisch zu den landläufigen Vorstellungen vom Abendland ebd., S. 41–47, dort auch die Betonung der ‘menschlichen Persönlichkeit’ als eigentliche Mitte dieser Vorstellungen. Individualismus ist das Gegenteil des zeitgenössischen Kollektivismus, damit ist die Grenze zu den sozialistischen Staaten des Ostens klar gezogen, S. 49. Einen hohen Stellenwert nahm in der Argumentation der ‘Abendlands’Apologeten auch die Antithese von (christlich-mittelalterlichem) ‘Universalismus’ und (modernem) ‘Nationalismus’ ein, so etwa beim Chefredakteur des Neuen Abendland, Walter Ferber. Siehe zum Beispiel Ferber, ‘Geschichtliche Betrachtung zur Schuldfrage’, Neues Abendland 1/8 (1946), S. 24: ‘Die deutsche Schuld besteht im wesentlichen im Abfall von der Idee des einstigen abendländischen Universalismus, also in der Hinwendung zum modernen Gedanken des nationalstaatlichen Etatismus. Eine umfassende Untersuchung über das Schuldproblem kann daher die Frage des Zerfalls der einstigen abendländischen Völkergemeinschaft nicht außer acht lassen. In der Tat: es gibt keinen besseren Weg zur Lösung der geistigen Kriegsschuldfrage als den einer ideengeschichtlichen Untersuchung über die Entstehung der einzelnen europäischen Nationalismen. Diese Untersuchung aber erweist, daß […] ein jeder Abfall vom abendländischen politischen Universalismus mit einem solchen von der – Kirche verbunden gewesen ist.’ 13 Forner, German Intellectuals and the Challenge of Democratic Renewal. Culture and Politics after 1945, S. 68 f. mit weiteren Literaturangaben.
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Fundamente jeglicher Kultur (also auch des Staates) wurden als das gebotene Gegengift gegen die Krankheiten der Moderne beschworen: Die Neuzeit vollzog ihre Abkehr zum [sic!] Mittelalter in einer dreifachen Form: Sie verneinte erstens den Allmachtsanspruch Gottes als Schöpfer und Erlöser des Menschen. Sie wandte sich zweitens ab von der Kirche als der Trägerin dieses göttlichen Anspruchs und sie verwarf drittens alle weltliche Ordnung, welche die Tatsache der Schöpfung der Welt aus Gottes Hand zu ihrer Grundlage hatte.14 Solche und ähnliche Zeitdiagnosen erschienen etwa in der jungen Zeitschrift Neues Abendland (seit 1946), oder sie wurden auf Foren wie der Abendländischen Aktion (seit 1951) bzw. der Abendländischen Akademie (seit 1952) vorgetragen. Gumbrechts Wortschöpfung stellte ELLMA in diesen Zusammenhang. Ehrgeiziger – und damit rein äußerlich Curtius’ Buch ähnlicher – waren monographische Realisationen des ‘Abendland’-Gedankens, die auffallend häufig von Experten für vormoderne Kulturen – und hier wiederum von Katholiken – verfasst wurden.15 Auch ihre Botschaft war, dass die Ursache der ‘deutschen Katastrophe’ (Friedrich Meinecke) in der Vernachlässigung der eigenen prae- beziehungsweise supranationalen Vorgeschichte lag, und dass es jetzt gelte, sich das Verbindende wieder bewusst zu machen, insbesondere die Bindungen an das christliche Mittelalter, mithin an eine ‘idealistische’, ‘humanistische’ Weltsicht. Holistische Neuaneignungen der Vormoderne waren das Resultat, so etwa in Gestalt der Monographie Christentum und Abendland, die der Papyrologe und Althistoriker Wilhelm Schubart vorlegte (1947). Ähnlich die Geschichte der abendländischen Weltanschauung (5 Bd.e, 1947–49) von Hans Meyer; für diesen Würzburger Philosophen waren die Schrecken des 20. Jahrhunderts eine Folge aus dem ‘Ungeist des Materialismus und Intellektualismus’ an den Hochschulen sowie aus dem schwindenden ‘Glauben an eine jenseitige Welt’.16 Publikumswirksam war auch die Nachkriegsauflage von Christopher Dawsons The Making of Europe, die unter dem Titel Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit erschien (1950, zuerst 1935). Haltlose Ergüsse stehen dabei an der Seite von Arbeiten, die unbedingt ernst zu nehmen waren und viel Aufmerksamkeit auf sich zogen.17 Von anhaltender Wirkung war etwa die modernitätskritische Schrift über den Verlust der Mitte, die der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr veröffentlichte (1948) und die ähnlich wie die Apologeten
14 Kroll, Grundlagen abendländischer Erneuerung. Das Manifest der Abendländischen Aktion, die Zitate dort S. 7–10. Dazu Schildt, Zwischen Abendland und Amerika: Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, S. 47 f. 15 Wo sich die Propagatoren des ‘Abendlandes’ organisierten, trat die katholische Dominanz und das konservative und zugleich christlich-missionarische Moment besonders deutlich zum Vorschein, so etwa in der in München ansässigen Abendländischen Akademie. 16 Schubart, Christentum und Abendland; Meyer, Geschichte der abendländischen Weltanschauung: 5 Bd.e, das Zitat in der Einleitung zu dem Band über das 20. Jahrhundert, Bd. 5, S. 2. 17 Ein Beispiel für Ersteres ist der mit glühender Feder geschriebene Rundumschlag des Psychologen Revers, Persönlichkeit und Vermassung. Eine psychologische und kulturanthropologische Studie.
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des Abendlands die Entwicklungen der Moderne in ein Niedergangsnarrativ einkleidete. Zu nennen wären ebenfalls Romano Guardinis Arbeit über Das Ende der Neuzeit (1950) sowie die Studie des Österreichers Paul Koschaker über Europa und das römische Recht (1947).18 Noch schmerzhafter wirkt Gumbrechts Zuordnung, wenn man den Blick auf die unleugbaren Kontinuitäten richtet, in denen jene neuere AbendlandsRhetorik stand. Denn die unablässige Rede vom ‘Abendland’ und von ‘Europa’, das hat Per Øhrgaard in Erinnerung gerufen, musste die Zeugen der nationalsozialistischen Expansionspolitik an den Ton der Kriegspropaganda selbst erinnern. Seit den Kämpfen um Stalingrad und zumal seit der Sportpalast-Rede des Propagandaministers vom Februar 1943 hatten die Mächtigen dieselben Begriffe im Munde geführt. Publikumswirksam hatte Goebbels nicht nur seine Landsleute, sondern die gesamte ‘von einer Willens- und Geisteslähmung ohnegleichen befallene abendländische Menschheit’ gemahnt, ‘die Augen zu öffnen für die grauenerregenden geschichtlichen Gefahren, die aus dem Vorhandensein des östlichen Bolschewismus erwachsen, der ein Volk von fast 200 Millionen dem jüdischen Terror dienstbar gemacht hatte und es zum Angriffskrieg gegen Europa vorbereitete.’ Europa, so die Nazi-Propaganda, war zu schützen vor den Mächten der ‘Steppe’ – seit 1943 war die Rede von der drohenden ‘Versteppung Europas’. Die Wehrmacht wurde zur Beschützerin des Abendlandes erklärt, der SS unterstellte man eine Wandlung ‘Vom Stoßtrupp der Bewegung zur Kampftruppe für Europa’.19 (2) Ob man ELLMA gerecht wird, wenn man es in diese Kontexte einordnet? Wahrscheinlich gab es vor und nach 1948 niemals ein Buch über das Mittelalter, das sich einer so breiten Rezeption erfreute. Wer in den Philologien Rang und Namen hatte (oder sich erst einen erwerben wollte), rezensierte es gleich nach seinem Erscheinen: die Romanisten Hugo Friedrich, Paul Zumthor, Erich Köhler und vor allem Leo Spitzer und Erich Auerbach, ebenso die Germanisten Hugo Kuhn und Max Wehrli, die Latinisten Paul Lehmann, Walther Bulst und Paul Oskar Kristeller. Es wird Aufsehen erregt und doch nicht nachhaltig erstaunt haben, dass auch der Philosoph Benedetto Croce und die Dichter Rudolf Alexander Schröder und Gottfried Benn über das Buch schrieben. Einig
18 Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit; Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit; Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, siehe vor allem das Kapitel über ‘Daseinsgefühl und Weltbild des Mittealters’, S. 13–38; Koschaker, Europa und das römische Recht. 19 Øhrgaard, ‘Europa – aber wo lag es? Oder: Qui parlait Europe? Beispiele aus der frühen Nachkriegszeit’, S. 9–18, S. 14 f.; die Goebbels-Zitate nach Øhrgaard, ‘Die Zeitschrift Junges Europa. Ein Beispiel für die Europa-Propaganda der Nazis’, S. 127–31, S. 130. Die propagandistische Umdefinition der SS registrierte Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen S. 186.
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waren sich die Rezensenten in ihrem Urteil keineswegs. Croce äußerte starke Vorbehalte gegenüber dem Werk, Andere wie der Germanist Friedrich Panzer überschlugen sich fast vor Bewunderung.20 Fest stand, dass ELLMA schon als ein wissenschaftliches Ereignis galt, als es gerade erst erschienen war. Curtius selbst zeigte sich überrascht ob des enormen publizistischen Echos. Die Verwunderung darüber, dass sich der Romanist der lateinischen Literatur des Mittelalters zugewandt hatte, war zuvor schon zu spüren gewesen.21 Spitzer hatte wahrscheinlich nur ausformuliert, was viele Zeitgenossen gedacht hatten, als er schrieb: die Wendung zu dieser Materie sei für den Autor wahrscheinlich eine Strategie zur Verabschiedung aus der trüben Gegenwart des NS-Staates gewesen. Er habe Anfang der 1930er Jahre wohl geahnt, dass sich der ‘irrationalism’ und der ‘vague intuitionism’, in dem sich die Philologien und Literaturbetrachtungen seinerzeit gefielen, diese leicht zum Opfer des ‘Hitlerism’ machen würden. Daraufhin habe er Zuflucht gesucht bei jener ‘solid philology’, die er bei seinem Doktorvater Gustav Gröber gelernt, dann aber beiseitegelassen habe. Before the forces of barbarism that encircle us, Curtius has found an escape by immersing himself in the necropolis of a past that was alive as late as the eighteenth century.22 Nicht nur Gumbrecht machte sich diese Sichtweise zu eigen, auch Frank-Rutger Hausmann hielt die Arbeit an ELLMA für den Ausdruck eines ‘Rückzug[s] aus der Gegenwart’.23 Und in der Tat lebte Curtius an der Jahreswende 1933 im Bewusstsein, sich selbst glücklich aus den ‘leidigen deutschen Culturkämpfen’ gelöst und sich mit dem Engagement der vergangenen Monate das ‘Recht auf Einsamkeit und Inwendigkeit’ erworben zu haben.24 Erstaunlich war die Wendung des Bonner Romanisten schon deshalb gewesen, weil er seinen Ruhm zunächst seiner Kenntnis der europäischen Gegenwartsliteraturen zu verdanken gehabt hatte. Dass die deutsche lesende
20 Bibliographisch erfasst bei Richards, Modernism, Medievalism and Humanism. A research Bibliography on the Reception of the Works of Ernst Robert Curtius, S. 88 Nr. 219, S. 89 f. Nr. 224. 21 Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–45, Bd. 2, S. 730, zum April 1945: ‘Fachsimpeln ist schön, Fachklatschen noch schöner. Pfandl ist gestorben, Hämel ausgebombt, Gelzer in Jena bei einem Terrorangriff gefallen, Curtius hat sich ganz auf das Mittellateinische geworfen […]’. 22 Spitzer, ‘Rezension von Ernst Robert Curtius. Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter’, S. 425–31, der zitierte Satz ebd., S. 428. Ob die Arbeit an ELLMA als ein Akt der ‘inner emigration’ zu verstehen ist, diskutiert Godman, ‘Epilogue’, S. 599–653, S. 629–37. Dort, S. 630, auch Curtius’ eigene Erinnerungen an die abschreckende Hingabe der Wissenschaften an die zeitgenössischen Paradigmen Rasse, Nation und Politik [sic!] in der Zwischenkriegszeit. 23 Gumbrecht, ‘ Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit”. Ernst Robert Curtius’ unhistorisches ” Verhältnis zur Geschichte’, S. 58: ‘Die Periode dieser Versenkung in die Kultur des europäischen Mittelalters – während der Zeit des Nazismus in Deutschland’; Hausmann, ‘ Verbrenne, was ” du angebetet”. Bonner Romanisten angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung’, S. 45–70, S. 54: ‘Wie dem auch sei, die starke Hinwendung zum Mittelalter und zur spanischen und italienischen Literatur ist sicherlich auch Flucht vor der Nazigegenwart und ermöglicht dem Romanisten wissenschaftliche Tätigkeit im Elfenbeinturm der Gegenwart.’ 24 Brief an C. H. Becker vom 1. Januar 1933, Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 278, Nr. 145.
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Öffentlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg von André Gide, Romain Rolland und Paul Claudel erfuhr, lag zu einem gehörigen Teil an seinen scharfsinnigen Literaturessays. Vor allem sein Band Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich (1919) hatte ein Publikum weit über die Grenzen des literaturwissenschaftlichen Betriebs an den Hochschulen hinaus erworben.25 Bei den französischen Zeitgenossen blieb es nicht; Curtius machte auch auf Tendenzen in der neusten spanischen Literatur aufmerksam, schrieb über Hofmannsthal und George, durchaus auch über Vergil und Dante, und er erschloss seinen Lesern die vertrackten Zusammenhänge von James Joyces Ulysses und übersetzte als erster T. S. Eliots The Waste Land ins Deutsche.26 Zu vielen lebenden Schriftstellern unterhielt er brieflichen Kontakt, viele kannte und traf er persönlich, sei es in Bonn oder im Ausland. Mit einem Wort: er galt an den Universitäten schon früh als Mann, der mit den gewöhnlichen Maßstäben der zünftischen Wissenschaft nicht zu messen war. Gegen sein Werk mochte man Vorbehalte hegen,27 doch goutierten die Romanisten die Aufmerksamkeit, die dank der Curtius’schen Literatur-Essays ihrer Disziplin zuteilwurde. Vertreter der Nachbarwissenschaften seufzten, sie wären froh, sie besäßen selbst ‘ein so gutes Buch wie die Curtius’schen Wegbereiter.’28 1932, wenige Jahre nach seiner Berufung auf eine Bonner Professur, die der ‘romanischen Auslandskunde’ gewidmet sein sollte, schlug Curtius einen anderen Pfad ein, indem er sich mit seinem Buch Deutscher Geist in Gefahr in politische Debatten seiner Zeit einmischte. Was beim ersten Hinsehen wie eine polemische Schrift gegen den grassierenden Bildungsabbau seiner Gegenwart erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung zugleich als eine Stellungnahme zur aktuellen Hochschulpolitik sowie eine Auseinandersetzung mit Karl Mannheim und dem neuen Geltungsanspruch der Soziologie. Selbst wenn er Mannheims Vorstellung vom Intellektuellen als dem Träger einer ‘freischwebenden’ Intelligenz nichts abgewinnen konnte, präsentierte er sich in dieser Schrift selbst in der Rolle eines ‘public intellectual’ – und handelte sich damit die Gegnerschaft der Rechtskonservativen und der Nationalsozialisten ein. Für letztere war es ein 25 Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. 26 Anstelle von Einzelbelegen siehe die Bibliographie in Ernst Robert Curtius, Elemente der Bildung, S. 461–66. 27 ‘Popular acclaim, professional reserve’ prägte den Umgang der Fachkollegen mit Curtius’ frühem Werk. So Richards, Modernism, Medievalism and Humanism. A research Bibliography on the Reception of the Works of Ernst Robert Curtius, S. 4; Christmann, Ernst Robert Curtius und die deutschen Romanisten. Das schwierige Verhältnis des Bonner Romanisten zu seinen Fachkollegen spricht aus seinem 1952 geschriebenen ‘Rückblick’ anlässlich einer Neuausgabe seiner Essays zur französischen Literatur. Curtius, Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert: Gide – Rolland – Claudel – Suarès – Péguy – Proust – Valéry – Larbaud – Maritain – Bremond, S. 513–27, S. 523, beispielsweise die Reminiszenz an den (namentlich nicht genannten) Kollegen Eugen Lerch, der die Wegbereiter als Akt der ‘Anbiederung an die Negernation’ Frankreich bezeichnete. Dazu Christmann, Ernst Robert Curtius und die deutschen Romanisten, S. 20 f. Dass sich Curtius von ‘zünftischer’ Wissenschaft generell nichts versprach, zeigt auch seine Einschätzung der Historiker in seinem Toynbee-Essay von 1948; Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 377. 28 Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–32, Bd. 1, S. 366 (Wilhelm Dibelius im Oktober 1920).
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besonderes Ärgernis gewesen, dass Curtius sich gegen den zeitgenössischen Antisemitismus wandte, ja den Ruf des von ihm verehrten Friedrich Gundolf (1880–1931) zu wahren versuchte.29 Wohl um den politischen Eindruck von Deutscher Geist geradezubiegen und sich stärker in der Rolle des philosophischen Kulturkritikers als der des Intellektuellen zu zeigen, schrieb Curtius noch 1932 an einem zweiten Buch, das erst nach seiner Wiederentdeckung 2017 erscheinen sollte: Elemente der Bildung.30 Intendiert war es als ein Beitrag zur aktuellen Volksbildungsdebatte, es sollte ‘den Deutschen ein System der Welt” präsentieren’. Größtmögliche ” Grundsätzlichkeit war angestrebt, ‘letzte metaphysische Sätze’ wollten erschlossen werden, so vertraute der Autor seinen Korrespondenzpartnern und Lesern an. Die ‘Bildung’, von der in diesem Manuskript die Rede war, war eine genuin deutsche Sache, wie sie nur im Land Luthers hatte heranreifen können. Sie war gegenüber der klerikal dominierten Wissensgeschichte des Mittelalters ein Produkt von Säkularisierungsprozessen, und gerade deshalb war ‘Bildung’ in Deutschland mit einer eigenen Spiritualität verbunden, die sich auf die Erzeugnisse der Kunst und der Philosophie richtete. Eine Vorstellung von dieser Idee zu vermitteln und in all ihren Äußerungsformen (samt ihren Anfechtungen) vorzustellen, war der Zweck jenes zweiten Buches, das der Verfasser schnell diktiert, nur sehr oberflächlich redigiert – und dann verworfen hatte. Es ist sicher kein Zufall, dass Curtius, der ja nach der Arbeit daran noch 24 Jahre lang lebte, nie wieder auf Elemente der Bildung, dieses zweite Buchprojekt des Jahres 1932, zurückkam, dass er das vom Verlag bereits größtenteils gesetzte Manuskript nie bis zur Veröffentlichung weiterbearbeitete. Hätte er es getan, wäre es sein schwächstes Buch geworden, wie man der jetzt vorliegenden kritischen Ausgabe aus dem Nachlass unschwer entnehmen kann.31 Curtius selbst erinnerte sich später an die Phase, in der er es diktierte, als eine Zeit der Erkrankung. Im Dezember 1945 schrieb er an seinen Freund, den Dominikaner Jean de Menasce: In diesem Jahr – 1932 – wurde ich durch tiefe Erschütterungen meiner Psyche in einen Zustand von alternirenden [sic!] produktiver Spannung & schwerer Depression versetzt. Ich schrieb Deutscher Geist in Gefahr, brach dann zusammen, musste [C. G.] Jung in Zürich consultiren. Es war eine schwere Krise, in der ich später die unbewusste Anticipation des Grauens erkannte, das 1933 begann. Aus der Krise kam aber auch Heilung. Einem psychischen Zwang folgend warf ich mich auf das Studium der mittellateinischen Literatur. […] Ich konnte das geliebte und heilige Rom als Leitstern meines Forschens und Sinnens wählen. Besser gesagt: es wählte mich, den Deutschrömer. Der Weg 29 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr. Zu den Juden und vor allem zu Gundolf ebd., S. 84 f. Die Kritik der Rechtskonservativen etwa in der Zeitschrift ‘Die Tat’, zitiert bei Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, S. 130. 30 Curtius, Elemente der Bildung. 31 Dazu künftig Rexroth, ‘Rezension zu Ernst Robert Curtius, Elemente der Bildung’, Göttingische gelehrte Anzeigen (2018).
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nach Rom musste durch das Mittelalter führen, das für mich nun zugleich eine archaische Schicht meines Bewusstseins bedeutete.32 Psychisch belastend war seine Arbeit in dieser Ära schon deswegen gewesen, weil sich Curtius mit Deutscher Geist auf eine für ihn ungewohnte Weise politisch exponierte. Auch die kritischen Stimmen aus seiner Fachwissenschaft waren in der Vergangenheit nicht spurlos an ihm vorbeigegangen; doch hier nun hatte er mit einer anderen Qualität des Widerstands zu rechnen. Die vernichtende Besprechung im ‘Völkischen Beobachter’ erschien vier Wochen nach dem Brand des Reichstags, als die ‘Notverordnung’ in Kraft getreten war.33 Die große Verhaftungswelle rollte also, und ein prominenter Gelehrter, der ohne Ironie vom ‘Bluts- und Geistesadel des deutschsprechenden Judentums’ schrieb, das sich ‘zu aristokratischer, deutscher Kulturgesinnung’ bekannte, hatte durchaus Anlass zur Besorgnis.34 Aber nicht nur seine Sorge um die Einschätzung der deutschen Juden war politisch gewesen an diesem kämpferischen Buch, sondern auch sein engagierter Versuch, die Verengungen des völkischen Geschichtsbildes zu bekämpfen, und hier standen die Bilder vom Mittelalter im Mittelpunkt. Stein des Anstoßes war für ihn, dass die völkischen Autoren (zu denen sich zu seinem Leidwesen bald sein Bonner Kollege und Verbündeter Hans Naumann gesellen sollte) nur das, was sie für germanisch hielten, als Teil der deutschen Geschichte gelten ließen. Viele Aspekte des literarischen Lebens, die man als ‘Renaissancen’ zu fassen versuchte, erachteten sie als gefährdende Kontaminationen eines in seinem Kern germanischen, ‘heldischen’ Deutschtums.35 Ganz besonders schmerzhaft spürbar wurden für ihn diese Tendenzen dort, wo der europäische Humanismus als eine fremde, undeutsche Macht betrachtet wurde. Weit verbreitet ist bei uns heute noch eine romantische Auffassung vom deutschen Volkstum und vom deutschen Mittelalter, die sich gegen die humanistische Prägung unserer Geschichte wendet. Die neueren Mittelalter-Bilder, die derzeit Verbreitung fanden, seien so sehr auf Autochthonie und Homogenität versessen, dass sie meinten, auch Phänomene wie beispielsweise die Mystik als ‘ausländisches Gewächs’ aussondern zu müssen. Dabei habe das deutsche Mittelalter nachweislich ‘keine gemeinsame nationale
32 Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 458 f. Nr. 251 (1945/Dez/22). 33 Abgedruckt in Curtius, Elemente der Bildung, S. 505–08. Sie stammte von Hermann Sauter und erschien in der Ausgabe 1933/Mrz/24. Zu Sauters Nachkriegskarriere als Bibliothekar ebd., S. 505 Anm. 1. 34 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 85. 35 So die Charakterisierung seiner Position in Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 468 Nr. 257 (Brief an Friedrich Panzer von 1946/Aug/9). Hans Naumanns Begeisterung für das Nibelungenlied beispielsweise rührte daher, dass er dieses als ‘das reine Fortleben Altgermaniens’ ohne die Verwässerungen der übrigen mittelhochdeutschen Epik verstand. Zu Naumann auch der editorische Kommentar auf S. 196 f. zu Nr. 94.
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Kultur besessen’, wie er im Anschluss an Konrad Burdach schrieb. Und er beklagte die Folgen dieses Irrtums: So fügen wir all den andern Formen innerdeutscher Zwietracht, unter denen wir leiden, noch diese künstliche, sinnlose Spaltung im Lager unserer eigenen Bildung hinzu.36 Curtius stellte sich dieser Tendenz, die ‘mittelalterlichen’ und die ‘humanistischen’ Elemente der deutschen Geschichte gegeneinander auszuspielen, vehement entgegen, ermutigt von den Leistungen der aktuellen US-amerikanischen Geschichtwissenschaft, die sich in dem neuen Organ Speculum niederschlugen, angeregt von Charles Homer Haskins und der entspannten Selbstverständlichkeit, mit der man in Amerika die sinnenfrohe Latinität der Vagantendichtung als irreduziblen Bestandteil mittelalterlicher Kultur behandelte.37 ‘Renaissance’, ‘Humanismus’ und auch ‘Mystik’ waren eben keine gegen ein ‘deutsches Mittelalter’ wirkenden Kräfte, sondern Dispositionen, die sich in der europäischen Geschichte immer wieder Geltung verschaffen sollten. Und die deutsche Geschichte war ein Bestandteil jener sinnlichen und zugleich intellektualistischen Kultur. Man durfte die Größen nicht gegeneinander ausspielen, sondern musste im Gegenteil den europäischen Humanismus vom Mittelalter aus verstehen.38 Und die deutschen sowie die französischen, englischen und spanischen Ausprägungen dieser Kultur unterschieden sich allenfalls nach den Mischungsverhältnissen, in denen sich Christliches, Antikes und Germanisches, durchaus auch Jüdisches und später beispielsweise Aufklärerisches verbanden. Sie blieben ‘Gemeinbesitz europäischer Erfahrung’, und jeder Versuch, sie selektiv als ‘westliche Ideen’ abzutun, verbot sich von vornherein. Dies war seine Überzeugung: dass sich die europäischen Kulturen nur in der Dichotomie von ‘Einheit’ (gemeinsame römische Grundlage) und ‘Differenz’ beziehungsweise ‘Hybridität’ verstehen ließen. Die Mischungsverhältnisse derselben kulturellen Impulse waren verschieden, aber nur dort, wo diese aufeinandertrafen, entstand Neues.39 Der geniale Spanier José Ortega y Gasset, der nach Marburg kam (‘ich kleiner Keltiberer, aufgewachsen auf einer öden mittelmeerischen Hochebene’), um – in seinen Worten – ‘den spanischen Geist
36 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, die Zitate S. 30 f. 37 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 12 Anm. 2 und vor allem S. 126 f., Anm. 12. 38 Diese Position sollte von den zeitgenössischen Vertretern eines ‘dritten Humanismus’ angefochten werden. Anders als der Renaissancehumanismus und die neuhumanistische Bewegung des 19. Jahrhunderts sollte jener neue Humanismus ‘modern’ und an Gegenwartsproblemen ausgerichtet sein. Dem stand die Betonung der mittelalterlichen Konditionierungen des europäischen Humanismus selbstverständlich entgegen. Siehe dazu [Anonymus], ‘Rez. von Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr’, 2*–6*, deren Autor wahrscheinlich Werner Jaeger war. Erläuterungen dazu bei Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 279 zu Nr. 145. 39 Differenzierung der europäischen Kulturen und die Abwehr aller monolithischen Vorstellungen war ihm daher ein sehr wichtiges Anliegen. Gewährsleute waren dabei für ihn Konrad Burdach und kurioserweise ‘die geniale Forschertätigkeit Josef Nadlers’. Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 31, 22.
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mit dem Sturzbach des germanischen Gedankenschatzes zu bereichern’, war der lebende Beweis für diese Dialogik von Einheit und Differenz.40 Man sieht: das Thema von ELLMA war gesetzt, und Curtius verstand es als ein eminent politisches Thema. ‘Unsere Nationalisten sind sehr kurzsichtig, wenn sie eine antirömische, antisüdliche, antiwestliche Stimmung erzeugen […]’.41 Die Renaissance des 12. Jahrhunderts zeige beispielsweise, in welchem Ausmaß sich Europäisches nur als Amalgam aus sich wechselseitig stimulierenden Größen verstehen ließ.42 Mit Blick auf die Propagatoren eines ‘neuen Mittelalters’ hielt er fest: Nur aus der weitesten Sicht ist das Bildungsprinzip des Humanismus zu begreifen. Und diese Sicht ist vielleicht erst heute möglich. Zunächst finden wir: der Humanismus erscheint in allen Zeitabschnitten und auf allen Schauplätzen unserer abendländischen Geschichte. Er muß also ein Wesensmerkmal des Europäismus sein. Er kann sich mit dem Geist des Mittelalters wie mit dem der Renaissance, der Reformation, der Aufklärung, der Klassik verbinden. Aber er ist etwas durchaus Eigenes. Er geht in diese geschichtlichen Ereignisse ein, ohne sich in ihnen zu erschöpfen. Er würde auch in einem ‘neuen Mittelalter’, das uns von mancher Seite angekündigt wird, seinen Platz finden.43 Man hat Deutscher Geist trotz dieser aufgeklärten Sichtweise als ‘ein verworrenes Buch in verworrener Zeit’ (Karlheinz Stierle) beurteilt, das Auskunft gebe ‘über den Zustand des deutschen Geistes, bevor er sich der Barbarei auslieferte’.44 ‘Verworren’ bedeutete hier: Gründend in respektablen Anliegen wie dem Versuch, den Fehdehandschuh gegen den zeitgenössischen kulturellen Nationalismus aufzunehmen und zu diesem Zweck die Hybridität sämtlicher europäischer Kulturen zu betonen; zugleich aber auf Denkformen zurückgreifend, deren Nähe zum Ungeist der Zeit bedenklich ist. Die vielen modernitätskritischen Bemerkungen zu Jazz und Expressionismus, zu Parlamentarismus und zur modernen Wissenschaft, zum vermeintlichen ‘Demokratismus’ und ‘Soziologismus’ der Gegenwart kann man nicht übersehen. Liest man dann die Elemente der Bildung, sein zweites Manuskript des Jahres 1932, erscheint Curtius sogar noch konservativer, ja geradezu chauvinistisch.45 Auch hier spielten Mittelalter und Christentum eine prominente Rolle, wenn es darum ging, Aussagen zur Gegenwart mit treffenden Beispielen und Analogien zu belegen, und doch war es hier anders in die Argumentation des Autors eingebunden. Das christliche Mittelalter fungierte hier als Argument gegen die
40 Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 274. 41 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 47. 42 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 64. 43 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 104f. 44 Zitiert in Elemente der Bildung, S. 299 und 426 Anm. 24. 45 Dazu ausführlicher Rexroth, ‘Rezension zu Ernst Robert Curtius, Elemente der Bildung’.
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irrigen zeitgenössischen Auffassungen von der ‘Gleichwertigkeit aller Formen organischen Lebens’, die man im wissenssoziologischen Sinne als Demokratismus zu bezeichnen hätte. Das Christentum stellt ihr die Lehre von der Stufung der Gestalten und der Werte entgegen. Für alles christliche Denken muß es, wenn es sich recht verstehen will [sic!], also auch eine Hierarchie der Lebensreiche [sic!] geben, so daß das jeweils Wertniedrigere dem jeweils Werthöheren aufgeopfert werden darf.46 Soziale Harmonie durch die Stabilisierung von Ungleichheit, durch die Abstufung von Ständen nach Maßgabe ihres Wertes – dies war eine der Kernüberzeugungen des Autors, und mittelalterliche Kultur symbolisierte in dieser Hinsicht eine bessere Welt. Es ist kein Zufall, dass Curtius früh im Text der Elemente auf die mittelalterlichen Bauhütten zu sprechen kam, auf die ‘Genossenschaft der Baukünstler und Bauhandwerker’. Denn diese, so meinte er, hatten sich ihre eigenen Gesetze geschaffen, wahrten esoterisch die Regeln des Bauens als ‘Kunstgeheimnis’ – und entsprachen damit seiner Idealvorstellung der künstlerischen, quasi-ständisch geschiedenen Avantgarde der Wissenden.47 Gerade der Straßburger Münsterbaumeister Erwin von Steinbach diente dabei als Argument, ließ sich doch über ihn eine Brücke zu Goethe und seinem Baukunst-Aufsatz und damit zur idealen Bedeutung des Künstlers für die Formung von Kulturen schlagen. Dieser Elitarismus, die Überzeugung, dass sich Kulturen nur in Phasen voran entwickelten, in denen genial veranlagte Einzelne oder Gruppen von Avantgardisten (die er 1932 unbefangen ‘Führer’ nennt) Einfluss auf die Mehrheitsgesellschaft zu gewinnen vermochten, blieb Curtius zeitlebens erhalten. ‘Ich halte es für ein soziologisch erwiesenes Factum’, so hatte er schon 1926 in einem Brief an Carl Heinrich Becker geschrieben, daß neue Bildungs- und menschliche Gestaltideale sich immer nur in der Weise durchsetzen, daß eine kleine Elite von Führern sie zuerst erfaßt und verwirklicht und daß sie sich erst von da aus ausbreiten. Das ist der aristokratische Weg: der von oben nach unten. Einen umgekehrten Weg kann ich mir nicht vorstellen.48 Früh hatte er sich in solchen Gedanken, die etwa sein Denken über die gegenwärtige Situation an den deutschen Hochschulen bestimmte, von Henri Bergson und Max Scheler bestärken lassen. Begeistert hatte er auf die Philosophie der ‘Massen’ und der ‘exzellenten Minderheiten’ reagiert, die José Ortega y Gasset in der Zwischenkriegszeit popularisierte.49 Nach dem Ende des Zweiten 46 Curtius, Elemente der Bildung, S. 80. 47 Curtius, Elemente der Bildung, S. 17 f. 48 Zit. in Curtius, Elemente der Bildung, S. 259. 49 Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, dort, S. 73–78, im Kapitel über die Universitäten der Abschnitt zu ‘Masse und Elite’. Zur Bedeutung Schelers für ihn Curtius, Elemente der Bildung, S. 312; zu Toynbee siehe sein Essay Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 347–79. Ebd., S. 350: Er findet bei Toynbee wieder, was er von Bergson kennt. José Ortega y Gasset, Aufstand der Massen.
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Weltkrieges sollte er eifrig Gedanken aufgreifen, die er in Arnold Toynbees Monumentalwerk vorfand. Kulturwachstum, schöpferisches Werden, werde ‘entbunden durch geistiges Geschehen’:50 Das ist möglich, ja notwendig, weil die schöpferische Einzelperson – zuhöchst der Genius und der Mystiker – für Toynbee der Träger des Kulturwachstums ist. ‘Alle Akte sozialer Schöpfung sind das Werk entweder individueller Schöpfer oder schöpferischer Minderheiten’. Dieser Satz faßt ein Hauptstück von Toynbees Lehre zusammen. Die Bilder vom Mittelalter, die Curtius vor ELLMA in seine Gegenwartsdiagnosen, seine kulturkritischen und essayistischen Schriften einfließen ließ, waren folglich ambivalent: auf der einen Seite differenziert in der Bewertung der Synkretismen aus Antik-Paganem, Christlichem und ethnisch Zuschreibbarem, die jede simplifizierende Indienstnahme ausschlossen; auf der anderen Seite und zur selben Zeit leicht einzusetzen als Waffen im Dienst der zeitgenössischen Kulturkritik. Inwiefern kommen sie in ELLMA, dem großen Werk von 1948, tatsächlich noch zum Einsatz? (3) Zwischen dem Erscheinen von Deutscher Geist und dem Monumentalwerk von 1948 lagen 16 Jahre der Meditation über die literarische Tradition Europas von Vergil bis Dante, versehen mit Rückgriffen bis zu Homer und Ausblicken über Goethe hinaus bis zur Gegenwart, wie sie für diesen Autor charakteristisch waren. Zugleich hatten Entdeckungen und Neujustierungen den Schreibprozess begleitet. Die Bände des Historikers Toynbee hatte Curtius gierig aufgesogen, und Toynbee war zu seiner neuen Leitgröße geworden, ja er hatte nach Kriegsende Ortega y Gasset als primäre Referenz verdrängt. Dies bekam der Spanier zu spüren: Die Historie und nicht mehr die Philosophie sollte zur Verbündeten künftiger Philologie werden.51 Zugleich war die kritische Distanz zur eigenen Wissenschaft gewachsen: Die ‘Literaturwissenschaft’, dieses moderne Unding, war auf dem Holzweg; nur die Philologie, wie sie sein lange verstorbener Lehrer Gröber betrieben hatte, wahrte die Einheit und die Autonomie ihres Gegenstands, schaffte es, literarische Werke an literarischen Maßstäben zu messen und dennoch als Träger dauernder, außerliterarischer Ideen zu begreifen. Die Überlieferung verlangte nach historischer und philologischer Bestimmung. Die Werke, die im Zentrum von ELLMA standen, reflektierten auf ihre zeitgenössische Wirklichkeit und erwiesen sich dennoch als Träger von Gedanken, 50 Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 347–79, S. 349f. 51 Curtius überwarf sich wegen dieser Sichtweise auch mit Karl Jaspers. Dazu Helmut Fuhrmann, Sechs Studien zur Goethe-Rezeption, S. 83–122. Curtius erhob – in seinen eigenen Worten – ‘Widerspruch des geschichtlichen Denkens gegen den von der Philosophie beanspruchten Primat’; so in einem Brief an Jaspers vom April 1947. Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 486 Nr. 266. Zum Verhältnis zu Ortega siehe Anm. 693.
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die weit in die Vergangenheit reichten und in dieser Dimension für die Einheit der europäischen Kultur standen. Dies an der mittellateinischen Literatur zu zeigen, war richtig und zeitgemäß; denn die Kultur des Mittelalters – davon war er überzeugt – könne auch nicht ansatzweise verstanden werden, solange ihr wertvollstes Medium so wenig bekannt sei.52 Eine weitere Motivation dazu, dieses Werk in Angriff zu nehmen, stand unausgesprochen im Hintergrund: Ein solches Buchprojekt gab Anlass zu exzessivem Lesen, für Curtius eine ebenso planmäßig wie lustvoll geübte Tätigkeit für den Tag und für die Nacht.53 Auf die Lektüre folgte das Verschriften von Passagen. Wie schon die vorangegangenen Monographien, wuchs auch das neue Werk eher kompilatorisch als kompositorisch, fügte sich bereits Geschriebenes mit seinen Ergänzungen zu labyrinthischen 18 Kapiteln und 25 Exkursen, die man im Grunde in jeder beliebigen Reihenfolge lesen konnte und die auf kein benennbares Ende zuliefen. Eine chronologische Ordnung des Materials schien undenkbar zu sein, ja sie hätte sogar das Kernanliegen von ELLMA desavouiert. Hätte der Autor noch mehr Zeit mit der Vorbereitung zugebracht, wären es 20 oder auch 30 Kapitel geworden, und weitere Exkurse wären sicher auch entstanden. Kritiker sollten ihm dies vorhalten, beklagten sie doch die chaotische Anlage und den Mangel an Einheit, erinnerten ihn an Ortega y Gassets Leitprinzip, nach dem auch ein wissenschaftliches Buch immerhin noch ein Buch sein müsse.54 Der Epilog von ELLMA lieferte eine Scheinerklärung: ‘Nicht logische Disposition, sondern thematische Verfugung’ bestimme den Aufbau des Werks. ‘Die Verwebung der Fäden, die Wiederkehr der Personen und Motive in verschiedenen Mustern spiegelt die Verkettung der historischen Bezüge.’55 Das war kokett, denn ähnlich hatte er seinen Lesern viele Jahre zuvor die labyrinthische Struktur von Joyces Ulysses erklärt!56 ELLMA, Resultat einer patchwork-Arbeitsweise, war das angestrebte opus magnum eines unermüdlichen Leser-Entdeckers von schier
52 Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 22. 53 ELLMA ist noch nicht erschienen, als der Verfasser sich bereits neue Wissensfelder lesend aneignen will: den Orient und die modernen Naturwissenschaften; Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 456 f. Nr. 250, S. 517 beziehungsweise 524. Nach dem Erscheinen wendet er sich einer Gesamtbetrachtung der Chansons de Geste zu; ebd., S. 530 Nr. 291. Ebd., S. 488 zu Nr. 267: ‘Jetzt ziehe ich auch das Englische wieder in meinen Kreis und habe soeben den ganzen Shakespeare durchgelesen. Dann lockt mich Aristoteles und vieles andere aus der Antike, was ich noch nicht kenne. Ich bin für Jahrzehnte mit den interessantesten Studien versorgt. Damit hat auch eine neue Aera meiner wissenschaftlichen Produktion begonnen. Ich hoffe mein Buch in diesem Sommer fertig zu machen und es im Herbst in Druck geben zu können.’ (An Ludwig Curtius, Mai 1947). 54 Richards, Modernism, Medievalism and Humanism. A research Bibliography on the Reception of the Works of Ernst Robert Curtius, S. 83 Nr. 203 ( J. Marouzeau), S. 88 Nr. 221 (P. O. Kristeller). Maria Rosa Lida de Malkiel, zitiert bei Godman, ‘Epilogue’, S. 649: ‘Un libro de ciencia tiene que ser de ciencia; pero también que ser un libro.’ 55 Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 385. 56 Ernst R. Curtius, James Joyce und sein Ulysses. Godman, ‘Epilogue’, S. 652, verweist im selben Sinn auf seine frühen Essays zu Eliot und Proust. Verbindungen des jungen und des alten Curtius auch bei Christmann, Ernst Robert Curtius und die deutschen Romanisten, S. 10 Anm. 27.
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unbegrenzter Arbeitskraft und Gedächtnisleistung. Es gehörte sich in der Wissenschaft, so meinte Curtius, als sexagenarius ein Lebenswerk vorzulegen.57 Das Bild vom Mittelalter, das der Autor in seinem Werk präsentierte, war dasjenige, das er schon in Deutscher Geist beschworen hatte. Es galt zu zeigen, wie die europäischen Nationalliteraturen in ihren Grundmustern, im Hinblick auf Denkformen und Imaginarien, aus identischer Wurzel erwachsen waren und über den Gebrauch jenes sprachlichen Bildervorrats wissentlich-unwissentlich miteinander kommunizierten. Die Binnendifferenzierung der Philologie nach modernen Sprachen verhinderte die Einsicht, dass es sich bei Europa um eine jener ‘Sinneinheiten’ handelte, die für Toynbee die Weltgeschichte ausmachten, und dass die lateinische Literatur des Mittelalters der Speicher ihrer Imaginarien war.58 Angesichts der Bedeutung, die die Sehnsucht nach einem ‘neuen’ Mittelalter für die politische Selbstvergewisserung der jungen Intelligenz gehabt hatte, betrachtete Curtius seinen Gegenstand als durch und durch gegenwartsrelevant. Das Mittelalter stand für ihn im Zentrum eines großen, die Moderne mit einbegreifenden Zusammenhangs. Jede Lektüre und jede rélecture europäischer Autoren bekräftigte ihn in dieser Überzeugung, denn deutlicher als Andere erkannte er die Spuren der Vergangenheit in den Werken der Gegenwart. T. S. Eliots Dichtung, so sah er, war genährt ‘mit dem Mark der Spätlateiner’,59 Verlaine erinnerte an das fremde, nebelhafte Byzanz.60 Dass Joyces Antiheld Leopold Bloom ein Jedermann in der Tradition mittelalterlicher Mysterienspiele war, lehrte er die Leser zu sehen.61 Die Grundlagen für ein verbessertes Verständnis der mittellateinischen Literatur zu legen, hieß für ihn, der Moderne zu einer vertieften Reflexionsfähigkeit zu verhelfen.
57 Als er beklagte, dass Ortega y Gasset es offenbar nicht schaffte, seine Philosophie zu einem großen Buch zu vereinen, spielte er damit freilich auf sein eigenes Vorhaben an. Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert, S. 172, zit. im Kommentar zu Nr. 80: ‘Ortega ist jetzt 62. Da wäre es Zeit, ein bleibendes Grundwerk zu schaffen!’ Ebd., S. 548–50, Nr. 302, zum Verhältnis der beiden. 58 Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 24. 59 Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, S. 302. 60 Curtius, Büchertagebuch, S. 43 61 Curtius, James Joyce und sein Ulysses, S. 25.
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Klaus Ries
Wahrheit und Objektivität in der historischen Erkenntnis Problemlinien mit offenen Enden In einer theologischen Kontroverse aus dem Jahre 1777 meinte Gotthold Ephraim Lessing: Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.1 Lessing drückte ein Grundbedürfnis der Aufklärung – die Suche nach und nicht der Besitz von Wahrheit – aus, und er war damit seiner Zeit weit voraus, zum Teil weiter als manche Stimmen in der heutigen Geschichtswissenschaft, die immer noch ‘Die Wahrheit der Historiker’ suchen.2 Wahrheit und Objektivität stellen zwei Kategorien dar, welche die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsschreibung von ihrem Anbeginn beschäftigten.3 Es sind beides regulative Ideen, die den Umgang mit der Vergangenheit wissenschaftlich kontrollieren und auch disziplinieren sollen. Der Historiker respektive die Historikerin ist gehalten, seine / ihre Tätigkeit an Wahrheit und Objektivität auszurichten, ansonsten verkommt sein oder ihr Geschäft zur Unwissenschaftlichkeit. Wahrheit und Objektivität haben es mit Wissenschaftlichkeit zu tun, sind aufs engste verbunden mit dem Begriff von Wissenschaft (sei es Natur- oder Geisteswissenschaft). Ja man kann sagen: Wahrheit und Objektivität sind die zentralen Kategorien von Wissenschaft überhaupt. Umso mehr verwundert es, dass unter Historikerinnen und Historikern bis heute kein Konsens über die Bestimmung beider Kategorien besteht. Die einen glauben, dass man die historischen Quellen nur so getreu wie möglich nachzuerzählen brauche, um an die Wahrheit des Geschehenen heranzukommen; 1 Lessing, Über die Wahrheit (1777) (http://gutenberg.spiegel.de/buch/-9780/1, Zugriff 28.1.2018). 2 Paravicini, Wahrheit der Historiker. 3 Dazu jetzt den Überblick seit der Antike bei Weber, Klassiker der Geschichtsschreibung, S.11–31.
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 267–85. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.117999
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und die anderen denken, dass es gar keine Wahrheit und Objektivität geben könne, weil alles, was wir betrachten, immer schon durch unseren Blick und unsere Perspektive so sehr verzerrt sei, dass es nichts mehr mit der Wahrheit des vergangenen Geschehens zu tun habe – dass man mithin am besten gleich ganz auf den Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch (auch als einer regulativen Idee) verzichten solle. Es gibt mittlerweile – aus der Philosophie kommend – noch eine dritte Variante, die behauptet, dass wir in der Tat nur das sehen, was unsere subjektive Perspektive zulässt, dass aber genau dies eben die ‘Wahrheit’ sei, weil wir nicht mehr erkennen können und das Kantsche ‘Ding an sich’ überhaupt nicht existiere.4 Wir werden dieses prinzipielle Problem hier an dieser Stelle nicht lösen können (vielleicht ist es auch gar nicht zu lösen und vielleicht liegt gerade in seiner Unlösbarkeit ein nicht zu unterschätzendes Potential, das die Geschichtswissenschaft bislang nicht genügend ausgeschöpft, ja noch nicht einmal erkannt hat). Was wir hingegen aus historischer Perspektive tun können, ist, Problemlinien offenzulegen, die bereits in der Vergangenheit diskutiert wurden und die noch bis in die Gegenwart hineinreichen, ohne dass sie gelöst wären. Ich möchte im Folgenden drei, meines Erachtens entscheidende erkenntnistheoretische Problemlinien mit offenen Enden aufzeigen, in der Hoffnung, auf diese Weise etwas mehr Sensibilität für den Gebrauch von Objektivität und Wahrheit in der historischen Erkenntnis zu wecken. Schon Friedrich Nietzsche hat sich dieses Problems eingehend angenommen und auch bis heute gültige, in der deutschen Geschichtswissenschaft jedoch kaum zur Kenntnis genommene Diagnosen geliefert. In seinen ‘unzeitgemäßen Betrachtungen’ aus dem Jahre 1874, welche die erste umfassende Kulturkritik nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs lieferten, behandelte Nietzsche sowohl das Problem der Objektivität in der Geschichtswissenschaft als auch das Problem der Wahrheit in den Wissenschaften überhaupt. Das erste Problem wird behandelt in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung ‘Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben’5 und das zweite in der dritten Betrachtung ‘Schopenhauer als Erzieher’.6 Schauen wir uns kurz an, was Nietzsche dazu sagt. Es lohnt sich – immer noch. Die zweite unzeitgemäße Betrachtung will deutlich machen, warum die Historie, also die Wissenschaft von der Geschichte, mehr Nachteil als Nutzen für das Leben habe und wie sie wieder mehr Nutzen erreichen könne, indem sie nämlich aufhöre, Wissenschaft zu sein und in der Form einer monumentalistischen (=belehrenden), antiquarischen (=bewahrenden) und kritischen (=die Vergangenheit verurteilenden) Historie wieder dem Leben dienen solle. Hinter dieser Forderung verbarg sich eine kaum versteckte Kritik an der
4 Das ist das Programm beziehungsweise genauer das ‘Manifest des Neuen Realismus’, wie es der Bonner Philosoph Markus Gabriel im Verbund mit seinem italienischen Kollegen Maurizio Ferraris an einem lauen Sommertag, wie sie angeben, in Neapel im Jahr 2011 entworfen haben, vgl. Gabriel, Der Neue Realismus, 2014. 5 Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 209–87. 6 Ebd., S. 287–367.
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Geschichtsschreibung Leopold von Rankes, der ja der Historie gerade nicht ‘das Amt, die Vergangenheit zu richten’ und nicht das Amt, ‘die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren’, beimessen, sondern bekanntlich ‘bloß zeigen’ wollte, ‘wie es eigentlich gewesen’ (im besten Falle also im Sinne Nietzsches eine ‘antiquarische’ Geschichtsschreibung betrieb).7 Nietzsche kritisierte vor allem den Anspruch auf Objektivität, den die Historiker in der Nachfolge Rankes erhoben und der eine bloße ‘Illusion’, ja ein ‘Unsinn’ sei, weil er nie funktionieren könne, sondern nur in die Irre, das heißt zu keinerlei Erkenntnis von Zusammenhängen und Bedeutungen führe: Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objektivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereignis in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, daß es auf sein Subjekt gar keine Wirkung tut: man meint jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner, oder auf bewegter See sein inneres Bild schaut, man meint das völlige Versunkensein in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, daß das Bild, welches die Dinge in einem solchermaßen gestimmten Menschen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. Oder sollten sich in jenen Momenten die Dinge gleichsam durch ihre eigene Tätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographieren?8 Deswegen war Ranke für Nietzsche ‘der beschönigende Advokat der Thatsachen’,9 den sich die Deutschen zu Gute rechnen können als ihren ‘gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior’, als ihren ‘klügsten aller klugen Thatsächlichen“’.10 An ” anderer Stelle wurde Nietzsche – was das Objektivitäsideal betraf – noch deutlicher: ‘Objectivität des Historikers’ ist ein Unsinn. Man meint, es bedeute, dass ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein angeschaut werde, dass es keine Wirkung mehr thut, nämlich ein reiner intellectueller Process bleibt: wie die Landschaft für den Künstler, der sie nur darstellt. ‘Interesseloses Anschauen’, ein ästhetisches Phänomen, Abwesenheit aller Willensregungen. Mit ‘objectiv’ ist also ein Zustand im Historiker gemeint, die künstlerische Beschaulichkeit: ein Aberglaube aber ist es, dass das Bild, das die Dinge in einem solchermassen gestimmten Menschen zeigen, das wahre Wesen der Dinge offenbare.11 Nietzsches Generalverdikt galt dem Objektivitätsideal Rankes, das in der deutschen Historie bis heute grosso modo seine Gültigkeit und hohe Wertschätzung besitzt
7 Vgl. von Ranke, ‘Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514’ (1824), zitiert nach Sämtliche Werke, 2. Gesamtausgabe, Bd. 33/34, S. VII. 8 Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 246 f. 9 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Neue Folge 1885, Gruppe 41 [16], in digital critical edition: http:// www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1885,41[16]. 10 Nietzsche, ‘Zur Genealogie der Moral’ (1887), in Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 878. 11 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Neue Folge 1873, Gruppe 29 [96] in digital critical edition: http:// www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1873,29[96].
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(‘Das Offenstehn mit allen Türen, das untertänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Tatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen, Sich-hinein-Stürzen in andere und anderes, kurz die berühmte moderne ‘Objektivität’ ist schlechter Geschmack, ist unvornehm par excellence’, wie Nietzsche gleichermaßen die objektivistische Methode der Naturwissenschaft seiner Zeit kritisierte12). Ich werde auf diese Problemlinie zurückkommen. Nietzsche setzte der Objektivität oder – wie er es nannte – ‘dieser objektiv sich gebärdenden Gleichgültigkeit’ die ‘Gerechtigkeit’ entgegen, an welcher sich jeder Historiker zu orientieren habe, statt Objektivität und Wahrheit zu suchen.13 Aber auch in diesem Falle kritisiert Nietzsche die (vor allem aufgeklärt-liberalen) Historiker, die sich als ‘Richter aller früheren Zeiten und Generationen’ aufspielen und Werturteile fällen, die ihnen nicht zustehen: Wer zwingt euch zu richten? Und dann – prüft euch nur, ob ihr gerecht sein könntet, wenn ihr es wolltet! Als Richter müßtet ihr höher stehen als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid. Die Gäste, die zuletzt zur Tafel kommen, sollen mit Recht die letzten Plätze erhalten: und ihr wollt die ersten haben?14 Die Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit der Aufklärungshistorie, die Vergangenheit an ihrer eigenen Gegenwart zu beurteilen, ja zu verurteilen, hat ebenfalls eine lange Traditionslinie, die – wenn man so will – ‘von Göttingen nach Bielefeld’ führt und gleichsam eine Sackgasse darstellt, in welche die deutsche Historie hineingeraten und lange Zeit nicht herausgekommen ist.15 Auch auf diese Problemlinie ist noch zurück zu kommen. Nietzsche empfahl am Ende seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung (dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt) zwei ‘Gegenmittel’ gegen das ‘verzehrende historische Fieber’,16 an welchem seine Zeit leide, nämlich: ‘das Unhistorische und das Überhistorische’, das heißt im ersten Fall ‘die Kunst und Kraft, vergessen zu können’ und mit dem zweiten meint er ‘die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt, zu Kunst und Religion’.17 Die Wissenschaft hingegen hält ‘nur die Betrachtung der Dinge für die wahre und richtige’, sieht ‘überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges’ und wirft ‘den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens’, in dem er nicht leben könne.18 Daher zielte Nietzsches Grundsatzkritik auf die Aufgabe der Historie als Wissenschaft, damit sie wieder in der oben genannten dreifachen Form dem Leben dienen 12 Nietzsche, ‘Götzen-Dämmerung’, in Nietzsche: Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 987. 13 Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 248 f. 14 Ebd., S. 249. 15 Dazu ganz pointiert Oexle, ‘Einmal Göttingen – Bielefeld einfach: auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft’, 1992 (Nr. 74), S. 54–66. 16 Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, Vorwort. 17 Ebd., S. 280 f. 18 Ebd., S. 281.
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könne. Nietzsches zentrale Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben hat die Historikerzunft bis heute relativ wenig interessiert. In seiner dritten unzeitgemäßen Betrachtung über ‘Schopenhauer als Erzieher’ ging Nietzsche auf das Problem der Wahrheit beziehungsweise den Anspruch der Wissenschaften (der Natur- und Geisteswissenschaften) auf Wahrheit ein. Die vorgebliche Funktion des Wissenschaftlers als eines ‘Dieners der Wahrheit’ sei – so Nietzsche – in Wirklichkeit angeregt von einer ‘Menge kleiner sehr menschlicher Triebe und Triebchen’, von der ‘Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss’, von ‘Eitelkeit’ und ‘Spieltrieb’, ja vom elenden ‘Motiv des Broderwerbs’ und schließlich und vor allem von der Sucht nach Macht und Stellung im wissenschaftlichen Betrieb:19 Der Wahrheit wird gedient, wenn sie im Stande ist, zu Gehalten und höheren Stellungen direkt zu befördern, oder wenigstens die Gunst derer zu gewinnen, welche Brod und Ehren zu verleihen haben.20 Nietzsche wird dies später bekanntermaßen zu seiner These vom absoluten ‘Willen zur Macht’ ausbauen und noch einmal zuspitzen:21 Während die Historiker ‘lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens’ beschäftigen, verkennen sie völlig die ‘Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens’; denn ‘das Wesen des Lebens’ sei ‘sein Wille zur Macht’ und dieser Wille wiederum bestimme nicht nur ‘die Geschichte’, sondern auch ‘die Geschichte ihrer Deutungen’.22 Diese These vom ‘Wille(n) zur Wahrheit’ als dem ‘Willen zur Macht’ hat wiederum in den 1970er Jahren Michel Foucault stark gemacht und als ein durchgängiges Diskursprinzip seit der Antike freigelegt und mit all seinen Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung wie seinem Geflecht von sozialen Praktiken und institutionellen Verankerungen beschrieben,23 ohne dabei jedoch mit zu bedenken, dass er damit – trotz seiner bewusst gewählten ‘unkonventionellen’ Sprache – selbst einen ‘Macht-Diskurs’ reproduzierte, wie die epigonenhafte und zum Teil gänzlich unkritische Rezeptionsgeschichte der Foucaultschen Diskurstheorie bis heute überdeutlich belegt. Aus der ‘Ordnung des Diskurses’24 ist – ganz entgegen der Intention des Autors – längst eine ‘Ordnung der Macht’ geworden, die nur eingeschworenen Gemeindemitgliedern zugänglich ist. Die eigentliche Absicht Nietzsches, den sogenannten wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff und Wahrheitsanspruch als politisch-gesellschaftlichen und innerwissenschaftlichen Machtwillen zu dekuvrieren, ist dabei ins Hintertreffen geraten (auch weil er ein erhebliches Maß an Selbstkritik voraussetzt, das nicht jede Fangemeinde – die Foucaultsche, wie mir scheint, schon gar nicht – aufbringt). 19 Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 338–40. 20 Ebd., S. 338. 21 Vgl. dazu Oexle, ‘„Une science humaine plus vaste‟. Marc Bloch und die Genese einer Historischen Kulturwissenschaft’, 1999 (Nr. 145), S. 111. 22 Ebd. 23 Vgl. zum Beispiel Foucault, ‘Subjekt und Macht’. 24 Foucault, Ordnung des Diskurses.
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Kommen wir zur ersten und hauptsächlichen Problemlinie, die Nietzsche offengelegt hat: das Objektivitätspostulat der Rankeschen Schule. Nietzsche charakterisierte Rankes Geschichtsschreibung wie folgt: Die beschönigende Geschichtsschreibung Ranke’s, seine Leisetreterei, an allen Stellen wo es gilt, einen furchtbaren Unsinn des Zufalls als solchen hinzustellen; sein Glaube an einen gleichsam immanenten Finger Gottes, der gelegentlich einmal etwas am Uhrwerk schiebt und rückt: denn er wagt es nicht mehr, der Über-Ängstliche, weder ihn als Uhrwerk, noch als Ursache des Uhrwerks anzusehn.25 Diese Art der Geschichtsschreibung war dezidiert anti-aufklärerisch und sie war etwas älter als Ranke. Schon Wilhelm von Humboldt argumentierte 1821 in seiner Schrift ‘Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers’ in ganz ähnlicher Weise, wenn er von einer anzustrebenden und auch zu erreichenden Identität von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt ausging:26 Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object.27 Die Einheit von Erkenntnissubjekt und Untersuchungsobjekt sei nicht durch ‘eine fremde Zugabe’ von außen (das heißt durch Frage- und Problemstellung) zu erreichen – ‘ein Fehler, in welche die sogenannte philosophische Geschichte leicht verfällt’ (so Humboldt offenbar gegen Hegel28) –, sondern liege schon in der Sache selbst begründet, die der Geschichtsschreiber nur ‘erahnen’ und ‘erfühlen’ könne; denn nicht auf ‘die blosse Verstandesoperation’ komme es an, sondern auf ‘Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe’.29 Daher stand auch – nach Humboldt – nicht das aufgeklärte ‘Erklären’ historischer Phänomene im Zentrum der Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern vielmehr das intuitive ‘Verstehen’.30 Wilhelm von Humboldt stand damit im Vorhof Rankes, der sich ebenfalls so weit wie möglich in die historischen Begebenheiten einfühlen wollte, bis er gleichsam in ihnen aufging und sie solcherart ganz verstehen konnte – oder in seinen eigenen, berühmten Worten: Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.31
25 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Neue Folge 1885, in digital critical edition: http://www. nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1885,40. 26 Humboldt, ‘Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers’ (1821), S. 585–606. 27 Ebd., S. 597. 28 Ebd., S. 595. 29 Ebd., S. 587 f. 30 Ebd., S. 599. 31 von Ranke, Englische Geschichte, S. 449.
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Das ist exakt das, was Nietzsche als ‘das völlige Versunkensein in die Dinge’ bezeichnet und als ‘Aberglaube’ parodiert, so als ob sich ‘die Dinge gleichsam durch ihre eigene Tätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographieren’.32 Erstaunlicherweise hat sich diese Selbstmordabsicht des Wissenschaftlers (der nicht sich, sondern nur die Dinge reden lassen möchte) bis in die Gegenwart hartnäckig gehalten. Thomas Nipperdey, dessen Sammlung einschlägiger Aufsätze zu diesem Thema kürzlich unter dem verschwommenen Titel ‘Kann Geschichte objektiv sein?’ erneut herausgegeben wurde,33 hat noch Ende der 1980er Jahre einen Essay ‘Zum Problem der Objektivität bei Ranke’ verfasst, in welchem er zwar Rankes Historie ganz treffend wegen ihrer metaphysischen Begründung als ‘Gottesdienst’ bezeichnete, zugleich jedoch argumentierte, dass man bei Ranke ‘die Religion gut und gerne außer Acht lassen’ könne, um am Ende zu dem erstaunlichen Schluss zu gelangen: ‘Rankes Theorie der Objektivität ist darum auch in postreligiöser Zeit eine starke Theorie’.34 In die gleiche Richtung weisen unter anderem die Arbeiten des Frankfurter Historikers Ulrich Muhlack, der den Historismus gleichsam stillstellen und damit für alle Zeit definieren wollte,35 sowie die neuerlichen allgemein gehaltenen Einführungen zu ‘Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft’ von Stefan Jordan36 und zum ‘Historismus im 19. Jahrhundert’ von Jens Nordalm.37 Die Wiederentdeckung Rankes nach 1945, die Winfried Schulze sehr einleuchtend als einen ‘willkommenen Fluchtraum’ und eine Art von Beruhigungsstrategie mit vielfältigen Funktionen ausgemacht hat, hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.38 Das bereits erwähnte jüngste Werk des Mediävisten Werner Paravicini mit dem ernst gemeinten Titel ‘Die Wahrheit der Historiker’ hat sich ganz dem Rankeschen Denken und Objektivitätsideal verschrieben; denn – wie es dort ganz ungeniert heisst: Wahrheit zu ermitteln bleibt die Aufgabe nicht nur der Historiker, sondern jeder Wissenschaft, wobei es sich nicht lediglich um jemandes Wahrheit handeln kann, sondern nur um eine Wahrheit an und für sich.39 Eine Wahrheit an und für sich – man kann nur noch staunen! Überhaupt, muss man sagen, besteht derzeit ein vermehrtes wissenschaftsgeschichtliches Interesse an der intuitiven und sensualisitischen Form des Verstehens als einer möglichen erkenntnistheoretischen Fundierung der Moderne, wie sie allen voran von Goethe favorisiert wurde: Der jüngste Band über ‘Goethes Nietzsche, ‘Unzeitgemäße Betrachtungen’, in Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 246 f. Nipperdey, ‘Kann Geschichte objektiv sein?’, S. 62–83. Nipperdey, ‘Zum Problem der Objektivität bei Ranke’, hier S. 222. Vgl. Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, sowie Ders., Staatensystem und Geschichtsschreibung: Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung. 36 Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 37 Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke. 38 Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 201. 39 Paravicini, Die Wahrheit der Historiker, S. 40. 32 33 34 35
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„anschauliches Denken‟ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800’ belegt dies eindrucksvoll, wenn er auch zunächst einmal als eine ideen- und rezeptionsgeschichtliche Bestandsaufnahme gedacht ist:40 Er möchte jedenfalls einen ‘Beitrag zur aktuellen Diskussion um eine Theorie der Unbegrifflichkeit’ leisten.41 Die Klassik Stiftung Weimar hat sich eingehend mit dem sogenannten ‘morphologischen’ Denken um 1800 und dem Verhältnis von ‘Morphologie und Moderne’ beschäftigt und dies in erster Linie auf Goethe bezogen. Im Prinzip ist dies immer noch die Marschroute, die Friedrich Meinecke bereits 1936 in seinem Historismus-Buch ausgegeben hatte, wenn er Goethe in seinem letzten Kapitel als den krönenden Abschluss einer seit dem 17. Jahrhundert sich entwickelnden Anschauungslehre feierte, die in der Historie schließlich mit Leopold von Ranke ihre kongeniale Vollendung fand.42 Ranke, Ranke und kein Ende – möchte man beinahe mit Otto Gerhard Oexle stoßseufzen.43 Unsere zweite Problemlinie: von der Göttinger Aufklärungshistorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Bielefelder Schule der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.44 Diese Richtung kann recht schnell abgehandelt werden, denn sie leugnet mehr oder weniger die Möglichkeit von Objektivität und Wahrheit in der historischen Erkenntnis überhaupt – ja mehr noch: Sie behauptet gar, dass ein derartiger Anspruch den Weg zur wirklichen Erkenntnis versperre, weil er eben nur zeigen wolle, wie es ‘eigentlich gewesen’, wohingegen wirkliche Wissenschaft sich dadurch auszeichne, dass sie ein gegenwartsbezogenes Interesse habe, um den Weg aufzuzeigen, wie es besser werden könne. Es gehe also gar nicht um Wahrheit oder Objektivität, sondern vielmehr um Normativität und Kritik, die heutzutage am Ideal einer demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung orientiert sein müsse, woran dann wiederum die Vergangenheit gemessen, beurteilt, ja sogar verurteilt werden könne oder gar solle. Was für die Aufklärungshistorie vor allem der sogenannten ‘Göttinger Schule’ (etwa eines Schlözer oder Gatterer) noch ganz allgemein der Fortschritts- und Vernunftgedanke war, das war für die sogenannte ‘Bielefelder Schule’ der politische Partizipationsgedanke und / oder die Idee der ‘civil society’ im Besonderen. Diese ‘Perspektivisten’ (wie sie Thomas Nipperdey einmal abschätzig genannt hat, weil sie ihre ganz subjektive Perspektive zum Fluchtpunkt und allgemein gültigen Wertmaßstab erhoben45) vermengten – und das ist das Entscheidende – tatsächliche erkenntnistheoretische Probleme mit Werturteilsfragen und bezogen sich dabei ausdrücklich auf Max
40 Morphologie und Moderne. Goethes ‘anschauliches Denken’ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. 41 Siehe ebd. die Produktinformation des Verlags. 42 Meinecke, Die Entstehung des Historismus; nach dem letzten Kapitel daher die ‘Beigabe’: ‘Leopold von Ranke. Gedächtnisrede’. 43 Dazu kritisch Oexle, ‘Ranke – Nietzsche – Kant. Über die epistemologischen Orientierungen deutscher Historiker’, 2001 (Nr. 180), S. 203–22. 44 Vgl. dazu sehr kritisch Oexle, ‘Einmal Göttingen – Bielefeld einfach: auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft’, 1992 (Nr. 74), S. 54–66. 45 Nipperdey, ‘Einheit und Vielfalt in der neueren Geschichte’, S. 279–99.
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Weber, der bekanntlich beides strikt auseinander zu halten versuchte.46 Die Bielefelder Schule überschritt sozusagen die von Max Weber scharf gezogene ‘haarfeine Linie’ zwischen ‘Wissenschaft und Glauben’.47 So entstand der Eindruck (und Nipperdey hat diesen Eindruck auch ganz bewusst gefördert), als ob es nur diese eine Alternative historischen Erkennens gäbe: Entweder sei man ‘Objektivist’ und halte weiter an der Wahrheitssuche à la Ranke fest (‘eine starke Theorie’ der Moderne48) oder man sei ‘Perspektivist’ und erhebe die eigene subjektive Perspektive zum alles entscheidenden Beurteilungskriterium und betreibe – so Nipperdey – letztlich keine ‘kritische’, sondern eine extrem ‘unkritische’ Geschichtsschreibung, die zudem noch ganz und gar beliebig und relativ sei (weil eben nicht ‘unmittelbar zu Gott’, sondern unmittelbar zur je unterschiedlichen eigenen Sichtweise – ein ‘anything goes’ der Historie, wie man es vor Jahrzehnten schon Paul Feyerabend mit seinem ‘against method’ vorgeworfen hat, zu Recht oder zu Unrecht sei dahin gestellt49). Dass es in Wirklichkeit noch eine dritte Problemlinie gibt, die weder mit der ersten noch mit der zweiten etwas gemein hat, zugleich jedoch am Objektivitätsideal als einer regulativen Idee festhält und ein enormes Entwicklungspotential besitzt, wurde durch diese grobe Vereinfachung der neorankeanischen Schule verdeckt und sollte wohl auch ganz bewusst verdeckt werden (wobei man der Gerechtigkeit halber hinzufügen muss, dass es die ‘kritische’ Bielefelder-Schule durch ihren Relevanzdogmatismus den Neorankeanern auch leicht gemacht und deshalb selbst ihren Beitrag am Zustandekommen dieses alternativlosen Dualismus geleistet hat). Wir kommen zur dritten und letzten Problemlinie: Sie reicht von Immanuel Kant bis Max Weber und hat frappierender- oder besser gesagt bezeichnenderweise am wenigsten Spuren in der aktuellen, modernen Geschichtsschreibung hinterlassen. Alles beginnt mit der sogenannten ‘kopernikanischen Wende’ des Denkens, die Kant selbstredend in der Vorrede zur zweiten Auflage der ‘Kritik der reinen Vernunft’ 1787 eingeleitet hat: Kant vollzog eine ‘Umänderung der Denkart’ dergestalt, dass er die herrschende Ansicht, ‘alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten’ umkehrte und die moderne Sichtweise prägte, wonach ‘die Gegenstände […] sich nach unserem (sic!) Erkenntnis richten (müssen)’, weil ‘die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt’.50 Mit den Worten Oexles: Wissenschaftliche Erkenntnis ist demnach also nicht die Wiedergabe einer an sich bestehenden, an sich gegliederten und schon geordneten Wirklichkeit,
46 Vgl. Oexle, ‘Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus’, in 1996 (Nr. 105), S. 73–94. 47 Siehe dazu ausführlicher unten. 48 Vgl. nochmals Nipperdey, ‘Zum Problem der Objektivität bei Ranke’, S. 222. 49 Vgl. Feyerabend, Wider den Methodenzwang. 50 Kant, ‘Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft’, in Ders., Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 3, S. 24.
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sondern sie ist die Hervorbringung einer geordneten und gegliederten Wirklichkeit im Lichte eines Entwurfs, einer Frage, eines Fragehorizontes, im Lichte eines Ansatzes, einer Hypothese.51 Diese Hervorbringung ist wiederum ‘keineswegs willkürlich und beliebig’;52 denn sie ist am historischen Material orientiert, das heißt sie ist durch und durch empirisch – denn so Kant: Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?53 Über ein halbes Jahrhundert später sollte Johann Gustav Droysen in der Nachfolge Kants konstatieren, dass Geschichte eben ‘ein Ergebnis empirischen Erfahrens und Erforschens’ sei.54 Das Ergebnis der Forschung kann also nicht die ‘Sache selbst’ sein, sondern ‘immer nur“ das, was im Licht der Frage zum Vorschein ” kommt’, nicht das ‘Wesen des Gewesenen’, sondern die ‘Erscheinung’ oder das ‘Phänomen’ als das spezifisch Erkannte,55 das heißt die ‘Repräsentation’. Der Unterschied zur rankeanischen und / oder positivistischen Sichtweise liegt also nicht darin, dass diese empirisch ist und die kantianische nicht, beide Auffassungen sind ‘materialbezogen’ und verstehen sich als ‘empirisch’; der Unterschied liegt vielmehr darin, dass die Rankeaner ‘das in der Erfahrung Gegebene’ als ‘Wahrheit’ und ‘Objektivität’ hinnehmen und daher auch so originalgetreu wie möglich ‘abkonterfeien’ (wie Nietzsche sagte) möchten, während die Kantianer zuerst von den ‘Bedingungen der Erkenntnis’ ausgehen, von den ‘Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, die ihrerseits nicht Erfahrungscharakter haben’ und dann die so gewonnene Erkenntnis als Erscheinungsform repräsentieren.56 Das ist die Position des sogenannten ‘empirischen Rationalismus’ (wie Heinrich Rombach sie vor Jahrzehnten ausgeführt hat57), die sich bewusst ist, dass es unmöglich ist, die Wirklichkeit als solche abzubilden, weil wissenschaftliche Erkenntnis nicht den ‘Charakter von absoluter Erkenntnis’ hat, sondern nur von ‘relativer’ beziehungsweise genauer von ‘relationaler’ Erkenntnis, das heißt dass die Erkenntnis stets in einer ‘Entsprechung’ steht, ‘in einem Verhältnis – zu der 51 Oexle, ‘Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung’, 1996 (Nr. 105), S. 27. 52 Ebd. 53 Kant, ‘Kritik der reinen Vernunft’, in Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 3, S. 45. 54 Droysen, Historik (1857), S. 397. 55 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr.105), S. 27. 56 Ebd. 57 Darauf hat Oexle immer wieder verwiesen, vgl. etwa ebd., S. 246, Anm. 65; siehe dazu Rombach, ‘Wissenschaft, Forschung, Theorie’, S. 13 ff.
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Frage nämlich und zu dem Entwurf, in dessen Licht sie zum Vorschein kommt’.58 Das hat nichts mit ‘subjektivistisch’ zu tun, wie die Objektivisten bis heute gerne behaupten und als Vorwurf formulieren; denn: ‘Wissenschaft als Forschung steht jenseits der ‘objektivistischen’ Objektivismus / Subjektivismus-Alternative’.59 Den ‘relationalen’. Charakter von erkenntnisorientierter Forschung hat Kant mit ‘der Metapher des Zeugenverhörs’ verdeutlicht, wonach der Forscher sich in der Position des Richters befinde, ‘der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt’.60 Dass die Antworten, aus denen der Richter dann sein Urteil fällt, wiederum keine absolute Wahrheit oder Objektivität beanspruchen können, sondern immer nur vorläufige Erkenntnisse darstellen, die bei anderen Fragen ‘überholt’ werden können, ja sogar überholt müssen, ist nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern die eigentliche Funktion von Wissenschaft als Forschung; denn es sind ja nicht die ‘Dinge […] an sich selbst’ – so Kant –, die wir erkennen, sondern nur die ‘Erscheinungen, die, als Bedingungen von einander, nur im Regressus selbst gegeben werden’.61 Kant hat auch dafür eine Formulierung gefunden, die den eigentlichen Forschungsauftrag treffend zum Ausdruck bringt: der ‘regressus in infinitum’, das heißt ‘ein Rückgang ins Unendliche oder nur ein unbestimmbar weit (in indefinitum) sich erstreckender Rückgang’;62 und im Regressus kann man noch immer weiter gehen, weil kein Glied als schlechthin unbedingt empirisch gegeben ist, und also noch immer ein höheres Glied als möglich und mithin die Nachfrage nach demselben als notwendig zuläßt.63 Dieses rückwärtsgewandte Fortschreiten ins ‘Indefinite’ ist für Kant eine unhintergehbare Voraussetzung jeder Forschungs- und Erkenntnisleistung – eine einfache Regel (wie er meint), die nichts mehr besagt, als daß, so weit wir auch in der Reihe der empirischen Bedingungen gekommen sein mögen, wir nirgend eine absolute Grenze annehmen sollen, sondern jede Erscheinung, als bedingt, einer andern, als ihrer Bedingung, unterordnen, zu dieser also ferner fortschreiten müssen.64 Das Fortschreiten ins Unbestimmte fällt vielen Historikerinnen und Historikern heute immer noch schwer hinzunehmen, weil es beunruhigend ist und alle Gewissheiten, an die man sich so gerne klammern möchte, hinterfragt, ja sogar auflöst. Kants Interesse galt bekanntermaßen nicht der Geschichte, sondern in erster Linie der Naturerkenntnis. Deswegen löste er sein theoretisches Programm auch nicht historisch-empirisch ein. Ja mehr noch: In derjenigen Schrift, bei der er sich ausschließlich auf historisches Gelände begab, nämlich bei dem Essay ‘Idee zu einer 58 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 27 f. 59 Ebd., S. 246, Anm. 66. 60 Ebd., S. 28. 61 Kant, ‘Kritik der reinen Vernunft’, in Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 4, S. 473. 62 Ebd., S. 473 f. 63 Ebd., S. 475. 64 Ebd., S. 479.
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allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht’ von 1784, argumentierte er noch klassisch-aufklärerisch, wenn er von dem ‘Naturgesetz’ und dem ‘Leitfaden a priori’ sprach, den ein ‘philosophischer Kopf ’ nur ‘auszuwickeln’ brauche, um den ‘vernunftgeleiteten’ Gang der Weltgeschichte nachzuzeichnen.65 Kants hier dargelegte Geschichtsphilosophie hat durchaus etwas ‘Dogmatisches’, wenn er auch einräumt, dass diese nur ‘eine’ Möglichkeit von vielen sei, Geschichte zu betreiben, und er damit keineswegs der rein ‘empirischen’ Geschichte ihr Recht absprechen möchte.66 Der Eindruck eines Dogmatismus der knapp dargelegten Geschichtsphilosophie Kants bleibt jedoch zurück, wenn Kant auch der erste war, der eine grundsätzliche philosophische Kritik am dogmatischen Denken lieferte, weil – wie er selbstredend feststellte – David Hume ihn aus seinem ‘dogmatischen Schlummer’ erweckt habe.67 Es blieb vielmehr Friedrich Schiller vorbehalten, das Kantsche Konzept eines ‘empirischen Rationalismus’ in die geschichtswissenschaftliche ‘Tat’ umzusetzen. Schiller war einer der ersten, wenn nicht der erste, der den Dogmatismus der Aufklärungshistorie offen kritisierte und mit einem Empirismus in der Nachfolge David Humes anreicherte und damit zugleich auch zähmte.68 Das war die erste große empiristische Kritik an der Aufklärungshistorie, die allerdings weiterhin am Fortschritts- und Freiheitsgedanken sowie der gegenwartsbezogenen Perspektive des aufgeklärten Denkens festhielt, das heißt gerade nicht ins Vorfeld des antiaufklärerischen Rankeanischen Objektivitätsideals gehört (wie dies Ulrich Muhlack einmal behauptet hat69): Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprüchlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben.70 Das war Schillers universalgeschichtlich-aufgeklärtes Geschichtsprogramm. Aber: Schiller stand in der Tradition Kants und kritisierte die teleologisch-deterministische Geschichtsauffassung der Aufklärung mit den Mitteln der kritischen Erkenntnistheorie von Kant. Seine berühmte Antrittsvorlesung von 1789 ist nicht die große Programmschrift der Aufklärungshistorie (wie bis heute immer noch in großen Teilen der Germanistik und der Historie behauptet wird71), sondern 65 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). 66 Vgl. dazu vor allem den Schlussabsatz ebd., und zur skeptizisitischen Haltung pointiert Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, S. 43–52. 67 Kant, ‘Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik’, in Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 5, S. 117. 68 Vgl. dazu Oexle, ‘„Der Teil und das Ganze‟ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch’, in 1996 (Nr. 105), S. 223. 69 Muhlack, ‘Schillers Konzepte der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus’, hier S. 27. 70 Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, S. 127. 71 Vgl. stellvertretend Koopmann, ‘Das Rad der Geschichte’; sowie Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, S. 604 f.; Schmidt, ‘Friedrich Schiller und seine Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs’, bes. S. 103, sowie das Geleitwort von Georg Machnik in der Sonderausgabe der Antrittsvorlesung: Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte.
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die erste und zugleich dezidiert aufgeklärte Kritik daran. Die entscheidende Figur in der Antrittsvorlesung ist der ‘philosophische Kopf ’, den Schiller von Kant (aus der ‘Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht’) entliehen hat, dann jedoch in entscheidender Weise umformte. Der ‘philosophische Kopf ’, den Schiller dem von ihm selbst ins Spiel gebrachten biederen ‘Brotgelehrten’ gegenüberstellte, erscheint längst nicht mehr als jener dogmatische Gelehrte (wie noch bei Kant fünf Jahre zuvor), der den ‘Leitfaden a priori’ nur auszuwickeln und ein ‘sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen’ in ein vernunftgeleitetes ‘System’ zu verwandeln habe.72 Der philosophische Kopf Schillers ist vielmehr ein empirsch geläuterter Zauderer und Skeptiker, der dem ‘neue(n) Trieb’ (sic!), ‘einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Princip in die Weltgeschichte’ zu bringen, prüfend und kritisch gegenübersteht: Bald fällt es ihm schwer, sich zu überreden, daß diese Folge von Erscheinungen, die in seiner Vorstellung so viel Regelmäßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verleugne; es fällt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Notwendigkeit zu geben, was unter dem geliehenen Lichte des Verstandes angefangen hatte, eine so heitre Gestalt zu gewinnen.73 Schiller war sich der Unzulänglichkeit, ja vielleicht sogar der Unmöglichkeit einer am Fortschrittsgedanken und Vernunftprinzip orientierten Universalgeschichte ‘nach letzterm Plane’ ganz und gar bewusst: Eine vorschnelle Anwendung dieses großen Maßes könnte den Geschichtsforscher leicht in Versuchung führen, den Begebenheiten Gewalt anzuthun und diese glückliche Epoche für die Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er sie beschleunigen will.74 Dieser empiristisch begründete Skeptizismus war ganz typisch für die Zeit der Spätaufklärung, die entscheidend vom kritischen Denken Kants bestimmt war. Schiller machte dies besonders deutlich in seinem Essay ‘Ueber das Erhabene’ aus den Jahren 1794/1796:75 Wer freilich die große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehrsten Fällen Verdienst und Glück miteinander in Widerspruch stehn.76
72 Vgl. dazu nochmals den Essay Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, hier vor allem der neunte Satz. 73 Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, S. 130 f. 74 Ebd., S. 132. 75 Schiller, Über das Erhabene, S. 792–808. 76 Ebd., S. 802.
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Hier spielte gewiss auch die Erfahrung der Französischen Revolution und ihr ‘Abgleiten’ in den Terror eine Rolle, die zur weiteren Läuterung des Schillerschen Idealismus beitrug. Aber Schiller hatte diese skeptizistische Position schon vor dem Ausbruch der Französischen Revolution in seiner Antrittsvorlesung und in den vor der Revolution begonnenen Geschichtswerken eingenommen.77 Die Revolution verschärfte und radikalisierte nur sein Geschichtsdenken, jetzt wurden seine Zweifel am aufgeklärten Telos noch viel lauter und deutlicher: ‘Nähert man sich nur (Hervorhebung d. Verf.) der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntnis’, hieß es nun ganz desillusionierend, wie sehr findet man sich da getäuscht! Alle wohlgemeinte(n) Versuche der Philosophie, das, was die moralische Welt fordert, mit dem, was die wirkliche leistet, in Übereinstimmung zu bringen, werden durch die Aussagen der Erfahrungen widerlegt.78 Dieser empiristisch begründete Skeptizismus Schillers mündete – noch einmal – nicht in das Objektivitätsideal Rankes, sondern begründete eine ganz eigene kritische Traditionslinie, die in der Jahrhundertmitte von Johann Gustav Droysen und am Ende des Jahrhunderts beziehungsweise zu Beginn des neuen Jahrhunderts von Max Weber fortgeführt wurde. Droysen war Kantianer (das muss man gleich zu Anfang sagen!) und daher war auch sein Wahrheits- und Objektivitätsbegriff ein ‘relationaler’.79 Er wandte sich vehement gegen die objektivistische Geschichtsauffassung Rankes. Legendär ist seine abfällige Bemerkung, die er für diese Vorstellung von Geschichtsbetrachtung parat hatte: Ich danke für diese Art von eunuchischer Objektivität, und wenn die historische Unparteilichkeit und Wahrheit in dieser Art von Betrachtung der Dinge besteht, so sind die besten Historiker die schlechtesten und die schlechtesten die besten.80 Droysen bezeichnete diese Form der Historie als im wörtlichen Sinne ‘unmenschlich’, weil sie nicht das Reflexionsniveau des Menschen widerspiegele, sondern sich noch auf der Stufe von Tieren befinde: Das Tier mag vielleicht den Vorzug haben, nur objektiv wahrzunehmen, denn ihm fehlt die Fähigkeit, das Wahrgenommene zusammenzuschauen und aus der Richtigkeit zur Wahrheit zu erheben. Die menschliche Natur kann auch nicht das Geringste wahrnehmen, ohne es zusammenfassend aus
77 Vgl. dazu Ries, Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, S. 63–77. 78 Schiller, Über das Erhabene, S. 804. 79 Auf den Einfluss Hegels, der ohne Zweifel erheblich war, kann hier nicht eingegangen werden (vgl. dazu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 69 ff.). Grundsätzlich zur Historik Droysens sei auf die Arbeiten von Jörn Rüsen verwiesen, der jüngst eine eigene ‘Historik’ vorgelegt hat: Rüsen, Historik. 80 Droysen, Historik, S. 236.
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seiner Gedankenlosigkeit emporzuheben zu der Sphäre des menschlichen Gedankens.81 Für Droysen war geschichtliche Erkenntnis ‘nicht Abbildung geschehener Geschichte’, sondern ‘gedanklicher Entwurf ’.82 Das bedeutet nicht, dass Droysen sich gänzlich vom Objektivitätsideal verabschiedete, nur er verstand unter Objektivität etwas ganz anderes als Ranke oder auch Wilhelm von Humboldt.83 In der Nachfolge von Kant und Schiller rückte Droysen das erkennende Subjekt in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses und entwickelte von hier aus seinen Objektivitätsbegriff. Während Ranke sein Selbst gleichsam auszuschalten wünschte, um die Dinge, das heißt die ‘mächtigen Kräfte’, selbst sprechen zu lassen, unterzog Droysen das erkennende Individuum einer rationalen Reflexion nach allen wissenschaftlichen Regeln der Kunst. Mit einem deutlichen Seitenhieb auf das große Erzählwerk Rankes führte Droysen aus: Aber was ist es, dessen Werden, dessen Entwicklungen er [der Erzähler, d. Verf.] uns so vorführen will? Der Erzähler kann uns nicht alles und jedes erzählen wollen […]. Nach welchem Kriterium wählt er aus, von welchem Gesichtspunkt aus relativ als Ganzes und in sich geschlossen stellen sich ihm die Dinge dar? Man sieht, von objektiver Vollständigkeit kann natürlich keine Rede sein, und ein Maß für das Wichtige oder Unwichtige in den Dingen selbst, ein objektives Kriterium gibt es nicht, die ganze Frage ruht auf dem Gedanken oder Gedankenkomplex, den der Erzähler darlegen will […]. Diese erkannte historische Wahrheit ist freilich nur relativ die Wahrheit; es ist die Wahrheit, wie sie der Erzähler sieht, es ist die Wahrheit von seinem Standpunkt, seiner Einsicht, seiner Bildungsstufe aus; in einer verwandelten Zeit wird sie, kann sie anders erscheinen; man könnte sagen, jede Zeit hat von neuem die Gesamtheit der Geschichte durchzuarbeiten, zu begreifen. Und in diesem Begreifen der Vergangenheit wird sich zugleich die fortschreitende und fortgeschrittene Entwicklung jeglicher Gegenwart darstellen.84 Droysens Wissenschaftsbegriff ging von der relationalen Erkenntnis aus und genau darin sah er auch die Grenzen und Möglichkeiten der Objektivität, die sich immer nur in einer (im Max Weberschen Sinne) intersubjektiven Überprüfbarkeit niederschlagen könne. Droysen konzipierte Geschichtswissenschaft als Forschung und erblickte (wie Kant) in dem Fortschreiten der Erkenntnis ins Indefinite das entscheidende wissenschaftskonstituierende Element: Das historische Forschen setzt die Reflexion voraus, dass auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist.85
81 Ebd., S. 218. 82 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 31. 83 Vgl. dazu Ries, ‘Jenseits des Rankeanismus: Historismus als Aufklärung’. 84 Droysen, Historik, S. 230 f. 85 Ebd., S. 106.
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Damit war eine doppelte Abgrenzung verbunden: Zum einen gegen die von der klassischen Aufklärungshistorie scharf gezogene Trennung von Erkenntnissubjekt und Untersuchungsobjekt und zum anderen gegen die von Ranke (und auch Humboldt) vollzogene Einheit von Subjekt und Objekt vermittels des Ahndungsvermögens und Einfühlens in den Gegenstand. Droysen hingegen sah – völlig klar und richtig – ein prinzipielles Involviertsein des erkennenden Subjekts in den Gegenstand, indem er das eigene Ich historisierte und als Produkt vergangenen Geschehens ansah.86 Damit hat er das Bewusstsein für eine der wichtigsten Erkenntnisse des Historismus geschaffen, ‘die Einsicht nämlich, daß alles, was ist, geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist.’87 Droysen entwickelt mit seiner im 19. Jahrhundert aus vielerlei (hier nicht zu diskutierenden) Gründen nicht zur Kenntnis genommenen ‘Historik’88 in der Nachfolge Kants das erste moderne Programm von Geschichtswissenschaft als Forschung: Meines Erachtens auch die eigentliche erkenntnistheoretische Programmschrift des Historismus als einer modernen und zugleich auch ‘unvollendeten Weltanschauung’ (Ernst Mach). Der Objektivitäts- und Wahrheitsbegriff war allerdings noch nicht klar bestimmt. Dies sollte Max Weber vorbehalten bleiben. Obwohl die Historik Droysens den Zeitgenossen mehr oder weniger unbekannt blieb, schöpfte sowohl Nietzsche als auch Max Weber aus dem gleichen kantianischen Gedankenfluss. Webers Objektivitäts- und Wahrheitsbegriff stellt die bis heute unüberholte, aber bemerkenswerterweise in der deutschen Geschichtswissenschaft kaum rezipierte Form historischen Erkennens dar – für Oexle der ‘plausibelste Versuch einer Lösung der Probleme des Historismus, soweit sie die Wissenschaft betreffen’.89 Weber hat sein Wissenschafts- und Objektivitätsideal an mehreren Stellen ausgebreitet, ganz zentral aber bekanntermaßen 1904 in der Abhandlung über ‘Die ‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis’.90 Bezeichnenderweise erblickte der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, der sich lieber an die damals gängige ‘Praxis der Historiker’ des Sich-Hineinfühlens in den Gegenstand hielt, in Webers Position die kantianische ‘Lehre von der Erzeugung des Gegenstandes erst und nur durch das Denken’, was Troeltsch als Theologe (und nicht als Philosoph!) für eine ‘unglückselige Verwirrung’, ja mehr noch für ‘vollends unerträglich’ hielt.91 Für Troeltsch nämlich, der in dieser Frage noch ganz und gar vorkantianisch 86 Auch damit steht Droysen in der Nähe von Max Weber und dessen Konzeption einer methodologischen Trennung bei gleichzeitiger wertbezogener Verbindung von Wissenschaft und Leben, vgl. Oexle, ‘Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderungen der Wissenschaft im Zeichen des Historismus’, in 1996 (Nr. 105), bes. S. 89 ff. 87 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, 1996 (Nr. 105), S. 33. 88 Vgl. dazu Oexle, ‘Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne’, 2007 (Nr. 244), S. 58. 89 Oexle, ‘Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition’, in 2007 (Nr. 244), S. 112. 90 Weber, ‘Die ‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis’, S. 146–214. 91 Vgl. Oexle, ‘Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderungen der Wissenschaft im Zeichen des Historismus’, in 1996 (Nr. 105), S. 83.
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und vorkritisch dachte, ‘folgt(e) die Erkenntnis den Gegenständen’ und nicht umgekehrt, und ‘Objektivität’ bestand für ihn ‘im Abbilden des der Erkenntnis vorgegebenen Gegenstandes’, der unveränderlich (geradezu ein ‘Ding an sich’) sei, dem man sich nur schrittweise annähern könne.92 Weber hingegen dachte in der Tat – wie Troeltsch richtig feststellte – durch und durch kantianisch. Auf der Linie von Kants ‘kopernikanischer Wende’, dass unsere Erkenntnis erst die Gegenstände präge und nicht umgekehrt, formulierte Weber geradezu dezidiert anti-rankeanisch: Nicht die ‘sachlichen’ Zusammenhänge der ‘Dinge’, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaft zugrunde.93 Den ‘Stoffhubern’ der rankeanischen Schule seiner Zeit hielt er entgegen, dass sie, weil ihr ‘tatsachengierige(r) Schlund […] nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und Enqueten zu stopfen’ sei, ‘für die Feinheit des neuen Gedankens […] unempfindlich’ seien; während die ‘Gourmandise’ der ‘Sinnhuber’ der – wie Nietzsche sie nannte – ‘kritischen Historie’ sich ‘den Geschmack an den Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate’ verderbe.94 Weber setzte sich ganz bewusst zwischen diese Stühle und griff eine Traditionslinie auf, die mit Kant ihren theoretischen Anfang genommen und mit Schiller und Droysen ihre historische Fortführung gefunden hatte. Von daher konnte es für Weber auch keine Objektivität geben, weil für ihn (wie für Kant und Droysen) das Subjekt mit seinen Wertbezügen im Zentrum des Erkenntnisprozesses stand und diesen in Auswahl und Fragestellung bestimmte. Für Weber stand fest: Es gibt keine schlechthin ‘objektive’ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ‘sozialen Erscheinungen’ unabhängig von speziellen und ‘einseitigen’ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt – als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.95 Durch die Unterscheidung von ‘Wertbezügen’, denen wir nicht entkommen können, und ‘Werturteilen’, denen wir uns im wissenschaftlichen Geschäft unbedingt zu enthalten haben (um den Wissenschaftscharakter nicht zu gefährden), gelang Max Weber eine neue Definition von ‘Objektivität’ im Sinne ihrer Konstituierung durch Werte, bei gleichzeitiger Beachtung der Grenze zwischen Werturteil und wissenschaftlichem, d.h. empirisch begründetem Urteil.96
92 Ebd. 93 Weber, ‘Die ‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis’, S. 166. 94 Ebd., S. 214. 95 Ebd., S. 170 96 Oexle, ‘Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderungen der Wissenschaft im Zeichen des Historismus’, in 1996 (Nr. 105), S. 85.
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Diese ‘haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet’, hat Weber messerscharf im Blick gehabt und zu analysieren versucht – mit dem Ergebnis: Die objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag.97 Weber fügte dem noch – auch den Wahrheitsbegriff strikt historisierend – hinzu: Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist – und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes –, dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten.98 Mehr lässt sich eigentlich zum Problem von Objektivität und Wahrheit in der historischen Erkenntnis nicht sagen! Auch für Weber war Wissenschaft (wie schon für Kant) ein ‘ständiges Fortschreiten’ (kein Fortschritt!), das heißt ein stets unabgeschlossener Prozess, und auch aus dieser Einsicht in die ‘intensive Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen’, ergab sich für Weber – ganz hart nietzscheanisch – ‘die absolute Sinnlosigkeit des Gedankens einer ‘Abbildung’ der Wirklichkeit durch irgendeine Art von Wissenschaft’.99 Dass die Webersche These von der Werturteilsfreiheit bei gleichzeitiger Wertbezogenheit nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts mit dem Objektivitätsideal Leopold von Rankes gemein hat (wie Thomas Nipperdey in seinem Ranke-Aufsatz behauptet100), hoffe ich gezeigt zu haben. Weber erledigte damit – nebenbei gesagt – auch das von Nietzsche aufgeworfene Problem des Verhältnisses von ‘Wissenschaft und Leben’, indem er nämlich durch seine beiden Kategorien von ‘Wertbezug’ und ‘Werturteil’ eine ‘Unterscheidung und Verknüpfung der beiden Bereiche zugleich’ vornahm.101 So weit zur dritten Problemlinie, die – wie gesagt – bis heute in unserem Fache eher an den Rand gedrängt ist. Die Kantianer sind nicht gefragt, waren es eigentlich nie, weder im wilheminischen Kaiserreich noch in der Weimarer Republik, als man sie regelrecht systematisch von den Lehrstühlen vertrieb – und nach 1945 sind sie nicht mehr zurück gekommen und keiner hat es bedauert oder
97 Weber, ‘Die ‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis’, S. 212 f. 98 Ebd., S. 213. 99 Vgl. zu diesem Gedankengang Oexle, ‘Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderungen der Wissenschaft im Zeichen des Historismus’, in 1996 (Nr. 105), S. 82 (hiernach zit.). 100 Noch einmal Nipperdey, ‘Zum Problem der Objektivität bei Ranke’, hier S. 221: die Parallele zwischen dem ‘Protestanten Ranke’ und dem ‘Agnostiker Weber’. 101 Vgl. dazu Oexle, ‘Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition’, in 2007 (Nr. 244), S. 112.
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überhaupt zur Kenntnis genommen.102 Das liegt an vielen Dingen, die hier nicht referiert werden können. Aber was ist die Lösung unseres Problems? Ja: Gibt es überhaupt eine Lösung? Muss es eine geben? Oder ist nicht vielmehr die stete und immer wieder neue Vergegenwärtigung von Vergangenheit ein erfrischendes und attraktives Unternehmen – ein ewiger Jungbrunnen, viel spannender und interessanter als die ständige Suche nach Wahrheit oder Objektivität? Lassen wir noch einmal den Mediävisten und Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande Werner Paravicini zu Worte kommen: ‘Zuweilen muß man ‘schlicht’ sein, gleichsam intellektuell anspruchslos, um nicht dem vermeintlichen Zwang gerade aktueller Theorie zu verfallen.’103 Ich schätze, wir sind uns einig, dass dies nicht die Lösung des Problems sein kann – und ich hoffe, dass man intuitiv ‘ahnden’ kann, welcher Problemlinie ich den Vorzug gebe.
102 Vgl. dazu Oexle, ‘ Begriffsgeschichte“ – eine noch nicht begriffene Geschichte’, 2009 (Nr. 265), ” S. 381–400. 103 Paravicini, Die Wahrheit der Historiker, S. 39.
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Das Gesetz vom Sinai als literarisches Motiv
Der historische Moses liegt im Dunkeln. Die fünf Bücher Moses sind nicht sein Werk, sondern ein Stück Literatur mit einer jahrhundertelangen Redaktionsgeschichte. Moses Autorschaft entpuppt sich bereits als Produkt menschlicher Erzählkunst. Die mosaische Gesetzgebung wird als Gründungsmythos erst relativ spät über das exilische Deuteronomium nach der zweiten Eroberung Jerusalems (587/6 v. Chr.) in den fluiden Korpus ständiger Ergänzung, Umgestaltung und neuer Zusammenstellung unterliegender Textmassen integriert. Die Entschlüsselung der Genese und Gestalt des Pentateuchs führt auf unterschiedliche Erzählabsichten und -strategien diverser, teils konkurrierender Autorengruppen und vor allem auf zeitliche Rückprojektionen, die gegenwärtige Ereignisse und Zustände als Folge vergangenen Tuns erscheinen lassen. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen so auseinander. In den Epochen der Bedrohung der altisraelitischen Freiheit durch die Assyrer im 8. und 7. wie dann durch die Neubabylonier und Perser seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert wird Moses zum Befreier vom ‘ewigen Pharaonentum’ (Martin Buber) stilisiert. Dieser literarische Moses verkörpert allerdings neben dem freiheitlichen, wenn man so will freiheitsrechtlichen Ansatz auch die damit einhergehende permanente Frage nach der Identität des jüdischen Volkes sowie dann einen andere Götter und Ordnungen destruierenden Monotheismus, der die Kategorien von ‘wahr’ und ‘falsch’ in Religionsangelegenheiten in Form der ‘mosaischen Unterscheidung’ ( Jan Assmann) etabliert und hierüber Abgrenzung und Gewalt zu legitimieren und entfesseln vermag. Über einen literarischen Moses können Volksgründungslegenden gestiftet, geformt und transportiert sowie die Fragen von ‘richtig’ und ‘falsch’, von ‘gut’ und ‘böse’ in Recht und Ethik verhandelt und entschieden werden. Die Formung der Moses-Figur erfolgt dabei in Korrespondenz mit der altorientalischen Umgebung, wenn deren monarchische Reichs- und Herrschaftsmodelle etwa in der quasi demokratischen Einbeziehung des hebräischen Volkes in den Gottesbund eine Absage erfahren. Die schon im biblischen Kontext überreiche Symbolfigur sollte im Gang der Jahrtausende eine kaum einholbare Fülle von Deutungen und Bedeutungen erhalten. Aus der Rezeptionsgeschichte der vielfältigen (Neu)Besetzungen dieses Stoffes greifen die nachstehenden Ausführungen einzelne Etappen und
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 287–314. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.118000
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Momente heraus, wobei durchaus selektiv auf Werke der im weitesten Sinne philosophischen und schönen Literatur zurückgegriffen wird. Faszinierend wirkt vor allem die Erzählung von unverbrüchlichen Normen, die Gott selbst in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte gestiftet habe. Diese Chiffre für das ewig Gültige entfaltet nicht zuletzt in Umbruchszeiten eine besondere Strahlkraft. Die Variationen des Moses-, des Bundes- und Gesetzgebungsmotivs werfen damit ein Licht auf die jeweiligen zeitgebundenen Herausforderungen und Lagen. Die affirmative Rekonstruktion der bündischen Grundlagen gegebener Herrschafts- und Rechtsordnungen kann hierüber ebenso bewerkstelligt werden wie die Rechtfertigung von Umstürzen über ein entsprechend revolutionäres Verständnis der Geschichte vom Exodus, in die auch die Geburt der Menschenrechte eingelesen werden kann. Säkularisierung und Aufklärung haben dabei die Erzählperspektive grundlegend verändert, kulminierend in fundamentaler Religionskritik und dem Vorwurf des Priesterbetruges. Zugleich beginnt sich hier die Vorstellung einer umfassenden Historisierung unserer Kultur und unseres Wissens Bahn zu brechen, die letztlich jeden aufkeimenden naiven historischen Objektivismus im Wege unausweichlicher Perspektivierung zerschießt, worauf Otto Gerhard Oexle in seinen Forschungen immer wieder hingewiesen hat. Moses wird entsprechend erst im Wege seiner Rezeption zum insoweit auch empirischen historischen Stoff. Darin liegt immer noch eine gewisse Differenz zur phantastischen Kraft literarischer Fiktionalität, wie sie uns an ihre Texte zu fesseln versteht. I.
Facetten der Moses-Bilder von der Antike zur Aufklärung
Strabo(n)s hellenistischer Panoramablick sah noch vor der Zeitenwende die Gesetzgeber Moses, Minos und Lykurg in einer langen Reihe, da sie von den Göttern empfangene Befehle und bessernde Ermahnungen mitteilten, was, wahr oder nicht, wenigstens von den Menschen geglaubt und als Gesetz angenommen wurde.1 So wie Moses wiederholt den Sinai bestiegen hatte, um von Gott die Gesetzestafeln zu erhalten, betrat der Kreterkönig Minos dem Zeugnis Homers (Od. 19, 179) und Platons zufolge alle neun Jahre die Grotte seines Vaters Zeus, um nach dessen Vorschlägen den Staaten Gesetze zu hinterbringen.2 Sein spartanischer Nachahmer Lykurg schließlich habe durch Erforschung des pythischen Orakels 1 Strabo, Geographica (ca. 7 v. Chr.), S. 1071. Knappe Übersicht über den Moses-Stoff in der Literatur einschließlich der Oper bei Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, S. 543–49; insoweit ergiebig vor allem auch Otto, Mose. Geschichte und Legende, der die bewegungsreiche Entstehung der alttestamentlichen Texte sowie die bibelwissenschaftliche Forschungsgeschichte aufreißt; grundlegend schließlich Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann; Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, und Graf, Moses Vermächtnis. 2 Platon, Nomoi, S. 10 (624 b); für Kaiser spricht in den Nomoi wie im Deuteronomium, das sich der Autorität des sagenhaften Moses bediene, in der Sache ‘dieselbe vernehmende Vernunft, die den ihrer Selbstverständlichkeit beraubten und doch zutiefst in der condition humaine verwurzelten göttlichen Gesetzen zum Wort verhilft’; so Ders., ‘Das Deuteronomium und Platons Nomoi. Einladung zu einem Vergleich’, S. 79.
das gesetz vom sina i a ls litera risches motiv
erfahren, ‘was den Lakedämoniern zu verordnen rätlich sei’.3 Den Griechen jedoch warf Strabons Moses vor, die Götter ‘in Menschengestalt’ zu bilden, wie schon den Ägyptern, ‘die Gottheit wilden Tieren und dem Hausvieh ähnlich’ zu gestalten, wobei er doch selbst ein ägyptischer Priester gewesen sei und die ‘herrschende Sage’ im Jerusalemer Tempel ‘die Voreltern der jetzt sogenannten Judäer als Ägypter’ bezeichnen würde.4 Für Moses sei dagegen Gott nur dies eine, ‘welches uns alle und Erde und Meer umfasse und welches wir Himmel, Welt und die Natur der Dinge nennen’, weshalb auch jede Verfertigung eines Gottesbildes unmöglich und zu unterlassen sei. Für solche ‘Lehren’ habe er mit zahlreichen Anhängern seine unterägyptischen Besitzungen verlassen und die Rolle eines Staats- wie Tempelgründers in Jerusalem eingenommen. Der Bericht preist Moses aber nicht nur als Stifter einer abstrakten Vernunftreligion, sondern auch für seine Friedfertigkeit gegenüber Nachbarstämmen, die sich seiner universalistisch ausgerichteten Herrschaft infolge ihrer Zielsetzungen angeschlossen hätten.5 Erst aus dem Aberglauben tyrannischer Nachfolger seien späterhin die ‘Enthaltung des Genusses gewisser Speisen’ sowie die ‘Beschneidungen’ erwachsen.6 Die von Strabon zugrunde gelegten Texte zeichnen damit ein aus alttestamentlicher Sicht recht ungewohntes Moses-Bild, was Mutmaßungen über die Herkunft der Quelle beförderte. Gegen die Auffassung, es handele sich um eine von Poseidonios verfasste Darstellung eines idealen und dann verfallenden Urzustandes, hat sich die Zuschreibung an eine Oppositionsgruppe im judäischen Hasmonäerstaat, möglicherweise die Sadduzäer, mit einer Datierung auf ‘nicht viel später als 130 v. Chr.’ durchgesetzt.7 Das Enkomion auf Moses diente danach einer von philhellenischem Rationalismus gespeisten Kritik der zeitgenössischen Hasmonäerherrschaft, die sich durch Nationalismus, Eroberungspolitik und ritualistische Exklusion vom gezeichneten Idealbild als Verfallserscheinung abgesetzt habe. Die Differenz zu den biblischen Texten beruhe auf einer bereits der Antike bekannten ‘historischen Exegese’, die einen mythischen Vorgang wie den Exodus auf seinen ‘historischen Kern’ zu reduzieren gewusst habe, hier eine philosophische Gotteserkenntnis als folgenreiche Wahrheit. Auf dieser Quelle baut eine gegenläufige Geschichtserzählung auf, die Diodoros im ersten vorchristlichen Jahrhundert noch vor Strabon in seiner ‘Historischen Bibliothek’ verarbeitet. Sie schildert die Vertreibung fremder Volksstämme wegen angeblich durch abweichende Gottesverehrung verursachter Pest aus Ägypten, eines Teils davon nach Griechenland, der großen Masse jedoch nach Judäa unter einem klugen und tapferen Anführer namens Moses, dem Gründer Jerusalems samt Tempel, dem ‘Gesetzgeber und Ordner der Verfassung’ unter
3 Strabo, Geographica, S. 1071. 4 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 1068 f. 5 Lebram, ‘Der Idealstaat der Juden’, S. 238 ff.; zur ‘philosophischen Religion’ passe die Offenbarung der Gottheit im Traumorakel (S. 239). 6 Strabo, Geographica, S. 1069 f. 7 Hierzu und zum Folgenden Lebram, ‘Der Idealstaat der Juden’, S. 241 ff. mit weiteren Nachweisen.
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Einteilung des Volkes in zwölf Stämme.8 Im Unterschied zu anderen Völkern habe er die ‘Opfer und Lebensweise’ bestimmt und auf Grund der Vertreibung aus Ägypten eine Lebensart eingeführt, die ‘Abneigung gegen Fremde und Menschenhaß verrieth’, was ‘Feldzüge zu den angrenzenden Völkern’ mit einschloss. Die (königlose) Herrschaft habe bei einem Oberpriester gelegen, der zugleich als charismatischer Dolmetscher der gottgewollten Gesetze fungierte. Deswegen kann man im Diodorfragment eine apologetische ‘prohasmonäische Umarbeitung des sadduzäischen Dokuments’ erblicken, die eine kriegerische ‘Idealverfassung der Hasmonäer’ nach römischem und wohl auch spartanischem Vorbild präsentiert, die vor dem Hintergrund des Makkabäeraufstandes gegen die seleukidische Fremdherrschaft gelesen werden muss.9 Danach geht der nationale Idealstaat weniger auf einen Anschluss an die Gesetzestradition der Moses-Tora als denn auf eine Rechtfertigung der auf Moses rückführbaren jeweiligen (mosesgleichen) Priesterherrschaft aus. Ein Gegenbild hierzu findet sich mit Philo(n) von Alexandria in der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts bei einem Autor des jüdischen Hellenismus, der von einem Ruhm der von Moses hinterlassenen Gesetze spricht, der ‘durch die ganze Welt, selbst bis an die Grenzen der Erde, gedrungen’ sei.10 Diese Gesetze lockten alle an sich und wüssten sie zu gewinnen, Barbaren, Hellenen, Bewohner des Festlands, Inselbewohner, Völker des Orients und des Occidents, Europa, Asien, die ganze bewohnte Welt von einem Ende bis zum andern.11 Dabei seien der ‘Vater und Schöpfer der Welt und der wahrhafte Gesetzgeber ein und dasselbe Wesen’, womit diese Gesetze das ‘ähnlichste Abbild der Verfassung des Weltalls’ seien, weshalb sie auch der Staatsgründung vorausgegangen seien, statt wie bei anderen Gesetzgebern nach den Gründungen als ‘passende und geziemende Verfassung’ auf ein bestehendes Staatsgebäude zugeschnitten zu werden.12 Auf dieser Linie hat dann Ende des ersten Jahrhunderts der jüdisch-römische Historiograph Flavius Josephus sogar die These gewagt: ‘Von 8 Hierzu und zum Folgenden Diodoros, Historische Bibliothek, S. 1557 ff. (XL, frg. 3), wobei die Athener ‘Abkömmlinge Aegyptischer Aussiedler aus Sais’ gewesen wären (S. 45; I, 28). In der Knabenbeschneidung sieht diese auf Hekataios von Abdera zurückgehende Stelle eine von alters her ‘aus Aegypten mitgebrachte Sitte’. Dass die Juden wegen des Ausbruchs einer Seuche aus Ägypten vertrieben worden seien, erklärt etwa Tacitus, Historien, S. 603 (V, 3, 1) zur Auffassung der ‘meisten Autoren’ und führt weiter aus, Moses habe ihnen ‘neue Kultbräuche’ gegeben, die ‘im Gegensatz stehen zu denen aller übrigen Menschen’, wonach unheilig sei, ‘was bei uns heilig’, und erlaubt, ‘was für uns als Schande gilt’ (S. 605; V, 4, 1). Bei dem erwähnten Hekataios von Abdera handelt es sich um einen frühptolemäischen Historiographen, der im 3. Jahrhundert v. Chr. in der ältesten nicht-jüdischen Erwähnung Moses die These von Pest und Vertreibung formuliert; vgl. Otto, Mose. Geschichte und Legende, S. 85; vertiefend Schäfer, Judenhass und Judenfurcht, S. 31 ff. 9 Hierzu und zum Folgenden Lebram, ‘Der Idealstaat der Juden’, S. 247 ff. 10 Philo von Alexandria, ‘Ueber das Leben Mosis’, S. 222. 11 Ebd., S. 303. 12 Ebd., S. 308 f.; ähnlich Ders., ‘Ueber den Dekalog’, ebd., S. 373 f.; zutreffend spricht Otto, Mose. Geschichte und Legende, S. 88, von einem ‘universal gültigen Naturrecht in Gestalt offenbarten positiven Rechts’ und vom ‘Dekalog als Weltgesetz’ (ebd., S. 74).
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uns nun sind die Gesetze auch allen anderen Menschen beigebracht worden, und immer mehr hat man sie zum Muster genommen’, denn so wie Gott das Weltall durchdringe, hätten sie sich ‘durch die ganze Menschheit verbreitet’.13 Diese Gesetze forderten keineswegs zum ‘Menschenhass, sondern zu gegenseitiger Wohltätigkeit’ auf und leisteten ‘der Gerechtigkeit Vorschub’, wobei sie ‘von Eroberungskriegen abhalten’ würden. Schließlich dementiert Flavius Josephus die These, ‘unsere Vorfahren seien Aegyptier gewesen’ und markiert die ‘Lüge’, sie seien ‘wegen körperlichen Siechtums ausgewiesen worden’. Insoweit beruft er sich auf das Zeugnis des von ihm ansonsten vielfach als ‘unglaubwürdig’ bezeichneten ägyptischen Priesters Manetho (3. Jh. v. Chr.), demzufolge die Juden von auswärts nach Ägypten gekommen und von dort ‘fast tausend Jahre vor den Trojanischen Kriegen’ wieder in ihre Heimat ausgezogen seien.14 Auf der Priorität Moses vor den griechischen Dichtern und Philosophen insistierten in der Folge auch die frühchristlichen Schriftsteller und Kirchenlehrer, da er ‘ungefähr tausend Jahre […] vor dem Untergang des Priamus [… und] um weitere fünfhundert vor Homer’15 erschienen sei. Zwar stehe Moses ‘tief unter’ Jesus, übertreffe jedoch bei weitem die ‘Weisen unter den Griechen und Barbaren’, weil in ihm ‘göttlicher Geist gewohnt’ habe.16 Augustin stimmt sogar ‘beinah selbst der Behauptung’ zu, Platon müsse die Bücher Moses gekannt haben.17 Insofern bildet Moses eine entscheidende ‘Klammer zwischen antiker Philosophie und christlicher Theologie’,18 wenn auch ‘die Griechen, in deren Sprache die weltlichen Wissenschaften zur Blüte kamen, keinerlei Grund’ gehabt hätten, ‘von ihrer Weisheit zu rühmen, sie sei wenn nicht gar erhabener, so doch älter als unsere Religion, die die wahre Weisheit enthält’.19 Das Gesetz Moses liefert zudem die Grundlage für das Gliederungsschema einer Zeit vor, unter und nach dem Gesetz, das heißt ante legem, sub lege und sub gratia, wie es Augustin in Anlehnung an den Sprachgebrauch des paulinischen Briefkorpus (etwa Röm 3,20; 4,15; 6,14; 7,7 ff.) verwendet.20 Der heilsgeschichtliche Skopus dieser Periodisierung richtet sich sowohl auf das
13 Hierzu und zum Folgenden Flavius Josephus, ‘Gegen Apion’, S. 195 ff. (II, 39 - 41); den Juden sei auch nach Verlust von Reichtum und Heimat das Gesetz ‘unzerstörbar’ verblieben (ebd., S. 194; I, 38); an dieser Stelle wird für die Qualität der Gesetze ‘die Länge der Zeit als der zuverlässigste Prüfstein für alle Einrichtungen’ angeführt. 14 Josephus, ‘Gegen Apion’, S. 107 (I, 16); auch Manetho hat sich übrigens der Vertreibungsthese hinsichtlich der aussätzigen und apostatischen Ausländer angeschlossen; vgl. Otto, Mose. Geschichte und Legende, S. 86. 15 Tertullian, Apologeticum. 16 Origines, Gegen Kelsos, S. 39 f.; schon gar nicht habe Moses Platon Gedanken entlehnt und ihn dabei noch missverstanden (ebd., S. 84). Zu einem Verständnis von Jesus als ‘Mosis redivivus’ vgl. Otto, Mose. Geschichte und Legende, S. 90. 17 Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate dei), Buch 1 bis 10, S. 390 (VIII, 11). 18 Otto, Mose. Geschichte und Legende, S. 93. 19 Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate dei), Buch 11 bis 22, S. 479 (XVIII, 37). 20 Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), S. 69 (II, XVI, 25); daneben verwendet Augustin weitere Zeit- und Weltalter-Schemata, die ihrerseits teils in einem Überlieferungszusammenhang stehen; vgl. Horn, ‘Geschichtsdarstellung, Geschichtsphilosophie und Geschichtsbewußtsein’, S. 181 ff. mit weiteren Nachweisen; zudem präsentiert Augustinus, Vom
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Individuum, das zunächst ‘nach dem Fleische lebt’, dann vom Gesetz erfährt, um danach mit Glaube und Gnade beschenkt zu werden und die Ewigkeit ‘in pace’ zu erlangen, als auch auf die Geschichte des Volkes Israel mit der Sendung von Moses wie Christus.21 Das hiermit verbundene Verhältnis von Altem Bund und Neuem Testament kennzeichnet zwar einen ‘Antagonismus der Sphären’ in Form einer Überwindung des Gesetzes durch die Gnade, das aber gleichzeitig nicht aufgehoben wird, sondern in Form einer ‘göttlichen Pädagogik’ zur ‘Vorgeschichte des Heils’ gehört, wenn etwa die alttestamentliche Bruderliebe das neutestamentliche universale Liebesgebot vorbereitet.22 Mehr als achthundert Jahre später referierte Thomas von Aquin die drei Stadien des Augustin und diskutierte die Frage, ab wann das Gesetz einem Pauluswort zufolge ohne Christus nur noch als ‘sowohl tot wie auch todbringend’ einzuordnen sei.23 Für Thomas war das Alte Gesetz zwar nicht vollkommen, aber doch unvollkommen gut. War es aus sich heraus nicht imstande, zum Ziel des ewigen Lebens hinzuführen, so konnte es doch hierzu einen Beitrag leisten, indem es die Menschen als ‘relativ gute Vorstufe’ auf das Neue Gesetz hinordnete.24 Das Alte Gesetz habe ‘die Gebote des Naturgesetzes klar’ gestellt und noch eigene Gebote hinzugefügt, woraus sich für die ersteren Gebote eine Bindung aller Menschen, für die zweiten, zusätzlichen Gebote jedoch nur des jüdischen Volkes ergeben habe.25 Dass das Gesetz nicht gleich nach dem Sündenfall, sondern erst durch Moses gegeben worden sei, habe wesentlich dazu gedient ‘den Stolz der Menschen zu brechen’, wofür dieses hochmütige Wesen erst einmal der ‘Herrschaft seiner Vernunft überlassen’ worden wäre.26 Im Alten Gesetz fänden sich mit den ‘unter die Weisung des Naturgesetzes’ fallenden Sittengeboten, den gottesdienstlichen Kultvorschriften und den ‘die unter den Menschen zu beobachtende Gerechtigkeit’ näherhin bestimmenden Rechtssatzungen ‘dreierlei Gebote’.27 Alle Sittengebote gehörten zum Naturgesetz, weil sie mit der Vernunft übereinstimmten, wobei bei manchen die ‘natürliche Vernunft eines jeden
Gottesstaat (De civitate dei), Buch 1 bis 10, S. 291 ff. (VI, 5) die Varronische theologia tripertita, die eine mythische, fabulierende Theologie von einer physischen, natürlichen und schließlich einer staatlichen, politischen Theologie unterscheidet. 21 Müller, Geschichtsbewußtsein bei Augustinus. Ontologische, anthropologische und universalgeschichtlich/ heilsgeschichtliche Elemente einer augustinischen ‘Geschichtstheorie’, S. 299 f. 22 Ebd., S. 198 f.; zur heilsgeschichtlichen Einordnung des Gesetzes van Dülmen, Die Theologie des Gesetzes bei Paulus, S. 185 ff., und Hübner, Das Gesetz bei Paulus, S. 62 ff.; zur These, dass sich ‘Paulus als Überbieter des Mose versteht’ und das ‘Christentum seinen Ursprung nicht eigentlich in Jesus, sondern in Paulus’ habe, Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, S. 57 ff.; während Moses als Fürsprecher seines Volkes gegenüber Gott aufgetreten sei, wirkte Paulus als ‘Volksgründer’ (ebd., S. 11), weil er es erübrige, Jude zu sein, um Christ zu werden. 23 Thomas von Aquin, Summa theologica. Dt.-lat. Ausgabe, Bd. 13: Das Gesetz, S. 398 (II, 103, 4). 24 Ebd., S. 146 ff. (II, 98, 1), mit Kommentar von Pesch, ebd., S. 594 ff.; zu Thomas‘ Auseinandersetzung mit Joachim von Fiores dreistufigem Geschichtsmodell, das die Zeitalter mit den Personen der Trinität besetzte, vgl. Meinhold, Thomas von Aquin und Joachim von Fiore und ihre Deutung der Geschichte, 66 ff. 25 Aquin, Summa theologica, S. 163 (II, 98, 5). 26 Ebd., S. 167 (II, 98, 6). 27 Ebd., S. 182 (II, 99, 4).
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Menschen’ hinreiche, über ihre Befolgung ‘sofort’ zu entscheiden, bei anderen es jedoch der genaueren Überlegung und sodann Belehrung der Weisen oder der göttlichen Unterweisung bedürfe.28 Obschon die Sittengebote hiernach unabhängig von gesetzlicher Statuierung gelten, bedürften einige von ihnen, wie die des Dekalogs, wegen der Fehleranfälligkeit des menschlichen Urteils gleichwohl der Bekanntgabe, während die Rechtssatzungen und Kultgebote dagegen ihre ‘geltende Kraft einzig auf Grund von Verfügung’ bezögen.29 Für Martin Luther fiel der Dekalog teils mit der lex naturae zusammen und band insoweit alle Menschen, soweit er aber über das ‘naturlich gesetze’ hinausging, sei er ‘alleyne dem Judischen volck ynn sonderheyt gegeben’ als der ‘Juden Sachssenspiegel’ ohne weiterreichende Verpflichtungskraft.30 Der Dekalog konnte danach für Christen aus sich heraus keine Bindungswirkung entfalten und Mose nur als Lehrer statt als Gesetzgeber gelten, weil seinen Geboten nur aus dem Gleichklang mit dem natürlichen Gesetz Verpflichtungscharakter zukomme.31 Das in das Herz eines jeden eingeschriebene natürliche Gesetz wird bei Luther im Unterschied zum thomistischen Intellektualismus auf Christi Vorbild und Liebe zurückgeführt und erfährt daher auch eine geistliche Deutung gemäß dem Neuen Testament, die auch den Umgang mit dem Buchstaben des Dekalogs bestimmt, dem in diesem Sinne immer noch eine Funktion ‘zur Aufdeckung der Sünde und Weckung der Buße’32 zukommt. Die Juden hielt Luther deswegen für ‘Sünder’, weil sie weiterhin an den hinfälligen Kultgesetzen festhielten und hierüber Rechtfertigung erstrebten.33 Die spezifische Bindung Altisraels an Gottes Gesetz wird dann insbesondere Thomas Hobbes betonen, der sich hierfür auf den alttestamentlichen Bundesschluss beruft, den er in Analogie zu seinem Gesellschaftsvertrag konstruiert.34 Einige der Gesetzestafeln vom Sinai hätten von allen Menschen anzuerkennende ‘Gesetze der Natur enthalten’, die anderen jedoch hätten einen besonderen Verpflichtungsgrund benötigt, auch wenn sie alle von ‘Gott selbst zu Gesetzen gemacht’ worden seien.35 Denn hierfür bedurfte es der Anerkennung der Verordnung des Souveräns durch das Volk, die allerdings insofern vorlag, als sich das Volk Moses zum Gehorsam verpflichtet habe. Deswegen hatte (nur)
28 Ebd., S. 196 (II, 100, 1). 29 Ebd., S. 243 (II, 100, 11); die Gebote des Dekalogs habe ‘Gott selbst’ den Menschen zur Kenntnis gebracht (ebd., S. 202, II, 100, 3); vertiefend Speer, ‘Naturgesetz und Dekalog bei Thomas von Aquin, S. 350 ff.; Schröer, ‘Natürliches Gesetz und Dekalog bei Thomas von Aquin’, S. 198 ff. 30 Luther, ‘Wider die himmlischen Propheten’, in: ders., Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 18, S. 81. 31 Hierzu und zum Folgenden Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. I: Die Zehn Gebote. Luthers Vorreden, S. 71 ff. 32 Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, S. 426. 33 Kaufmann, Luthers Juden, S. 50 f. und 103, mit der Folge, dass ‘die Juden etwa durch ihre Form der Sabbatheiligung den Feiertag beschmutzen’ würden (ebd., S. 51 mit weiteren Nachweisen). 34 Krause, ‘Der Bund im Alten Testament und bei Hobbes’, 11, sei es nun als Vorbild oder lediglich als Beispiel (ebd., Anm. 10 mit weiteren Nachweisen). Hobbes habe damit ‘Mose und Israel auch ernsthaft als exemplarische Quellen des Verfassungsdenkens’ behandelt, urteilt Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, S. 321. 35 Hierzu und zum Folgenden Thomas Hobbes, Leviathan, S. 395 f. (Kap. 42).
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Moses als bürgerlicher Souverän ‘auf Erden die Gewalt’, den Dekalog ‘zum Gesetz des Staates Israel zu machen.’ Aufgrund ihrer eigenen Unterwerfung seien die Mitglieder des Volkes Israel zum Gehorsam gegen alles verpflichtet gewesen, ‘was ihnen Moses als Gesetz Gottes verkündete.’36 Wie die ‘Gewalt aller anderen Fürsten’ habe die seine ‘auf der Zustimmung des Volkes’ und dem ‘Versprechen’ der Israeliten, ‘ihm zu gehorchen’,37 beruht. Von der Bedeutsamkeit Moses für den Hobbesschen Kontraktualismus kündet nicht zuletzt der quantitative Befund, dass kein anderer Name öfter im ‘Leviathan’ genannt wird.38 Spinoza sah die Hebräer mit dem Auszug aus Ägypten wieder in den ‘Naturzustand versetzt’, aus dem heraus sie auf Moses Rat ‘ihr Recht’ zunächst auf Gott übertragen hätten, der damit zum ‘Herrscher über den Staat der Hebräer’ geworden sei.39 Voller Furcht vor Gottes Wort und Erscheinung hätten sie dann aber ‘den ersten Pakt aufgehoben und das eigene Recht, Gott zu befragen und seine Erlasse auszulegen, uneingeschränkt Moses übertragen’, der damit zum alleinigen ‘Verkünder’, ‘Interpret’ und ‘Richter’ aufstieg.40 Wie bei Hobbes kommt es so zum Zusammenfallen von politischer und religiöser Gewalt, subkutan vielleicht auch zur politischen Einhegung und Funktionalisierung der Religion, und ebenfalls zur geltungsbeschränkenden Einordnung der ‘Gesetze, die Gott Moses offenbart hat’, lediglich als ‘Rechtsgesetze des Staates der Hebräer’,41 die auch nur für dessen Dauer an sie gebunden gewesen sein sollten. Gleichwohl gewann die ‘respublica hebraeorum’ auch bei Spinoza ‘emblematischen Charakter’,42 wie auch die mosaische Gesetzgebung besondere Aufmerksamkeit in den von Umbruch und Unsicherheit gekennzeichneten Rechts- und Staatsdiskursen des 16. und 17. Jahrhunderts auf sich zog. Unter dem Gesichtspunkt von Heil und Erlösung blieben die mosaischen Gesetze für Spinoza jedoch bedeutungslos, da hierfür allein die wenigen Weisen durch Anstrengung zugängliche ‘adäquate Erkenntnis der Essenz von Dingen’ unter einem Aspekt von Ewigkeit (‘sub specie
36 Hobbes, Leviathan, S. 220 (Kap. 26). 37 Ebd., S. 361 (Kap. 40); Gotteserwählung und Gottesbefehl haben Hobbes zufolge also nicht ausgereicht, wie Palaver, Politik und Religion bei Thomas Hobbes, S. 143, herausstellt. 38 Palaver, Politik und Religion bei Thomas Hobbes, S. 142. Machiavelli hatte Moses in den ‘Discorsi’ als ‘Situations-, Tat- und Willensmensch’ präsentiert, wie Hoeges, Niccolò Machiavelli, S. 161, schreibt, der seine Gesetzgebung durch erlangte Macht zu garantieren imstande war und insofern in einer Reihe mit Solon und Lykurg stand; vgl. Niccolò Machiavelli, Discorsi, S. 57 f.; im ‘Il Principe’ wird Moses neben die Staatsgründer Cyrus, Romulus und Theseus gestellt, die sich durch ‘eignes Verdienst’ zu Fürsten aufgeschwungen hätten; vgl. Niccolò Machiavelli, Der Fürst, S. 53 f.; zu Moses als ‘machiavellistischer Fürst’, der, wie Machiavelli selbst schreibt, für sein Gesetz viele Menschen töten musste, vgl. Walzer, Exodus und Revolution, S. 69 mit weiteren Nachweisen. 39 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 260 (Kap. 17). 40 Ebd., S. 261 f. (Kap. 17); für Spinoza waren die Hebräer ‘alle nahezu ungebildeten Geistes und durch elende Knechtschaft heruntergekommen’ (ebd., S. 89, Kap. 5). 41 Ebd., S. 10 (Vorrede); brisant war seine Erkenntnis, ‘daß der Pentateuch nicht von Moses geschrieben wurde, sondern von irgendeinem anderen und daß dieser viele Jahrhunderte nach Moses gelebt hat’ (ebd., S. 150, Kap. 8). 42 Totaro, ‘Der Theologisch-politische Traktat im Kontext seiner Zeit’, S. 243 und passim mit weiteren Nachweisen.
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aeternitatis’) tauge, aus der die geistige Gottesliebe (‘amor dei intellectualis’) entspringe.43 In der Frühaufklärung wird sich Spinozas Pantheismus zu einem Atheismus auswachsen, der in dem berüchtigten anonymen ‘Traktat über die drei Betrüger’ noch vor 1700 ein Schlüsseldokument findet, demzufolge Moses ein ‘schlechte[r] Jude’ und ‘geschickte[r] Politiker’ gewesen sei, welcher sich ‘seinen furchterregenden Gott’ nur ausgedacht habe.44 Unwissend und daher leichtgläubig sei das Volk der Juden den Zauberkünsten und Gaunereien dieses auf Grund seiner ägyptischen Ausbildung größten Politikers, weisesten Naturforschers und berühmtesten Magiers seiner Zeit erlegen und habe ihm ‘blinden Gehorsam’ gelobt sowie sich seiner Gesetzgebung unterworfen.45 Voltaire dagegen stellt ebenso die ‘Ohnmacht wie Untüchtigkeit’ wie die ‘entsetzlichen Schlächtereien’ und ‘Gräuel’ des Moses heraus, was lediglich durch seine Rolle als ‘Diener Gottes’ in ein ‘anderes Ansehen’ gelange; diese Perspektive fällt seiner süffisanten Ironie zufolge jedoch ‘einer Forschung anheim, die höheren Gebieten des Geistes’ angehöre und ‘sich unserm schwachen Verständnis’ entziehe.46 Ebenfalls vom Deismus geprägt, widmet Montesquieu dem mosaischen Gesetz in seiner Gesetzgebungslehre keine besondere Aufmerksamkeit und bezeichnet es an einer Stelle sogar als ‘roh’.47 Lessing dagegen fügt das alte Gesetz in einen evolutiven Erziehungsplan, zu dem Gott sich ‘das ungeschliffenste, das verwildertste’ Volk ausgesucht habe, ‘um mit ihm ganz von vorn anfangen zu können’, es dann aber zum ‘künftigen Erzieher des Menschengeschlechts’ auszubilden.48 So wie am Anfang die Offenbarung seine Vernunft geleitet habe, erhellte sodann ‘die Vernunft auf einmal seine Offenbarung’ und kam es im Geschichtsverlauf zur ‘Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten’, die es schließlich erlaubten, dass der Neue Bund ebenso wie der Alte ‘antiquieret’ werde.49 Und wie die alten, nur auf den Lebenshorizont bezogenen Gesetze in heroischem Gehorsam befolgt worden seien, ‘bloß weil es Gottes Gesetze sind’, so werde in der ‘Zeit der Vollendung’ das Gute getan, ‘weil es das Gute ist’ ohne Rücksicht auf
43 Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, S. 569, 577, 579, 581 und 595. 44 Anonymus, Traktat über die drei Betrüger, hrsg. von Winfried Schröder (Hamburg: Meiner Verlag, 1992), S. 63 (§ 10); Hintergrund und Einordnung bei Winfried Schröder, Einleitung, ebd., S. VII ff.; zum verwandten Text ‘De tribus impostoribus’ Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, S. 115 ff.; zu den ‘erlogenen und heuchlerischen’ Gesetzen weiter Paganini, ‘Wie aus Gesetzgebern Betrüger werden’, in S. 49 ff., insbes. S. 73 ff. 45 So Anonymus, Traktat über die drei Betrüger, S. 61, 65 ff.; dabei habe der ‘Haß auf die anderen Völker, den man ihnen mit einem Hochmut, dessen nur die größten Schwachköpfe fähig sind, einflößte,’ die Juden ‘an den Gott des Moses’ gebunden (ebd., S. 97, § 19). 46 Voltaire, Ueber den Geist und die Sitten der Nationen, 1. Theil, S. 129 ff. (XL). 47 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1. Bd, S. 347 (XV, 17). 48 Lessing, ‘Die Erziehung des Menschengeschlechts’, S. 546 f. (§§ 8 und 18). 49 Lessing, ‘Die Erziehung des Menschengeschlechts’, S. 552, 559 und 561 (§§ 36, 76 und 88). Den von Jacobi, Über die Lehre des Spinoza an den Herrn Moses Mendelssohn, S. 47 und passim, erhobenen Vorwurf, Lessing sei ein Spinozist und Pantheist, sollte der Briefadressat mit einer Verteidigung von Lessings geläutertem Spinozismus in mehreren Streitschriften beantworten.
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Belohnungen.50 Für Moses Mendelssohn schließlich beruht das Judentum im Unterschied zum Christentum und auch zu Lessings Erziehungskonzept nicht auf einer sprachförmigen Religionsoffenbarung, da die ewigen Wahrheiten bereits der ‘menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich’ seien, sondern sogar ‘durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können’; Vernunftwahrheiten samt des Daseins des einen ewigen Gottes ‘offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.’51 Geoffenbart sind im Judentum hingegen die ‘Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln’, die auf einer göttlichen Gesetzgebung beruhten und ‘durch Mosen empfangen’ worden seien, ‘um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen’.52 Gleichwohl finde sich hierin ein ‘unergründliche[r] Schatz von Vernunftwahrheiten und Religionslehren’ eingeschlossen, weil die Gesetze ‘sich auf ewige Vernunftwahrheiten’ gründeten, an sie erinnerten und so ‘zum Nachdenken über dieselben’ erweckten.53 Leitend ist das aufklärerische Anliegen einer kompatiblen Zuordnung von Glaube und Wissen, Vernunft und Judentum. In der Spätaufklärung erklärte Herder ebenfalls ‘Glückseligkeit seines Staates, politische Wohlfahrt des Volkes Jehovah’ zum Zweck der Gesetzgebung Moses’, indem er es verstanden habe, die ‘älteste Weltreligion […] zu erneuern und feierlichst für sein Volk zu nationalisieren.’54 Trotz seiner ägyptischen Erziehung und Formung habe Moses versucht, ‘die alte hebräische Reinheit so viel möglich beizubehalten: wiederherzustellen und nach seiner Zeit zu vervollkommnen.’55 So sei seine Gesetzgebung zwar ‘mit Aegyptischer Staatsweisheit aber so durchflochten’ gewesen, dass er ‘das Volk aus einer Nomadenhorde zu einer kultivierten Nation erhoben’ hätte, aber zugleich habe er es ‘von Aegypten völlig weggelenkt’, es geradezu befreit und ihm eine ‘Verfassung’ gegeben, die auf der Religion und Lebensart seines Volkes gründete.56 Das Gesetzeswerk preist Herder als ‘wunderbar-durchdacht’, als ‘ewiges Gesetz’, ‘feine Nomokratie’ sowie ‘Gesetz der Freiheit’, das späterhin dem Verfall und der Verkrustung preisgegeben worden sei.57 Im Hinblick auf die Wirkungsgeschichte über das Christentum wie den Mohammedanismus spricht Herder von den Hebräern – im Zentrum 50 Lessing, ‘Die Erziehung des Menschengeschlechts’, S. 547 f., 551 und 561 (§§ 17, 23, 32 und 85). 51 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, S. 90 und 101; die jüdische Aufklärung findet einen hochmittelalterlichen Vorläufer in Maimonides, demzufolge die ‘Grundlehren, nämlich das Dasein und die Einheit Gottes, in Wahrheit durch die menschliche Forschung erkannt werden können’; vgl. Maimon, Führer der Unschlüssigen, 2. Buch, S. 229 (Kap. 33). 52 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, S. 90 und 100. 53 Ebd., S. 100. 54 Herder, ‘Vom Geist der Ebräischen Poesie’, S. 1071, und Ders., ‘Älteste Urkunde des Menschengeschlechts’, ebd., S. 356; zu Moses Zeit sei die ‘uralte Religion Aegyptens beinah abgelebt’ gewesen (ebd., S. 354). 55 Herder, ‘Ueber Moses’, S. 203; auf Grund ihrer Wirkmächtigkeit ‘bei dem jüdischen Volke’ sei seine Gesetzgebung ‘formender als selbst Lykurg’s’ gewesen (ebd., S. 204). 56 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 484; das zeitgenössische Ägypten wird im Fortgang über die ‘Armut von Ideen’ und den ‘Stillstand des Verstandes’ charakterisiert. 57 Ebd., S. 484 und 486 f.; eine ‘Revolution’ sei von dem jüdischen Volk nicht noch zu erwarten, sondern bereits ‘wahrscheinlich bewirkt’ (ebd., S. 490). Als ‘Idee Moses’ hebt Herder, ‘Vom Geist der Ebräischen Poesie’, S. 1090, hervor, dass ‘das Gesetz herrsche und kein Gesetzgeber, daß eine freie
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dabei ‘der große Mann, der größte den dies Volk gehabt hat’ – sogar von einer ‘Unterlage des größesten Teils der Weltaufklärung’.58 II. Die Sendung des Moses im Diskurs der Klassik Im Revolutionsjahr 1789 rückte Schiller in origineller Weise Moses in den Menschenrechtsdiskurs ein. Anfang des Sommers, in dem die französische Nationalversammlung ihre ‘Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen’ verkündete, erklärte der frisch berufene Jenaer Philosophieprofessor in seiner Geschichtsvorlesung, Moses habe die Hebräer erst ‘wieder in die Menschenrechte einsetzen’ müssen, die ihnen die Ägypter im Laufe der 400-jährigen Sklaverei auf Grund ihres Aussatzes und nicht zuletzt damit einhergehender Abscheu entzogen hätten.59 Hierin habe eine Voraussetzung ihrer Befreiung gelegen, die sich ohne verbürgte und entzündete ‘Hoffnung’ und ‘Zuversicht’, ohne ein ‘Gefühl eigener Kräfte’, ihrer ‘vereinigten Kräfte’, ohne ‘Gemeingeist’ gar nicht hätte ins Werk setzen lassen.60 Als Quelle und Garant dieser ‘Empfindungen’ habe der ‘egyptische Priester und Staatskundige’ Moses das ‘Vertrauen auf überirdischen Schutz’ und den ‘Glaube[n] an übernatürliche Kräfte’ eingesetzt, welche er im Volk mittels der Verkündigung stiftete, ‘auch einen Beschützer im Sternenkreis’ zu haben, der nun ‘aus seiner Ruhe’ erwacht sei.61 Damit habe er durchaus von ‘Nationalgefühl’ getragen die ‘Partei der Unterdrückten’ ergriffen und den Plan gefasst, ‘Ich will dieses Volk erlösen’ – umgesetzt mittels des ambitionierten Vorhabens, der ‘unterdrückten Nation’ zu diesem Zweck ‘einen Gott zuzuführen’, der ihr aufhilft.62 Geeignet für diese Projekt wäre nur ein ‘Nationalgott’ erschienen, weil ‘nach dem allgemeinen Wahn jener Zeiten […] jedes Volk unter dem Schutz einer besondern Nationalgottheit’ gestanden habe.63 Und schließlich wird dieser Gott nicht nur gebraucht für den Exodus, sondern auf Dauer, wenn die einmal ‘vereinigten Kräfte in einem Staatskörper’ zusammengehalten werden sollen, was zunächst ‘Gesetze und eine Verfassung’ erfordere, die ihrerseits sodann aber der religiösen Fundierung bedürften.64
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Nation es frei annehme und willig befolge’. Die Geltungserstreckung der Gesetze Moses ‘unter jeden Himmelstrich, auch bei ganz andern Verfassungen der Völker’ wertet Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 489, als einen ‘morgenländischen Idiotismus’. Ebd., S. 483 f. Schiller, ‘Die Sendung Moses’, S. 454 und 466; gegenüber derart vom Gotteszorn gezeichneten Menschen hätte man es für erlaubt gehalten, ‘ihnen die heiligsten Menschenrechte zu entziehen’ (ebd., S. 454). Eine ‘gesunde Politik’ wäre demgegenüber schon aus Staatsräson auf Integration ausgegangen und würde ‘darauf geführt haben, sie unter den übrigen Einwohnern zu verteilen und ihnen gleiche Rechte mit diesen zu geben’ (ebd., S. 453). Ob der Menschenrechtsbezug erst in den Thalia-Aufsatz von 1790 eingearbeitet wurde, der aus der Vorlesung des Sommersemsesters 1789 hervorgegangen ist, bleibt spekulativ. Ebd., S. 466 und 473. Ebd., S. 466 f. und 470. Ebd., S. 464 und 466 f. Ebd., S. 469. Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 473.
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Der in Ägypten geschulte ‘Priester und Staatsmann’ Moses habe gewusst, dass Religion die ‘stärkste’ und sogar ‘unentbehrlichste Stütze aller Verfassung’ sei, welche somit auch seine bevorstehende Gesetzgebung benötige. Dabei tritt Moses als der bestimmende politische Akteur auf, der sich gegenüber dem Volk als Organ eines von ihm zuvor gefertigten Gottes legitimiert. Schillers politische Theologie fand ihre Inspirationsquelle in der 1787/88 unter Pseudonym veröffentlichten Schrift über ‘Die Hebräischen Mysterien’ seines Freundes und Jenaer Kollegen Carl Leonhard Reinhold, ehemals jesuitischer Priester, später Schwiegersohn Wielands, Freimaurer, Illuminat und strahlkräftiger Kantianer. Reinhold belegt dort mit Beispielen aus der Antike den theokratischen Ursprung der ältesten Staatsverfassungen, was auf die ‘Notwendigkeit von politischtheologischen Geheimnissen’ verweise, die so alt seyn mußten, als die ältesten Staatsverfassungen, von Geheimnissen, auf welchen das Ansehen der Gesetzgeber und ihrer Gesetze gegründet war, und wozu Niemand als die Gesetzgeber und ihre Gehilfen den Schlüssel haben durfte.65 Das Grundmodell hierfür habe Ägypten abgegeben, das nicht ohne Grund als ‘Schule der Gesetzgeber’ wie eben auch ‘Vaterland der Mysterien’ galt und für ‘die Benutzung des politischen Kunstgriffes’ stand, der ‘in dem Heiligthume dieses Volkes’ zu lernen war.66 Reinholds Hauptthese war nun, dass der Gesetzgeber der Hebräer ‘seine Weisheit aus der Quelle der ägyptischen Mysterien geschöpft’ habe und es sich beim mosaischen Werk um ‘eine getreue Kopie der geheimen Religion der Ägyptier’ handele.67 Dabei habe Moses, das was bei den Ägyptern geheim zu halten gewesen sei, den Hebräern, ‘so weit es anging’, offenbart. Die im großen Geheimnis der Mysterien Ägyptens bewahrte ‘philosophische Gottesverehrung’ sei auf diese Weise in die ‘gemeine Volksreligion ihrer flüchtigen Knechte’ übergegangen, allerdings mit dem Unterschied, dass das, was den wenigen eingeweihten Epopten Ägyptens eine ‘vernünftige Erkenntnis war’, bei den Hebräern ‘nie etwas mehr als blinder Glaube werden konnte.’68 Zudem habe Moses das von den Epopten eingesehene, aber vor dem ‘Pöbel’ verheimlichte ‘Daseyn eines einzigen Urwesens’ dem Zeitgeist entsprechend in einen ‘Nationalgott der Hebräer’ verwandelt, der ‘in eigener Person’ zu ihrem ‘Schutzgott, Gesetzgeber und Regent’ geworden sei, der die ‘einzige Stütze der
65 Reinhold, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, S. 67. Die Abhandlung geht wiederum auf zwei Aufsätze aus dem Jahre 1786 zurück. Die ‘Einschränkung der Zügellosigkeit durch Aberglauben’ zählt Reinhold ‘unter die vornehmsten Erziehungsanstalten des jungen Menschengeschlechts’ (ebd., S. 65). 66 Ebd., S. 68. 67 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 32. 68 Ebd., S. 71 und 73; der Verrat der ‘erhabenen Geheimlehre’, der bei den Juden eine ‘gemeine Volksreligion’ stiftete, habe dazu geführt, dass ‘die Wahrheiten, die man fast in der ganzen übrigen Welt nur den besten und edelsten Menschen anzuvertrauen gewohnt war, der gemeinste Besitz des dümmsten und bösartigsten Pöbels wurde, der uns aus der älteren und neueren Geschichte bekannt ist’ (ebd., S. 33 f. und 71).
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Constitution, die höchste Sanktion der Gesetzgebung, die einzige Quelle der obrigkeitlichen Gewalt’ wie ‘einzige Gewährleistung […] aller Rechte und Ansprüche von Regenten und Unterthanen’ bildete.69 Für die Herkunft Jehovas aus den großen Mysterien spricht Reinhold zunächst Voltaires Rückführung auf das ägyptische ‘J-ha-ho’ oder ‘J-a-o’ an, um dann ‘stärkere Gründe’ via der hebraäischen etymologischen Bedeutung von ‘der da ist’, also das ‘Daseyn von sich selbst’ hat, anzuführen.70 Das alttestamentliche ‘Ich bin, der ich bin, der ist’ (Ex 3,14) setzt Reinhold sodann in direkten Bezug sowohl zu der ‘alten ägyptischen Inschrift […] auf der Pyramide zu Sais: Ich bin alles, was ist, war oder seyn wird’ als auch der Inschrift ‘unter der Bildsäule der Isis: Ich bin was da ist’, was Schiller später aufnehmen wird.71 Die Namenlosigkeit Gottes wird unter Berufung auf ‘Trismegistus’ (Corpus Hermeticum) aus der Abgrenzung vom ‘Trosse der gemeinen Götter’ erklärt, die gerade in ihrer Begrenztheit und Unterscheidbarkeit der Benennung zugänglich waren, was die Epopten der Mysterien bereits begriffen hätten. Die Wurzeln Reinholds reichen zurück vor allem zu William Warburtons ‘The Devine Legation of Moses’ (1738–41), der in einer bis auf antike Autoren zurückgehenden Tradition religionskritisch aufklärerisch die Fingierung von Göttern seitens der Herrscher und Gesetzgeber herausstellt, die sich auf diese Weise Autorität zu verschaffen suchten.72 Nicht direkt Priesterbetrug, aber lebensdienliche, zivilisatorisch innovative Instrumentalisierung von Religion zur Rechts- und Herrschaftsstabilisierung lautet die Diagnose, von der der englische Bischof lediglich die christliche Offenbarungsreligion ausnimmt. Diese Fundierungsfunktion hätte die menschheitsgeschichtlich ursprüngliche religiöse Verehrung der einen grenzenlosen Natur jedoch nicht für separierte Gesellschaften, Nationen und Identitäten wahrnehmen können. Deswegen sei es zur Erfindung passender Gottheiten gekommen, für die man ‘verdiente Gesetzgeber, Kulturgründer, Heroen, Häuptlinge und Könige’73 verwandte. Heidnische Religionen bedienen sich also im Rahmen politischer Theologie der legitimen Fiktion von Göttern, die allerdings vor der weiter wirkenden Glaubenswahrheit der natürlichen Religion geschützt werden müssen.74 Vor der Entlarvung der erfundenen Götter bewahrt die Verweisung der Urreligion ins Verborgene, woraus eine religio duplex resultiert, die aus einem Polytheismus fürs Volk und einem Monotheismus der eingeweihten Epopten besteht.75 Die Geheimreligion wiederum zerfällt bei Warburton in die kleinen und großen Mysterien: Die kleinen Mysterien wirken geheimnisvoll anziehend und lehren Gesetzesmoral und Gottesfurcht samt der hierdurch begründeten Aussicht
69 Ebd., S. 75, 77 und 86. 70 Ebd., S. 39 ff. 71 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 41 f. 72 Hierzu und zum Folgenden Assmann, Nachwort, in ebd., S. 179 ff. 73 Treffend Assmann, Reinholds Die Hebräischen Mysterien und Schillers Die Sendung Moses, S. 13. 74 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 13 f. 75 Assmann, Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, S. 323.
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auf ein Leben nach dem Tode; sie wirken damit staatstragend. Die großen, nur dem kleinsten Kreis der Herrscher und obersten Priester zugänglichen Mysterien hingegen zerreißen die Fiktionen und lassen die Wahrheit schauen; ihre öffentliche Enthüllung würde Recht und Staat zerstören.76 Reinhold übernimmt diese Kategorien, jedoch nicht die Ausnahmethese für das Christentum und die hebräische Religion; ganz im Gegenteil soll Moses ihm zufolge die religio duplex ins Judentum übertragen haben. Zur Bestimmung der kleinen Mysterien der Hebräer wiederum konnte Reinhold sich auf Spencers ‘De legibus Hebraeorum ritualibus et earum rationibus’ (1685) stützen, der bereits die Transkodifikation der ägyptischen Riten ins mosaische Gesetz gelehrt hatte,77 mit der Folge, dass ‘die 613 Gebote und Verbote der Torah’ nichts anderes als abkopierte ‘Hieroglyphen, Ceremonien und Ritualvorschriften’78 ägyptischer Provenienz darstellen. Reinhold zufolge finden die ägyptischen Mysterien ihre Fortsetzung in hebräischen Mysterien, die die ‘hebräische Hierarchie’ absicherten, gerade weil bald nach Moses die hebräische Theokratie nicht nur den ‘Thron’, wenn auch unter Verzicht ‘auf alle gesetzgebende Macht’, sondern ‘alle untergeordneten Staatsbedienungen mit gutem Willen und Vorsatz den Layen überlassen’ hatte.79 Die ‘siebenzig Aeltesten’ erhielten ‘einen höhern Grad von Initiation als das übrige Landvolk’ und ihnen wurde ‘etwas von dem Geiste des Gesetzgebers’ mitgeteilt, was ‘für das Volk auf immer Geheimnis bleiben’ musste.80 Reinhold führt in diesem Zusammenhang auch Warburtons Vergleichung der Prophetenschule mit einer ‘Akademie der jüdischen Staats- und Gesetzeskunde’ an, deren Hauptzweck ‘die Erhaltung der Theokratie’ gewesen sei.81 Schließlich zieht Reinhold eine Verbindungslinie von den hebräischen Mysterien zu einer ebenfalls von blindem Glauben und Gehorsam getragenen Form der Freimauerei, die er die ‘eigentliche und wahre Prophetenschule der Freymaurerey’ nennt.82 Ihr gegenüber positioniert Reinhold eine Form wissenschaftlicher Freimauerei in der Nachfolge der ägyptischen Epopten,83 die ‘das Organ des blinden Glaubens in ein Organ der Vernunft umschaffen’84 wolle. Die für die Dechiffrierung und (Re)Konstruktion der in Ägypten entstandenen Doppelbödigkeiten einer ‘geheimen und esoterischen Lehre für die 76 Ebd., S. 100 f., weswegen korrekterweise von einer ‘religio triplex’ zu sprechen wäre. 77 Assmann, Reinholds Die Hebräischen Mysterien und Schillers Die Sendung Moses, S. 15 f. 78 Assmann, ‘Nachwort’, in: Reinhold, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, S. 162. 79 Reinhold, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, S. 81 ff. 80 Ebd., S. 91; dieses Kollegium habe in der Folge zwar den ‘Schlüssel zu seinen Geheimnissen’, nicht jedoch sein Ansehen verloren (ebd., S. 92 f.). 81 Ebd., S. 98. 82 Ebd., S. 119. 83 Assmann, ‘Nachwort’, in: ebd., S. 19; gegen eine Identifikation der Reinholdschen Position mit dem pantheistischen ‘Hen kai pan’ vgl. Wübben, ‘ Ich bin alles, was da ist“. Zur Auslegung der Isis” Inschrift bei Schiller und Reinhold’, S. 142. 84 Reinhold, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, S. 121. Zur spezifisch politischen ‘Funktion des arcanum’ zur Verschleierung der ‘Dialektik zwischen Moral und Politik’, das heißt der politischen Konsequenzen der kosmopolitischen ‘moralischen Totalitätsvorstellung’ der Maurer, Kosellek, Kritik und Krise, S. 68 ff.
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regierenden Priester neben der öffentlichen und exoterischen für das Volk’ wie dann von kleineren und größeren Mysterien, wobei ‘die einen verbargen, was die andern verhüllten’,85 entwickelten Theoriefolien entfalteten mithin eine hohe Attraktivität für die Bestimmung geheimgesellschaftlicher Selbstverständnisse. Schiller setzt den Akzent hingegen auf die aufklärerischen Gehalte der mosaischen Staats- und Religionsgründung und lobt die hierbei eingesetzte ‘Stärke des Verstandes’, der wir schlussendlich einen ‘großen Teil der Aufklärung’ verdankten, ‘der wir uns heutiges Tags erfreuen.’86 Anders als Reinhold kennt er denn auch keine hebräischen Mysterien, sondern betont, dass Moses den ‘wahren Gott’ des ägyptischen Arkanums und seiner eigenen ‘Vernunftreligion’ den Hebräern auf eine ‘fabelhafte Art’ verkündigt habe, womit dieser zur Grundlage des Staates samt seiner ‘Grundverfassung’ und Gesetzgebung geworden sei.87 So sei Moses ‘zum Besten der Welt und der Nachwelt […] ein Verräter der Mysterien’ geworden, indem er ‘eine ganze Nation an einer Wahrheit’ teilhaben ließ, die zuvor ‘nur das Eigentum weniger Weisen war.’88 Moses fungiert hiermit sowohl als ‘Motor der israelitischen Ethnogenese’89 als auch einer universalhistorischen, menschheitsgeschichtlichen Entwicklung hin zu einer mit ihm einsetzenden zivilen ‘öffentlichen Gesetzgebung’, die sowohl den Arkankult als auch den Polytheismus überwindet.90 Den wegen der fabelhaften Verkündigung nicht bereits selbst fabelhaften, sondern gleichwohl wahren Grund der mosaischen Gesetzgebung brauche ein ‘künftiger Reformator’ deswegen auch nicht einzustürzen wie bei falschen Religionen, ‘sobald die Fackel der Vernunft sie beleuchtet.’91 Vermochte die geschlossene Elite der ägyptischen Epopten die Wahrheit der ‘Lehre von dem Einigen Gott’ bereits ‘durch ihre Vernunft’ zu erkennen, während die Hebräer ‘nur blind daran glauben’ konnten, so zählt für Schiller zivilisationsgeschicht-
85 Reinhold, Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, S. 68 und 89. 86 Schiller, ‘Die Sendung Moses’, S. 451: Beschleunigungseffekt gegenüber einer ‘sich selbst überlassene[n] Vernunft’. Im 24. Brief zur ästhetischen Erziehung wird Schiller 1795 in den ‘Horen’ ausführen, der Mensch habe dem ‘Gesetz der Notwendigkeit einen Anfang in der Zeit, einen positiven Ursprung’ gegeben und die ‘Begriffe von Recht und Unrecht als Statuten […], die durch einen Willen eingeführt wurden,’ aufgefasst, was ‘seine Menschheit’ verscherze durch eine ‘Religion, die mit der Wegwerfung seiner Menschheit erkauft wurde’; Schiller, ‘Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen’ (1794), S. 653 f., wobei er ohne ‘die Würde des Gesetzgebers in sich zu ahnen, […] bloß den Zwang und das ohnmächtige Widerstreben des Untertans’ empfunden habe. In dieser Passage sieht Matuschek, Kommentar zu Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 207 f., eine Kritik der alttestamentlichen Gottesvorstellung und jüdischen Gesetzesreligion, da im ‘Fall des Gesetzgebergottes […] die vernünftigen Moralgesetze durch die Projektion menschlicher Willkürherrschaft’ verfehlt würden. Schillers Kritik ergreift jedwede unselbständig-unmündige Herleitung von Moral und Gewissensinhalten aus Gotteswillen, was jedoch die katalytische Funktion der mosaischen Gesetzestafeln nicht in Abrede stellen muss. 87 Schiller, ‘Die Sendung Moses’, S. 468 und 473 f.; Schiller hebt lediglich die ‘merkwürdige Ähnlichkeit’ zwischen den ägyptischen Mysterien und Moses Werk hervor (ebd., S. 457). 88 Ebd., S. 474. 89 Assmann, Reinholds Die Hebräischen Mysterien und Schillers Die Sendung Moses, S. 23. 90 Treffend Wübben, ‘Moses als Staatsgründer. Schiller und Reinhold über die Arkanpolitik der Spätaufklärung’, 151. 91 Schiller, ‘Die Sendung Moses’, S. 474.
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lich die Tradierung dieser Wahrheit, ‘bis sie endlich’, nun auch mit breiter Strahlkraft, ‘in den helleren Köpfen zu einem Vernunftbegriff reifen konnte.’92 Moses Meisterleistung besteht folglich darin, dass er den ‘Weltschöpfer’, das ‘Wesen aller Wesen’ an die ‘Fassungskraft’ des in der Sklaverei abgestumpften und verrohten Volkes angepasst, ihn auf einen ‘Nationalgott’ reduziert hat, an den der ‘eitle kindische Stolz’ der Hebräer zu glauben half – seinerseits zwar ein ‘Irrglauben’, aber der Wahrheit schon ‘um vieles näher’.93 Gelingen konnte dies nur mittels der schicksalhaften Figur eines ägyptisch erzogenen Hebräers, der als Adoptivsohn des Pharaos aller Wahrscheinlichkeit nach vollständig in die ägyptischen Mysterien eingeweiht worden sei. Die Genese dieser Mysterien verbindet Schiller mit der Entstehung des ersten kultivierten Staates in Ägypten, da die mit ihm einhergehende Arbeitsteilung die Ausbildung eines gesonderten Standes erlaubt habe, dem die ‘Sorge für göttliche Dinge’ oblag.94 Der von Alltagssorgen befreite menschliche Geist konnte sich in diesem Rahmen ‘ganz allein der Betrachtung seiner selbst und der Natur’ hingeben, weshalb hier auch die ‘erste Idee von der Einheit des höchsten Wesens zuerst in einem menschlichen Gehirne vorgestellt’ und sodann gedanklich veredelt worden sei. Anders als bei Warburton und Reinhold bildet nicht eine ‘Ur-Religion der All-Einen Natur’95 den Ausgangspunkt, sondern eine eher diffuse Lage, in der ‘Vielgötterei und Aberglaube’ herrschten und ‘Ideen vom höchsten Wesen’, wenn überhaupt, dann ‘weder rein noch edel’ bestanden und keinesfalls auf ‘eine helle vernünftige Einsicht’ gründeten. Die einmal gefundene Wahrheit sei dann im kleinen Kreis der Eingeweihten verwahrt, tradiert und mit dem geheimnisvollen Gewand von Hieroglyphen, Zeremonien und Götterbildern wie der Sphinx umkleidet, jedoch wegen der ihr immanenten Verachtung des Polytheismus nicht verbreitet worden, weil dies die tragenden Säulen des ganzen Staatsgebäudes hätte einstürzen lassen. Schiller verortet die Mysterien in den Tempeln der Isis und des Serapis, in Heliopolis und Memphis, später in Eleusis und Samothrazien.96 Den als ‘einzige höchste Ursache aller Dinge’ und ‘eine Urkraft der Natur’ erkannten Gott setzt Schiller mit dem ‘Demiurgos der griechischen Weisen’ gleich und begründet seine Namenlosigkeit im mangelnden Unterscheidungsbedürfnis.97 Wie Reinhold verweist er auf die Inschriften ‘Ich
92 Ebd., S. 451 und 474. 93 Ebd., S. 461 und 468 f.; den wahren Gott konnte Moses den Hebräern schon deswegen nicht offen als Schutzinstanz verkündigen, da dieser sich um sie ‘ja nicht mehr als um irgend ein andres Volk’ bekümmerte (ebd., S. 568). Immerhin charakterisierte auch seinen Nationalgott ‘die Einheit und die Allmacht’, handelte es sich doch nicht nur um den ‘mächtigsten aller Götter’, sondern um den ‘Einzigen’ (ebd., S. 469). Zugleich habe Moses ‘seinen Jao’ findig ‘zum Gott ihrer Väter’, zu dem ‘alten und wohlbekannten Gott’ Jehova erklärt (ebd., S. 471). 94 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 458. 95 Assmann, Reinholds Die Hebräischen Mysterien und Schillers Die Sendung Moses, S. 25. 96 Schiller, ‘Die Sendung Moses’, S. 460. 97 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 461; Assmann, Reinholds Die Hebräischen Mysterien und Schillers Die Sendung Moses, zeigt dieses Argument bereits bei Nikolaus von Kues (‘De docta ignorantia’) auf, wie dann die Verknüpfung von Namenlosigkeit und Erhabenheit bei Schiller und schließlich, dass Kant der Inschrift von Sais und dem Bilderverbot in höchster Weise Erhabenheit zugeschrieben
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bin, was da ist’ der Bildsäule der Isis und ähnlich in der Pyramide zu Sais. Dieser ‘reine Deismus’98 habe mit dem Götzendienst in einer Doppelung von Priesterund Volksreligion (religo duplex) koexistiert. Ausführlich schildert Schiller die Initiation der Einzuweihenden über die verschiedenen Grade und Stufen der Mysterien hinweg, aber auch deren Verfallsgeschichte, um dann Moses sich des bereits in Ägypten so ‘wirksamen Instruments’ der Steuerung von ‘Millionen roher Menschen’99 durch Religion auf eigenwillige Weise bedienen zu sehen. Entgegen der These, Schillers Jenaer Vorlesungen zeitgleich zur Französischen Revolution würden ‘nichts davon’ in sich spiegeln,100 erscheint Moses im untersuchten Text als ‘Anführer des Volkes’,101 das er und das sich aus seiner ägyptischen Unterdrückung befreit, in kollektiv wie individuell verstandene Menschenrechte einsetzt und einer Verfassunggebung zuführt. Eher überzeugt eine Lesart, die Schillers Moses ‘auf die revolutionäre Situation hin’ deutet,102 indem sie die schlechte, klerikal abgestützte ägyptische Politik sowie die aufklärerische und politische Mission des Protagonisten herausstellt. Zu Recht wird dabei eine Ambivalenz Schillers insofern betont, dass er bereits hier zugleich revolutionskritische Argumentationsfolien entwickelt, wenn Moses ihm zufolge die Verfassunggebung noch vor Erreichen individueller und kollektiver Mündigkeit vollzieht und hierzu den ‘neuen Aberglauben nationaler Erwählung’ einsetzt.103 Der Hinweis hingegen, Schiller distanziere sich im Text ‘explizit von Umsturzbewegungen jeglicher Art’, wenn dort die Figur eines künftigen ‘Reformators’ bemüht wird, der die ‘allgemeine Progression des Menschengeschlechts’ nicht durch Umsturz, sondern Fortschreibung der mosaischen Verfassung befördere,104 vermag dagegen nicht vollends zu überzeugen. Denn die evolutionäre Option beruht hier auf der einmal (revolutionär) vollzogenen Implantierung einer ‘Vernunftwahrheit […] ‘in nuce’’105 in das Verfassungswerk, wie sie auch nach einer abgeschlossenen französischen Revolution der kontinuierlichen Entfaltung und Fortentwicklung hätte überschrieben werden können. Explizit nimmt Goethe hingegen die ‘Vergleichung mit den neuern Franzosen’106 in einem Entwurf zu einem Moses-Aufsatz vom Frühjahr 1797 vor, der allerdings erst 1819 unter dem Titel ‘Israel in der Wüste’ Eingang in den Prosa-Teil des West-
habe (S. 22 und 26 ff. mit weiteren Nachweisen); vertiefend Ders., Das verschleierte Bild zu Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe, S. 9 ff., unter Einbeziehung von Plutarchs (‘De Iside et Osiride’) Darstellung der ägyptischen Arkantheologie. 98 Schiller, ‘Die Sendung Moses’, S. 462. 99 Ebd., S. 467. 100 Koopmann, ‘Das Rad der Geschichte’, S. 67. 101 Dann, ‘Kommentar’, S. 833. 102 Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, S. 45. 103 Ebd., S. 46. 104 Wübben, ‘Moses als Staatsgründer’, 156; die Reformthese hätte die Illuminaten vom ‘verschwörungstheoretischen Vorwurf ’ entlasten sollen, im Wege der Arkanpolitik subversiv zu wirken (ebd., S. 157). 105 Ebd., S. 156. 106 Goethe, ‘Entwürfe zum Prosa-Teil’, S. 620.
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östlichen Divans und auf diese Weise Veröffentlichung fand. In einem Brief an Schiller vom April 1797 erwähnt Goethe, dass er ‘in das alte Testament geraten’ sei und sich ‘aufs neue nicht genug über die Konfusion und Widersprüche der fünf Bücher Mosis verwundern’ könne, die ‘denn freilich wie bekannt aus hunderterlei schriftlichen und mündlichen Traditionen zusammengestellt’ seien.107 Drei Tage später erklärt der Weimarer Briefschreiber, der ‘ganze Spaß’ laufe darauf hinaus, ‘das menschlich wahrscheinliche von dem absichtlichen und bloß imaginierten zu sondern’,108 nachdem der Jenaer Korrespondent erklärt hatte, ‘daß ich in allem was historisch ist, den Unglauben zu jenen Urkunden gleich so entschieden mitbringe’, und ihm die Bibel nur wahr sei, ‘wo sie naiv ist’, während er dort, wo sie mit ‘einem eigentlichen Bewußtsein geschrieben’ sei, ‘einen Zweck und einen späten Ursprung’ fürchte.109 Ohne seinen eigenen Moses-Essay in diesem Briefwechsel je zu erwähnen, verspricht Schiller eine Aufnahme von Goethes Beitrag samt Karte in die Horen, worauf Goethe, der Schillers Moses ebenfalls nicht aufgreift, von späterer Warte aus vorausschauend mitteilt, er wolle noch sehen, ‘ob auch mein Moses wirklich fertig wird.’110 Inhaltlich aufschlussreich im Briefwechsel erscheint Goethes Rapport, er studiere zugleich ‘jetzt in großer Eile das alte Testament und Homer’,111 sowie der Hinweis, die ‘beyden handfesten Pursche Moses und Cellini’, ein unter anderem aus Rache mordender manieristischer Renaissance-Bildhauer, hätten sich ‘zusammen eingestellt’ und würden nebeneinander betrachtet eine ‘wundersame Ähnlichkeit’ aufweisen.112 Anders als Schiller formt Goethe seinen Moses denn auch nicht zum ‘Medium abstrakten Wissens’, das Mysterien popularisiert, einen universal-vernünftigen Monotheismus verkündigt und einen ‘Akt kollektiven Erinnerns einleitet’,113 sondern macht ihn von Anfang an zum ‘Mann der That und nicht des Raths’.114 Von einem ‘gewaltsamen Urvater’ entsprungen, rächte Moses ‘meuchelmörderisch als einzelner, ein einzeln begangenes Unrecht’: angefangen beim erschlagenen ägyptischen Aufseher über die von ihm angeordnete ‘umgekehrte sicilianische Vesper’ in Form einer Ermordung der Erstgeborenen im Gastland, die Rache an Ungehorsamen und Widerspenstigen im eigenen Lager bis hin zum Tod seiner Geschwister Aron und Miriam, die sterben, nachdem sie, wie Goethe am Rand notierte, ‘kurz vorher gegen ihn rebellirt hatten.’115 Unfähig zur Rede habe sich bei ihm alles ‘auf That concentriert’, habe ihn sein Ungeschick in der ‘Behandlung 107 Goethe, ‘Brief an Schiller vom 12. April 1797’, in Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, S. 326. 108 Goethe, ‘Brief an Schiller vom 15. April 1797’, ebd., S. 329. 109 Schiller, ‘Brief an Goethe vom 14, April 1797’, ebd., S. 327. 110 Goethe, ‘Brief an Schiller vom 6. Mai 1797’, ebd., S. 347. 111 Goethe, ‘Brief an Schiller vom 19. April 1797’, ebd., S. 330. 112 Goethe, ‘Brief an Schiller vom 27. Mai 1797’, ebd., S. 352; darauf Schiller, ‘Brief an Goethe vom 27. Mai 1797’, ebd.: ‘Moses sowie Sie ihn genommen ist dem Cellini wirklich gar nicht so unähnlich, aber man wird die Parallele greulich finden.’ Goethe war zu dieser Zeit mit der Übersetzung der Autobiographie von Benvenuto Cellini beschäftigt. 113 Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, S. 105 f. 114 Goethe, ‘Entwürfe zum Prosa-Teil’, S. 620. 115 Ebd., S. 617 ff.
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der Menschen zu seinem Zwecke’ auf Gewaltsamkeit festgelegt, wogegen auch seine Erziehung bei Hofe nichts auszurichten vermochte.116 Goethe zeichnet das Charakterbild eines starken, gewaltsamen, ‘das rechte und große’ wollenden Mannes mit einem lebhaften ‘Gefühl von Recht und Unrecht’, der unbeirrt an seiner Idee festhält und dem ‘zur Ausführung seiner großen Absicht für sein Volk alles erlaubt schien.’117 Vor dem Hintergrund dieser ‘Sphäre der Gewaltsamkeiten’ hat man Goethes Vergleich mit den ‘neuern Franzosen’ auf die ‘Männer der Revolution’118 wie auch die ‘Revolutionsgeneräle’, namentlich den ‘jungen Napoleon Buonaparte’,119 bezogen. Die erst in der veröffentlichten Endfassung behauptete Ermordung Moses durch Josua und Kaleb120 – Vorwegnahme einer prominenten Freud-These – hat dann sogar von einem ‘Danton-Schicksal’121 sprechen lassen. Anspielungsreich nennt Goethe zu Beginn dieses Textes den ‘Conflict des Unglaubens und Glaubens’ das ‘eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschheitsgeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind’, wobei die Zeiten des Unglaubens allenfalls einen ‘kümmerlichen Sieg behaupten’ könnten, aber nach ihrem augenblicksgebundenen ‘Scheinglanze’ vor der Nachwelt ‘verschwinden’ würden, würde sich doch ‘niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen’ wollen.122 Dabei stand Goethe wahrscheinlich die Einordnung der Französischen Revolution als einer ‘Epoche des allgemeinen Unglaubens’ in François-René de Chateaubriands ‘Génie du christianisme’ (1802), ein Schlüsseldokument der katholischen Romantik in Frankreich, vor Augen.123 Goethes Moses-Bild kontrastiert auch insofern zu dem von Schiller gezeichneten, als das Element des Religionsstifters und -mittlers vollkommen in den Hintergrund tritt und stattdessen der Feldherr und Regent dominiert. Jedoch ‘nicht zum Denken und Ueberlegen geboren’, ermangelte es diesem Moses an Führungsstärke, und hatte er ‘noch weniger Feldherren- als Regententalente’, so dass seine Mörder ‘die seit einigen Jahren ertragene Regentschaft eines beschränkten Mannes zu endigen’ beabsichtigten.124 Mittels seiner bibelkritischen
116 Ebd., S. 617 und 620. Seine Adoption schrumpft bei Goethe zur Begünstigung durch eine Fürstin (ebd., S. 633), und alle ‘vorherige Cultur, die er möchte gehabt haben, hatte nicht gewirkt seinen gewaltsamen Charakter zu bändigen’ (ebd., S. 617). 117 Ebd., S. 620 und 633. Die ‘Grundsätze’ des auswandernden Volkes hätten in einem ‘Eroberungsrecht’ gelegen, das jeden Widerstand als ‘unrecht’ ausgewiesen habe, so dass der sich und das Seinige Verteidigende zum ‘Feind’ geworden sei, ‘den man ohne Schonung vertilgen’ konnte (ebd., S. 621). 118 Galling, ‘Goethe als theologischer Schriftsteller’, S. 541. 119 Zipfel, ‘ Ich hätte Euch einen ganz anderen Moses machen wollen“ – Überlegungen zu Goethes ” Moses-Bild in Israel in der Wüste’, S. 210. 120 Goethe, ‘Israel in der Wüste’, in Ders., West-östlicher Divan, Teilband 1, S. 239. 121 Galling, ‘Goethe als theologischer Schriftsteller’, S. 542. 122 Goethe, ‘Israel in der Wüste’, S. 230; hieran anknüpfend Assmann, Totale Religion, S. 79 und 93 ff. mit weiteren Nachweisen zum Thema Monotheismus und Widerstand. 123 Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, S. 105; Schottroff, ‘Goethe als Bibelwissenschaftler’, S. 120, weist darauf hin, dass Goethe von den fünf Büchern Moses die Genesis als ‘Triumpf des Glaubens’ verstanden, die Bücher ‘Exodus bis Deuteronomium’ hingegen dem Thema ‘Unglauben’ gewidmet gesehen habe. 124 Goethe, ‘Israel in der Wüste’, S. 233, 237 und 239.
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Methode reduziert Goethe allerdings den Wüstenzug von den nur symbolisch aufzufassenden, scheinbar planlos vertanen vierzig auf zwei Jahre, womit er ‘alles Böse’, was er über den Talentlosen geäußert hat, ‘wieder ausgeglichen und ihn an seine rechte Seite gehoben’ sieht.125 Sehr plausibel nimmt sich diese Wiederherstellung des großen Heerführers ‘in seinem ganzen Werthe’126 und die damit einhergehende Rehabilitierung des ihn begleitenden Gottes nicht aus. Von daher stützt Goethe sich am Ende des Textes nicht auf die Talente, sondern die ‘Persönlichkeit’ des Mannes, auf der sein ‘Charakter’ ruhe und die ein ‘höchst bedeutendes und würdiges Bild giebt’, da sie einen Mann zeige, ‘der durch seine Natur zum Größten getrieben’ worden sei, womit der ‘innerliche, eigentliche Ur- und Grundwerth’ der Geschichte ‘nur desto lebhafter und reiner’ hervortrete.127 Das große, an seiner Größe scheiternde Individuum vermag dann auch an den ‘Faust-Stoff ’128 und an die griechischen Helden der Ilias129 zu erinnern, auf die die bereits erwähnte Parallelbeschäftigung mit Homer hindeutet. Ein bezeichnendes Licht auf die marginalisierte Rolle der mosaischen Gesetzgebung wirft das gegenüber der Redaktion des Pentateuch geäußerte Unverständnis hinsichtlich der ‘eingeschaltete[n] zahllose[n] Gesetze’, die nur den ‘Gang der Geschichte’ hemmten und von deren ‘größtem Theil man die eigentliche Ursache und Absicht nicht einsehen’ könne, ‘wenigstens nicht warum sie in dem Augenblick gegeben worden’ seien, handele es sich doch vor der Landnahme im Wüstenzug bei ungewisser Zukunft um ein unnütz vervielfältigtes ‘religiöse[s] Ceremonien-Gepäck’.130 Für Goethe handelte es sich denn auch bei den Tafeln des Bundes nicht um ‘Universalverbindlichkeiten’,131 sondern um partikulare Landesgesetze mit Gültigkeit allein für ein einzelnes Volk, wie es bereits Spinoza geschrieben hatte.132 So unterscheidet er zwischen dem, ‘was gelehret und geboten wird’, wobei er unter der Lehre dasjenige versteht, ‘was allen Ländern, allen sittlichen Menschen gemäß sein würde’, unter dem Gebotenen jedoch das, ‘was das Volk Israels besonders angeht und verbindet.’133 In einem anonym veröffentlichten frühen Beitrag aus dem Jahre 1773 hatte Goethe die Frage ‘Was stund auf den Tafeln des Bundes?’ dahingehend beantwortet, es seien nicht die ‘zehen Gebote, das erste Stück unseres Katechismus’ gewesen,134
125 Ebd., S. 247. 126 Ebd., S. 246. 127 Ebd., S. 247. 128 Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, S. 107; ausführlich Burdach, Faust und Moses. 129 Zipfel, ‘ Ich hätte Euch einen ganz anderen Moses machen wollen“ – Überlegungen zu Goethes ” Moses-Bild in Israel in der Wüste’, S. 212 f. 130 Goethe, ‘Israel in der Wüste’, S. 231. 131 Goethe, ‘Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen’, in ders., Ästhetische Schriften 1771–1805, S. 136. 132 Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza, S. 58 f. mit weiteren Nachweisen. 133 Goethe, ‘Israel in der Wüste’, S. 231. 134 Goethe, ‘Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen’, S. 133.
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sondern partikulare rituelle Kultgesetze.135 Möglicherweise hatte Goethe kongeniale Thesen bereits in seiner von der Straßburger Fakultät 1771 als etwas ‘Gefährliches’136 zurückgewiesenen rechtswissenschaftlichen Dissertation ‘De legislatoribus’ vertreten,137 die als verloren gelten muss. III. Moderne Perspektiven und Variationen Einen Mangel an verwirklichter Freiheit in der mosaischen Gesetzgebung bemerkte Hegel in seinen frühen Frankfurter Schriften. Ohne Eigentum, Recht und Freiheit war der einzelne auf die Familie angewiesen, die sich ihrerseits hinsichtlich des Bodens durch die ‘Gleichheit, gar keine Rechte an ihm zu haben’,138 auszeichnete. So habe auf Grund der mosaischen Verfassung nur der ‘Schein eines inneren staatsrechtlichen Verhältnisses’ bestanden und ‘eigentlich gar keine Staatsbürgerschaft’ stattgefunden ‘wie in jeder Despotie’. Die gesetzliche Gängelung wird Heinrich Heine dann als ‘Menschenmäkelei’ bezeichnen, die das Volk aus Ägypten, ‘dem Vaterland der Krokodile und des Priestertums’ mitgebracht habe – als eine ‘sogenannte positive Religion’ mit einem ‘Gerüste von Dogmen, an die man glauben, und heiliger Zeremonien, die man feiern mußte’.139 Der späte Heine wird bekennen, er habe ‘Moses früher nicht sonderlich geliebt’, um dessen ‘Charakter’ sodann in seiner ‘Riesengestalt’ zu erkennen und zum großen ‘Künstler’ zu erklären, der ‘auf das Kolossale und Unverwüstliche’ ausgehend ‘Menschenpyramiden’ gebaut und ‘Menschenobelisken’ gemeißelt habe, indem er einen ‘armen Hirtenstamm’ in ein ‘großes, ewiges heiliges Volk’ umgestaltete, das der ‘ganzen Menschheit als Prototyp dienen konnte’.140 Dagegen moniert Friedrich Nietzsche eine ‘radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität’, eine Abgrenzung ‘gegen alle Bedingungen, unter denen bisher ein Volk leben konnte, leben durfte’, insgesamt eine Umdrehung
135 Schottroff, ‘Goethe als Bibelwissenschaftler’, S. 117; Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, S. 99, der auch auf die entsprechende Inspiration für Julius Wellhausen hinweist. Nicht die universellen Wahrheiten des Dekalogs aus 2. Mose 20,1–17, sondern die speziell auf das Bundesvolk zugeschnittenen Vorschriften aus 2. Mose 34,11–26, hätten sich auf den Tafeln befunden (ebd.). 136 Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 517. 137 Zipfel, ‘ Ich hätte Euch einen ganz anderen Moses machen wollen“ – Überlegungen zu Goethes ” Moses-Bild in Israel in der Wüste’, S. 188; hierzu und zum Fortwirken in den Promotionsthesen ‘Positiones Juris’ Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza, S. 50 ff. 138 Hierzu und zum Folgenden Hegel, ‘Der Geist des Judentums’, in Ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften, S. 290 f.; für den Hegel-Schüler Bauer, ‘Die Prinzipien der mosaischen Rechts- und Religions-Verfassung nach ihrem innern Zusammenhang entwickelt’, S. 299 f., handelt es sich geradezu um ein ‘beliebiges Gesetz’ aus berechnendem Verstand. 139 Heine, ‘Die Stadt Lucca’, in: Ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 2, S. 438. Gegen den ‘realen Andrang der Nachbarvölker’ habe Moses das ‘Volk des Geistes’ durch ‘schroffe Zeremonialgesetze und eine egoistische Nationalität als schützende Dornenhecke’ abgesondert; Heine, Ludwig Börne, ‘Eine Denkschrift’, ebd., Bd. 3, S. 358 f.; das ‘Volk des Buches’, wie der Prophet des Morgenlandes die Juden genannt habe, finde in der Lektüre sein ‘unveräußerliches Bürgerrecht’ (ebd., S. 358). 140 Heine, ‘Geständnisse’, in Ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 5, S. 250 f.
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von ‘Natur-Werthen’.141 Vertraut mit Julius Wellhausens quellenkritischer These einer erst späten Zurechtmachung Moses zum Gesetzgeber und Religionsstifter, liefert er im Zarathustra (‘Von alten und neuen Tafeln’)142 geradezu eine Mosesparodie.143 Sigmund Freuds Mosesroman bettet den ‘Mord an Moses’ in das totemistische Schema einer Tötung des Urvaters, der in diesem Fall ein vornehmer Ägypter und kein Jude gewesen sei.144 Als die vom Echnaton gegen erhebliche Widerstände in Ägypten eingeführte monotheistische Atonreligion nach dem Tod des Pharaos wieder hinweggefegt wurde, habe ihr Anhänger Moses die im Lande weilenden semitischen Stämme auserwählt, diese Religion fortzuführen. Ihr ‘gewaltiges Vatervorbild’ Moses hätten die von ihm in die Freiheit geführten armen, gleichwohl widerspenstigen ‘jüdischen Fronarbeiter’ in einem Aufstand gegen den ‘Tyrannen’ erschlagen.145 Im Zuge einer Vereinigung mit verwandten Volksstämmen habe man dann die Verehrung des midianitischen Volksgottes Jahve übernommen, auf die jedoch nach einer Phase der ‘Latenz’ auf Grund des Mordtraumas im Wege der ‘Wiederkehr des Verdrängten’ eine Überlagerung von Jahve durch den Gott Moses’ ebenso folgte wie die Verschmelzung des ägyptischen Moses mit einem Jahvepriester zur überlieferten Mosesgestalt.146 Das durchaus ambivalente Vaterverhältnis stiftet die ursprünglichen Verbote und bedeute insofern einen ‘Kulturfortschritt’, als hiermit ein ‘Sieg des Vaterrechts’ und der ‘Geistigkeit über die Sinnlichkeit’ einhergehe, wie er sich auch im mosaischen Verbot, sich von Gott ein Bild zu machen, als Abstraktionsleistung zeige.147 Mit seiner ‘ethnologischen Posse’148 hat Freuds Metapsychologie zugleich das ontogenetische ödipale Geschehen an ein phylogenetisches Erbe aus der frühen Menschheitsgeschichte zurückgebunden. Den Aspekt des inzwischen wieder verlorenen Zugangs zum Gesetz fokussiert schließlich Franz Kafkas Türhüterparabel in ‘Der Proceß’, die möglicherweise auf einer mittelalterlichen Midrasch-Legende über Moses aufruht, dem es mit archaischer Gewalt und Gottes Hilfe gelingt, gegen den Widerstand von vier Türhütern für Israel die Thora zu empfangen.149 Als eine Art ‘Anti-Mose’150 personifiziert Kafkas Mann vom Lande in dem im ersten Jahr des Ersten Weltkrieges entstandenen Roman die zeitgenössische westjüdische
141 Nietzsche, ‘Der Antichrist’, in Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 191 f. 142 Nietzsche, ‘Also sprach Zarathustra’, in Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 4, S. 246 ff. 143 Hartwich, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, S. 160, 172 und 177. 144 Freud, ‘Der Mann Moses und die monotheistische Religion’, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. XVI, S. 208 und 240. Hierzu und zum Folgenden Pauly, ‘The Dark Side of Law’, S. 150 ff. mit weiteren Nachweisen; instruktive Rekonstruktion und Fortschreibung des Freudschen Ansatzes bei Assmann, Moses der Ägypter, S. 213 ff. und passim. 145 Freud, ‘Der Mann Moses und die monotheistische Religion’, S. 136, 149, 217 und passim. 146 Ebd., S. 141, 144, 152, 170 ff. und 232 ff. 147 Ebd., S. 219 ff. und 226. 148 Manow, Politische Ursprungsphantasien, S. 36 mit weiteren Nachweisen. 149 Hierzu und zum Folgenden Abraham, ‘Mose Vor dem Gesetz”. Eine unbekannte Vorlage zu Kafkas ” ‘Türhüterlegende’’, S. 638 ff. mit weiteren Nachweisen. 150 Abraham, Der verhörte Held. Recht und Schuld im Werke Franz Kafkas, S. 119.
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Identitätskrise, die wesentlich auf einem noch nicht durch Integration in eine neue Gemeinschaft kompensierten säkularisierungsbedingten Traditionsverlust beruht. Entwurzelt und isoliert verspüren die Individuen noch den strafenden Blick des alten Gesetzes, ohne je wieder zu diesem ursprünglich ‘identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Reglement’151 zurückgelangen zu können. Gesprächsweise hat Kafka das ‘Volk der Bibel’ als die ‘Zusammenfassung von Individuen durch ein Gesetz’ bezeichnet, der sich die ‘Massen von heute’ widersetzten, die ‘auf Grund der inneren Gesetzeslosigkeit’ auseinanderstrebten.152 Kafka spricht hier von einer ‘rastlosen Bewegung’, einem ‘Sturmschritt durch die Zeit’ bei nutzlosem Kräfteverbrauch ‘ins Leere’ mit dem Resümee, der Mensch habe ‘hier seine Heimat verloren.’ Zeitgeschichtlich veranlasst und bezogen insistiert Thomas Manns während des Zweiten Weltkrieges entstandene ‘1000 Dollar-Novelle’153 gegen nicht belegte Hitler-Zitate von einer ‘Befreiung vom Fluch des Berges Sinai’ und ‘neuen Gesetzestafeln’154 seinerseits auf der ‘Quintessenz des Menschenanstandes’, dem ‘A und O’ und ‘ABC des Menschenbenehmens’, wie es das ‘Ewig-Kurzgefaßte, das Bündig-Bindende, Gottes gedrängtes Sittengesetz’ formuliert habe.155 Manns ‘Erzählung von der Erlassung der Gebote’156 endet denn auch mit einer FluchRede des Moses auf den Menschen, ‘der da aufsteht und spricht: ‘Sie gelten nicht mehr […]’.’157 Nichts wissend vom unverbrüchlichen Bund ‘zwischen Gott und Mensch’ sei er ‘dumm wie die Nacht, und wäre ihm besser, er wäre nie geboren’, da seinetwegen ‘Blut wird in Strömen fließen’, woraus erwächst: ‘gefällt muß der Schurke sein’; denn die Erde sei zwar ‘ein Tal der Notdurft, aber doch keine Luderwiese.’158 In seiner im April 1943 entstandenen und im Mai gesendeten BBC-Ansprache ‘Deutsche Hörer’ hat Mann den Bezug auch seiner Moses-Novelle zum ‘Krieg’ gegen die ‘blasphemische Schändung’ der Zehn Gebote ausdrücklich hergestellt159 und im Rückblick den ‘kämpferischen Sinn’ des ‘sehr ernste[n]’160 Fluches nachdrücklich betont – ungeachtet der sonst ‘leicht wiegenden Improvisation’, weil es ihm ‘ernst mit dem Gegenstande’ gewesen sei, ‘so scherzhaft das Legendäre behandelt und soviel voltairisierender Spott’ die Darstellung färbe.161 Hervorgegangen war der direkt nach Abschluss
151 Ebd., S. 120. 152 Hierzu und zum Folgenden Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, S. 95. 153 Mann, ‘Brief an Agnes E. Meyer v. 15.12.1942’, in Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14: Thomas Mann. Teil II: 1918–43, S. 635. 154 Rauschning, ‘Vorwort: Eine Unterredung mit Hitler’, S. 12. 155 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 870 und 881 f. 156 Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, S. 19. 157 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 882. 158 Ebd.: ‘Und will meinen Fuß aufheben, spricht der Herr, und ihn in den Kot treten, – in den Erdengrund will Ich den Lästerer treten hundertundzwölf Klafter tief, und Mensch und Tier sollen einen Bogen machen um die Stätte, wo Ich ihn hineintrat’. 159 Mann, ‘Die Zehn Gebote [Deutsche Hörer! April 1943]’, S. 211. 160 Mann, ‘Brief an Armin L. Robinson v. Ende März 1943’, in Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14: Thomas Mann. Teil II: 1918–43, S. 638. 161 Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, S. 20.
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der Joseph-Tetralogie ‘noch warm’162 verfasste Text aus einer Auftragsarbeit, die in die von Armin L. Robinson initiierte, edierte und noch 1943 in New York erschienene Novellen-Sammlung ‘The Ten Commandments’ einmündete.163 Die Buchidee sei ‘moralisch-polemisch’ gewesen, da zehn renommierte Autoren ‘in dramatischen Erzählungen die verbrecherische Mißachtung des Sittengesetzes, jedes einzelnen der zehn Gebote behandeln’ sollten, Mann hierbei ursprünglich das erste, weswegen in der englischen Erstausgabe sein Beitrag auch noch mit ‘Thou shalt have no other gods before me’ überschrieben war. Der Titel ‘Das Gesetz’ findet sich für dieses ‘Vorspiel auf der Orgel’ (F. Werfel) erst in der separaten deutschen Stockholmer Erstausgabe von 1944. Wegen seiner teils flachen propagandistischen Ausrichtung distanzierte Mann sich alsbald vom Gemeinschaftswerk, da manches ‘geradezu lächerlich und kompromittierend’ sei, ‘so ignorant, daß man sich in Europa den Bauch halten wird’, und äußerte, ‘ich fürchte ehrlich, daß mein Beitrag mit Abstand der beste ist.’ 164 Die ‘realistisch-groteske Geschichte, bei der es sich natürlich schlechtweg um die menschliche Geschichte handelt’, hatte Mann dabei ‘rasch’ verfasst, wie er sich ‘immer nach Abschluß von etwas Großem’ etwas gönne, ‘was mir gar keine Mühe macht.’165 Zur Vorbereitung hatte er übrigens neben Goethes ‘Israel in der Wüste’ auch Freuds ‘Mann Moses’ gelesen, woraus er den Gedanken weitreichender ‘Implikationen der Unsichtbarkeit’ Gottes in Richtung ‘Geistigkeit, Reinheit und Heiligkeit’166 zog. In Absetzung von Freud hat Mann seinem Moses allerdings keine rein ägyptische, sondern eine hybride Abstammung verliehen, die dessen innere Zerrissenheit plausibilisierte, war er doch auf der einen Seite ‘sinnenheiß’ und verlangte es ihn auf der anderen Seite gerade deswegen ‘nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren’, weil es ihm ‘geistig, heilig und rein’ schien.167 Gezeugt auf Grund der spontanen Sinnenlust einer Pharaonentochter, die einen hebräischen Fronarbeiter am Nil verführt, der sogleich nach dem Geschlechtsakt von Bewaffneten erschlagen wird, nennt Mann einleitend Moses Geburt ‘unordentlich’, weshalb dieser ‘leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot’ geliebt habe.168 Die Idee ‘gemischter ägyptisch-hebräischer Geburt’ setzt Mann bekanntermaßen dazu ein, das ‘zugleich distanzierte und leidenschaftliche Verhältnis des Mannes zu den in Ägypten lebenden hebräischen
162 Ebd., S. 19. 163 Vorausgegangen war das bald gescheiterte Projekt Robinsons eines ‘10 Gebote-Propaganda-Films’, wie sich Mann, ‘Tagebuch vom 21.VII. 42’, S. 454, ausdrückte. 164 Mann, ‘Brief an Erich von Kahler vom 16.1.1944’, in Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14: Thomas Mann. Teil II: 1918–43, S. 643. 165 Thomas Mann, ‘Brief an Klaus Mann v. 9.3.1943’, in Ders., Briefe 1937–47, hrsg. von Erika Mann, S. 303. 166 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 817; vertiefend Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns, S. 91 f. mit weiteren Nachweisen, und zuvor Käser, ‘Thomas Mann als (biblischer?) ‘Redaktor’. Die Moses-Novelle Das Gesetz’, S. 123 ff. 167 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 815. 168 Ebd., S. 815.
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Stämmen psychologisch zu begründen.’169 Hierüber verfolgt er aber überdies den Ansatz einer ‘Geburt der Gesittung aus dem Geiste der Unordentlichkeit’170, d.h. nicht nur eines fortwährenden Kampfes des Geistes mit der sinnlichen Natur des Menschen, sondern einer ‘Entstehung der Sittlichkeit aus der Sinnlichkeit’171 im Wege einer anzweifelbaren172 ‘Überkompensation’173, letztlich in der Tradition des bonum per malum. Entsprechend präsentiert sich der Satz, ‘daß du nicht töten sollst’, am Beginn der Erzählung als Produkt von Moses Erfahrung, ‘daß Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst gräßlich ist’, wie er von der Erschlagung eines ägyptischen Aufsehers ‘im Auflodern’ und aus Gerechtigkeitssinn wusste.174 Der sinnliche Urgrund der Ordnung zeigt sich deutlich auch an Moses ‘prachtvolle[m] Stück’ einer ‚Mohrin‘ als ‘Bettgenossin’ neben seinem Weibe Zipora, von der er ‘um seiner Entspannung willen’ nicht lassen kann175, worin auch eine gewisse Vergeblichkeit jeder Ordnungsbemühung aufscheint, was aufklärerischen Optimismus bremst und den Menschen auf ‘objektive Bindungsund Orientierungsinstanzen’176 verweist. So belegt denn auch jeder Tanz um ein goldenes Kalb, dass das ‘Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend auf ’ und es des Einsatzes von Strafe bedarf, um den Menschen mit Nietzsche ein ‘Gewissen’ zu machen.177 Manns Erzählung versucht auf ihre Weise eine ‘Genealogie der Moral’178 zu plausibilisieren und ihr Moses proklamiert, dass Gesetzesübertreter ‘heimlich erschrecken’ sollen und es ihnen ‘eiskalt ums Herz’ werde, auch wenn Gott im Voraus gewusst habe, ‘daß seine Gebote nicht werden gehalten werden.’179 Dabei erscheint Gott in dieser ‘natürlich dargestellte[n] Geschichte’180, die biblische Wunder naturgesetzlich auflöst, Moses als ‘sein Inneres’ und ein daraus hervortretendes ‘flammendes Außen-Gesicht’, das ihn
169 Mann, ‘Brief an Leon Rains v. 15.3.1944’, in Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14: Thomas Mann. Teil II: 1918–43, S. 644. 170 Vaget, Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 279. 171 Kuschel, ‘Mein Gott, die Menschen …’. Probleme einer Erziehung zur Humanität bei Thomas Mann anhand der Mose-Novelle ‘Das Gesetz’’, S. 245. 172 Smend, ‘Bibel nacherzählt: Thomas Mann, ‘Das Gesetz’’, S. 260. 173 Vormbaum, ‘Recht und Staat – Mythos, Erzählung, Realität. Thomas Manns Novelle ‘Das Gesetz’’, S. 116. 174 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 815. 175 Ebd., S. 862. Wenn damit jede ‘Vergötzung der Ordnung […] als unsittlich verworfen’ wird, wie Vaget, ‘Das Gesetz’, S. 609, ausführt, ist die Einordnung von Moses als ‘ein Robespierre’ weil ‘unerbittlicher Gesetzesvollstrecker’ falsch, wie sie Darmaun, ‘Das Gesetz – Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit’, S. 283, vornimmt. 176 Kristiansen, ‘Freiheit und Macht. Totalitäre Strukturen im Werk Thomas Manns’, S. 67. 177 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 862 und 882; die Paraphrasierung von Heines Gedicht ‘Das goldene Kalb’ bei Mann bemerkt Hansen, ‘Thomas Manns Erzählung ‘Das Gesetz’ und Heines Moses-Bild’, S. 142. 178 Treffend Vaget, Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 279; auf sprachliche Glaubwürdigkeit und literarische Stimmigkeit als Geltungsgrund weist Ladenthin, ‘Ironie und Sittlichkeit. Thomas Manns Moses-Erzählung ‘Das Gesetz’’, S. 95 ff., hin. Diagnostiziertes Misstrauen gegenüber dem ‘Realitätsanspruch einer Historie’ im Sinne Leopold von Rankes – ‘zeigen, wie es eigentlich gewesen’ – bei Strohm, ‘Selbstreflexion der Kunst. Thomas Manns Novelle Das Gesetz’, S. 338. 179 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 882. 180 Mann, ‘Die Zehn Gebote [Deutsche Hörer! April 1943]’, S. 211.
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mit einer Mission betraut, zu der ‘er selbst’ Lust hatte, ‘wie der Steinmetz […] zu dem ungestalten Block, woraus er feine und hohe Gestalt […] zu metzen gedenkt’.181 Die Rede ist von ‘Bildnerlust’ und ‘Bildungswerk’, von einer zu formenden ‘Volksgestalt’, vom ‘Werk der Reinigung und Gestaltung im Zeichen des Unsichtbaren, des Bohrens, Wegsprengens und Formens in Fleisch und But’.182 Mann hat darauf hingewiesen, dass er wohl ‘unter dem unbewußten Einfluß von Heines Moses-Bild’ seinem Helden ‘die Züge – nicht etwa von Michelangelos Moses, sondern von Michelangelo selbst,’ gegeben habe, ‘um ihn als mühevollen, im widerspenstigen Rohstoff schwer unter entmutigenden Niederlagen arbeitenden Künstler zu kennzeichnen.’183 Hierbei tritt eine Gewaltsamkeit zu Tage, die mit der Ordnungsstiftung auf das Innigste verschlungen ist. Bereits der Auszug aus Ägypten wird mit Terror bewerkstelligt, wozu die in Anlehnung an Goethes ‘umgekehrte sicilianische Vesper’ erzählte ‘Vesper-Nacht’ gehört, in der Moses zu ‘Taten’ geborener Gefolgsmann Joschua als ‘Würgeengel’ mit seiner ‘Schar’ und ‘Rotte’ umging.184 Und es sollte nach ‘Mose’s festem Willen […] das letzte Mal gewesen sein’, wenn beim Verlassen Ägyptens getötet wie gestohlen wurde, da der Mensch sich der Unreinheit doch nicht entwinden könne, ‘ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen’.185 Aber bald darauf erfolgt die kriegerische Landnahme in Kadesch wie dann später in Kanaan und sie wird damit begründet, dass es ‘eigentlich Jahwe-Gebiet sei’ und bereits in früheren Zeiten von ‘ebräischen Leuten, nahverwandtem Blut, Nachkommen der Väter, bewohnt gewesen sei, […] und einen Raub dürfe man rauben’.186 Gewalt begleitet schließlich auch den Erlass und Erhalt der Gesetze. Das Recht erhält in Manns Moses-Novelle zunächst einmal ein prinzipiell neues Moment von Idealität, da es ‘mit der Unsichtbarkeit Gottes und seiner Heiligkeit ganz unmittelbar zusammenhänge’,187 was einerseits eine Abstraktionsleistung bezeichnet und andererseits einen unnatürlichen Triebverzicht. So sei das Recht 181 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 816 f. 182 Ebd., S. 826 f., 847 und 853. 183 Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, S. 20. 184 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 834 f.; Fehldeutung Joschuas als der ‘Teufel selbst’ bei Kraske, Nachdenken über Thomas Mann, S. 144. Zu Parallelen ‚Moses-Hitler‘ und zur Spiegelung der unterjochten Deutschen im beschriebenen ‘Pöbelvolk’ Darmaun, ‘Das Gesetz – Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit’, S. 284 ff. und 289. Hierzu auch Catani, ‘Das Gesetz (1943)’, S. 143 f., da die Novelle immerhin fünfmal Moses als ‘Führer’ bezeichne; weiter Lubich, ‘ “Fascinating Fascism”: Thomas Manns ‘Das Gesetz’ und seine Selbst-de-Montage als Moses-Hitler’, S. 33 und passim. Beziehung der im NS-Jargon als Schar und Rotte bezeichneten kleinen schlagfähigen Truppe des Joschua dagegen auf die ‘Stoßtruppen der Haganah und der Irgun Zwai Le’umi im jetzt intensivierten Kampf um einen jüdischen Staat in Palästina’ bei Frühwald, ‘Thomas Manns ‘Moses-Phantasie’’, S. 305, der auch auf Thomas Manns zeitweilig eigene Führerambitionen im Nachkriegsdeutschland hinweist (ebd., S. 308). 185 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 836. 186 Ebd., S. 844. 187 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 849; das Recht der ‘Faust’ widerstreite der ‘Unsichtbarkeit Gottes’ (ebd.). Mann schildert die Wahrnehmung der Gerichtsbarkeit zunächst allein durch Moses, der hierbei auf seine im thebanischen Internat vermittelten Kenntnisse der ägyptischen Gesetzesrollen und des Codex Hammurapi zurückgreifen konnte. Belehrt durch seinen Schwager Jethro habe er sich dann der ‘rechtlichen Leute’ unter seinem ‘Gehudel’ als ‘Laienrichter’ bedient, wenn dies auch
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zum einen ‘gleich schön und würdevoll in seiner heiligen Unsichtbarkeit, ob es einem nun recht oder unrecht gäbe’, so dass auch der zu seinem Recht gekommen sei, der ‘zu seinem Unrecht kam und mit langer Nase abziehen mußte.’ Und zum anderen waren diese Vorschriften nun ‘höchst unnatürlich’, da sie den Menschen die unmittelbare Triebbefriedigung versagten, angefangen bei den von Moses erlassenen Hygieneregeln, Speisevorschriften und Reinlichkeitsgeboten ‘in Dingen der Lust und Liebe’, wobei die vor ihrem Bruch geschützte Ehe zum ‘Inbegriff aller Reinheit im Fleische vor Gottes Angesicht’ aufrückt.188 Den einzigen ‘Schein von Natürlichkeit’ vermag dabei vorderhand nur die ‘natürliche Furcht der Strafe’ auf die Ge- und Verbote zu werfen, und erst mühsam gelingt es einem Internalisierungsprozess, ‘die Sache selbst zu einem Übel zu stempeln’, so dass es einem bei Tatbegehung bereits ohne Gedenken an die zu erwartende Strafe ‘übel zumute war’.189 Die Permanenz des von Moses vorangetriebenen Zivilisationsprozesses garantierten hierbei wiederum die ‘Würgeengel’, die ‘hinter seinen Verboten standen’,190 weshalb die Literatur gerne einen Bezug zu Jacob Burckhardts Gewaltverständnis als ‘Prius’191 jeder Ordnungsstiftung wie auch zu Carl Schmitt und Walter Benjamin herstellt, demzufolge mit leicht verschobenem Akzent Rechts- gleich Machtsetzung und ‘insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt’192 ist.193 Gewalt war für Mann ein ‘menschlich-unsterbliches Prinzip’, wie er bei seiner Vortrags-Tournee durch die USA 1938 zur Kennzeichnung des ‘Faschismus’ äußerte, ebenso ‘wie ihr Gegenteil, der Gedanke des Rechts’, der als ‘Idee’ das ‘spezifisch und eigentlich Menschliche, das, was ihn zum Menschen macht’, bezeichne.194 Zu Recht hat man hierin einen ‘blutigen Grund der Zivilisation’ und eine ‘Dialektik der Aufklärung’ gesehen.195 Mit dem erforderlichen Sublimierungsprozess einher geht dann beim Diktat des Dekalogs der ‘Gotteseinfall’ eines Alphabets, das es anders als die im thebanischen Internat erlernte ‘Bildschrift Ägyptens’, das ‘keilig-heilige Dreiecksgedränge vom Euphrat’ oder der ‘Sinai-Beduinen-Jargon’ erlaubte, ‘in
die Gefahr der Bestechung mit sich gebracht habe, was aber ‘in den Kauf ’ zu nehmen war, zumal sich im ‘Dienstweg’ und ‘Rechtszug’ ein freierer Blick des ‘am allermeisten’ beschenkten höchsten Richters ergebe (ebd., S. 850 und 852 f.). 188 Ebd., S. 856 und 859; bei der Schilderung vom ‘Schäuflein’ bei der Notdurft und der Entwicklung einer Systematik der Klauentiere zum Verzehr entfaltet sich Manns Ironie (ebd., S. 854 ff.). Auf die der Klimax geschuldete vertauschte zeitliche Anordnung von Dekalog und ausgedehntem Gesetzesteil im Vergleich zum Alten Testament weist Hamburger, Thomas Manns biblisches Werk, S. 192, hin. 189 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 858 f. 190 Ebd., S. 857. 191 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 32. 192 Benjamin, ‘Zur Kritik der Gewalt’, S. 198. 193 Brenner, ‘Die Befreiung vom Mythos. Recht und Ordnung in Thomas Manns Erzählung Das Gesetz’, S. 198 mit weiteren Nachweisen; daran anschließend Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 320. 194 Mann, ‘Vom zukünftigen Sieg der Demokratie’, S. 218. 195 Brenner, ‘Die Befreiung vom Mythos. Recht und Ordnung in Thomas Manns Erzählung Das Gesetz’, S. 199; zugleich vermerkt Brenner, dass Mann dem ‘Mythos der Staatsgründung seine mythische Gewalt’ ausgetrieben habe, indem er ‘mit ihm als Künstler sein Spiel treibt’, eine ‘Arbeit am Mythos’ im Sinne Hans Blumenbergs, eine Formgebung des ‘homo ludens’ (ebd., S. 201).
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der Sprache des Vatergeblüts’ zu schreiben, indem er die ‘Laute der Sprache, die mit den Lippen, mit Zunge und Gaumen und mit der Kehle gebildet wurden,’ sammelte und mit Zeichen versah, die ‘zum Hauchen und Fauchen, zum Murmeln und Rummeln, zum Platzen und Schmatzen nach Übereinkunft aufforderten’.196 Dies bot überdies den enormen Vorteil, ‘die Worte aller Sprachen der Völker’ damit schreiben zu können, sollten die Zehn Gebote doch als ‘Grundweisung und Fels des Menschenanstandes’ zunächst des hebräischen Volkes und dann ‘unter den Völkern der Erde’ gelten.197 Im Zentrum der Erzählung steht die ‘Idee der Civilisation’ und die ‘10 Worte vom Sinai’ werden hierbei als ‘deren gesetzlicher Inbegriff ’ deklariert.198
196 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 870 ff.; die aus Moses dabei hervortretenden Hörner und Strahlen (ebd., S. 871 f.), spielen auf Michelangelos Moses-Statue in San Pietro in Vincoli an, die das auf einer mittelalterlichen Fehlübersetzung aus dem Hebräischen beruhende Moses-Motiv aufweist; vgl. Vaget, Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, S. 273. Die Idee eines Alphabets sei kongenial dem Gottesbegriff, ‘dem Unsichtbaren und Geistigen’ (Mann, ‘Das Gesetz’, S. 872). Die Entdeckung der Konsonanten und Schrifterfindung lässt Moses ‘gottähnlich’ erscheinen, wie Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns, S. 55 und 117, schreibt; ein ‘neuer Prometheus’ notiert Darmaun, ‘Das Gesetz – Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit’, S. 273. 197 Mann, ‘Das Gesetz’, S. 872 und zuvor 826. 198 Mann, ‘Brief an Schalom Ben-Chorin v. 10.8.1945’, in Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14: Thomas Mann. Teil II: 1918–43, S. 651; Ders., Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, S. 20, wonach mit dem Titel ‘Das Gesetz’ neben dem Dekalog ‘das Sittengesetz überhaupt, die menschliche Zivilisation selbst bezeichnet sein sollte.’
Arnoud-Jan Bijsterveld
Creating Commemorative Communities Remembering the Holocaust in the 21st-Century Netherlands* Introduction In the last fifteen years or so, the commemoration of the Holocaust in the Netherlands has become much more personal, focusing on the individual histories of victims. Commemorative projects and events have become more public and yet, at the same time, more intimate and more interactive: they aim at enabling today’s generations to empathize with stories and experiences of individuals who lived through or perished during World War II. Several aspects of these initiatives make them comparable to earlier, medieval, and early modern acts to commemorate the dead; in particular, the focus on both individual and collective remembrance, on the creation of physical spaces of lasting memory, on the naming of names, on ritualized behaviour, and on creating commemorative communities. As the generation of survivors and first-hand witnesses gradually passes away, new generations are making a genuine effort to remain in physical and emotional contact with the past by assigning themselves the task of keeping alive the memory of the dead. In this article, we describe and analyse several recent efforts in the Netherlands to create a collective process of remembering.1 From these examples, we want to show how these initiatives and events contribute to something we could call the creation of commemorative communities or, in other words, cultural memory. As Ann Rigney has observed: ‘“memory” is in fact a less appropriate term than “recollection” or “remembrance”, since the latter rightly suggests an activity, a performance, taking place in the here and now of those doing the recalling.’2 The result of this she terms ‘cultural memory’ because memory cannot be severed from specific cultural and social contexts.3 So, it is the exchange of
* I thank Jodi van Oudheusden-Peita (The Wandering Scholar, Amsterdam) for her editing of this article. 1 This article resumes part of the reasoning laid down in my book House of Memories: Uncovering the Past of a Dutch Jewish Family. 2 Rigney, ‘Plenitude, scarcity and the circulation of cultural memory’, p. 17. 3 Ebd., p. 14.
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 315–30. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.118001
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memories – the acts of remembering and commemorating – that create and recreate the memory of a person or an event. Rigney takes her idea of cultural memory one step further: according to her, ‘cultural memory is always a form of vicarious memory.’4 This is not a lesser form of memory at all, as it provides these younger generations with a sense of their own history and, thus, with a sense of identity. Furthermore, cultural memory enables them to sympathize and empathize with people they did not know directly. This creates a sense of community and establishes or reinforces bonds between people. Of course, this sounds very familiar to the historian working on medieval memoria, which can be defined as all religious and profane acts to commemorate the dead and create a community of the living and the dead in the present: ideas central to Otto Gerhard Oexle’s work.5 As Patrick Geary also observed: ‘This meant not only liturgical remembrance in the prayers and masses offered for the dead […] but also the preservation of the name, the family, and the deeds of the departed.’6 Transformation of remembrance Since the end of World War II, the Dutch have organized and staged commemorations both nation-wide and locally. In recent years, these commemorative events have increasingly included, on the one hand, acts of remembering the lives of individuals – especially of the Holocaust – and, on the other hand, acts of ritualized and collective tribute paid to past lives and events. It is precisely with regard to the unimaginable events of war and the Holocaust that people are looking for ways to empathize with those who experienced war and persecution. Although most people today do not have their own memories of World War II, their need to maintain a ‘living memory’ remains very strong: many people express their desire to establish a bond with that past. This conforms with what Marianne Hirsch has termed ‘postmemory’: ‘Postmemory’ describes the relationship that the ‘generation after’ bears to the personal, collective, and cultural trauma of those who came before to experiences they ‘remember’ only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. […] These events happened in the past, but their effects continue into the present.7 Narratives about concrete peoples’ lives nourish the living memory that ‘postmemory’ is and reshape the acts of commemoration. This phenomenon
4 Ebd., p. 25. 5 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferungen im früheren Mittelalter’, 1976 (Nr. 7), pp. 70–95; Oexle, ‘Die Gegenwart der Toten’, 1983 (Nr. 28), pp. 19–77. 6 Geary, Living with the Dead in the Middle Ages, p. 2. 7 Quoted from www.postmemory.net/, accessed 13 November 2017. See Hirsch, The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust.
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might explain the recent surge in commemorative initiatives that do exactly that: reconstruct and visualize individual life stories and affix them to concrete sites and places as lieux de mémoire, ‘where memory crystallizes and secretes itself ’ as Pierre Nora has noted.8 Although we focus here on the Netherlands, none of this is particular to the Netherlands. As a matter of fact, there is a vast literature on the similarly changing contexts and manifestations of remembering the Holocaust all throughout Europe.9 This shows that the generational shift and the political dynamic since 1989 (among other things) have led to a rethinking of the politics of commemoration.10 Moreover, a more pluralist view of history and the increasing visualization of historical culture have reshaped the practices of memory. More than before, the individual story is now highlighted, which, according to Frank van Vree, ‘seems to be the last reliable source of identity and morality’ in a society ‘which lacks guiding meta-stories.’11 What is exceptional in the Dutch case, however, is the fact that the percentage of Jews actually murdered is the highest of all Western European countries. More than 107,000 of the 140,522 ‘full Jews’ registered in 1941 were deported from the Netherlands to extermination camps. Of this number, between 102,000 to 103,500 travelled in 93 transports from or through Westerbork transit camp and the remaining several thousand in four transports from Vught concentration camp and from Apeldoorn and Amsterdam directly.12 Only around 5,450 Dutch Jews returned from the camps; of the some 140,000 registered Jews mentioned above, 102,000 to 104,000 did not survive.13 This represents a mortality rate of 95 per cent of those deported and 73 to 74 per cent of all Jews registered in 1941. No other Western European country had a higher level of Jewish Holocaust victims.14 Since the 1970s, this fact has led to a growing sense of awareness and a
8 Nora, ‘Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire’, p. 7. 9 See, for instance, Van Vree, ‘Auschwitz and the Origins of Contemporary Historical Culture. Memories of World War II in European Perspective’, pp. 202–20; Van der Laarse, ‘Archaeology of memory: Europe’s Holocaust dissonances in East and West’, pp. 121–30. 10 According to Prutsch, Research for the CULT Commitee – European Identity, p. 28, this has resulted in ‘two competing memory frames […]: the “uniqueness of the Holocaust” frame that has shaped Western European post-war culture, and the “National Socialism and Stalinism as equally evil” frame that is a centerpiece of Eastern European nations’ efforts to come to terms with their respective Communist pasts.’ See also Krimp, Reiding, and Snoek, Na de oorlog: Herdenken en vieren in Europa. 11 Van Vree, ‘Auschwitz and the Origins of Contemporary Historical Culture’, p. 217. 12 Aalders, ‘Organized Looting: The Nazi Seizure of Jewish Property in the Netherlands, 1940–1945’, pp. 168–88 (p. 168); Griffioen and Zeller, pp. 898, 901 give the figure of 107,083 deported persons; ‘Gedeporteerde Joden’ at www.niod.nl/nl/vraag-en-antwoord/gedeporteerde-joden, accessed 19 October 2017. 13 Krimp, De doden tellen: Slachtofferaantallen van de Tweede Wereldoorlog en sindsdien, p. 53. Besides the roughly 102,000 Jews who were killed in the camps, we also have to count those who died in other circumstances, due to starvation, disease, suicide, murder, et cetera. 14 Aalders, ‘Organized Looting’, p. 168; and Griffioen and Zeller, Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en België, p. 901 give the following figures: Belgium 38 per cent; France 25 per cent; Denmark 1.4 per cent; Norway 42 per cent; Italy 18 per cent. The Dutch figures are more in line with those of Poland (93 per cent) and former Yugoslavia (83 per cent). Detailed research to explain this striking difference was conducted by Croes and Tammes, ‘Gif laten wij niet voortbestaan’: Een onderzoek naar de overlevingskansen van joden in de Nederlandse gemeenten, 1940–45; (at the local and regional level;
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deeply engrained sense of guilt in Dutch society that spans the generations and an increasing demand for commemorative monuments and acts. Especially now, as the generation of survivors and witnesses is rapidly disappearing, the Holocaust has become the central issue in Dutch national and local commemorations of World War II. Digital Jewish Monument In 2005, the Digital Monument to the Jewish Community in the Netherlands was launched. This is an Internet monument dedicated to preserving the memory of all 104,000 men, women, and children who were persecuted as Jews during the Nazi occupation of the Netherlands and did not survive the Shoah.15 ‘The Monument lists basic data for each of these individuals, such as first and last names, date and place of birth, date and place of death, and the address where they lived. In many cases, information is also available about the family members who lived with them and their occupation.’ In 2010, the digital Community was attached to this website, which enabled people all over the world to add or correct information and to get into touch with one another. In 2015–16, a new web version was launched, integrating both the Digital Monument and the Community in what now is called ‘Joods Monument’ or ‘Jewish Monument’.16 In her 2015 dissertation on ‘postponed’ monuments (public memorials recalling in memory events from the suppressed or sometimes forgotten past), Laurie Faro has evaluated ‘the meaning of commemoration practices at the Digital Monument and the Community to people closely associated to the monument and the community.’17 She did so by analysing the information and visual image of the website as well as the process of virtual or web-based memorializing. One strong element observed was the audience’s engagement in the actual production of the memorial’s content where the members of the Community act as co-producers; they are given a voice and, at the same time, given the opportunity to create something of lasting significance, despite the website’s intrinsic dynamic character. Faro also interviewed participants about their experiences. She distinguished first, second, and third generation relatives of those commemorated as well as others who participate out of interest or for research purposes.
see also Tammes, ‘Le “Paradoxe néerlandais” : nouvelles approches’, pp. 147–65; Tammes, ‘Surviving the Holocaust: Socio-demographic Differences Among Amsterdam Jews’, pp. 293–318 and Griffioen and Zeller, Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en België (at the national level). 15 For this and the following, see ‘Digital Monument to the Jewish Community in the Netherlands’ at socialhistory.org/en/projects/digital-monument-jewish-community-netherlands, accessed 18 October 2017. 16 ‘Joods Monument’ at www.joodsmonument.nl, accessed 18 October 2017. 17 Faro, Postponed monuments in the Netherlands: Manifestation, context, and meaning, pp. 115–71 (p. 117).
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In her conclusions, Faro highlights the fact that the Digital Monument and the Community enable ‘double individualized’ commemoration: ‘[C]ommemoration of each individual victim by means of returning their identity, and individualized commemoration, at home, alone or in a small group at each person’s own time, instead of mass organized ceremonies at dedicated days.’18 Among first-generation participants in the Community, the Digital Monument appears to function as an ‘“organic tombstone” […] always open for new inputs from persons wherever and whenever they are.’19 It helps them to handle their emotions by contributing personal stories and co-producing memory in such a way that ‘every individual input or voice bears the same value.’ For the other, non-related participants, on the other hand, the element of co-production is even more important: they see their contribution among other things ‘as a more general form of contributing to the history of the Shoah’ and ‘all their practices as commemoration.’ Yet, for both groups, the Digital Monument and the Community do not replace the traditional commemoration ceremonies but are considered to be an addition to them. Thus, the ‘individualized’ commemoration of the Holocaust that the virtual Monument enables is a valuable addition to, and even a reinforcement of, the collective commemoration ceremonies. Indeed, there is ample evidence in the Netherlands to show that public participation in the annual ceremonies held on 4 May has increased over the last years.20 Gunter Demnig’s stumbling stones in the Netherlands From 1992 – but the project only really took off in 2002 – until December 2018, the German artist Gunter Demnig (b. 1947; based in Cologne) has created and laid more than 70,000 so-called stumbling stones (in German: Stolpersteine) in over 1,600 towns and cities in 24 countries across Europe. Stumbling stones are cobblestone-sized (10 by 10 centimetres) concrete cubes capped with a brass plate inscribed with the name and life dates of victims of Nazi extermination or persecution.21 Demnig’s motto, borrowed from the Talmud, goes some way into explaining the idea behind the stumbling stones: ‘A person is only forgotten when his or her name is forgotten.’ Since its inception, Demnig’s project has developed into the biggest dispersed monument worldwide. In 2007, the Netherlands was the fourth country, after Germany, Austria, and Hungary, to receive stumbling stones. During the last ten years, an impressive number of local initiatives have begun in municipalities all over the Netherlands to memorialize the murdered 18 Faro, Postponed monuments in the Netherlands, p. 170. 19 For this and the following, Faro, Postponed monuments in the Netherlands, p. 171. 20 Nationaal Comité 4 en 5 mei, Kom vanavond met verhalen… Toekomstvisie 4 en 5 mei herdenken, vieren en herinneren, 5. 21 ‘Stolperstein’ at en.wikipedia.org/wiki/Stolperstein, accessed 19 October 2017. See now Hesse, Stolpersteine: Idee. Künstler. Geschichte. Wirkung; Bijsterveld, ‘Turning the city into a memoryscape: Gunter Demnig’s stumbling stones in the Netherlands’.
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members of the Jewish communities who once lived there, frequently resulting in the laying of stumbling stones. From the first laying of stumbling stones in the Netherlands in November 2007 until early 2019, about 5,500 stones in some 150 municipalities have been laid: most of these for Jewish victims, but also for murdered Roma and Sinti, Jehovah’s witnesses, and resistance fighters.22 Demnig insists on having all stumbling stones for one family placed together in front of the last freely chosen house in which they lived, emphasizing how individuals were also part of collectives. Most often as a corollary to the laying of stumbling stones, in recent years, local committees of volunteers and individual local historians have reconstructed the private histories of the individuals and families who were once part of local society. This has resulted in the publication of books and leaflets, the production of films and documentaries, historical and educational projects, commemorative walking routes, and apps as tools to communicate their undertakings and educate the people. Moreover, digital memorials are now being created on special websites with background information.23 In places where hundreds or thousands of stumbling stones would have to be laid in a single place (which is impossible, impractical, or overdone), Demnig has created so-called Stolperschwellen or ‘stumbling thresholds’ with an inscription recording the fate of a group of victims in a few lines.24 In cities such as Amsterdam, where the sheer number of Jewish victims – some 60,000 – makes it unfeasible to lay stumbling stones as they would cover entire sidewalks, people have come up with tailor-made solutions. The residents of Nieuwe Keizersgracht, one of the city’s canals, for example, created their own alternative by placing plaques with the names of the roughly 200 Jewish occupants of their homes on the opposite embankment of the canal, resulting in what is now called ‘Shadow Quay’.25 However, the public act of commemorating individuals and the artist’s desire to create an art project have grown increasingly at odds with each other; as Gunter Demnig keeps emphasizing, the latter takes preference over the former.26 This tension between the two has heightened as Demnig is no longer able to meet the demand for new stones: his assistant Michael Friedrichs-Friedländer can only produce some 450 stones a month, and the artist refuses to have them
22 ‘Lijst van Nederlandse gemeenten met Stolpersteine’ at nl.wikipedia.org/wiki/Lijst_van_ Nederlandse_gemeenten_met_Stolpersteine, accessed 4 April 2019. 23 For some examples published in the province of North Brabant between 2008 and 2014, see Bijsterveld, House of Memories, pp. 428–29. Here, stumbling stones have been laid in seventeen towns and villages. 24 ‘Stolperschwellen’ at www.stolpersteine.eu/en/technical-aspects/#c407, accessed 19 October 2017. 25 ‘De Schaduwkade’ at nieuw.schaduwkade.nl, accessed 20 October 2017. 26 For a critical analysis of Demnig’s work and person, see T. Schmitz, ‘Ausgebucht. Gunter Demnig hat die Stolpersteine erfunden. Mehr als 45 000 sind bereits verlegt, und jeden Tag kommen neue Anfragen. Er ist ein Erinnerungsunternehmer geworden’, Süddeutsche Zeitung, 23. April 2014; see also Elizabeth Kolbert, ‘The Last Trial. A great-grandmother, Auschwitz, and the arc of justice’, The New Yorker, 16 February 2015.
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produced elsewhere and/or in licence.27 In his view, mass production is out of the question: each stone is handmade because, as Demnig has asserted time and again, any form of mass-manufacturing would remind him of the mechanized and bureaucratic murder of Jews during the Holocaust. He has, consequently, legally protected the concept and the shape of the stones. According to the artist, it was never his intention to have stumbling stones laid for everyone in a town, irrelevant of whether survivors, descendants, or other persons involved express their deeply felt wish to lay stumbling stones. For him, this remains ‘an art project’ and the stumbling stones ‘are just symbolic.’28 This means that those ordering stones have to wait a year or more – if they arrive at all. Consequently, between the years 2014 and 2019, nine Dutch towns – Alkmaar, Amersfoort, Bellingwedde, Den Helder, Veendam, Vught, Waalwijk, Wageningen, and Zandvoort – decided not to lay stumbling stones, but commemorative plaques of a different design. All these stumbling stones create an equal number of places of remembrance, not unlike the memorial sites that were part and parcel of medieval and early modern memoria. Alongside tombs and graves, these consisted of places exclusively dedicated to the commemoration of families and individuals through memorial pieces such as paintings, sculpted or brass wall pieces, and other commemorative markers. Reading out, writing, commemorating all the names As in Demnig’s vast stumbling stone project, names play a central role in other commemorative initiatives and projects as well. Because names are the core attribute of a person, medieval Christian memoria was all about the recording and mentioning of names in liturgical services. Likewise, in Jewish tradition, the name is regarded as the essential feature of a person. That is also why the official Israeli memorial and museum for the Holocaust is called Yad Vashem, which means ‘memorial (literally: hand) and name’, with reference to Isaiah 56:5, which reads: ‘To them I will give within my temple and its walls a memorial and a name better than sons and daughters; I will give them an everlasting name that will endure forever.’ According to both Jewish and Christian tradition, God has engraved every person’s name on the palms of His hands (Isaiah 49:15–16). The reading aloud of names and their actual engraving in monuments and memorials also stands at the heart of completely secular commemorative events.
27 ‘30.000 ‘Stolpersteine’ erinnern an ermordete Juden’ (16 August 2011), at www.welt.de/vermischtes/ weltgeschehen/article13546543/30-000-Stolpersteine-erinnern-an-ermordete-Juden.html; ‘Der Bildhauer Michael Friedrichs-Friedländer’ at www.projekt-stolpersteine.de/das-projekt/dieherstellung.html, accessed 20 October 2017. 28 See also at www.stolpersteine.eu/en/news/, accessed 20 October 2017: ‘However, Demnig has always been aware that it will never be possible to lay Stolpersteine for the millions of victims of the Nazis – thus his project remains symbolic.’
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From 22 to 27 January 2015, during a continuous 116 hours, at the former transit camp Westerbork, the names of all 102,000 Jews, Sinti, and Roma deported from the Netherlands were read out aloud.29 This also included all those who perished ‘nameless’ in the death camps of Auschwitz, Sobibor, Theresienstadt, Bergen Belsen, and elsewhere, and did not get a proper burial. The purpose of the reading was to remind present-day people that this commemoration was about the murder ‘of a unique person, with a name and a face’ and that ‘102,000 is not a number, but concerns 102,000 times a father, a mother, a grandma, a brother, a cousin, and a friend.’ In the same vein, at the national level, in May 2016, the Amsterdam City Council, on the initiative of the Dutch Auschwitz Committee, decided to erect a memorial wall for the Dutch Jews, Sinti, and Roma deported to and murdered in death camps.30 The memorial was designed by the Polish-Jewish architect Daniel Libeskind and, when completed, will consist of two-metre tall walls containing 102,000 bricks, each one engraved with one name, date of birth, and age of death: the walls will be built in such a way that the name of each victim can be touched. Together, this memorial makes up four Hebrew letters forming a word that translates as: ‘In memory of ’. This Holocaust Names Monument in Amsterdam was to be completed in the autumn of 2018, but legal procedures have stalled its construction. Again, the purpose is to erect a lasting memorial for those who were ‘not given a proper burial’. In addition, the new National Holocaust Museum opened in Amsterdam in 2016, which will develop over the years to come.31 In 2017, the Dutch artist Bart Domburg wrote the names of all deported Jews, Sinti, and Roma by hand on 29 large sheets of paper with the aim of highlighting the individuality of each name. This resulted in a monumental artwork called The Names (De Namen), which was inaugurated in the museum of transit camp Westerbork the day before International Holocaust Remembrance Day, 26 January 2018.32 That same day, a book was presented containing all the names as well. New rituals The reading of names of the dead – so central to the medieval and current Christian and Jewish commemoration of the dead – has, in fact, created new remembrance rituals. An impressive example is the recurring event invented and organized by the Amsterdam artist Ida van der Lee called Names and Numbers 29 ‘De 102.000 Namen Lezen’ at 102000namenlezen.nl/ and at www.kampwesterbork.nl/nl/museum/ activiteiten/index.html?activity=39648#/index, accessed 18 October 2017. 30 Holocaust Namen Monument Nederland at www.holocaustnamenmonument.nl/en/home/, consulted 17 October 2017. 31 ‘National Holocaust Museum’ at jck.nl/en/location/national-holocaust-museum, accessed 13 November 2017. 32 ‘Alle namen van slachtoffers van de Holocaust opgeschreven’ at www.tracesofwar.nl/news/5625/Allenamen-van-slachtoffers-van-de-Holocaust-opgeschreven.htm, accessed 18 October 2017.
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Ill. 1: The memorial project ‘Names and Numbers’ in the Oosterpark neighbourhood in Amsterdam, as developed by Ida van der Lee (Photo: Max Linsen, 2015).
(Namen en Nummers). This commemorative community art project started in the Oosterpark neighbourhood in Amsterdam in 2013 and has continued every year since with the aim to ‘re-humanize’ the approximate 2,800 Jewish victims who once lived in the area.33 In the neighbourhood’s central square, wooden boards are laid out in the shape of the quarter’s street plan (Ill. 1). Coloured signs carry the names of the Jewish inhabitants who were taken from their homes, deported, and murdered during World War II. On this site, they are commemorated and ‘returned’ to their streets and their houses. Participants who enter the ‘ritual space’ of the square are briefed about the procedure. From a filing cabinet, they choose one name of the person they want to ‘bring back home’. They decorate the sign with the name and put it in the street plan on the site of this person’s former home. For most participants, this ‘bringing back home’ is an emotional moment. Afterwards, there is the opportunity to share experiences and thoughts. Since 2012, the Jewish Historical Museum, together with groups of volunteers all over the country, has been organizing Open Jewish Homes: a nation-wide event consisting of a series of small-scale commemorations taking place in former Jewish homes on or around National Commemoration Day, 4 May.34 In 2012, 33 ‘Namen en nummers: Tijdelijk monument voor oneindig verlies’ at namenennummers.eu/, accessed 19 October 2017. 34 ‘Open Joodse Huizen’ at www.openjoodsehuizen.nl/nl/page/419/review, accessed 20 October 2017; see also Faro, Postponed monuments in the Netherlands, pp. 164–65; David Hamburger, ‘A New Way of Teaching the Holocaust in Holland? Stepping Inside’, The Forward, 27 July 2017 at forward.com/
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the event took place for the first time in Amsterdam; the year after, five more towns joined with meetings in more than fifty private houses. In 2017, around 7,500 people gathered in 136 houses in 14 towns and villages. During these meetings, volunteers and sometimes relatives begin the commemoration by mentioning the names of those remembered and tell the story of the particular family of person who once lived in the house. Showing pictures and films, reading fragments from diaries, poems, or books, and performing music can be part of the commemoration. Often, this represents an opportunity to share memories and experiences, and sometimes people meet long-lost relatives and acquaintances. ‘Bringing the past back to life,’ even just for a moment restoring to life the victims can be very emotional. As I once experienced during such a meeting, an elderly lady almost apologetically told how little she remembered of her murdered school friend, with whom she walked to and from school. Yet, the school friend’s niece responded to this thankfully, saying: ‘This is the first time I’ve heard someone speak about my aunt as a living person.’ As a follow-up to this initiative, five volumes entitled Joodse Huizen (‘Jewish Homes’) have appeared so far with each containing some 25 short contributions, telling of pre-war Jewish family and life stories focused on a particular house in a Dutch town.35 Another impressive example of a newly created ‘ritual’ is the Requiem for Auschwitz composed by the Sinto musician Roger ‘Moreno’ Rathgeb (b. 1956) in 2009, which, after a first performance in Amsterdam in 2012, has travelled to the Czech Republic, Hungary, Germany, and Poland.36 This music performance creates time and again ‘a monument in music, film, images, and words’ to jointly commemorate Jews, Roma, and Sinti murdered in Auschwitz. The requiem is advocated as ‘a living proof of the power of culture against discrimination and exclusion.’ It is the combination of even the most humble ritual and sharing that lends these events and their spin-offs their memorial character. Commemorating individual lives thus contributes not only to a sense of empathy with the collective of victims but also among the collective of those performing the act of remembrance, shaping cultural memory: ‘Commemorating the dead and the living’ acquires a completely new meaning in this way. Creating commemorative communities: an example The generations who lived through and witnessed the atrocities of war and persecution may have experienced some kind of solidarity and bonding through a shared past, regardless of how inexpressible, precarious, strife-ridden, and
scribe/378256/a-new-way-of-teaching-the-holocaust-in-holland-stepping-inside/, accessed 23 October 2017. 35 Joodse Huizen: Verhalen over vooroorlogse bewoners; ‘Joodse huizen: Verhalen over vooroorlogse bewoners’ at www.joodsehuizen.com, accessed 8 April 2019. 36 ‘Requiem for Auschwitz’ at www.requiemforauschwitz.eu, accessed 21 November 2017.
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contested these bonds may have been. For the next generations, however, there is nothing like this direct connection to the past that might link them. Yet, it is quite obvious that many members of current generations in the Netherlands – both directly and indirectly involved – do want to create that bond by sharing and passing on intimate individual stories and by inventing new collective events and rituals. Moreover, this bonding can be purely virtual, occurring in digital communities such as the Community connected to the digital Jewish Monument, which enables people all around the world to get into touch with one another. To exemplify this postponed bonding, I will describe what happened in the course of uncovering the past of my own house, built by the Jewish couple Max Henri (Hans) and Bertha Polak-Cohen in the Dutch town of Tilburg in 1927–28. The Polak family lived here with their four children, the eldest of whom was Bertram. Hans Polak’s brother lived two houses down the street with his wife and three daughters. In May 1940, all but Bertram managed to escape to England by ship; they survived in exile in New York. Bertram, aged 22 at the time, was fighting in the Dutch army and, after the Dutch capitulation, returned to find his home deserted. In December 1941, he attempted to escape from the Netherlands by ship, together with three friends. However, they were betrayed, arrested, and finally deported to concentration camps, where all four perished.37 In 2010, I managed to trace Bertram’s relatives through the aforementioned Jewish Monument Community and in April 2011, thirty of these relatives, belonging to three generations, came to Tilburg to attend the ceremony of the laying of a stumbling stone in remembrance of their murdered brother, cousin, and uncle. In the follow-up, I also traced close relatives of Bertram’s three friends, all of whom came to Tilburg to be present at stumbling stone ceremonies. Since the commemoration, family and friends have remained in touch. As a result of my historical research that reconstructed the fate of these four people, older and younger generations were able to connect with their own history, painful as this might be. This gave rise to something new: meaningful connections across time and space. In the process of re-collecting the stories of Bertram and his friends, I witnessed close bonds being forged between people who had not known each other before and bonds being reinforced between people who had known each other for a long time. The experience of sharing a past strengthens their connections. One of the people involved expressed her contentment with the fact that she now felt part of a group of people that were connected to the same story. Another person voiced her happiness about the fact that she and her mother can now talk about a past which no longer separates them. In his book on the ethics of memory, Avishai Margalit deals with the signi ficance of memory for what he calls thick relations; that is, relations ‘grounded in attributes such as parents, friends, lovers, fellow-countrymen’ and which ‘are
37 As described in my book House of Memories.
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anchored in a shared past or moored in shared memory.’38 ‘Memory,’ he adds, ‘is the cement that holds thick relations together, and communities of memory are the obvious habitat for thick relations and thus for ethics.’39 I think my search did just that: create new and reinforce already existing communities of memory ‘based not only on actual thick relations to the living but also on thick relations to the dead.’40 This had a kind of an all-stick-together-effect: ever more people connected to the commemorative community that had formed during the process of uncovering, discovering, reconstructing, and sharing the past of our house and the family that once inhabited it. People directly or indirectly involved in this story – other inhabitants of our street, neighbourhood, and town, my students, those who read the book or watched the film we made – were able to connect with their own or somebody else’s past and, in doing so, with each other. Reminiscing and commemorating together offers people possibilities to identify with each other and with the places that play a role in their past and present. It creates a sense of identity and solidarity. Remembrance and sharing the past may also offer ways to come to terms with this past, of healing, even provide a sense of closure. The Talmud – in the words of the eighteenth-century Jewish mystic Baal Shem Tov – says it like this: ‘In remembrance lies the secret of redemption’ (Ill. 2). Commemoration, memory, history, and identity Since the beginning of the twenty-first century, the commemoration of the Holocaust in the Netherlands has taken new physical, digital, social, and cultural shapes. These combine and facilitate new ways of individual and collective engagement with the past and with each other. New monuments, Demnig’s stumbling stones, and other small memorials keeping alive the memory of one or more specific human beings, have turned our towns into ‘memoryscapes’: a term coined by the social anthropologist Mark Nuttall ‘to refer not only to the mere physical territory remembered by a particular individual, but also to the community’s interaction with a place through time.’41 With the inscription of so many individual names into the physical space, towns are becoming a spatial liber vitae, filled with the names of those whom the current inhabitants want to commemorate. In this evaluation, we first broaden the scope of these new ways of commemorating and, finally, assess the extent to which this development can be linked to earlier expressions and representations of memoria. Even after so many years, survivors experience a deep sense of satisfaction when the names and lives of their murdered relatives are kept alive. After the
38 Margalit, The Ethics of Memory, p. 7. 39 Ebd., p. 8. 40 Ebd., p. 69. 41 Nuttall, Arctic Homeland: Kinship, Community and Development in Northwest Greenland, p. 32, quoted from Aporta, ‘Routes, trails and tracks: Trail breaking among the Inuit of Igloolik’, pp. 9–18.
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Ill. 2: German stamp issued in 1988 commemorating Kristallnacht, 9 November 1938, with the text ‘In remembrance lies the secret of redemption’. Design Wilke.
first generation has gradually passed away, the children and grandchildren of survivors may find a new space that can provide more room for them to tell and share their experiences. In recent years, several of them have expressed their traumas, grief, emotions, as well as their joys in books and documentaries. Most impressively, these show us how members of the first generation of eyewitnesses and survivors and the second generation of descendants have attempted to free themselves from the stranglehold of the past by finally staring the beast in the eye and by attempting to share experiences and emotions after all. In Germany too, there is a surge of interest in the more intimate aspects of experiences of the war generation, of their children, and even their grandchildren. In several popular and widely embraced books, films, and television series, Germans of the next generations have recently dealt with what is called Vergangenheitsbewältigung: the ‘processing’ of the past and war memories.42 Between 2004 and 2011, the journalist Sabine Bode published three popular books focusing on those who were children in Germany at the time, on the impact of war experiences on post-war children whose parents were adults during the war, and even on children of ‘war children’.43 Alexandra Senfft, herself the granddaughter of a Nazi war criminal who was hanged, published a
42 Niven, ed., Germans as Victims: Remembering the Past in Contemporary Germany; Schmitz and Seidel-Arpaci, ed., Narratives of Trauma: Discourses of German Wartime Suffering in National and International Perspective; Stargardt, The German War: A Nation Under Arms, 1939–45: Citizens and Soldiers, pp. 1–2, 570. 43 Bode, Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen; Dies., Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation; Dies., Nachkriegskinder: Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter.
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book entitled The Perpetrators’ Long Shadow in 2016. In this, she advocates that through historical research one should ‘systematically appropriate one’s own family history […] in order not to remain with vague feelings, which have no firm factual anchoring and therefore can hardly be coped with.’44 This requires courage but will ultimately enable the Nazi generation’s descendants, overcome by guilt and shame, to shed ‘the burden of silence’. People are progressively overcoming the embarrassment, shame, and particularly the silence that may have seemed the best survival strategy for a long time. In the long run, it is better to overcome trying to forget and keeping silent about traumatic events such as the Holocaust. Psychologists have observed that cross-generation resilience and reconnection start with reconstituting the legacy of the past, telling and retelling the past, all methods based on memories, stories, pictures, and documents.45 Remembering and memorializing requires hard work. That is why memory should be considered a process, as cultural memory. This is not about retrieving a fixed narrative, a clearly delineated package of recollections preserved somewhere, waiting ‘out there’ to be rediscovered and revived. Memory is not found, but made: it is the process or, even better, the practice of telling, sharing, representing, and bringing meaning to stories. Of course, our present-day handling of the past reveals more about our present than about the past itself. This is also true with regard to the ways in which the Dutch keep alive the memories of the Second World War and the Holocaust. Faced with recent social and political upheavals, such as the so-called refugee crisis, the Dutch are struggling with their ‘identity’ and their role in Europe and the world. Both the Netherlands and Europe are witnessing a revival of nationalism, ethnocentrism, and populism. It comes as no surprise, therefore, that for most Dutch people, the history of World War II and especially the persecution and elimination of the Jews remain moral touchstones in ethical and social matters.46 This sense of moral responsibility and awareness will be vital in the coming years, especially in the light of the exceptionally high proportion of Dutch Jews that were killed, despite the courageous resistance of relatively many. It is more important to foster this moral sense than to offer apologies for what happened. As the young publicist Reinout Labberton fittingly wrote in response to the call for apologies from the Dutch government for their passive
44 Senfft, Der lange Schatten der Täter: Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte, pp. 9–10. 45 See for example Cyrulnik, Sauve-toi, la vie t’appelle. 46 As observed, for example, by Thijs, ‘Holland and the German Point of View: On the Dutch Reactions to German Victimhood’, pp. 181–200 (pp. 183–84); and the National Committee for 4 and 5 May, responsible for the official commemoration of the war and the celebration of the liberation the day after, after having organized a nation-wide discussion on the future of these events in 2014: ‘Welk verhaal willen wij onze kinderen en kleinkinderen vertellen over WO II?’ at www.4en5mei. nl/4_en_5_mei/verkenningsbijeenkomsten/verhaal, accessed 13 November 2017. See also Krimp, Reiding, and Snoek, Na de oorlog; Nationaal Comité 4 en 4 mei, Kom vanavond met verhalen; Commissie Versterking herinnering WOII at www.niod.nl/sites/niod.nl/files/VERSTERKING%20 VAN%20DE%20HERINNERING%20WOII.pdf, accessed 13 November 2017.
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role in trying to stop the Holocaust: ‘More valuable than idle and inappropriate excuses is […] to keep commemorating, to keep alive memories, and to keep researching even the darkest history.’47 In a broader sense, this way of remembering and commemorating contributes to the creation of what we could call a collective identity: a sense of solidarity that results from identifying with a specific past, a specific place, and a specific group of people. Apparently, this sense of solidarity is greatly appreciated by the current Dutch population. In a recent survey, 70 per cent of the Dutch population indicated that ‘commemorating together creates a feeling of solidarity,’ compared with about 40 per cent answering only 15 years ago. This difference might be the result of the ongoing secularization and individualization taking place in Dutch society, which have loosened people’s social bonds and decreased their sense of belonging. Since the beginning of the twenty-first century – a century marked by political and economic crises – people have also experienced more insecurity and a greater desire to bond.48 The creation of new communities commemorating the Holocaust can certainly be seen as an expression of this desire and perhaps even as a way of fostering more inclusive ways of building a national identity. Describing the ongoing shift from history to memory, the Dutch historian Willem Frijhoff defines cultural history as the analysis of the culture of remembrance of human beings, social groups, and societies.49 As such, cultural history assesses the ways in which people deal with the past and make sense of it as a form of history that affects them personally. In doing so, historians work with the following key concepts: memory, trauma, appropriation, and identity. Frijhoff asserts that appropriation and signification are essential in the present-day creation of heritage, memory, and identity. It is the historian’s professional mission to search for, analyse, connect and contextualize fragments of written and unwritten memory and, thus, to create meaning.50 The search for the life stories of victims of the Holocaust will produce images that are much more rounded, multifaceted, and alive with meaning: almost restoring to life for a moment those who were murdered. Even more importantly, it will restore them to life at a time when they were not yet victims, thus enabling people today to empathize with them.51 This is also very true for the historian him- or herself: ‘A student of history learns that empathy, rather than sympathy, stands
47 Reinout Labberton, ‘Te laat en overigens ook niet gewenst’, NRC Handelsblad 4 August 2015, responding to a call for apologies from the Dutch government for its passive role during the Holocaust. 48 Motivaction MentaliteitsMonitor2015 at www.motivaction.nl/kennisplatform/nieuws-enpersberichten/mentaliteitsmonitor-2015-sociale-klimaat-steeds-meer-gekenmerkt-door-extremen, accessed 13 November 2017; NRC Handelsblad 24 April 2015. 49 Frijhoff. De mist van de geschiedenis: Over herinneren, vergeten en het historisch geheugen van de, p. 7. 50 See Kurtz, Three Minutes in Poland: Discovering a Lost World in a 1938 Family Film, p. 6. 51 See, for instance, Ebd., p. 45: ‘I realized how natural it is to confuse remembrance with reanimation.’
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at the heart of understanding not only the past but also the complex present.’52 As Glenn Kurtz wrote in his book about an annihilated Jewish town community in Poland: ‘To remember and honor the dead honestly, all I could do […] was to piece together the few fragments of their lives that remained […] In this way, we might succeed in keeping the memory of the dead alive, remembering them, despite the fact they are dead.’53 Remembering the Holocaust as a present-day form of memoria As a medieval historian having researched medieval memoria before, I cannot help but be intrigued by the conformance of the expressions of medieval commemoration of the dead with contemporary forms of commemorating victims of the Holocaust. The overpowering emphasis on memorializing individual names and faces, the parallel creation of physical and digital memorials not unlike medieval libri vitae, the emergence of memorial spaces and new rituals dedicated to keeping alive one or more specific persons, families, or groups of people, are similar to how the dead were commemorated in medieval and early modern times. Artistic expressions in visual art, words, music, and dance, likewise play a significant role. These expressions shape the public spaces inscribed with memory and are performed during the new rituals staged in or at meaningful lieux de mémoire: not unlike the role of artists and artistic design in shaping commemoration and remembrance in the Middle Ages. Above all, another strikingly comparable feature of these new commemorative expressions lies in something Otto Gerhard Oexle has highlighted time and again in his studies of medieval memoria. This regards their gemeinschafsstiftende character: their potency of creating commemorative communities – across time and space – of people who are engaged together in keeping alive the memory of some very special dead: those who have fallen victim to the worst crime in human history.54 Even if the commemorations of the victims of the Holocaust are hardly ever religious in the first place, they do incorporate a transcendent element, conveying an analogous message: that of a connection of the living with the dead, and among the living. Indeed, according to Margalit, ‘[t]he human project of memory, i.e. commemoration, is basically a religious project to secure some form of immortality.’55 This means the words and thoughts of our sorely missed mentor Oexle keep resounding in contemporary commemorative ceremonies and practices as well. 52 Grafton and Grossman, ‘Habits of Mind: Why college students who do serious historical research become independent, analytical thinkers’. 53 Kurtz, Three Minutes in Poland, pp. 45–46 (italics his). 54 Oexle, ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, 1976 (Nr. 7), p. 86: ‘Gedenken ist gemeinschaftsstiftend, Memoria schafft Gemeinschaft, sie ist ein konstituierendes Element von Gemeinschaften.’ 55 Margalit, The Ethics of Memory, 25 (italics his).
Verzeichnis der Veröffentlichungen von Otto Gerhard Oexle
1967 1. ‘Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf ’, Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), 250–364 [Diss. phil. Freiburg i. Br. 1965]. 1968 2. ‘Die sächsische Welfenquelle“ als Zeugnis der welfischen Hausüberlieferung’, ” Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), 435–97. 1969 3. ‘Bischof Ebroin von Poitiers und seine Verwandten’, Frühmittelalterliche Studien 3 (1969), 138–210. 1970 4. ‘Le monastère de Charroux au IXe siècle’, Le Moyen Âge 76 (1970), 193–204. Rezension: ‘Karl Hampe 1869 – 1936. Selbstdarstellung, mit einem Nachwort hrsg. von Hermann Diener’, Heidelberg 1969’, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 118 (1970), 449 f. 1974 5. (Mit Karl Schmid) ‘Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny’, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 2 (1974), 71–122; hier 96–122. 1975 6. ‘Bischof Konrad von Konstanz in der Erinnerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferung während des 12. Jahrhunderts’, in Der heilige Konrad, Bischof
Memoria – Erinnerungskultur – Historismus: Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle, hrsg. von Thomas Schilp und Caroline Horch, Memo 2 (Turnhout, 2019), pp. 331–65. © FHG DOI 10.1484/M.MEMO-EB.5.118002
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von Konstanz. Studien aus Anlaß der tausendsten Wiederkehr seines Todesjahres, hrsg. von Helmut Maurer, Wolfgang Müller und Hugo Ott (Freiburg, Basel und Wien: Herder Verlag, 1975), S. 7–40. – Zugleich in: Freiburger Diözesanarchiv 95 (1975), 7–40. 1976 7. ‘Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter’, Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), 70–95. – Polnische Übersetzung in: Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), 45–73. – Russische Übersetzung in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 233–69. 1977 8. ‘Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois’, Historische Zeitschrift 224 (1977), 293–339. Rezension: ‘Documents comptables de Saint-Martin de Tours à l’époque mérovingienne, publiés par Pierre Gasnault, Paris 1975’, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 5 (1977), 877–79. 1978 9. Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich, Münstersche Mittelalterschriften, 31 (München: Wilhelm Fink Verlag, 1978). [Teildruck der Habilitationsschrift Münster/Westfalen 1973]. 10. ‘Edition der Totenannalen des Klosters Fulda’, in Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, Bd. 1, hrsg. von Karl Schmid, Münstersche Mittelalter-Schriften, 8 (München: Wilhelm Fink Verlag, 1978), S. 279–364. 11. ‘Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert’, in Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (siehe Nr. 10), Bd. 1, S. 136–77. 12. ‘Die Überlieferung der fuldischen Totenannalen’, in Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (siehe Nr. 10), Bd. 2/2, S. 447–504. 13. ‘Mönchslisten und Konvent von Fulda im 10. Jahrhundert’, in Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (siehe Nr. 10), Bd. 2/2, S. 640–91. 14. ‘Die Synoden von Reims und Mainz (1049) im Spiegel fuldischer Memo rialüberlieferung’, in Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (siehe Nr. 10), Bd. 2/2, S. 953–62.
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15. ‘Die Gegenwart des Mittelalters – Gedanken zu einem Stadtjubiläum’, in 650 Jahre Stadt Rheine. Dokumentation zum Stadtjubiläum im Jahre 1977 (Emsdetten: Lechte, 1978), S. 40–48. 16. ‘Welfische und staufische Hausüberlieferung in der Handschrift Fulda D 11 aus Weingarten’, Von der Klosterbibliothek zur Landesbibliothek. Beiträge zum 200jährigen Bestehen der Hessischen Landesbibliothek Fulda, hrsg. von Artur Brall, Bibliothek des Buchwesens, 6 (Stuttgart: Hiersemann, 1978), S. 203–31. 17. ‘Soziale Gruppen und Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit in der Memorialüberlieferung, in Prosopographie als Sozialgeschichte? Sektionsbeiträge zum 32. Deutschen Historikertag Hamburg 1978 (München: Wilhelm Fink Verlag, 1978), S. 33–38. – Auch in: Bericht über die 32. Versammlung Deutscher Historiker in Hamburg, 4. bis 8. Oktober 1978 (Stuttgart: Klett Verlag1979), S. 192–95. 18. ‘Die funktionale Dreiteilung der ‘Gesellschaft’ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), 1–54. – Teilweise wieder abgedruckt in: Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, hrsg. von Max Kerner, Wege der Forschung, 530 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982), S. 421–74. – Italienische Übersetzung: ‘Paradigmi del sociale. Adalberone di Laon e la società tripartita del Medioevo’ (siehe Nr. 151), S. 39–172. Rezension: ‘Jean-Noël Biraben, Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens, 2 Bde., (Civilisation et société, 35/36), Paris und La Haye, 1975/76’, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 6 (1978), 684–90. 1979 19. ‘Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen’, in Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Bd. 1, hrsg. von Albert Zimmermann, Miscellanea Mediaevalia, 12/1 (Berlin und New York: Verlag de Gruyter 1979), S. 203–26. – Polnische Übersetzung in: Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), S. 75–97. – Russische Übersetzung in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242) S. 96–125. 1980 20. Adalbero von Laon und sein ‘Carmen ad Rotbertum regem’. Bemerkungen zu einer neuen Edition’, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 8 (1980), 629–38. 21. Artikel ‘Adalbero (Aszelinus, Azzelin), Bischof von Laon’, ‘Adalgisel-Grimo, Diakon in Verdun’, ‘Aetherius, Erzbischof von Lyon’, ‘Agilbert (hl.), Bischof von Wessex und Paris’, ‘Albinus, Hl., Bischof von Angers’, ‘Ansegis, Erzbischof von
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Sens’, ‘Berchar (Berthar), Hausmeier in Neustrien’, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 1 (München und Zürich: Artemis Verlag, 1980), Sp. 93, 104 f., 192, 207, 307, 678, 1931. Rezension: ‘Tilman Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 16, Stuttgart 1978’, Historische Zeitschrift 231 (1980), 675–77. 1981 22. ‘Die ‘Wirklichkeit’ und das ‘Wissen’. Ein Blick auf das sozialgeschichtliche Oeuvre von Georges Duby’, Historische Zeitschrift 232 (1981), 61–91. 23. ‘Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit’, in Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Bd. 1, hrsg. von Herbert Jankuhn, Walter Janssen, Ruth Schmidt-Wiegand und Heinrich Tiefenbach, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse, Dritte Folge, Nr. 122 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1981), S. 284–354. 24. ‘Armut und Armenfürsorge um 1200. Ein Beitrag zum Verständnis der freiwilligen Armut bei Elisabeth von Thüringen’, in Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige, hrsg. von der Philipps-Universität Marburg in Verbindung mit dem Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1981), S. 78–100. – Polnische Übersetzung in: Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), S. 147–79. – Russische Übersetzung: ‘Bednost’i prezrenie bednych okolo 1200 goda: K voprosu o ponimanii dobrovol’noj bednosti Elizavety Tjuringskoj’, Dialog so vremenem. Almanach intellektual’noj istorii 16 (2006), 159–202; auch in Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 188–232. 1982 25. ‘Liturgische Memoria und historische Erinnerung. Zur Frage nach dem Gruppenbewußtsein und dem Wissen der eigenen Geschichte in den mittelalterlichen Gilden’, in Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters (Festschrift für Karl Hauck) (Berlin und New York: Verlag de Gruyter, 1982), S. 323–40. 26. ‘Conjuratio et ghilde dans l’Antiquité et dans le Haut Moyen Âge. Remarques sur la continuité des formes de la vie sociale’, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 10 (1982), 1–19. 27. ‘Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne’, Blätter für deutsche Landesgeschichte 118 (1982), 1–44.
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1983 28. ‘Die Gegenwart der Toten’, in Death in the Middle Ages, hrsg. von Herman Braet und Werner Verbeke, Mediaevalia Lovaniensia, Series I, Studia 9 (Leuven: Leuven University Press, 1983), S. 19–77. 29. ‘Das Kloster Saint-Mihiel in der Karolingerzeit’, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 131 (Festgabe für Gerd Tellenbach zum 80. Geburtstag) (1983), 55–69. 30. Artikel ‘Cancor, Graf im Oberrheingau’, ‘Chrodegang, hl., Bischof von Metz’, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (München und Zürich: Artemis Verlag, 1983), Sp. 1431, 1948–50. 1984 31. ‘Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter’, in Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Lutz Fenske, Werner Rösener und Thomas Zotz (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1984), S. 483–500. 32. ‘Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung’, Historische Zeitschrift 238 (1984), 17–55. – Wieder abgedruckt in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 17–40. – Französische Übersetzung in: L’historisme en débat (siehe Nr. 167), S. 7–51. 33. ‘Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners’, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71 (1984), 305–41. 34. ‘Mahl und Spende im mittelalterlichen Totenkult’, Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), 401–20. 35. ‘Memoria und Memorialbild’, in Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hrsg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch, Münstersche Mittelalter-Schriften, 48 (München: Wilhelm Fink Verlag, 1984), S. 384–440. Rezension: ‘Léopold Genicot, Une source mal connue de revenus paroissiaux: les rentes obituaires. L’exemple de Frizet, Louvain 1980’, Historisches Jahrbuch 104 (1984), 193 f.
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1985 36. ‘Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums – Universitäten, Gelehrte und Studierte‘, in Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, hrsg. von Werner Conze und Jürgen Kocka (Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1985), S. 29–78. 37. ‘Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter’, in Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter, hrsg. von Berent Schwineköper, Vorträge und Forschungen, 29 (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1985), S. 151–214. 38. ‘Gruppenbindung und Gruppenverhalten bei Menschen und Tieren. Beobachtungen zur Geschichte der mittelalterlichen Gilden’, Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 36 (1985), 28–45. 39. ‘Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria’, in Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, hrsg. von Karl Schmid (München und Zürich: Schnell & Steiner, 1985), S. 74–107. – Polnische Übersetzung in Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), S. 13–44. 1986 40. ‘Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter’, in Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, hrsg. von Christoph Sachsse und Florian Tennstedt, edition suhrkamp. Neue Folge, Nr. 323 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1986), S. 73–101. 41. ‘Adliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgischen Gedenken – das Beispiel der Welfen’, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 134 (1986), 47–75. 42. ‘‘Historismus’. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs’, Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch (1986), 119–55. – Wieder abgedruckt in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 41–72. – Französische Übersetzung in: L’historisme en débat (siehe Nr. 167), S. 53–110. 43. Artikel ‘Collecta (Gruppe, Schar, Versammlung)’, ‘Drogo, Bischof von Metz’, ‘Dubois, Pierre’, ‘Ebalus, Erzkanzler König Odos’, ‘Ebalus Manzer, Graf von Poitou’, ‘Ebroin, Bischof von Poitiers’, ‘Emma’, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (München und Zürich: Artemis Verlag,1986), Sp. 35 f., 1405, 1433 f., 1507, 1507 f., 1533, 1887.
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Rezension: ‘Knut Schulz, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1985’, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 36 (1986), 437–39. 1987 44. ‘Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft’, in Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt a. M., 22. bis 26. September 1986, Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte. Sonderheft 30, hrsg. von Dieter Simon (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag, 1987), S. 77–107. 45. ‘Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens’, in Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, hrsg. von František Graus, Vorträge und Forschungen, 35 (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1987), S. 65–117. – Englische Übersetzung: ‘Perceiving Social Reality in the Early and High Middle Ages. A Contribution to a History of Social Knowledge’, in Ordering Medieval Society. Perspectives on Intellectual and Practical Modes of Shaping Social Relations, hrsg. von Bernhard Jussen (Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2001), S. 92–143. – Russische Übersetzung in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 22–95. Rezension: ‘Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde., Stuttgart 1984’, Historisches Jahrbuch 107 (1987), 148–50. 1988 46. (Hrsg., mit Gerd Althoff, Dieter Geuenich und Joachim Wollasch), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1988). 47. ‘Haus und Ökonomie im früheren Mittelalter’, in Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag (siehe Nr. 46), S. 101–22. 48. ‘Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters’, in Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, hrsg. von Winfried Schulze, Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 12 (München: Oldenbourg Verlag, 1988), S. 19–51. 49. ‘Soziale Gruppen in der europäischen Geschichte’, MPG-Spiegel 3 (1988), 24–29. 50. ‘Otto von Gierkes ‘Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft’. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation’, in Deutsche Geschichtswissenschaft
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um 1900, hrsg. von Notker Hammerstein (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1988), S. 193–218. 51. ‘Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858–1927)’, in Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (siehe Nr. 50), S. 283–312. 52. ‘Person und Gemeinschaft. Karl Schmid zum 65. Geburtstag’, Hegau. Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Donau, Rhein und Bodensee 45 (1988), 281 f. Rezensionen: ‘Ludwig Remling, Bruderschaften in Franken. Kirchen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen, Würzburg 1986’, Theologische Revue 84 (1988), 306–08. ‘Gespräch der Lebenden mit den Toten’ (Rezension von: ‘Arno Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten, München 1988’), Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 75 (29.03.1988), L12. 1989 53. ‘Die Kaufmannsgilde von Tiel’, in Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vorund frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa, Teil VI: Organisationsformen der Kaufmannsvereinigungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, hrsg. von Herbert Jankuhn und Else Ebel, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse, Dritte Folge, Nr. 183 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1989), S. 173–96. 54. ‘Das Evangeliar Heinrichs des Löwen als geschichtliches Denkmal’, in Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Kommentar zum Faksimile, hrsg. von Dietrich Kötzsche (Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1989), S. 9–27. 55. Artikel ‘Gauzlin, Erzkanzler, Bischof von Paris’, ‘Genossenschaft I: Städtische Genossenschaft’, ‘Gerhard, Graf von Auvergne’, ‘Gilde’, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (München und Zürich: Artemis Verlag, 1989), Sp. 1146, 1234 f., 1308, 1452 f. 56. ‘Die Frage nach dem Verhältnis von ‘Wissenschaft’ und ‘Leben’ als gegenwärtiges und als historisches Problem’, in: Natur und Geschichte. Naturwissenschaftliche und historische Beiträge zu einer ökologischen Grundbildung. Sommerschule ‘Natur und Geschichte’ vom 14. bis 27. September 1989 an der Georg-August-Universität Göttingen, hrsg. von Bernd Herrmann (Hannover: Niedersächsisches Umweltministerium, 1989), S. 20–27.
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Rezensionen: ‘Uwe Kai Jacobs, Die Regula Benedicti als Rechtsbuch. Eine rechtshistorische und rechtstheologische Untersuchung, Köln und Wien 1987’, Historische Zeitschrift 248 (1989), 683–85. ‘Michael Menzel, Die Sächsische Weltchronik, Sigmaringen 1985’, Historische Zeitschrift 248 (1989), 687–89. ‘Andreas Cesana, Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens, Berlin und New York 1988’, Göttingische Gelehrte Anzeigen 241 (1989), 275–81. ‘Paolo Grossi (Hrsg.), Storia sociale e dimensione giuridica. Strumenti d’indagine e ipotesi di lavoro, Milano 1986’, Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 16 (1989), 360–64. 1990 57. Artikel ‘Stand, Klasse (Antike und Mittelalter)’, in Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1990), S. 156–200. 58. ‘Le travail au XIe siècle: réalités et mentalités’, in Le travail au Moyen Âge. Une approche interdisciplinaire. Actes du Colloque international de Louvain-la-Neuve, hrsg. von Jaqueline Hamesse und Colette Muraille-Samaran, Université catholique de Louvain. Publications de l’Institut d’Études Médiévales. Textes, Études, Congrès 10 (Louvain-la-Neuve: Collège Erasme, 1990), S. 49–60. 59. ‘Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit’, in Europäischer Adel 1750 – 1950, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 13 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht,1990), S. 19–56. 60. ‘Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung’, Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), 1–22. 61. ‘Marc Bloch et la critique de la raison historique’, in Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparée et sciences sociales, hrsg. von Hartmut Atsma und André Burguière (Paris: Editions de l’Ecole des hautes études en sciences sociales, 1990), S. 419–33. 62. ‘Das Andere, die Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 17 (1990), 141–58. 63. ‘‘Der Teil und das Ganze’ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch’, in Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, hrsg. von Karl
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Acham und Winfried Schulze, Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, 6 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag (DTV), 1990), S. 348–84. – Wieder abgedruckt in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 216–40. 64. ‘Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus’, in Rechtsgeschichte und theoretische Dimension. Forschungsbeiträge eines rechtshistorischen Seminars in Stockholm im November 1986, hrsg. von Claes Peterson, Rättshistoriska Studier. Skrifter utgivna av Institutet för Rättshistorisk Forskning grundat av Gustav och Carin Olin (Stockholm). Serien 2, Bd. 15 (Lund: Nordiska Bokhandeln,1990), S. 96–121. – Wieder abgedruckt in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 73–94. – Französische Übersetzung in: L’historisme en débat (siehe Nr. 167), S. 111–45. 65. ‘‘Wissenschaft’ und ‘Leben’. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft’, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41 (1990), 145–61. Rezension: ‘Ernst Pitz, Der Untergang des Mittelalters. Die Erfassung der geschichtlichen Grundlagen Europas in der politisch-historischen Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts, Berlin 1987’, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46 (1990), 182 f. 1991 66. ‘Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa’, in Was ist der Europäer Geschichte? Beiträge zu einer historischen Orientierung im Prozeß der europäischen Einigung, hrsg. von Jörg Calliess, Loccumer Protokolle, 1990, 67 (RehburgLoccum: Evangelische Akademie Loccum,1991), S. 17–60. 67. ‘Luhmanns Mittelalter’, Rechtshistorisches Journal 10 (1991), 53–66. 1992 68. ‘Potens und Pauper im Frühmittelalter’, in Bildhafte Rede in Mittelalter und Früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hrsg. von Wolfgang Harms und Klaus Speckenbach (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1992), S. 131–49. 69. Artikel ‘Wirtschaft III: Mittelalter’, in Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1992), S. 526–50. 70. ‘Les groupes sociaux du Moyen Âge et les débuts de la sociologie contemporaine’, Annales É.S.C. 47 (1992), 751–65. – Italienische Übersetzung: ‘I gruppi
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sociali del medioevo e le origini della sociologia contemporanea’, in Linea Tempo. Itinerari di Ricerca Storica 1 (1999), 33–48. 71. ‘Das entzweite Mittelalter’, in Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hrsg. von Gerd Althoff (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992), S. 7–28 und 168–77. 72. ‘Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach’, in Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hrsg. von Susanna Burghartz, Hans-Jörg Gilomen und Guy P. Marchal (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1992), S. 125–53. – Wieder abgedruckt in Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 137–62. 73. ‘Sehnsucht nach Klio. Hayden Whites ‘Metahistory’ – und wie man darüber hinwegkommt’, Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 1–18. 74. ‘Einmal Göttingen – Bielefeld einfach: auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft’, Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 54–66. 75.‘Otto Gerhard Oexle: Bericht über seine Forschungen (Vorstellungsbericht)’, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1991, 123–27. Rezensionen: ‘Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos ‘Didascalicon’, Frankfurt am Main 1991’, Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 19 (1992), 324–27. ‘Alain Boureau, Kantorowicz. Geschichten eines Historikers, Stuttgart 1992’, Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 19 (1992), 322–24. 1993 76. (Hrsg., mit Michel Parisse) L’abbaye de Gorze au Xe siècle (Nancy: Presses Universitaire de Nancy, 1993). 77. ‘Individuum und Gruppen in der lothringischen Gesellschaft des 10. Jahrhunderts’, in L’abbaye de Gorze au Xe siècle (siehe Nr. 76), S. 105–39. 78. ‘Les moines d’Occident et la vie politique et sociale dans le Haut Moyen Âge’, in Le monachisme à Byzance et en Occident du VIIIe au Xe siècle. Aspects internes et relations avec la société, hrsg. von Alain Dierkens, Daniel Misonne und Jean-Marie Sansterre, Revue Bénédictine 103, 1/2 (1993), S. 255–72. 79. ‘Bernward von Hildesheim und die religiösen Bewegungen seiner Zeit’, in Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Bd. 1, hrsg. von Michael
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Brandt und Arne Eggebrecht (Hildesheim und Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 1993), S. 355–60. 80. ‘Formen des Friedens in den religiösen Bewegungen des Hochmittelalters (1000 – 1300)’, in Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit, Schriftenreihe der Universität Regensburg, N.F. 19 (Regensburg: Universitätsverlag Regensburg, 1993), S. 87–109. – Polnische Übersetzung in: Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), S. 123–46. – Russische Übersetzung in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 157–87. 81. ‘Lignage et parenté, politique et religion dans la noblesse du XIIe siècle: l’évangéliaire de Henri le Lion’, Cahiers de Civilisation Médiévale 36 (1993), 339–54. 82. ‘Zur Kritik neuer Forschungen über das Evangeliar Heinrichs des Löwen’, Göttingische Gelehrte Anzeigen 245 (1993), 70–109. 83. Artikel ‘Memoria, Memorialüberlieferung’, ‘Ordo (Ordines)’, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 6 (München und Zürich: Artemis Verlag, 1993), Sp. 510–13, 1436 f. Rezension: ‘Norman F. Cantor, Inventing the Middle Ages. The Lives, Works, and Ideas of the Great Medievalists of the Twentieth Century, New York 1991’, Historische Zeitschrift 257 (1993), 138–40. 1994 84. (Hrsg., mit Dieter Geuenich) Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 111 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1994). 85. ‘Die Memoria Heinrichs des Löwen’, in Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters (siehe Nr. 84), S. 128–77. 86. ‘Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters’, in Modernes Mittelalter, hrsg. von Joachim Heinzle (Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag, 1994), S. 297–323. 87. ‘“Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins”. Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung’, in Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hrsg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1994), S. 45–70. 88. ‘Christine et les pauvres’, in The City of Scholars. New Approaches to Christine de Pizan, hrsg. von Margarete Zimmermann und Dina De Rentiis, European
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Cultures. Studies in Literature and the Arts, 2 (Berlin und New York: Verlag de Gruyter, 1994), S. 206–20. 89. ‘Wunschräume und Wunschzeiten. Entstehung und Funktion des utopischen Denkens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne’, in Die Wahrheit des Nirgendwo. Zur Geschichte und Zukunft des utopischen Denkens, Loccumer Protokolle 1993, 12 (Rehburg-Loccum: Evanglische Akademie Loccum, 1994), S. 33–83. 90. ‘Das Mittelalter und die Moderne. Überlegungen zur Mittelalterforschung’, in Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Ringvorlesung an der HumboldtUniversität zu Berlin, hrsg. von Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin: Berliner Debatte, 1994), S. 32–63. 91. ‘Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber’, in Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter, hrsg. von Christian Meier, Historische Zeitschrift. Beiheft N.F. 17 (München: Oldenbourg Verlag, 1994), S. 115–59. 92. ‘Gruppen in der Gesellschaft. Das wissenschaftliche Oeuvre von Karl Schmid’, Frühmittelalterliche Studien 28 (1994), 410–23. 93. ‘Wie in Göttingen die Max-Planck-Gesellschaft entstand’, in Max-PlanckGesellschaft. Jahrbuch 1994, 43–60. 94. ‘Das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen’, Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 20 (1994), 405–10. 1995 95. The British Roots of the Max-Planck-Gesellschaft (London: German Historical Institute London, 1995). 96. (Hrsg.), Memoria als Kultur, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 121 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1995). 97. ‘Memoria als Kultur’, in Memoria als Kultur (siehe Nr. 96), S. 9–78. 98. ‘Sonderrecht und Gruppenkultur im europäischen Mittelalter’, in Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, hrsg. von Ernst-Joachim Lampe, Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, 2 (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1995), S. 230–48. 99. ‘Die Kultur der Rebellion. Schwureinung und Verschwörung im früh- und hochmittelalterlichen Okzident’, in Ordnung und Aufruhr im Mittelalter. Historische und juristische Studien zur Rebellion, Ius Commune. Veröffentlichungen des
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Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, Sonderheft 70 (Frankfurt am Main: Klostermann Verlag, 1995), S. 119–37. 100. ‘Welfische Memoria. Zugleich ein Beitrag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erforschung’, in Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter, Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 7 (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1995), S. 61–94. – Russische Übersetzung: ‘Memoria Welfov: Domóvaja tradicija aristokratičeskich rodov’, in Istorija i pamjat’. Istoričeskaja kul’tura Evropy do načala novogo vremeni. History and Memory. Historical Culture of Europe before the Modern Âge (Moskau, 2006), S. 308–38; auch in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 270–303. 101. ‘Fama und Memoria. Legitimationen fürstlicher Herrschaft im 12. Jahrhundert’, in Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235, Bd. 2: Essays, hrsg. von Jochen Luckhardt und Franz Niehoff (München: Hirmer Verlag, 1995), S. 62–68. 102. ‘Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß’, in Mittelalterforschung nach der Wende 1989, hrsg. von Michael Borgolte, Historische Zeitschrift. Beiheft N.F. 20 (München: Oldenbourg Verlag, 1995), S. 89–127. 103. ‘Nach dem Streit. Anmerkungen über ‘Makro’- und ‘Mikrohistorie’’, Rechtshistorisches Journal 14 (1995), 191–200. 104. Artikel ‘Schützengilden’, in Lexikon des Mittelalters, Bd. 7 (München: Lexma Verlag, 1995), Sp. 1595. Rezensionen: ‘Die Abschaffung des Feudalismus ist gescheitert. Susan Reynolds’ Versuch, das Vasallentum zu leugnen und die Mittelalterforschung umzukrempeln’ (Rezension von: ‘Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994’), in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 116 (19.05.1995), 41. ‘Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung (I), Frankfurt/ New York 1989’, und Ders., ‘Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten. Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung (II), München 1993’, in Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20 (1995), 203–08. 1996 105. Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 116 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1996).
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106. (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts. Mit Beiträgen von Arnold Esch, Johannes Fried und Patrick J. Geary, Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 2 (Göttingen: Wallstein Verlag, 1996). 107. (Hrsg., mit Jörn Rüsen), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, Beiträge zur Geschichtskultur, 12 (Köln, Weimar und Wien: Böhlau Verlag, 1996). 108. ‘Friede durch Verschwörung’, in Träger und Instrumentarien des Friedens im Hohen und Späten Mittelalter, hrsg. von Johannes Fried, Vorträge und Forschungen, 43 (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1996), S. 115–50. – Englische Übersetzung: ‘Peace Through Conspiracy’, in Ordering Medieval Society, hrsg. von Bernhard Jussen (siehe Nr. 45), S. 285–322. 109. ‘Gilde und Kommune. Über die Entstehung von ‘Einung’ und ‘Gemeinde’ als Grundformen des Zusammenlebens in Europa’, in Theorien kommunaler Ordnung in Europa, hrsg. von Peter Blickle, Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 36 (München: Oldenbourg Verlag, 1996), S. 75–97. – Polnische Übersetzung in: Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), S. 99–122. – Russische Übersetzung in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 126–56. 110. ‘Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition’, in Historismus in den Kulturwissenschaften (siehe Nr. 107), S. 139–99. – Wieder abgedruckt in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 95–136. 111. ‘Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ “Kaiser Friedrich der Zweite” in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik’, in Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (siehe Nr. 105), S. 163–215. – Französische Übersetzung in L’historisme en débat (siehe Nr. 167), S. 147–240. 112. ‘Nemcy ne v ladu s sovremennost’ju. ‘Imperator Fridrich II’ Ernsta Kantoroviča v političeskoj polemike vremen Vejmarskoj respubliki’, Odyssej. Čelovek v istorii (Moskau: Nauka, 1996), S. 213–35. 113. ‘Was There Anything to Learn? American Historians and German Medieval Scholarship: A Comment’, in Patrick J. Geary, Medieval Germany in America. With a comment by Otto Gerhard Oexle, German Historical Institute Washington, D.C. Annual Lecture 1995 (Washington, D.C.: German Historical Institute, 1996), S. 32–44. 114. ‘Viel mehr als nur ein Klassiker: Marc Bloch’, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 79–95.
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115. ‘Individuum und Erinnerungskultur im 13. Jahrhundert, oder: Wie man eine moderne Biographie schreibt’, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 44–50. 116. ‘Geschichte als Historische Kulturwissenschaft’, in Kulturgeschichte Heute, hrsg. von Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler, Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 16 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), S. 14–40. – Wiederabgedruckt in Kulturgeschichte, hrsg. von Silvia Serena Tschopp, Basistexte Geschichte, 3 (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2008), S. 121–45. 1997 117. (Hrsg., mit Werner Paravicini), Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 133 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1997). 118. (Hrsg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch. Mit Beiträgen von Klaus Krüger und Jean-Claude Schmitt, Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 4 (Göttingen: Wallstein Verlag, 1997). 119. (Hrsg., mit Hartmut Lehmann), Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit. Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet (Wien, Köln und Weimar: Böhlau Verlag, 1997). 120. Artikel ‘Utopie’, ‘Verschwörung’, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (München: Lexma Verlag, 1997), Sp. 1345–48, 1581 f. 121. ‘Aufklärung und Historismus. Zur Geschichtswissenschaft in Göttingen um 1800’, in Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800, hrsg. von Antje Middeldorf Kosegarten (Göttingen: Wallstein Verlag, 1997), S. 28–56. 122. ‘Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte’, in Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, hrsg. von Peter Segl (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1997), S. 307–64. 123. ‘Fragmentarität oder Erlösung. Zwei Bücher zur deutschen ‘Kulturkrise’ 1890–1933 und ihren Folgen’, Rechtshistorisches Journal 16 (1997), 171–88. 124. ‘German Malaise of Modernity: Ernst H. Kantorowicz and his “Kaiser Friedrich der Zweite ”’, in Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, Frankfurter Historische Abhandlungen, 39 (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1997), S. 33–56 (englische Version von Nr. 112).
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125. ‘Marc Bloch et l’histoire comparée de l’histoire’, in Marc Bloch, l’historien et la cité, hrsg. von Pierre Deyon, Jean-Claude Richez und Léon Strauss, Collection de la Maison des Sciences de l’Homme de Strasbourg, 22 (Strasbourg : Presse universitaires des Strasbourg, 1997), S. 57–67. 126. ‘Jacques Le Goff in Germany’, in The Work of Jacques Le Goff and the Challenges of Medieval History, hrsg. von Miri Rubin (Woodbridge, Suffolk und Rochester, NY: The Boydell Press, 1997), S. 79–84. 127. ‘Zweierlei Kultur. Zur Erinnerungskultur deutscher Geisteswissenschaftler nach 1945’, Rechtshistorisches Journal 16 (1997), 358–90. 128. ‘Auf dem Wege zu einer Historischen Kulturwissenschaft’, in Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller (Stuttgart und Leipzig: S. Hirzel Verlagsgesellschaft,1997), S. 241–62. – Teilweise wiederabgedruckt in Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, hrsg. von Christoph König und Eberhardt Lämmert (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999), S. 105–23. Rezension: ‘Der Laie auf dem Stuhl des Heiligen’ (Rezension von: ‘Ernst Schubert, Der Naumburger Dom, Berlin 1997’) in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 296 (20.12.1997), Beilage. 1998 129. (Hrsg., mit Andrea von Hülsen-Esch), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 141 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1998). 130. (Hrsg., mit Joseph Canning), Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages / Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 147 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1998). 131. (Hrsg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität? Mit Beiträgen von Lorraine Daston, Kurt Flasch, Alfred Gierer, Otto Gerhard Oexle und Dieter Simon, Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 6 (Göttingen: Wallstein Verlag, 1998; 22000). 132. Art. ‘Gilde’, in Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 12 (Berlin und New York: Verlag de Gruyter, 1998), S. 102–05.
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133. ‘Soziale Gruppen in der Ständegesellschaft: Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen’, in Die Repräsentation der Gruppen (wie Nr. 129), S. 9–44. – Gekürzte Fassung in polnischer Übersetzung: ‘Grupy społeczne w społeczeństwach stanowych: formy życia w średniowieczu oraz ich historyczne oddziaływanie’, in Genealogia – Władza i społeczeństwo w Polsce średniowieczney, hrsg. von Andrzej Radzimiński und Jan Wroniszewski (Toruń: Uniwersytet Mikołaja Kopernika W Toruniu, 1999), S. 169–96. 134. ‘Fama und Memoria Heinrichs des Löwen: Kunst im Kontext der Sozialgeschichte. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart’, in Der Welfenschatz und sein Umkreis, hrsg. von Joachim Ehlers und Dietrich Kötzsche (Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 1998), S. 1–25. 135. ‘Adel, Memoria und kulturelles Gedächtnis. Bemerkungen zur MemorialKapelle der Fugger in Augsburg’, in Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle, hrsg. von Chantal Grell, Werner Paravicini und Jürgen Voss, Pariser Historische Studien, 47 (Bonn: Bouvier Verlag, 1998), S. 339–57. – Russische Übersetzung in Obrazy prošlogo i kollektivnaja identičnost’ v Evrope do načala novogo vremeni, hrsg. von Lorina P. Repina (Moskau, 2003), S. 38–51. 136. ‘Die Entstehung politischer Stände im Spätmittelalter – Wirklichkeit und Wissen’, in Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, hrsg. von Reinhard Blänkner und Bernhard Jussen, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 128 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 1998), S. 137–62. 137. ‘Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte’, in Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft (siehe Nr. 131), S. 99–151. 138. ‘Wie aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Max-Planck-Gesellschaft wurde’, in MPG-Spiegel, Sonderausgabe 2 (1998), 39–41. 1999 139. (Hrsg., mit Winfried Schulze), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999; 42000). 140. Artikel ‘Guilde’, in Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, hrsg. von Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt (Paris: Fayard, 1999), S. 450–63. 141. ‘Doppelgestirn über Göttingen. Zum achtzigsten Geburtstag des Historikers Josef Fleckenstein’, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 41 (18.02.1999), 43.
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142. ‘Die Fragen des Franziskus. Die Erscheinung des “Idioten”: Freiwillige Armut und das Stehenlassen der Gesellschaft’, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 95 (24.04.1999), Beilage. – Wieder abgedruckt in Das 13. Jahrhundert: Kaiser, Ketzer und Kommunen, hrsg. von Michael Jeismann (München: Verlag C.H. Beck, 2000), S. 48–52. 143. ‘The Middle Ages Through Modern Eyes. A Historical Problem (The Prothero Lecture)’, Transactions of the Royal Historical Society. Sixth Series 9 (1999), 121–42. 144. ‘Mif o srednevekovje. K probleme medievalizma v novejšej istorii’ [Mythen über das Mittelalter. Zum Problem des Mediävalismus in der neueren Geschichte] Odyssej. Čelovek v istorii. Ličnost’ i obščestvo. Problemy samoidentifikacii (Moskau: Nauka, 1999), S. 271–84. 145. ‘“Une science humaine plus vaste”. Marc Bloch und die Genese einer Historischen Kulturwissenschaft’, in Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer, hrsg. von Peter Schöttler (Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag, 1999), S. 102–44. 146. ‘Die Fragen der Emigranten’, in Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (siehe Nr. 139), S. 51–62. 147. ‘Im Archiv der Fiktionen’, Rechtshistorisches Journal 18 (1999), 511–25. – Wieder abgedruckt in Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Rainer Maria Kiesow und Dieter Simon (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2000), S. 87–103. 148. ‘Nachruf auf Bertie Blount, 1.4.1907–18.7.1999, Ehrenmitglied der MaxPlanck-Gesellschaft’, in Max-Planck-Gesellschaft. Jahrbuch 1999, 905 f. Rezensionen: ‘Joachim Ott, Krone und Krönung. Die Verheißung und Verleihung von Kronen in der Kunst von der Spätantike bis um 1200 und die geistige Auslegung der Krone, Mainz 1998’, Historische Zeitschrift 269 (1999), 170 f. ‘Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998’, Historische Zeitschrift 269 (1999), 684–86. ‘Ein kleiner Sprung für das Atom’ (Rezension: ‘Alfred Gierer, Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst, Reinbek 1998)’, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 73 (27.03.1999), 47. 2000 149. Społeczeństwo średniowiecza. Mentalność – grupy społeczne – formy życia (Toruń: Wydaw, 2000) [Sammlung von Aufsätzen in polnischer Übersetzung].
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150. ‘stęp’ [Einleitung], in Społeczeństwo średniowiecza (siehe Nr. 149), S. 7–11. 151. Paradigmi del sociale. Adalberone di Laon e la società tripartita del Medioevo. Introduzione e traduzione italiana di Roberto Delle Donne, Immagini del Medioevo, 1 (Salerno: Carlone Editore, 2000). 152. Kulturelles Gedächtnis in der Renaissance. Die Fuggerkapelle bei St. Anna in Augsburg. Vierte Sigurd Greven-Vorlesung, gehalten am 11. Mai 2000 im SchnütgenMuseum Köln (Köln: Sigurd Greven-Stiftung, 2000). 153. (Hrsg., mit Jurij Bessmertnyj), Čelovek i ego blizkie na zapade i vostoke Evropy [Das Individuum und die Seinen im Westen und Osten Europas] (Moskau: Institut Vseobščej Istorii, 2000). 154. ‘Problema vozniknovenija monašestva’ [Das Problem der Entstehung des Mönchtums], in Drugie srednie veka [Das andere Mittelalter. Festschrift zum 75. Geburtstag von Aaron J. Gurjevič], (Moskau und Sankt Petersburg: CGNII INION RAN, Universitetskaja kniga, 2000), S. 358–75. 155. ‘Formy social’nogo povedenija v srednie veka. Soglasie – dogovor – individ’ [Formen des sozialen Verhaltens im Mittelalter. Konsens – Vertrag – Individuum], in Čelovek i ego blizkie na zapade i vostoke Evropy (siehe Nr. 153), S. 5–27. 156. ‘‘Einung’ und ‘Gemeinde’ in der Gesellschaft des Mittelalters’, in Die Rolle der Stadtgemeinden und der bürgerlichen Genossenschaften im Hanseraum und in der Entwicklung und Vermittlung des gesellschaftlichen Gedankengutes im Spätmittelalter, hrsg. von Janusz Tandecki (Toruń: Nicolaus Copernicus University, 2000), S. 9–23. 157. ‘Arbeit, Armut, ‘Stand’ im Mittelalter’, in Geschichte und Zukunft der Arbeit, hrsg. von Jürgen Kocka und Claus Offe (Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag, 2000), S. 67–79. 158. ‘Conclusion’, in L’étranger au Moyen Âge. XXXe Congrès de la Société des Historiens Médiévistes de l’Enseignement Supérieur Public (Göttingen, Juni 1999), Série Histoire ancienne et médiévale, 61 (Paris: Publications de la Sorbonne, 2000), S. 299–303. 159. ‘Kulturelles Gedächtnis im Zeichen des Historismus’, in Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, hrsg. von Hans-Rudolf Meier und Marion Wohlleben, Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich, 21 (Zürich: vdf Hochschulverlag, 2000), S. 59–75. – Russische Übersetzung: ‘Kul’turnaja pamjat’ pod vozdejstviem istorizma’, Odyssej. Čelovek v istorii. Russkaja kul’tura kak issledovatel’skaja problema (Moskau: Nauka, 2001), S. 176–98.
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160. ‘Aktueller Forschungsschwerpunkt: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, 1880 bis 1932’, in Max-Planck-Gesellschaft. Jahrbuch 2000, 803–06. 161. ‘Troeltschs Dilemma’, in Ernst Troeltschs “Historismus”, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Troeltsch-Studien, 11 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000), S. 23–64. 162. ‘“Zusammenarbeit mit Baal”. Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 – und nach 1945’, Historische Anthropologie 8 (2000), 1–27. 163. Artikel ‘Mentalitätsgeschichte’, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2 (Berlin und New York: Verlag de Gruyter, 2000), S. 566–69. 164. Artikel ‘Wissenschaft’, in Metzler Lexikon Religion 3 (Stuttgart und Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2000), S. 673–80. 165. ‘Zu dem Projekt “Von der künstlerischen Produktion der Geschichte”’, in Hanne Darboven – Schreibzeit, hrsg. von Bernhard Jussen, Von der künstlerischen Produktion der Geschichte, 3 (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek, 15) (Köln: Walther König, 2000), S. 7–11. 166. ‘Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur kulturw issenschaftlichen Wende’, Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 5 (2000), 13–33. – Russische Übersetzung: ‘Kul’tura, nauka o kul’ture, istoričeskaja nauka o kul’ture. Razmyšlenija o povorote v storonu nauk o kul’ture’, Odyssej. Čelovek v istorii (Moskau: Nauka, 2003), 393–416. Rezension: ‘Meine erste Million. Begriffe sind Blüten’ (Rezension: ‘Christoph Strupp, Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000’), Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 68 (21.03.2000), L18. 2001 167. L’historisme en débat. De Nietzsche à Kantorowicz. Traduit de l’allemand par Isabelle Kalinowski (Paris: Aubiers, 2001). 168. (Hrsg., mit Jurij L. Bessmertnyj), Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 163 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2001).
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169. (Hrsg., mit Kurt Nowak), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 161 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2001). 170. (Hrsg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932. Mit Beiträgen von Michael Hänel, Johannes Heinßen, Reinhard Laube und Otto Gerhard Oexle, Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 12 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2001). 171. ‘Pax und Pactum. Rufinus von Sorrent und sein Traktat über den Frieden’ in Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, hrsg. von Hagen Keller, Werner Paravicini und Wolfgang Schieder (Tübingen: Verlag Niemeyer, 2001), S. 539–55. 172. ‘Stände und Gruppen. Über das Europäische in der europäischen Geschichte’, in Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik, hrsg. von Michael Borgolte, Europa im Mittelalter, 1 (Berlin: Akademie Verlag, 2001), S. 39–48. 173. ‘Konsens – Vertrag – Individuum. Über Formen des Vertragshandelns im Mittelalter’, in Das Individuum und die Seinen (siehe Nr. 168), S. 15–37. 174. ‘Konflikt und Konsens. Über gemeinschaftsrelevantes Handeln in der vormodernen Gesellschaft’, in Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, hrsg. von Herfried Münkler und Harald Bluhm, Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe ‘Gemeinwohl und Gemeinsinn’ der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 1 (Berlin: Akademie Verlag, 2001), S. 65–83. 175. ‘Memoria und Erinnerungskultur im Alten Europa – und heute’, in Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns, hrsg. v. Alexandre Escudier zusammen mit Brigitte Sauzay und Rudolf von Thadden, Genshagener Gespräche, 4 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2001), S. 9–32. 176. ‘Canossa’, in Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, hrsg. von Étienne François und Hagen Schulze (München: Verlag C.H. Beck, 2001, 32002), S. 56–67. 177. ‘Die Aktualität Marc Blochs’, in Marc Bloch, Briefe an Henri Berr 1924 – 1943. Mein Buch „Die Feudalgesellschaft”, hrsg. v. Jacqueline Pluet-Despantin (Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 2001), S. XXIX–XXXII. 178. ‘Max Weber – Geschichte als Problemgeschichte’, in Das Problem der Problemgeschichte 1800 – 1932 (siehe Nr. 170), S. 9–37. 179. ‘Priester – Krieger – Bürger. Formen der Herrschaft in Max Webers “Mittelalter”’, in Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und
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Wirkung, hrsg. von Edith Hanke und Wolfgang J. Mommsen (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), S. 203–22. 180. ‘Ranke – Nietzsche – Kant. Über die epistemologischen Orientierungen deutscher Historiker’, Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2001), 224–44. 181. ‘Fakty i fikcii: o tekuščem krizise istoričeskoj nauki’ [Fakten und Fiktionen. Zur derzeitigen Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft], in Dialog so vremenem. Almanach intellektual’noj istorii 7 (2001), 49–60. 182. ‘Geschichtswissenschaft in einer sich ständig verändernden Welt’, in Wissenschaften 2001. Diagnosen und Prognosen, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Göttingen: Wallstein Verlag, 2001), S. 89–116. – Russische Übersetzung: ‘Istoričeskaja nauka v postojanno menjajuščemsja mire’ (Dialog so vremenem. Almanach intellektual’noj istorii 11 (2004), 84–110). Rezensionen: ‘Die Basis des Überbaus’ (Rezension von: ‘Barbara Beßlich, Wege in den ‘Kulturkrieg’. Zivilisationskritik in Deutschland 1890 – 1914, Darmstadt 2000’), Rechtshistorisches Journal 20 (2001), 207–15. ‘Marc Bloch, Die wundertätigen Könige. Mit einem Vorwort von Jacques Le Goff. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Märtl, München 1998’, Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), 444 f. ‘Wolfgang Ernst und Cornelia Vismann (Hrsg.), Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, München 1998’, Arbitrium 2 (2001), 159–62. ‘Ernst H. Kantorowicz, Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, hrsg. von Eckhart Grünewald und Ulrich Raulff, Stuttgart 1998’, Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), 443 f. 2002 183. Das Menschenbild der Historiker (Gerda Henkel Vorlesung), (Münster: Rhema-Verlag, 2002). – Auch in Gerda Henkel Stiftung (Hrsg.), Das Bild des Menschen in den Wissenschaften (Münster: Rhema-Verlag, 2002), S. 245–69. – Russische Übersetzung in: Dejstvitel’nost’ i znanie (siehe Nr. 242), S. 304–34. 184. (Hrsg., mit Natalie Fryde und Pierre Monnet), Die Gegenwart des Feudalismus / Présence du féodalisme et présent de la féodalité / The Presence of Feudalism, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 173 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2002). 185. (Hrsg., mit Jean-Claude Schmitt), Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne, Publications de la Sorbonne / Histoire ancienne et médiévale, 66 (Paris: Publications de la Sorbonne, 2002).
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186. ‘Feudalismus, Verfassung und Politik im deutschen Kaiserreich, 1868 – 1920’, in Die Gegenwart des Feudalismus (siehe Nr. 184), S. 211–46. 187. ‘“Wirklichkeit” – “Krise der Wirklichkeit” – “Neue Wirklichkeit”. Deutungs muster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933’, in Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933 – 1945, hrsg. von Frank-Rutger Hausmann, Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 53 (München: Oldenbourg Verlag, 2002), S. 1–20. 188. ‘Von der völkischen Geschichte zur modernen Sozialgeschichte’, in Geschichtswissenschaft um 1950, hrsg. von Heinz Duchhardt und Gerhard May, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 56 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), S. 1–36. 189. (mit Jean–Claude Schmitt), ‘Présentation’, in Les tendances actuelles (siehe Nr. 185), S. 7–11. 190. ‘L’historisation de l’histoire’, (siehe Nr. 185), S. 31–41. 191. ‘Les tendances actuelles de la recherche médiévale française vues d’Allemagne’, (siehe Nr. 185), S. 425–32. 192. ‘Die Gegenwart des Historismus’, in Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs. Systematisierung der Fragestellung, hrsg. von Klaus Lüderssen, Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen, 6 (Köln, Weimar und Wien: Böhlau Verlag, 2002), S. 218–33. 193. ‘Friedrich Nietzsche et la légitimité de la “science”’, Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 29 (2002), 185–91. 194. ‘Was kann die Geschichtswissenschaft vom Wissen wissen?’, in Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, hrsg. von Achim Landwehr, Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg. Documenta Augustana, 11 (Augsburg: Wißner-Verlag, 2002), S. 31–60. 195. ‘Naturalizm, istorizm i segodnjašneje sostojanije voprosa o jedinstve nauk [Naturalismus, Historismus und die Frage nach der Einheit der Wissenschaften heute]’, Teoretičeskije problemy istoričeskich issledovanij 4 (2002), 5–28. 196. ‘Norbert Kamp, 24. August 1927 – 12. Oktober 1999’, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2002, 303 f. Rezensionen: ‘Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999’, Historische Zeitschrift 274 (2002), 174 f.
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‘Olivier Dumoulin, Marc Bloch, Paris 2000’, Historische Zeitschrift 274 (2002), 122 f. ‘Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990, Darmstadt 1999’, Historische Zeitschrift 274 (2002), 534–36. 2003 197. Hahn, Heisenberg und die anderen. Anmerkungen zu ‘Kopenhagen’, ‘Farm Hall’ und ‘Göttingen’, Forschungsprogramm ‘Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus’, Ergebnisse, 9 (Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 2003). 198. (Hrsg., mit Michail A. Bojcov), V svojom krugu. Individ i gruppa na zapade i vostoke Evropy do načala novogo vremeni [Im Kreis der Seinen. Individuum und Gruppe im Westen und Osten Europas bis zum Beginn der Neuzeit], (Moskau: 2003). 199. (Hrsg., mit Pierre Monnet), Stadt und Recht im Mittelalter / La ville et le droit au Moyen Âge, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 174 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2003). 200. (Hrsg., mit Johannes Fried), Heinrich der Löwe. Herrschaft und Repräsentation, Vorträge und Forschungen, 57 (Stuttgart: Jan Thorbecke Verlag, 2003). 201. (Hrsg., mit Kurt Nowak, Trutz Rendtorff und Kurt-Victor Selge), Adolf von Harnack – Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlaß des 150. Geburtstages, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 204 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2003). 202. ‘Kak voznikali cennosti v srednevekovom obščestve?’ [‘Wie entstanden Werte in der mittelalterlichen Gesellschaft?’], in V svojom krugu (siehe Nr. 198), S. 7–30. 203. ‘A szerzetesség kialakulása, mint történelmi probléma’ [‘Die Entstehung des Mönchtums – ein historisches Problem’], Egyháztörténeti Szemle 4 (2003), 90–107. 204. ‘Die Hanse vor der Hanse’, in Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie, hrsg. von Eckhard Müller-Mertens und Heidelore Böcker, Hansische Studien, 14 (Trier: Porta Alba Verlag, 2003), S. 45–60. 205. ‘“Poètomu oni sostavili zagovor, kotoryj nazvali kommunoj”. Kommuna Le Mana 1070 goda’ [“Deshalb machten sie eine Verschwörung, die sie Kommune nannten”. Die Kommune von Le Mans 1070], in Homo Historicus. Essays in Memory of Yuri Bessmertny on the 80th Anniversary of His Birth, Bd. 2, hrsg. von Alexander Chubarjan et al., (Moskau: Nauka, 2003), S. 56–64.
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206. ‘Memoria und Kulturelles Gedächtnis. Kulturwissenschaftliche Ausblicke auf Mittelalter und Moderne’, Quaestiones medii aevi novae 8 (2003), 3–24. 207. ‘Scientia generalis. Harnack, die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften und das Erbe von Gottfried Wilhelm Leibniz’, in Adolf von Harnack (wie Nr. 201), S. 85–112. 208. ‘Max Weber und die okzidentale Stadt’, in Stadt – Gemeinde – Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, hrsg. von Albrecht Cordes, Joachim Rückert und Reiner Schulze (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2003), S. 375–88. 209. ‘Max Weber und das Mönchtum’, in Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, hrsg. von Hartmut Lehmann und Jean Martin, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 194 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2003), S. 311–34. 210. ‘Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne’, in Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, hrsg. von Hans-Werner Goetz und Jörg Jarnut, MittelalterStudien des Instituts für Interdisziplinäre Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens Paderborn, 1 (München: Wilhelm Fink Verlag, 2003), S. 227–52. 211. ‘Von Fakten und Fiktionen. Zu einigen Grundsatzfragen der historischen Erkenntnis’, in Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hrsg. von Johannes Laudage (Köln, Weimar und Wien: Böhlau Verlag, 2003), S. 1–42. 212. ‘Die Historizität der Welt’, in Die Historizität der Welt. Akademisches Gedenken an Kurt Nowak, Leipziger Universitätsreden, N.F. Heft 95 (Leipzig: Universität Leipzig, 2003), S. 19–39. 213. ‘Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Doctor honoris causa der Universität Toruń, in Wydział Nauk Historycznych Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu. Homines et Historia. Doktorat honoris causa dla prof. dr hab. Otto Gerharda Oexle, Dyrektora Max-Planck-Institut für Geschichte w Getyndze (Toruń: Uniwersytet Mikołaja Kopernika W Toruniu, 2003), S. 25–33. 2004 214. (Hrsg.), Armut im Mittelalter, Vorträge und Forschungen, 58 (Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2004).
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215. (Hrsg., mit Áron Petneki und Leszek Zygner), Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne, 2 Bde., Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 23 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2004). 216. (Hrsg., mit Hartmut Lehmann), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Fächer, Milieus, Karrieren, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 200 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2004). 217. (Hrsg., mit Hartmut Lehmann), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe, Deutungsmuster, Paradigmenkämpfe. – Erfahrungen und Transformationen im Exil, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 211 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2004). 218. ‘Relind und Herrad von Hohenburg und die Entstehung des ‘Hortus deliciarum’’, in Retour aux sources. Textes, études et documents d’histoire médiévale offerts à Michel Parisse, hrsg. von Sylvain Gouguenheim (Paris: Editions A & J Picard, 2004), S. 551–61. 219. ‘Die Stadtkultur des Mittelalters als Erinnerungskultur’, in Dortmund und Conrad von Soest im spätmittelalterlichen Europa, hrsg. von Thomas Schilp und Barbara Welzel, Dortmunder Mittelalter-Forschungen, 3 (Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2004), S. 11–28. 220. ‘Bilder gedeuteter Geschichte. Eine Einführung’, in Bilder gedeuteter Geschichte, Bd. 1 (siehe Nr. 215), S. 9–30. 221. ‘Georg Simmels Philosophie der Geschichte, der Gesellschaft und der Kultur’, in Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, hrsg. von Barbara Schlieben, Olaf Schneider und Kerstin Schulmeyer (Göttingen: Wallstein Verlag, 2004), S. 19–49. 222. ‘Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Über Vorstellungen vom ‘Neuen Europa’ in Deutschland 1944’, in Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2 (siehe Nr. 217), S. 13–40. 223. ‘Was ist eine historische Quelle?’, Die Musikforschung 57 (2004), 332–50. 224. ‘Was ist eine historische Quelle?’, Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-PlanckInstituts für europäische Rechtsgeschichte 4 (2004), 165–86. [gekürzte Fassung von Nr. 223]. – Russische Übersetzung: ‘Čto takoe istoričeskij istočnik?’, hrsg. von Julia E. Arnautova, in Munuscula. K 80-letiju Arona Jakovleviča Gurjeviča (Festschrift für A. J. Gurjevič zum 80. Geburtstag) (Moskau: Institut Vseobščej Istorii, 2004), S. 154–81.
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225. ‘“Facts and Fiction”. On the Current Fundamental Crisis in History’, in Historia, filosofía y política en la Europa moderna y contemporánea. Conferencias inaugurales del acuerdo Universidad de León / Max-Planck-Institut für Geschichte, hrsg. von Salvador Rus Rufino (León: Universidad de León, 2004), S. 101–17. – Auch in: Publicationes Universitatis Miskolcinensis. Sectio Philosophica X/2 (2005), 77–90. 226. ‘Historische Kulturwissenschaft heute’, in Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften, hrsg. von Rebekka Habermas und Rebekka von Mallinckrodt (Göttingen: Wallstein Verlag, 2004), S. 25–52. 227. ‘Memoria und Kulturelles Gedächtnis im Werk Christian Boltanskis / Christian Boltanski: Memoria and Cultural Memory’, in Signal – Christian Boltanski, hrsg. von Bernhard Jussen, Von der künstlerischen Produktion der Geschichte, 5 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2004), S. 83–101. 228. ‘Begriff und Experiment. Überlegungen zum Verhältnis von Natur- und Geschichtswissenschaft’, in Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien, hrsg. von Vittoria Borsò und Christoph Kann, Europäische Geschichtsdarstellungen, 6 (Köln, Weimar und Wien: Böhlau Verlag, 2004), S. 19–56. 2005 229. ‘Um 1070: Wie die Kommunen das Königtum herausforderten’, in Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hrsg. von Bernhard Jussen (München: Verlag C.H. Beck, 2005), S. 138–49. 230. (Mit Truus van Bueren) ‘Die Darstellung der Sukzession: Über Sukzessionsbilder und ihren Kontext’, in Care for the Here and the Hereafter: Memoria, Art and Ritual in the Middle Ages, hrsg. von Truus van Bueren (Turnhout: Brepols Publishers, 2005), S. 55–77. 231. ‘Historische Kulturwissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre Auffassung von Naturwissenschaft’ (Zusammenfassung), Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2005, 26 f. 232. ‘‘Staat’ – ‘Kultur’ – ‘Volk’. Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918 – 1945’, in Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Peter Moraw und Rudolf Schieffer, Vorträge und Forschungen, 62 (Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2005), S. 63–101. 233. ‘‘1933’. Zur ‘longue durée’ mentaler Strukturen’, in Rationalität im Prozeß kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, hrsg. von Hansjörg Siegenthaler, Die
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Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Studien in den Grenzbereichen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 132 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005), S. 235–65. 234. ‘Gerd Tellenbachs Wege zu einer Geschichte Europas’, in Gerd Tellenbach (1903 – 1999), ein Mediävist des 20. Jahrhunderts. Vorträge aus Anlaß seines 100. Geburtstags in Freiburg i. Br. am 24. Oktober 2003, hrsg. von Dieter Mertens, Hubert Mordek und Thomas Zotz (Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag, 2005), S. 53–64. 235. ‘Nachruf auf Josef Fleckenstein’, Max-Planck-Gesellschaft. Jahrbuch 2005, 103–05. 2006 236. (Hrsg., mit Natalie Fryde, Pierre Monnet und Leszek Zygner), Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 217 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2006). 237. ‘La storia e le immagini. La Memoria della Riforma nelle opere di Lucas Cranach e Hans Holbein’, Reti Medievali Rivista VII (2006/2), 1–27. 238. ‘Vom ‘Staat’ zur ‘Kultur’ des Mittelalters. Problemgeschichten und Paradigmenwechsel in der deutschen Mittelalterforschung’, in Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne (siehe Nr. 236), S. 15–60. 239. ‘Georges Duby (1919 – 1996)’, in Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, hrsg. von Lutz Raphael (München: Verlag C.H. Beck, 2006), S. 135–49. 240. ‘Geschichte, Gedächtnis, Gedächtnisgeschichte. Ein Blick auf das Œuvre von Claude Simon’, in Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, hrsg. von Dieter Hein, Klaus Hildebrand und Andreas Schulz (München: Oldenbourg Verlag, 2006), S. 359–76. 241. ‘Als ein Nachwort: Die Komplementarität des Wissens und der Wissenschaften’, in Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft, Bd. 2, Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 26/2 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2006), S. 493–524. 2007 242. Dejstvitel’nost’ i znanie: Očerki social’noj istorii Srednevekov’â. Perevod s nemeckogo i predislovie J. Arnautovoj [Die ‘Wirklichkeit’ und das ‘Wissen’. Beiträge
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zur Sozialgeschichte des Mittelalters. Übersetzt und eingeleitet von Julia E. Arnautova] (Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie, 2007). 243. (Hrsg., mit Michail A. Bojcov), Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz – Okzident – Rußland, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 226 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2007). 244. (Hrsg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880 – 1932, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 228 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2007). 245. (Hrsg.), Erinnern – Bewahren – Erinnerung fruchtbar machen. Zum Gedenken an Josef Fleckenstein. Mit Beiträgen von Otto Gerhard Oexle, Rudolf Schieffer, Rudolf Smend, Matthias Winner und Thomas Zotz (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2007). 246. ‘Einführung: Die Gruppenkultur Europas’, in Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Mittelalter, hrsg. von Matthias Meinhardt, Andreas Ranft und Stephan Selzer (München: Oldenbourg Verlag, 2007; 22009), S. 169–76. 247. ‘Christina von Schweden, der Grand Condé und die Revolution der Wissenschaft im 17. Jahrhundert’, in Höfe – Salons – Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. von Gesa Stedman und Margarete Zimmermann (Hildesheim, Zürich und New York: Georg Olms Verlag, 2007), S. 145–86. 248. ‘Das kulturelle Gedächtnis der Wissenschaft. Überlegungen zu Wissenschaftsbildern des 17. und frühen 18. Jahrhunderts’, Dahlemer Archivgespräche. Hrsg. vom Archiv der Max-Planck-Gesellschaft 13 (2007), 9–28. 249. ‘Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne’, in Bilder der Macht (siehe Nr. 243), S. 631–74. 250. ‘Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne’, in Krise des Historismus (siehe Nr. 244), S. 11–116. 251. ‘Karl Hauck, 21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007’, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, 462–69. 252. ‘Worte des Gedenkens an Josef Fleckenstein’, in Erinnern – Bewahren – Erinnerung fruchtbar machen (siehe Nr. 245), S. 19–22.
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2008 253. (Hrsg., mit Michail A. Bojcov), Bilder der Macht in Okzident, Byzanz und Rußland. Mittelalter – Neuzeit / Obrazy vlasti na Zapade, v Vizantii i na Rusi. Srednie veka –Novoe vremja (Moskau: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2008). 254. ‘Mönchtum und Hierarchie im Okzident’, in Hiérarchie et stratification sociale dans l’Occident médiéval (400–1100), hrsg. von François Bougard, Dominique Iogna-Prat und Régine Le Jan, Collection ‘Haut Moyen Âge’, 6 (Turnhout: Brepols Publishers, 2008), S. 185–204. 255. ‘Gotičeski sobor kak reprezentacija épohi sovremennosti’ [‘Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne’], in Bilder der Macht in Okzident, Byzanz und Rußland (siehe Nr. 253), S. 401–40. 256. ‘Die Dauer des Mittelalters’, in Das Sein der Dauer, hrsg. von Andreas Speer und David Wirmer, Miscellanea Mediaevalia, 34 (Berlin und New York: Verlag de Gruyter, 2008), S. 3–26. 257. ‘Erinnerungs-Passagen. Über Gedächtnis und Gedächtnisgeschichte’, in Passagen. International Musicological Society Kongreß Zürich 2007. Fünf Hauptvorträge – Five Key Note Speeches (Kassel, Basel, London, New York und Prag: Bärenreiter Verlag, 2008), S. 70–98. Rezensionen: ‘Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840 – 1945, Berlin 2004’, Historische Zeitschrift 286 (2008), 223 f. ‘André Burguière, L’École des Annales. Une histoire intellectuelle, Paris 2006’, Historische Zeitschrift 286 (2008), 435 f. 2009 258. ‘Dauer und Wandel religiöser Denkformen, Praktiken und Sozialformen im mittelalterlichen Europa’, in Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Bd. 1, hrsg. von Hans G. Kippenberg und Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), S. 155–92. 259. ‘Memoria. Institutionalisierung und Kulturelles Gedächtnis’, in Insti tutionalisierung als Prozeß – Organisationsformen musikalischer Eliten im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von Birgit Lodes und Laurenz Lütteken, Beiträge des internationalen Arbeitsgespräches im Istituto Svizzero di Roma in Verbindung mit dem Deutschen Historischen Institut in Rom, 9. – 11. Dezember 2005; Analecta Musicologica, 43 (Laaber: Laaber-Verlag, 2009), S. 15–53.
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260. ‘Die Memoria der Reformation. Das Dessauer Altarbild Lucas Cranach des Jüngeren’, in Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunstgeschichte und Geschichte, hrsg. von Hans-Joachim Krause und Andreas Ranft, Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, Nr. 81, Heft 3 (Stuttgart und Leipzig: S. Hirzel Verlag, 2009), S. 53–79 und 157–77. 261. ‘La science historique en tant que recherche et le problème de l’historisme’, in Johann Gustav Droysen. L’avènement du paradigme herméneutique dans les sciences humaines, hrsg. von Jean-Claude Gens (Argenteuil: Collection Pheno, 2009), S. 31–42. 262.‘‘Das Mittelalter’ – Bilder gedeuteter Geschichte’, in Gebrauch und Mißbrauch des Mittelalters, 19. – 21. Jahrhundert, hrsg. von János M. Bak, Jörg Jarnut, Pierre Monnet und Bernd Schneidmüller, Mittelalterstudien, 17 (München: Wilhelm Fink Verlag, 2009), S. 21–43 (mit 15 Abb.). 263. ‘“Erinnerungsorte” – eine historische Fragestellung und was sie uns sehen lässt’, in Mittelalter und Industrialisierung. St. Urbanus in Huckarde, hrsg. von Thomas Schilp und Barbara Welzel, Dortmunder Mittelalter-Forschungen, 12 (Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2009), S. 17–37. 264. ‘Jonathan Littells Les Bienveillantes – ein Roman für Historiker’, in Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. von Roswitha Böhm, Stephanie Bung und Andrea Grewe, edition lendemains, 12 (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2009), S. 147–60. 265. ‘“Begriffsgeschichte” – eine noch nicht begriffene Geschichte’, Philosophisches Jahrbuch 116/II (2009), 381–400. – Russische Übersetzung: Odyssej. Čelovek v istorii (2010/2011), (Moskau: Nauka, 2012), S. 268–99 (siehe Nr. 281). 266. ‘Karl Ferdinand Werner, 21. Februar 1924 – 9. Dezember 2008’, Francia 36 (2009), 409 f. 2010 267. ‘Otto Hintze – Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung (1931)’, in Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorie am Wissenschaftsstandort Berlin, hrsg. von Wolfgang Hardtwig und Philipp Müller (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2010), S. 293–311. 268. ‘Das Mittelalter als Repräsentation der Moderne. Die Präraffaeliten, in „Luft unter die Flügel …”. Beiträge zur mittelalterlichen Kunst. Festschrift für Hiltrud Westermann-Angerhausen, hrsg. von Andrea von Hülsen-Esch und Dagmar Täube, Studien zur Kunstgeschichte, 181 (Hildesheim, Zürich und New York: Georg Olms Verlag, 2010), S. 247–54.
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269. ‘Geschichten vom Erinnern und Vergessen. Überlegungen eines Historikers zu Cécile Wajsbrots La Trahison’, in Du silence à la voix – Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot, hrsg. von Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann, Formen der Erinnerung, 37 (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2010), S. 143–54. 2011 270. Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, hrsg. von Andrea von Hülsen-Esch, Bernhard Jussen und Frank Rexroth (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2011). 271. ‘Einleitung’, in Die Wirklichkeit und das Wissen (siehe Nr. 270), S. 11–29. 272. ‘Wie entstanden Werte in der Gesellschaft des Mittelalters?’, in Die Wirklichkeit und das Wissen (siehe Nr. 270), S. 441–69. 273. ‘Koinos bios: Die Entstehung des Mönchtums’, in Die Wirklichkeit und das Wissen (siehe Nr. 270), S. 470–95. 274. ‘Mein Romspaziergang’, in Die Wirklichkeit und das Wissen (siehe Nr. 270), S. 1009–19. 275. ‘Armut im Mittelalter. Die pauperes in der mittelalterlichen Gesellschaft’, in Gelobte Armut. Armutskonzepte in der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, hrsg. von Heinz-Dieter Heimann, Angelica Hilsebein, Bernd Schmies und Christoph Stiegemann (Paderborn, München, Wien und Zürich: Verlag Ferdinand Schoeningh, 2011), S. 3–15. 276. ‘Fama und Memoria der Wissenschaft in der Kunst der Frühen Neuzeit’, in Living Memoria. Studies in Medieval and Early Modern Memorial Culture in Honour of Truus van Bueren, hrsg. von Rolf de Weijert, Kim Ragetli, Arnoud-Jan Bijsterveld und Jeannette van Arenthals, Middeleeuwse Studies en Bronnen, 137 (Hilversum: Verloren, 2011), S. 365–77. 277. ‘Friedrich Theodor Vischer und das Problem des Historismus’, in Friedrich Theodor Vischer. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Barbara Potthast und Alexander Reck, Beihefte zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 61 (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2011), S. 57–65. 278. ‘Begriffsgeschichte und Problemgeschichte’, in Begriffs-, Ideen- und Problemgeschichte im 21. Jahrhundert, hrsg. von Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi, Wolfenbütteler Forschungen, 127 (Wiesbaden: Harrasowitz Verlag, 2011), S. 13–30.
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279. ‘Das Mittelalter in unserer Gegenwart’, in St. Johannes in Brechten als Erinnerungsort des Ruhrgebiets, hrsg. von Thomas Schilp und Barbara Welzel, Dortmunder Mittelalter-Forschungen, 14 (Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2011), S. 23–44. 280. ‘Istorija pamjati – novaja paradigma istoričeskoj nauki‘, in Istoričeskaja nauka segodnja: teorii, metody, perspektivy, hrsg. von Lorina P. Repina (Moskau: Librokom, 2011) S. 75-90. – [nach einem Vortrag unter dem Titel ‘Istorija pamjati – novaja paradigma istoričeskoj nauki. Tesisy’ bereis erschienen in: Teorii i metody istoričeskoj nauki: Šag v XXI vek., hrsg. von Lorina P. Repina (Moskau: Institut Vseobščej Istorii, 2008), S. 308-311]. 281. ‘Skol´ko dlitsja Srednevekovje?’, in Obrasy prošlogo: sbornik pamjati Arona Jakovleviča Gurjeviča, hrg von I. Galkova, S. Lučizkaja u.a (Sankt Petersburg: Zentr gumanitarnych iniziativ, 2011). S. 149-158. – (Vortrag übersetzt und nach Absprache mit Anmerkungen ergänzt von Julia E. Arnautova aus Oexle, ‘Die Dauer des Mittelalters’, 2008 (Nr. 256). 2012 282. ‘Kommentar’ [zu “Erster Analyseschritt: Der Investiturstreit (1056 – 1122)”], in Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, hrsg. von Karl Gabriel, Christel Gärtner und Detlef Pollack (Berlin: Berlin University Press, 2012), S. 176–87. 283. ‘Istorija ponjatij – esčo ne ponjataja istorija’, Odyssej. Čelovek v istorii (2010/2011), (Moskau: Nauka, 2012), S. 268–99 (siehe Nr. 265). 2013 284. Die Gegenwart des Mittelalters, Das mittelalterliche Jahrtausend, 1, im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Michael Borgolte (Berlin und New York: Verlag de Gruyter, 2013). 285. (Mit Margarete Zimmermann), ‘Pierre Mac Orlan et la pauvreté – le vécu, l’imaginaire, le littéraire’, in Mythologies macorlaniennes, hrsg. von Bernard Baritaud und Philippe Blondeau, Lectures de Mac Orlan, 1 (Saint-Cyr-sur-Morin: Société des Lecteurs de Pierre Mac Orlan, 2013), S. 216–30. 286. ‘‘Geschichte‘ als Wissenschaft – ‘Geschichte‘ als Roman’, in Artium Conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeitforschung. Aufsätze für Dieter Wuttke, hrsg. von Petra Schöner und Gert Hübner (Baden-Baden: Verlag Valentin Koerner, 2013), S. 431–53. – Russische Übersetzung: ‘“Istoria” kak nauka – “istoria” kak roman’, in Odyssej. Čelovek v istorii (2013), (Moskau: Nauka, 2014), S. 157-76.
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287. ‘Claude Simon – und “wie es eigentlich gewesen”’, in Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft, hrsg. von Ina Ulrike Paul und Richard Faber (Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2013), S. 62–77. 2014 288. ‘Grab und Memoria in der Geschichte der Bilder vom Menschen’, Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 115/116 (2013/2014), 13–55. 289. ‘Historismus und Aufklärung. Eine deutsche und europäische Problemgeschichte’, in ‚Aufklärung‘ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte, hrsg. von Georg Neugebauer, Paolo Panizzo und Christoph Schmitt-Maass, Laboratorium Aufklärung, 26 (Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2014), S. 41–62. 290. ‘Macht und Grenzen des Historismus’, in Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen – Akteure – Institutionen, hrsg. von Christine Ottner-Diesenberger und Klaus Ries, Pallas Athene, 48 (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2014), S. 11–45. 291. ‘Das Krematorium als Monument der Moderne und die lange Geschichte der Toten’, in „Eines der wichtigsten Monumente unserer Zeit überhaupt”. Das Krematorium von Peter Behrens in Hagen, hrsg. von Birgitt Borkopp-Restle und Barbara Welzel (Essen: Klartext Verlag, 2014), S. 39–63. 292. Art. ‘Tellenbach, Gerd’, in Neue Deutsche Biographie, Bd. 26, 2016, S. 15–17. 2015 293. ‘Zwischen Armut und Arbeit. Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen’, in Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, hrsg. von Christoph Stiegemann, Ausstellungskatalog des Erzbischöflichen Diözesanmuseums Paderborn (Petersberg: Michel Imhof Verlag, 2015), S. 52–73. 2016 294. ‘Die Memoria der Reformation’, in Die Zukunft der Memoria, hrsg. von Reinhard Laube unter Mitarbeit von Uta Wolf, Forum Staats- und Stadtbibliothek, 1 (Augsburg: Wißner-Verlag, 2016), S. 33–52. 295. ‘Das Ende der Memoria’, in Reformations and their Impact on the Culture of Memoria, hrsg. von Truus van Bueren, Paul Cockerham, Caroline Horch, Martine Meuwese und Thomas Schilp, Memoria and Remembrance Practices, 1 (Turnhout: Brepols Publishers, 2016), S. 315–30.
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— Kurz vor Abschluss der Drucklegung dieses Buchs hat Wilfried Reininghaus auf eine frühe Veröffentlichung von Otto Gerhard Oexle hingewiesen, die dieser selbst freilich nie in sein Schriftenverzeichnis aufgenommen hat: ‘Die älteren Quellen zur Geschichte der Propstei Öhningen’, in Dorf und Stift Öhningen, hrsg. von Herbert Berner, Hegau-Bibliothek, 9 (Singen: J. A. Kugler, 1966), S. 89–93. – Wieder abgedruckt in: Karl Schmid, Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag (Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1983), S. 174–79.
Bibliographie
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Tilly, Richard H., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung (Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 1980). Tintoretto. A Star was Born, hrsg. von Roland Krischel unter Mitarbeit von Michel Hochmann und Cécile Maisonneuve, Ausstellungskatalog des Wallraf-RichartzMuseum Köln (München: Hirmer Verlag, 2017). Tönnesmann, Andreas, Pienza. Städtebau und Humanismus, Wagenbachs Taschenbuch, 717 (Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 32013). Töpfer, Bernhard, Volk und Kirche zur Zeit der beginnenden Gottesfriedensbewegung in Frankreich (Berlin: Verlag Rütten & Loening, 1957). Totaro, Pina, ‘Der Theologisch-politische Traktat im Kontext seiner Zeit’, in Baruch de Spinoza. Theologisch-politischer Traktat, hrsg. von Otfried Höffe (Berlin: AkademieVerlag, 2014), S. 227–46. Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg, hrsg. von Gerd Althoff und Joachim Wollasch, MGH Libri memoriales et necrologia, Nova series, 2 (Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 1983). Vaget, Hans Rudolf, Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen (München: Winkler Verlag, 1984). Vaget, Hans Rudolf, ‘Das Gesetz’, in Thomas-Mann-Handbuch, hrsg. von Helmut Koopmann (Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2005), S. 605–10. Vasari, Giorgio, Le vite de’ piu eccelenti pittori, scultori e archettori (Firenze: Apresso I Giunti, 1568). Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hrsg. von Johanne Autenrieth, Dieter Geuenich und Karl Schmid, MGH Libri memoriales et necrologia, Nova series, 1 (Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 1979). Vergeiner, Renate, Bomarzo. Ein Garten gegen Gott und die Welt (Edition Angewandte) (Basel: Birkhäuser Verlag, 2017). Vergilius, (Publius Maro), Aeneis, Buch 1 bis 12, hrsg. und übersetzt von Johannes Götte mit einem Nachwort von Bernhard Kytzler (Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler Verlag, 91997). Veyne, Paul, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988). Vignjevic, Tomislav, ‘Darstellungen der drei Stände an der Schwelle zur Neuzeit. Zum Verhältnis von bildlicher Darstellung und gesellschaftlicher Realität’, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 57 (2008), 31–50. Vita Remigii Episcopi Remensis auctore Hincmaro, hrsg. von Bruno Krusch, MGH Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 3 (Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 1896), S. 239–341. Vitruv, De architectura libri decem. Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und durch Anmerkungen und Zeichnungen erläutert von Franz Reber (Wiesbaden: Marixverlag, 32015). Voltaire, Ueber den Geist und die Sitten der Nationen, deutsch von K. F. Wachsmuth, 1. Theil (Leipzig: Verlag Wigand, 1867). Vormbaum, Thomas, ‘Recht und Staat – Mythos, Erzählung, Realität. Thomas Manns Novelle “Das Gesetz ”’, in Thomas Mann, Das Gesetz, S. 101–41.
bibliog ra phie
Vree, Frank van, ‘Auschwitz and the Origins of Contemporary Historical Culture. Memories of World War II in European Perspective’, in European History: Challenge for a Common Future, hrsg. von Attila Pok, Jörn Rüsen und Jutta Scherrer (Hamburg: Körber-Stiftung, 2002), S. 202–20. Walzer, Michael, Exodus und Revolution (Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1995). Warburg, Aby, ‘Piero della Francescas Konstantinsschlacht in der Aquarellkopie des Johann Anton Ramboux (1912)’, in Die Erneuerung der Heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. 1, neu hrsg. von Horst Bredekamp und Michael Diers (Berlin: Akademie Verlag, 1998; Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemeont edierten Ausgabe von 1932, Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1932), S. 251–54 und Anhang S. 389–91. Warnke, Martin, ‘Vorwort’ zu: Carlo Ginzburg, Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance (Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1981), S. 7–14. Weber, Christoph Friedrich, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs. Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (Köln, Weimar und Wien: Böhlau Verlag, 2011). Weber, Max, ‘Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung’, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 47 (1920/1921), 621–772. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann (Tübingen: Mohr Siebeck, 51972). Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2: ‘Hinduismus und Buddhismus’ (Tübingen: Verlag J. C. B. Mohr, 61978). Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, Max Weber Gesamtausgabe Abt. I: Schriften und Reden, Bd. 20, hrsg. von Helwig SchmidtGlintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996). Weber, Max, ‘Die ‘Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis’, in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Tübingen: Uni Taschenbuchverlag (UTB), 71988), S. 146–214. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilbd. 5: Die Stadt, Max Weber Gesamtausgabe Abt. I: Schriften und Reden, Bd. 22 – Teilbd. 5, hrsg. von Wilfried Nippel (Tübingen: Mohr Siebeck, 1999). Weber, Wolfgang E. J., Klassiker der Geschichtsschreibung (Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2016). Werner, Karl Ferdinand, ‘Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000’, in Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 4: Das Nachleben, hrsg. von Wolfgang Braunfels und Percy E. Schramm, (Düsseldorf: Verlag L. Schwann, 1967), S. 403–84. Wesseler, Matthias, Die Einheit von Wort und Sache. Der Entwurf einer rhetorischen Philosophie bei Marius Nizolius, Humanistische Bibliothek, Reihe 1, Bd. 15 (München: Wilhelm Fink Verlag, 1974). Widmer, Berthe, Enea Silvio Piccolomini in der sittlichen und politischen Entscheidung, Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 88 (Basel und Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn Verlag, 1963).
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Wübben, Yvonne, ‘Moses als Staatsgründer. Schiller und Reinhold über die Arkanpolitik der Spätaufklärung’, Aufklärung 15 (2003), 125–58. Wübben, Yvonne, ‘“Ich bin alles, was da ist”. Zur Auslegung der Isis-Inschrift bei Schiller und Reinhold’, in Krisen des Verstehens um 1800, hrsg. von Sandra Heinen und Harald Nehr (Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2004), S. 135–51. Wulz, Hildegard, Die ‘Galleria degli Antichi’ des Vespasiano Gonzaga in Sabbioneta, Studien zur internationalen Architektur und Kunstgeschichte, 42 (Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2006). Yates, Frances A., Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (Weinheim: Verlag VCH Acta Humaniora, 21991). Zipfel, Frank, ‘“Ich hätte Euch einen ganz anderen Moses machen wollen” – Überlegungen zu Goethes Moses-Bild in “Israel in der Wüste”’, in Goethe und die Bibel, hrsg. von Johannes Anderegg und Edith A. Kunz (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2005), S. 185–215. Die Zisterzienser. Das Europa der Klöster, Begleitbuch zur Ausstellung Bonn, hrsg. vom LVR-LandesMuseum Bonn (Stuttgart: Konrad Theiss Verlag, 2017).
Curricula Vitae
Arnoud-Jan Bijsterveld was trained as a medieval historian and is Professor at Tilburg University, the Netherlands. Since 1999, he has held the funded chair for the Regional History and Ethnology of Brabant at Tilburg University. He teaches on nationalism and regionalism in Europe, regional history, medieval history, and historical methodology. He published extensively on the medieval history of the Low Countries and on the interplay between history, cultural heritage, and (regional) identity. His main fields of interest are the regional dimensions of Europe’s cultural history; Public History, with a focus on the memory culture of the Holocaust; and the political, social, and ecclesiastical history of the Central Middle Ages. Michael Borgolte was Professor of Medieval History at the Humboldt-University, Berlin, since 1991. After taking his Ph.D. at the University of Münster 1975 he earned his Habilitation Degree 1981 at the University of Freiburg. Than he was teaching at the Universities in Bamberg, Freiburg, Frankfurt am Main and Basel. 1984 he was fellow of Deutsche Forschungsgemeinschaft (‘Heisenbergstipendium’). Borgolte is a member of the Berlin-Brandenburgische Academy of Sciences and the Humanities, a member of the advisory board of the Monumenta Germaniae Historica and a member of the Academia Europaea. 2011 he got the Advanced Grant of the European Research Council for ‘FOUNDMED. Foundations in medieval societies. Cross-cultural Comparisons (2012–17)’. 2016 he retired as a Professor at the Humboldt-University. Since June 2018 Borgolte is Founding Director of the Berlin Institute for Islamic Theology as a central institute at the Humboldt-University. Caroline Horch studied History, Philosophy and Art History at the universities of Münster, Hannover, Munich, Aix-en-Provence and Nijmegen. She earned state examination in History and Philosophy at Universität Münster in 1987, received a Ph.D. in Art History at Katholieke Universiteit Nijmegen in 2002, and a Habilitation degree in Medieval History at Universität Duisburg-Essen in 2007 (Der Cappenberger Barbarossakopf). After having taught medieval history at the universities of Düsseldorf, Duisburg-Essen and Oldenburg, Horch currently is a private lecturer at Martin Luther University Halle-Wittenberg. In several articles, she combines the disciplines of History and Art History. Bernhard Jussen has been Professor of ‘Medieval History and its Perspectives in the Present’ at the Goethe University Frankfurt since 2008. He had previously
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been a professor in Bielefeld since 2001. After completing his doctorate with a thesis in the field of Historical Anthropology on Post Roman kinship practices he worked at the Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. Here he received his habilitation in 1999 with a thesis in the field of Historical Semantics. Jussen was a Research Fellow at the Wissenschaftskolleg zu Berlin and at the Art History Department of Havard University, visiting professor in Ann Arbor, Michigan, and at the Ecole Normale Supérieure, Paris. In 2007 he was awarded the Leibniz Prize of the German Research Foundation. His research focuses on Latin Europe, in particular on political semantics, on the correlation of kinship structure and political systems, and especially on post-eurocentric approaches to those societies that were traditionally considered ‘medieval’. Walter Pauly earned a Ph.D. in law in 1989 with a thesis on constitutional law under the supervision of Bernhard Schlink. After the legal clerkship at the Regional Court of Berlin he succesfully completed his exams to become an assessor in 1990. He habilitated in Frankfurt am Main in 1993 with a treatise on the history of juridical science under the title of Methodological Change in German late constitutionalism. From 1993 to 1998 he held a chair of Public Law, Modern Legal History and Philosophy of Law at the Martin Luther University of Halle-Wittenberg. From 1994 to 1996 Pauly was a judge at the Higher Administrative Court of Saxony-Anhalt. He holds a chair of Public Law, Legal and Constitutional History, Legal Philosophy at the University of Jena and, where he is Dean of the Law Faculty. He is Associate Editor of DER STAAT (journal for the theory of the state). Wilfried Reininghaus studied Economics and History at Westfälische WilhelmsUniversität Münster and there he earned his examinations as Diplom Volkswirt 1974 and state examination 1977; his Ph.D. he received 1980 with a thesis under the supervision of Otto Gerhard Oexle. As a postdoctoral fellow, he studied Archival Sciences at Archivschule Marburg from 1980 to 1982. Subsequently, Reininghaus worked 1982 to 1996 as an archivist at Westfälisches Wirtschaftsarchiv in Dortmund and since 1996 as a director of Staatsarchiv Münster. From 2003 to 2013 he was President of the Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. In 1990 he earned his Habilitation Degree at Universität Münster (Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute), and their he taught since 1999 as Extraordinary Professor. From 2003 to 2018 he was the chairman of the scientific society Historische Kommission für Westfalen. Frank Rexroth is Professor of History at the University of Göttingen, Germany. After taking his Ph.D. at the University of Freiburg, he worked at the German Historical Institute London, the Max- Planck-Institute für Geschichte in Göttingen and the Humboldt-University, Berlin. Before moving on to the University of Göttingen, he held a professorship at the University of Bielefeld. Rexroth is a member of the Göttingen Academy of Sciences and the Humanities, of the advisory board of the Monumenta Germaniae Historica and a number of other
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institutions. He was fellow, among others, of the Institutes for Advanced Study in Berlin and Princeton, N.J. His most recent publication is his book Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters (2018). Klaus Ries is Professor of modern history at the Friedrich-Schiller-University Jena, Germany. After taking his Ph.D. at the University of Jena he worked in the Sonderforschungsbereich 482: ‘Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800’, where he made his Habilitation Degree about the relationship of ‘science and politics’ in the early 19th century. He took guest-professorships at the Humboldt-University of Berlin, the University of Potsdam and the Martin-Luther-University of HalleWittenberg. His fields of research are focussed on the history of the science of history, the modern theories of history, the ‘Romantik’ and the ‘Klassik’ under a political dimension. His most recent book publication is about ‘Heimat’ as a problem of globalization. Thomas Schilp is since 2015 Extraordinary Professor of Medieval History at Ruhr-Universität Bochum. At Philipps-Universität Marburg he received his Ph.D. in 1981. As a postdoctoral fellow, he studied Archival Sciences at Archivschule Marburg from 1981 to 1983. Subsequently, he worked at Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen from 1983 to 1985. Schilp was an archivist at the Hauptstaatsarchiv Düsseldorf from 1985 to 1987, and the archivist for the city of Dortmund from 1987 to 2014. In 1994 he earned his Habilitation Degree at Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, and there he taught as an Extraordinary Professor of Medieval History from 1994 to 2015. His field of research is focussed on medieval memoria, townhistory in general and the history of religious female communities. Jean-Claude Schmitt was Directeur d’études at the Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (1983–2014) and President of the Scientific Board of the Campus Condorcet (2009–18). He was also a fellow of the Institute for Advanced Study in Princeton, the Woodrow Wilson Center and Dumbarton Oaks in Washington, the Warburg Institute in London and the Getty Research Institute in Los Angeles. He taught as a Visiting Professor at the University of Constance and the Humboldt Universität in Berlin and was a fellow of the Wissenschafts Kolleg in Berlin (2011). He was a member of the Scientific Board of the MaxPlanck-Institut für Geschichte in Göttingen (1992–99) and received the Silver Medal of the CNRS (France) and the Reimar Lüst-Preis of the Alexander von Humboldt Stiftung (2008). His numerous books on Medieval European Culture have been translated into more than fifteen languages. Annemarie Stauffer is Professor of Textile History and Conservation at the Technical University of Cologne. She studied art history, history and German literature. In 1990 she got a grant by the Swiss National Fonds for care of cultural heritage in Europe. After taking her Ph.D. she was teaching at Bern University. In 1994 she was fellow of the Swiss Institute at Rome. Her field of research is focused
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on ancient textiles as historical sources and medium of social interference. She participated in many international projects e.g. by the German Archaeological Institute and the National Service of Antiquities in Damascus concerned about the ancient textiles from Palmyra; another project was supported by the European community concerned about Dress codes in the Roman empire. She was a lecturer at J. P. Getty Museum in Malibu and at Scuola Superiore in Pisa.
Farbtafeln
Zu: Annemarie Stauffer, Textile Schenkungen und memoriales Handeln
Farbtafel I: Maaseik, St. Catharinenkirche, sogenanntes Velamen der hl. Harlindis, 9. Jahrhundert, Gesamtansicht und Dedikationsinschriften, verteilt auf die beiden Zierelemente der Enden (Foto: ©KIKIRPA, Brussels).
Zu: Bernhard Jussen, Wo ist die ‚mittelalterliche Ständegesellschaft‘?
Farbtafel II: Die vierteilige, über zwei Seiten verteilte Bilderzählung vom Albtraum Heinrichs I. in der Chronik des englischen Mönches John of Worcester (gest. um 1140). Die Bilderzählung befindet sich in der vom Autor selbst bearbeiteten Handschrift (Corpus Christi College, Oxford MS 157, S. 382–83 vor 1140).
Farbtafel III: Die manipulierte Version in der oft und in verschiedenen Sprachen aufgelegten Publikation von Bartlett, Die Welt des Mittelalters, S. 100.
Farbtafel IV: Darstellung des Weltgerichts gegen Ende des Textes der Apokalypse des Johannes, Reichenau, (circa 1010) (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 140, fol. 53r).
Farbtafel V: Darstellung des Weltgerichts bei den Texten zur Totenmesse im sogenannten ‘Perikopenbuch Heinrichs II.’, Reichenau (ca. 1007–12) (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, fol. 201v–202r).
Farbtafel VI: Torcello, Kathedrale, Westwand: Die Geretteten nach der Auferstehung, Ausschnitt aus dem Weltgerichtsmosaik, zumeist in die 1070er Jahre datiert (Foto AKG Stock Photo).
Farbtafel VII: Capua, Sant’Angelo in Formis: Die Geretteten nach der Auferstehung, Ausschnitt aus dem Weltgerichtsfresko der Westwand (Foto AKG Stock Photo 2068283).
Zu: Thomas Schilp, Stadtbau und Memoria
Farbtafel VIII: Blick aus dem Orciatal auf die (südliche) Silhouette von Pienza mit dem Turm des Palazzo Pubblico, Dom und Palazzo Piccolimini im Zentrum (Foto: Annemarie Stauffer).
Farbtafel IX: Pienza, Dom, Nikolausretabel im zweiten Joch des linken Seitenschiffs von Matteo di Giovanni / da Siena, wahrscheinlich 1464/1465, auch ‘Gelehrtentafel’ genannt (Foto: Annemarie Stauffer).
Farbtafel X: Pienza, Blick aus dem Kreuzgang des Franziskanerklosters auf den Corso mit Palazzo Piccolomini rechts, gegenüber ehemaliges Gasthaus und Palazzo AmmanatiPiccolomini, im Hintergrund der Bischofspalast an der zentralen Piazza und der Uhrturm des Palazzo Pubblico (Foto: Annemarie Stauffer).
Farbtafel XI: Sabbioneta, Piazza Maggiore mit Palazzo Ducale, Chiesa dell’ Incoronata im Hintergrund, Casa del Luogotenente (Foto: Annemarie Stauffer).
Farbtafel XII: Sabbioneta, Palazzo Ducale: Reiterstandbild Vespasiano Gonzaga mit Goldenem Vlies (Mitglied des Ordens seit 1585) (Foto: Annemarie Stauffer).
Farbtafel XIII: Sabbioneta, Chiesa Santa Maria dell’ Incoronata, Bronzeskulptur Vespasianos Gonzaga (Foto: Annemarie Stauffer).