Mehr Partizipation – weniger Legitimation? Herausforderungen partizipativer Demokratie in der EU [1. ed.] 9783756000227, 9783748936015


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Einleitung
Welche Akteure profitieren von direkter Partizipation?
Welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass einige Akteur*innen mehr durch die direkten Partizipationsformen profitieren als andere?
1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene
1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU
1.1.1 Demokratische Legitimation nach Fritz W. Scharpf
1.1.2 Probleme der Input-Legitimation der EU
1.1.3 Probleme der Output-Legitimation der EU
1.1.4 Legitimationsprobleme der EU-Kommission als Institution
1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster
1.2.1 Begriffsbestimmung von Partizipation: das instrumentelle und das normative Verständnis
1.2.2 Partizipation auf EU-Ebene: Ansätze mit einem normativen Partizipationsverständnis
1.2.2.1 Ansätze assoziativer Demokratie
Beschreibung des Legitimationsdefizits der EU
Begründung für mehr direkte Partizipation und erhoffte positive Effekte
Einbindung der Assoziationen in die repräsentativen Institutionen
1.2.2.2 Ansätze deliberativer Demokratie
1.2.2.2.1 Deliberativer Supranationalismus
Begründung für mehr Partizipation und dadurch erhoffte positive Effekte bei Joerges und Neyer
1.2.2.2.2 Direkt-deliberative Polyarchie
1.2.3 Partizipation auf EU-Ebene bei Vivien Schmidt
1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission
1.3.1 Entstehungshintergrund des Weißbuches Europäisches Regieren
1.3.2 Partizipationsverständnis und Begründung für mehr direkte Partizipation
1.3.2 Begleitende Maßnahmen
1.4 Zusammenfassung: Begründungen für direkte Partizipation und erhoffte Legitimitätssteigerungen in den unterschiedlichen theoretischen Zugängen
2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?
2.1 Inputbezogene Effekte von Partizipation: zentrale empirische Ergebnisse
2.2 Outputbezogene Effekte von Partizipation: Zentrale empirische Ergebnisse
2.3 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse des Forschungsstandes
3 Forschungsfrage und -design
3.1 Forschungsfrage
a) Wer profitiert von direkter Partizipation auf EU-Ebene?
b) Welche Strukturen und Mechanismen bewirken, dass einige Akteur*innen stärker von Partizipation profitieren als andere?
3.2 Forschungsdesign
3.2.1 Verwendete Kriterien für die empirische Untersuchung von demokratischer Partizipation auf EU-Ebene
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
3.2.2 Zusammenstellung der Beteiligungsinstrumente (Makro-Ebene)
3.2.3 Analyse der Fallbeispiele (Mikro-Ebene)
3.2.4 Synthese: Übertragung der Erkenntnisse aus den Fallstudien auf die anderen Beteiligungsformen
4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene
4.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereiches
4.2 Vorgehensweise
4.2.1 Analysekriterien der Typologie der Beteiligungsformen
Deskriptive Kriterien:
Inhaltlich-analytische Kriterien:
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.2.2 Methodisches Vorgehen
4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene
4.3.1 Direkte Beteiligung in Form von Beschwerderechten
4.3.1.1 Petitionen bei dem Europäischen Parlament
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.1.2 Beschwerden bei dem oder der Europäischen Bürgerbeauftragten
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.1.3 Beschwerden bei der EU-Kommission
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.1.4 Zusammenfassung: Beschwerderechte auf europäischer Ebene
Institutionelle Anbindung und Themen
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2 Direkte Beteiligung in Form von Konsultation
4.3.2.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.2 Die Konsultationsinstrumente der EU-Kommission
4.3.2.2.1 Allgemeine Charakteristika der Konsultationsinstrumente
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Klassische Konsultationsinstrumente:
Generelle Veränderungen der Konsultationsinstrumente um die Jahrtausendwende
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.2.2 Europäischer Sozialdialog
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.2.3 Online-Konsultationen
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.3 Der Strukturierte Dialog
4.3.2.3.1 Strukturierter Dialog mit der Jugend
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.3.2 Der Strukturierte Dialog mit der Zivilgesellschaft im Politikfeld Kultur
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage.
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.3.3 Der Strukturierte Dialog im Bereich Sport
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage.
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.4 Bürgerkonferenzen und -dialoge
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Institutionelle Anbindung
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.3.2.5 Die Europäische Bürgerinitiative (EBI)
Zielgruppe
Zeitpunkt der Einführung
Geschichte und rechtliche Grundlage
Anwendungsbereich
Durchführung/Verfahren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen
4.4.1 Die Entwicklung der direkten Beteiligungsformen auf europäischer Ebene im Laufe der Zeit
4.4.2 Zielgruppen von Partizipation auf europäischer Ebene
4.4.3 Institutionelle Anbindung der partizipativen Instrumente auf Gemeinschaftsebene
4.4.4 Zusammenfassung: Strukturelle Problemfelder von Partizipation auf EU-Ebene
Strukturelle Ungleichheiten in der Beteiligung der gesellschaftlichen Akteur*innen
Strukturelles Abweichen des kommunizierten Partizipationsdiskurses vom faktisch umgesetzten Partizipationskonzept der EU-Kommission
5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen
5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl
5.1.1 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture
5.1.2 Fallstudie: Die EBI Right2water
5.1.3 Zusammenfassung: Die Auswahlkriterien der beiden Fallstudien
5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien
5.2.1 Vorstellung und Begründung der Methode Expert*inneninterviews
Expert*inneninterviews und Arten von Erkenntnisinteresse
Expert*inneninterviews und Wissensarten
5.2.2 Vorgehensweise
5.2.2.1 Entwicklung des Interviewleitfadens
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
5.2.2.2 Auswahl der Expert*innen für die Fallstudien
5.2.2.3 Datenbasis
Fallstudie Strukturierter Dialog mit der Kultur
Fallbeispiel EBI Right2water
5.2.2.4 Auswertungsverfahren
5.2.3 Risiken der Methode und Strategien zur Minimierung dieser Risiken
6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture
6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten
6.1.1 Inklusivität
6.1.1.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft
Zusammenfassung und Interpretation
6.1.1.2 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen
Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
6.1.1.3 Strukturelle Probleme beim Kriterium Inklusivität und dafür ursächliche Faktoren
6.1.2 Deliberation
6.1.2.1 Ergebnisse der Interviews mit Teilnehmenden der Zivilgesellschaft
Deliberation zwischen den Teilnehmenden
Deliberation mit Vertreter*innen der EU-Kommission
Zusammenfassung und Interpretation
6.1.2.2 Ergebnisse der Interviews mit Organisator*innen
Deliberation zwischen den Teilnehmenden
Deliberation zwischen den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft und der EU-Kommission
Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
6.1.2.3 Strukturelle Probleme im Kriterium Deliberation und dafür ursächliche Faktoren
6.1.3 Verantwortlichkeit
6.1.3.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft
Transparenz des Beteiligungsprozesses
Berichterstattung durch die EU-Kommission
Bewertung der Ergebnisse des Strukturierten Dialoges durch die Teilnehmenden
Zusammenfassung und Interpretation
6.1.3.2 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen
Transparenz des Beteiligungsprozesses
Berichterstattung durch die EU-Kommission
Bewertung der Ergebnisse des Strukturierten Dialoges durch die Organisator*innen
Zusammenfassung und Interpretation:
6.1.3.3 Strukturelle Probleme beim Kriterium Verantwortlichkeit und dafür ursächliche Faktoren
6.2 Zusammenfassung: Strukturelle Probleme in den drei Kriterien und die dabei wirkenden Faktoren
7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water
7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten
7.1.1 Inklusivität
7.1.1.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI und Unterstützenden aus dem EU-Parlament
7.1.1.2 Strukturelle Probleme beim Kriterium Inklusivität und dafür ursächliche Faktoren
7.1.2 Deliberation
7.1.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI
Deliberation bei der Organisation, Gestaltung und Durchführung der Initiative
Deliberation in der Umsetzung einer EBI-Länderkampagne
Ansatzpunkte für eine transnationale Solidarität und kollektive Identität bei der Kampagne
Herstellung von Öffentlichkeit für das Thema Wasser
Mögliche Deliberationsprozesse mit Institutionen (mit EU-Kommission und EU-Parlament)
Anhörung bei der EU-Kommission
Anhörung vor dem EU-Parlament
Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
7.1.2.2 Ergebnisse der Interviews mit Unterstützenden aus dem EU-Parlament
Deliberation in der Zivilgesellschaft bei der EBI
Deliberation zwischen Zivilgesellschaft und EU-Institutionen
Zusammenfassung und Interpretation:
7.1.2.3 Ergebnisse der Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission
Zusammenfassung und Interpretation:
7.1.2.4 Strukturelle Probleme im Kriterium Deliberation und dafür ursächliche Faktoren
7.1.3 Verantwortlichkeit
7.1.3.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI
Transparenz im und über den Prozess:
Erklärung der Entscheidung und Berichterstattung durch die EU-Kommission
Zusammenfassung und Interpretation
7.1.3.2 Ergebnisse der Interviews mit den Unterstützenden aus dem EU-Parlament
Transparenz im und über den Prozess
Berichterstattung durch die EU-Kommission
Zusammenfassung und Interpretation
7.1.3.3 Ergebnisse der Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission
Zusammenfassung und Interpretation
7.1.3.4 Strukturelle Probleme im Kriterium Verantwortlichkeit und dafür ursächliche Faktoren
7.2 Zusammenfassung: Strukturelle Probleme in den drei Kriterien und dabei wirkende Faktoren
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene
8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation: Vergleich der beiden Fallstudien
8.1.1 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Inklusivität
8.1.2 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Deliberation
Deliberation innerhalb der Zivilgesellschaft und mit Bürger*innen
Deliberation mit Institutionen
8.1.3 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Verantwortlichkeit
8.2 Rückschlüsse der Fallstudien auf strukturelle Probleme der übrigen direkten Beteiligungsformen
Inklusivität
Deliberation
Verantwortlichkeit
8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse: Wer profitiert durch welche Faktoren von der direkten Beteiligung?
8.3.1 Die wichtigsten Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation auf EU-Ebene
8.3.2 Wer profitiert von den direkten Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene?
9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?
9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse
9.1.1 Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte von direkter Partizipation auf der Input-Seite
9.1.2 Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte von direkter Partizipation auf der Output-Seite
9.1.3 Direkte Partizipation und demokratische Legitimation der EU: Eine komplexe Wechselwirkung
9.2 Mögliche Reformoptionen für direkte Partizipation
Ansätze an der Beteiligungsform
Politischer Kontext in der EU
9.3 Impulse für die Partizipationsforschung
9.3.1 Ein differenziertes Partizipationsverständnis
9.3.2 Einflussfaktoren von Partizipation auf die demokratische Legitimation
9.4 Ausblick
Anhang
Interview Leitfäden
Fallstudie 1: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture
Leitfaden für Partizipierende (Beispiel für den ersten Dialog, Audience Development)
Starting part
Main part: procedure: The Voice of Culture
A Brainstorming Session
B Brainstorming Report
C Dialogue Meeting in Brussels on April 29th 2016
Leitfaden für Organisator*innen (beispielhaft für den ersten Dialog, Audience Development):
Warm-up question
Idea and implementation of the re-organised form (‘The Voice of Culture’) since 2015
Process: ‘Structured Dialogue’’
Brainstorming Session
Brainstorming Report
Dialogue Meeting
After the Dialogue Meeting: What happens next?
Closing question
Fallstudie 2: EBI Right2water
Leitfaden für die Organisator*innen der EBI
Fragebereich 1: Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen Akteuren aus Zivilgesellschaft/ Erfahrungen mit Bürgern
Einstieg
Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parlamentariern
Bürgerausschuss
Fragebereich 2: Verfahren und Institutionen bei der europäischen Bürgerinitiative auf europäischer Ebene
Konkrete Fragebereiche der EBI right2water:
Bewertung der Europäischen Kommission im Prozess und hinsichtlich der Ergebnisse
Bewertung weiterer Institutionen auf EU-Ebene
Weitergehende Fragen zu Beteiligung und Partizipation in der EU
Erfolgreiche EBI
Vorteile der EBI als Beteiligungsform
Beeinflussung der Beteiligungsform
Wichtigste Erfahrung aus der EBI
Leitfaden für Unterstützende aus dem EU-Parlament
Leitfaden für Mitarbeitende der EU-Kommission
Aufwärmfrage
Die Organisator*innen der Initiative
Sachstand zum Inhalt der Bürgerinitiative - Allgemein
Zuständigkeit des Mitarbeiters
Vorsprechen am 17.04.2014
Ergebnisse der Bürgerinitiative
EBI allgemein
Literaturverzeichnis
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 9783756000227, 9783748936015

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Studien zur Theorie und Empirie der Demokratie herausgegeben von Prof. (apl.) Dr. Markus Linden Prof. Dr. Winfried Thaa

Juliane Scholz

Mehr Partizipation – weniger Legitimation? Herausforderungen partizipativer Demokratie in der EU

Gefördert von der Studienstiftung des Deutschen Volkes e.V.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Halle-Wittenberg, Univ., Diss., 2022 ISBN 978-3-7560-0022-7 (Print) ISBN 978-3-7489-3601-5 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Danksagung

Auf diesem Wege möchte ich mich für die vielfältige Unterstützung be­ danken, die ich im Laufe der Arbeit an dieser Dissertation erfahren durf­ te und ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre: Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei meinen beiden Betreuerinnen Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer und Prof. Dr. Petra Dobner bedanken, die mir stets mit konstruktiven Hinweisen und Ratschlägen zur Seite standen. Insbesondere Frau Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer gilt zudem mein außerordentlicher Dank dafür, dass sie es immer wieder schaffte, mich mo­ tiviert und zuversichtlich aus unseren Gesprächen zu entlassen. Darüber hinaus bin ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes e. V. für die finanzielle und ideelle Unterstützung zu großem Dank verpflichtet, die die Verwirklichung dieses Promotionsvorhabens erst möglich gemacht hat. Schließlich möchte ich meiner Familie den größten Dank dafür ausspre­ chen, dass sie mich in den Höhen und Tiefen der Bearbeitung begleitet und gestärkt hat.

5

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

15

Tabellenverzeichnis

17

Abkürzungsverzeichnis

19

Einleitung

21

1

28

Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU 1.1.1 Demokratische Legitimation nach Fritz W. Scharpf 1.1.2 Probleme der Input-Legitimation der EU 1.1.3 Probleme der Output-Legitimation der EU 1.1.4 Legitimationsprobleme der EU-Kommission als Institution 1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster 1.2.1 Begriffsbestimmung von Partizipation: das instrumentelle und das normative Verständnis 1.2.2 Partizipation auf EU-Ebene: Ansätze mit einem normativen Partizipationsverständnis 1.2.2.1 Ansätze assoziativer Demokratie 1.2.2.2 Ansätze deliberativer Demokratie 1.2.2.2.1 Deliberativer Supranationalismus 1.2.2.2.2 Direkt-deliberative Polyarchie 1.2.3 Partizipation auf EU-Ebene bei Vivien Schmidt 1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission 1.3.1 Entstehungshintergrund des Weißbuches Europäisches Regieren 1.3.2 Partizipationsverständnis und Begründung für mehr direkte Partizipation 1.3.2 Begleitende Maßnahmen

29 30 33 36 39 46 46 49 49 59 59 65 69 73 74 76 78

7

Inhaltsverzeichnis

1.4 Zusammenfassung: Begründungen für direkte Partizipation und erhoffte Legitimitätssteigerungen in den unterschiedlichen theoretischen Zugängen 2

81

Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

84

2.1 Inputbezogene Effekte von Partizipation: zentrale empirische Ergebnisse

86

2.2 Outputbezogene Effekte von Partizipation: Zentrale empirische Ergebnisse

90

2.3 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse des Forschungsstandes

95

3

99

Forschungsfrage und -design

3.1 Forschungsfrage

99

3.2 Forschungsdesign 3.2.1 Verwendete Kriterien für die empirische Untersuchung von demokratischer Partizipation auf EU-Ebene 3.2.2 Zusammenstellung der Beteiligungsinstrumente (Makro-Ebene) 3.2.3 Analyse der Fallbeispiele (Mikro-Ebene) 3.2.4 Synthese: Übertragung der Erkenntnisse aus den Fallstudien auf die anderen Beteiligungsformen

104

4

Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

115

4.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereiches

115

4.2 Vorgehensweise 4.2.1 Analysekriterien der Typologie der Beteiligungsformen 4.2.2 Methodisches Vorgehen

120 120 126

8

106 111 112 113

Inhaltsverzeichnis

4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene 4.3.1 Direkte Beteiligung in Form von Beschwerderechten 4.3.1.1 Petitionen bei dem Europäischen Parlament 4.3.1.2 Beschwerden bei dem oder der Europäischen Bürgerbeauftragten 4.3.1.3 Beschwerden bei der EU-Kommission 4.3.1.4 Zusammenfassung: Beschwerderechte auf europäischer Ebene 4.3.2 Direkte Beteiligung in Form von Konsultation 4.3.2.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) 4.3.2.2 Die Konsultationsinstrumente der EUKommission 4.3.2.2.1 Allgemeine Charakteristika der Konsultationsinstrumente 4.3.2.2.2 Europäischer Sozialdialog 4.3.2.2.3 Online-Konsultationen 4.3.2.3 Der Strukturierte Dialog 4.3.2.3.1 Strukturierter Dialog mit der Jugend 4.3.2.3.2 Der Strukturierte Dialog mit der Zivilgesellschaft im Politikfeld Kultur 4.3.2.3.3 Der Strukturierte Dialog im Bereich Sport 4.3.2.4 Bürgerkonferenzen und -dialoge 4.3.2.5 Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) 4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen 4.4.1 Die Entwicklung der direkten Beteiligungsformen auf europäischer Ebene im Laufe der Zeit 4.4.2 Zielgruppen von Partizipation auf europäischer Ebene 4.4.3 Institutionelle Anbindung der partizipativen Instrumente auf Gemeinschaftsebene 4.4.4 Zusammenfassung: Strukturelle Problemfelder von Partizipation auf EU-Ebene 5

Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl 5.1.1 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

127 128 129 132 136 139 141 142 145 146 155 160 166 167 172 175 178 186 194 196 199 202 207 213 213 215

9

Inhaltsverzeichnis

5.1.2 Fallstudie: Die EBI Right2water 5.1.3 Zusammenfassung: Die Auswahlkriterien der beiden Fallstudien 5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien 5.2.1 Vorstellung und Begründung der Methode Expert*inneninterviews 5.2.2 Vorgehensweise 5.2.2.1 Entwicklung des Interviewleitfadens 5.2.2.2 Auswahl der Expert*innen für die Fallstudien 5.2.2.3 Datenbasis 5.2.2.4 Auswertungsverfahren 5.2.3 Risiken der Methode und Strategien zur Minimierung dieser Risiken 6

Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten 6.1.1 Inklusivität 6.1.1.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft 6.1.1.2 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen 6.1.1.3 Strukturelle Probleme beim Kriterium Inklusivität und dafür ursächliche Faktoren 6.1.2 Deliberation 6.1.2.1 Ergebnisse der Interviews mit Teilnehmenden der Zivilgesellschaft 6.1.2.2 Ergebnisse der Interviews mit Organisator*innen 6.1.2.3 Strukturelle Probleme im Kriterium Deliberation und dafür ursächliche Faktoren 6.1.3 Verantwortlichkeit 6.1.3.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft 6.1.3.2 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen 6.1.3.3 Strukturelle Probleme beim Kriterium Verantwortlichkeit und dafür ursächliche Faktoren

10

218 222 224 224 227 228 230 231 234 236 238 238 239 239 243 248 249 249 258 262 264 265 273 277

Inhaltsverzeichnis

6.2 Zusammenfassung: Strukturelle Probleme in den drei Kriterien und die dabei wirkenden Faktoren

279

7

283

Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten 7.1.1 Inklusivität 7.1.1.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI und Unterstützenden aus dem EU-Parlament 7.1.1.2 Strukturelle Probleme beim Kriterium Inklusivität und dafür ursächliche Faktoren 7.1.2 Deliberation 7.1.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI 7.1.2.2 Ergebnisse der Interviews mit Unterstützenden aus dem EU-Parlament 7.1.2.3 Ergebnisse der Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission 7.1.2.4 Strukturelle Probleme im Kriterium Deliberation und dafür ursächliche Faktoren 7.1.3 Verantwortlichkeit 7.1.3.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI 7.1.3.2 Ergebnisse der Interviews mit den Unterstützenden aus dem EU-Parlament 7.1.3.3 Ergebnisse der Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission 7.1.3.4 Strukturelle Probleme im Kriterium Verantwortlichkeit und dafür ursächliche Faktoren 7.2 Zusammenfassung: Strukturelle Probleme in den drei Kriterien und dabei wirkende Faktoren 8

Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation: Vergleich der beiden Fallstudien 8.1.1 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Inklusivität

283 285 285 289 290 290 303 308 311 312 312 318 322 325 325 331 332 334

11

Inhaltsverzeichnis

8.1.2 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Deliberation 8.1.3 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Verantwortlichkeit 8.2 Rückschlüsse der Fallstudien auf strukturelle Probleme der übrigen direkten Beteiligungsformen 8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse: Wer profitiert durch welche Faktoren von der direkten Beteiligung? 8.3.1 Die wichtigsten Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation auf EU-Ebene 8.3.2 Wer profitiert von den direkten Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene? 9

Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse 9.1.1 Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte von direkter Partizipation auf der Input-Seite 9.1.2 Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte von direkter Partizipation auf der Output-Seite 9.1.3 Direkte Partizipation und demokratische Legitimation der EU: Eine komplexe Wechselwirkung

335 338 340 345 346 348 352 352 354 358 361

9.2 Mögliche Reformoptionen für direkte Partizipation

364

9.3 Impulse für die Partizipationsforschung 9.3.1 Ein differenziertes Partizipationsverständnis 9.3.2 Einflussfaktoren von Partizipation auf die demokratische Legitimation

367 367

9.4 Ausblick

371

12

369

Inhaltsverzeichnis

Anhang

374

Interview Leitfäden Fallstudie 1: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture Leitfaden für Partizipierende (Beispiel für den ersten Dialog, Audience Development) Leitfaden für Organisator*innen (beispielhaft für den ersten Dialog, Audience Development): Fallstudie 2: EBI Right2water Leitfaden für die Organisator*innen der EBI

374

376 379 379

Literaturverzeichnis

385

Dokumente

397

374 374

13

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Forschungsdesign (eigene Darstellung)

114

Abbildung 2: Stufen der Beteiligungsleiter nach Sherry R. Arnstein (1969: 217)

119

Abbildung 3: Die partizipativen Instrumente im Verlauf der europäischen Integration (eigene Darstellung)

199

Abbildung 4: Faktische Zielgruppen von Partizipation auf EUEbene (eigene Darstellung)

202

Abbildung 5: Partizipation bei Institutionen der EU (eigene Darstellung)

206

Abbildung 6: Direkte Partizipationsformen auf EU-Ebene (eigene Darstellung)

340

Abbildung 7: Zusammenfassende Darstellung der Effekte von direkter Partizipation auf die demokratische Legitimation in der EU (eigene Darstellung)

362

Abbildung 8: Effekte von Partizipation auf Legitimation: Bestimmungsgrößen (eigene Darstellung)

370

15

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:

Erwartete Effekte von Partizipation auf die demokratische Legitimation (eigene Darstellung)

Tabelle 2:

Auswahlkriterien für beiden Fallstudien (eigene Darstellung)

223

Tabelle 3:

Zusammenfassung der strukturellen Problemfelder und dafür ursächliche Faktoren der Fallstudie Voices of Culture (eigene Darstellung)

282

Zusammenfassung der strukturellen Problemfelder und dafür ursächlichen Faktoren in der Fallstudie EBI Right2water (eigene Darstellung)

330

Strukturelle Problemfelder und dafür ursächliche Faktoren in beiden Fallstudien im Vergleich (eigene Darstellung)

333

Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte direkter Partizipation auf der Input-Seite im Vergleich (eigene Darstellung)

355

Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte direkter Partizipation auf der Output-Seite im Vergleich (eigene Darstellung)

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Tabelle 4:

Tabelle 5:

Tabelle 6:

Tabelle 7:

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Abkürzungsverzeichnis

AdR AEUV DBJR EEA EKGS EPSU/EGÖD EU-Kommission EU-Parlament EuGH EUV EWSA EZB GD NGO OMK/OMC ZGO

Ausschuss der Regionen Vertrag über die Arbeitsweise der EU Deutscher Bundesjugendring Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl European Public Service Union/Europäischer Gewerk­ schaftsverband für den Öffentlichen Dienst Europäische Kommission Europäisches Parlament Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Europäische Zentralbank Generaldirektion Nichtregierungsorganisation Offene Methode der Koordinierung/Open Method of Coordination Zivilgesellschaftliche Organisation

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Einleitung

Mehr Partizipation – weniger Legitimation? Der Titel dieser Dissertation mag auf den ersten Blick kontraintuitiv anmuten. Schließlich besteht Kon­ sens in der Politikwissenschaft, dass die Partizipation der Bürger*innen1 eine unerlässliche Voraussetzung für Demokratie ist (vgl. Hoecker 2006: 1). Partizipation ist eine notwendige Bedingung für demokratische Wil­ lensbildungsprozesse und die Verwirklichung des Prinzips der Volkssou­ veränität, mithin ein essenzieller Bestandteil der demokratischen Legitima­ tion.2 Wesentlich weniger Einigkeit besteht hingegen über das richtige Maß an Partizipation und die jeweiligen Beteiligungsformen (vgl. ebd.). Beide sind abhängig von dem jeweiligen Partizipations- und Demokratie­ verständnis: Idealtypisch können dabei das instrumentelle und das normati­ ve Partizipationsverständnis unterschieden werden. Auf ein instrumentelles Partizipationsverständnis beziehen sich Vertre­ ter*innen der empirischen oder realistischen Demokratietheorie3, für sie ist Partizipation ein Mittel zum Zweck (vgl. ebd.: 2). Infolgedessen umfasst politische Beteiligung aus dieser Sichtweise nur solche Handlungen, die bewusst auf die Erreichung eines politischen Ziels hin erfolgen. Unter politischer Beteiligung verstehen sie vorrangig Wahlen, d. h. mittelbare und repräsentative Formen. Auf individueller Ebene sollen damit die In­ teressen der Bürger*innen durchgesetzt werden (beispielsweise die Wahl einer bestimmten Partei). Unter dem Eindruck der totalitären Erfahrun­ gen zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und einem elitenzentrierten 1 Die Autorin dieser Arbeit strebt ein Gleichgewicht einer genderneutralen Sprache und eines möglichst angenehmen Leseflusses an. Deshalb wird bei Fachbegriffen, Berufsbezeichnungen oder generischen Maskulina von einer geschlechtsneutralen Schreibweise abgesehen. 2 Nach dem Konzept von Fritz W. Scharpf ist Partizipation eine notwendige Bedin­ gung der Input-Legitimation (ausführlicher zu dem Konzept der demokratischen Legitimität von Fritz W. Scharpf siehe Kapitel 1.1). 3 Die realistische oder empirische Demokratietheorie entstand in den 1940er-Jahren in den USA und wurde dann später in Europa weiterentwickelt. Anstöße für dieses neue Konzept der Demokratietheorie war die Kritik an den normativen und idea­ listischen Vorstellungen der liberalen Demokratietheorie sowie die Erfahrungen in den Demokratien in den USA und Großbritannien und den totalitären Staaten in der EU im 20. Jahrhundert (vgl. Abromeit 2002: 89f.). Vertreter*innen sind beispielsweise Fritz W. Scharpf, Joseph Schumpeter, Max Kaase oder Sidney Verba.

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Ansatz fungieren Wahlen aus makropolitischer Sicht dazu, um eine verant­ wortungsvolle Regierung zu bestimmen (vgl. ebd.). Im Sinne eines normativen Verständnisses hingegen stellt Partizipation nicht nur ein Mittel zum Zweck dar, sondern einen Wert an sich.4 Die aktive Teilnahme der Bürger*innen am politischen Prozess stellt den Schlüssel zu einer Selbstverwirklichung der Menschen dar (vgl. ebd.: 6). Denn durch die Partizipation werden Emanzipationsprozesse der Bür­ ger*innen ermöglicht, die diese stärker am Gemeinwohl ausrichten las­ sen. Infolgedessen ist eine Ausweitung von direkter Partizipation neben Wahlen in jeder Hinsicht zu begrüßen (vgl. ebd.). Bereits in den 1970erund 1980er-Jahren entstanden daher Konzepte, die in aktiver Partizipation eine Herrschafts- und Lebensform sahen.5 In den letzten Jahren wurden die Rufe nach einer ergänzenden direkten6 Einbeziehung von Bürger*in­ nen und der organisierten Zivilgesellschaft aus Wissenschaft und Politik zunehmend lauter – und in einer Vielzahl an direkten Beteiligungsformen realisiert. Die Forderungen nach mehr Partizipation werden einerseits mit veränderten Einstellungen der Bürger*innen zu Partizipation und Reprä­ sentation7 begründet (vgl. Bertelsmann Stiftung 2014). Andererseits wird 4 Das normative Partizipationsverständnis liegt einem materiellen und zielgerichte­ ten Demokratiebegriff zugrunde, dessen Vertreter*innen anhand dessen nicht nur auf vorhandene Strukturen schauen, sondern erst die tatsächliche Verwirklichung von vorgegebenen Zielen als Maß dafür sehen, ob die Verfahren der Demokratie in ihrem Sinne arbeiten (vgl. Wiesendahl 1981: 102; zitiert nach Hoecker 2006: 6). 5 Darunter sind beispielsweise die Theorien von Carole Pateman (1970) und Benja­ min Barber (1994) zu nennen. 6 Direkte Beteiligungsformen werden in dieser Arbeit synonym zu unmittelbaren Formen verwendet. Direkte Partizipation (nachfolgend in der Regel Partizipation oder Beteiligung) bezieht sich in dieser Arbeit auf alle unmittelbaren, themenbe­ zogenen und gewissermaßen verfassten Formen von Beteiligung. Hier werden zu­ nächst Referenden und direktdemokratische Instrumente miteingeschlossen, auch wenn diese später im EU-Kontext keine Rolle spielen. Frank Decker sieht hierbei in den letzten Jahren nochmals einen Trend von direkten Beteiligungsformen zu deliberativen Formen der Bürgerbeteiligung (vgl. Decker 2021: 129f.). Die Gründe dafür sind vielfältig; unter diesen erscheinen einerseits die negativen empirischen Erfahrungen mit direktdemokratischen Formen und andererseits der Charme der „Berechenbarkeit“ der deliberativen Verfahren als besonders gewichtig (vgl. ebd.). 7 Wolfgang Schäuble, von 2017 bis 2021 Präsident des Deutschen Bundestags, be­ fürwortet in einem ähnlichen Sinne die Nutzung des partizipativen Elementes Bürgerrat in Deutschland, um die Beziehung zwischen Repräsentanten und Reprä­ sentierten vor dem Hintergrund von veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern: „Gerade weil die wachsende Komplexität im rasanten gesellschaft­ lichen Wandel die repräsentative Demokratie noch wichtiger macht, sollten wir dafür sorgen, dass sie wieder für mehr Bürger interessant wird, sie sich wirklich

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eine verstärkte direkte Partizipation an die politische Willensbildung – wenn auch mit unterschiedlichen Ausrichtungen – mit Problemen des repräsentativen Institutionensystems begründet.8 Im EU-Kontext zeigt sich dieser Zusammenhang von Kritik an dem in­ stitutionellen Gefüge und einer stärkeren Partizipation neben Wahlen be­ sonders deutlich: Die Vertreter*innen der assoziativen (z. B. Cohen/Rogers 1992; Heinelt 1998; Hirst 1994; Schmalz-Bruns 1997) und deliberativen (z. B. Gerstenberg/Sabel 2002; Joerges/Neyer 1997, dies. 1998) Demokratie argumentierten vor dem Hintergrund der institutionellen Schwäche des EU-Parlaments (z. B. kein Initiativrecht), den Problemen der mittelbaren Beteiligungsform Wahlen zum EU-Parlament (z. B. niedrige Wahlbeteili­ gung, Probleme des Wahlrechts) und dem Mehrebenenkontext, dass eine Minderung der Legitimationsprobleme der EU allein über die Aufwertung des EU-Parlaments unrealistisch sei. Stattdessen forderten sie eine Stär­ kung der direkten Beteiligungsmöglichkeiten. Zudem trat die EU-Kom­ mission für mehr direkte Partizipation ein, die sich insbesondere nach der Diskussion um das Demokratiedefizit der EU in den 1990er-Jahren für eine Ausweitung direkter Beteiligungsformen auf EU-Ebene einsetzte. Im Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001) prägte sie maß­ geblich einen „engineered discourse“ (Kohler-Koch 2007: 255) und nor­ mierte darin Partizipation als ein Gütekriterium von „good governance“ (EU-Kommission 2001: 13f.).9 Mit dem Weißbuch ging eine umfassende vertreten fühlen.“ (Wolfgang Schäuble, zitiert nach Bürgerrat Demokratie 2020). Der Bürgerrat ist ein partizipatives Instrument, bei dem zufällig ausgeloste Bür­ ger*innen über bestimmte Themen diskutieren, Empfehlungen erarbeiten und die­ se den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zur Verfügung stellen. Aktuell läuft die zweite Runde des Bürgerrates, die sich mit „Deutschlands Rolle in der Welt“ auseinandersetzt (ausführlicher dazu siehe Bürgerrat 2021). Frank Decker sieht darin vorrangig eine „Alibi-Veranstaltung“ und zeichnet dafür insbesondere die Ausgestaltung durch die Organisator*innen Mehr Demokratie e. V. mitverant­ wortlich, die damit Werbung „in eigener Sache“ betreiben (vgl. Decker 2021: 133, 139). Auf EU-Ebene finden seit 2006 in ähnlicher Weise sogenannte Bürgerkonfe­ renzen und -dialoge statt (siehe dazu ausführlicher Kapitel 4.3.2.4). 8 Solche sind beispielsweise (Keane 2011; Kruse 2020; Nanz/ Leggewie 2016). Alcántara et al. (2016: 111) und Merkel/Ritzi (2017: 227-233) illustrieren diese Thematik sehr anschaulich. Eine stärkere Einbeziehung von Betroffenen wurde auch im Verlauf der Corona-Pandemie gefordert: Bei der Umsetzung der Hygiene­ konzepte wurde beispielsweise eine zu geringe Einbeziehung von Lehrer*innen, Schulleitungen und Schüler*innenvertretungen kritisiert. 9 Die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen initiierte Konferenz zur Zukunft der EU wurde beispielsweise damit begründet, dass der so angeregte Dialog zu einer Stärkung des Vertrauens zwischen den Bürger*innen und EU-Or­

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Öffnung der EU-Kommission für Bürger*innen und Zivilgesellschaft ein­ her: Sie erweiterte sowohl ihre Beteiligungsangebote – hauptsächlich in Form von Konsultation – als auch den Kreis der Konsultierten. Daraus ist in der Zwischenzeit ein umfangreiches Konsultationsregime entstan­ den (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 76). Zudem zeigt sich die stete Auf­ wertung der partizipativen Instrumente auf EU-Ebene darin, dass diese schließlich im EU-Vertrag primärrechtlich normiert wurden (vgl. Art. 10 und 11 EUV): Die wahrscheinlich prominenteste Form direkter Beteili­ gung auf EU-Ebene stellt die Europäische Bürgerinitiative dar (vgl. Art. 11 Abs. 4 EUV). Zudem ist direkte Partizipation auf EU-Ebene durch eine Reihe von Bürger*innenrechten möglich, wie beispielsweise dem Recht zur Petition oder zur Beschwerde bei der oder dem Bürgerbeauftragten (vgl. Art. 24 AEUV). Dem erhöhten Zuspruch von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik standen gleichwohl ernüchternde empirische Analysen der direkten Betei­ ligungsformen gegenüber – sowohl in der EU als auch in anderen Kon­ texten. Einerseits müssen die veränderten Partizipationseinstellungen der Bürger*innen nicht zwangsläufig zu einer stärkeren Nutzung von direkten Beteiligungsformen führen (vgl. Merkel/Ritzi 2017: 232).10 Andererseits erfreuen sich partizipative Instrumente auch der Beliebtheit bei autokra­ tischen Regierungen, wie das Beispiel der „Nationalen Bürgerkonsultatio­ nen“ in Ungarn zeigt.11 Insgesamt zeichnet sich ein sehr ambivalentes Feld mit widersprüchlichen Tendenzen ab – auffällig und bislang nicht ganen führen soll (vgl. beispielsweise Abele 2020 mit Bezug auf die geplante Europa Konferenz im Jahr 2020). Dieses Motiv, den Bürger*innen durch die Be­ teiligung zu zeigen, dass ihre Stimme Gewicht hat, unterstellt implizit, dass die Bürger*innen in Europa sonst, d. h. auf regulärem Wege über die Wahlen zum EU-Parlament, nicht ausreichend gehört werden. Die Konferenz wurde aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben (weitere Informationen dazu in Kapitel 4.3.2.4) 10 Merkel und Ritzi (vgl. 2017: 229f.) weisen beispielsweise mit Bezug auf eine Untersuchung von direktdemokratischen Instrumenten in Deutschland darauf hin, dass die Beteiligung an Referenden in der Regel unter der Wahlbeteiligung auf Bundes- und Landesebene liegt und sich daran vor allem gut gebildete Bürger*innen beteiligen. Sie diagnostizieren folglich bei der Partizipation an direktdemokratischen Instrumenten Effekte der sozialen Verzerrung. 11 Die Regierung unter Orban nimmt seit 2010 wiederholt solche „Nationalen Kon­ sultationen“ auf. Dabei verschickt sie Fragebögen per Post an Haushalte, um mit der Bevölkerung in einen Dialog zu treten (vgl. Hegedus 2017). Kritik wird u. a. an den manipulativen Suggestivfragen in den Konsultationen und einer intrans­ parenten Auswertung geübt (vgl. ebd.: 3ff.). In diesem Fall scheint die verstärkte direkte Beteiligung vorrangig dem Ziel zu dienen, den politischen Vorhaben

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wissenschaftlich auflösbar scheint dabei der Gegensatz zwischen den ho­ hen Erwartungen an direkte Partizipationsformen in den theoretischen Ansätzen und den ernüchternden empirischen Ergebnissen. Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich im EU-Kontext besonders eindring­ lich: Denn mit der EU-Kommission als Hauptförderin und Anbieterin von direkter Partizipation auf EU-Ebene wird dies gleichzeitig von derje­ nigen Institution auf EU-Ebene betrieben, die selbst die geringste Eigenle­ gitimation besitzt (vgl. Scharpf 1999: 30; ausführlich dazu Kapitel 1.1.4). Zudem weisen die empirischen Arbeiten zu einzelnen direkten Beteili­ gungsformen12 und Politikfeldern13 auf Mängel der Ausgestaltung in der demokratischen Qualität der Beteiligungsformen hin, beispielsweise bei der Prozesstransparenz und der Erfüllung der Berichtspflichten (vgl. z. B. Höchstetter 2007: 106; Huget 2007: 321f.; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 85f.; Joerges/Neyer 1997: 621; Kröger 2008: 32f.; Quittkat 2011b: 144-151; Wendler 2005: 214; Schultze 2013: 669, 672). Beate Kohler-Koch (2014) spricht gar von gelenkter Partizipation durch die EU-Kommission, die mit den Beteiligungsformen eigene Ziele und Vorhaben zu legitimieren ver­ suchte. Die beschriebenen widersprüchlichen theoretischen Erwartungen und empirischen Ergebnisse manifestieren sich folglich im EU-Kontext be­ sonders deutlich – gleichwohl ist bis heute wenig wissenschaftlich fundier­ te Erkenntnis zu den konkreten Gründen für diese Diskrepanz erarbeitet worden. Die vorliegende Arbeit will dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Sie beschäftigt sich mit den Folgen von direkter Partizipation auf die demokratische Legitimation am Beispiel der EU. Dabei besteht das über­ geordnete Forschungsinteresse darin, zu untersuchen, ob die Ausweitung der direkten Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene tatsächlich einen Mehrwert an demokratischer Legitimation erzeugen kann. Konkret lautet die erste, hier nur kurz skizzierte forschungsleitende Frage dieser Arbeit (ausführliche Entwicklung in Kapitel 3):

der Regierung Orbans dem Deckmantel einer demokratischen Legitimation zu verleihen, anstatt Probleme der repräsentativen Institutionen zu mindern. 12 Solche untersuchen beispielsweise die Europäische Bürgerinitiative, z. B. Plott­ ka 2012, Konsultation bei der EU-Kommission z. B. Kröger 2008, Kohler-Koch/ Quittkat 2011 oder die Offene Methode der Koordinierung, z. B. Höchstetter 2007, Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010. 13 Zur Sozialpolitik, z. B. Huget 2007 und Wendler 2005, zur Umweltpolitik siehe Walk 2008.

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Welche Akteure profitieren von direkter Partizipation? Da der bisherige empirische Forschungsstand zu direkter Beteiligung auf EU-Ebene vorrangig durch Fallstudien zu einzelnen Beteiligungsformen, Zielgruppen und Politikfeldern charakterisiert ist, lag der Schwerpunkt des Forschungsdesigns dieser Arbeit auf einer systematischen Untersu­ chung der verschiedenen Partizipationsformen auf EU-Ebene. Dabei soll eine Typologie erstellt werden, die eine Vergleichbarkeit zwischen den Formen herstellt und fundierte Aussagen, welche Akteur*innen von der verstärkten Beteiligung profitieren, über verschiedene Beteiligungsformen hinweg erlaubt. Ebenso können auf diese Weise strukturelle Probleme von Partizipation herausgearbeitet werden, die sich über verschiedene Be­ teiligungsformen erstrecken. Sollten bestimmte Akteur*innen strukturell mehr als andere profitieren, könnte dies beispielsweise als ein Hinweis darauf gewertet werden, dass die Beteiligungsformen das Kriterium der politischen Gleichheit beeinträchtigen. Auf diese Weise können differen­ zierte Aussagen getroffen werden, ob mehr Partizipation einen Mehrwert an demokratischer Legitimation darstellt. Die Typologie der Beteiligungs­ formen kann zudem Informationen liefern, um den vorhandenen empiri­ schen Forschungsstand zu systematisieren und zu erweitern. Das Ziel dieser Arbeit besteht gleichwohl nicht nur darin, zu erkennen, wer durch die Beteiligungsformen Vorteile erlangt. Vielmehr soll auch ein besseres Verständnis der Ursachen ermöglicht werden, warum es zu Ab­ weichungen zwischen den theoretischen Ansprüchen und empirischen Er­ gebnissen bei Partizipation auf EU-Ebene kommt. Daher lautet die zweite, hier nur grob umrissene forschungsleitende Frage (ebenso: ausführlicher in Kapitel 3): Welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass einige Akteur*innen mehr durch die direkten Partizipationsformen profitieren als andere? In einem zweiten Schritt werden daher die strukturellen Probleme an­ hand von zwei Partizipationsformen im Detail analysiert: Dazu dienen der Strukturierte Dialog im Politikfeld Kultur Voices of Culture und die Europäische Bürgerinitiative Right2water. Auf diese Weise sollen diejeni­ gen Faktoren herausgefiltert und nachvollzogen werden, die die strukturel­ len Probleme bei den beiden Beteiligungsformen bedingen. Anschließend werden die Ergebnisse der Fallstudien in einem dritten Schritt zusammen­ gefasst und die wesentlichen Faktoren für Probleme von Partizipation auf

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EU-Ebene herausgearbeitet. Diese Faktoren ermöglichen es, Stellschrauben zu identifizieren, mit denen die Lücke zwischen Theorie und Praxis er­ klärt werden kann. Anhand der in der Typologie der Beteiligungsformen hergestellten Vergleichbarkeit zwischen den Formen können darüber hi­ naus auch plausible Rückschlüsse darauf gezogen werden, welche der strukturellen Probleme auf andere direkte Beteiligungsformen übertragen werden. Auf diese Weise können die möglichen Legitimitätssteigerungen durch die direkten Partizipationsformen auf EU-Ebene differenzierter ein­ geschätzt werden. Zudem lassen sich so Impulse für ein differenziertes Partizipationsverständnis und Einsichten in die Beziehung zwischen Parti­ zipation und demokratischer Legitimation gewinnen, die auch für andere Kontexte relevant erscheinen, in denen direkte Partizipation vorangetrie­ ben wird. Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an der beschriebenen Vorgehens­ weise: Einführend werden die Legitimationsprobleme der EU dargelegt – mit besonderem Bezug auf die EU-Kommission – und die verschiede­ nen theoretischen Begründungen herausgearbeitet, mit denen für eine stärkere direkte Partizipation auf EU-Ebene argumentiert wird (Kapitel 1). Diese werden dann dem empirischen Forschungsstand zu bestehenden Partizipationsformen gegenübergestellt (Kapitel 2). Aufbauend auf diesen Gegensatz werden in Kapitel 3 die forschungsleitenden Fragen der Arbeit entwickelt: Wer profitiert von den verstärkten direkten Partizipationsfor­ men? Auf welche Weise, d. h. durch welche Faktoren, geschieht dies? Zudem wird das Forschungsdesign der Arbeit erläutert. Das anschließende Kapitel 4 stellt die verschiedenen direkten Partizipationsformen auf EUEbene vor und arbeitet anhand eines selbst entwickelten Kriterienkatalogs strukturelle, d. h. die Beteiligungsformen übergreifende, Probleme heraus. Diese werden in zwei Fallstudien im Detail analysiert, wobei die dabei verwendete Methodik in Kapitel 5 erörtert wird. Die folgenden zwei Kapi­ tel stellen die Ergebnisse der Fallstudienanalysen vor: Kapitel 6 beschreibt Faktoren für strukturelle Probleme des Strukturierten Dialoges mit der Kultur Voices of Culture, und Kapitel 7 arbeitet dies am Beispiel der Europä­ ischen Bürgerinitiative Right2water auf. In Kapitel 8 werden die Ergebnisse der Fallstudien zusammengefasst. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 4 erarbeiteten Typologie von Beteiligungsformen werden plausible Rück­ schlüsse gezogen, welche strukturellen Probleme auf die anderen direkten Beteiligungsformen übertragbar erscheinen. Das abschließende Kapitel 9 nutzt die Ergebnisse für eine Weiterentwicklung des Verständnisses von Partizipation und demokratischer Legitimation.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EUEbene

Die Aufarbeitung des Forschungsstandes beginnt in dieser Arbeit mit der Darstellung der signifikanten Legitimationsprobleme der EU. Dazu wird auf das Modell der demokratischen Legitimation von Fritz W. Scharpf zurückgegriffen (Kapitel 1.1). Dies geschieht im Wesentlichen aus zwei Gründen: Das Konzept der Input- und Output-Legitimation Scharpfs ist erstens in der empirischen Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum ein häufig genutztes Konzept zur Beschreibung von demokratischer Legitima­ tion.14 Durch die analytische Herangehensweise in die zwei Legitimations­ quellen ermöglicht Scharpfs Konzept eine komplexe Beschreibung von Legitimation und wird damit dessen Multidimensionalität gerecht (insbe­ sondere in Bezug auf Legitimität, siehe Wiesner/Harfst 2019: 11). Durch diese Eigenschaften lässt es sich auch auf verschiedene Zusammenhänge anwenden. Deshalb hat sich Scharpfs Konzept zweitens auch im europäischen Kon­ text etabliert – gerade, weil es die spezifischen europäischen Legitimations­ probleme im Vergleich zum Nationalstaat sichtbar macht. Aus diesem Grund stellt es sowohl den Bezugs- als auch den Reibungspunkt für viele Vertreter*innen der assoziativen und deliberativen Demokratie dar, die sich für mehr Partizipation auf EU-Ebene einsetzen (Kapitel 1.2): Als Bezugspunkt wird es zur Problemanalyse der EU genutzt, um dann vor diesem Hintergrund für zusätzliche Legitimationsgewinne durch direkte Partizipation jenseits der klassischen parlamentarischen Repräsentation zu argumentieren (z. B. Schmalz-Bruns 1999, Joerges/Neyer 1998). Dabei wer­ den dann häufig auch die von Scharpf entwickelten Kategorien Inputund Output-Legitimation genutzt, um die erhofften Legitimationsgewin­

14 In der deutschen Politikwissenschaft wird der Legitimitätsbegriff nicht einheit­ lich definiert. Eine Einführung in das Thema politische Legitimation ist bei Westle (1989) zu finden. Wiesner/Harfst (2019) arbeiten die verschiedenen Ansät­ ze von politischer Legitimität sehr verständlich auf. Eine Auseinandersetzung speziell mit der politischen Legitimation der EU findet sich beispielsweise bei Wendler (2005: 199-220), Cheneval (2005), Kießling (2008: 77-104) und Bürgin (2007: 41-70) sowie aus juristischer Perspektive bei Tiedke (2005).

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

ne durch mehr direkte Beteiligung zu kategorisieren (beispielsweise bei Joerges/Neyer 1997; Benz 1998; Heinelt 1998; Schmalz-Bruns 1997) oder um die Chancen und Grenzen von einzelnen Beteiligungsformen und Po­ litikfeldern zu evaluieren (siehe beispielsweise Huget 2007; Kohler-Koch/ Quittkat 2011; Wendler 2005; sowie ausführlicher Kapitel 2). Darüber hi­ naus bleibt Scharpfs Konzept aber auch ein Reibungspunk für diese Au­ tor*innen, weil beide in der Regel stark divergierende Grundannahmen von politischer Partizipation haben. Rufe nach mehr Partizipation kamen indes nicht nur vonseiten der Wissenschaft; auch die EU-Kommission hat sich wie keine andere EU-In­ stitution für mehr direkte Partizipation eingesetzt und sich der Zivilge­ sellschaft15 geöffnet. Daher wird in Kapitel 1.3 herausgearbeitet, wie die EU-Kommission die Forderung nach mehr Partizipation in ihren Doku­ menten begründet. Kapitel 1.4 fasst schließlich die Begründungen für mehr Partizipation in den von Fritz W. Scharpf entwickelten Kategorien zusammen und gibt einen Überblick über erhoffte positive Effekte von Partizipation. 1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU In diesem Kapitel werden die grundlegenden Legitimationsprobleme der EU thematisiert. Einleitend werden dafür zunächst die Grundzüge des Modells von Scharpf vorgestellt (Kapitel 1.1.1). Anschließend werden die spezifischen Legitimationsprobleme der EU herausgearbeitet (Kapitel 1.1.2 und 1.1.3), die zugleich Anknüpfungspunkte für die Forderungen nach mehr direkter Partizipation auf EU-Ebene sind. Kapitel 1.1.4 be­ leuchtet schließlich die spezifischen Legitimationsprobleme der Europä­

15 Für diese Arbeit soll, in Anlehnung an das Verständnis der EU-Kommission (siehe Kapitel 1.3), ein weites Verständnis der Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft in der EU verwendet werden, um die Realität der teilnehmenden Organisationen abbilden zu können. „Die weite Definition macht keinen Unterschied zwischen den Organisationen, die für die Belange Dritter oder für allgemeine Rechte und Werte eintreten, und jenen, die sich vornehmlich um die Interessen ihrer eigenen Mitglieder kümmern, und sie gilt ebenso für Organisationen, die natürliche Per­ sonen als Mitglieder haben, wie auch für Verbände, in denen juristische Perso­ nen organisiert sind. Somit zählen nicht nur die Nichtregierungsorganisationen, sondern auch Gewerkschaften, Berufsverbände und Wirtschaftsverbände zu den zivilgesellschaftlichen Organisationen“ (Kohler-Koch 2011a: 11).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

ischen Kommission16 als Institution auf EU-Ebene und erläutert exempla­ risch Strategien der Kommission, damit umzugehen. Die Erläuterungen geben einen theoretischen Rahmen für die Rahmenbedingungen der Be­ teiligungsmöglichkeiten der EU; insbesondere bei der EU-Kommission. 1.1.1 Demokratische Legitimation nach Fritz W. Scharpf Scharpf (z. B. 1999, 2005) unterscheidet zwei Verfahren, die demokratische Legitimation17 herstellen: Die Input- und die Output-Legitimation. Beide Verfahren werden komplementär verwendet, um demokratische Legitima­ tion zu erzeugen. Sie sind allerdings analytisch zu unterscheiden, da sie auf unterschiedlichen Vorbedingungen beruhen (vgl. Scharpf 1999: 16). Sie unterscheiden sich darüber hinaus insbesondere in ihren Implikationen für eine demokratische Legitimität der Herrschaft in Europa (vgl. ebd.). Aus der Input-Perspektive heraus sollen die herrschaftlichen Präferenzen möglichst unverfälscht aus den Präferenzen der Mitglieder des Gemeinwe­ sens hergeleitet werden (vgl. Scharpf 2005: 708). Diese Perspektive bezeich­ net die demokratische Legitimation eines Gemeinwesens über die InputSeite und zielt auf die demokratischen Willensbildungsstrukturen ab. Am Input orientierte Legitimationsmechanismen stützen sich folglich meist gleichzeitig auf die Formeln „Partizipation“ und „Konsens“ (Scharpf 1999: 17). Allerdings kommen beide in Massendemokratien an ihre Grenzen: Partizipation verliert an Überzeugungskraft, je größer politische Gemein­ wesen sind, da sich die Distanz zwischen den direkt betroffenen Personen und ihren Vertreter*innen vergrößert (vgl. ebd.). Die Konsensformel ver­ sagt dann, wenn Lösungen nicht zum Nutzen aller getroffen werden kön­ nen und Mehrheitsentscheidungen getroffen werden müssen (vgl. ebd.). Dies ist insbesondere bei redistributiven Entscheidungen (z. B. in der Steu­ erpolitik) der Fall. Da sich das Problem der Mehrheitsentscheidungen auf sehr viele potenzielle politische Fragen bezieht, wird die Rechtfertigung der Mehrheitsherrschaft zum zentralen Problem für Verfahren der InputLegitimation (vgl. ebd.). Als Begründung führt Scharpf deshalb neben dem Partizipations- und Konsens-Argument für eine Input-Legitimation das Argument der starken kollektiven Identität durch den demos an (vgl. ebd.). Durch die Zugehörigkeit zum Nationalstaat (Staatsvolk) und die

16 Nachfolgend EU-Kommission. 17 Diese sind von der Systemtheorie David Eastons (z. B. 1975) inspiriert und von dieser ausgehend weiterentwickelt.

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

historischen, kulturellen, ethnischen und institutionellen Gegebenheiten entsteht eine kollektive Wir-Identität, die die Bürger*innen zu einer gegen­ seitigen Solidarität führt. Deshalb sind Bürger*innen bereit, auch Mehr­ heitsentscheidungen gegen ihren Willen zu akzeptieren (vgl. ebd.: 17f.). Scharpf unterscheidet bei der demokratischen Willensbildung zwischen zwei Kanälen: dem unitarischen Kanal über die Wahl der Parlamente und dem partikularen Kanal über die Ausschüsse der Parlamente und Ministe­ rien (vgl. Scharpf 2005: 717). Dabei bezeichnet der unitarische Kanal den institutionellen Mechanismus repräsentativer Demokratien über Wahlen, der die Öffentlichkeit und Parteien als Infrastruktur voraussetzt (vgl. ebd.: 718, 725). Auch wenn Schwächen des unitarischen Kanals18 durch den partikularen Kanal graduell aufgefangen werden können, können über den Letzteren keine redistributiven Entscheidungen legitimiert werden (vgl. ebd.: 726). Dafür braucht es eine starke kollektive Identität und den unitarischen Kanal der Willensbildung. Als zweiten Legitimationsmechanismus identifiziert Scharpf die OutputPerspektive eines politischen Systems (vgl. Scharpf 1999: 16). Aus dieser Perspektive heraus wird die Ausübung der Herrschaft legitimiert, wenn sie die Interessen der Mitglieder (das Allgemeinwohl) wirksam und auf ef­ fektive Weise fördert (vgl. ebd.). Die Anforderungen an die Output-Legiti­ mation sind Scharpf zufolge geringer als diejenigen, die an die Input-Legi­ timation gestellt werden: Die Voraussetzung ist lediglich ein gemeinsames Interesse (auch ein Narrativ), für das eine effektive Lösung gebraucht wird (vgl. ebd.: 20). Gleichzeitig ist die Output-Legitimation in ihrer Reichweite eingeschränkter als die Input-Legitimation: Umverteilende Maßnahmen sind damit nicht zu rechtfertigen (vgl. ebd.). Die Output-Legitimation bedarf vor allem solcher Mechanismen, die durch institutionelle Anreize zum einen eine effiziente Problemlösung und effektive Entscheidungen befördern und zum anderen einen mögli­ chen Machtmissbrauch der Regierenden verhindern (vgl. Scharpf 1999: 22). Unter diese institutionellen Anreizen sind regelmäßig stattfinden­ de Wahlen am wichtigsten, da Wahlen die Verantwortung der Entschei­ dungstragenden gegenüber Wähler*innen und am öffentlichen Interesse sichern sowie dem staatsbürgerlichen Ideal der Gleichheit nahekommen (vgl. Scharpf 1997a; zitiert nach Scharpf 1999: 23). Damit Wahlen diese an­ tizipierende Wirkung der Entscheidungstragenden erzielen können, sind

18 Dies kann beispielsweise in solchen Staaten der Fall sein, in denen die Macht auf verschiedene politische Institutionen verteilt ist und viele Vetospieler existieren (vgl. Scharpf 2005: 717); etwa in Mehrebenensystemen.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

gleichwohl gesellschaftliche und soziale Voraussetzungen (wie Öffentlich­ keit, konkurrierende Parteien usw.) notwendig, die für die Input-Legitima­ tion bereits beschrieben wurden (vgl. ebd.: 23; Schmidt 2010: 14). Zudem können unabhängige Expert*innengremien, sogenannte nicht-politische Institutionen (wie beispielsweise Zentralbanken), die Output-Legitimation fördern (vgl. Scharpf 1999: 23f.). Diese Institutionen müssen nicht direkt von Bürger*innen gewählt bzw. mit parlamentarischen Mehrheiten legiti­ miert werden. Sie zeichnen sich vielmehr durch Expert*innenwissen aus und können freier als Parteien, die um Wähler*innenstimmen konkurrie­ ren müssen, Lösungen für technisch komplizierte Probleme finden, mit­ hin eine effiziente Problemlösung befördern (vgl. Scharpf 1999: 24). Sie eignen sich bei inhaltlich oder formal anspruchsvollen Problemen, bei de­ nen ein Grundkonsens besteht; gleichwohl weist Scharpf darauf hin, dass sich die den Wähler*innen verantwortlichen Gremien im Notfall über die Expert*innen hinwegsetzen müssen (vgl. ebd.). Zudem nennt Scharpf kor­ poratistische Formen und pluralistische Vereinbarungen (Politiknetzwer­ ke19) als infrastrukturelle Möglichkeiten, die die Output-Legitimation stei­ gern können (vgl. ebd.: 21, 29). Er begründet dies mit dem eingebrachten Sachverstand und mit der Beförderung von effizienten Problemlösungen. Pluralistische Politiknetzwerke, die insbesondere auf EU-Ebene von der EU-Kommission genutzt werden, sind für ihn informelle Interaktionsmus­ ter, die den förmlichen Beratungsprozessen (beispielsweise in parlamenta­ rischen Abstimmungen) vorausgehen (vgl. ebd.: 28). Diese hat er bereits aus der Input-Perspektive als partikularen Kanal der Willensbildung be­ schrieben. Auch wenn Scharpf diese Politiknetzwerke grundsätzlich in den partikularen Kanal der Willensbildung auf der Input-Seite miteinschließt, ordnet er ihnen vorrangig eine Legitimationssteigerung auf der OutputSeite zu (vgl. ebd., Scharpf 2005: 726). Auf der Input-Seite reicht hingegen ihre legitimierende Wirkung nicht aus, um Maßnahmen der Umverteilung zu rechtfertigen (vgl. Scharpf 2005: 726). Während – so Scharpf – die EU über keine eigene Input-Legitimation verfügt und ihr allein die Output-Le­ gitimation bleibt (vgl. Scharpf 1999: 21, 168), bedingen und verstärken

19 Nach Jachtenfuchs und Kohler-Koch (vgl. 1996b: 39, zitiert nach Schmalz-Bruns 1997: 73) sind Netzwerke ein Instrument der Selbstorganisation zwischen staatli­ chen und gesellschaftlichen Akteur*innen. Typischerweise koppeln sie autonom und problemlösungszentriert eine Vielfalt von Institutionen, Beteiligungsformen und Akteur*innen. Sie bringen in sich eine gewollte Ordnung jenseits von Staat­ lichkeit im entstehenden europäischen politischen System zum Ausdruck (vgl. Jachtenfuchs 1997: 25; Kohler-Koch 1999: 25f.).

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

sich die beiden Legitimationsargumente im Nationalstaat (vgl. Scharpf 1999: 21). Wie dies genau geschehen soll, führt Scharpf nicht näher aus. Vielmehr bildet eine Schwachstelle seines Konzeptes, dass beide Legitimationsquel­ len vorrangig formal gegenübergestellt scheinen und der untrennbare Zusammenhang nicht berücksichtigt wird. Denn was beispielsweise die gemeinwohldienlichen Maßnahmen des politischen Outputs sind, kann nicht von vornherein als gegeben angenommen werden. Vielmehr „ma­ terialisieren“ sich Gemeinwohlvorstellungen, mit Schuppert gesprochen, erst über die Identifizierung und Gewichtung unterschiedlicher Gemein­ wohlbelange (Schuppert 2002: 29). Dabei konkretisieren demokratisch legitimierte Vertreter*innen im Rahmen der Input-Legitimation das jewei­ lige Gemeinwohlverständnis, indem sie zwischen verschiedenen Gemein­ wohlbelangen abwägen (beispielsweise zwischen Freiheit und Sicherheit). Damit dies auf eine effiziente Weise geschieht, greifen die von Scharpf unter dem Aspekt der Output-Legitimation beschriebenen institutionellen Maßnahmen, wie unabhängige Institutionen (als Hüter von bestimmten Gemeinwohlbelangen, vgl. ebd.: 52f.) oder allgemeinen Maßnahmen der Sicherung des öffentlichen Amtes (vgl. ebd.: 56). Stärkere Interdependen­ zen zwischen den verschiedenen Legitimationsquellen werden – insbeson­ dere in Bezug auf politische Partizipation – unter Zuhilfenahme von Vivi­ en Schmidt in Kapitel 1.2.3 erörtert. 1.1.2 Probleme der Input-Legitimation der EU Für eine Input-Legitimation fehlen der EU die wesentlichen strukturellen Voraussetzungen: Das sind insbesondere ein europäischer demos und eine kollektive Wir-Identität, die Bürger*innen Mehrheitsentscheidungen und auch umverteilende Maßnahmen durch einen legitimierenden Gemein­ samkeitsglauben akzeptieren lassen (vgl. Scharpf 1999: 19; 2005: 724f.). Erschwerend kommt für den EU-Kontext hinzu, dass die wesentliche In­ frastruktur für die authentische Umsetzung der Präferenzen der Bürger*in­ nen über den unitarischen Kanal in demokratischen Wahlen fehlt. Denn, so Scharpf, mangelt es der EU sowohl an einer übergreifenden europä­ ischen Öffentlichkeit als auch einer Sprache sowie übergreifenden Medien und europäischen Parteien (vgl. Scharpf 1997; zitiert nach Scharpf 1999: 19f.). Neben diesen strukturellen Herausforderungen für eine demokrati­ sche Willensbildung weist Scharpf auch auf Defizite des EU-Institutionen­ systems hin: Die Bürger*innen können in der EU nicht wie in National­

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

staaten durch die Wahl eine ihnen verantwortliche Regierung bestimmen (vgl. Scharpf 2005: 726). Denn trotz der steten institutionellen Aufwertung des Europäischen Parlaments20 fehlen diesem die wesentlichen Kompeten­ zen, die Parlamente in den Mitgliedstaaten haben. Dazu zählt insbesonde­ re die fehlende eigene gesetzgebende Initiativmöglichkeit21, da das Initia­ tivmonopol für Gesetzesentwürfe in der EU bei der Europäischen Kom­ mission liegt. Auch an der Wahl der EU-Kommission, die faktisch wie eine Regierung in der EU handelt (vgl. Huget 2007: 37; Kohler-Koch 2011a: 7; Leinen/Kreutz 2011: 36; Schmidt 2010: 16), ist das EU-Parlament nur in einem zweistufigen Verfahren zusammen mit dem Europäischen Rat beteiligt, wobei die Mitgliedstaaten die Kommissar*innen vorschlagen. Die Nominierung Ursula von der Leyens im Jahr 2019 hat das Scheitern des Spitzenkandidatenprinzips und mithin einer Annäherung der Besetzung der EU-Kommission an Mechanismen der repräsentativen Demokratie er­ neut vor Augen geführt. Hinzu kommen Kritikpunkte am Wahlrecht zum EU-Parlament, das die Ausübung des Grundrechts auf individuelle Gleich­ heit behindert (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355). Diese Kritikpunkte werden von der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen zum EUParlament flankiert (für die Wahlen bis 2014 vgl. Kaeding et al. 2016: 5). Sie illustrieren die Schwäche des unitarischen Kanals der Willensbildung in der EU (vgl. Scharpf 2005: 717). Graduell kann diese Schwäche durch die stärker ausgeprägten partikularen Kanäle der Willensbildung ausgegli­ chen werden (vgl. ebd.: 717, 725f.).22 Darunter ist neben der Partizipation an Ausschüssen zum EU-Parlament insbesondere die Interessenkonsulta­ tion von Verbänden und Interessengruppen durch die EU-Kommission

20 Darunter ist beispielsweise das Mitentscheidungsverfahren (Art. 294 AEUV, „or­ dentliches Gesetzgebungsverfahren“) zu nennen. Seit dem Vertrag von Maas­ tricht wurde dem EU-Parlament damit eine wesentlich stärkere Rolle in der Gesetzgebung eingeräumt, da seine Zustimmung obligatorisch für die Verab­ schiedung von Entwürfen war. Die Bereiche, in denen die Zustimmung des EUParlaments erforderlich war, wurden zudem sukzessive im Verlauf der weiteren Verträge ausgeweitet. 21 Das Europäische Parlament verfügt gleichwohl über ein indirektes oder politi­ sches Initiativrecht (Art. 225 AEUV). Dieses besagt, dass das Europäische Parla­ ment mit der Mehrheit seiner Mitglieder die EU-Kommission auffordern kann, einen Gesetzgebungsvorschlag für ein bestimmtes Thema zu unterbreiten. Die EU-Kommission muss in einem solchen Fall eine Begründung vorlegen, wenn sie keinen Vorschlag für ein Gesetz unterbreitet. 22 Ebenso wird dieses „institutionelle Demokratiedefizit“ laut Scharpf etwas durch die vielen Veto-Akteur*innen im europäischen Entscheidungssystem abgemil­ dert, die Entscheidungen blockieren können (vgl. Scharpf 2005: 725f.).

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

zu nennen (vgl. ebd.: 717). Da die EU-Kommission für Scharpf jedoch eine nicht-politische Institution ist, die sich über Expertise legitimiert und nicht über den Modus der Parteienkonkurrenz und Mehrheitsverhältnisse zustande kommt 23, ist die Interessenkonsultation der EU-Kommission vor­ rangig einer möglichen Stärkung der Effizienz des Outputs zuzuordnen. Partizipation von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in den Ausschüssen oder bei der EU-Kommission scheint bei Scharpf gleichwohl nicht annä­ hernd als Korrektiv des unitarischen Kanals in der EU auszureichen oder redistributive Maßnahmen der EU zu legitimieren (vgl. ebd.: 725f.). Auch wenn die Aufgabenverteilung der EU-Institutionen vor dem Hin­ tergrund der Entwicklung der europäischen Integration durchaus nach­ vollziehbar erscheint,24 weisen die demokratischen Willensbildungsprozes­ se Defizite bei der Übersetzung der Präferenzen der Bürger*innen in politische Inhalte auf (vgl. auch Benz 2006a: 108). Hinzu kommen die fehlenden strukturellen Voraussetzungen, die die Bürger*innen Mehrheits­ entscheidungen und umverteilende Maßnahmen akzeptieren lassen wür­

23 Bislang muss das EU-Parlament die Kommissionspräsident*innen bestätigen. Al­ lerdings werden diese von den nationalen Regierungen im Europäischen Rat zunächst vorgeschlagen. Daher ist das EP nur in einem zweistufigen Verfahren an der Wahl der Kommissionspräsident*innen beteiligt. Dieses Verfahren ist allerdings nicht mit der nationalstaatlichen Wahl der Regierung aus dem Parla­ ment heraus vergleichbar (vgl. Leinen/Kreutz 2011: 35). 2014 einigten sich die beiden Spitzenkandidaten der großen Fraktionen EVP und S&D nach der Wahl zum EU-Parlament darauf, dass der bzw. die Kandidat*in der stärksten Fraktion auch als Kandidat*in für den Kommissionsvorsitz unterstützt wird. Diese fakti­ sche große Koalition erreichte für diese Wahl deutlich mehr Einfluss des Europä­ ischen Parlaments bei der Besetzung der Kommission und eine Annäherung an eine Regierungsbildung in parlamentarischen Demokratien. Gleichwohl konn­ ten sich 2019 die Fraktionen im EU-Parlament nicht auf die Unterstützung von Direktkandidat*innen einigen, sodass Ursula von der Leyen durch den Europä­ ischen Rat vorgeschlagen wurde – eine deutsche Bundespolitikerin, die zuvor nie im EU-Wahlkampf präsent gewesen war, geschweige denn Ambitionen auf dieses Amt angemeldet hatte (ähnlich auch Hofmann 2020: 106). 24 Da die EU aus einer zwischenstaatlichen Kooperation entstanden ist, wurde die EU-Kommission als Gegenpol zu den Mitgliedstaaten gegründet und sollte als „Hüterin der Verträge“ die Vollendung des Binnenmarktes vorantreiben (vgl. Huget 2007: 297). Während also die Kommission Entwürfe für Gesetzesvorhaben vorstellte und zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten vermittelte, entschie­ den Letztere im Rat. Das Europäische Parlament wurde erst später „angehängt“ (Direktwahl 1979) und am Entscheidungsprozess beteiligt. Aus eben diesen Gründen haben Bürger*innen mit ihrer Stimmabgabe beim Europäischen Parla­ ment nur einen begrenzt direkten Einfluss, die EU-Politik oder den Output zu gestalten (vgl. z. B. auch Benz 2006a: 108).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

den. Für Scharpf kann die EU daher nur eine Output-Legitimation ermög­ lichen, wobei alle Versuche einer Inanspruchnahme von inputorientierten Legitimationsargumenten nur wiederholt bestätigen würden, dass die EU nicht über eine Input-Legitimation verfügen kann (vgl. Scharpf 1999: 168). 1.1.3 Probleme der Output-Legitimation der EU Möglichkeiten für eine Output-Legitimation der EU erkennt Scharpf grundsätzlich an, da diese im Gegensatz zur Input-Legitimation nicht auf eine primäre oder ausschließliche Identität angewiesen ist (vgl. ebd.). Die Voraussetzung dafür ist lediglich ein Bestand an gemeinsamen Interessen, die hinreichend groß und dauerhaft erscheinen, sodass sich institutionelle Arrangements für kollektives Handeln rechtfertigen lassen (vgl. Scharpf 1999: 20). Die Wohlstandssicherung durch die EU diente lange Zeit als ein solches Narrativ (vgl. Schmidt 2010: 2014). Sie wurde auch als „permissiver Konsens“ bezeichnet und führte dazu, dass das Fehlen demokratischer Willensbildungsstrukturen auf der Input-Seite gar nicht thematisiert oder hinterfragt werden musste (siehe Kreile 1992: VII). Der Erfolg der Wohlstandssicherung beruhte lange Zeit auf der europä­ ischen Expertokratie, auf nicht-politischen Institutionen, wie insbesonde­ re der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof (EUGH), die durch das Vorantreiben des Binnenmarktes zu einer enormen Steigerung von Wohlstand für die Bürger*innen in der EU beigetragen haben. Gerade die EU-Kommission als Motor der Europäischen Integration und Hüterin der Verträge hat dabei seit Beginn der EU-Integration auf die Expertise von organisierten, pluralistischen Politiknetzwerken zurückgegriffen, die sie mit Informationen aus den Sektoren der Mitgliedstaaten unterstützt haben (vgl. Benz 1998: 352; Héritier 2003: 818). Ohne diese Netzwerke mit organisierten Interessen hätte die EU-Kommission ihren Aufgaben voraussichtlich gar nicht nachkommen können. Gleichwohl funktionierte dies nur, solange es sich um konsensuale Ziele handelte (vgl. Scharpf 1999: 30). Mit der Ausweitung der Politikfelder durch den Vertrag von Maastricht bröckelte der „permissive Konsens“, da viele der neuen Poli­ tikfelder kontroverse politische Fragen und teilweise auch redistributive Themen beinhalteten (vgl. ebd.: 53; Benz 2008: 47). Damit kam auch die europäische Expertokratie an ihre Grenzen, da ihr (im Gegensatz zum Nationalstaat) eine von Bürger*innen legitimierte Interventionskompetenz fehlt, die sich im Notfall über die nicht-politischen Institutionen hinweg­ setzen kann (vgl. Scharpf 1999: 30). Scharpf verweist dabei im Kern auf

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

den (bei der Input-Legitimation bereits beschriebenen) verminderten Me­ chanismus der politischen Verantwortlichkeit der EU: Da die strukturellen Voraussetzungen, wie Öffentlichkeit und EU-weite Diskurse, im EU-Kon­ text nur sehr begrenzt vorhanden sind, kann eine Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungsträger*innen durch Wahl bzw. Abwahl durch die Bürger*innen nur begrenzt sichergestellt werden (vgl. Benz 2006a: 108; Kohler-Koch 2011a:7). Institutionell hat das von den Wähler*innen direkt legitimierte EU-Parlament nur begrenzte Kontrollmöglichkeiten ge­ genüber der EU-Kommission (vgl. Kohler-Koch 2011a: 7; Schmidt 2010: 16).25 Auch die Möglichkeit des Europäischen Parlaments, die Kommissi­ on als Ganze abzusetzen, erscheint zu drastisch, als dass sie je zum Einsatz kommen könnte (vgl. Schmidt 2010: 16). Insbesondere im Europäischen Wettbewerbsrecht sieht Scharpf dieses Ungleichgewicht, das zugunsten einer Deregulierung der nicht-politischen Institutionen (EU-Kommission und EUGH) und zulasten der Marktkorrigierenden Maßnahmen durch Parlamente und Gesetzgeber besteht.26 Diese Argumente von Scharpf kön­ nen durch Arthur Benz noch angereichert werden: Er spricht mit Bezug auf Bovens (vgl. 1998: 45-50, zitiert nach Benz 2006a: 107)27 von dem generellen Problem der vielen Entscheidungszentren, im Zusammenhang 25 In diesem Sinne wird beispielsweise kritisiert, dass das EU Parlament kein eige­ nes Initiativrecht oder auch keine wirkliche Handhabe in der Komitologie, d. h. dem Ausschusssystem der Kommission, hat (vgl. Schmidt 2010: 22). Gleichwohl verfügt das EU-Parlament über gewisse Kontrollmechanismen sowohl gegenüber der EU-Kommission (z. B. durch die Möglichkeit von Misstrauensanträgen; vgl. Westlake 1994, zitiert nach Héritier 2003: 816) als auch gegenüber dem Rat, so etwa im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. 26 Darunter versteht Scharpf vor allem Entscheidungen der EU-Kommission (ähn­ lich auch EUGH), die negative Integration bewirken (d. h. marktschaffende Maßnahmen des Wettbewerbsrechtes auf EU-Ebene, die einen Wegfall von Wett­ bewerbsverzerrungen bewirken sollen) und sich auf Vertragsbestimmungen stüt­ zen, die nur durch Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten, d. h. durch Vertragsände­ rungen, revidiert werden können („Vorrangdoktrin“, Scharpf 1999: 30, 56). Den Entscheidungen von EU-Kommission und EUGH sind damit unverhältnismäßig hohe Hürden der Mitgliedstaaten entgegengesetzt, die diese Entscheidungen fak­ tisch begünstigen (zur Ausweitung der Kompetenzen von EUGH und Kommissi­ on siehe auch Grimm 2016). 27 Nach Grande besteht das europäische Mehrebenensystem aus verschiedenen Ver­ handlungsebenen, die sowohl vertikal (territorial, institutionell) als auch funk­ tional integriert sind; sodass daraus ein Verhandlungssystem aus „mehreren, unterschiedlich definierten und ineinander verschachtelten Politikarenen [sic]“ entsteht (Grande 2000: 14). Die verschiedenen Handlungs- und Entscheidungs­ ebenen sind jedoch nicht hierarchisch angeordnet (vgl. Beichelt 2009: 169); statt­ dessen bestehen Interdependenzen zwischen den Ebenen. Edgar Grande spricht

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

mit Mehrebenensystemen, die eine Kontrollmöglichkeit der Bürger*innen über Wahlen schmälern. Hinzu tritt im EU-Kontext das Problem, dass die Prozesse zwischen den verschiedenen Entscheidungszentren (Rat, EU-Par­ lament und EU-Kommission) häufig intransparent und informeller Natur sind. Sie erschweren somit eine klare Zuweisung von Entscheidungen (vgl. Benz 2006a: 106-111; insbesondere 108f.; Schmidt 2010: 22). Dies trifft beispielsweise auf die pluralistischen Politiknetzwerke der EU-Kom­ mission mit organisierten Interessen im Rahmen der Politikformulierung zu (vgl. Benz 2006a: 108).28 Scharpf sieht nur eine schwache Basis für die Output-Legitimation der EU; folglich kann die EU kann nur eine begrenzte Bandbreite an Problemen bearbeiten (vgl. Scharpf 1999: 180). Er macht weiterhin drei grundlegende Konfliktarten auf, durch die Verhand­ lungslösungen in der EU zu Blockaden führen und folglich die schwache Basis der Output-Legitimation überlasten: Bei gravierenden ideologischen Konflikten29 (z. B. Flüchtlingspolitik), ökonomischen Konflikten (z. B. Währungskrise) und institutionellen Konflikten (z. B. starke Unterschiede in der Verwaltungspraxis, Sozialpolitik, Politikmuster; vgl. ebd.). Entspre­ chend ist Scharpfs Empfehlung für die EU, Themen mit erwartbarer politi­ scher Opposition zu vermeiden, indem die europäische Politik entweder unterhalb der Schwelle politischer Wahrnehmbarkeit bleibt oder indem sie sich auf solche Lösungen beschränkt, die die Autonomie der Mitglied­ staaten schonen und Konflikte minimieren30 (vgl. ebd.: 30f.). Bei der Be­ schreibung der Legitimationsprobleme der EU wurde die zentrale Stellung der nicht-politischen Institutionen, insbesondere der EU-Kommission, für die Probleme der Input- und Output-Legitimation der EU ersichtlich. Die

in diesem Zusammenhang von einem verflochtenen Mehrebenensystem (vgl. Grande 2000: 17). 28 Das trifft ebenso auf die informellen Abstimmungen im Rahmen des Trilogs zwischen Parlament und Rat zu, interessanterweise nachdem der Vertrag von Amsterdam die Mitentscheidungsbefugnisse des EU-Parlaments ausgeweitet hat und damit eine klarere Zuweisung an Kompetenzen der EU-Institutionen errei­ chen wollte (vgl. Benz 2006a: 100, 108). 29 Gemeint sind damit grundlegende ideologische Differenzen über das Verhältnis von Staat und Markt oder die europäische Integration und nationale Souveräni­ tät, wo es keine befriedigenden Kompromisslösungen gibt (vgl. Scharpf 1999: 75). 30 Als eine solche konfliktminimierende Maßnahme kann auch die Ausbreitung der Komitologie, eines Ausschusssystems um die Kommission, in dem Delegierte aus mitgliedstaatlichen Verwaltungen unter dem Vorsitz der EU-Kommission Lösungen zur Umsetzung des EU-Rechts erarbeiten müssen, gesehen werden (vgl. Scharpf 1999: 31f.).

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

Stellung der EU-Kommission im Institutionengefüge der EU (institutionel­ les Defizit) und die spezifischen strukturellen Probleme europäischer De­ mokratiefähigkeit haben nicht nur Konsequenzen für die Legitimation der EU als System, sondern auch für die EU-Kommission als Institution. Diese werden im folgenden Kapitel erörtert. 1.1.4 Legitimationsprobleme der EU-Kommission als Institution Die Legitimationsprobleme können nur vor dem Hintergrund der EUIntegration sowie der Rolle und der Aufgaben nachvollzogen werden, die der EU-Kommission dabei zugewiesen wurden: In dem regionalen Projekt der zwischenstaatlichen wirtschaftlichen Kooperation wurde die EU-Kommission (vormals noch Hohe Behörde) als Hüterin der Verträge und Anwältin des „Europäischen“ den nationalen Interessen der Mitglied­ staaten entgegengesetzt (vgl. Huget 2007: 297). Diese Rolle beinhaltet die Aufgabe der EU-Kommission, den Binnenmarkt zu vollenden (vgl. ebd.). Vor diesem Entstehungshintergrund sind die weitreichenden Kom­ petenzen der EU-Kommission in der europäischen Willensbildung zu verstehen (vgl. Kohler-Koch 2010: 104). In der Gesetzgebung hat sie durch das Initiativmonopol für Gesetzgebungsentwürfe im Rahmen der Standardmethode europäischen Regierens – der Gemeinschaftsmethode – einen maßgeblichen Einfluss auf die Problemdefinition, das Agenda Setting, das Gatekeeping und die Gestaltung von Politikentwürfen im europäischen Gesetzgebungsprozess (vgl. Schendelen 2010: 79f.).31 In Be­ reichen des Wettbewerbsrechts hat die EU-Kommission den größten eigen­ ständigen legislativen Kompetenzbereich und kann faktisch eigene Richt­ linien formell ohne den Rat erlassen (vgl. Schmidt 1998a; zitiert nach Scharpf 1999: 7).32 Auch bei anderen Verfahren des Regierens, wie der

31 „In most cases, the final decision is largely identical to the draft for its core text (…), as becomes evident from random comparison between most draft and final texts” (vgl. Bellier 1997: 110; Kassim 2001: 15, zitiert nach Schendelen 2010: 79). Burns spricht in diesem Zusammenhang auch von einer versteckten Veto-Macht bei der EU-Kommission (vgl. Burns 2004, zitiert nach Van Schendelen 2010: 79). 32 Dies betrifft im Wettbewerbsrecht vor allem Schritte gegen nationale Handelsund Mobilitätsbeschränkungen sowie nationale Maßnahmen, die den freien Wettbewerb behindern (vgl. Scharpf 1999: 69). In diesen Fällen kann die Kom­ mission ohne vorherige Ermächtigung durch den Rat gegen Vertragsverletzungs­ verfahren vorgehen (vgl. ebd.). Aus diesem Grund gibt es auch die stillschwei­ gende Zustimmung der Mitgliedstaaten bei Kommissionsrichtlinien (vgl. ebd.:

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

Offenen Methode der Koordinierung (OMK)33, kommt ihr ein großer Einfluss als Schaltzentrale und Vermittlerin zwischen den Mitgliedstaaten zu (vgl. Huget 2007: 269, 290).34 Darüber hinaus hat die EU-Kommission umfangreiche Kompetenzen bei der Umsetzung des EU-Rechts in den Mit­ gliedstaaten. Darunter sind insbesondere die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Ausweitung des Europäischen Binnenmarktes (1985) und den in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA, 1987) erlassenen Durchfüh­ rungsrechten relevant (vgl. Art. 145 EEA, Joerges/Neyer 1997: 614; Jachten­ fuchs/Kohler-Koch 2010: 76).35 Infolgedessen besitzt die EU-Kommission 67). Diese Eigenmächtigkeit von den nicht-politischen Institutionen Kommission und Europäischer Gerichtshof erklärt sich aus der sogenannten „Vorrang-Dok­ trin“ von europäischem vor nationalem Recht, d. h., dass der EUGH dazu be­ rechtigt ist, Vorabentscheidungen über die autoritative Auslegung von Gemein­ schaftsrecht auf Bitte von nationalen Instanzgerichten der Mitgliedstaaten zu erlassen (Art. 177 EGV). Dies bedingt eine unmittelbare innerstaatliche Anwend­ barkeit einiger Vertragsbestimmungen und die Konsequenz, dass die nationalen Regierungen bei der Umsetzung von EU-Verträgen keine Kontrolle mehr über die Umsetzung von europäischem Recht haben, insbesondere im Bereich Wettbe­ werbsrecht (vgl. ebd.: 55). Deshalb spricht Scharpf von einem Ungleichgewicht zwischen negativer Integration (Marktliberalisierung) und positiver Integration über marktschaffende Maßnahmen in der EU. Letztere haben viel höhere Hür­ den, da diese die Mehrheit im Ministerrat brauchen, während Erstere allein von der Kommission als Kommissionsrichtlinie bzw. bei Nichteinhaltung auch zur Klage aufgrund eines Vertragsverletzungsverfahrens vor den EUGH gebracht werden kann (vgl. ebd.: 69). 33 Die Offene Methode der Koordinierung ist ein Entscheidungsmodus in der EU, der seit der Jahrtausendwende neben die Gemeinschaftsmethode getreten ist und zu den sogenannten weichen oder neuen Governance-Modi zählt (vgl. Jach­ tenfuchs/Kohler-Koch 2010: 78f.). Sie beruht auf der Idee, dass effektive Politik und eine Annäherung mitgliedstaatlicher Maßnahmen erreicht werden kann, wenn die relevanten staatlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen in einen Prozess der Koordination und gegenseitigen Beobachtung eingebunden werden. Sie verzichtet dabei weitgehend auf hierarchische Steuerungsmöglichkeiten wie Direktiven oder Regulierungen (siehe auch Kapitel 1.2.2.2.2). 34 Insbesondere am Beispiel der OMK lässt sich das verdeutlichen: Da die EU-Kom­ mission das Monitoring und die Evaluierung der Kennzahlen und der Maßnah­ men der Mitgliedstaaten übernimmt, kommt ihr ein erheblicher Gestaltungsund Koordinationsspielraum zu (vgl. Huget 2007: 290). 35 Mit diesen ermächtigen die Mitgliedstaaten die EU-Kommission, in bestimmten Bereichen selbstständig EU-Recht umzusetzen. Das Ziel davon war es, die Mit­ gliedstaaten im Rat bei einer Ausweitung der Aufgabenfelder (insbesondere der gestiegenen regulatorischen Aufgaben) im Binnenmarkt nicht zu überlasten (vgl. Joerges/Neyer 1997: 614). Gleichwohl revidierten die Mitgliedstaaten diese Ent­ scheidung mit der Komitologieentscheidung vom 17. Juli 1987 und markierten die intergouvernementale Hoheit der Integrationsprozesse. Dabei legte der Rat

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

starke dezentrale Kompetenzen bei der Umsetzung von EU-Recht in den Komitologieausschüssen (vgl. Joerges/Neyer 1997: 614). Darüber hinaus ist es die Aufgabe der EU-Kommission, Beschwerden gegen Mitgliedsländer zu erheben, die das EU-Recht nicht richtig umsetzen. Im Extremfall kann die EU-Kommission sogar Klagen gegen Mitgliedstaaten im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof einrei­ chen (Vertragsverletzungsverfahren der Kommission in Art. 258 AEUV). Die bisherigen Ausführungen zu der Rolle und den Aufgaben der EUKommission machen deutlich, dass sie ihre Legitimation von Anfang an vorrangig über ihre Funktion erhalten hat: als Korrektiv gegen die natio­ nalstaatlichen Eigeninteressen in einem Projekt der zwischenstaatlichen Kooperation der Mitgliedstaaten. Fritz W. Scharpf hat die EU-Kommission als nicht-majoritäre oder auch nicht-politische Institution charakterisiert (vgl. Scharpf 1999: 30). Das bedeutet im Kern, dass die EU-Kommission nicht nach den Mechanismen der majoritären Demokratien über Wahl und Abwahl legitimiert und kein Repräsentationsorgan ist (vgl. Huget 2007: 234; Kohler-Koch 2010: 104, 109).36 Auch wenn das Besetzungsver­ fahren der EU-Kommission im Laufe der Integration verändert und stär­ ker an das EP angebunden wurde, hat die Ernennung Ursula von der Leyens 2019 die engen Grenzen der parlamentarischen Beteiligung an der Besetzung der EU-Kommission gezeigt. Kohler-Koch (vgl. 2010: 108) weist darauf hin, dass die EU-Kommission selbst keine Wählerschaft besitzt und auch über die EU-Verträge keine Mechanismen bereitgestellt werden, wie die EU-Kommission und die Bürger*innen verbunden werden. Daraus entwickelt sich auch der Kern des institutionellen Defizits: Denn obwohl die Kommission faktisch wie eine Regierung in der EU handelt (vgl. Schmidt 2010: 16), mangelt es ihr an einer wirksamen parlamentarischen Verantwortlichkeit und damit auch an direkten Kontrollmöglichkeiten der Bürger*innen (vgl. Benz 2006a: 108; Kohler-Koch 2011a: 7, dies. 2011c: 65). Während ihrer Amtszeit ist die EU-Kommission nicht weisungspflich­ tig gegenüber dem Rat und nur bedingt rechenschaftspflichtig gegenüber dem EU-Parlament (vgl. Kohler-Koch 2011a: 7). Denn die Maßnahmen des Europäischen Parlaments der EU-Kommission gegenüber sind sehr

eine kooperative Entscheidungsfindung zwischen der Kommission und Delegier­ ten der Mitgliedstaaten in den Komitologieausschüssen fest (vgl. ebd.). 36 Allerdings könnte man sie, wie Huget hinzufügt (2007: 234), als „fiktiver Anwalt des Europäischen“ auch als ein Repräsentationsorgan sehen.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

begrenzt (vgl. ebd.; Schmidt 2010: 16).37 Gleichwohl spricht Scharpf trotz der institutionell äußerst geringen Verantwortlichkeit der EU-Kommissi­ on davon, dass sie ein politischer Akteur sei, der auf andere Interessen, beispielsweise Mehrheiten im Rat, Rücksicht nimmt (vgl. Scharpf 1999: 148).38 Die beschriebene Kompetenzverteilung des EU-Gefüges kann vor dem funktionalen Entstehungshintergrund der EU-Integration erklärt wer­ den, denn als Gegenpol zu den Nationalstaaten wäre eine Weisungspflicht der Kommission kontraproduktiv. Die begrenzten Maßnahmen des EUParlaments lassen sich damit erklären, dass das EU-Parlament erst nach­ träglich mit dem Vertrag von Maastricht nennenswert institutionell aufge­ wertet wurde. Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits herausgearbeitet, dass die EU-Kommission trotz ihrer hohen formalen Unabhängigkeit als Instituti­ on durch das Fehlen eines von den Bürger*innen direkt gewählten Kor­ rektivs geschwächt ist und ihre Entscheidungen allein durch Effektivität rechtfertigen kann (vgl. Scharpf 1999: 30). Von dem Moment an, als der permissive Konsens der EU zu bröckeln begann, wurden auch die Entscheidungen der EU-Kommission stärker hinterfragt. Gleichzeitig wur­ de es für die EU-Kommission zunehmend schwieriger, kontroverse Ent­ scheidungen zu rechtfertigen. Die EU-Kommission wurde als Institution selbst Zielscheibe der Kritik im Rahmen des Demokratiedefizits, wobei ihr

37 In diesem Sinne wird beispielsweise kritisiert, dass das EU-Parlament kein eige­ nes Initiativrecht hat oder auch keine wirkliche Handhabe in der Komitologie aufweisen kann (vgl. Schmidt 2010: 22). Zudem wurde bereits auf die beschränk­ te faktische Wirksamkeit der Möglichkeit einer Absetzung der Kommission durch das EP eingegangen (vgl. ebd.: 16). Gleichwohl verfügt das EU-Parlament über gewisse Kontrollmechanismen, sowohl gegenüber der EU-Kommission (z. B. durch die Möglichkeit von Misstrauensanträgen, vgl. Westlake 1994, zitiert nach Héritier 2003: 816) als auch gegenüber dem Rat im ordentlichen Gesetzge­ bungsverfahren. 38 Scharpf nennt als Beispiel dazu die Selbstbeschränkung der Kommission bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts nach dem Amsterdamer Protokoll. Da es in den Mitgliedstaaten starke Vorbehalte gegenüber dem durch die Marktregulie­ rung entstandenen Liberalisierungsdruck auf die Sozialsysteme gab (vgl. Scharpf 1999: 148). Ein aktuelles Beispiel ist der von der Kommission am 23.9.2020 vor­ gestellte Entwurf für ein europäisches Asylpaket, der nun – verursacht durch den vehementen Widerstand mittel- und osteuropäischer Staaten – von Verteilungs­ quoten für Flüchtlinge in der EU absieht (vgl. EU-Kommission 2020b). Adriénne Héritier sieht indes das Kriterium der politischen Verantwortlichkeit durch die vielen verschiedenen Akteur*innen, die in den politischen Entscheidungsprozess involviert sind, sich misstrauen und daher gegenseitig kontrollieren, umgesetzt (vgl. Héritier 1999: 273f.).

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

Bürger*innenferne und Abgehobenheit vorgeworfen wurde (vgl. Lodge 1994: 343). Dabei wurde zum einen kritisiert, dass die Entscheidungen der EU-Kommission nicht nachvollziehbar seien, da die Politiknetzwerke stark informell geprägt sind (vgl. Benz 2006a: 108). Zum anderen muss sich die EU-Kommission dem Vorwurf des Sozialabbaus stellen: Dies zielt insbesondere auf die Kompetenzen der EU-Kommission ab, neue Märkte auf EU-Ebene zu schaffen und einseitige nationale Hemmnisse in diesem Kontext abzubauen. Die EU-Kommission kann sich dabei auf einseitige institutionelle Regelungen im Wettbewerbsrecht zugunsten der Marktschaffung auf EU-Ebene stützen (vgl. Scharpf 1999: 34).39 Scharpf begründet damit die Vorbehalte vieler Bürger*innen gegen die EU und die EU-Kommission, die ihre Märkte liberalisieren und zu einem Sozialabbau beitragen (vgl. ebd.). Durch die Informalität der pluralistischen Netzwerke der EU-Kommission und durch ihre Deregulierungsbestrebungen im Bin­ nenmarkt wurde sie zudem kritisiert, einseitig von Lobbying-Aktivitäten von bestimmten Interessen vereinnahmt zu werden (vgl. Quittkat 2019). Mit dem Vertrag von Maastricht stellten sich zusammenfassend zwei Herausforderungen an die EU-Kommission: Auf der einen Seite wurde ihr Aufgabenspektrum vergrößert, da mehr Politikfelder vergemeinschaftet wurden. Auf der anderen Seite ging mit dieser Zunahme an Politikfeldern auch eine Zunahme an kontroversen und redistributiven Fragestellungen einher.40 Gleichzeitig machten diese Entwicklungen es auch zunehmend schwerer für die EU-Kommission, die ihr zugewiesene Rolle als Hüterin der Verträge zu erfüllen. Denn die EU-Kommission steht wie keine andere Institution für das Gemeinsame in der EU – damit ist sie jedoch auch wie keine andere Institution von der Glaubwürdigkeit der EU abhängig (vgl. Lord 1998: 61, zitiert nach Héritier 2003: 816). Etwaige Blockaden im Rat und Probleme der Handlungsfähigkeit, die sich durch die vergangenen Jahre wie ein roter Faden gezogen haben, sind deshalb in besonderem Maße ein Legitimationsproblem für die EU-Kommission als Institution. Hinzu kommen Veränderungen im Institutionengefüge, wie die sukzes­ sive Stärkung des EU-Parlaments (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 39 Darunter versteht Scharpf vor allem Entscheidungen der Kommission (ähnlich auch EUGH), die negative Integration (d. h. marktschaffende Maßnahmen des Wettbewerbsrechtes auf EU-Ebene, die einen Wegfall von Wettbewerbsverzer­ rungen bewirken sollen) und die Orientierung an Vertragsbestimmungen, die nur durch Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten, d. h. durch Vertragsänderungen, geändert werden können („Vorrangdoktrin“, Scharpf 1999: 30, 56). 40 Wobei die EU-Kommission teilweise selbst politischere und strittigere Entschei­ dungen wählte (vgl. Schmidt 2010: 12).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

76) und die Aufwertung der intergouvernementalen Methode nach der Finanzkrise (vgl. Joerges/Neyer 2014: 367)41, die auch wechselnde Strategi­ en der EU-Kommission zur institutionellen Selbstbehauptung und -erhal­ tung42 und zur Erfüllung ihrer Rolle als Hüterin der Verträge notwendig machen. Nachfolgend werden zwei Beispiele für solche Strategien der EUKommission exemplarisch beschrieben, die zugleich illustrieren, welche Rolle direkte Partizipation bei strategischen Entscheidungen der EU-Kom­ mission spielt: Joerges und Neyer (vgl. 1997: 614) beobachteten in den 1990er-Jahren eine veränderte Gesetzgebungsstrategie der Kommission, die eine breite Harmonisierung43 durch relativ wenige Gesetzgebungsakte anstoßen wollte. Als Ursache dafür nannten Joerges und Neyer eine Aus­ weitung der Aufgabengebiete (durch das Binnenmarktprogramm 1985) und eine Änderung der Entscheidungsregel (durch die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung in der EEA 1987; vgl. ebd.). Sie beobachteten, dass eine stärkere und effektivere Integration – eine Kern­ aufgabe der EU-Kommission – nicht unbedingt mit einer gestärkten zen­ tralen Autorität auf EU-Ebene gleichgesetzt werden könne (vgl. Joerges/ Neyer 1997: 618). Joerges und Neyer führten diese neue Strategie auf ein verändertes Verständnis ihrer Rolle in dem veränderten institutionellen Setting zurück. Sie mutmaßten, dass der EU-Kommission bewusst sei, dass jeder Versuch von ihr, neue Aufgaben mit zentralisierten administrativen

41 Joerges und Neyer (vgl. 2014: 367) sehen die EU nicht auf dem Weg zu einer repräsentativen Demokratie, sondern vielmehr in Richtung eines administrativintergouvernementalen Gebildes, an dessen Spitze der Europäische Rat über die zukünftigen Entwicklungen bestimmt. Sie verweisen auf die Maßnahmen, die nach der Finanzkrise erlassen wurden, und auf Art. 15-16 EUV; Art. 235-236 AEUV. 42 In einem ähnlichen Sinne hat Werner J. Patzelt für das Parlament sogenannte Leistungen zur Selbsterhaltung als Institution definiert (vgl. Patzelt 2003: 40ff.). Darunter fallen solche Regelungen und Bestrebungen, durch die das Parlament als Institution erhalten bleibt und seinen Funktionen für die Gesellschaft nach­ kommen kann. 43 Unter Harmonisierung ist die gegenseitige Angleichung der unterschiedlichen innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu ver­ stehen, die sich aufgrund der europäischen Rechtsetzung ergibt. Ziel ist nicht die Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften. Es werden gleichwohl Vorgaben für die Ausgestaltung des Gemeinschaftsrechts in den nationalen Vorschriften gesetzt, um Handelshemmnisse abzubauen und einen fairen Wettbewerb im Binnenmarkt sicherzustellen. Wichtig ist die Harmonisierung beispielsweise im Bereich der technischen Sicherheitsnormen, da hier unterschiedliche nationale Regelungen Handelshemmnisse für den freien Warenverkehr darstellen (vgl. Zandonello 2009).

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1.1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU

Kompetenzen zu bearbeiten, vor dem Hintergrund der Debatte um das Demokratiedefizit einerseits starke politische Reaktionen hervorrufen und andererseits auch die eigenen administrativen Ressourcen überlasten wür­ de (vgl. Metcalfe 1996; zitiert nach Joerges/Neyer 1997: 618). Die neue Rolle zeichnete sich durch die Konsultationen mit den verschiedenen mitgliedstaatlichen Delegationen und Expert*innen und die Suche nach einem gemeinsamen Nenner in kooperativen und deliberativen Verhand­ lungen aus (vgl. ebd.). Ein weiteres Beispiel für eine Strategieanpassung der EU-Kommission nach veränderten Rahmenbedingungen ist unter dem Begriff „better regu­ lation“ bekannt. Diese Strategie des designierten Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker aus dem Jahr 201444 fokussierte eine stärkere Einhal­ tung des Subsidiaritätsprinzips in der EU, eine Vereinfachung der Gesetz­ gebung, eine offenere Entscheidungsfindung und eine stärkere Beteiligung von Bürger*innen und Stakeholdern. Diese Strategie ist zum einen vor dem Hintergrund der zunehmenden Schwierigkeiten der Kommission und der EU einzuordnen, Handlungsfähigkeit in vielen Themen zu erlan­ gen. Zu denken ist hier beispielsweise an die Schwierigkeit, Einigungen in Fragen der Flüchtlingspolitik der EU zu erreichen. Zum anderen er­ schwert die wachsende Kritik der Bürger*innen an der EU, ausgedrückt beispielsweise in den negativen Verfassungsreferenden in 2005, die Bedin­ gungen für ihre Handlungsfähigkeit und die Generierung von neuer Ge­ setzgebung. Die Ausführungen der Strategien der EU-Kommission haben es bereits gezeigt: Forderungen nach mehr direkter Partizipation auf EU-Ebene zo­ gen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Kommissionen. Insbesondere seit den 1990er-Jahren wurde seitens der Wissenschaft und der EU-Institutionen, besonders der EU-Kommission, für mehr direkte Partizipation außerhalb von Wahlen auf der EU-Ebene geworben. Wie die­ se Forderungen begründet wurden, wird im nächsten Kapitel dargestellt.

44 Folgende Ziele sind beispielsweise mit der Strategie „better regulation“ verbun­ den: evidenzbasierte EU-Maßnahmen, das Verstehen von dem Effekt der Gesetz­ gebung auf die Bürger*innen und die Unternehmen, eine Vereinfachung des EU-Rechts, eine transparentere und offenere Entscheidungsfindung und eine stärkere Beteiligung von Bürger*innen, Unternehmen und Stakeholdern bei der Gesetzgebung (vgl. Interinstitutionelle Vereinbarung 2016).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster In diesem Kapitel werden theoretische Ansätze vorgestellt, die für mehr direkte Partizipation außerhalb von Wahlen auf EU-Ebene argumentieren. Dazu werden einleitend die begrifflichen Grundlagen zum Partizipations­ verständnis erörtert (Kapitel 1.2.1), da diese darüber entscheiden, welche Formen von Partizipation dazu zählen und welche Ziele mit Partizipation verbunden werden. Anschließend wird beschrieben, wie Vertreter*innen von assoziativer (Kapitel 1.2.2.1) und deliberativer Demokratie (Kapitel 1.2.2.2) eine stärkere direkte Partizipation begründen und welche Effek­ te auf der Input- und Output-Seite der Legitimation erwartet werden. Während diese Ansätze vorrangig positive Effekte mit verstärkten direkten Partizipationsmöglichkeiten auf der EU-Ebene verbinden, werden in dem Modell von Vivien A. Schmidt ambivalente Effekte von Partizipation ange­ führt (Kapitel 1.2.3). Ihr Modell erfasst die direkten Beteiligungsmöglich­ keiten der EU in einer eigenen Legitimationskategorie (Throughput-Legi­ timation). Sie bezieht sich in ihrer Begründung auf die vorhergehenden assoziativen und deliberativen Konzepte, ermöglicht aber darüber hinaus eine differenzierte Bewertung der Effekte von Partizipation. 1.2.1 Begriffsbestimmung von Partizipation: das instrumentelle und das normative Verständnis Im Verständnis von politischer Partizipation werden zwei idealtypische Ausrichtungen unterschieden: das instrumentelle und das normative Ver­ ständnis. Beiden Verständnissen liegen unterschiedliche Vorstellungen über Demokratie zugrunde. Das instrumentelle Partizipationsverständnis ist stark von der empiri­ schen (oder realistischen) Demokratietheorie geprägt. Diese entstand in den 1940er-Jahren in den USA und wurde dann später in Europa weiter­ entwickelt. Anstoß für dieses neue Konzept waren die Kritik an den nor­ mativen und idealistischen Vorstellungen der liberalen Demokratietheorie sowie die realen Demokratieerfahrungen in den USA und Großbritannien, aber auch die Erfahrungen der totalitären Staaten in der EU (vgl. Abromeit 2002: 89f.) Zentral sind in der realistischen Demokratietheorie die Begriffe Repräsentation und demokratische Elitenherrschaft (vgl. Hoecker 2006: 2). Ein normatives Partizipationsverständnis liegt hingegen bei einem ziel­ gerichteten Demokratiebegriff vor. Vertreter*innen dieses Ansatzes schau­ en weniger auf die formalen Strukturen und das Institutionensystem,

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

sondern stärker auf die tatsächliche Umsetzung von Werten und Zielset­ zungen. Denn „erst die tatsächliche Verwirklichung von vorgegebenen ethischen Zielsetzungen liefert ein Legitimationsmaß dafür, ob die Ein­ richtungen und Verfahrensregeln einer Demokratie in ihrem Sinne funk­ tionieren“ (Wiesendahl 1981: 102, zitiert nach Hoecker 2006: 6). Der Schwerpunkt liegt – im Gegensatz zur realistischen Demokratietheorie – hier darauf, dass die Entscheidungsbildung selbst vom Volk getragen werden muss, d. h. seine Interessen und Bedürfnisse sind Gegenstand dieser Entscheidungen. Erst in diesem Fall wird von materieller Demo­ kratie gesprochen (vgl. Hoecker 2006: 6). Damit liegt der Fokus auf der Partizipation der Bürger*innen und nicht – wie im Fall der empirischen Demokratietheorie – auf der Auslese der Eliten durch Partizipation (vgl. ebd.). Die unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen bedingen in beiden Verständnissen von Partizipation unterschiedliche Ansichten über die Rol­ le von Partizipation und die fokussierten Formen von Partizipation: Das instrumentelle Partizipationsverständnis sieht in Partizipation ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Auf individueller Ebene bedeu­ tet dies, dass Interessen der Bürger*innen (beispielsweise bei der Wahl einer bestimmten Partei) durchgesetzt werden (vgl. ebd.) Aus makropoli­ tischer Sicht sind Wahlen das Instrument, um eine verantwortungsvolle Regierung einzusetzen (vgl. ebd.). Dies ist insbesondere wichtig, um Sta­ bilität für das System zu generieren und verantwortungsvolles und geeig­ netes politisches Personal zu generieren. Vertreter*innen dieses Demokra­ tieverständnisses betrachten mündige Bürger*innen weitgehend als eine Fiktion (so beispielsweise die Argumentation Schumpeters, vgl. ders. 1950: 416f.; zitiert nach Hoecker 2006: 2f.). Auch aus diesem Grund beschränkt sich die Rolle der Bürger*innen im Gegensatz zur klassischen Demokrati­ etheorie auf Wahlen. Partizipation wird zu einem Akt der Legitimation durch Verfahren (vgl. Luhmann 1989, zitiert nach Hoecker 2006: 6). Die Adressat*innen von Partizipation sind Entscheidungsträger*innen in der Regierung, im Parlament oder, wie im Fall der EU, in der Europäischen Kommission (vgl. Hoecker 2006: 2f.). Die Ausführungen zum instrumen­ tellen Partizipationsbegriff machen deutlich, weshalb Scharpf den Politik­ netzwerken der EU vorrangig einen förderlichen Effekt auf der Output-Sei­ te der Legitimation zuordnet (vgl. Scharpf 1999: 28): Als systemtheoretisch inspirierter Vertreter der empirischen Demokratietheorie spricht er vorran­ gig Wahlen als unitarischem Kanal der Willensbildung auf der Input-Seite eine Bedeutung zu, um redistributive Maßnahmen zu rechtfertigen.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

Dem normativen Partizipationsverständnis zufolge ist politische Parti­ zipation nicht nur eine Methode bzw. ein Mittel zum Zweck, sondern zugleich Wert und Ziel an sich (vgl. Hoecker 2006: 6). Die aktive Teil­ nahme der Bürger*innen am politischen Entscheidungsprozess wird zum normativen Kriterium, da sie den Schlüssel zur Selbstverwirklichung des Menschen darstellt (vgl. Parry et al. 1992: 14; Schultze 1995: 398).45 Zen­ tral sind im normativen Ansatz zudem die erzieherische und die eman­ zipatorische Rolle der Partizipation (vgl. Hoecker 2006: 7; Kohler-Koch 2007: 263; Parry et al. 1992: 14f.): In dem Partizipationsprozess erwerben die Bürger*innen die notwendigen Kenntnisse (im Sinne von politischem Wissen). Auf diese Weise erlangen sie zugleich auch eine Sensibilität für fremde Interessen und folglich eine Verantwortung für das Gemeinwe­ sen – Mark E. Warren beschreibt dies auch als eine Transformation der Bürger*innen, die durch die Partizipation zu verantwortungsbewussten Staatsbürger*innen werden (vgl. Warren 1993: 209f.).46 Folglich stehen nun neben indirekten Elementen wie Wahlen insbesondere auch direkt­ demokratische Elemente im Zentrum dieses Partizipationsverständnisses, um die Beteiligung der Bürger*innen am politischen Prozess zu verstär­ ken (vgl. Hoecker 2006: 7). Gleichwohl sollen die direktdemokratischen Elemente die indirekten (repräsentativen) nicht ersetzen, sondern diese lediglich ergänzen (vgl. ebd). Das normative Verständnis von politischer Partizipation erscheint im europäischen Kontext insbesondere wichtig, da die repräsentativ-institu­ tionellen Mechanismen sowohl mit institutionellen (schwache Stellung des EU-Parlaments) und strukturellen (kein demos, fehlende Öffentlich­ keit, schwache europäische Parteien und Medien) Problemen konfrontiert sind. Infolgedessen argumentieren assoziative und deliberative Ansätze mit einem normativen Partizipationsverständnis für eine Ausweitung der di­ rekten Partizipationsmöglichkeiten auf EU-Ebene. Im nächsten Abschnitt

45 In der partizipatorischen Demokratie soll nach Carole Pateman (1970) die demo­ kratische Beteiligung auf möglichst viele Bereiche ausgeweitet werden, beispiels­ weise auf die lokale Ebene und in die ökonomische Arbeitswelt (siehe dazu auch Huget 2007: 141ff.). 46 Den prozessualen Charakter von Partizipation betont auch Benjamin Barber mit seinem Modell der starken Demokratie (1994), der dem normativen Ansatz wichtige Impulse gegeben hat (vgl. Hoecker 2006: 7). Nach Barber umfasst aktive Partizipation drei Phasen: erstens die gemeinsame Diskussion politischer Angele­ genheiten (talk), zweitens die konkrete Entscheidungsfindung (decision-making), sowie drittens die Umsetzung dieser Entscheidungen durch gemeinschaftliches Handeln (common action; vgl. Hoecker 2006: 7).

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

wird dargestellt, wo die Ansätze die Legitimationsprobleme der EU veror­ ten, wie sie jeweils die Ausweitung von direkten Partizipationsmöglichkei­ ten außerhalb von Wahlen begründen und welche legitimationsförderli­ chen Effekte sie sich davon erhoffen. 1.2.2 Partizipation auf EU-Ebene: Ansätze mit einem normativen Partizipationsverständnis In diesem Kapitel werden theoretische Ansätze vorgestellt, die für eine stärkere direkte Partizipation auf der EU-Ebene plädieren. Dies betrifft zum einen assoziative (1.2.2.1) und zum anderen deliberative Ansätze (1.2.2.2). Dabei werden die relevanten theoretischen Konzeptionen des jeweiligen Ansatzes beschrieben, aus Platzgründen wird allerdings wird kein Anspruch auf Vollständigkeit des jeweiligen Forschungsprogramms erhoben. Vielmehr geht es darum, wesentliche Argumentationsmuster für mehr direkte Partizipation im jeweiligen Ansatz herauszuarbeiten. 1.2.2.1 Ansätze assoziativer Demokratie47 Unter diesem Stichwort widmeten sich Politikwissenschaftler*innen in den 1990er-Jahren explizit dem positiven Beitrag von Assoziationen (ge­ meint sind Gruppen, Verbände oder Interessengruppen) für die Demokra­ tie.48 Dabei geht der skizzierte positive Beitrag wesentlich über die bis da­

47 Ansätze der assoziativen Demokratie stellen dann insofern, wie Schuppert dies tut, konzeptionell vom Individuum auf die Organisation um, indem sie das Makrosystem der modernen Gesellschaft als Aggregat von Aggregaten und nicht von Individuen betrachten (vgl. Schuppert 1997: 83f.). 48 Bereits 1963 diskutierte Theodor Eschenberg die Frage, ob eine Gefahr durch Verbände als Träger*innen partikularer Interessen auf die Demokratie ausginge, indem diese die politische Repräsentation durch gewählte Vertreter*innen unter­ minieren, um eigene Vorteile zu erlangen (vgl. Eising 2001: 293). In den USA haben sich Pluralismustheoretiker wie David Truman in den 1950er- und 1960erJahren mit ähnlichen Fragen beschäftigt, sahen aber durch überlappende Mit­ gliedschaften und einen breiten ideologischen Konsens eine Begrenzung der Macht von Interessengruppen gegeben (vgl. Truman 1952: 159-164, 510-514). Gerd Lehmbruch und Philippe C. Schmitter (vgl. 1979; 1982, zitiert nach Eising 2001: 294) untersuchten dann unter dem Titel „Korporatismusforschung“ den Beitrag von Verbänden zur Leistungsfähigkeit und Stabilität von Demokratien.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

hin rein am Output orientierte Perspektive der Korporatismusforschung49 hinaus. Beschreibung des Legitimationsdefizits der EU Vertreter*innen assoziativer Demokratie stimmen mit Scharpfs Diagnose überein, dass in der EU die Voraussetzungen für eine eigene Input-Legiti­ mität nicht gegeben sind: Dies meint zum einen das Fehlen eines europä­ ischen Staatsvolkes und einer Form von kollektiver Identität, die die Voraussetzung für die Akzeptanz von (redistributiven) Mehrheitsentschei­ dungen bilden (vgl. Heinelt 1998: 89; Schmalz-Bruns 1998: 65). Ebenso mangelt es auf europäischer Ebene auch an zentralen Voraussetzungen der repräsentativen Demokratie, wie europäischen Parteien und einer europä­ ischen Öffentlichkeit (vgl. Heinelt 1998: 89; ähnlich auch Kohler-Koch 2011a: 7; Wendler 2005: 35). Kritisiert wird zudem die zu schwache Rolle des Europäischen Parlaments im Institutionengefüge der EU; insbesondere gegenüber der EU-Kommission (vgl. Benz 1998: 347f.; Heinelt 1998: 89; ähnlich auch Héritier 2003: 816). Da die wesentlichen Voraussetzungen für eine parteipolitische Interessenvermittlung fehlen, erscheint eine Stär­ kung der demokratischen Legitimation allein über eine Aufwertung des EU-Parlaments aus dieser Sicht unwahrscheinlich (vgl. Heinelt 1998: 89; ähnlich auch Kohler-Koch 2011a: 7; Schmalz-Bruns 1998: 65; Wendler 2005: 35). Vertreter*innen der assoziativen Demokratie stimmen ebenso mit Scharpf überein, dass die parlamentarisch-repräsentative Demokratie grundsätzlich an den Nationalstaat gebunden bleibt; gleichwohl kritisieren sie diese Fixierung auf den Nationalstaat bei der Diskussion um die Legiti­ mation der EU (vgl. Benz 1998: 348; Schmalz-Bruns 1997: 64). Dabei argu­ mentiert Schmalz-Bruns (vgl. 1997: 86), dass die europäische Demokratie auf die Koevolution nationaler und supranationaler Strukturen angewie­ sen sei und im Mehrebenensystem beide Prozesse miteinander verflochten seien. Arthur Benz (vgl. 1998: 348) macht in dieser Hinsicht zudem darauf

49 Der Blickwinkel der Korporatismusforschung ist ein steuerungstheoretischer, kein vorrangig demokratietheoretischer (vgl. Schuppert 1997: 124). Im Fokus stehen auch nicht die Assoziationen insgesamt, sondern ein bestimmter Typus verbandlicher Zusammenschlüsse, nämlich Interessenverbände, die sogenannten organisierten Interessen, die in der Lage sind, verpflichtende Ergebnisse zu erzie­ len (vgl. ebd.).

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

aufmerksam, dass auch im Nationalstaat die Voraussetzungen für repräsen­ tative Demokratie mangelhaft sein können (ähnlich auch Héritier 1999: 269). Schmalz-Bruns fragt deshalb, ob es sich bei dem Demokratiedefizit der EU nicht auch um ein Problem der Demokratietheorie handelt (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 65-67). Damit würde es sich um ein Defizit der Theorie handeln, adäquat auf die Transformation der Demokratie durch die Globalisierung (vgl. Heinelt 1998: 80) bzw. durch „die funktionale Kompetenzallokation“ (Schmalz-Bruns 1997: 63) der EU eingehen zu kön­ nen. Stattdessen suchen Arthur Benz (vgl. 1998: 348) und Rainer SchmalzBruns (vgl. 1997: 67) nach einem neuen Leitbild der EU und ihrer Integra­ tion, in das auch neue Politikformen oder Akteur*innen mit eingebunden werden können. Arthur Benz beschreibt die EU beispielsweise als „compo­ site democracy“ (Benz 1998: 349), als eine komplexe Mischverfassung mit unterschiedlichen Elementen repräsentativer Demokratie, sowie vertikaler und horizontaler Gewaltenteilung.50 Begründung für mehr direkte Partizipation und erhoffte positive Effekte Vertreter*innen der assoziativen Demokratie sehen auch eine Chance in der Beteiligung von Assoziationen, beispielsweise in politischen Netz­ werken51 der Kommission mit Assoziationen, im Rahmen der Politikfor­ mulierung oder zu deren Vorbereitung. Dabei kritisiert Schmalz-Bruns, dass die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und Assoziationen

50 Benz sieht in der EU eine komplexe Mischverfassung mit unterschiedlichen Elementen repräsentativer Demokratie und vertikaler und horizontaler Gewal­ tenteilung (vgl. Benz 1998: 349). Dabei beinhaltet die EU als politisches System eine Mischform repräsentativer Demokratie mit drei verschiedenen Repräsentati­ onspfeilern (gouvernementale, parlamentarische und assoziative Repräsentation). Zudem sind in der EU verschiedene Institutionen und Regelsysteme involviert, von denen einige Prozesse der Verhandlung (konkordanzdemokratisch), andere Wettbewerb (mehrheitsdemokratisch) beinhalten (vgl. Benz 2006a: 100f.). Infol­ gedessen existieren in der EU verschiedene Formen demokratischer Legitimation, die aber insgesamt ein fragmentiertes Bild der Legitimationsmodi ergeben (vgl. Héritier 2003: 815). 51 Jachtenfuchs und Kohler-Koch betrachten Netzwerke als gesellschaftliche Orga­ nisationsform zwischen Markt und Staat (siehe auch Fußnote 19). Typischerweise sind diese in der EU sektoral organisiert, finden häufig bei der Politikformulie­ rung statt und beinhalten neben staatlichen Akteuren auch Interessengruppen und Verbände (vgl. Kohler-Koch 1992 und Mazey/Richardson 1993, zitiert nach Benz 1998: 351f.) und divergieren hinsichtlich des Formalisierungsgrades.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

bei Scharpf zu wenig Raum einnimmt – oder mit den Worten von Schmalz-Bruns: „der Horizont der demokratischen Selbstadaption der europäischen Institutionen [wird, Anm. J. S.] nicht weit genug geöffnet“ (Schmalz-Bruns 1997: 71). Ebenso stellt Schmalz-Bruns grundsätzlich in­ frage, dass die kollektive Identität als Voraussetzung für die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen ausschließlich an den Nationalstaat (über eine primordial gezogene Grenze) gebunden sein muss (vgl. ebd.: 70f.). Unter Verweis auf Putnam52 wendet er ein, dass sich kollektive Identitäten nicht ausschließlich innerhalb der primordial gezogenen Grenzen entwi­ ckeln, sondern auch aus zivilen Formen der rechtlich vermittelten wechsel­ seitigen Anerkennung von Personen als freie und gleiche Menschen, in zivilen Assoziationen und bürgerschaftlicher Solidarität entstehen können (vgl. ebd.: 65). Schmalz-Bruns sieht in dem Zivilgesellschaftsdiskurs eine Möglichkeit für einen konzeptionellen Zugang zur angemessenen Gestalt einer künftigen europäischen Polity, gerade weil die Zivilgesellschaft im Kern einen Modus der wechselseitigen symmetrischen Verknüpfung der verschiedenen Ebenen hat. Eben diese Verknüpfung würde damit der wechselseitigen Verschränkung von Prozessen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung auf transnationaler Ebene entgegenkommen (vgl. ebd.: 77). Damit bietet sich diese dialogische Wechselseitigkeit als regula­ tive Idee an, die über die nationalstaatlich-repräsentative Transformation der Demokratie hinausgeht (vgl. ebd., ähnlich auch Schuppert 1997: 84). Schmalz-Bruns plädiert daher für einen offenen Prozess einer sich selbst konstituierenden europäischen Bürgergesellschaft, um damit eine breite öffentliche Verfassungsdiskussion anzustoßen und somit zugleich über den wechselseitigen Dialog ein Medium der Selbsterzeugung des europä­ ischen demos zu ermöglichen und eine Stärkung der Input-Legitimation zu erreichen (vgl. ebd.: 79, ähnlich auch Schuppert 1997: 8453). Im Gegensatz 52 Robert David Putnam stieß bei einer soziologischen Untersuchung in Italien darauf, dass in sozialen und politischen Netzwerken funktional etablierte Hand­ lungszusammenhänge durchaus eine Form der Zufriedenheit mit der Regie­ rungsperformanz bewirkten, die als Alternative zu den primordial gedachten Faktoren gesehen werden kann (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 71). 53 In den freiwilligen Assoziationen (z. B. Vereinen und Verbänden) im interme­ diären Bereich stellen jene kommunikativen Prozesse den gemeinsamen Bezugs­ punkt dar, die gemeinsame Handlungszusammenhänge ermöglichen (vgl. Schup­ pert 1997: 84). Die Vereinigungsformen im intermediären Bereich der Selbstor­ ganisation (z. B. klassisches Vereinswesen, organisierte Interessen) bilden dann einen neuen Horizont der Projektion sich vielfältig überlappender kollektiver Identitäten (dies ist ein Ansatzpunkt für die Demos-Diskussion in der EU). So entsteht ein Kontinuum organisationsgestützter Vergemeinschaftungsformen,

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

zu Scharpfs Empfehlung der autonomieschonenden Integration werden in dem Ansatz von Schmalz-Bruns die eröffneten Handlungsspielräume nicht durch Exekutiven (Regierungen der Nationalstaaten, vgl. Zürn 1996: 35), sondern durch die Bürger*innengesellschaft besetzt (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 70). In diesem Sinne kann die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Assoziationen als alternative Möglichkeit für einen fehlenden Demos und eine kollektive Identität gesehen werden. In dem Modell von Cohen/Rogers (1992)54 übernehmen gesellschaftli­ che Assoziationen die Aufgabe, durch territoriale Repräsentation der po­ litischen Institutionen bedingte Ungleichgewichte in der Interessenreprä­ sentation auszutarieren sowie partikularen Gruppeninteressen durch die Ermutigung deliberativer Praktiken (Selbstaushandlung) entgegenzuwir­ ken. Darüber hinaus unterstützen die Organisationen die staatliche Politik und ermöglichen so eine größere Effektivität der Entscheidungen (vgl. Cohen/Rogers 1992: 425f.; ähnlich auch Kohler-Koch 2010: 106).55 Auf der Input-Seite der Legitimation können durch die intensivierte Einbeziehung der Assoziationen die herrschenden Asymmetrien der Interessenrepräsen­ tation abgemildert werden, sodass sich ressourcenschwache Individuen organisieren können, die auf Grundlage der territorialen Repräsentation deutlich schlechter erfasst werden können (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 82).56 Dies erscheint insbesondere vor den Defiziten des Europäischen Parla­

„die zwischen der persönlichen Lebenswelt, der bürokratisch staatlichen Welt und der assoziativen Welt des Einzelnen vermitteln“ (Schuppert 1997: 23ff., 84). Diese „katalysatorische Vermittlung“ erscheint für den EU-Kontext äußerst fruchtbar, weil hier auch stärker als in dem Modell von Scharpf Kommunikati­ onsprozesse auf horizontaler Ebene, beispielsweise zwischen zwei Gewerkschaf­ ten oder Umweltverbänden aus verschiedenen Mitgliedstaaten, möglich sind (ebd.). 54 Nachfolgend werden die wichtigsten Effekte durch die Einbeziehung von Asso­ ziationen beschrieben. 55 Cohen und Rogers identifizieren fünf Kategorien, in denen durch Assoziationen positive Wirkungen für ein Gemeinwesen entstehen. Diese können folgenderma­ ßen in die Mechanismen Input- und Output-Legitimation eingeordnet werden: Auf der Input-Seite können Gruppen einen Beitrag zur Stärkung der Volkssouve­ ränität, zur Verbesserung der politischen Gleichheit, der Verteilungsgerechtigkeit sowie eine Förderung des zivilen Bewusstseins der Bürger*innen leisten (vgl. Cohen/Rogers 1992). Die Output-Legitimation kann Gruppen stärken, indem durch ihre Einbeziehung die ökonomische Performanz und die staatliche Leis­ tungsfähigkeit gefördert werden (vgl. ebd.). 56 Eine Ausweitung der direkten Partizipation wird deshalb auch unter dem Stich­ wort „Funktionale Repräsentation“ diskutiert (z.B. Kohler-Koch 2010): Demnach sind die Bürger*innen in der EU-Gesetzgebung durch die Assoziationen und

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

ments (z. B. niedrige Wahlbeteiligung, Probleme des europäischen Wahl­ rechtes) ein wichtiger Punkt auf europäischer Ebene. Auf der Output-Seite ermöglichen die Konsultationen und die Beteiligung von Verbänden und Assoziationen in Politiknetzwerken rund um die Kommission eine größe­ re Reichweite des Problems bei den Entscheidungsträger*innen (vgl. auch Benz 1998: 23; Héritier 2003: 829).57 Zudem übernehmen die Gruppen eine „Zulieferfunktion“ für den Staat, indem sie durch Partizipation Infor­ mationen beschaffen (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 78, 82). Die Idee einer Zulieferleistung und eine effektivere Entscheidungsfindung durch mehr Expertise sowie die transnationale Vernetzung als Möglichkeit für punkt­ genaue Kanalisierung von Kommunikationsflüssen durch die Verbände erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der enormen Komplexität der Politikformulierung in der EU als legitimationsförderlich. Einen etwas anderen – und auf zivilgesellschaftliche Beteiligung58 im engeren Sinne zugeschnittenen – Ansatz verfolgt Hubert Heinelt (1998) vor dem Hintergrund des Sektorenmodells59 der Politik. Zivilgesellschaftli­ che Beteiligung ist für ihn als intermediäre Sphäre konzeptualisiert, die sich zu den anderen Bereichen (politisches System, Markt, individueller Bereich) komplementär verhält und über Brückeninstanzen60 mit diesen

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Gruppen repräsentiert – dies entspricht einer Repräsentation, gebaut auf dem Ausdruck von Präferenzen (vgl. Kohler-Koch 2010: 107). Die Idee einer Zulieferfunktion von Informationen könnte auch unter der Perspektive der Input-Legitimation als partikularer Kanal der Willensbildung diskutiert werden. In diesem Sinne sollen die Konsultationsangebote die Willens­ bildungsprozesse effektiver gestalten. Da die Information doch an dieser Stelle vorrangig die Effektivität und die Problemlösungsfähigkeit der Entscheidungen erhöht, wird dieses Argument hier vorrangig unter der Output-Perspektive be­ trachtet. Er unterscheidet zivilgesellschaftliche von verbandlicher Beteiligung. Zivilgesell­ schaftliche Beteiligung ist für ihn durch öffentlich-dialogische Kommunikation, verbandliche Beteiligung durch eine selbstbezogene Kommunikation gekenn­ zeichnet (vgl. Heinelt 1998: 87). In diesem Modell erscheint ein demokratisch verfasstes politisches System nicht als ein „Regime“, sondern als eine Komposition von verschiedenen „Teilregi­ men“ (Heinelt 1998: 83), das aus sehr komplexen Institutionensystem mit verschiedenen Formen der Interessenartikulation und -vermittlung sowie gesell­ schaftlich verbindlicher Entscheidungsfindung besteht. Brückeninstanzen (vgl. Evers 1991: 233) sind Teil des zivilgesellschaftlichen Sek­ tors (intermediäre Sphäre) und verbinden diesen direkt mit dem Kernbereich des politischen Systems, da sie organisatorisch daran angelagert sind. Sie vermitteln zivilgesellschaftlich hervorgebrachte Problemdefinitionen an den Kernbereich des politischen Systems (vgl. Heinelt 1998: 84). Brückeninstanzen werden auf EU-Ebene von der Kommission durch Organisationshilfen etabliert.

1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

in Verbindung steht (vgl. Heinelt 1998: 87). Die Verbindung über die Zi­ vilgesellschaft ist entscheidend für die Konstituierung einer Öffentlichkeit, die sich durch argumentative Kommunikationsprozesse auszeichnet, in de­ nen die Beteiligten wechselseitig-dialogisch aufeinander bezogen handeln und Beteiligung prinzipiell offen ist. Im Mittelpunkt seines Modells steht die zivilgesellschaftliche Partizipati­ on an Politiknetzwerken rund um die EU-Kommission im Rahmen der Policy-Formulierung (vgl. Heinelt 1998: 92). Auch bei Heinelt soll Partizi­ pation durch die Zivilgesellschaft in der EU sowohl die Effektivität (Zieler­ reichung) von politischer Intervention verbessern als auch zusätzlich die Legitimität (eher zu verstehen als Input-Legitimation)61 politischer Inter­ vention erhöhen (vgl. Heinelt 1998: 91). So soll zum einen die Berücksich­ tigung der Motive der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in dem Prozess gesichert (Input-Legitimation) und zum anderen Folgebereitschaft der Po­ litikadressat*innen und somit die Effektivität der politischen Intervention (Output-Legitimation) erhöht werden. Zudem können so auch die steue­ rungsrelevanten Wirkungszusammenhänge durch das eingebrachte Wissen ermittelt werden (vgl. Mayntz 1987: 96f.). Heinelt hebt zusätzlich als positive Effekte auf der Input-Seite her­ vor, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen die EU-Kommission darüber hinaus mit Informationen „von unten“ und Gegenexpert*innen versorgen können (Heinelt 1998: 93). Gerade die Berücksichtigung der Gegenexpert*innen aus der Zivilgesellschaft erhöht die „Repräsentativi­ tät“ einbezogener Interessen bei den Kommissionsvorschlägen. Auf diese Weise sollen die Pluralität der einbezogenen Sichtweisen erhöht und et­ waige Partialinteressen zurückgedrängt – und somit die Legitimität auf der Input-Seite erhöht werden (vgl. ebd.). Da zivilgesellschaftliche Ak­ teur*innen auf einer lebensweltlichen Handlungsorientierung und wech­ selseitig-dialogischen Argumentation fußen, können sie darüber hinaus die europäischen Entscheidungen und Entwürfe der EU-Kommission an die Lebenswelt der Bürger*innen rückkoppeln und somit eine Responsivi­ tät herstellen (vgl. ebd.: 94f.; auch Eising 2001: 32062). Folglich haben die „Gremiennetzwerke“ oder Politiknetzwerke (Grote 1990: 241f., zitiert

61 Die Terminologie ist bei Heinelt abweichend. So unterscheidet er zwischen Legitimation und Steuerungseffektivität. Dabei kann seine Legitimation der In­ put-Legitimation von Scharpf zugeordnet werden, während das Kriterium von Steuerungseffektivität der Output-Legitimation von Scharpf entspricht. 62 Bei Eising (2001) erfolgt allerdings keine Unterscheidung zwischen Verbänden und der Zivilgesellschaft.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

nach Heinelt 1998: 94) um die Kommission eine kaum zu überschätzende Vermittlungsfunktion, die Entscheidungen der EU-Kommission an die Lebenswirklichkeit der Betroffenen zurück zu koppeln. Denn die zivilge­ sellschaftliche Partizipation ist „offen“ für institutionalisierte Verfahren auf EU-Ebene und schlägt die Brücke zu demokratischer Partizipation vor Ort (vgl. ebd.: 95). Darüber hinaus generiert das eingebrachte Wissen der Zivilgesellschaft „spezifische Unterstützung“63 der Bürger*innen für ein­ zelne Interventionen (vgl. ebd.: 94). Dabei sind die zivilgesellschaftlichen Brückeninstanzen den verbandlichen Akteur*innen insofern überlegen, als dass diese nicht so sehr auf eine Rückkopplung an die nationalen Verbän­ desysteme angewiesen sind.64 Für zivilgesellschaftliche Brückeninstanzen ist vielmehr entscheidend, dass die zivilgesellschaftlich dialogisch-struktu­ rierte Öffentlichkeit EU-weit Einfluss gewinnt (vgl. Heinelt 1998: 95).65 Entsprechend empfiehlt Heinelt, die Prozesse im Mehrebenensystem argu­ mentativer und stärker öffentlich-dialogisch verständigend zwischen den Ebenen auszubauen (vgl. Heinelt 1998: 95f.). Einbindung der Assoziationen in die repräsentativen Institutionen Eine Erhöhung der Legitimation der EU durch die Beteiligung von As­ soziationen soll keineswegs die anderen Repräsentationsformen ersetzen (wie territoriale Repräsentation im Rat und parteipolitische Repräsentati­ on im EU-Parlament), sondern in einer Kombination der unterschiedli­

63 Spezifische Unterstützung bezieht sich bei Easton (1975: 439) auf einen spezifi­ schen Output bzw. ein spezielles Ergebnis von politischen Entscheider*innen oder aber auf eine spezifische Handlung und richtet sich an konkrete Personen oder Institutionen. Davon unterscheidet Easton diffuse Unterstützung, die deut­ lich längerfristig orientiert ist und sich darauf bezieht, was ein Regime oder eine politische Gemeinschaft (z. B. das politische System oder das Land), die sich auf tieferliegende Einstellungen für jemanden beziehen. Sie speist sich aus Erfahrungen und Sozialisation und ist nur über einen längeren Zeitraum durch konkrete Ereignisse veränderbar (vgl. Easton 1975: 445f.) 64 Diese haben das Problem, dass die Dachverbände häufig von den nationalen Verbändesystemen entkoppelt sind, so wie auch in den verschiedenen Mitglied­ staaten unterschiedliche Verbändesysteme existieren (vgl. Heinelt 1998: 95). 65 In einem ähnlichen Sinne beschreibt Kohler-Koch (vgl. 2007: 258) die Entste­ hung einer transnationalen Öffentlichkeit mit europaweiter Aufmerksamkeit für EU-Themen, die über die Elitenkommunikation hinausgehen soll – dies kann gerade durch die zivilgesellschaftlichen Brückeninstanzen bei Heinelt ermöglicht werden.

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

chen Formen eine Demokratisierung erreichen (vgl. Benz 1998: 348f.; ähnlich auch Héritier 2003; Huget 2007: 184).. Dabei wird nicht zwin­ gend eine Mitentscheidung durch Assoziationen gefordert, ihre Legitima­ tionswirkung wird in einer verbesserten Interessenvermittlung gesehen (vgl. Benz 1998: 352). Es braucht dafür erstens ein Zusammenspiel von Bürger*innenrechten, Bürger*innenqualifikationen und institutionellen Arrangements (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 77f., mit Bezug auf Buchstein 1996: 314 ff. und Offe 1996: 156). Insbesondere bei Letzterem stehen die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Institutionen und Netzwer­ ken mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und die Verteilung der politi­ schen Verantwortung im Mittelpunkt. Wichtig sei laut Oeter (vgl. 1995: 694ff.; zitiert nach Schmalz-Bruns 1998: 83), dass sich nicht ein System organisierter Verantwortungslosigkeit einspielt. Dabei haben Netzwerke die charakteristischen Eigenschaften, inter- und intraorganisatorische Pro­ zesse lose zu koppeln und Organisationsbeziehungen weitgehend informell zu stiften. Dies begünstigt die in Kapitel 1.1 beschriebene Gefahr der Informalisierung der Willensbildungsprozesse und damit einhergehend der eingeschränkten Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Vielmehr müssten auch die Interessengruppen, Assoziationen und Politiknetzwerke bestimmten Mindestanforderungen genügen, „da diese an sich zunächst erst einmal keine unschuldigen Instrumente der Demokratisierung sind“ (Schmalz-Bruns 1997: 73; vgl. auch Eising 2001: 322). Als solch eine Min­ destanforderung ist beispielsweise zu sehen, dass die Netzwerke inklusiv gestaltet sind: Dies meint sowohl, dass alle Interessierten und potenziell Betroffenen die Möglichkeit haben, an dem Netzwerk teilzunehmen. Zu­ dem müssen alle Mitgliedstaaten in dem Netzwerk vertreten sein und die relevanten funktionalen Domänen abdecken (vgl. ebd.). Darüber hinaus müssen sie auch ein Mindestmaß an innerer, d. h. innerorganisatorischer Demokratie aufweisen und offenlegen, welche Interessen sie vertreten, und die wichtigsten Organisationsmerkmale darlegen (vgl. ebd.). In die­ sem Zusammenhang verweisen die Vertreter*innen der assoziativen De­ mokratie auch auf die gezielte Aktivierung in die assoziative Infrastruktur der EU durch den Staat bzw. die EU-Institutionen (vgl. Cohen/Rogers 1992: 444f., 451; Schmalz-Bruns 1997: 79).66 Diesen kommt dabei insbe­ sondere die Aufgabe zu, unterrepräsentierte Gruppen zu unterstützen, um dadurch die egalitäre politische Partizipation von Gruppen zu stärken (vgl. Eising 2001: 295; Schmitter 2001, zitiert nach Héritier 2003: 818; 66 Huget (vgl. 2007: 188) fragt dabei kritisch an, inwiefern der Staat das Recht habe, in unabhängige Verbände einzugreifen.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

Schuppert 1997: 126).67 Auch in dem Modell von Heinelt werden Grenzen von zivilgesellschaftlicher Partizipation durch Funktionserfordernisse der Sektoren aufgezeigt: Dabei kommen vor allem die Problemlösungs- und Koordinationsfähigkeit von Verhandlungssystemen (tendenziell begrenzt und geschützt) und die Funktionslogik der zivilgesellschaftlichen Interes­ senvermittlung (tendenziell offen und dialogisch) an ihre Grenzen (vgl. Heinelt 1998: 96).68 Vertreter*innen des assoziativen Ansatzes erkennen grundsätzlich das Problem der demokratischen Legitimation von Netzwerken an, das in der Einbeziehung von nicht unmittelbar demokratisch legitimierten Ak­ teur*innen (wie Assoziationen) liegt. Gleichwohl erscheint ein Ausschluss von Organisationen aus ihrer Sicht schwierig, da es so zu einem Effizi­ enzdefizit für die Netzwerke in einer auf Effizienz angewiesenen EU kom­ men würde (vgl. Benz 1996: 31ff.; Schmalz-Bruns 1997: 85). Schuppert plädiert daher für ein abgestuftes Legitimationskonzept, das den pluralisti­ schen Gegebenheiten auf EU-Ebene entgegenkäme, d. h. das Verfassungsund Organisationsrecht sollte dem objektiven Bedeutungszuwachs der Gruppen nachkommen und ihnen eine „strukturelle Steuerungsfunktion“ (Schuppert 1997: 147ff.) zuweisen (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 85). Ein Bei­ spiel in diesem Sinne ist die Aufnahme der Europäischen Bürgerinitiati­ ve69 in den Vertrag von Lissabon (in Artikel 11 EUV).

67 In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag von Philippe C. Schmitter, der darauf ausgerichtet ist, die eingesetzten Ressourcen zu vergrößern und so die Grundlagen für assoziatives Handeln zu verbreitern (vgl. Schuppert 1997: 126). Gemeinsam ist beiden eine aktive Assoziationspolitik des Staates, in der durch öffentliches Engagement verschiedene Assoziationsformen befördert und darüber hinaus auch bestimmte Rahmenbedingungen für eine ausdifferenzierte Vielfalt an Assoziationsformen geschaffen werden (vgl. ebd.: 127). 68 Die Problemlösungs- und Koordinationsfähigkeit von Verhandlungssystemen ist abhängig von einer begrenzten Anzahl der Beteiligten, die in einem von der Öffentlichkeit geschützten Bereich kontrovers agieren können (um beispielsweise auf kurzfristige Vorteile zu verzichten oder Paketlösungen zu erreichen, vgl. Heinelt 1998: 96). Dabei kommt jedoch die Funktionslogik der zivilgesellschaft­ lichen Interessenvermittlung an ihre Grenzen, die eine öffentlich-dialogische Kommunikation im Sektor darüber diskutiert (vgl. ebd.). Deshalb werden die zivilgesellschaftlichen Organisationen teilweise auch kritisch vonseiten der Kom­ mission betrachtet (vgl. ebd.). 69 Da es sich um eine Fachbezeichnung für ein politisches Verfahren handelt, wird dieser Begriff nicht gegendert (ausführlicher zur EBI, siehe Kapitel 4.3.2.5).

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

1.2.2.2 Ansätze deliberativer Demokratie Auch deliberative Ansätze70 sprechen sich für eine Ausweitung direkter Partizipation aus, gleichwohl liegt ihr Fokus stärker auf dem Entschei­ dungsmodus, der vernünftiges Argumentieren fördert, denn auf der Einbe­ ziehung von Organisationen wie in assoziativen Ansätzen. Stellvertretend für deliberative Ansätze werden hier zum einen der deliberative Suprana­ tionalismus von Joerges und Neyer (1997, 1998, 2014) und der darauf aufbauende Ansatz der direkt-deliberativen Polyarchie von Gerstenberg und Sabel (2002) vorgestellt. Diese wurden ausgewählt, da sich beide expli­ zit auf die EU beziehen und europäische Willensbildungs- und Entschei­ dungsstrukturen, wie die Komitologie oder das Verfahren der Offenen Methode der Koordinierung (OMK), theoretisch begründen. 1.2.2.2.1 Deliberativer Supranationalismus Auch Joerges und Neyer sehen als Ansatzpunkt der Legitimationsproble­ me der EU die Schwäche des Europäischen Parlamentes71, an der auch institutionelle Aufwertungen wie das Mitentscheidungsverfahren (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355) nicht viel ändern können.72 Da die EU auf an­ deren Ordnungsprinzipien als Nationalstaaten aufbaue, verbiete sich eine Legitimierung über majoritäre Formen der Demokratie auch jenseits der institutionellen Schwäche des EU-Parlaments (vgl. Joerges/Neyer 1997: 621; dies. 2014: 356f.; ähnlich auch Héritier 1999: 269): Denn in der EU ist nicht die individuelle Gleichheit das zentrale Ordnungsprinzip, sondern der Ausgleich zwischen individueller und staatlicher Gleichheit73. Darüber hinaus argumentieren die Autoren, dass der EU im Gegensatz 70 Andere Konzepte deliberativer Demokratie sind bei Jürgen Habermas zu finden, bezogen auf den EU-Kontext siehe dazu beispielsweise Habermas (1999). 71 Das Bundesverfassungsgericht kritisierte, dass das Europäische Parlament mit dem Prinzip der degressiven Proportionalität (siehe übernächste Fußnote) gegen das Kriterium der politischen Gleichheit verstoße (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355). 72 In einer jüngeren Arbeit (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355) kritisieren sie dahinge­ hend, dass die finanzpolitischen Maßnahmen der EU nach der Eurokrise anhand der gouvernementalen Methode im Europäischen Rat ohne jegliche Einbezie­ hung des Europäischen Parlamentes getroffen wurden. 73 Darunter verstehen die Autoren auch die degressive Proportionalität des Europä­ ischen Parlamentes, die die Sitzplätze der Abgeordneten zwischen der Größe der Mitgliedstaaten ausbalanciert. Hierbei sind insbesondere kleinere Mitgliedstaaten wie Malta oder Zypern im Vorteil gegenüber großen und bevölkerungsreichen

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

zu ihren Mitgliedstaaten das Gewaltmonopol fehle (vgl. Joerges/Neyer 2014: 356f.)74. Weiterhin sehen sie als gewichtiges Argument gegen eine Übertragung nationalstaatlicher Modelle der Demokratie auf die EU wie bei Fritz W. Scharpf, dass die Mehrheit der EU-Bürger*innen und der mitgliedstaatlichen Parlamente den nicht-demokratischen Charakter der EU unterstützte und kein Interesse daran habe, diesen zu überwinden (vgl. ebd.: 357). Gleichwohl wollen die Bürger*innen der EU nicht zu den Grenzen nationaler Volkswirtschaften zurückkehren und die erreichten Erfolge umkehren (vgl. ebd.).75 Als Beleg dafür führen die Autoren an, dass der spezifische Charakter der EU in demokratischen Prozessen der Mitgliedstaaten zustande gekommen ist, für den Ausbau einer stärkeren Parlamentarisierung der EU hingegen keine Mehrheiten in den Mitglied­ staaten erkennbar seien (vgl. Joerges/Neyer 1997: 621; dies. 1998: 229). Joerges und Neyer sehen Anknüpfungspunkte für eine normative Be­ gründung der EU-Integration darin, dass erst dadurch die externen Effekte, die ein Mitgliedstaat in einer derart engen Vernetzung auf einen anderen hat, durch die EU ausbalanciert werden können – und mithin innerstaatli­ che Demokratie wieder hergestellt werden kann (vgl. Joerges/Neyer 1997: 610; dies. 2014: 354f.). Darin sehen sie zwar eine notwendige Begründung der europäischen Integration, jedoch keine hinreichende Bedingung der Legitimität von europäischem Regieren (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355). Da eine solche aus Sicht von Joerges und Neyer nach wie vor aussteht, stimmen sie mit Scharpf überein, dass die EU keine Legitimation für redistributive Maßnahmen und Eingriffe in Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten habe (vgl. Weiler 2001, zitiert nach Joerges/Neyer 2014: 354). Gleichwohl sehen sie diesen Grundsatz in der Realität als verletzt an. Insbesondere sehen sie hier das Handeln der nicht-politischen Institutio­ nen von EZB und EU-Kommission im Rahmen der erlassenen finanzpoli­ tischen Maßnahmen nach der Finanzkrise 2008 äußerst kritisch (vgl. ebd.).

Staaten wie Deutschland – die individuelle Gleichheit eines*r Malteser*in wiegt folglich mehr als die individuelle Gleichheit eines*r Deutschen (vgl. ebd.: 357). 74 Dies zeigt sich beispielsweise an der Schwierigkeit, die Mitgliedstaaten Polen und Ungarn zu einer Einhaltung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu bewegen. 75 Eindrücklich waren in diesem Sinne die Schlangen der LKWs an der deutsch-pol­ nischen Grenze im Frühjahr 2020, als es infolge der Corona-Krise zu kurzzeitigen Grenzschließungen innerhalb der EU kam.

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

Begründung für mehr Partizipation und dadurch erhoffte positive Effekte bei Joerges und Neyer Trotz der vorgebrachten Bedenken gegen die nicht-politischen Institutio­ nen beobachten Joerges und Neyer einen Ansatzpunkt für eine stärkere europäische Legitimität gerade bei der nicht-politischen Institution EUKommission: In den Ausschüssen der Komitologie im Lebensmittelsektor konnten sie einen eigenen europäischen Entscheidungsmodus unter den nationalen Delegierten identifizieren, der durch die Suche nach einer für alle akzeptablen Lösung gekennzeichnet ist (vgl. Joerges/Neyer 1997: 618; dies. 1998: 213, 214, 222, 223;).76 Dabei stießen sie ebenso auf eine gewisse „kollektive Identität“ unter den langjährigen nationalen Delegier­ ten, die sich weniger als nationale Vertreter*innen betrachteten, denn als gemeinsame Mitglieder des Ausschusses (vgl. Joerges/Neyer 1998: 222). In diesem Sinne identifizierten Joerges und Neyer folglich Potenziale für eine Stärkung der Input-Legitimation durch direkte Partizipation. Dabei ent­ wickelten sich die Delegierten langsam von nationalen, selbstbezogenen Vertreter*innen zu Repräsentant*innen einer europäischen interadminis­ trativen diskursiven Sphäre, die gekennzeichnet ist von gegenseitigem Ler­ nen und der Suche nach gemeinsamen Lösungen (vgl. Joerges/Neyer 1997: 620). So werden auch diejenigen Interessen mitgedacht, die nicht direkt im Gremium vertreten sind (vgl. Kohler-Koch 2007: 261). In diesem Sinne diagnostizieren sie auch positive Effekte auf der Output-Seite durch Parti­ zipation. Dieser auf Argumenten und gegenseitigem Lernen basierende Arbeits- und Entscheidungsstil konnte weder durch die gängigen Theorien

76 Grundlage dafür war die Ausweitung des Binnenmarktes (1985) und damit einhergehend die Ausweitung der zu bearbeitenden Aufgabenfelder. In der Ein­ heitlichen Europäischen Akte (EEA) wurden sogenannte Durchführungsrechte, eigene Exekutivkompetenzen, von den Mitgliedstaaten an die EU-Kommission gewiesen (vgl. Joerges/Neyer 1997: 614). In diesen Bereichen konnte die EUKommission selbst gesetzgeberisch tätig werden. Gleichwohl wollten die Mit­ gliedstaaten der Kommission doch nicht die Hoheit über die Steuerung der Integrationsprozesse überlassen. Daher wurden am 13. Juli 1987 die sogenannten „Komitologieentscheidungen“ vom Rat getroffen, in denen eine kooperative Ent­ scheidungsfindung vereinbart wurde (vgl. ebd.). Zu diesem Zweck entschieden in den Komitologieausschüssen die Delegierten der Mitgliedstaaten unter Vorsitz der Europäischen Kommission in den entsprechenden Bereichen. Gleichwohl verfügte die Kommission über weitere Ausschüsse in diesen Bereichen (wie wis­ senschaftliche Ausschüsse) und hatte eine Reihe von Kompetenzen durch ihre Rolle als Vorsitzende (vgl. ebd.).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

des Intergouvernementalismus77 noch des Funktionalismus78 überzeugend erklärt werden. Vielmehr sind soziale Systeme, wie die Ausschüsse der Ko­ mitologie, nicht nur die Summe ihrer Produkte, sondern üben einen auto­ nomen Einfluss auf das Verhalten der Beteiligten aus (vgl. Joerges/Neyer 1997: 618). Aus Sicht der beiden Autoren entsteht der auf Argumenten basierende deliberative Verhandlungsstil79 gerade in den Ausschüssen der Komitologie, weil die Praxisarbeit der Ausschüsse konstitutionell durch die EU-Kommission in ein europäisches Rechtssystem eingebunden ist (vgl. Joerges/Neyer 1998: 224).80 Denn durch das europäische Recht und 77 Theoretiker des Intergouvernementalismus, wie etwa Andrew Moravcsik (2002), sehen Staaten als die handelnden Akteure in der EU an. Eine Durchsetzung von bestimmten Positionen in den Komitologieausschüssen würden sie entsprechend als Ergebnis der Verhandlungsmacht von starken Staaten in den Ausschüssen erklären (vgl. Joerges/Neyer 1998: 224). Der Ansatz übersieht nach Joerges und Neyer (vgl. 2014: 356) die tiefen Einschnitte durch europäisches Recht und kann im Fall der Komitologieausschüsse nicht erklären, warum die Delegierten von partikularen Zielen abweichen und stattdessen nach gemeinsamen Lösungen suchen, die im Sinne aller Teilnehmenden sind (vgl. Joerges/Neyer 1997: 618). 78 Der Supranationalismus geht davon aus, dass europäische Institutionen wie die EU-Kommission den Einfluss der Mitgliedstaaten in einer Art und Weise kanali­ sieren, die mit europäischen Interessen kompatibel ist (vgl. Joerges/Neyer 1997: 617). Dabei wird die starke Rolle der EU-Kommission in den Ausschüssen be­ tont, indem sie durch die Leitung der Ausschüsse deren Agenda bestimmen kann oder Abstimmungen und Entwürfe anordnen kann (vgl. Joerges/Neyer 1998: 213). In diese Perspektive fügt sich auch die Kritik von Delegierten, dass die EU-Kommission die eigenen Kompetenzen zu sehr ausreizt und den Verhand­ lungsprozess dominiert (vgl. Joerges/Neyer 1997: 617). Der Supranationalismus übersieht nichtsdestotrotz den prägenden Einfluss auf die Delegierten und Unter­ schiede der Verhandlungsmacht von Mitgliedstaaten, die durch den Intergouver­ nementalismus erklärt werden können. 79 Joerges und Neyer verstehen unter Deliberation eine sehr anspruchsvolle Form der politischen Interaktion, in der argumentative Sprechakte unter Bezug auf anerkannte Rechtsgrundsätze formuliert und im Fall nicht erfolgter Einigung unter den Verhandlungsparteien der Bewertung durch unabhängige Dritte unter­ zogen werden (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355). Sie meinen damit jedoch nicht die unverbindlichen und geheimen Beratungen im Europäischen Rat oder in intergouvernementalen Gremien (vgl. ebd.). 80 Joerges und Neyer gestehen zu, dass es im Zweifel nicht möglich ist, die Argu­ mente und die dahinterstehenden Motive der Delegierten für eine Entscheidung zu klären, d. h. eine Unterscheidung zwischen rationalem und strategischem Ent­ scheiden trennscharf vorzunehmen. Gleichwohl ist dies für sie kein Widerspruch, der dazu führt, die Qualität der Entscheidungsfindungsprozesse in der Komitolo­ gie herabzuwürdigen. Vielmehr sprechen gerade diese Zweifel für einen Aufbau und die Förderung von Institutionen, die den argumentativen Austausch und deren Würdigung in Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen stärkt bzw.

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die EU-Kommission wird die Spannweite der Argumente reduziert, die die Delegierten in ihren Verhandlungen in der Komitologie nutzen kön­ nen – es wird mithin eine gemeinsame Problemlösung begünstigt (vgl. Kohler-Koch 2007: 261). Deshalb sollte diese rechtliche Einbindung, d. h. beispielsweise die Beratung der Delegierten unter Vorsitz der EU-Kom­ mission und unter Hinzuziehung von wissenschaftlichen Expert*innen, basierend auf dem Austausch von gegenseitigen Erfahrungen in den Mit­ gliedstaaten, stärker ausgebaut und eine Verpflichtung der EU-Kommissi­ on zur Förderung gemeinsamer Problemlösungen erlassen werden (vgl. Joerges/Neyer 1998: 230). Dabei betonen die Autoren insbesondere die Rolle der Verrechtlichung der Bedingungen für eine Stärkung der delibe­ rativen Entscheidungsfindung in der EU – ebenso wie die Überprüfung der Verhandlungsparteien im Falle einer nicht erfolgten Einigung von einer unabhängigen Instanz, beispielsweise der EU-Kommission oder dem Europäischen Gerichtshof (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355). An dieser Stelle wird einerseits die Abgrenzung von etwaigen Entscheidungsprozessen im Europäischen Rat erkennbar, da diese geheim und durch ein unverbindli­ ches Beraten gekennzeichnet sind (vgl. ebd.).81 Andererseits zeigt sich die Überschneidung mit der assoziativen Demokratie: Denn auch Joerges und Neyer plädieren in ihrem Ansatz des deliberativen Supranationalismus für eine stärkere Beteiligung von Assoziationen, Expert*innen sowie von den Entscheidungen unmittelbar Betroffenen (vgl. Joerges/Neyer 1997: 610, 620; dies. 1998: 230). Allerdings setzt der deliberative Supranationalismus seinen Akzent auf die Bedingungen der Entscheidungsfindung, während die assoziative Demokratie den Fokus auf die verstärkte Einbeziehung und Förderung der Assoziationen legt.82

durch eine rechtliche Einbindung Entscheidungsprozesse dahingehend stärkt (vgl. Joerges/Neyer 1998: 224). 81 Joerges und Neyer unterscheiden zwischen dem unverbindlichen Argumentieren auf der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Sitzungen und rechtlich verbindlicher Deliberation, d. h. gemeinsamer Problemlösung durch den Austausch von Argu­ menten unter Bezugnahme auf Rechtsgrundsätze. Sie betonen an dieser Stelle auch die Wichtigkeit des Europäischen Gerichtshofs für die Gestaltung und – im Fall noch nicht erfolgter Einigung der Verhandlungsparteien– auch die recht­ liche Durchsetzung von argumentbasierten Entscheidungen (vgl. Joerges/Neyer 2014: 355). 82 Auch Joerges und Neyer betonen die Wichtigkeit der intermediären Sphäre im Sinne einer Öffentlichkeit für Willensbildung und den Rechtsstaat (vgl. Joerges/ Neyer 1997: 609), gleichwohl fokussieren sie weniger auf Organisationen als Assoziationen und betrachten dies vorrangig unter dem Blick der Legitimations­ voraussetzung für den Nationalstaat (vgl. ebd.).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

Durch diese Öffnung der Entscheidungsfindung erhoffen sich Joerges und Neyer Potenziale auf der Input- und Output-Seite der Demokratie. Dabei entstehen durch die gemeinsame Problemlösung und das gegenseiti­ ge Lernen Ansatzpunkte für Lösungen im Sinne aller sowie auch Effizienz­ steigerungen bei den Entscheidungen (Stärkung der Output-Legitimität). Dieser Aspekt ist für Joerges und Neyer auch relevant. Gleichwohl ist der entscheidende Punkt, dass über die Strukturen in der Komitologie die nationalen Delegierten die Rolle wechseln und zu europäischen Vertre­ ter*innen werden. Dieser Ansatzpunkt einer gewissen kollektiven Identität und einer Stärkung der Input-Legitimität stellt für die Autoren einen An­ satzpunkt für den Kern der Legitimität von europäischem Regieren dar (vgl. Joerges/Neyer 2014: 353).83 Sie beschreiben, „wie sich in der Praxis des Europäischen Ausschusswesens eine rechts­ basierte Form der supranationalen Politikdeliberation entwickelt hat, die nationale Egoismen zähmt, zivilgesellschaftliche Gruppen einbin­ det und alle Beteiligten auf einen Diskurs verpflichtet, der an europä­ ischen und nicht mehr an nationalen Zielen orientiert ist“ (Joerges/ Neyer 2014: 353). Die Beobachtung dieser genuin transnationalen Governance-Strukturen in der Komitologie ist für Joerges und Neyer gleichwohl eher eine Problem­ definition als das Endergebnis ihrer Arbeit (vgl. Joerges/Neyer 1998: 224f.; dies. 1997: 621). Als allgemeine Perspektive, die ihren Befunden bezüglich der Komitologie Rechnung trägt, wählen sie den deliberativen Suprana­ tionalismus84, der auf eine rechtliche Konstituierung angewiesen ist (vgl. Joerges/Neyer 1998: 225). Der deliberative Supranationalismus sieht die Legitimität der EU als eine supranationale Organisation in der Tatsache, dass diese effektiv die aus der Interdependenz der Mitgliedstaaten entste­ 83 Kritisch wurde gegen ihre Ergebnisse eingewendet, dass die ausgewählten Fall­ studien im Lebensmittelsektor nicht repräsentativ seien und diese nicht den demokratischen Standards in Form einer parlamentarisch-repräsentativen und inklusiven Form des Regierens standhielten (vgl. Joerges/Neyer 2014: 353). 84 Dabei sehen Joerges und Neyer in dem Konzept des deliberativen Supranatio­ nalismus nicht bloß ein abstraktes normatives Ideal. Vielmehr geht es um ein Konzept, das die Zusammenhanglosigkeit der Aussagen zur Komitologie selbst innerhalb der Rechtswissenschaft überwinden soll und den Status einer rechts­ wissenschaftlichen Theorie des Integrationsprozesses beansprucht (vgl. Joerges 1996; zitiert nach Joerges/Neyer 1998: 208). Zugleich wird so versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen den normativen Orientierungen und analytisch-em­ pirischen Ansätzen in der Politikwissenschaft und den „konstitutionalistischen“ Rechtstheorien (vgl. Joerges/Neyer 1998: 208).

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

hende Effekte auf die europäischen Nationalstaaten managt (vgl. Joerges/ Neyer 2014: 355; dies. 1997: 621).85 Eine Chance für die Bürger*innen sehen sie zudem darin, dass die Eu­ ropäisierungsprozesse das Wissen der Bürger*innen erweitern, das diese für komplexe Auseinandersetzungen benötigen (vgl. Joerges/Neyer 1998: 229f.; Kohler-Koch 2007: 258) – und mithin Öffentlichkeit herstellen (vgl. Schmidt 2010: 9). Insofern kann die Legitimität der europäischen Ent­ scheidungen erhöht werden, wenn die politischen Auseinandersetzungen in deliberative Formen gebracht werden (vgl. Joerges/Neyer 1998: 229f.). Ebenso kann die EU auch herrschaftsdisziplinierend und emanzipatorisch wirken, da Bürger*innen überstaatliches europäisches Recht gegen ihre nationalen Regierungen anwenden können (vgl. ebd.; Joerges/Neyer 2014: 358; allgemeiner Hoecker 2006: 7)86. In diesem Sinne würde eine Stärkung der Output-Legitimation durch eine bessere Kontrolle über mehr direkte Beteiligung erreicht werden – dies ist gerade für den europäischen Kontext wichtig, da hier die institutionellen Kontrollmechanismen über den unita­ rischen Kanal der demokratischen Willensbildung nur schwach ausgeprägt sind (siehe Kapitel 1.1). 1.2.2.2.2 Direkt-deliberative Polyarchie Eine ähnliche, auf Joerges und Neyer aufbauende Theorie ist die direktdeliberative Polyarchie von Gerstenberg und Sabel (2002). Sie sehen als Ideal ein System, in dem die direkte Einbeziehung von gesellschaftlichen Akteur*innen mit unterschiedlicher Erfahrung neue Ideen generieren soll und in dem durch Deliberation auch Veränderungen von Denkweisen 85 Der Fokus von europäischer Legitimität liegt mithin auf zwischenstaatlicher Kooperation; nicht auf einer Legitimität als Demokratie, die nationalstaatlich verhaftet bleibt. Deliberative Demokratien erfordern vielmehr eine umfassende (europäische) Staatswerdung mit voll ausgebildeten reflexiven Prozessen gesell­ schaftlicher Selbstbestimmung (vgl. Schmalz-Bruns 2010), also ein starkes supra­ nationales Parlament, individuelle Rechte und eine breite gesellschaftliche Teil­ habe (vgl. Joerges/Neyer 2014: 353). Vielmehr geht es bei dem deliberativen Supranationalismus darum, dass die EU gerade die Unzulänglichkeiten der natio­ nal organisierten Demokratien abfangen kann (vgl. Joerges/Neyer 1997: 611; dies. 1998: 225). 86 Dieser Gedanke entstammt einer theoretischen Weiterentwicklung von Neyer (2012), dem Recht auf Rechtfertigung. Danach schafft Supranationalität einen Raum für Rechtfertigungsdiskurse und transformiert internationales Verhandeln in Rechtfertigungsdiskurse (vgl. Joerges/Neyer 2014: 358).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

entstehen können (vgl. Kohler-Koch 2010: 104). Dabei eignet sich der EU-Kontext insbesondere für das Hervorbringen von Innovationspotenzi­ al durch eine direkt-deliberative Einbeziehung, weil hier durch die unter­ schiedlichen nationalen Erfahrungen verschiedene Konzepte gegenseitiges Lernen begünstigen (vgl. ebd.). Ihr Modell verzichtet auch auf eine Regel­ setzung durch Hierarchie (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 80). Sie lehnen das nationalstaatlich orientierte Modell der demokrati­ schen Repräsentation weitgehend ab und verfolgen stattdessen einen Governance-Ansatz.87 Dabei beschreiben sie in der EU die Herausbildung einer experimentellen Governance und stützen sich auf Erkenntnisse von Joerges und Neyer in der Komitologie (vorhergehender Ansatz 1.2.2.2.1) und reichern diese zusätzlich mit Erfahrungen in der Offenen Methode der Koordinierung OMK)88 an. Beide kollektiven Entscheidungsfindungs­ formen sind in der Politikwissenschaft auch als neue Governance-Modi89 bekannt90. Diese zeichnen sich insbesondere durch eine nicht-hierarchi­

87 Dieser ist in der Politikwissenschaft weiter gefasst als Regieren, das üblicherweise mit einer Regierung verbunden ist (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 71). Aus diesem Grund lässt sich der Terminus Governance besser auf veränderte Steuerungsbedingungen in der EU anwenden. Da es in der EU keine klassische Regierung im nationalstaatlichen Sinne gibt und hier eine Vielzahl von veränder­ ten Bedingungen für die politische Entscheidungsfindung durch den Mehrebe­ nenkontext zu beachten sind, bot sich die Governance-Perspektive besonders an (vgl. Benz 2006b: 95; Börzel 2006: 72f.; Kohler-Koch/Rittberger 2006, Tömmel 2008: 20). Denn damit können dann auch solche Abstimmungsprozesse mit au­ tonomen Akteur*innen wie Staaten, Regionen, internationalen Organisationen, sozialen Bewegungen und globalen Unternehmen fassbar gemacht werden (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 70). Daher plädiert die Governance-Perspektive für eine stärkere Einbeziehung der Regelungsadressat*innen sein (vgl. ebd.). Dafür und angesichts der technischen Ausrichtung der Regelungsgegenstände ist insbesondere die EU als regulatives System auf die Mobilisierung von breit gestreutem Expert*innenwissen angewiesen (vgl. ebd.). 88 Unter den neuen Governance-Formen kommt insbesondere der Offenen Metho­ de der Koordinierung (OMK) eine besondere Aufmerksamkeit zu, steht diese doch geradezu paradigmatisch für die neuen Modi (vgl. Jachtenfuchs/KohlerKoch 2010: 78f.). 89 Christian Joerges (vgl. 2007: 9-13) unterscheidet fünf Typen der neuen Governance-Modi: Komitologieausschüsse, Prinzip der gegenseitigen Anerken­ nung, Standardisierungsgremien und Regulierungsagenturen. Allerdings unter­ scheidet sich die OMK insofern von den anderen neuen Formen, als dass die anderen vier in irgendeiner Form rechtlich verbindliche Regelungen erzeugen sollen (vgl. ebd.: 13f.). 90 Unklarheit besteht darin, ob Governance alle Steuerungsformen einbezieht oder nur die neuen nicht-hierarchischen. Jachtenfuchs und Kohler-Koch gebrauchen

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

sche Regelsetzung aus und sind um die Jahrtausendwende neben die Gemeinschaftsmethode91 getreten. Im Gegensatz zur Letzteren, die bei der Steuerung mit hierarchischen Mitteln (wie Direktiven oder Regulie­ rungen) arbeitet, setzen die neuen Governance-Modi stattdessen auf Ko­ operationen von privaten Akteur*innen, d. h. auch Regelungsadressat*in­ nen (vgl. Eberlein/Kerwer 2004: 123; Huget 2007: 218; Schuppert 2008: 21f., 24). Dabei ist insbesondere die EU als regulatives System auf die Mobilisierung von breit gestreutem Expert*innenwissen angewiesen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 70). Durch die systematische Beteiligung von nicht-staatlichen Akteur*innen bei der Politikformulierung durch eine weite Konsultation und substanziellen Input (vgl. Huget 2007: 216f.) wird dafür teilweise auch der Terminus der partizipativen Governance verwen­ det. Unabhängig vom konkreten Namen beinhaltet die Governance-Be­ trachtungsweise per se eine – über den Output begründete – stärkere Forderung direkter Partizipation außerhalb von Wahlen.92 Gerstenberg und Sabel (vgl. 2002: 291) plädieren in diesem Sinne für eine stärkere

den Begriff Governance umfassend, d. h. sie beziehen sowohl die Gemeinschafts­ methode als auch die neuen Abstimmungsmechanismen und nicht-hierarchi­ schen Maßnahmen ein (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 72; kritisch zur Un­ terscheidung Benz 2008: 42 und Börzel 2006: 72). Die Übergänge zwischen den Formen der Handlungskoordination sind für sie fließend (vgl. Jachtenfuchs/Koh­ ler-Koch 2010: 72). 91 Das Markenzeichen der Gemeinschaftsmethode zwingt den Rat und die supra­ nationalen Institutionen sowie zunehmend auch das Europäische Parlament zur Zusammenarbeit (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 74). Darüber hinaus bringt es die EU-Kommission als Vertreterin des europäischen Gemeinschafts­ interesses in die Rolle des Motors der europäischen Politik (vgl. ebd.). Gleich­ wohl bleibt der tatsächliche empirische Anteil der neuen Governance-Modi im Verhältnis zur Gemeinschaftsmethode in der Politikwissenschaft umstritten. Ins­ gesamt aber nehmen die neuen Modi weder qualitativ noch quantitativ einen so hohen Stellenwert bei den Formen der Handlungskoordination ein, wie der Anteil in der politikwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre darüber den Anschein erzeugt hat (vgl. ebd.: 72f.). 92 Die Nutzung der Governance-Perspektive in der EU ist auch Ausdruck eines gewandelten Verständnisses der EU (vgl. Balli 2009: 24-27, zitiert nach Jachten­ fuchs/Kohler-Koch 2010: 70): Aus der Governance-Perspektive heraus wird die EU vorrangig als ein Unternehmen der gemeinsamen Problemlösung betrachtet, der Mechanismus der Output-Legitimation rückt dabei in den Vordergrund. Folglich konzentriert sich die Aufmerksamkeit aus dieser Perspektive heraus auf diejenigen Regeln und Verfahren, nach denen es der EU gelingt, die Komplexität der Problemgegenstände und Konfliktkonstellationen, die durch die Ausdiffe­ renzierung bedingt sind, klein zu halten und reibungslos in einen gesamtgesell­ schaftlichen Prozess einzufügen.

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

direkte Einbeziehung von subnationalen Einheiten in die europäische Ent­ scheidungsfindung. Sie argumentieren ebenso vorrangig aus der OutputPerspektive mit einem so geschaffenen Innovationspotenzial und besseren Ergebnissen (vgl. Kohler-Koch 2010: 104), da die Akteur*innen durch ge­ meinsames Argumentieren zu besseren Lösungen kommen (vgl. Gesten­ berg/Sabel 2002: 292). Die experimentellen Governance-Formen setzen einen inhaltlichen Rahmen, gleichwohl werden die Wege der Zielerrei­ chung freigestellt und die Ergebnisse in der Regel nicht sanktioniert, wohl aber wechselseitig beobachtet (vgl. Huget 2007: 217). Die Steuerung er­ folgt durch Verfahren, wie Qualitätssicherungsprozesse, Benchmarking, Best Practice oder öffentliche Evaluierung und zudem über die Beteiligung örtlicher, auch gesellschaftlicher Akteur*innen (vgl. ebd.). Daher richten Gerstenberg und Sabel ihr Augenmerk darauf, einen Rahmen für Entschei­ dungsmodi93 zu wählen, der dies am besten ermöglicht. Folgende Kriteri­ en sind für sie bei der Einbeziehung der gesellschaftlichen Akteur*innen zentral: Transparenz, gleicher Zugang, faire Partizipation und direkte poli­ tische Verantwortlichkeit (vgl. Gerstenberg/Sabel 2002: 327). Ähnlich wie der Ansatz der assoziativen Demokratie fokussieren sie auch darauf, die marginalisierten und ausgeschlossenen Gruppen zu integrieren (vgl. ebd.: 337). Dabei verstehen Gerstenberg und Sabel die im Willensbildungs- und Entscheidungsprozess involvierten Akteur*innen als sich selbst repräsentie­ rend und weniger als Delegierte (vgl. ebd.: 340). Da Gerstenberg und Sabel die Entscheidungsfindung in ihrem Modell für die Beteiligung von gesell­ schaftlichen Akteur*innen öffnen, sehen sie auch so die Gewährleistung einer direkten Verantwortlichkeit der Akteur*innen einer lokalen Öffent­ lichkeit gegenüber – weil diese partizipieren können (vgl. ebd.: 338).

93 Die beiden Autoren legen keinen gesteigerten Wert darauf, die genaue Form der Einbeziehung und die genaue Form der Entscheidungsfindung darzulegen (aus­ führlichere Klassifizierung von verschiedenen Beteiligungsformen siehe Kapitel 4).

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

1.2.3 Partizipation auf EU-Ebene bei Vivien Schmidt Schmidt knüpft mit ihren Überlegungen zu demokratischer Legitimati­ on94 wie auch den Legitimationsproblemen der EU95 zum einen an die Input- und Output-Konzeption von Scharpf an. Zum anderen nutzt sie die Erkenntnisse der assoziativen und deliberativen Demokratie, die bereits in den beiden vorhergehenden Kapiteln beschrieben wurden. Ihr Ansatz gibt direkter Partizipation in der Throughput-Legitimation eine eigene Legiti­ mationskategorie auf EU-Ebene – und weist dieser damit eine theoretische Wichtigkeit entsprechend der empirischen zu. Auch Schmidt verwendet einen normativen Partizipationsbegriff, in dem Partizipation einen Mehr­ wert für das politische System darstellt. Allerdings unterscheidet sich ihr Ansatz von den vorhergehenden assoziativen und deliberativen insofern, als dass bei ihr auch negative Rückwirkungen durch Partizipation entste­ hen können. Auch wenn assoziative und deliberative Ansätze bereits auf Grenzen von direkter Partizipation verwiesen haben, nahm dies keine systematische Stellung im jeweiligen Ansatz ein. Aus diesem Grund wird nun das Konzept von Vivien Schmidt vorgestellt: Dabei wird ihre Defi­ nition der Throughput-Legitimation erläutert und von der Konzeption Scharpfs abgegrenzt. Zudem werden die von Schmidt identifizierten Pro­ bleme der demokratischen Legitimation der EU vorgestellt. Anschließend werden die von Schmidt aufgezeigten Wechselwirkungen zwischen den Legitimationsquellen und damit von direkter Partizipation auf EU-Ebene aufgezeigt. Die von Schmidt zusätzlich eingeführte Kategorie des Throughputs fo­ kussiert auf die Prozesse der europäischen Willensbildung und Entschei­

94 Die Legitimitätskonzeption von Vivien Schmidt baut auf Max Weber auf. Legiti­ mität bezieht sich demnach auf das Ausmaß, in dem Strukturen, Prozesse und Ergebnisse von den Bürger*innen akzeptiert werden und Bürger*innen diese freiwillig befolgen, sollten diese sich auch gegen ihre eigenen Ansichten oder Wünsche richten (vgl. Schmidt 2010: 9). 95 Als Probleme der Input-Legitimation nennt Schmidt aufbauend auf Scharpf den Mangel an Input-Legitimität, ausgedrückt in geringer Wahlbeteiligung zum EUParlament und dem Fehlen einer Regierung, die man wählen und abwählen kann (vgl. Schmidt 2010: 16). Zudem verweist sie auch – wie Scharpf – auf das Fehlen der infrastrukturellen Voraussetzungen, der demokratischen Willens­ bildungsstrukturen, wie Parteienkonkurrenz, EU-weite Medien und eine Öffent­ lichkeit (vgl. ebd.: 16f.).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

dungsfindung.96 Darin ordnet sie zum einen Interessenkonsultation mit den Bürger*innen (governance with the people) und zum anderen die prozedurale Qualität der Prozesse (vgl. Schmidt 2006; zitiert nach Schmidt 2010: 7). Sie argumentiert dabei, dass die Interessenkonsultation selbst ein fester Bestandteil der europäischen Willensbildungs- und Entscheidungs­ prozesse geworden ist und aus diesem Grund nicht mehr allein über die repräsentativen Institutionen bei der Input-Legitimation gefasst werden kann (vgl. ebd.: 8). Immer dann, wenn die Zivilgesellschaft direkt in die politische Entscheidungsfindungsprozesse involviert ist oder wenn es darum geht, die Belange der Wähler*innen bzw. Anhänger*innenschaft direkt den EU-Institutionen gegenüber zu artikulieren, handelt es sich um Throughput-Legitimation.97 Die intensive direkte Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die europäischen Entscheidungs- und Willensbildungs­ prozesse sei vielmehr ein Charakteristikum der EU im Gegensatz zu Natio­ nalstaaten. Für die Beurteilung der Throughput-Legitimation98 führt sie die Kriteri­ en Offenheit, Verantwortlichkeit und Transparenz ein. Sie fokussiert dabei zum einen auf die Qualität der institutionellen, sozialen und politischen Regeln (institutioneller Throughput) und zum anderen in einem diskursi­ ven Sinne auf die Qualität der Beziehungen zwischen den Akteur*innen (diskursiver Throughput; vgl. ebd.). Unter den institutionellen Regeln un­ tersucht sie zum einen die Offenheit und Transparenz (zu Transparenz auch Héritier 2003) der Entscheidungsprozesse für die Bürger*innen und überprüft, ob die erforderlichen Informationen dafür auch zur Verfügung stehen (vgl. Schmidt 2010: 7). Dabei begründet sie die Throughput-Legiti­ mation – insbesondere die Interessenkonsultation – damit, dass auf diese Weise die Einbeziehung von Minderheiteninteressen ermöglicht wird, die so nicht durch das EU-Parlament möglich wären (vgl. ebd.: 8, 9, 26). Dies

96 Im Prinzip deckt die Throughput-Legitimation die Blackbox des politischen Sys­ tems ab, die bei Easton zwischen der Verarbeitung von Input- und Output-Legiti­ mation im politischen System entsteht (vgl. Schmidt 2010: 9). 97 Generell unterscheidet sie die drei Legitimationsmechanismen folgendermaßen: Dabei grenzt sie Throughput insofern von Input-Legitimation ab, als dass es sich bei Letzterer darum handelt, die Belange der Wähler*innenschaft den EU-Institu­ tionen direkt zu repräsentieren. Throughput hingegen sei dann gegeben, wenn die Zivilgesellschaft direkt in die politischen Entscheidungsprozesse involviert ist. Output wiederum gäbe es dann, wenn die Empfehlungen der Zivilgesell­ schaft Inhalt von Politik werden (vgl. Schmidt 2010: 9). 98 Der Fokus der Erörterungen der Throughput-Legitimation liegt nachfolgend auf der Interessenkonsultation mit den Bürger*innen.

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1.2 Partizipation auf EU-Ebene: Theoretische Zugänge und Begründungsmuster

ist gerade für den EU-Kontext wichtig, weil die Input-Legitimität nicht ausreicht, um große Veränderungen bei 500 Millionen Bürger*innen als legitim darzustellen (vgl. ebd.: 26).99 Damit bezieht sie sich auf die Argu­ mente der assoziativen Demokratie und begründet eine direkte Partizipati­ on auf EU-Ebene mit einem Ausgleich der Schwächen des EU-Parlamentes auf der Input-Seite. Zudem fokussiert sie bei den institutionellen Regeln der Interessen­ konsultation auf das Kriterium Verantwortlichkeit, darunter versteht sie die Möglichkeit, Akteur*innen für die getroffenen Entscheidungen verant­ wortlich machen zu können (vgl. ebd.). In diesem Sinne unterscheidet sich ihre Konzeption von Scharpfs Input- und Output-Modell, bei dem Verant­ wortlichkeit der Entscheidungen ausschließlich der Output-Seite zugeord­ net wird (vgl. Scharpf 1997a, zitiert nach Scharf 1999: 23); für Schmidt hingegen ist dies auch ein Kriterium der Throughput-Legitimation. In einem diskursiven Sinne untersucht Schmidt die soziale und kommu­ nikative Interaktion zwischen Akteur*innen bei der Interessenkonsultati­ on, die im Rahmen der Throughput-Legitimation stattfindet. Sie stützt sich dabei auf deliberative Ansätze, wie beispielsweise Joerges/Neyer (1997), als Deliberation mit Expert*innen, oder auf Arbeiten zu einer Deliberation zwischen der Zivilgesellschaft und EU-Kommission (vgl. z. B. Kröger 2008; Liebert/Trenz 2009).100 Dabei sieht sie die Chance, dass diese diskursiven Prozesse zwischen der Zivilgesellschaft und den EU-In­ stitutionen zu Spillover-Effekten der Output-Prozesse führen können. In einem solchen Sinne sieht sie beispielsweise die Chance, dass durch die In­ teressenkonsultation insgesamt eine größere Deliberation und Öffentlich­ keit von EU-Entscheidungen ermöglicht wird, sodass auch die generelle Verantwortlichkeit, Transparenz und Legitimität der EU-Performance ge­ stärkt werden (vgl. Schmidt 2010: 9). Sie macht damit ebenso auf legitima­ tionsförderliche Effekte für die Output-Seite durch direkte Partizipation aufmerksam, wie bessere Ergebnisse durch gegenseitiges Lernen und eine

99 Dieses Argument beinhaltet auch eine Begründung der Legitimation der Out­ put-Seite, da durch die Minderheiteninteressen die Akzeptanz von EU-Entschei­ dungen gestärkt wird. Vorrangig wird dabei aber auf die Demokratisierung der Willensbildungsstrukturen und damit die Input-Seite von demokratischer Legitimation abgestellt. 100 Weitere Beispiele, die Schmidt in diesem Zusammenhang nennt, sind Delibera­ tionen in sozialen Bewegungen (vgl. Della Porta 2005; zitiert nach Schmidt 2010: 8f.) oder der EU-Konvent, der EU-Eliten und soziale Bewegungen zusam­ mengebracht in einen deliberativen Prozess (vgl. Risse/Kleine 2007, zitiert nach Schmidt ebd.).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

generell verbesserte Transparenz und Verantwortlichkeit der Entscheidun­ gen und Ergebnisse. Gleichzeitig wird bei der Darstellung, wie Schmidt direkte Partizipation auf EU-Ebene begründet, ebenso deutlich, dass sich die drei Legitimations­ mechanismen Input, Output und Throughput gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängig sind (vgl. ebd.).101 Sie sieht dabei sowohl negative Rückkopplungseffekte zwischen den drei Mechanismen („demo­ cratic trilemma“, ebd.: 25)102 als auch positive Effekte („virtuous circle“, ebd.: 26). Dabei sieht Schmidt in der Throughput-Legitimation durchaus Ansatzpunkte für eine Ergänzung der Input-Legitimation (vgl. ebd.: 22), gleichwohl kann die Throughput-Legitimation diese durch Ungleichge­ wichte in der Interessenstruktur103 nicht ersetzen (vgl. ebd.: 25). Eine zu starke Betonung des pluralistischen Throughputs, d. h. einer Öffnung der Interessenkonsultation, kann gleichwohl die Output-Effektivität und die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse der EU beeinträchtigen („democratic trilemma“, ebd.: 26). Durch eine Betonung der Transparenz und Verant­ wortlichkeit der Konsultationen kann jedoch auch das Verständnis der Bürger*innen für die Entscheidungen und Outputs erhöht werden und somit eine stärkere Bürger*innenidentifikation für die Ergebnisse sowie eine stärkere Mobilisierung erreicht werden („virtuous circle“, ebd.: 26). Die Konzeption Schmidts bietet damit den analytischen Mehrwert, dif­ ferenzierte Rückwirkungen von direkter Partizipation auf EU-Ebene – sei es negativ oder positiv – zu veranschaulichen. Selbstverständlich werden die Grenzen der Partizipation auch in den assoziativen und deliberati­ ven Ansätzen thematisiert: Hubert Heinelt weist beispielsweise auf die

101 Darunter versteht sie ebenso eine Beeinflussung der Legitimationsmechanismen der nationalen und europäischen Ebene im Mehrebenensystem. 102 In diesem Sinne sieht Schmidt beispielsweise bei einer Stärkung der Reprä­ sentation auf EU-Ebene und einer Stärkung des Inputs (Angleichung an die Mehrheitsmechanismen eines repräsentativen Systems) gleichzeitig auch eine Schwächung der Throughput-Legitimation (Bsp. für ein „Democratic Trilem­ ma“, Schmidt 2010: 25). Gleichwohl ist ohne eine stärkere Einbindung der Bür­ ger*innen und Stärkung der Input-Legitimität nicht dem wachsenden Unmut der Bürger*innen gegen die Deregulierung auf EU-Ebene beizukommen, da ein gemeinsames Narrativ fehlt (Output-Legitimation) und die Throughput-Legiti­ mation durch die Ungleichgewichte in der Interessenstruktur die Input-Legiti­ mation nicht ersetzen kann (vgl. ebd.). 103 Unter solchen nennt Schmidt (vgl. 2010: 22) beispielsweise das Problem der transnationalen Mobilisierung (mit Bezug auf Guiraudon 2001 und Della Porta 2009) oder auch, dass die EU-Ebene schlichtweg zu weit von den Bürger*innen entfernt ist (vgl. ebd.).

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1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission

unterschiedlichen Anforderungen von Verhandlungssystemen (geschütz­ ter Bereich vor Öffentlichkeit für die Problemlösung) und der tendenzi­ ell offenen und dialogischen zivilgesellschaftlichen Interessenvermittlung hin (vgl. Heinelt 1998: 96). Schmalz-Bruns macht weiter darauf aufmerk­ sam, dass auch Assoziationen und Politiknetzwerke bestimmten demokra­ tischen Mindestanforderungen genügen müssen – und dass dies nicht von vornherein zu erwarten ist (vgl. Eising 2001: 322; Schmalz-Bruns 1997: 73). Gleichwohl verfolgen diese Ansätze eventuelle negative Rückwirkungen durch Partizipation nicht in einer systematischen Weise, wie Schmidt dies tut. Sie erweitert und differenziert damit den analytischen Blick für die Frage, ob mehr Partizipation eine Stärkung der demokratischen Legitima­ tion bewirkt, etwa durch die Einführung von bestimmten Bedingungen. Auch die EU-Institutionen haben sich seit der Debatte um das Demokra­ tiedefizit für eine stärkere direkte Beteiligung auf EU-Ebene eingesetzt. Unter diesen hat sich die EU-Kommission wie keine andere Institution für direkte Partizipation starkgemacht: Wie bereits in den Ausführungen zu den Legitimitätsproblemen der EU ersichtlich wurde, wurde seit der Debatte um das Demokratiedefizit auch ihre Legitimation als Institution zunehmend stärker kritisch hinterfragt. Die EU-Kommission hatte zuneh­ mend Probleme, die ihr zugewiesene Rolle zu erfüllen und reagierte durch angepasste Strategien auf die neue Situation (siehe Kapitel 1.1.4). Dabei spielte die verstärkte Einbeziehung von organisierten Interessen und Ex­ pert*innen eine zentrale Rolle. Zum anderen schaut sie auf eine lange Tra­ dition der Interessenkonsultation in den Politiknetzwerken im Rahmen des Initiativmonopols zurück. Insgesamt spielt direkte Partizipation eine große Rolle bei der EU-Kommission. Aus diesem Grund wird im nächsten Kapitel dargestellt, wie die Europäische Kommission die Forderung und Förderung von mehr direkter Partizipation in ihren zentralen Dokumen­ ten begründet. 1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission Die EU-Kommission hat sich wie keine andere Institution auf EU-Ebe­ ne als Förderin der direkten Partizipation hervorgetan und den „enginee­ red discourse“ um das demokratische Potenzial der Zivilgesellschaft in den 1990er-Jahren geprägt (vgl. Kohler-Koch 2007: 255, dies. 2010: 101). Insbesondere im Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001) begründet die EU-Kommission eine umfassende direkte Einbeziehung von Bürger*innen und Zivilgesellschaft, die sie in den darauffolgenden

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

Dokumenten weiter ausbaut. Daher werden in diesem Kapitel die Entste­ hungsbedingungen des Weißbuches, die darin enthaltene Definition und Begründung für eine Ausweitung der direkten Partizipationsmöglichkei­ ten sowie die sich anschließenden begleitenden Maßnahmen und deren Begründung nach dem Weißbuch erörtert. 1.3.1 Entstehungshintergrund des Weißbuches Europäisches Regieren Wie bereits in Kapitel 1.1 gezeigt wurde, war die EU-Kommission mit ihrer Vielzahl an informellen Komitees, den undurchsichtigen Politiknetz­ werken und der Intransparenz der Gemeinschaftsbürokratie selbst Teil des Demokratiedefizits (vgl. Benz 1998: 355; ders. 2006b: 108f.; Héritier 1999: 821). Gleichwohl schienen größere institutionelle Reformvorhaben über Regierungskonferenzen durch die Einstimmigkeitsregel unwahrscheinlich (vgl. Héritier 2003: 821). Insofern erwiesen sich kleinere Reformen (teil­ weise ohne neue Gesetzgebung), denen jeder zustimmen konnte, als deut­ lich leichter durchführbar (vgl. ebd., Kohler-Koch 2010: 102).104 Zudem erwies sich der politische Kontext in den 1990er-Jahren als Nachteil der EU-Kommission, die aus vorherigen institutionellen Reformen (in den Verträgen von Maastricht und Nizza) benachteiligt war gegenüber dem aufstrebenden EU-Parlament (vgl. Scharpf 2000; zitiert nach Kohler-Koch 2010: 102). Um die eigenen institutionellen Kompetenzen zu erhalten und sogar ausbauen zu können, setzte die EU-Kommission die Betonung auf das Funktionieren der Institutionen, indem sie den Fokus auf die EU-Governance legte (vgl. ebd.: 102).105 Im Weißbuch 2001 verbindet die Europäische Kommission die beiden Konzepte Demokratiedefizit und Governance (vgl. z. B. explizit EU-Kommission 2001: 9; Jachtenfuchs/Koh­ ler-Koch 2010: 81) und schlägt als Reaktion auf die Akzeptanzkrise der EU (vgl. Huget 2007: 219; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 81; Lodge 1994: 343) vor, die Entscheidungsfindung der EU zu öffnen und mehr Bürger*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft106 (ZGO) einzu­ 104 Nichtsdestotrotz können diese auch „sehr“ reale Instrumente des Wandels sein, wie Héritier (2003: 822) hinzufügt. 105 Aus diesem Grund verzichtete die Kommission auch im Weißbuch auf jedwede Formulierungen, die den institutionellen Rahmen und das System der EU infra­ ge stellten (vgl. Kohler-Koch 2010: 102). 106 Die Kommission unterscheidet dabei nicht zwischen Organisationen der Zi­ vilgesellschaft und anderen Arten von Interessengruppen, sondern führt allge­ mein „interessierte Parteien“ an. Darunter versteht sie alle, die an den von

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1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission

binden (vgl. EU-Kommission 2001: 4). Dabei kommt die Governance-Per­ spektive dem Selbstverständnis der EU-Kommission entgegen, da die Kom­ petenz der EU-Kommission auf die Initiierung (Gesetzgebungsmonopol) und Ausführung der EU-Politik (vgl. Kohler-Koch 2010: 104) begrenzt ist. Diese beiden Punkte legen den Fokus auf die politischen Prozesse und weniger auf die formale Entscheidungsfindungskompetenz, die im Konzept der politischen Repräsentation starkgemacht wird und die bei EU-Parlament und Rat liegt (vgl. ebd.).107 Hinzu kommt die wachsende Enttäuschung der Bürger*innen über die parlamentarische Demokratie, in der Partizipation auf Wahlen begrenzt ist und Verantwortlichkeit ei­ gentlich vorrangig zu formaler Gesetzgebung hergestellt wird (vgl. KohlerKoch 2010: 103). Hingegen erschienen sowohl die Begriffe Governance als auch Zivilgesellschaft in der Bevölkerung positiv konnotiert (vgl. ebd.: 102). Aus der Governance-Perspektive wird die EU vorrangig als ein Unter­ nehmen der gemeinsamen Problemlösung betrachtet, der Mechanismus der Output-Legitimation rückt dabei in den Vordergrund (vgl. Jachten­ fuchs/Kohler-Koch 2010: 70).108 Auch dieser Fokus auf dem Output im Governance-Konzept kommt der EU-Kommission als nicht-politischer Ex­ pert*innen-Institution entgegen. Zudem beinhaltet auch der GovernanceAnsatz implizit eine verstärkte Forderung nach der Mobilisierung und direkten Einbeziehung von Expert*innen-Wissen aus der Gesellschaft (vgl. ebd.) – und erweist sich damit als Konzept kompatibel mit der Forderung nach stärkerer Partizipation und dem Umstand, dass die EU-Kommission auf externen Sachverstand angewiesen ist.

der Kommission durchgeführten Konsultationen teilnehmen möchten. Damit fasst die Europäische Kommission die Träger*innen der Zivilgesellschaft sehr weit im Sinne aller gesellschaftlich wichtigen Interessengruppen, die Gelegen­ heit haben sollten, ihre Meinung zu äußern. Der organisierten Zivilgesellschaft wird hierbei eine besondere Rolle zugeschrieben, da sie die Grundstruktur der Gesellschaft außerhalb der staatlichen und öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaftsakteure bildet und einen umfassenden politischen Dialog im Sinne der demokratischen Traditionen der Mitgliedstaaten der Union ermöglicht (vgl. Konsultationsstandards, EU-Kommission 2002b). 107 Zu den Unterschieden zwischen dem Konzept Repräsentation und Governance siehe Beate Kohler-Koch (vgl. 2010: 104). 108 Allerdings hat die Wahrnehmung durch Wissenschaft und Politik von der EU-Politik als gemeinschaftliche Problembewältigung nicht nur insgesamt die technokratische Betrachtungsweise begünstigt, sondern auch andere Fra­ gen vernachlässigt, bspw. die der demokratischen Willensbildung (vgl. Jachten­ fuchs/Kohler-Koch 2010: 70).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

1.3.2 Partizipationsverständnis und Begründung für mehr direkte Partizipation Auch die EU-Kommission verwendet im Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001) einen normativen Partizipationsbegriff. Partizipa­ tion wird als ein Wert an sich dargestellt, um die Akzeptanzkrise der EU zu mindern (vgl. Kohler-Koch 2010: 103). Ähnlich wie die Vertreter*innen der assoziativen und deliberativen Demokratie argumentiert die EU-Kom­ mission, dass die Legitimitätskrise der EU nicht allein über eine Stärkung der Mechanismen der repräsentativen Demokratie gelöst werden kann, da durch den Mehrebenenkontext und die funktional segmentierte Gesetz­ gebung die Bürger*innen immer noch zu weit entfernt sind, um eine öffentliche Kontrolle über Wahlen auszuüben (vgl. ebd.). Stattdessen definiert die EU-Kommission im Weißbuch Bedingungen von gutem Regieren („good governance“109, EU-Kommission 2001: 13f.) und fordert mehr Beteiligung und Partizipation auf allen Ebenen. Dabei legt sie den Fokus auf die Einbeziehung von Stakeholdern, die sie in einem weiten Sinne definiert: Diese bestehen sowohl aus Akteur*innen der Zivilgesellschaft aber auch jeglichen Expert*innen, die einen Bezug zu Implikationen einer politischen Regulierung haben (vgl. ebd.). Folgende Prinzipien legt sie als Maßstab für „good governance“ fest:110 – Offenheit: bezieht sich auf transparentes Arbeiten der Institutionen, die ihre Ergebnisse und das Zustandekommen dieser Ergebnisse auch sprachlich einfacher erklären sollen, um somit ein größeres Vertrauen in Institutionen zu erhalten – Partizipation: setzt zum einen die Qualität der Ergebnisse mit der Betei­ ligung von mehr verschiedenen nicht-staatlichen Akteur*innen (Regio­ nen, Zivilgesellschaft) in den Politikprozess (Output) ins Verhältnis und soll zum anderen ein größeres Vertrauen in das Endergebnis und die Politik der Institutionen bewirken (Input) – Verantwortlichkeit: plädiert für eine klare Rollenverteilung der Institu­ tionen sowie die Verantwortungsübernahme für die jeweilige Funktion

109 Peter Thiery (vgl. 2019: 328-331) fasst zusammen, dass bei „good-governance“Konzepten die Effizienz und Effektivität der Staatstätigkeit durch Transparenz und Rechtsstaatlichkeit verbessert werden soll. Übertragen auf das Weißbuch könnte dies so interpretiert werden, dass Partizipation in den Zusammenhang von Effektivität – und somit einer Stärkung der Output-Legitimation – gesetzt wird. 110 Diese sind ausdrücklich auch an die anderen Institutionen adressiert.

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1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission

– Effektivität: Erhöhung der Wirksamkeit der getroffenen Entscheidun­ gen durch klare Ziele, angemessene Instrumente und den richtigen Zeitpunkt der Entscheidungen – Kohärenz: leichte Nachvollziehbarkeit und Kohärenz von Politik und konkreten Entscheidungen bei wachsenden Herausforderungen (be­ sonders durch Osterweiterung) Die genannten Gütekriterien verweisen auf unterschiedliche Ziele und Konzepte, die mit dem Label partizipativer Demokratie angesprochen werden (vgl. Kohler-Koch 2007: 257).111 Dabei bleiben die mit der För­ derung von Partizipation verbundenen konkreten Zielstellungen der EUKommission ambivalent und schwer zu beurteilen (vgl. Quittkat/KohlerKoch 2011: 88). In erster Linie sei mit der Konsultation natürlich bessere Gesetzgebung verbunden (vgl. Huget 2007: 219f.), gleichwohl soll die Einbeziehung auch die Distanz der Bürger*innen zu den EU-Institutionen verringern und Vertrauen in die Institutionen herstellen (Input-Legitima­ tion, vgl. EU-Kommission 2001: 13; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 81; Lodge 1994: 350). Kohler-Koch sieht in diesem Zusammenhang eine Verschiebung in Richtung Input-Legitimität, die mit der Betonung von offenem Zugang, Transparenz und Responsivität einhergeht und die sich später in der Nie­ derschrift von partizipativer Demokratie als konstitutionelles Prinzip im Entwurf des Verfassungsvertrages (vgl. Kohler-Koch 2007: 257) und im Vertrag von Lissabon wiederfindet (vgl. Art. 10 und 11 EUV, ebd.).112 Da­ 111 Die konzeptionelle Vieldeutigkeit von Zivilgesellschaft und partizipativer De­ mokratie ist dabei zum einen nützlich und zeigt zum anderen den dynamischen Prozess konzeptioneller Aushandlung (vgl. Kohler-Koch 2007: 257). Gleichwohl macht es diese Dynamik auch schwer, die konkret mit den Konzepten verbun­ denen Zielstellungen zu identifizieren. Neben einer Stärkung der Output-Legi­ timation durch den eingebrachten Sachverstand wird hier auch das Konzept angesprochen, das Verwaltungshandeln der Gesellschaft gegenüber verantwort­ lich zu machen (vgl. Héritier 1999: 272): Héritier führt in dieser Hinsicht bei­ spielsweise an, dass Demokratie über parlamentarische Repräsentation während der Input-Phase nicht ausreicht, um Demokratie zu realisieren; zumal die EU keine eigene Input-Legitimation aufweisen kann (vgl. ebd.). Zudem wird eine Stärkung der direkten Partizipation der Bürger*innen anvisiert und die Schaf­ fung einer transnationalen demokratischen öffentlichen Sphäre angeregt (vgl. Kohler-Koch 2007: 257). 112 Mit dieser thematischen Umorientierung geht auch eine terminologische Um­ orientierung einher: So sprach die Kommission in ihren Dokumenten vor dem Weißbuch auch erst von dem Dialog mit den speziellen Interessengruppen, dann von einer Partnerschaft mit NGS und im Weißbuch von einer Einbe­ ziehung der Zivilgesellschaft (vgl. Kohler-Koch 2007: 257). Quittkat und Koh­

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

bei sieht sich die EU-Kommission selbst, so Jachtenfuchs und Kohler-Koch (vgl. 2010: 82), zunehmend als Vertreterin der europäischen Bürger*innen, ohne gleichwohl ein formales Repräsentationsmandat zu besitzen. Trotz­ dem sehen Quittkat und Kohler-Koch (vgl. 2011: 84) den größeren Anteil an Legitimitätsgewinnen der EU-Kommission im Bereich der Output-Legi­ timität (ähnlich vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 84; Scharpf 1999: 32). Sie beziehen sich auf ein Dokument der EU-Kommission zu Folgenab­ schätzungen nach dem Konsultationen helfen sollen, „sicherzustellen, dass politische Maßnahmen wirksam und effizient sind“ (EU-Kommission 2009: 21). Zudem sollen so „vom Standpunkt der Interessengruppen und Bürger die Legitimität der EU-Maßnahmen“ erhöht werden (ebd.). Insgesamt führt die EU-Kommission im Weißbuch sowohl Argumente an, die sich auf eine Stärkung der Input- als auch der Output-Legitimation beziehen. Dabei ist das Weißbuch der (bislang) umfassendste Versuch, Prinzipien, Regeln und Normen von „good governance“ zu definieren (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 81). Trotzdem bleibt die Einbezie­ hung von Bürger*innen und Zivilgesellschaft stets unter der Stufe einer Rechtspflicht auf Konsultation für die gesellschaftlichen Akteur*innen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 84f.), auch wenn die „Grundsätze guten Regierens“ auf allen Ebenen auf eine verstärkte Einbindung von gesell­ schaftlichen Akteur*innen in die Entscheidungsfindung und der Zivilge­ sellschaft hinauslaufen (vgl. Huget 2007: 220; Kohler-Koch 2010: 81).113 1.3.2 Begleitende Maßnahmen Die im Weißbuch definierten Gütekriterien von „good governance“ (EUKommission 2001: 13f.) wurden später durch konkrete Normen, Regeln und Verfahren operationalisiert (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 81). Eine Vorstellung der begleitenden Maßnahmen der EU-Kommission und deren Begründung dient dazu, die von der EU-Kommission bereits ge­ nannten Begründungen für Partizipation zusätzlich zu illustrieren.

ler-Koch (2011) sprechen in diesem Zusammenhang auch von verschiedenen, nebeneinander existierenden Konsultationsregimen mit unterschiedlichen Ziel­ setzungen und Normen. 113 Umfassende Anhörungen und Veröffentlichung von geeigneten Konsultations­ unterlagen waren bereits im Vertrag von Amsterdam 1999 vorgesehen. Al­ lerdings waren die Bestimmungen dazu sehr allgemein gehalten (vgl. Quitt­ kat/Kohler-Koch 2011: 84).

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1.3 Der Partizipationsdiskurs der EU-Kommission

Um mehr Partizipation und eine höhere Inklusivität zu erreichen, setzte die EU-Kommission verstärkt auf die Politikgestaltung via Internet durch Online-Konsultationen (ausführlich dazu Labitzke 2016). Auf diese Wei­ sen sollten die Zugangsschwellen für Partizipation gesenkt werden und mehr Akteur*innen in die Entscheidungsfindung eingebunden werden; beispielsweise Organisationen, die kein Büro in Brüssel haben (vgl. Jach­ tenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82).114 Zudem wurde besonderes Augenmerk auf eine größere Transparenz ge­ legt: Der Zugang zu Dokumenten der EU-Kommission wurde vereinfacht (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82).115 Ebenso verpflichtete sich die EU, durch jährliche Aktionsprogramme frühzeitig über geplante Politikin­ itiativen zu informieren, sowie Zeitpläne zu geplanten Konsultationspro­ zessen und Einschätzungen zu Konsequenzen größerer geplanter Maßnah­ men zu veröffentlichen (vgl. ebd.; Lord 1998: 87, zitiert nach Héritier 2003: 822). Darüber hinaus erließ die EU-Kommission auch Transparenz­ programme, die Unterstützung für Maßnahmen der EU generieren sollten, indem mehr Informationen über die Erfolge von den EU-Maßnahmen verbreitet wurden (vgl. Héritier 1999: 271).116 Auf diese Weise solle – so Héritier – eine Brücke von der Verwaltung in Brüssel zu den Bürger*innen der EU geschlagen werden, indem die Verdienste der EU gezeigt werden und so Unterstützung generiert werden sollte (vgl. ebd.: 272). Adressiert wurden dabei sowohl einzelne Bürger*innen als auch zivilgesellschaftliche Organisationen (vgl. ebd.).117 Héritier begründet dies damit, dass Demo­ 114 Mittlerweile gibt es in fast allen Generaldirektionen Online-Konsultationen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82). Auch Folgenabschätzungen (vgl. EUKommission 2002a) werden häufiger genutzt (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 83). 115 Héritier weist in diesem Zusammenhang auf die Strategie „Transparenz durch Zugang“ bei der Kommission hin, die besagt, dass die EU-Kommission ihren Zugang zu Informationen öffnet, gleichwohl erwartet, dass die Mitglieder der Öffentlichkeit sich dafür an die Kommission annähern und bei ihr nach Infor­ mationen verlangen (vgl. Héritier 2003: 822f.). 116 Das beinhaltete beispielsweise, dass verabschiedete Gesetzgebung Klauseln ent­ hält, die bei einer Umsetzung ins nationale Recht notwendig machen, dass der Öffentlichkeit Informationen über dieses Gesetz und die Tätigkeiten der EU zugänglich gemacht werden (vgl. Héritier 1999: 271f.). 117 Die Bürger*innen bekommen dabei Informationen über die Ausführung der Gesetze und Folgen. Sie können aber auch aktiver sein, indem sie zu Aspekten der Implementation durch die Verwaltungsakteur*innen befragt werden. Teil­ weise können Bürger*innen sogar bei der Umsetzung und dem Einhalten der EU-Gesetzgebung mitwirken, beispielsweise in der Struktur- und Agrarpolitik (vgl. ebd.: 272).

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1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

kratie über parlamentarische Repräsentation während der Input-Phase nicht ausreicht, um Demokratie zu verwirklichen; zumal die EU keine ei­ gene Input-Legitimation aufweisen kann (vgl. ebd.). Stattdessen sollte Ver­ waltungshandeln während der Output-Phase selbstverantwortlich gemacht werden (vgl. ebd.). Zudem strebte die EU-Kommission im Nachgang des Weißbuches auch eine Veränderung der Konsultationsbeziehungen selbst an, die nun offe­ ner, transparenter und institutionalisierter gestaltet werden sollten. In die­ sem Sinne erließ die EU-Kommission Mindeststandards für die Konsulta­ tion (vgl. EU-Kommission 2002b) und legte Anforderungen an die Reprä­ sentativität der Konsultierten fest „with better involvement comes greater responsibility“ (EU-Kommission 2001: 15). Dabei sieht die EU-Kommissi­ on als wesentliche Kriterien für die Repräsentativität der Organisationen eine große geografische Reichweite und eine breite Mitgliedschaft an (vgl. Kohler-Koch 2010: 110). Darüber hinaus fordert die EU-Kommission auch ein, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen (ZGO) nachweisen, dass sie ihren Mitgliedern gegenüber verantwortlich handeln (vgl. ebd.: 111). In diesem Sinne sollte ein Mindestmaß an innerorganisatorisch ver­ antwortlichen Organisationsstrukturen vorhanden sein (Wahlen o. Ä.; vgl. ebd.). Die auf europäischer Ebene agierenden Interessenverbände wurden ebenso aufgefordert, gemeinsam einen selbstverpflichtenden Verhaltensko­ dex zu entwickeln und sich freiwillig in der neu eingerichteten Online-Da­ tenbank „Konsultation, die Europäische Kommission und die Zivilgesell­ schaft“ zu registrieren (vgl. Kommission 2002b).118 Zudem versucht die EU-Kommission, Ungleichheiten zwischen den ver­ tretenen Interessen auszugleichen (vgl. Kohler-Koch 2010: 103). In dieser Hinsicht unterstützte sie nun benachteiligte Interessen (z. B. Frauenför­ derung) auch finanziell und förderte transnationale Zusammenschlüsse durch Vernetzungsinitiativen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82). Sie setzt damit eine Prämisse der assoziativen Demokratie um (siehe

118 Die Teilnahme daran ist freiwillig, gleichwohl stehen die Interessengruppen unter dem Druck der EU-Kommission. Da die Teilnahme der Organisationen zunächst zögerlich war, schwenkte die Kommission auf einen auf einen an­ reizgestützten Ansatz um und sandte Muster für den Verhaltenskodex bei On­ line-Konsultationen zur automatischen Registrierung mit (vgl. Quittkat/KohlerKoch 2011: 86). Diese Bemühungen wurden dann im Grünbuch „Europäische Transparenzinitiative“ (EU-Kommission 2006b) nochmals überarbeitet. Zudem wurde eine zentrale Anlaufstelle für Online-Konsultationen („Your Voice in Europe“) geschaffen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 80).

80

1.4 Zusammenfassung

Kapitel 1.2.2.1) und folgt dem Gütekriterium der Kohärenz für „good governance“ (EU-Kommission 2001: 13f.). In den beschriebenen Begleitmaßnahmen der EU-Kommission zeigen sich zum einen Begründungsmuster, die auf die Input-Seite von demokra­ tischer Legitimation abstellen: Darunter sind insbesondere eine verbesserte Inklusion verschiedener Organisationen durch verbesserte Informationen, gesenkte Zugangshürden (durch Online-Konsultationen) und die Förde­ rung von benachteiligten Interessen zu nennen. Zudem werden die Re­ präsentativitätskriterien der Organisationen wichtiger für die Kommission im Rahmen einer verstärkten Institutionalisierung der Konsultationsbezie­ hungen. Dem halten jedoch Quittkat und Kohler-Koch (vgl. 2011: 84, ähnlich Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 84; Scharpf 1999: 32) entgegen, dass der Fokus der Kommission bei den Legitimitätssteigerungen auf der OutputSeite liege. Sie begründen dies damit, dass die EU-Kommission trotz der zunehmenden Institutionalisierung der Konsultationsbeziehungen stets vermeidet, einen Rechtsanspruch auf Konsultation für die Zivilgesellschaft zu ermöglichen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 84). 1.4 Zusammenfassung: Begründungen für direkte Partizipation und erhoffte Legitimitätssteigerungen in den unterschiedlichen theoretischen Zugängen Abschließend soll an dieser Stelle noch einmal herausgearbeitet werden, wie die Forderung nach mehr unmittelbarer Partizipation auf EU-Ebene begründet wird. Vertreter*innen eines instrumentellen Partizipationsbegriffes, wie Fritz W. Scharpf, legen den Fokus auf indirekte Partizipationsmöglichkeiten im repräsentativen Institutionensystem, insbesondere Wahlen (vgl. Scharpf 2005: 718, 725). Direkte themenbezogene Partizipationsmöglichkeiten lie­ gen nicht in ihrem Analysefokus. Scharpf sieht daher die Partizipation von zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU-Kommission vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Output-Legitimation (vgl. Scharpf 1999: 28; ders. 2005: 726). Assoziative und deliberative Ansätze benutzen einen normativen Parti­ zipationsbegriff, sie kritisieren die Fokussierung auf die formalen Partizi­ pationsmöglichkeiten bei Wahlen im repräsentativen Institutionensystem – zumal diese im EU-Kontext mit erheblichen Mängeln verbunden sind. Auch die EU-Kommission setzt sich für den Ausbau der direkten und themenbezogenen Partizipationsmöglichkeiten auf EU-Ebene ein. Sie stellt

81

1 Forschungsstand: Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene

die Beteiligungsmöglichkeiten in ihren Dokumenten, allen voran dem Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001), in einen legitima­ tionsförderlichen Zusammenhang. Dabei sehen sowohl die EU-Kommissi­ on als auch die Vertreter*innen der assoziativen und deliberativen Demo­ kratie positive Effekte auf der Input- und Output-Seite der EU. Je nach verwendetem Konzept bzw. Ansatz können gleichwohl die konkreten Ef­ fekte variieren. Vivien Schmidt fasst die Konsultationsmöglichkeiten und die direkte Beteiligung bei den EU-Institutionen (insbesondere bei der EU-Kommission) unter die Kategorie Throughput-Legitimation. Sie arbei­ tet auch mit einem normativen Partizipationsbegriff und sieht in einer Ausweitung direkter Partizipationsmöglichkeiten positive Effekte für die Input- und Output-Legitimation. Stärker als die anderen theoretischen Ansätze und die EU-Kommission macht sie neben positiven Effekten auch auf negative Rückwirkungen durch Partizipation auf die Input- und Out­ put-Legitimation aufmerksam. Die nachfolgende Tabelle fasst abschließend Begründungen von direkter Partizipation auf EU-Ebene und die zu erwartenden Effekte auf ihre demo­ kratische Legitimation durch Partizipation zusammen. Theorie/Institution Assoziative Demokra­ tie

Begründung: Positive Effekte auf Input-Seite von Legitimation

Output-Seite von Legitimation





– –

Deliberative Ansätze

Ausgleich der Schwächen des EP (Minderheiteninteressen, niedrige Wahlbeteiligung) Ansatzpunkt für kollektive Identität

Rückkopplung an Lebenswelt der Be­ troffenen (Heinelt 1998)



Wir-Identität als europäische Dele­ gierte (deliberativer Supranationalis­ mus)





Repräsentativität von Entwürfen der EU-Kommission durch Gegenex­ pert*innen (Heinelt 1998)



Effizienzsteigerungen durch:



Bessere Steuerungsfähig­ keit

Effizienzsteigerungen durch:





82

Expertise und zielgenaue Kanalisierung der Interes­ sen

Argumentation und Lö­ sungen im Sinne aller (statt Verhandeln) Bessere Kontrolle der Bürger*innen durch deli­ berative Formen der Poli­ tik und mehr Öffentlich­ keit

1.4 Zusammenfassung Theorie/Institution Throughput-Legitima­ tion (Vivien Schmidt)

Begründung: Positive Effekte auf Input-Seite von Legitimation

Output-Seite von Legitimation





Ausgleich der Schwächen des EUParlaments (Minderheiteninteressen)

– –

EU-Kommission

– –

Ausgleich der Schwächen des EPs



Offenere und transparentere Konsul­ tationen



Verringerung der Distanz von Bür­ ger*innen und EU-Institutionen durch direkte Einbeziehung von Bür­ ger*innen und Zivilgesellschaft



Transparenz und Verantwort­ lichkeit der europäischen Ent­ scheidungen Auch diskursive und delibera­ tive Verbesserung von EU-Po­ litik (Stärkung einer EU-wei­ ten Öffentlichkeit) Verbesserte Kontrollmöglich­ keiten der EU-Entscheidun­ gen für die Bürger*innen au­ ßerhalb von Wahlen Bessere Gesetzgebung durch Expertise und gegenseitiges Lernen der zivilgesellschaftli­ chen Stakeholder

Stärkerer Fokus auf Rechenschaft der Organisationen

Tabelle 1: Erwartete Effekte von Partizipation auf die demokratische Legitima­ tion (eigene Darstellung) Im nächsten Kapitel werden nun die empirischen Ergebnisse des For­ schungsstandes aufgearbeitet, die sich mit Partizipation und demokrati­ scher Legitimation auf EU-Ebene beschäftigen.

83

2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

Nach der Welle an theoretischen Ansätzen zu direkter Partizipation in den 1990er-Jahren und um die Jahrtausendwende, folgten zunehmend em­ pirische Untersuchungen, die sich auf eine Umsetzung der Erwartungen und Ansprüche von demokratischer Legitimation durch die verschiedenen direkten Partizipationsmöglichkeiten konzentrierten. Dabei fokussierte die empirische Forschung insbesondere auf die direkten Beteiligungsformen der Konsultation bei der EU-Kommission, da diese unter den EU-Institu­ tionen durch das Weißbuch (EU-Kommission 2001) eine Vorreiterrolle119 eingenommen hatte. Die Darstellung der empirischen Ergebnisse folgt die­ ser Herangehensweise und stellt die empirischen Ergebnisse der direkten Partizipationsformen der EU-Kommission in den Mittelpunkt. Durch die Zunahme an Partizipationsmöglichkeiten und die Auswei­ tung des Kreises an Konsultierten infolge des Weißbuches (EU-Kommissi­ on 2001) war im Ergebnis ein heterogenes empirisches Forschungsfeld an direkten Partizipationsmöglichkeiten entstanden. Kohler-Koch und Quitt­ kat sprechen in diesem Zusammenhang von einem komplexen „Konsulta­ tionsregime“120 (Quittkat/Kohler-Koch 2011: 76) mit einer Vielfalt an ver­ schiedenen Konsultationsformaten. Im Ergebnis ist eine überaus komplexe Partizipationslandschaft für Bürger*innen und Organisationen der Zivilge­ sellschaft auf EU-Ebene entstanden. Um diese Komplexität handhabbar zu machen, sind empirische Untersuchungen zu Partizipation deshalb über­ wiegend in Form von Fallstudien oder Einzelanalysen von bestimmten Teilbereichen vorhanden. Solche Teilbereiche sind häufig:

119 Wird als Fachbegriff hier nicht gegendert. 120 Quittkat/Kohler-Koch sprechen von einem Konsultationsregime, in dem sich bestimmte Prinzipien und Normen in den Dokumenten der Kommission widerspiegeln, die die EU-Kommission mit den Konsultationsinstrumenten verbindet. Als solche Prinzipien sehen sie die Verbesserung der Legitimität eu­ ropäischer Politikgestaltung durch Partizipation oder Deliberation an. Gleich­ wohl weisen Quittkat und Kohler-Koch darauf hin, dass diese wohl nicht ungebrochen in Regeln und Verfahren der konkreten Instrumente umgesetzt werden (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 76). Zudem sehen sie unterschiedliche Konsultationsregime der EU-Kommission, die zeitlich zwar aufeinander folgen, aber in der politischen Praxis alle noch gegenwärtig sind (siehe Kapitel 3).

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

– Bestimmte Zielgruppen, z. B. zivilgesellschaftliche Organisationen (z. B. Huget 2007, Kröger 2008, Liebert/Trenz 2009; Kohler-Koch/Quittkat 2011, Wendler 2005) – Bestimmte partizipative Instrumente oder Instrumentengruppen (Eu­ ropäische Bürgerinitiative z. B. Plottka 2012; Konsultation bei Kom­ mission z. B. Hüller 2010; Labitzke 2016, Kröger 2008, Quittkat/Koh­ ler-Koch 2011; Offene Methode der Koordinierung, z. B. Höchstetter 2007, Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010; Komitologie Hustedt et al. 2014; Töller 2002; EU-Konvent: Bürgin 2007; Europäischer Sozialdialog Dela­ pina 2012 und Dufresne et al. 2006) – Bestimmte Politikfelder (Sozialpolitik: z. B. Huget 2007, Wendler 2005, Umweltpolitik: Walk 2008) – Bestimmte theoretische Ansätze: Deliberation (z. B. Göler 2015), Asso­ ziative Demokratie (Eising 2001) Insgesamt präsentiert sich analog zu der komplexen Partizipationsland­ schaft auf EU-Ebene eine komplexe und fragmentierte empirische For­ schungslandschaft. Diese ist gekennzeichnet durch überlappende und divergierende Terminologien und Annahmen, die sich aus der Untersu­ chung unterschiedlicher theoretischer Ansätze oder Schulen zu Partizipati­ on oder Legitimation ergeben. Darüber hinaus wurde die Debatte auch von EU-Institutionen, allen voran der EU-Kommission, mit eigenen Be­ griffen geprägt (Kapitel 1.3).121 Zusammenfassende systematisierende em­ pirische Arbeiten finden sich bislang nur wenige (als Ausnahme sei hier beispielsweise der Versuch Konsultationspraktiken der EU-Kommission zu systematisieren genannt, vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011). Insgesamt kann mit Blick auf die empirischen Untersuchungen der direkten Beteiligungsformen bereits an dieser Stelle bilanziert werden, dass die in den theoretischen Ansätzen erhofften Legitimitätsgewinne überwiegend ernüchternden empirischen Ergebnissen gegenüberstehen. Mit Rückgriff auf einige zentrale empirische Untersuchungen werden nun die Ergebnisse im Einzelnen dargestellt.122 Dabei folgt die Aufarbeitung der empirischen Ergebnisse und der erhofften Effekte von Partizipation 121 Allein zwischen unterschiedlichen Generaldirektionen der EU-Kommission di­ vergieren Bezeichnungen für Partizipationsformate. 122 Aufgrund der Komplexität des Forschungsstandes zu direkter Partizipation auf EU-Ebene werden hier einige zentrale Ergebnisse dargestellt, die sich im engeren Sinne auf die theoretischen Erwartungen von einem Ausbau an direk­ ten Beteiligungsmöglichkeiten beziehen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit der Aufarbeitung des Forschungsstandes kann aufgrund der enormen Komplexität selbstverständlich nicht gegeben werden.

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

der Input- und Output-Unterscheidung. Zunächst werden Befunde zu inputbezogenen Effekten (z. B. Transparenz und Offenheit der Konsultati­ onsbeziehungen oder Repräsentativität von zu konsultierenden Organisa­ tionen) empirisch aufbereitet (Kapitel 2.1). Hiernach werden empirische Ergebnisse zu outputbezogenen Effekten von direkter Partizipation dar­ gestellt (Kapitel 2.2). Abschließend werden die empirischen Ergebnisse zusammengefasst (Kapitel 2.3). 2.1 Inputbezogene Effekte von Partizipation: zentrale empirische Ergebnisse Empirische Untersuchungen des Legitimationspotenzials auf der InputSeite von direkter Partizipation konzentrieren sich häufig auf die Frage, ob durch die verstärkten direkten Partizipationsmöglichkeiten eine größere Inklusivität von Akteur*innen erreicht wird. Insbesondere vor dem Hin­ tergrund der Schwächen des EU-Parlamentes erscheint diese Forderung als erklärtes Ziel in den Ansätzen der assoziativen Demokratie, von Vivi­ en Schmidt und der EU-Kommission. Dabei besteht die Hoffnung, dass eine Ausweitung der direkten Beteiligungsmöglichkeiten die Schwächen des EU-Parlamentes abmildern bzw. ausgleichen kann. Hingegen war die Möglichkeit einer gewissen kollektiven Identität jenseits des Nationalstaa­ tes, sei es durch zivilgesellschaftliche Organisationen (vgl. Schmalz-Bruns 1997: 79) oder durch deliberative Verfahren (vgl. Joerges/Neyer 1998: 222), weniger im Fokus der empirischen Untersuchungen. Eindeutige Gründe dafür können an dieser Stelle nicht gegeben werden, Möglicherweise könnte dies mit einer schwierigen Operationalisierung dieser Kategorien in Untersuchungsdesigns begründet werden. Um eine stärkere Inklusivität in den direkten Partizipationsmöglichkei­ ten zu ermöglichen, hat die EU-Kommission beispielsweise mit OnlineKonsultationen die Hürden für die Beteiligung herabgesetzt und zudem benachteiligte Interessen aktiv gefördert (vgl. Huget 2007: 220; Jachten­ fuchs/Kohler-Koch 2010: 82). Ebenso setzte sie sich verstärkt zum Ziel, die Konsultationsbeziehungen zur Zivilgesellschaft transparenter zu gestalten stärker zu institutionalisieren (z. B. vgl. Kohler-Koch 2007: 262). In empirischen Untersuchungen wurden durchaus eine Verbreiterung des Umfangs der Akteur*innen, eine verbesserte Struktur der Interessen­ artikulation durch die vergrößerten Partizipationsmöglichkeiten bei der EU-Kommission beobachtet (z.B. vgl. Héritier 1999: 279; Huget 2007: 234ff.; Kohler-Koch/Eising 1999 zitiert nach Benz 2006a: 101; Plottka 2012; Schultze 2013; Wendler 2005). Gleichwohl bleiben bei einer Ausweitung

86

2.1 Inputbezogene Effekte von Partizipation: zentrale empirische Ergebnisse

der Beteiligungsmöglichkeiten trotz der Förderung der benachteiligten In­ teressen nach wie vor Ungleichgewichte und Repräsentationsverzerrungen sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen Organisationsar­ ten innerhalb der Konsultierten bestehen (z. B. am Beispiel von OnlineKonsultationen siehe Kohler-Koch 2007: 260; dies. 2010: 110f.; dies. 2011a und b; Kröger 2008; Labitzke 2016: 304; Schultze 2013, am Beispiel der Offenen Methode der Koordinierung vgl. Jachtenfuchs-Kohler-Koch 2010; für den Europäischen Sozialdialog siehe Huget 2007 oder den Ausschüssen der Komitologie Joerges/Neyer 1997: 621). So sollen sich beispielsweise im Rahmen der Online-Konsultationen vor allem die bereits ressourcen­ starken Akteur*innen, wie europäische Dachverbände und Lobbyisten (durch die Senkung der Zugangshürden), stärker beteiligt haben (vgl. Kohler-Koch 2007: 259). Im Ergebnis konstatiert Kohler-Koch (vgl. 2010: 111), dass die Forderung nach „gleicher Repräsentation“ vorrangig ein Lippenbekenntnis der EU-Institutionen darstellt, während in der Praxis vorrangig eine „ausreichende Repräsentation“ zählt. Dies hat den Effekt, dass die EU-Kommission die üblichen Verdächtigen an Organisationen im jeweiligen Politikfeld konsultiert. Zudem zeigen die Ergebnisse der empi­ rischen Forschung, dass nicht wirklich kontroverse Forderungen in den Konsultationen vertreten sind (vgl. Quittkat 2009a, b, zitiert nach KohlerKoch 2010: 111). In diesem Sinne bestätigen die empirischen Ergebnisse nicht die von Heinelt (vgl. 1998: 93) erhoffte stärkere Repräsentativität der Entwürfe der EU-Kommission durch die Einbeziehung von Gegenex­ pert*innen. Kohler-Koch (vgl. 2007: 259) verweist mit Blick auf die Institutionalisie­ rung der Konsultationsbeziehungen darauf, dass diese so zwar transparen­ ter werden, gleichwohl untergräbt die Institutionalisierung auch den Wett­ bewerb zwischen den Interessengruppen (vgl. Kohler-Koch 2007: 259) und konserviert eine Macht bei der EU-Kommission als demokratisch nicht legitimierter Gatekeeper, die über den Zugang zu Teilhabe bestimmt (vgl. Kohler-Koch 2007: 259; dies. 2010: 111; Labitzke 2016: 304). Dabei deutet Kohler-Koch bereits einen Widerspruch an, der auch unter outputbezoge­ nen Aspekten nochmals thematisiert wird: Auch wenn die EU-Kommissi­ on seit dem Weißbuch (EU-Kommission 2001) höhere Anforderungen an die Transparenz und Repräsentativität der Organisationen legt, die konsul­ tiert werden wollen, bezieht sich dieser Anspruch weniger auf sie als selbst als Institution. Zudem bleiben auch die Kriterien für Repräsentativität von Organisationen empirisch stark umstritten (vgl. Kohler-Koch 2010: 110). Für die EU-Kommission zählen zum einen eine große geografische Reichweite und zum anderen eine breite Mitgliedschaft dazu (vgl. ebd.).

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

Die Zivilgesellschaft kritisierte, dass diese Kriterien mit ihrer internen Organisation kollidierten (vgl. Kohler-Koch 2007: 259). Ebenso kann der Repräsentativitätsbegriff der EU-Kommission diskriminierende Faktoren beinhalteten, da sie zum einen wenig institutionalisierte Graswurzelbewe­ gungen benachteiligen, die dem geforderten Maß an Bürokratie nicht standhalten können, und zum anderen solche Organisationen der Zivilge­ sellschaft ausschließen, die rechte- oder wertbasierte Nichtregierungsorga­ nisationen123 vertreten (vgl. Kohler-Koch 2010: 110; ähnlich Diskriminie­ rung von Graswurzelbewegungen in EU-Programmen siehe Kohler-Koch 2007: 264). Kohler-Koch weist zudem darauf hin, dass der Mehrebenenkontext der EU die innerorganisatorische Repräsentation in der Zivilgesellschaft erschwert, da so direkte Beziehungen zwischen Repräsentierten und Re­ präsentant*innen erschwert sind (vgl. Kohler-Koch 2010: 112). Lord und Pollak (2009; zitiert nach Kohler-Koch 2010: 111, auch dies. 2007: 265) arbeiten in ihren Untersuchungen heraus, dass viele europäische Dachver­ bände in der EU stark aggregiert sind und ihrerseits wiederum die ihrer­ seits Organisationen beinhalten. Aus diesen Beobachtungen heraus erken­ nen sie nicht unbedingt eine direktere oder kürzere Delegationskette als in den anderen EU-Institutionen. Diesen Umstand sehen sie überraschen­ derweise stärker in Nichtregierungsorganisationen als Unternehmensverei­ nigungen (vgl. Altides und Kohler-Koch 2009; zitiert nach Kohler-Koch 2010: 112). Mit Bezug auf Warleigh (2003) nennt als Kohler-Koch als Hindernisse für die Beteiligung innerhalb der Organisationen den Man­ gel an EU-spezifischem Wissen der Mitglieder, geringe Ressourcen und teilweise auch das geringe Vorhandensein an systemischen Mechanismen für den Austausch mit Unterstützer*innen (vgl. Kohler-Koch 2007: 264).124 Insofern können NGOs auch nur sehr begrenzt zu einer transnationalen Zivilgesellschaft beitragen, auch wenn sie eine stärkere interne Beteiligung von Bürger*innen fördern. Dies könnte damit begründet werden, dass das Angebot der bestehenden NGOs bereits die bestehende Nachfrage der Bürger*innen nach Partizipation erfüllt hat, sodass von deren Seite kein Interesse besteht, sich stärker zu engagieren (vgl. Warleigh 2003: 30). Diese

123 Nachfolgend NGO. 124 Für Organisationen der Zivilgesellschaft gelten nicht dieselben Anforderungen in Bezug auf innerverbandliche demokratische Willensbildung wie für Parteien. Infolgedessen verfügen manche Organisationstypen, wie NGOs oder OnlineKampagnen-Organisationen (z. B. Campact), gar nicht über interne demokrati­ sche Willensbildungsprozesse.

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2.1 Inputbezogene Effekte von Partizipation: zentrale empirische Ergebnisse

Erklärung scheint im Widerspruch zu den Annahmen des normativen Par­ tizipationsverständnisses zu stehen, nach dessen Menschenbild eine stärke­ re Partizipation zum Zwecke der Emanzipation von den Bürger*innen immer gewünscht ist (vgl. Hoecker 2006: 7).125 Kohler-Koch vergleicht das Handeln der EU-Verbände mit einer politischen Unternehmer*in auf dem Markt der verschiedenen Meinung und verweist auf unklare Effekte der Organisationen in Bezug auf inputorientierte Legitimitätssteigerungen (vgl. Kohler-Koch 2007: 265). Gleichwohl identifiziert die empirische For­ schung auch optimistischere Beispiele von innerverbandlicher Demokratie und Beteiligung: Die Europäische-Frauen-Lobby (EFL) hat beispielsweise nach Kohler-Koch die Beziehungen zu ihren nationalen Mitgliederorgani­ sationen intensiviert und zudem die gegenseitige Kommunikation und transnationale Kooperation vorangetrieben (vgl. ebd.: 264). Darauf aufbau­ end nennt sie als Gründe für eine erfolgreiche Mitgliederpartizipation beispielsweise, dass die vertikale Kommunikation und Kooperation inner­ halb einer Mehrebenenstruktur der Organisation zunimmt, wenn die EU-Gruppe von der Expertise der Mitglieder abhängig ist und für eine erfolgreiche Repräsentation der Interessen eine koordinierte Beteiligung auf den unterschiedlichen Ebenen erfordert (vgl. ebd.). An diesen Kriteri­ en zeigen sich insbesondere die Potenziale des transnationalen Designs der neuen Beteiligungsform Europäische Bürgerinitiative (EBI), bei der sich Bürger*innen aus einem Viertel der Mitgliedstaaten der EU zusammenfin­ den müssen, um ein Thema für die EU-Agenda vorschlagen zu können. Dazu müssen diese in 25 % der Mitgliedstaaten Kampagnen organisieren, die ein länderabhängiges Quorum an Unterstützungsbekundungen für die Initiative erreichen – sowie insgesamt eine Million Unterstützungsbekun­ dungen in der EU mobilisieren (vgl. Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 Abs. 1 AEUV)126. Dieses zweistufige Design macht ein Zusammenwirken von

125 Dabei wird auch die Bereitschaft der Bürger*innen, sich umfassend politisch zu informieren und zu beteiligen, aufgrund von knappen zeitlichen Ressourcen nicht als realistisch eingeschätzt (vgl. Schmidt 2006: 263f., zitiert nach Hoecker 2006: 8). Zudem müssen sich Ansätze, die ein normatives Partizipationsver­ ständnis haben, der tatsächlichen Beteiligung stellen, die sich häufig auf das Standardmodell bezieht (vgl. Verba/Nie 1972; zitiert nach Hoecker 2006: 12; Dalton 1988: 50f., zitiert nach Huget 2007: 142f.), nach dem auch direkte For­ men in der Regel vorrangig von ökonomisch Bessergestellten genutzt werden (vgl. Merkel/Ritzi 2017: 229f.). 126 Die nähere Ausgestaltung wird in der Verordnung VO (EU) Nr. 211/2011. Mit dem 1. Januar 2020 wurde diese EBI-Verordnung durch eine neue VO (EU) Nr. 788/2019 ersetzt.

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

den unterschiedlichen Ebenen in der Zivilgesellschaft im Mehrebenensys­ tem sowie wie eine länderübergreifende Kommunikation innerhalb der Zivilgesellschaft erforderlich. Insgesamt bildet die empirische Forschung ernüchternde Ergebnisse des Legitimationspotenzials der direkten Partizipation ab: Zwar diagnos­ tizieren die Studien eine breitere Inklusion, gleichwohl bleiben Ungleich­ gewichte in der Struktur der Zivilgesellschaft erhalten. Problematisch er­ scheint weiterhin, dass die EU-Kommission als Institution über die Reprä­ sentativität der zu Konsultierenden allein entscheidet und die Kriterien dafür empirische Ausschlusseffekte befördern. Zudem scheinen auch die spezifischen Bedingungen des Mehrebenenkontextes Herausforderungen für die innerorganisatorische Demokratie und Beteiligung darzustellen – und damit die Hoffnungen der inputbezogenen Legitimitätssteigerungen der theoretischen Ansätze schmälern. 2.2 Outputbezogene Effekte von Partizipation: Zentrale empirische Ergebnisse In empirischen Untersuchungen wird in diesem Zusammenhang insbe­ sondere das Einbringen von Expert*innen-Wissen in die Vorbereitung der Entwürfe der Kommission positiv eingeschätzt (vgl. z.B. Benz 2006a: 101; Héritier 1999: 280; Kohler-Koch 2011a: 7). Darüber hinaus standen Effi­ zienzsteigerungen der Entscheidungen durch deliberative Verfahren und gegenseitiges Lernen, die Verbesserung der Nachvollziehbarkeit der Parti­ zipationsformen für die Beteiligten und deren Anbindung an eine größere Öffentlichkeit im Fokus empirischer Untersuchungen für outputbezogene Effekte. Auf die Frage hin, ob die direkten Beteiligungsformen deliberative Ver­ fahren beinhalten und gegenseitiges Lernen befördern, liegen ambivalente empirische Ergebnisse vor: Daniel Göler (2015) identifizierte beispielswei­ se im Fall des Europäischen Verfassungskonvents 2002/03127, ähnlich wie bei Joerges und Neyer (vgl. 1997) dies in ihren Fallstudien im Lebens­ mittelsektor taten, einen deliberativen Entscheidungsmodus. Gleichwohl wies Göler darauf hin, dass die fehlende Zeit für Diskussionen sowie eine eher ungünstige Formatauswahl Deliberation tendenziell behinderten (siehe Göler 2015: 93; z. B. bei Konsultationen siehe Kröger 2008: 31f.). Kohler-Koch weist auf weitere institutionelle Hemmnisse bei den neuen 127 Informationen, Dokumente und Materialien zum EU-Konvent siehe auch Euro­ päischer Konvent (2003).

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2.2 Outputbezogene Effekte von Partizipation: Zentrale empirische Ergebnisse

Beteiligungsformen, insbesondere bei den Online-Konsultationen, hin: So haben die Konsultationen im Gegensatz zu den Regulierungstätigkeiten der Komitologie ein offenes Ende, weil die Entscheidung in einer anderen Arena getroffen wird (vgl. Kohler-Koch 2007: 261). Aus diesem Grund können auch die Teilnehmer*innen in den Online-Konsultationen gar nicht unbedingt zu einem gemeinsamen Verständnis gelangen, denn dies ist gar nicht in dem Beteiligungsprozess angelegt. Weder kann von der EUKommission verlangt werden, im Konsultationsprozess bereits steuernd einzugreifen und Kompromisse zu berücksichtigen, noch kann eine Be­ reitschaft zu solchen von den zu konsultierenden ZGO erwartet werden (vgl. ebd.). Der einzige Rahmen für Deliberation und ein gemeinsames Verständnis könnte sich in dem Feedback der EU-Kommission auf die jeweilige Konsultation finden, aber da dies nach wie vor nur unsystema­ tisch in den einzelnen Generaldirektionen gehandhabt wird (vgl. Kröger 2008: 5, 30), erscheint das auch unwahrscheinlich. Dafür bräuchte es auch verbindliche Vorgaben von der Leitung der EU-Kommission, damit dies in den einzelnen Generaldirektionen umgesetzt würde. Hinzu kommen als deliberationshemmende Faktoren, dass die Teilneh­ menden der Zivilgesellschaft im Gegensatz zu den Delegierten der Mit­ gliedstaaten in einer asymmetrischen Machtbeziehung zur EU-Kommissi­ on stehen, da sie in der Konsultation nicht mitentscheiden können, wie die Delegierten in den Komitologieausschüssen (vgl. ebd.). Des Weiteren wird für gegenseitiges Lernen und ein gemeinsames Problemverständnis ein wiederkehrender Prozess gebraucht – auch dies ist nicht bei OnlineKonsultationen gegeben (vgl. Kohler-Koch 2007: 261f.). Kohler-Koch iden­ tifiziert weitere empirische deliberationshemmende Faktoren. Sie weist darauf hin (vgl. ebd.), dass die neuen Konsultationsformate wie beratende Gruppen, nicht den Erwartungen der Teilnehmenden aus der Zivilgesell­ schaft standhalten: Im Fall der Europäischen Beratenden Verbrauchergruppe (ECCG) wurden beispielsweise nur sehr allgemeine Informationen ausge­ tauscht (vgl. Kohler-Koch 2007: 262). Das Europäische Beratende Forum für Umwelt und nachhaltige Entwicklung (ECFESD) wurde in seiner vierjäh­ rigen Existenz nur sehr selten von der EU-Kommission konsultiert und kam folglich kaum zum Einsatz (vgl. ebd.). Wenn die neuen Konsultati­ onsformen nicht genutzt werden, können gleichwohl nur sehr schwer Deliberationsprozesse in diesen gefördert werden. Auch Joerges und Neyer (vgl. 1997: 621) machten bereits in ihren Untersuchungen der Komitolo­ gieausschüsse darauf aufmerksam, wie schwierig es ist, wissenschaftliche Ausschüsse der EU-Kommission gänzlich vor einer Inanspruchnahme von

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

Partikularinteressen zu schützen, mithin deliberationsförderliche Bedin­ gungen und deren Sicherstellung zu garantieren.128 Weitere empirische Untersuchungen konzentrieren sich auf das Krite­ rium der Verantwortlichkeit, das eines der Kernprobleme des institutio­ nellen Demokratiedefizits bildet, und von der EU-Kommission als ein Gütekriterium von „good governance“ definiert wird (vgl. EU-Kommissi­ on 2001: 13f.). Auch wenn die EU-Kommission stärker auf Transparenz und innerorganisatorische Mechanismen der Verantwortlichkeit bei den sich am Konsultationsprozess beteiligenden Akteuren der Zivilgesellschaft achtet129; weisen die empirischen Untersuchungen auf teils erhebliche De­ fizite in der Transparenz der Verfahren und Berichterstattung über die weitere Verwendung durch die EU-Kommission hin – die im Ergebnis eine klare Zurechenbarkeit der Ergebnisse der Beteiligung für die zu Kon­ sultierenden erschwert (vgl. z. B. Höchstetter 2007: 106; Huget 2007: 321f.; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 85f.; Joerges/Neyer 1997: 621130; Kröger 2008: 32f.; Labitzke 2016: 304; Quittkat 2011b: 144-151; Schultze 2013: 669, 672; Wendler 2005: 214). In empirischen Untersuchungen wird die Verantwortlichkeit der EU-Kommission in den Partizipationsformen aus diesem Grund auch als „Achillesferse“ bezeichnet (vgl. Quittkat 2011b:

128 Im Wissenschaftlichen Ausschuss sitzen Mitglieder, die von den nationalen Regierungen ernannt werden – sie sollen jedoch stärker die wissenschaftlichen als die nationalen Interessen repräsentieren (vgl. Joerges/Neyer 1997: 615). Die „Währung“ zwischen den Vertreter*innen besteht darin, durch wissenschaftlich basierte Argumente zu überzeugen. In diesem Sinne kommt der Deliberation, dem Überzeugen durch Argumente, nun eine relative Macht zu (vgl. ebd.: 616). Diese Fähigkeit liegt in den Ressourcen, wie einer guten Ausstattung und Ausbildung, begründet. Ebenso kann die Gefahr von Partikularinteressen, die in wissenschaftsbasierten Argumenten getarnt werden und vernunftbezogenes Handeln und gemeinsames Lernen unterlaufen, nicht völlig ausgeschlossen werden. 129 Die Organisationen, die sich am Konsultationsprozess beteiligen, müssen nach­ weisen, dass sie ihren Mitgliedern gegenüber verantwortlich handeln und ihre Maßnahmen und Handlungen rechtfertigen bzw. erklären (vgl. Kohler-Koch 2010: 111). 130 Joerges und Neyer sprachen sich im Zusammenhang mit der Kritik an der Transparenz der Konsultationen im Rahmen der Komitologieausschüssen posi­ tiv über den Vorstoß der EU-Kommission aus, ihre interne Struktur zu reor­ ganisieren und somit auch die interne administrative Verantwortlichkeit der Kommission durch klare Zuständigkeiten für die wissenschaftlichen Ausschüsse zu stärken (vgl. Joerges/Neyer 1997: 621). Da die empirischen Befunde zum Punkt Transparenz auch in einer Vielzahl folgender Analysen kritisch sind, scheint diese Reorganisation wenig Besserung gebracht zu haben.

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2.2 Outputbezogene Effekte von Partizipation: Zentrale empirische Ergebnisse

144). Dabei wiesen Joerges und Neyer (1997: 621) bereits bei ihrer Un­ tersuchung der Komitologieausschüsse im Lebensmittelsektor darauf hin, dass die administrativen Kapazitäten der EU-Kommission für ein exten­ sives Netzwerken, wie es die Förderung der Partizipation mit der Zivil­ gesellschaft darstellt, deutlich ausgebaut bzw. aufgestockt werden müss­ ten. Denn gerade für die Berichterstattung der EU-Kommission an die Partizipierenden werden Kapazitäten der Mitarbeitenden gebunden. Koh­ ler-Koch verweist dabei auf einen Informationsüberschuss für die Mitarbei­ tenden der EU-Kommission, der mit den offeneren Konsultationen einher­ geht, ebenso wie erhebliche Qualitätsunterschiede des Inputs (vgl. KohlerKoch 2007: 260). Beides zusammen begründet die Notwendigkeit, dass die Mitarbeitenden einen Selektionsmechanismus wählen, um den Arbeits­ aufwand etwas zu minimieren (vgl. ebd.). In diesem Sinne zeigen sich Spannungen zwischen den theoretischen Konzepten und mit Partizipati­ on verbundenen Zielstellungen (möglichst offene Konsultation gegenüber Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen), wie sie Vivien Schmidt unter dem Punkt „democratic trilemma“ beschrieben hatte (vgl. Schmidt 2010: 25). Die Defizite der Transparenz und Berichterstattung der Kommission werden zudem institutionell „unterstützt“, da solche Mechanismen der Rechenschaftspflicht in der EU fehlen oder nur schwach ausgeprägt sind: Denn diese besteht lediglich in einer Selbstverpflichtung („commitment“, European Commission 2007: 7-14) der EU-Kommission, die dadurch selek­ tiv bleibt und entsprechend nicht von der Zivilgesellschaft eingefordert werden kann (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 86; Kohler-Koch 2007: 260; dies. 2010: 111f.; Quittkat 2011b: 165f.). Analog dazu besteht auch die Konsultation der Zivilgesellschaft nur in einer Selbstverpflichtung (vgl. EU-Kommission 2001: 22) – da es trotz voranschreitender Formalisierung der Konsultation kein Recht auf Konsultation für die Zivilgesellschaft gibt (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 84, 85, 97). Entsprechend muss die EU-Kommission bei Verstößen auch keinen harten Druck vonseiten der Zivilgesellschaft fürchten (vgl. Kohler-Koch 2010: 111f.). Unter Bezug auf eine frühere empirische Untersuchung bilanziert Kohler-Koch das Dilem­ ma für die zivilgesellschaftlichen Organisationen folgendermaßen: Diese sind zwar eingeladen, einen Input bereit zu stellen, haben aber auf der anderen Seite nur begrenzte Chancen, die EU-Kommission verantwortlich zu halten (vgl. ebd.: 112). In empirischen Untersuchungen wurde zudem analysiert, ob und wie die neuen Beteiligungsformen und deren Ergebnisse an eine größere Öf­ fentlichkeit angebunden werden. Dies ist wichtig, um Bürger*innen durch das zusätzliche Wissen eine stärkere Kontrollmöglichkeit außerhalb von

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

Wahlen zu ermöglichen (vgl. Joerges/Neyer 2014: 358, allgemeiner vgl. Hoecker 2006: 7). Frank Wendler sieht bei seiner Untersuchung der europäischen Sozial­ politik viele positive Elemente, wie den Aufbau eines differenzierten Sys­ tems der Berichterstattung und Präferenzbildung für einen dauerhaften Austausch mit den Mitgliedstaaten (vgl. Wendler 2005: 213). Gleichwohl verläuft dies in funktionalen Teilöffentlichkeiten, nicht in einer größe­ ren übergreifenden Öffentlichkeit, denn dazu fehlt die Öffentlichkeit bei den Beratungsprozessen (vgl. ebd.).131 Ebenso verdeutlicht das Beispiel der europäischen Sozialpolitik, dass sich eine mögliche Offenheit bei deli­ berativen Prozessen vorrangig auf funktional organisierte Assoziationen und die organisierte Zivilgesellschaft bezieht – nicht aber auf einzelne Bürger*innen (vgl. ebd.: 212). Gleichwohl kann es zu Spillover-Effekten von einer Teilöffentlichkeit auf andere kommen, die dann im Ergebnis dazu führen, dass sich die EU-Institutionen auch massenmedial an die Bür­ ger*innen richten und stärker ihre Handlungen diesen gegenüber rechtfer­ tigen müssen (vgl. Kohler-Koch 2007: 267). Dabei sieht es Kohler-Koch eher als eine empirische Frage an, ob themenspezifische Strukturen das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit bedingen (vgl. ebd.). Sie bilan­ ziert, dass eine Antwort der Öffentlichkeit lang anhaltender sei, wenn Gruppen in der Opposition zur EU das Thema aufgreifen und im besten Falle die Debatte so darstellen, als entstehe ein Konflikt zwischen dem Staat (also den Machthabenden) auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Interessen einer kritischen Zivilgesellschaft (vgl. ebd.: 266f.).132 Sie konstatiert jedoch insgesamt eine stärkere Politisierung des EU-Diskur­ ses in den letzten Jahren, da der Fokus nicht mehr nur auf europäischen Inhalten, sondern auch auf der Struktur und Form der EU als System und seinen Gesetzgebungsprozessen liegt (vgl. ebd.: 267; auch Schmidt 2010: 26).

131 Eder et al. (vgl. 1998: 326; zitiert nach Wendler 2005: 211) sehen in der EU deliberative Öffentlichkeiten – Expert*innendiskussionen in einem bestimm­ ten Politikfeld und begleitende Stellungnahmen von zivilgesellschaftlichen Ak­ teur*innen – als funktionales Äquivalent zur allgemeinen Öffentlichkeit für die Legitimation. 132 Kohler-Koch bezieht sich dabei empirisch auf Kampagnen von EU-Institutionen mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für spezifische Themen in der EU herzustellen, beispielsweise 1997 als „Jahr gegen Rassismus“ (Kohler-Koch 2007: 266). Diese sind an eine affirmative Öffentlichkeit gerichtet und versuchen über finanzielle Anreize, verschiedene Gruppen im Mehrebenensystem miteinzubeziehen (vgl. ebd.).

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2.3 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse des Forschungsstandes

Für eine Beteiligung der Zivilgesellschaft im Rahmen der Offenen Me­ thode der Koordinierung wiesen wiederum andere Autor*innen (vgl. Hu­ get 2007: 255, 272, 304; Kröger 2008: 32) auf eine mangelnde Öffentlich­ keit und eine Informalisierung der Partizipationsformen durch die dezen­ tralen Beteiligungsforen hin. In der Konsequenz wurde es für die Beteilig­ ten der Zivilgesellschaft, aber ebenso für eine größere Öffentlichkeit schwieriger, die Ergebnisse dieser partizipativen Prozesse nachzuvollzie­ hen. Dabei zeigt das Beispiel der OMK erneut die Vorwürfe von informel­ len Politiknetzwerken, die bereits in den 1990er-Jahren an die EU-Kom­ mission getragen wurden (vgl. Benz 1998: 355, ähnlich auch ders. 2006a: 108f.; Héritier 1999: 821) und verdeutlicht insgesamt die ernüchternden Ergebnisse, durch die verstärkten Partizipationsprozesse eine Stärkung der demokratischen Verantwortlichkeit in der EU zu erreichen. Aus den bisherigen empirischen Untersuchungen kann für die Effekte auf der Output-Seite insgesamt geschlussfolgert werden, dass hier die größ­ ten Gewinne darin liegen, die Effizienz der Entscheidungen durch das eingebrachte Expert*innenwissen zu erhöhen (vgl. auch Labitzke 2016: 310). Weitergehende gegenseitige Lernprozesse wurden hingegen durch deliberationshemmende Faktoren in den neuen Beteiligungsformen abge­ schwächt. Die größten Probleme auf der Output-Seite wurden jedoch in den Defiziten der Transparenz und Berichterstattung der EU-Kommission ersichtlich, die eine klare Zurechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen erschwerten. Zudem wurden Herausforderungen bei der Übermittlung der Beteiligung in Teilöffentlichkeiten für die Bürger*innen ersichtlich, die eine verstärkte Kontrolle dieser neben Wahlen erschweren. Insgesamt lässt sich auch auf der Output-Seite eine deutliche Abweichung zwischen den theoretischen Ansprüchen und Hoffnungen auf der einen Seite und den ernüchternden empirischen Ergebnissen auf der anderen Seite konstatieren. 2.3 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse des Forschungsstandes Die empirischen Analysen der Partizipationsmöglichkeiten bestätigen ins­ gesamt, dass diese zwar den funktionalen Ansprüchen der europäischen Entscheidungsfindung genügen, indem beispielsweise Expert*innenwissen aus den Sektoren für die Entwürfe der Kommission eingebracht wird (vgl. Héritier 1999: 280). Gleichwohl sind insbesondere Mängel der EU-Kom­ mission in der demokratischen Qualität der Beteiligung, beispielsweise in der Berichterstattung und Transparenz, festzustellen.

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

Beate Kohler-Koch sieht im Umgang der EU-Kommission mit den Kon­ sultationsformen indes eher eine eigene funktionale und strategische Nut­ zung („gelenkte Partizipation“, Kohler-Koch 2014), die sich wesentlich von ihrer normativen Begründung (siehe Kapitel 1.3) unterscheidet: Demnach dienen die Konsultationsformen vorrangig der Kommission als Institution selbst, insbesondere als Steuerungs- und Machtressource vis-à-vis den ande­ ren Institutionen Rat und EU-Parlament im Gemeinschaftsgefüge (vgl. Hé­ ritier 1999: 273; vgl. Huget 2007: 221, 256; Kohler-Koch 2007: 269; Kröger 2008: 5; 30, 33; Labitzke 2016: 303f.; Quittkat/Kohler-Koch 2011: 96). Hu­ get (2007: 221) sieht beispielsweise dadurch eine „Neuausrichtung der In­ stitutionen“, in der die Kommission selbst zur Regierung wird, welche die Politik vorschlägt und durchführt, während Rat und EU-Parlament aus­ schließlich die Legislative verkörpern (allerdings ohne das Initiativrecht; vgl. ebd.). Somit bedeutet „good governance“ gleichzeitig eine Strategie der Kommission (EU-Kommission 2001: 13f.; siehe Kapitel 1.1.1.4), die eine verstärkte Funktionsabgrenzung zwischen den europäischen Organen vorsieht. Gleichzeitig kann die EU-Kommission auf diese Weise durch die gesteigerten Partizipationsangebote ihre eigenen Autonomiespielräume ausbauen (vgl. Huget 2007: 221f.). Dabei scheint die Kommission strate­ gische Allianzen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen (aufgrund von ähnlichen Interessen) als Ersatzlegitimation für parlamentarische Legiti­ mation zu nutzen, die sie als nicht-politische Expert*innen-Organisationen nicht aufweisen kann (vgl. ebd.: 265; Kohler-Koch 2007: 268). Denn das Europäische Parlament ist bei den Beteiligungsformen der EU-Kommissi­ on in der Regel außen vor (vgl. z.B. Huget 2007: 249, 255; Höchstetter 2007: 106; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 84f.; Joerges/Neyer 1997: 621). Kritisch ist dies insbesondere deshalb zu sehen, da assoziative Demokratie in ein parlamentarisches Institutionensystem eingebettet sein sollte, mit­ hin die parlamentarische Demokratie voraussetzt, wie Huget hervorhebt (vgl. 2007: 189; siehe auch Eising 2001: 320f.). Die besondere Brisanz von zivilgesellschaftlicher Partizipation in der EU liegt also darin, dass sie bei der demokratisch (gering) legitimierten Kommission mit wenig bis teilweise keiner parlamentarischen Einbindung stattfindet (vgl. Huget 2007: 188; Kohler-Koch 2011a: 17). Kröger (vgl. 2008: 30) sieht zudem un­ ter Bezugnahme auf Broscheid und Coen (2007) sowie Curtin (2003) die Tendenz, dass Konsultationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen vorwiegend in jenen Politikbereichen stattfinden, für die es keine Vertrags­ basis gibt und die daher vorrangig politisch motiviert sind. Dies wertet sie als Beleg dafür, dass die Konsultationen im Rahmen der Politiknetzwerke dazu dienen, den Widerstand der Mitgliedstaaten im Rat zu brechen und

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2.3 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse des Forschungsstandes

eine weitergehende Vergemeinschaftung der Politik zu erreichen (vgl. Hé­ ritier 1999: 273; Huget 2007: 188; Kröger 2008: 33).133 Folglich bestünde in Gebieten, in denen die EU keine formale Vertragsgrundlage hat, die Gefahr einer schleichenden Europäisierung mit dem Ziel einer formalen Kompetenzübertragung (z. B. beim Europäischen Sozialdialog und im Rahmen der OMK in verschiedenen Bereichen).134 Umso problematischer erscheint in diesem Zusammenhang auch die Kommunikationspolitik der EU-Kommission, die die demokratische Qualität ihres Austausches mit den Interessenorganisationen und Bürger*innen überbetont und zu einer teilweise auch belehrenden Erziehungsfunktion greift (vgl. Kohler-Koch 2007: 268; dies. 2010: 112).135 Dabei kann die Trias aus geringer insti­ tutioneller Eigenlegitimation, Mängeln bei der demokratischen Qualität und strategischer Nutzung durch die EU-Kommission stattdessen auch die Glaubwürdigkeit des gesamten Projektes der direkten Partizipation unterlaufen (vgl. Kohler-Koch 2007: 268). Trotz des Trends zur Formalisierung der Konsultationsformen verstär­ ken die Partizipationsformen zudem die Komplexität der europäischen Entscheidungsprozesse (vgl. Huget 2007: 269; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 70). Dies geschieht insbesondere durch den zusätzlichen Koordina­ tionsaufwand, da die inter-institutionellen Koordinierungsprozesse dabei mit den inter-parlamentarischen Prozessen abgestimmt werden müssen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 70).136 Eine fehlende Transparenz 133 Héritier nennt als solche beispielsweise Umweltpolitik (Héritier et al. 1996), Telekommunikation (Schneider et al 1994, Natalicchi 1998; Schmidt 1998) und Anti-Armut-Fragen (Bauer 1998, alle zitiert nach Héritier 1999: 273). 134 Pautsch und Zimmermann (vgl. 2020: 407) beschreiben analog in ihrem Bei­ trag, der sich mit Bürgerbeteiligung in Deutschland befasst, das dabei entste­ hende mögliche Problem einer schleichenden Kompetenzübertragung von Par­ lamenten auf die Exekutive. 135 Kohler-Koch führt als Beispiel an, dass die EU-Kommission einen Aktionsplan entworfen hat, um „Europa zu kommunizieren“ (Kohler-Koch 2007: 268), und verweist auf das Weißbuch der EU Kommunikationspolitik 2006 (EU-Kommis­ sion 2006a). 136 In diesem Zusammenhang sind auch die vielen Ausschüsse (Beratungs-, Ver­ waltungs- und Regelungsausschüsse) bei der Kommission zu nennen, die im Rahmen der Übertragung der Exekutivbefugnisse an die EU-Kommission ent­ standen sind. Diese Ausschüsse haben nicht nur die (häufig informelle) Interak­ tionsdichte zwischen EU-Kommission und nationalen Verwaltungen auf Ebene der Fachressorts deutlich intensiviert, sondern ebenso zu der größeren Kom­ plexität an Verhandlungs- und Interaktionsprozessen im Gemeinschaftsgefüge beigetragen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 76). Dies entspricht jedoch eher einer Ausdifferenzierung des gemeinschaftlichen Politikprozesses (in den

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2 Empirischer Forschungsstand: Mehr Partizipation – mehr Legitimation der EU?

über Entscheidungen der Konsultationsformate beeinträchtigt auch die Nachvollziehbarkeit des Entscheidungsprozesses der EU generell, da durch die Einbeziehung der Zivilgesellschaft eine zusätzliche Komponente in das komplexe EU-Institutionensystem eingeführt wird, die es erschwert, konkrete Ergebnisse nachzuvollziehen und Verantwortlichkeiten zu be­ nennen (vgl. Wendler 2005: 206). Durch die Bereitstellung von Wissen und möglichen Projektpartner*innen aus der Zivilgesellschaft unterstüt­ zen die Partizipationsangebote zudem die Stellung der Kommission als nicht-politische Institution zulasten einer von Bürger*innen direkt legiti­ mierten Interventionsmacht (vgl. Scharpf 1999: 30, siehe Kapitel 1.1) – und verstärken somit generelle institutionelle Schieflage der EU. Insge­ samt lassen die empirischen Ergebnisse der direkten Partizipationsformen bei der EU-Kommission die mit den assoziativen und deliberativen Ansät­ zen verbundenen Hoffnungen auf einer Stärkung der Legitimität in der derzeitigen Form fragwürdig erscheinen. Hingegen scheint sich eher eine komplexe und ambivalente Wirkungsbeziehung zwischen den direkten Partizipationsformen als Teil der Throughput-Legitimation und den ande­ ren beiden Legitimationsmechanismen für die Beschreibung der empiri­ schen Realität anzubieten. Gleichwohl werden systematische Aussagen zu Ursachen und Effekten dieser Wirkungsbeziehung durch die Komplexität des Forschungsstandes und durch die bislang unzureichende systematische Aufarbeitung der verschiedenen Beteiligungsformen erschwert.

Ausschüssen) und Beteiligung öffentlicher Akteur*innen und weniger direkten Partizipationsmöglichkeiten mit der Zivilgesellschaft.

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3 Forschungsfrage und -design

3.1 Forschungsfrage Eine Ergänzung des europäischen Institutionensystems mit partizipativen Elementen wurde von Wissenschaftler*innen verschiedener Ansätze emp­ fohlen (vgl. Benz 1998: 348f.; Cilo 2014: 115; Heinelt 1998: 91f.; Héritier 2003: 829; Huget 2007: 184; Joerges/Neyer 1998: 222; dies. 2014: 353; Kohler-Koch 2010: 106; dies. 2011a: 7; Schmalz-Bruns 1997: 77, 82; Schup­ pert 1997: 84;). Auch von den EU-Institutionen wurde ein Ausbau der direkten Beteiligungsmöglichkeiten begrüßt. Insbesondere die EU-Kom­ mission hat mit dem Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001) für eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft137 in die europä­ ischen Entscheidungsprozesse als Antwort auf das Demokratiedefizit der EU argumentiert. Infolgedessen hat sie neue Beteiligungsformate, wie On­ line-Konsultationen, geschaffen und den Kreis der Konsultierten aus der Zivilgesellschaft deutlich erweitert. Seit dem Vertrag von Lissabon sind partizipative Instrumente auf der EU-Ebene sogar primärrechtlich in den Artikeln 10 und 11 EUV verankert138. Dabei begründeten sowohl die assoziativen und deliberativen Ansätze als auch die EU-Kommission die Forderungen nach einer verstärkten Beteiligung auf EU-Ebene mit einer Steigerung der Input- und der Out­ put-Legitimation: Auf der Input-Seite soll eine breitere Inklusion die Schwächen des EU-Parlaments ausgleichen (z. B. EU-Kommission 2001: 13f.; Schmalz-Bruns 1997: 82, Schmidt 2010: 19, 22) und durch die Einbe­ ziehung von Gegenexpert*innen die Repräsentativität von europäischen Entscheidungen erhöhen (vgl. Heinelt 1998: 93).139 Der eingebrachte Sach­ verstand der Assoziationen und die Effekte gemeinsamer Problemlösung

137 Zivilgesellschaft wird hier in einem weiten Sinne verstanden (siehe Seite 8, Fußnote 17; vgl. Kohler-Koch 2011a: 11). 138 Siehe dazu Kapitel 4.1. 139 Merkel und Ritzi (vgl. 2017: 232) weisen zudem unter Bezugnahme auf den französischen Theoretiker Rosanvallon und Ergebnisse der empirischen Wahl­ forschung darauf hin, dass die legitimatorische Kraft des Wahlaktes schwindet: Die Bürger*innen wollen unmittelbar Einfluss auf die Entscheidungen nehmen und sind anscheinend eher bereit, direktdemokratisch getroffene politische Ent­ scheidungen zu akzeptieren.

99

3 Forschungsfrage und -design

(vgl. Cohen/Rogers 1992: 425f.; Héritier 2003: 829; Mayntz 1987: 96f.; Schmalz-Bruns 1997: 82) sollen die Qualität der europäischen Entschei­ dungen verbessern (vgl. EU-Kommission 2001: 13f.) und diese besser an die Lebenswirklichkeit der Betroffenen anbinden (vgl. Heinelt 1998: 94). Gleichwohl zeigt sich bei den direkten140 Partizipationsmöglichkeiten auf EU-Ebene – wie in anderen Kontexten auch141 – ein Auseinander­ klaffen der theoretischen Ansprüche und der empirisch beobachtbaren Wirklichkeit. Denn dabei scheint der Ausbau an direkten Partizipations­ möglichkeiten in der EU-Kommission insgesamt vorrangig strategisch mo­ tiviert: ihre eigene Stellung im Mehrebenensystem zu stärken und die Erfüllung der eigenen Rolle als Hüterin der Verträge sicherzustellen (vgl. Kohler-Koch 2014). Zwar werden so durchaus mehr Informationen in die Entwürfe eingebracht und somit deren Output-Legitimation erhöht. Gleichwohl scheint dies vor allem als eine Unterstützung und Legitimati­ onsressource für die EU-Kommission als Institution zu sein, beispielsweise um eigene Vorhaben gegenüber den anderen Institutionen zu rechtferti­ gen (vgl. Huget 2007: 256; Kohler-Koch 2007: 269; Kröger 2008: 30, 33; Quittkat/Kohler-Koch 2011: 96). Gleichzeitig werden Mängel in der demo­ kratischen Ausgestaltung der Beteiligungsprozesse erkennbar, wie fehlen­ de Transparenz dieser Prozesse und Mängel der Berichterstattung der EUKommission, die eine unzureichende Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse für die Beteiligten und die größere Öffentlichkeit bedingen (ausführlich dazu siehe Kapitel 2). Hinzu kommt, dass partizipative Instrumente gerade in den Bereichen eingesetzt werden (beispielsweise OMK), in denen nur eine schwache Vertragsbasis für europäisches Handeln vorliegt und das EU-Parlament außen vor ist (vgl. z. B. Huget 2007: 249, 255; Höchstetter 2007: 106; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 84f.; Joerges/Neyer 1997: 621). Darüber hinaus lassen es die Anforderungen der Konsultationsformen der EU-Kommission und deren strategische Ausrichtung plausibel erscheinen,

140 Direkte Partizipationsmöglichkeiten bezeichnen themenorientierte und unmit­ telbare Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger*innen und Organisationen. Dar­ unter werden hier keine direktdemokratischen Beteiligungsformen verstanden (ausführlicher dazu, siehe Kapitel 4.1). 141 Eine Studie der Bertelsmann Stiftung (2014) zeigt den starken Wunsch der Bevölkerung nach mehr Partizipationsmöglichkeiten. Gleichwohl schließen Merkel und Ritzi in ihrer zusammenfassenden Diskussion der Ergebnisse von Fallstudien zu direkter Demokratie in Deutschland auf der lokalen und Landes­ ebene, dass dieser Wunsch der Bevölkerung nicht unbedingt mit einer stärkeren Nutzung der direktdemokratischen Möglichkeiten einhergeht (vgl. Merkel/Rit­ zi 2017: 232, 238).

100

3.1 Forschungsfrage

dass trotz der Ausweitung der Konsultierten einige Akteur*innen inner­ halb der Zivilgesellschaft mehr von den verstärkten Partizipationsmöglich­ keiten profitieren als andere (vgl. Huget 2007; Jachtenfuchs-Kohler-Koch 2010; Joerges/Neyer 1997: 621; Kohler-Koch 2011a und b; Kröger 2008; Schultze 2013). Es erscheint dabei wesentlich plausibler, dass große euro­ päische Dachverbände oder ressourcenstarke Verbände von diesen stärker profitieren als Graswurzelbewegungen oder einzelne Bürger*innen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die erste forschungsleitende Frage: a) Wer profitiert von direkter Partizipation auf EU-Ebene? Denn wenn die Beteiligungsmöglichkeiten der EU-Kommission vorrangig diese als Institution selbst stärken, gleichwohl nur mangelhaft transparent gestaltet und die Ergebnisse für die Partizipierenden schwer nachvollzieh­ bar sind, ergänzen diese partizipativen Instrumente zwar das repräsenta­ tive Institutionensystem. Gleichwohl verstärken die direkten Beteiligungs­ formen damit jedoch die bereits bestehenden Legitimationsdefizite im europäischen Entscheidungssystem (wie schwierige Nachvollziehbarkeit und Kontrolle von Entscheidungen). Die Frage, wer durch die verstärkten direkten Beteiligungsangebote profitiert, hat somit eine empirische Rele­ vanz für mögliche Reformperspektiven und -ansätze in der EU. Neben diesen Implikationen für die Minderung des Legitimationsdefizi­ tes stellt die Forschungsfrage die Gretchenfrage für Ansätze deliberativer und assoziativer Demokratie bei ihrer Forderung nach mehr direkter Par­ tizipation: Wie gehen diese Ansätze mit negativen Rückwirkungen und Effekten von direkter Partizipation von Bürger*innen um, die in der Theo­ rie als etwas per se Wünschenswertes formuliert werden? Wenn durch die verstärkten direkten Partizipationsmöglichkeiten weniger die Bürger*in­ nen als vielmehr die demokratisch gering legitimierte EU-Kommission als Institution profitiert, geraten sowohl eine uneingeschränkte Forderung nach mehr Partizipation (beispielsweise bei Barber 1994; Pateman 1970) als auch eine generelle positive Konnotation von partizipativen Elemen­ ten („neo-demokratisch“, kritisch dazu Schultze 2013) in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit auf den Prüfstand. Dabei scheint sowohl das idealtypische normative Partizipationsverständnis nur begrenzt geeignet zu sein, um die ernüchternden empirischen Ergebnisse zu erklären. Eben­ so scheint das idealtypische instrumentelle Partizipationsverständnis der empirischen Demokratietheorie (wie beispielsweise bei Fritz W. Scharpf) die Realität nur verkürzt abzubilden, indem es der empirischen Vielfalt

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3 Forschungsfrage und -design

der direkten Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene zu wenig Aufmerk­ samkeit schenkt. Daher soll durch die Analyse, wer in der EU durch die direkten Beteiligungsmöglichkeiten profitiert, auch zu einem differenzier­ ten Verständnis von Partizipation und seinen Effekten auf die demokrati­ sche Legitimation beigetragen werden, jenseits dieser beiden idealtypi­ schen Vorstellungen. Dabei wird an dieser Stelle dafür plädiert, dass politi­ sche Beteiligung142 zugleich ein Mittel zum Zweck für die beteiligten Bür­ ger*innen ist, aber darüber hinaus auch einen Wert für das politische Sys­ tem hat – allein schon, da kein demokratisches System ohne ein Mindest­ maß an Beteiligung auskommt (vgl. Hoecker 2006: 1). Gleichwohl muss mehr direkte Partizipation nicht unbedingt ein Mehrwert an demokrati­ scher Legitimation (mehr Input- oder Output-Legitimation) für das jewei­ lige politische System bedeuten – es können dadurch auch legitimations­ hinderliche Effekte entstehen (ähnlich auch Pautsch/Zimmermann 2020: 397). Um diese herausarbeiten zu können, schließt sich die zweite For­ schungsfrage dieser Arbeit an: b) Welche Strukturen und Mechanismen bewirken, dass einige Akteur*innen stärker von Partizipation profitieren als andere? Ob mehr direkte Beteiligung einen Mehrwert an demokratischer Legiti­ mation erzeugt oder auch bestimmte negative Effekte darauf hat (vgl. Schmidt 2010: 25f.), ist abhängig von der jeweiligen konkreten Ausgestal­ tung der Partizipationsprozesse und deren Eingliederung in das Institutio­ nensystem (ähnlich siehe Decker 2021: 133, 139; Kersting 2008: 18; Mer­ kel/Ritzi 2017: 236; Schmalz-Bruns 1997: 73). Denn gerade hinsichtlich der Frage, wie genau die partizipativen Instrumente in das repräsentative Institutionensystem eingegliedert werde sollen, bleibt die Theorie um as­ soziative oder auch deliberative Demokratie häufig unkonkret (vgl. Benz 1998; Cohen/Rogers 1992; Schuppert 1997) und bedarf empirischer Arbei­ ten, die dies konkretisieren (vgl. Kropp 2021: 41f.). Allerdings beschränkt sich die empirische Forschungslandschaft häufig auf Fallstudien zu einzel­ nen Beispielen von Partizipationsformen, Zielgruppen und Politikfeldana­

142 Partizipation wird hier nicht als umfassende Lebensform verstanden, denn es werden nur jene Handlungen gezählt, die einen expliziten politischen Impetus haben, vorpolitische Handlungen werden nicht betrachtet (siehe Kaase 2002: 350).

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3.1 Forschungsfrage

lysen143. In der Konsequenz werden jedoch strukturelle Auffälligkeiten und Zusammenhänge, in die die Partizipationsformen eingebettet sind, und deren Wirkung auf die demokratische Legitimation nicht sichtbar und somit die systematische Theoriearbeit erschwert. Vielmehr bedarf es einer systematischen Aufarbeitung der direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene außerhalb von Wahlen. Eine solche Übersicht stellt zunächst einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn per se dar, um den bisherigen Flickenteppich an empirischer Forschung zu einzelnen Instrumenten auf EU-Ebene zu überwinden und zu einer systematischeren Partizipationsfor­ schung beizutragen (vgl. z. B. Kersting 2008; Alcántara et al. 2016: 41-81). Eine solche Typologie ermöglicht es so, die in Kapitel 2 beschriebenen Differenzen der Terminologie in der Partizipationsforschung für den EUKontext zu verringern und geeignete Kriterien für die Klassifizierung von Partizipationsformen zu identifizieren.144 Neben diesen allgemeinen Zielen der Partizipationsforschung liegt der für diese Arbeit wesentliche Erkenntnisgewinn einer systematischen Ty­ pologie der verschiedenen direkten Partizipationsformen auf EU-Ebene darin, strukturelle Zusammenhänge und Problemfelder der Beteiligungs­ formen sichtbar zu machen, die sich über verschiedene Formen hinweg er­ strecken. Vivien Schmidt hat in ihrem Modell bereits darauf hingewiesen, dass direkte Partizipation in der Throughput-Legitimation auch negative Effekte auf die anderen beiden Legitimationsmechanismen haben kann (vgl. Schmidt 2010: 25f.). Allerdings bleibt Schmidt sehr undifferenziert in der Beschreibung der direkten Partizipationsformen auf EU-Ebene, die sie als Konsultation bei der EU-Kommission einordnet (vgl. ebd.: 8). Erst eine systematische Aufarbeitung der verschiedenen direkten Beteiligungs­ formen öffnet den analytischen Blick dafür, welche Akteure systematisch von diesen Formen profitieren – und nicht nur bei einer Beteiligungsform. Zudem können erst durch diese systematische Aufarbeitung strukturelle Faktoren der Beteiligungsprozesse oder der Eingliederung in das Institutio­ nensystem sichtbar gemacht werden, die dafür sorgen, dass einige mehr profitieren als andere Akteure. 143 Ausnahmen eine systematische Erfassung von Partizipationsformen für andere Kontexte (siehe Merkel/Ritzi 2017: 238-247; Alcántara et al. 2016: 83-115). 144 Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Unterscheidung zwischen kon­ ventioneller (z. B. Wahlen) und unkonventioneller Partizipation (z. B. eine Bürger*inneninitiative) nicht überholt ist, da sich insbesondere verändert hat, was unter unkonventioneller Partizipation zu verstehen ist (zum Wandel siehe Kersting 2008: 24, zur fehlenden trennscharfen Abgrenzbarkeit siehe Gei­ ßel/Penrose 2003: 4f.).

103

3 Forschungsfrage und -design

Auf diese Weise sollen legitimationsförderliche und legitimationshin­ derliche Effekte von direkter Partizipation herausgearbeitet und konkrete Stellschrauben für diese Effekte identifiziert werden (ähnlich für andere Kontexte Kersting 2008; Merkel/Ritzi 2017: 238-247). Auf diese Weise sollen zudem mögliche Reformperspektiven und -ansätze für direkte Par­ tizipationsmöglichkeiten auf EU-Ebene ermittelt werden, die die im em­ pirischen Forschungsstand identifizierte Probleme abmildern (bspw. die Verstärkung der vorhandenen institutionellen Probleme durch direkte Partizipation). Darüber hinaus werden die Ergebnisse genutzt, um ein differenzierteres Verständnis von zugrunde liegenden Annahmen von Par­ tizipation und den empirischen Effekten von direkter Partizipation zu ermöglichen. Damit soll die Kluft zwischen den theoretischen Erwartun­ gen und empirischen Ergebnissen von Partizipation besser nachvollziehbar gemacht werden und – durch die Entwicklung von Faktoren, die die Effekte von Partizipation auf die demokratische Legitimation bedingen – die Partizipationsforschung weiterentwickelt werden. 3.2 Forschungsdesign Um untersuchen zu können, wer von den verstärkten Partizipationsmög­ lichkeiten auf EU-Ebene profitiert und durch welche Mechanismen dies geschieht, bedarf es einer systematischen und transparenten Aufarbeitung der vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten. Dies soll in dem vorliegen­ den Forschungsdesign durch ein einheitliches, auf Kriterien basierendes Vorgehen gewährleistet werden. Dafür wurden in dieser Arbeit drei Krite­ rien entwickelt, die die in die Partizipationsformen gesetzten Hoffnungen der verschiedenen theoretischen Ansätze abbilden und das jeweilige Legi­ timationspotenzial der partizipativen Instrumente evaluieren. Diese drei Kriterien sind Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit. Ihre kon­ krete Auswahl, Begründung und Definition folgt nach der allgemeinen Beschreibung des Forschungsdesigns. Die systematische Aufarbeitung der strukturellen Probleme von den direkten Partizipationsformen soll durch ein Vorgehen auf zwei Ebenen gewährleistet werden: In einem ersten Schritt (Schritt 1: Makro-Ebene, Ka­ pitel 4) erfolgt eine systematische und kriteriengeleitete Typologisierung der direkten Beteiligungsformen, die aufzeigt, welche Zielgruppen in wel­ chen Politikfeldern bei welchen EU-Institutionen partizipieren können. Dafür wurde ein eigener Kriterienkatalog entwickelt, der das Ziel hat strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen sichtbar zu machen,

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3.2 Forschungsdesign

die sich über verschiedene Formen hinweg erstrecken. Dieser Katalog beinhaltet sowohl analytische Kriterien, die das Legitimationspotenzial und die Probleme evaluieren (Inklusivität, Deliberation und Verantwort­ lichkeit), als auch deskriptive Kriterien (beispielweise Politik, rechtliche Grundlage, Verfahren) – insgesamt ermöglicht diese Vorgehensweise, die Beteiligungsform vergleichbar zu machen und strukturelle Probleme her­ auszuarbeiten. Solche strukturellen Auffälligkeiten können beispielsweise die im empirischen Forschungsstand diagnostizierten Mängel der Beteili­ gungsverfahren in den Bereichen Transparenz und Berichterstattung bei der EU-Kommission sein. Durch die systematische Gegenüberstellung der verschiedenen Partizipationsformen können zudem bereits Faktoren her­ ausgearbeitet werden, die bei den strukturellen Problemen der verschie­ denen Partizipationsformen eine Rolle spielen, d. h. diese verursachen oder bedingen. Eine hohe Arbeitsauslastung der Mitarbeitenden der EUKommission könnte beispielsweise die Mängel bei den Berichtspflichten bedingen. Insgesamt ist die analytische Perspektive bei der Typologie der Beteiligungsformen gleichwohl deskriptiv ausgerichtet. Auch wenn sich bereits in der Typologie bestimmte Faktoren erkennen lassen, die plausibel dafür erscheinen, dass einige Akteur*innen mehr von direkter Partizipation profitieren als andere, bleibt dies noch zu unkonkret in der Analyse der jeweiligen Wirkungsmechanismen. Um nachzuvollzie­ hen, wie genau die Faktoren die strukturellen Probleme von Partizipation bedingen, werden diese in einem zweiten Schritt an einer konkreten Betei­ ligungsform im Detail nachvollzogen und analysiert (Schritt 2: Mikro-Ebe­ ne, Kapitel 6 und 7). Die Analyse wird ebenso von den drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit geleitet, auch wenn der Fokus in den Fallstudien im Vergleich zu der Typologie in Schritt 1 stärker von einem verstehenden und kausalen Interesse der Probleme geleitet ist. In einem dritten Schritt werden die Ergebnisse der Fallstudien zusam­ mengefasst und auf die Makro-Ebene zurückgebunden, d. h. es wird her­ ausgearbeitet, was von dem konkreten Beispiel auf die anderen Formen übertragen werden kann (Schritt 3: Synthese, Kapitel 8). Dies geschieht anhand der in Schritt 1 erarbeiteten Vergleichbarkeit der Beteiligungsfor­ men, unter besonderer Berücksichtigung von strukturellen Charakteristika der Beteiligungsformen (z. B. die Beteiligungsform Konsultation) und den drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit. Insofern ist in diesen Schritt auch eine Kontrollmöglichkeit eingebaut, da die struk­ turellen Faktoren, die in Schritt 1 erarbeitet wurden, nun gegebenenfalls noch modifiziert werden können. Auf diese Weise kann insgesamt für die direkten Beteiligungsformen evaluiert werden, welche Akteur*innen

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3 Forschungsfrage und -design

davon profitieren. Zudem können so legitimationsförderliche und -hinder­ liche Effekte von Partizipation in den Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit dargestellt, an die theoretischen Ansprüche zu­ rückgebunden und konkrete Stellschrauben für Reformansätze von direk­ ter Partizipation auf EU-Ebene vorgestellt werden (Kapitel 9). Nach dieser allgemeinen Vorstellung des Forschungsdesigns wird zu­ nächst die Auswahl der drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Ver­ antwortlichkeit begründet, und diese werden definiert. Anschließend wer­ den die einzelnen Schritte des Forschungsdesigns noch einmal detaillierter vorgestellt. Dabei werden auch die jeweilige Ausrichtung und Funktion der drei Kriterien dargestellt. 3.2.1 Verwendete Kriterien für die empirische Untersuchung von demokratischer Partizipation auf EU-Ebene Um die Effekte von direkter Partizipation auf demokratische Legitimation evaluieren zu können, werden für diese Arbeit drei Kriterien genutzt. Diese stellen Dimensionen dar, anhand derer eine mögliche Steigerung der Input- oder Output-Legitimation möglich ist (legitimationsförderliche Effekte). Sie zeigen jedoch auch im Umkehrschluss auf bestimmte Pro­ blembereiche der Legitimation durch die Partizipationsmöglichkeiten hin (legitimationshinderliche Effekte). Die drei Kriterien leiten die gesamte Analyse dieser Arbeit, auch wenn sie in den einzelnen Schritten unter­ schiedlich ausgerichtet sind. Die drei Kriterien stellen eine Anbindung an die theoretische und empirische Forschung zu Partizipation auf EU-Ebene dar, gewährleisten eine umfassende Analyse der legitimatorischen Effekte von Partizipation und generieren eine breite Anschlussfähigkeit der Ergebnisse dieser Ar­ beit: Sie beziehen sich auf die Kernforderungen und Begründungen der theoretischen Ansätze (Kapitel 1.2), auf die selbstgestellten Gütekriterien der EU-Kommission für europäische Governance im Weißbuch 2001 (Ka­ pitel 1.3; z. B. bei Quittkat 2011b) und verweisen auf Kriterien für die demokratische Qualität von Beteiligungsprozessen; sowohl im EU-Kontext (vgl. Dahl 1989: 106-131 bei Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 83; Schmidt 2010; für internationales Regieren vgl. Nanz/Steffek 2004: 91 ff. bei Walk 2008: 196) als auch in der allgemeinen Partizipationsforschung und (vgl.

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3.2 Forschungsdesign

Alcántara et al. 2016: 83145; Kersting 2008: 33). Die Auswahl der Kriterien wird nachfolgend im Einzelnen begründet und anschließend werden diese definiert. Inklusivität Dieses Kriterium stellt die Hauptforderung der assoziativen Demokratie (siehe Kapitel 1.2, z. B. Cohen/Rogers 1992; Schmalz-Bruns 1998: 82) und ein erklärtes Ziel der EU-Kommission für europäisches Regieren im Weißbuch dar (vgl. EU-Kommission 2001: 13f.). Eine Stärkung der Inklusivität und eine breitere Einbeziehung erscheinen im EU-Kontext insbesondere vor den strukturellen Problemen des EU-Parlaments (z. B. niedrige Wahlbeteiligung, geringe institutionelle Befugnisse, Ungleichheit im EU-Wahlrecht) geboten.146 Teilweise wird bei diesem Kriterium auch zwischen formaler Möglichkeit und tatsächlicher Teilhabe unterschieden. Letztere diskutieren einige Autoren auch als Kategorie Repräsentation (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010; Kohler-Koch 2011a; Kröger 2008). Dabei ist ebenso relevant, ob weiterhin Ungleichgewichte in der Beteiligung oder Verzerrungen bestehen (vgl. Alcántara et al. 2016: 84f., 89; Cohen/Rogers 1992: 444f., 451; Eising 2001: 295; Schmalz-Bruns 1997: 79). Bestehende Ungleichgewichte könnten als ein Zeichen für bislang mangelnde Ein­ griffsmöglichkeiten des Staates gewertet werden, da diesem in der assozia­ tiven Demokratie eine aktive Rolle in der Förderung von benachteiligten Gruppen zugesprochen wird. Ungleichgewichte können auch auf struktu­ relle (institutionelle) Hindernisse und eine ungleiche Organisations- und Konfliktfähigkeit bzw. soziale und kommunikative Differenzen zwischen den Interessengruppen und -vertretungen hindeuten (vgl. Huget 2007: 237).

145 Sie verstehen darunter die Schlüsselindikatoren Offenheit, Transparenz und Empowerment, um partizipative Elemente im politischen System zu etablieren (vgl. Alcántara et al. 2016: 83). 146 Dem entspricht seine häufige Untersuchung in empirischen Arbeiten, siehe beispielsweise Cilo 2014, Höchstetter 2007, Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010, Kohler-Koch 2011a, Quittkat/Kohler-Koch 2011, Plottka 2012, Quittkat 2011a und b, Schultze 2013, Wendler 2005.

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3 Forschungsfrage und -design

Deliberation Anhand des Kriteriums Deliberation wird die Qualität von Prozessen der Entscheidungsfindung analysiert. Untersucht wird, inwiefern diese auf Ar­ gumenten beruhen, problemlösungsorientiert geführt werden oder sich gegenseitige Lernprozesse bzw. sogar eine geteilte Identität ergeben (vgl. z.B. bei Göler 2015; Huget 2007; Wendler 2005). Unterschiedlich wird in deliberativen Ansätzen gehandhabt, ob dies für die Gewährleistung von Deliberation ausreicht oder die argumentativ basierten Verhandlungen zusätzlich an eine größere Öffentlichkeit zurückgekoppelt sein müssen, damit das Kriterium Deliberation erfüllt ist (vgl. Huget 2007; Schultze 2013; Wendler 2005). Erst diese Rückkopplung erlaubt dann Bürger*in­ nen, politische Prozesse in der EU besser nachvollziehen zu können, und ermöglicht eine Emanzipation und Kontrolle durch die Bürger*innen (Re­ chenschaftspflicht). In diesem Sinne wird hier auch analysiert, inwiefern die Beteiligungsformen an eine große Öffentlichkeit außerhalb der Betei­ ligten angebunden sind. Verantwortlichkeit Eine mangelnde Verantwortlichkeit für die Bürger*innen ist ein Kernkri­ tikpunkt des Legitimationsdefizites der EU (vgl. Benz 2006a: 106-111, Koh­ ler-Koch 2011a:7; Scharpf 1999: 30; Schmidt 2010: 16, 22). Auch die empi­ rischen Arbeiten zu den Partizipationsprozessen konzentrieren sich oft auf dieses Kriterium (vgl. z. B. Höchstetter 2007: 106; Huget 2007: 321f.; Jach­ tenfuchs/Kohler-Koch 2010: 85f.; Joerges/Neyer 1997: 621147; Kröger 2008: 32f.; Quittkat 2011b: 144-151; Schultze 2013: 669, 672; Wendler 2005: 214). Da es sich um ein solch zentrales Kriterium für den Untersuchungs­ bereich handelt, wird zunächst dargestellt, welche einzelnen Bestandteile (Unterkriterien) andere Autor*innen behandeln. Anschließend wird die für diese Arbeit leitende Definition des Kriteriums präsentiert. 147 Joerges und Neyer sprachen sich im Zusammenhang mit der Kritik an der Transparenz der Konsultationen im Rahmen der Komitologie-Ausschüsse po­ sitiv über den Entschluss der Kommission aus, ihre interne Struktur zu reor­ ganisieren und somit auch die interne administrative Verantwortlichkeit der Kommission durch klare Zuständigkeiten für die wissenschaftlichen Ausschüsse zu stärken (vgl. Joerges/Neyer 1997: 621). Da die empirischen Befunde zum Punkt Transparenz auch in einer Vielzahl später folgender Analysen kritisch sind, scheint diese Reorganisation wenig Besserung bewirkt zu haben.

108

3.2 Forschungsdesign

Im Weißbuch (EU-Kommission 2001) wird Verantwortlichkeit als ein Gütekriterium europäischen Regierens dargestellt (vgl. ebd.: 13f.). Darun­ ter wird eine klarere Rollenverteilung zwischen den Institutionen und eine Verantwortungsübernahme der Institutionen für ihre jeweilige Funk­ tion verstanden (vgl. ebd.). Auch bei Vivien Schmidt (vgl. 2010: 7) ist Verantwortlichkeit ein wichtiges Kriterium für demokratische Prozesse der EU, die den Input zu einem Output verarbeiten (Throughput-Legitimati­ on). Bei empirischen politikwissenschaftlichen Arbeiten zu Partizipation auf EU-Ebene wird Verantwortlichkeit auch oft in einem ähnlichen Sin­ ne wie Rechenschaftspflicht verwendet: Wendler versteht unter Rechen­ schaftspflicht grundlegend die Möglichkeit, politische Entscheidungsträ­ ger*innen für Entscheidungen zur Verantwortung zu ziehen (vgl. Wendler 2005: 36). Dies kann sich sowohl auf die allgemeinen Zuständigkeiten der Institutionen als auch auf die konkreten Partizipationsinstrumente bezie­ hen. Notwendig sind dafür jedoch die Transparenz von Entscheidungen und die Offenlegung von Dissens, um die Entscheidenden kontrollieren zu können (vgl. Wendler 2005: 37). Auch Transparenz ist ein Gütekriteri­ um europäischen Regierens bei der EU-Kommission, gleichwohl erscheint die Offenlegung von Dissens im Weißbuch nicht. Dort geht es vorrangig um Informationen über Inhalt und Zeitpläne der Gesetzgebung (vgl. EUKommission 2001: 13f.). Kröger (2008) untersucht unter dem Kriterium Verantwortlichkeit die Möglichkeit der Kontrolle. Ein notwendiges Ele­ ment dafür ist Transparenz, wobei sie dabei sowohl auf die Zugänglichkeit von Informationen als auch auf ihre Verständlichkeit schaut (ähnliches Verständnis von Transparenz vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010; vgl. auch Nanz/Steffek 2004: 91 ff. bei nach Walk 2008: 196). Ebenso ist für sie bei dem Kriterium Verantwortlichkeit wichtig, dass Öffentlichkeit her­ gestellt wird. Dies beinhaltet zum einen, dass involvierte Bürger*innen über die Ergebnisse informiert werden, sowie dass Sanktionsmechanismen vorhanden sein müssen (vgl. Alcántara et al. 2016: 87; Jachtenfuchs/Koh­ ler-Koch 2010: 86). Dies gleicht der von Höchstetter (2007) erforschten Zurechenbarkeit von Entscheidungen. Jachtenfuchs/Kohler-Koch (2010) untersuchen unter dem gleichberechtigten Einfluss auf Ergebnisse auch das Bestehen von Öffentlichkeit sowie die Berichterstattung der Kommissi­ on über ihre Ergebnisse. Dabei geht es auch um das Zustandekommen von Entscheidungen durch den Input der Partizipierenden. Kröger (vgl. 2008: 20f.) führt zudem die Kategorie Responsiveness ein, wobei sie diese nicht definiert. Sie beschreibt aber zum einen Maßnahmen der Berichterstattung der Kommission, und zum anderen, inwiefern die EU-Kommission die Ideen der zivilgesellschaftlichen Organisationen aufnimmt (vgl. z. B. ebd.).

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3 Forschungsfrage und -design

In dieser Arbeit wird Verantwortlichkeit als Möglichkeit für die Beteilig­ ten der Partizipationsform definiert, die Ergebnisse der Beteiligung den politisch verantwortlichen Entscheidungsträger*innen zuzuordnen und diese zur Rechenschaft zu ziehen. Als notwendige Bestandteile und Unter­ kriterien werden Transparenz der Beteiligungsprozesse und die Berichter­ stattung der Institutionen über das Zustandekommen der Ergebnisse sowie deren weitere Verwendung im politischen Entscheidungsprozess gesehen. Untersucht wird dabei auch, ob dies nur für die direkt Beteiligten oder für eine potenziell größere Öffentlichkeit möglich ist. Aus dem letzten Punkt ergeben sich Überschneidungen zum Kriterium Deliberation, wobei der Fokus hier stärker in einem liberalen Sinne der Kontrolle gesehen wird und weniger auf deliberativen Prozessen einer kritischen Öffentlichkeit liegt. Die einzelnen Kriterien lassen sich folgendermaßen den Effekten der Output- und Input-Legitimation zuordnen148: Während eine Verbesserung der Inklusivität (als Ergänzung der Willensbildung zum Europäischen Parlament) zu einer Stärkung der inputorientierten Mechanismen demo­ kratischer Legitimation beitragen kann, beziehen sich die Kriterien De­ liberation und Verantwortlichkeit stärker auf das Kriterium Output-Legi­ timation. Dabei kann Deliberation zu einer Verbesserung der Effizienz und Ergebnisqualität europäischer Entscheidungen beitragen. Klare und transparente Zuordnungsmöglichkeiten in den Beteiligungsprozessen und eine Aufklärung über die weitere Nutzung des Inputs der Beteiligung können wiederum dazu beitragen, generell die Zuordnungsfähigkeit in der EU zu verbessern. In diesem Sinne könnte argumentiert werden, dass die Bürger*innen in funktional angeordneten Arenen Einfluss- und Kon­ trollmöglichkeiten auf politische Entscheidungen zusätzlich zum Europä­ ischen Parlament erlangen (bzw. in abgeschwächter Form zu nationalen Parlamenten; siehe auch Héritier 1999: 279). Dadurch würden dann auch das europäische Legitimitätsdefizit auf der Output-Seite etwas abgemildert und die outputorientierten Mechanismen demokratischer Legitimation gestärkt werden. Nachfolgend werden die einzelnen Schritte des Forschungsdesigns be­ schrieben.

148 Allerdings ergeben sich dabei auch Überschneidungen, auf die bei den Ergeb­ nissen dann entsprechend hingewiesen wird.

110

3.2 Forschungsdesign

3.2.2 Zusammenstellung der Beteiligungsinstrumente (Makro-Ebene) Zunächst werden die verschiedenen Beteiligungsformen auf EU-Ebene sys­ tematisch zusammengestellt und vergleichbar gemacht. Die Grundlage da­ für ist ein allgemeiner Partizipationsbegriff, der alle legalen individuellen (Personen) und kollektiven (Organisationen) Formen auf der EU-Ebene einschließt, die versuchen, politische Entscheidungen der EU-Ebene zu be­ einflussen bzw. daran teilzuhaben. Durch die Gewaltenverschränkung149 in der EU ist dies nicht immer ganz trennscharf möglich; gleichwohl wird an entsprechenden Stellen auf diese Problematik hingewiesen. Betei­ ligungsformen, deren Ergebnisse die EU betreffen, die jedoch klar der nationalen Ebene zuzuordnen sind (beispielsweise das Brexit-Referendum 2016), werden in dieser Typologie nicht betrachtet.150 Durch die Kriterien basierte Zusammenstellung der Beteiligungsformen in einer Typologie sollen strukturelle Auffälligkeiten und Problemfelder von direkter Partizipation herausgearbeitet werden (ausführliche Defini­ tion und Herleitung in Kapitel 4.1.2). Gleichzeitig sollen hier schon dabei wirkende Faktoren herausgearbeitet werden, die die strukturellen Proble­ me bedingen. Dafür wurde ein einheitlicher Kriterienkatalog entwickelt, der auf jede Beteiligungsform angewandt wird. Dieser enthält zum einen deskriptive Faktoren, wie die Zielgruppe, den Zeitpunkt der Einführung der Beteiligungsform, die rechtliche Grundlage, die institutionelle Anbin­ dung (z. B. EU-Kommission, Rat oder EU-Parlament) und der Anwen­ dungsbereich des Instrumentes. Somit soll eine möglichst umfassende und systematische Übersicht erstellt werden, die eine Vergleichbarkeit der Be­ teiligungsformen ermöglicht. Zum anderen werden mit den zentralen inhaltlichen Kriterien Inklu­ sivität, Deliberation und Verantwortlichkeit das Legitimationspotenzial und strukturelle Probleme der Beteiligungsformen herausgearbeitet (eben­ so ausführlich in Kapitel 4.1.2). Dabei haben die Kriterien im ersten Schritt des Forschungsdesigns zunächst eine inhaltlich steuernde und de­ skriptive Funktion, um strukturelle Probleme sichtbar zu machen und da­ bei wirkende Faktoren (bspw. der Mehrebenenkontext) herauszuarbeiten. Zudem werden sie genutzt, um beispielsweise Abweichungen zwischen

149 Da in der EU sowohl die europäische, supranationale Ebene (verkörpert bei­ spielsweise in den Institutionen EU-Kommission und EU Parlament), aber auch die Mitgliedstaaten in die politische Entscheidungsfindung eingebunden sind (vgl. Benz 2006a), ergibt sich eine Verschränkung der Gewalten. 150 Siehe dazu beispielsweise Lichteblau/Steinke (2017).

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3 Forschungsfrage und -design

den formalen Anforderungen von Beteiligungsformen und der faktischen Umsetzung (beispielsweise für Teilhabechancen) sichtbar zu machen. In diesem Sinne ist es das Ziel, ein systematisches und umfassendes Bild der verschiedenen Formen und Probleme von direkter Partizipation zu geben und erste Ursachen herauszufiltern. Methodisch wird dies mit einer breit angelegten Dokumentenanalyse von Primärquellen (Verordnungen, Gesetzestexte, Homepages, sonstige EU-Dokumente) und Sekundärlitera­ tur umgesetzt (ausführlicher siehe Kapitel 4.2.2). Dabei besteht das Ziel der Typologie nicht darin, eigene quantitative und repräsentative Aussa­ gen über strukturelle Probleme von Partizipation zu treffen – vielmehr werden die strukturellen Probleme aus einer umfassenden Sichtung der bestehenden Literatur, sonstigen Quellen und eigenen konzeptionellen Plausibilitätsüberlegungen beurteilt. 3.2.3 Analyse der Fallbeispiele (Mikro-Ebene) In einem zweiten Schritt werden die auf der Makro-Ebene identifizierten strukturellen Problemfelder anhand einer konkreten Beteiligungsform un­ tersucht. Dabei sind auch wieder die Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit für die Analyse leitend. Gleichwohl werden sie hier weniger in einem deskriptiven, sondern wesentlich stärker in einem verstehenden Sinne genutzt: Im Mittelpunkt der Fallstudienanalysen steht das Nachvollziehen der strukturellen Problemfelder von Partizipation, d. h. die differenzierte Analyse der dabei wirkenden Mechanismen und Faktoren am Beispiel einer Beteiligungsform. Die Fallstudien konzentrie­ ren sich auf Problemfelder in den Kriterien, die in Schritt 1 für die Ma­ kro-Ebene identifiziert wurden, beispielsweise Mängel in den Bereichen Transparenz und Berichterstattung bei den Beteiligungsprozessen der EUKommission. In der Fallstudienanalyse wird auf dieses Kriterium besonde­ res Augenmerk gelegt, da hier im Forschungsstand die größten Defizite prognostiziert wurden. Dies betrifft sowohl die Kritik am Legitimationsde­ fizit nach der Verantwortlichkeit der EU-Kommission, aber auch bei den Konsultationsformen der Kommission („Achillesferse der Kommission“, Quittkat 2011b: 144). Die Analyse der Fallstudie betrachtet jedoch nicht nur deduktiv diese aus der Theorie gewonnenen Annahmen, sondern es wird auch induktiv am konkreten Beispiel einer Beteiligungsform nach anderen Problemfeldern gesucht. Somit kann am konkreten Fall nachvoll­ zogen werden, welche Akteur*innen davon profitieren. Methodisch arbei­ ten die Fallstudien mit leitfadengestützten Interviews von verschiedenen

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3.2 Forschungsdesign

Beteiligten der konkreten Partizipationsform, um durch ein Einbringen verschiedener Perspektiven der Beteiligten die strukturellen Probleme und dabei wirkende Faktoren möglichst genau zu rekonstruieren und nachzu­ vollziehen. Die Beteiligungsformen der Fallstudien wurden anhand der Methode des theoretischen Samplings ausgewählt. Sie sollen ein möglichst breites Bild der Beteiligungslandschaft auf EU-Ebene abbilden und zudem „typisch“ für bestimmte strukturelle Probleme von Partizipation sein. Ihre Auswahl gründet auf der Typologisierung der Beteiligungsformen (Kapitel 4) und den dort erarbeiteten strukturellen Problemen von Partizipation. Kapitel 5 beleuchtet die Auswahl der Beteiligungsformen der Fallstudien und die verwendete Methode bei der Fallstudienanalyse näher. 3.2.4 Synthese: Übertragung der Erkenntnisse aus den Fallstudien auf die anderen Beteiligungsformen In einem dritten Schritt werden die Erkenntnisse der Fallstudien auf die anderen Beteiligungsformen angewendet (Kapitel 8). Welche Mechanis­ men und Faktoren des Fallbeispiels erscheinen übertragbar auf andere Ins­ trumente? Wo sind Unterschiede zu erwarten? Grundlage dafür sind zum einen die drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit sowie die in der Typologie der Beteiligungsformen erarbeitete Vergleich­ barkeit der verschiedenen Formen. Dafür ist die Klassifizierung der Partizi­ pationsformen hilfreich, die in Schritt 1 erarbeitet wurde (Kapitel 4). Auf dieser Grundlage sollen Spannungsfelder dargelegt werden, in denen sich direkte Partizipation auf der EU-Ebene bewegt (Kapitel 9). Zudem wird herausgearbeitet, welche Mechanismen diese Spannungsfelder bedingen. Sie sind die Grundlage für das Aufzeigen von legitimationsförderlichen und -hinderlichen Effekten von Partizipation und stellen mögliche Ansatz­ punkte für Reformoptionen für partizipative Demokratie in der EU dar. Darüber hinaus können so Desiderate für das Forschungsfeld Partizipation und demokratische Legitimation aufgezeigt werden. Abbildung 1 veran­ schaulicht das Forschungsdesign zusammenfassend.

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3 Forschungsfrage und -design

Forschungsdesign 1. Makro-Ebene: Typologie von Partizipationsformen  Identifikation von strukturellen Auffälligkeiten und Problemfeldern  Kriterien: Inklusivität, Deliberation, Verantwortlichkeit (deskriptive Ausrichtung)

Strukturelle Problemfelder im Detail nachvollziehen

3. Mechanismen vom Fallbeispiel zurückbinden auf die anderen Beteiligungsformen:  Was ist übertragbar?  Welche Faktoren scheinen geeignet die Theorie-Praxis-Abweichung von Partizipation zu erklären?

2. Mikro-Ebene: konkrete Beteiligungsform (Fallbeispiel)  Wer profitiert von der Beteiligungsform und wie?  Welche Faktoren bedingen die strukturellen Problemfelder?  Kriterien: Inklusivität, Deliberation, Verantwortlichkeit (verstehende Ausrichtung)

Abbildung 1: Forschungsdesign (eigene Darstellung)

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

In diesem Kapitel werden die direkten Partizipationsformen auf EU-Ebene systematisch zusammengestellt, um mögliche strukturelle Problemfelder der Beteiligungsformen sichtbar zu machen und die dabei wirkenden Me­ chanismen herauszuarbeiten. Nachdem zunächst die wesentlichen Begriffe definiert werden und der Untersuchungsgegenstand – direkte Partizipati­ onsformen auf EU-Ebene – unter Bezugnahme auf einschlägige Partizipa­ tionsforschung eingegrenzt wird (4.1), werden die Vorgehensweise und die Methode erläutert, die der systematischen Zusammenstellung der Be­ teiligungsformen zugrunde liegen (4.2). Hiernach werden die einzelnen Beteiligungsformen auf EU-Ebene vorgestellt (4.3) und abschließend die strukturellen Auffälligkeiten direkter Partizipationsmöglichkeiten sowie die dabei wirkenden Mechanismen zusammengefasst (4.4). 4.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereiches In diesem Kapitel werden einleitend wesentliche Begriffsbestimmungen zu direkter politischer Partizipation gegeben und der konkrete Untersu­ chungsgegenstand der Arbeit unter Bezugnahme auf geläufige Unterschei­ dungskriterien der Partizipationsforschung (z. B. Arnstein 1969, Hoecker 2006, Kaase: 1992, 2002) und Grundlagen im EU-Vertrag von Lissabon eingeordnet (insbesondere Art. 10 und 11 EUV) genauer eingegrenzt. In der vorliegenden Arbeit werden unter politischer Partizipation grundsätzlich all diejenigen aktiven und freiwilligen Aktivitäten sowohl von einzelnen als auch von organisierten Bürger*innen verstanden, mit denen diese politische Entscheidungsprozesse beeinflussen oder daran mitwirken. Dabei kann zwischen indirekten Möglichkeiten im repräsen­ tativen Institutionensystem, wie Wahlen, und unmittelbaren direkten. For­ men im politischen Entscheidungsprozess, wie Konsultationen oder Peti­ tionen, unterschieden werden. Direkte Beteiligungsmöglichkeiten sind in der EU primärrechtlich als Ergänzung zum repräsentativen Institutionen­ system sowohl für einzelne Bürger*innen als auch Mitglieder der organi­ sierten Zivilgesellschaft vorgesehen (Art. 10 Abs. 1 EUV): Artikel 10 Abs. 3 des EU-Vertrages schreibt das Recht aller Unionsbürger*innen fest, am demokratischen Leben der EU teilzunehmen, und hebt hervor, dass die

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Entscheidungen in der EU möglichst offen und bürgernah151 getroffen werden sollen (vgl. ebd.). Die Teilnahme der Bürger*innen am demokrati­ schen Leben der EU beschränkt sich auch nicht auf die Wahl zum EU-Par­ lament, der EU-Vertrag beinhaltet vielmehr eine Reihe von Bürger*innen­ rechten (vgl. Artikel 18 bis 25 AEUV), wie beispielsweise das Recht zur Petition oder zur Beschwerde bei der oder dem Bürgerbeauftragten (vgl. Art. 24 AEUV). In Anlehnung an dieses Verständnis der europäischen Primärquellen stehen hier die verschiedenen direkten Partizipationsmöglichkeiten von individuellen Bürger*innen und Organisationen auf europäischer (supra­ nationaler) Ebene152 außerhalb von Wahlen im Mittelpunkt. 153 Dabei wird zunächst auch die Kommunikation mit den Abgeordneten des Europä­ ischen Parlamentes (im Wahlkreis, über E-Mails und Veranstaltungen) ver­ nachlässigt, da diese in einem weiteren Sinne auch den Wahlen zugeord­ net werden. Der EU-Vertrag schreibt explizit der organisierten Zivilgesell­ schaft direkte – wenn auch vage formulierte – Beteiligungsmöglichkeiten zu, da die Organe der EU angehalten werden, in einen offenen, transparen­ ten und regelmäßigen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu treten. Dabei wird für diese Arbeit, in Anlehnung an das Verständnis der EU-Institutio­ nen (siehe Kapitel 1.3), ein sehr weites Verständnis der Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft der EU zugrunde gelegt, um die Realität der teilneh­ menden Organisationen abbilden zu können.154 Analog zum Verständnis 151 Da es sich um einen Verweis auf den Vertrag von Lissabon handelt, wird dieses Wort hier nicht gegendert. 152 Darüber hinaus kann durch die europäische Ebene auch verstärkt Partizipati­ on auf der nationalen, regionalen oder lokalen Ebene angeregt werden (wie im Fall der OMK-Pensionen, siehe dazu auch Barbehön 2010). Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch auf Partizipation, die die europäische Ebene zu be­ einflussen versucht. Dafür befinden sich die Beteiligungsmöglichkeiten in der überwältigenden Mehrheit auf der europäischen Ebene. Um eine gemeinsame Untersuchungsbasis zu schaffen und um eine notwendige Komplexitätsredukti­ on vornehmen zu können, wurde die europäische Ebene als Bezugspunkt für Partizipation in dieser Arbeit gewählt. 153 Zur Unterscheidung von direkten und indirekten Formen der Partizipation, bzw. unmittelbarer und mittelbarer (vgl. Geißel/Penrose 2003: 4; Hoecker 2006: 10). Dabei sind unmittelbare Beteiligungsformen direkt und themenspezifisch in den Politikprozess eingegliedert und laufen nicht über das repräsentative System. Sie werden in dieser Arbeit auch als direktere Formen der Partizipation bezeichnet. Sie sind jedoch nicht mit direktdemokratischen Instrumenten wie Referenden zu verwechseln. 154 Zu den verschiedenen Konzepten der Zivilgesellschaft in der EU siehe auch Kohler-Koch (2011c).

116

4.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereiches

der EU-Kommission wird hier nicht zwischen Organisationen der Zivilge­ sellschaft und sonstigen Arten von Interessengruppen unterschieden (vgl. ebd.).155 Damit wird in dieser Arbeit zunächst keine Unterscheidung zwi­ schen Organisationen gemacht, die sich vornehmlich für Interessen ihrer eigenen Mitglieder einsetzen (z. B. Unternehmensinteressen), und solchen, die sich für eine größere Gruppe oder ein allgemeines Gut einsetzen (wie Umwelt- oder Menschenrechtsinteressen). Ebenso werden Verbände miteingeschlossen, die nur juristische Personen als Mitglieder haben (vgl. Kohler-Koch 2011a: 11). Im EU-Vertrag werden neben den Unionsbür­ ger*innen und der Zivilgesellschaft noch der Gruppe der Stakeholder (d. h. der Betroffenen) primärrechtlich direkte Beteiligungsmöglichkeiten eingeräumt: Diesen wird in Art. 11 Abs. 3 EUV die Möglichkeit der um­ fassenden Anhörung durch die EU-Kommission zugesprochen. In dieser Arbeit werden Betroffene (in Anlehnung an Barbehön, vgl. ders. 2010: 11) als Organisationen der Zivilgesellschaft verstanden, die im jeweiligen Politikfeld aktiv sind (z. B. Sozialpartner in der Beschäftigungspolitik, Wohlfahrtsverbände gegen Armut). Sie besitzen gewissermaßen einen Ex­ pert*innen-Status, denn sie können der EU-Kommission Informationen und Expertise darüber liefern, wie sich eine bestimmte EU-Politik auf eine vertretene Gruppe auswirkt. Damit ergeben sich Überschneidungen zwischen Stakeholdern und der Zivilgesellschaft. Direkte Partizipationsmöglichkeiten – partizipative Instrumente156 – auf EU-Ebene sind in der Regel in öffentlichen EU-Dokumenten und -Publi­ kationen verankert (primär- und sekundärrechtliche Quellen, Bekanntma­ chungen, Mitteilungen usw.) und mithin in irgendeiner Form verfasst oder auch institutionalisiert (vgl. Kaase 2002: 351). Dabei erschwert der

155 Entsprechend werden in dieser Arbeit folgende Organisationen und Vereini­ gungen im Einzelnen zur Zivilgesellschaft in der EU gezählt: Gewerkschaf­ ten, Arbeitgeber*innenverbände, weitere Vertretungsorganisationen im sozia­ len und wirtschaftlichen Bereich (Unternehmens- und Verbraucherinteressen), Nichtregierungsorganisationen, wie etwa Umwelt- und Menschenrechtsorga­ nisationen, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, Jugendorganisationen, Fa­ milienverbände, Religionsgemeinschaften sowie Organisationen, über die Bür­ ger*innen am Leben in den Kommunen teilnehmen können (vgl. EWSA 1999: 33f.). 156 Partizipative Instrumente werden in dieser Arbeit als Werkzeuge betrachtet, mit denen Bürger*innen (individuell oder organisiert) den politischen Entschei­ dungsprozess beeinflussen beziehungsweise daran mitwirken können. Sie wer­ den synonym mit Beteiligungsmöglichkeiten verwendet und legen den Fokus auf die institutionellen Opportunitätsstrukturen für Partizipation in einem poli­ tischen System.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Mehrebenenkontext157 nicht verfasste Formen von Partizipation, d. h. sol­ che Formen, die „in einem spontanen oder geplanten Mobilisierungspro­ zess außerhalb des institutionellen Rahmens entstehen“ (ebd.).158 Implika­ tionen, die sich aus der Analyse der verfassten Möglichkeiten ergeben, werden ebenso reflektiert. Da sich die vorliegende Arbeit auf verfasste Beteiligungsinstrumente bezieht, ist sie gleichzeitig auch auf die legalen Partizipationsmöglichkeiten beschränkt, die im Rahmen von gesetzlichen Vorgaben ablaufen. Auf eine Unterscheidung zwischen konventionellen und unkonventionellen Partizipationsformen wird in dieser Arbeit ver­ zichtet. Zum einen ist die Abgrenzung nicht immer trennscharf möglich (vgl. beispielsweise Kaase 1992: 148). Zum anderen hat sich das Partizipati­ onsverhalten seit den 1970er-Jahren grundsätzlich verändert – viele dama­ lige unkonventionelle Partizipationsmöglichkeiten sind heute als konven­ tionell einzuordnen, und damit wäre die Unterscheidung wenig ergiebig. Zudem ist diese Differenzierung in großen Teilen bereits durch die Kriteri­ en verfasst und nicht verfasst abgedeckt. Eine weitere relevante Eingrenzung für diese Arbeit baut auf der Ein­ sicht von Sherry R. Arnstein aus dem Jahr 1969 auf, der unterschiedliche Grade der Verantwortungsübernahme durch Bürger*innen identifiziert. Arnstein stellt sich in diesem Modell Beteiligung bildlich auf einer Leiter vor, auf deren höheren Stufen die Selbstbestimmung der Bürger*innen zu­ nimmt.159 Auf den beiden untersten Stufen siedelt Arnstein Scheinprozes­ se an, bei denen tatsächlich keine wirkliche Bestimmung der Bürger*innen geschieht. Auf der darüber liegenden Stufe informieren sich Bürger*innen über politische Prozesse und Entscheidungen. Auf der nächsthöheren Stu­ fe findet Konsultation (auch Beschwichtigung) statt. Diese ordnet Arnstein als symbolische Übernahme von Verantwortung bei Partizipationsprozes­ sen ein. Geteilte Macht mit den Bürger*innen sieht Arnstein hingegen

157 „Multi-level Governance bezeichnet politische Strukturen und Prozesse, die Grenzen staatlicher Gebietskörperschaften mit dem Zweck überschreiten, Inter­ dependenzen der gesellschaftlichen Entwicklung und politischer Entscheidung zu bewältigen, die zwischen den einzelnen Territorien bestehen.“ (Benz 2006a: 95). 158 Auch wenn es diese Formen im EU-Kontext punktuell gab (beispielsweise bei Demonstrationen gegen den Irak-Krieg, bei der Occupy-Bewegung und nach dem Brexit), existieren diese nur in einem deutlich geringeren Umfang durch die erschwerten Bedingungen des transnationalen Settings und der unterschied­ lichen Sprachen. 159 Bischoff et al. (1996) legten eine andere Form der Beteiligungsleiter*innen vor.

118

4.1 Eingrenzung des Untersuchungsbereiches

als Partnerschaft (auch als Mitbestimmung bekannt) oder bei delegierten Aufgaben an die Bürger*innen.

Abbildung 2: Stufen der Beteiligungsleiter nach Sherry R. Arnstein (1969: 217) Auch die Unterscheidungskriterien von Arnstein werden genutzt, um den Untersuchungsbereich dieser Arbeit zusätzlich zu den bereits vorgestellten Kriterien einzugrenzen: Im Fokus dieser Arbeit stehen die Mitwirkungsund Beteiligungsmöglichkeiten, die mindestens einen beratenden, konsul­ tativen Charakter haben. Reines Informieren, beispielsweise das Verfolgen der Wahlen zum EU-Parlament, werden hier nicht näher betrachtet. Dies ist zum einen – ähnlich wie bei der Begriffsbestimmung der Zivilgesell­ schaft – vor mit dem möglichst detailgetreuen Abbilden der Realität der Beteiligungsformen in der EU zu erklären. Bis auf wenige Ausnahmen (z.

119 https://doi.org/10.5771/9783748936015 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

B. Europäischer Sozialdialog160,Komitologie) sind die partizipativen Ins­ trumente auf EU-Ebene beratende, also konsultative Beteiligungsformen. Zum anderen ist diese Eingrenzung für den Untersuchungsbereich dieser Arbeit auch aus notwendigen Gründen der Komplexitätsreduktion erfolgt; so böte sich eine eigene Zusammenstellung der informativen Partizipati­ onsmöglichkeiten in der EU an (einführend z. B. Heritier 2003). Gleich­ wohl wird Information als eine notwendige Bedingung für jegliche Partizi­ pationsmöglichkeit gesehen und – bei Informationsdefiziten der einzelnen Instrumente – entsprechend kritisch in den drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Transparenz reflektiert. Ebenso werden andere Defizite kritisch analysiert, die einer Selbstbestimmung der Bürger*innen in den Beteiligungsformen, im Wege stehen.161Zusammenfassend werden in die­ sem Kapitel alle individuellen (für Bürger*innen) und kollektiven (für Or­ ganisationen der Zivilgesellschaft) partizipativen Instrumente auf europäi­ scher Ebene betrachtet, die legal, gewissermaßen verfasst und unmittelbar sind. Ausgenommen sind dabei aus Gründen der Komplexitätsreduktion Partizipationsformen auf der nationalen, regionalen oder lokalen Ebene, auch wenn diese durch die europäische Ebene angestoßen wurden (z. B. lokale Beschäftigungsinitiativen im Bereich der Strukturfonds) – es sei denn, diese sind explizit Teil des partizipativen Instrumentes auf europäi­ scher Ebene (beispielsweise im Fall des Strukturierten Dialoges mit der Jugend). 4.2 Vorgehensweise 4.2.1 Analysekriterien der Typologie der Beteiligungsformen Um die verschiedenen Beteiligungsformen möglichst systematisch vorzu­ stellen und vergleichbar zu machen, wurde für diese Arbeit ein Katalog an verschiedenen Kriterien entwickelt, der auf jedes partizipative Instrument angewendet wurde. Ziel ist es, auf diese Weise zum einen die mit der Komplexität des theoretischen und empirischen Forschungsstandes einher­ 160 Der Europäische Sozialdialog beinhaltet beispielsweise auch Elemente der Mit­ bestimmung der Sozialpartner*innen. 161 Alcántara et al. argumentieren in dieser Hinsicht, dass Partizipation nur dann sinnvoll ist, wenn sie Wirkungen zeigt (vgl. 2016: 91f.). Die Alternative sind Scheinprozesse der Partizipation, weil die relevanten gesellschaftlichen Akteure zwar eingebunden werden, die Ergebnisse bei der weiteren Planung aber nicht berücksichtigt werden (vgl. ebd.: 97).

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4.2 Vorgehensweise

gehende Fragmentierung zu überwinden und eine gemeinsame Übersicht zu den verschiedenen direkten Beteiligungsformen geben zu können. In diesem Sinne ist die systematische Zusammenstellung der Beteiligungsfor­ men zunächst ein Selbstzweck, um die bestehenden Forschungslücken zu schließen und einen Vorschlag für eine einheitliche Terminologie anzubie­ ten, an den weitere Forschung anschlussfähig sein soll. Zum anderen sol­ len durch die systematische Zusammenstellung strukturelle Problemfelder der Partizipationsformen herausgearbeitet werden. Der entwickelte Kriteri­ enkatalog hat dabei die Funktion, diese strukturellen Probleme sowie die dafür ursächlichen Faktoren zu identifizieren. Um diesen Zielen gerecht zu werden, d. h. eine möglichst umfassende und vergleichbare Darstellung der Partizipationsformen zu präsentieren und strukturelle Probleme zu identifizieren, beinhaltet der Kriterienkatalog sowohl deskriptive Kriterien zur Beteiligungsform als auch inhaltlich auf die Legitimation bezogene Kriterien (Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit). Die folgende Übersicht gibt einen Überblick über die verwendeten Kriterien: – Deskriptive Kriterien: – Zielgruppe der Partizipationsform – Zeitpunkt der Einführung – Geschichte und rechtliche Grundlage – Institutionelle Anbindung auf EU-Ebene – Anwendungsbereich des Partizipationsinstrumentes – Durchführung/Verfahren der Beteiligungsform – Inhaltlich-analytische Kriterien: – Inklusivität – Deliberation – Verantwortlichkeit (Transparenz und Berichterstattung) Nachfolgend werden die einzelnen Kriterien vorgestellt und definiert. Deskriptive Kriterien: Diese Kriterien werden so gewählt, dass sie eine allgemeine Beschreibung des jeweiligen Instrumentes zulassen. Dabei wird auf wesentliche Charak­ teristika abgestellt, die gegebenenfalls bei Unterformen abweichen kön­ nen. Im Fall des Europäischen Sozialdialoges zielen die Darstellungen auf den branchenübergreifenden Sozialdialog ab, sektorale Dialoge können

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

in einigen Fällen variieren. Folgende deskriptive Kriterien werden zur Charakterisierung der partizipativen Instrumente angewendet: Die verschiedenen Beteiligungsformen werden in dieser Arbeit nach ihren Zielgruppen (Personen oder Organisationen bzw. beide) differenziert. Wie im Vertrag von Lissabon festgelegt, existieren auf europäischer Ebe­ ne sowohl individuelle als auch kollektive Partizipationsformen. Doch welche Partizipationsangebote sind für welche Organisationen (hier Orga­ nisationen der Zivilgesellschaft) und welche für einzelne Bürger*innen konzipiert? Dabei werden bei diesem Kriterium zunächst die formalen Vorgaben der Beteiligungsformen betrachtet (beispielsweise in gesetzli­ chen Grundlagen). Dies ermöglicht einen Überblick über die jeweiligen Beteiligungsmöglichkeiten der verschiedenen Zielgruppen auf EU-Ebene, insbesondere zu der Frage, wo sich einzelne Bürger*innen beteiligen kön­ nen. Die Analyse der Zielgruppen von Beteiligungsformen ermöglicht darüber hinaus bereits Informationen, die für das Kriterium Inklusivität verwendet werden. Dieses Kriterium ist stärker auf strukturelle Probleme der Beteiligungsform, wie faktische Hürden des Instrumentes, ebenso wie auf abweichend kommunizierte und umgesetzte Partizipationskonzepte ausgerichtet. Zudem wird analysiert, seit wann das jeweilige partizipative Instrument auf EU-Ebene eingesetzt wird (Zeitpunkt der Einführung). Auch wenn dies nicht immer zweifelsfrei zu bestimmen möglich ist – weil beispielsweise die formelle Einsetzung und der informelle Gebrauch voneinander abwei­ chen – soll versucht werden, einen Überblick über die zeitlichen Eckdaten des jeweiligen Instrumentes zu geben. Diese Darstellung ermöglicht die chronologische Einordnung der verschiedenen Partizipationsformen in der EU und damit Aussagen über Entwicklungstendenzen auf dem Feld der Partizipationsformen (4.4.1). Da auf europäischer Ebene insbesondere die verfassten Partizipationsfor­ men relevant sind (siehe Kapitel 4.1), wird für jedes partizipative Instru­ ment dargestellt, wo es rechtlich verankert162 ist. In diesem Zusammenhang werden in aller Kürze ebenso die geschichtliche Entwicklung und die treiben­ den Kräfte zur Entstehung und Einsetzung des jeweiligen Instrumentes beschrieben. Ziel ist es, die Motivation der Akteur*innen für die Einset­ zung bestimmter Beteiligungsformen sowie Hintergründe zur Entstehung beschreiben zu können. In Kapitel 1.3 wurde herausgearbeitet, dass die

162 Die rechtliche Verankerung wird hierbei in einem weiten Sinne ausgelegt und bezieht sich nicht ausschließlich auf rechtliche Quellen im engeren Sinne (z. B. auch EU-Publikationen und anderes).

122

4.2 Vorgehensweise

EU-Kommission sich in ihren Publikationen stets als Unterstützerin der partizipativen Demokratie in der EU dargestellt (vgl. insbesondere EUKommission 2001; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 75; Kohler-Koch 2014: 6; Kröger 2008: 5) und seit den 1990er-Jahren eine Fülle an Beteiligungs­ formen als Konsultation geschaffen hat. Darüber hinaus sind im EU-Ver­ trag weitere direkte Beteiligungsformen als Rechte für Bürger*innen, wie beispielsweise der Petitionen beim EU-Parlament (Art. 24 AEUV) oder Beschwerden bei der oder dem Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 24 AEUV), primärrechtlich verankert. An welchen Institutionen und in wel­ cher Form können sich Bürger*innen und Organisationen der Zivilgesell­ schaft beteiligen? Daher wird in dieser Arbeit auch die institutionelle Anbin­ dung (EU-Kommission, Rat oder Europäischer Rat und EU-Parlament) auf europäischer Ebene untersucht. Relevant dafür ist insbesondere, welche Institution die partizipierenden Akteur*innen ernennt, die konkreten Be­ teiligungsprozesse durchführt, und welche Institution in einem weiteren Sinne daran beteiligt ist, d. h. die Ergebnisse der Partizipationsform nutzt. Die Ergebnisse erlauben Rückschlüsse auf die Frage, wo Partizipation auf EU-Ebene stattfindet, und bilden die Grundlage für die Analyse davon, welche Institutionen von den Beteiligungsmöglichkeiten profitieren. Ein weiteres Kriterium ist der Anwendungsbereich der jeweiligen Partizi­ pationsform: Liegt eine Unionskompetenz – ausschließlich oder geteilt – vor oder ist das partizipative Instrument auf bestimmte Themenbereiche beschränkt? Damit könnten Hinweise dafür gegeben werden, ob Partizipa­ tion auf europäischer Ebene in bestimmten Bereichen, beispielsweise mit schwacher Vertragsbasis, vorrangig genutzt wird (siehe Kröger 2008: 30). Zudem werden wesentliche Charakteristika des jeweiligen Partizipati­ onsverfahrens unter dem Punkt Durchführung/Verfahren beschrieben. Ne­ ben der besseren Vergleichbarkeit der Instrumente insgesamt können so die verschiedene Prozessschritte der Verfahren verglichen und Rückschlüs­ se auf den demokratischen Gehalt der Beteiligung gezogen werden (z. B. inwiefern die partizipativen Instrumente durch einen transparenten Entscheidungsprozess gekennzeichnet sind). Damit können die Ergebnisse dieses Kriteriums auch für die Analyse des Kriteriums Verantwortlichkeit genutzt werden. Inhaltlich-analytische Kriterien: Um die möglichen Effekte der Beteiligungsform auf die demokratische Legitimation handhabbar zu machen und evaluieren zu können, wurden

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

die drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit in den Kriterienkatalog eingefügt. Sie wurden bereits im Rahmen des For­ schungsdesigns (Kapitel 2) begründet und definiert. Im Rahmen der Zu­ sammenstellung der verschiedenen Beteiligungsformen auf EU-Ebene wer­ den sie genutzt, um gemeinsame strukturelle Probleme und Problemfel­ der, die sich über verschiedene Instrumente erstrecken, herauszuarbeiten und Faktoren zu identifizieren, die diese bedingen (einzelne Beschreibung der Kriterien nachfolgend). In diesem Sinne sollen beispielsweise Diffe­ renzen von formalen Vorgaben und faktischer Umsetzung identifiziert werden, z. B. bei der Inklusivität von einer Partizipationsform. In Anleh­ nung an die im empirischen Forschungsstand identifizierten ernüchtern­ den Ergebnisse der theoretischen Erwartungen von mehr Partizipation auf EU-Ebene, konzentriert sich die Beschreibung der Kriterien Inklusivität, Deliberation, Verantwortlichkeit insbesondere auf Probleme von Partizi­ pation – im Kontrast zu deren legitimatorischem Potenzial. Dabei werden, sofern vorhanden, empirische Studien genutzt. Auch eigene Annahmen fließen mit in die Bewertung dieser Kriterien ein. Ebenso werden die Ergebnisse der deskriptiven Kriterien als Grundlage mit in die Analyse einbezogen (z. B. gibt die Beschreibung der Zielgruppen Hinweise auf das Kriterium Zugang). Gleichwohl stellen die Analysen keine quantitativen oder repräsentativen Aussagen dar, sie gründen viel mehr auf der problem­ orientierten systematischen Aufarbeitung des bisherigen empirischen For­ schungsstandes, sonstigen Quellen und eigenen konzeptionellen Plausibi­ litätsannahmen (wie bereits im Forschungsdesign dargestellt wurde, siehe Kapitel 3.2.2). Inklusivität Das Kriterium Inklusivität zielt auf die Untersuchung der Offenheit des jeweiligen Instrumentes ab. Dabei sollen die direkten Beteiligungsmög­ lichkeiten gerade die Apathie vieler Bürger*innen bei den Europawahlen mindern (vgl. Kohler-Koch 2011a: 7) und mehr Menschen in den poli­ tischen Entscheidungsprozess einbinden. Hierbei steht die Analyse im Vordergrund, ob und inwiefern das jeweilige Instrument tatsächlich den damit angesprochenen Zielgruppen offensteht. Sind beispielsweise Infor­ mationsdefizite über eine Beteiligungsform erkennbar, scheint der Zugang zu diesem Partizipationsinstrument de facto nicht wirklich offen, und es lassen sich bestimmte Hemmschwellen erkennen. Ein Schwerpunkt ist dabei, ob die Beteiligungsformen, die formal Bürger*innen und Organisa­

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4.2 Vorgehensweise

tionen der Zivilgesellschaft ansprechen, auch faktisch für beide geöffnet sind. Ebenso ist von Interesse, ob unter den Teilnehmenden bestimmte Verzerrungen erkennbar sind, beispielsweise zwischen Organisationsarten oder zwischen Mitgliedstaaten. Deliberation Unter diesem Kriterium wird analysiert, ob eine Beteiligungsform argu­ mentatives Handeln und gegenseitiges Lernen zwischen den Teilnehmen­ den, aber auch zwischen Teilnehmenden und Institutionen ermöglicht oder zumindest das Potenzial dafür hat. Dabei werden förderliche und hinderliche Bedingungen kenntlich gemacht. Ebenso wird untersucht, ob die Prozesse an eine größere Öffentlichkeit zurückgebunden werden kön­ nen oder ob auch durch die Teilnahme an den Formen eine gemeinsame Identität unter den Teilnehmenden möglich scheint. Das Kriterium Deli­ beration ist nicht auf alle Beteiligungsformen anwendbar, da es in der Regel eine (zumindest virtuelle) Interaktion zwischen Teilnehmenden vor­ aussetzt. Bei rein schriftlichen Konsultationen ebenso wie bei Beschwerde­ rechten spielt dieses Kriterium eine (teilweise stark) nachgeordnete Rolle. Verantwortlichkeit Dieses Kriterium beinhaltet das Unterkriterium Transparenz: Sind die Be­ teiligungsprozesse transparent gestaltet, d. h. Informationen über den Pro­ zess und die Entscheidungsfindung für die Teilnehmenden sowie Dritte vorhanden? Dabei wird untersucht, inwiefern relevante Dokumente veröf­ fentlicht sind, Einreichfristen und Abläufe bekannt sind und die Entschei­ dungsfindung transparent ist sowie ob die Bürger*innen bzw. Organisatio­ nen erfahren, wie die Eingaben von ihnen im politischen Entscheidungs­ prozess weiterverwendet werden. Dieses Kriterium zielt darauf ab, wie gut die Materialien und Regularien für die nicht-staatlichen Akteur*innen aufbereitet sind. Zudem wird als weiteres Unterkriterium Berichterstattung eingeführt: Werden die Partizipierenden über das weitere Vorgehen der Institutionen informiert? Werden diese Schritte den Teilnehmenden ge­ genüber begründet? Zudem wird analysiert, ob es dazu institutionalisierte oder verbindliche Rechte für die Teilnehmenden gibt. Dabei bezieht sich das Kriterium Transparenz vorrangig auf die Informationen über den Be­ teiligungsprozess, das Kriterium Berichterstattung stärker auf die Aufberei­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

tung der Ergebnisse der Partizipation. Beide Unterkriterien (Transparenz und Berichterstattung) werden als wichtig für die Möglichkeit der Nach­ vollziehbarkeit der Ergebnisse und der Wirkungen von Partizipation von Seiten der Bürger*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft angese­ hen. In der Analyse wird auf dieses Kriterium besonderes Augenmerk ge­ richtet, da hier im theoretischen und empirischen Forschungsstand die größten Defizite diagnostiziert wurden: Dies betrifft die Kritik am Legiti­ mationsdefizit und der geringen Verantwortlichkeit der EU-Kommission, zudem wurden die Defizite unter dem Kriterium Verantwortlichkeit be­ reits in empirischen Arbeiten bei den Konsultationsformen der EU-Kom­ mission selbst aufgezeigt („Achillesferse der Kommission“, Quittkat 2011b: 144). Bevor die einzelnen partizipativen Instrumente vorgestellt werden, wird die methodische Vorgehensweise bei der Zusammenstellung der Partizipa­ tionsformen erläutert. 4.2.2 Methodisches Vorgehen Methodisch stützt sich die systematische Zusammenstellung der partizipa­ tiven Instrumente in der EU auf eine breite Dokumentenrecherche. Als Grundlage dafür dienen die primärtextlichen Passagen des Vertrages von Lissabon (EUV), des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) und ältere EU-Verträge. Zudem werden sekundärrechtliche Bestimmungen der partizipativen Instrumente sowie offizielle EU-Dokumente (z. B. Richtlini­ en, Verordnungen, Kommunikationen, Mitteilungen, sonstige Dokumen­ te) und Veröffentlichungen (z. B. Weiß- und Grünbücher der Kommission u. a.) genutzt. Flankiert wird die Recherche von einer breiten Sichtung der bisherigen politikwissenschaftlichen Literatur zu Partizipation in der EU allgemein sowie zu den einzelnen Instrumenten und politikfeldspezi­ fischer Partizipation. Aufgrund der Vielfalt der Beteiligungsformen kann jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit bei der Berücksichtigung der einschlägigen Literatur erhoben werden. Begleitend wurden zudem die Internetauftritte der verschiedenen Generaldirektionen nach partizipativen Instrumenten gesichtet. Hinzu kommen eigene Erhebungen zu bestimm­ ten Instrumenten, beispielsweise Online-Konsultationen und zur Europä­ ischen Bürgerinitiative (EBI). Ergänzend wurden interne Dokumente und persönliche Hintergrundgespräche mit Abgeordneten des EU-Parlamentes,

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Mitarbeitenden der Kommission und weiteren Expert*innen163 für die Erstellung der Typologie genutzt. Die Analyse der partizipativen Instrumente war wesentlich durch das Problem von unterschiedlichen Wissensständen charakterisiert: Während einige Instrumente bereits sehr gut wissenschaftlich aufgearbeitet wur­ den (z. B. die Konsultationsinstrumente der Kommission, siehe Kapitel 4.3.2.2), sind andere bislang wesentlich weniger politikwissenschaftlich reflektiert (z. B. die Beschwerderechte, siehe Kapitel 4.3.1 und der Struktu­ rierte Dialog, siehe Kapitel 4.3.2.3). Um eine Zusammen- und Gegenüber­ stellung der verschiedenen Instrumente zu ermöglichen, wurden methodi­ sche Probleme des Vergleichs (z. B. eine unterschiedliche Datenbasis) ver­ nachlässigt, gleichwohl kenntlich gemacht. Da das Ziel der Typologie da­ rin besteht, generelle qualitative Gemeinsamkeiten und Charakteristika der Beteiligungsformen herauszuarbeiten, geht dies mit einer notwendigen Komplexitätsreduktion bei einzelnen Beteiligungsformen (oder Unterfor­ men) einher. Wie bereits im Forschungsdesign erläutert wurde (siehe Ka­ pitel 3.2.2), zielt diese Zusammenstellung nicht darauf ab, quantifizierbare Aussagen zu den Problemen der Beteiligungsformen zu tätigen. Vielmehr sollen wesentliche Charakteristika der Beteiligungsformen und strukturel­ le Problemlagen herausgearbeitet werden, die in anderen Forschungsarbei­ ten quantifiziert werden könnten. 4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene In diesem Kapitel werden die verschiedenen partizipativen Instrumente auf EU-Ebene vorgestellt. Die Charakterisierung verläuft immer entlang des in Kapitel 4.2.1 erarbeiteten Kriterienkatalogs. Um die Vielfalt der Beteiligungsmöglichkeiten systematisch vorzustellen, wurden diese bereits bei der Darstellung im Kapitel erstmals differenziert: Dabei wurde zu­ nächst zwischen Beteiligung als außergerichtliches Beschwerderecht und Beteiligung der EU-Gesetzgebung als Konsultation in einem weiten Sin­ ne unterteilt. Prinzipiell könnten auch Beschwerderechte als eine Form der Konsultation der Gesetzgebung, nämlich als Hinweise zu dem, was schlecht umgesetzt wird, angesehen werden. Beide Formen eint zudem, dass die Verantwortungsübernahme der Bürger*innen über eine reine In­

163 Beispielsweise wurden Interviews und Hintergrundgespräche mit der Europä­ ischen Bürgerbeauftragten O’Reilly und einem Mitglied der nationalen Arbeits­ gruppe des Strukturierten Dialogs mit der Jugend geführt.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

formation hinausgeht. Denn prinzipiell liegt bei beiden Beteiligungsfor­ men eine zweiseitige Kommunikation vor, die jedoch nicht vonseiten der Bürger*innen oder Organisationen eingefordert werden kann. Aus diesem Grund ordnet Arnstein diese Formen auch der symbolischen Partizipation zu (vgl. Arnstein 1969: 217). Gleichwohl unterscheiden sich beide Beteili­ gungsformen hinsichtlich ihrer Funktionen für das politische System, hin­ sichtlich ihrer Zielgruppen sowie ihrer strukturellen Probleme. Aus die­ sem Grund ergibt sich durch die Differenzierung ein analytischer Mehr­ wert, insbesondere für die Bewertung der Effekte auf die demokratische Legitimation. Zunächst werden die bislang unzureichend wissenschaftlich aufbereite­ ten Beschwerderechte auf EU-Ebene vorgestellt. Diese beinhalten Petitio­ nen beim Europäischen Parlament sowie die Beschwerdemöglichkeit bei der oder dem Europäischen Bürgerbeauftragten und bei der EU-Kommissi­ on (Kapitel 4.3.1). Anschließend werden in Kapitel 4.3.2 die konsultativen Partizipationsinstrumente auf europäischer Ebene vorgestellt. 4.3.1 Direkte Beteiligung in Form von Beschwerderechten Beschwerderechte fungieren als außergerichtliche Beschwerdemöglichkei­ ten für in der EU lebende Personen, um auf eine fehlerhafte Umsetzung von EU-Recht hinzuweisen (vgl. auch Hilpold 2014). Organisationen ste­ hen diese Rechte gleichermaßen offen. Sie fallen häufig aus dem Fokus politikwissenschaftlicher Untersuchungen zu Partizipation auf der europä­ ischen Ebene.164 Dies ist insofern nachvollziehbar, als dass sie vorrangig auf eine korrekte Ausübung des bereits vorhandenen EU-Rechts abzielen (ähnlich zu Monitoring). Ihre Wirkung auf die Politikformulierung bleibt in der Regel sehr begrenzt.165 Nichtsdestotrotz können die Beschwerde­ rechte den politischen Entscheidungsprozess auf europäischer Ebene – zumindest implizit – beeinflussen und in einem weiteren Sinne ebenso als Beratung dessen gesehen werden, was an der Umsetzung von EU-Recht verbesserungswürdig scheint.

164 Allerdings konzentriert sich die Forschung zu Partizipation in der EU häufig auf die Politikformulierung. 165 Auf diese Phase im politischen Entscheidungsprozess konzentriert sich häufig die Partizipation als Konsultation der Zivilgesellschaft (z. B. bei Huget 2007, Hüller 2010, Kröger 2008, Quittkat/Kohler-Koch 2011).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

4.3.1.1 Petitionen bei dem Europäischen Parlament166 Eine Petition kann grundsätzlich als eine Beschwerde, ein Ersuchen oder auch eine Bemerkung zur Anwendung von EU-Recht an das EU-Parlament verstanden werden (vgl. Service EU-Parlament 2019): Im Unterschied zu den anderen Beschwerderechten muss bei einer Petition zwingend das Kri­ terium der persönlichen Betroffenheit der Anstragsteller*innen gegeben sein (Art. 227 AEUV). Zudem kann die Intention einer Petition auch darin gesehen werden, das EU-Parlament aufzufordern, zu einer bestimmten Angelegenheit Stellung zu beziehen (vgl. ebd.). In diesem Sinne kann mit einer Petition auch versucht werden, das EU-Parlament dazu zu be­ wegen, eine Resolution zu verabschieden oder auch bestimmte Aspekte in Rechtsakten zu verankern. Insofern erfüllen Petitionen nicht nur die Funktion des außergerichtlichen Beschwerderechts, sondern können auch einen Input für den politischen Entscheidungsprozess darstellen, beispiels­ weise als Anstoß für ein neues Gesetz oder auch zur Weiterentwicklung eines bestehenden Gesetzes (vgl. Deutscher Naturschutzring 2010a). Reine Auskunftsfälle werden bei Beschwerden nicht bearbeitet.167 Zielgruppe Sowohl Bürger*innen (Personen) als auch juristische Personen (Organisa­ tionen) können eine Petition einreichen, sie müssen lediglich ihren ständi­ gen Wohnort bzw. satzungsmäßigen Sitz in einem EU-Mitgliedstaat haben (Art. 227 AEUV). Im Unterschied zur Europäischen Bürgerinitiative kön­ nen Petitionen einzeln oder gemeinsam mit anderen eingereicht werden.

166 Darunter sind nicht die rechtlich und politisch unverbindlichen Online-Petitio­ nen von Online-Kampagnen-Organisationen wie Campact zu verstehen. 167 Diese fallen in das Korrespondenzrecht und werden nicht bearbeitet (Art. 24 Abs. 3 AEUV). Das Korrespondenzrecht wurde auch im Vertrag von Maastricht erlassen und gibt den Bürger*innen das Recht, mit den Organen (und verschie­ denen anderen Institutionen) der EU in Kontakt zu treten und in derselben Sprache Antwort zu erhalten (vgl. Hilpold 2014). Sie stellen ein Informationsin­ strument dar und werden daher in dieser Arbeit nicht näher betrachtet.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Zeitpunkt der Einführung Bereits der Vorgänger des EU-Parlamentes – die Gemeinsame Versamm­ lung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS) – hatte die Möglichkeit für Petitionen in ihrer Geschäftsordnung niedergelegt (vgl. Piodi 2009: 15). In nennenswertem Umfang wurden die Petitionen jedoch erst nach der Direktwahl des Europäischen Parlamentes 1979 ge­ nutzt.168 Geschichte und rechtliche Grundlage Primärrechtlich wurde das Petitionsrecht erstmals mit dem Vertrag von Maastricht normiert (in Kraft getreten am 1. November 1993). Heute ist das Petitionsrecht sowohl im Vertrag über die Arbeitsweise der Europä­ ischen Union (AEUV, Art. 227) und in der EU- Grundrechtscharta (GRC) in Art. 20 d und in Art. 44 verankert. Institutionelle Anbindung Die Petitionen werden bei dem Petitionsausschuss des EU-Parlaments be­ arbeitet, gegebenenfalls werden schwierige Fälle dann im Plenum disku­ tiert (vgl. Service EU-Parlament 2019). Anwendungsbereich Petitionen sind möglich für Themen, die für die Mitgliedstaaten unter die Umsetzung von EU-Recht fallen.169 Jedoch muss immer eine persönli­ che Betroffenheit der bzw. die Petent*in vorliegen. Eine Petition betrifft zudem keine europäischen Gemeinschaftsinstitutionen, dies fällt in den Aufgabenbereich der oder des Europäischen Bürgerbeauftragten (siehe Ka­ pitel 4.3.1.2).

168 Allerdings wurde diese Möglichkeit bis zu den Direktwahlen des EP kaum von den Bürger*innen genutzt (vgl. Piodi 2009: 15). 169 Dies beinhaltet z. B. Fragen der Nicht-Diskriminierung, Umweltschutz, Be­ schäftigungs- und Sozialpolitik, Binnenmarkt (siehe Deutscher Naturschutzring 2010a).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Durchführung/Verfahren Um eine Petition einzureichen, sind keine hohen Hürden gesetzt: Es gibt keine Mindestanzahl von Unterstützungsbekundungen, und es ist kein spezielles Wissen über den vorzubringenden Fall vonnöten. Die Petition kann digital oder auch auf dem Postweg eingereicht werden; für den bzw. die Petent*in entstehen keine weiteren Kosten. Die Petition wird nach Eingang vom Petitionsausschuss auf die formalen Kriterien geprüft und aufgenommen. Das Petitionsverfahren selbst kann sehr zeitaufwändig sein (bis zu einem Jahr); insbesondere aufgrund der Übersetzungsarbeit der parlamentarischen Arbeit in der EU (vgl. Deutscher Naturschutzring 2010a). Inklusivität Petitionen können durch die geringen Hürden (zeitlich, hinsichtlich des Unterstützungsbekundens sowie finanziell) grundsätzlich eine Vielzahl von Bürger*innen ansprechen. Zudem ist das Petitionsrecht nicht auf den Status als Unionsbürger*innen begrenzt – auch Personen oder Organisatio­ nen, die sich in der EU aufhalten, können Petitionen vorbringen. Der Dachverband der deutschen Umweltverbände Deutscher Naturschutzring (DNR) weist darauf hin, dass der Erfolg einer Petition mit Zunahme der Unterschriften steigt. Weiterhin wird es als hilfreich erachtet, ein Mitglied des Petitionsausschusses für das Anliegen zu begeistern (Deutscher Natur­ schutzring 2010a). Es deuten sich also bestimmte Hürden für die Offenheit des Instrumentes an, die Netzwerke und Ressourcen erforderlich machen können. Deliberation Ansatzpunkte und Potenziale für Deliberation könnten sich in der Diskus­ sion einer Gruppe von Petent*innen bzw. zwischen den einreichenden Organisationen oder in der Diskussion der Petition im Plenum des EUParlaments ergeben.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Verantwortlichkeit Positiv ist bei Petitionen insbesondere die Verfahrenstransparenz hervor­ zuheben: Der*die Petent*in wird benachrichtigt, wenn die Petition ein­ gegangen ist. Sofern die Petition formal angenommen wird, wird vom Petitionsausschuss das weitere Verfahren beschlossen. Jede Petition be­ kommt eine Nummer und wird in das Petitionsregister aufgenommen. Die wesentlichen Entscheidungen werden im Plenum des Europäischen Parlaments vorgestellt und protokollarisch im Internet veröffentlicht (es sei denn, Anonymität wird vom Antragsteller gewünscht). Neben der oftmals sehr langen Verfahrensdauer wird allerdings häufig eine gewisse Unverbindlichkeit der Petitionen beklagt; wenngleich sie na­ türlich eine sehr starke politische Wirkung entfalten können, können kei­ ne verbindlichen Ergebnisse durch die Petent*innen eingefordert werden (gesamter Abschnitt siehe ebd.). 4.3.1.2 Beschwerden bei dem oder der Europäischen Bürgerbeauftragten170 Der oder die Bürgerbeauftragte (seit 2013 Emily O’Reilly) nimmt Be­ schwerden gegen verschiedene Institutionen auf europäischer Ebene entge­ gen. Zielgruppe Analog zu Petitionen können alle Personen, die in der EU leben (sowohl EU-Bürger*innen als auch Personen mit ständigem Wohnsitz in der EU) sowie auch juristische Personen (Organisationen) Beschwerden an den oder die Bürgerbeauftragte*n einreichen (Art. 228 Abs. 1 AEUV).

170 Hier werden in der Regel sowohl männliche als auch weibliche Formen ver­ wendet. Sollten sich die Informationen jedoch auf die aktuelle Bürgerbeauftrag­ te Emily O’Reilly beziehen, wird ausschließlich die weibliche Form verwendet (dann wird auch von der Ombudsfrau gesprochen).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Zeitpunkt der Einführung Das Amt des bzw. der Bürgerbeauftragten in der EU existiert seit 1995 (vgl. Margedant 2011: 178). Geschichte und rechtliche Grundlage Das Amt des bzw. der Europäischen Bürgerbeauftragten geht auf den Vertrag von Maastricht zurück und ist heute in den Artikeln 24 Abs. 4 und 228 AEUV sowie 44 GRC rechtlich verankert. Institutionelle Anbindung Der bzw. die Bürgerbeauftragte ist institutionell an das EU-Parlament an­ gebunden. Das EU-Parlament wählt den oder die Bürgerbeauftragte*n für eine Wahlperiode von fünf Jahren, wobei eine Wiederwahl möglich ist. Während einer Legislaturperiode übt der oder die Bürgerbeauftragte das Amt völlig unabhängig aus. Allerdings kann er oder sie auf Antrag des Parlamentes auch des Amtes enthoben werden (Art. 228 Abs. 2 AEUV). Anwendungsbereich Der Aufgabenbereich des oder der Bürgerbeauftragten liegt in der Bearbei­ tung von Beschwerden über „Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union“ (Art. 228 Abs. 1). Allerdings werden viele Beschwerden einge­ reicht, die sich nicht auf die EU-Institutionen beziehen (vgl. Deutscher Naturschutzring 2010b). Anders als bei einer Petition muss für eine sol­ che Beschwerde keine persönliche Betroffenheit vorliegen. Der oder die Europäische Bürgerbeauftragte kann gegen eine Vielzahl der Institutionen (z. B. EU-Kommission, Parlament; Ministerrat; EWSA; AdR) und Verwal­ tungseinheiten (Europol; Europäisches Amt für Personalauswahl) auf eu­ ropäischer Ebene Beschwerden entgegennehmen; ausgeschlossen sind der EUGH in seiner Rechtsprechungstätigkeit sowie nationale Regierungen (vgl. ebd.). Der oder die Bürgerbeauftragte bearbeitet Themen, wie beispielsweise Verzögerungen der Bearbeitung der Administration, Verweigerung der In­ formationsherausgabe, Diskriminierung und Machtmissbrauch. Davon be­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

treffen etwa ein Viertel der bearbeiteten Fälle die mangelnde Transparenz durch Verweigerung der Herausgabe von Informationen (vgl. ebd.). Der oder die Bürgerbeauftragte kann damit auch als eine Art Kontrollstelle zur Einforderung der Informationsgewährleistung für Partizipation gesehen werden. Nur in Ausnahmefällen können Beschwerden bei dem oder der Bürgerbeauftragten Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben, wenn es sich um politisch strittige Themen handelt, die beispielsweise vom EU-Parla­ ment weiterverfolgt werden. Durchführung/Verfahren Im Gegensatz zu einer Petition muss sich der*die Beschwerdeführer*in vorher zwingend mit der betreffenden Institution in Verbindung gesetzt haben. Innerhalb eines Monats entscheidet der oder die Bürgerbeauftragte, ob der Fall untersucht wird oder nicht. Der oder die Bürgerbeauftragte versucht, den Fall innerhalb eines Jahres abzuschließen – ähnlich wie bei Petitionen handelt sich es sich auch hier um sehr langwierige Verfahren (siehe Deutscher Naturschutzring 2010b). Inklusivität Die geringen Zugangsbarrieren (alle Personen und Organisationen in der EU) erlauben grundsätzlich eine große Beteiligung von Privatpersonen. Die Europäische Ombudsfrau Emily O’Reilly wies daraufhin, dass die Möglichkeit der Beschwerde auch von einzelnen Bürger*innen genutzt wird.171 Deliberation Deliberation scheint bei diesem Instrument nur bedingt möglich zu sein. Es handelt sich um ein verwaltungsähnliches Verfahren mit Antrag und Bescheid als Antwort. Gemeinsames öffentliches Argumentieren zwischen Antragsteller*in und betreffender Institution sind nicht zwingend vorgese­ hen – zwar werden die Ergebnisse der Untersuchung des oder der Bürger­ 171 Informationen aus dem Hintergrundgespräch mit der Europäischen Bürgerbe­ auftragten O’Reilly am 24.05.2017 in Brüssel.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

beauftragten öffentlich gemacht, gleichwohl verläuft das Verfahren nicht öffentlich. Verantwortlichkeit Positiv wird an dieser Beteiligungsform die grundsätzliche Transparenz des Verfahrens bewertet: Der oder die Beschwerdeführer*in wird benach­ richtigt, wenn seine oder ihre Beschwerde angenommen wird sowie auch nach Abschluss des Verfahrens. Der oder die Bürgerbeauftragte erhalten häufig Beschwerden, die nicht in seinen bzw. ihren Tätigkeitsbereich fal­ len – in den Jahren zwischen 2015 und 2019 machten diese sogar den größeren Anteil der eingereichten Beschwerden aus (vgl. Europäische Om­ budsfrau 2019: 36). Solche Beschwerden bezogen sich auf Verstöße von Institutionen (Regierungen, nationale Behörden) in den Mitgliedstaaten und kamen 2019 insbesondere häufig von Antragsteller*innen aus Spanien oder Polen (vgl. ebd.: 34f.) Diese befassen sich beispielsweise mit Themen im Bereich der Sozialversicherung, der Gesundheitsvorsorge, Besteuerung oder dem Verbraucherschutz (vgl. ebd.: 35). Dies könnte als Indiz gewertet werden, dass den Bürger*innen der Tätigkeitsbereich nicht hinreichend klar ist, mithin die Informationen darüber verbesserungsfähig sind. Die Europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly sieht dies jedoch auch als einen Beleg dafür, dass die Bürger*innen in dieser Institution eine zusätz­ liche Appellations- und Kontrollinstanz sehen, an die sie sich wenden können, um nationale Institutionen zu kontrollieren.172 Auch wenn die Bürgerbeauftragte nichts gegen nationale Institutionen direkt unterneh­ men kann, da das nicht in ihren Verantwortungsbereich fällt, kann sie die entsprechenden Beschwerden an die nationalen Bürgerbeauftragten weiterleiten und diese auch in informellen Treffen mit anderen EU-Insti­ tutionen ansprechen, die dies wiederum an die nationalen Institutionen oder nationalen Kontrollinstitutionen weitertragen. Sie koordiniert diesbe­ züglich auch an dem Aufbau eines Verbindungsnetzes an Europäischen Bürgerbeauftragten.173 172 Für Spanien erklärte die Europäische Ombudsfrau dies mit einer langen Traditi­ on des Amtes der bzw. des Bürgerbeauftragten. Im Fall von Polen führte sie dies mehr auf Probleme der dortigen Institutionen zurück (vgl. Informationen aus dem Hintergrundgespräch mit der Europäischen Bürgerbeauftragten O’Reilly am 24.05.2017 in Brüssel). 173 Informationen aus dem Hintergrundgespräch mit der Europäischen Bürgerbe­ auftragten O’Reilly am 24.05.2017 in Brüssel.

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Wenngleich dem oder der Bürgerbeauftragten verschiedene Instrumente zur Behebung eines Missstandes zur Verfügung stehen (Schlichtung mit der entsprechenden Institution; Sonderbericht an das EU-Parlament), kön­ nen keine verbindlichen Ergebnisse vonseiten der Beschwerdeführer*in eingefordert werden (siehe Deutscher Naturschutzring 2010b). 4.3.1.3 Beschwerden bei der EU-Kommission Von der Beschwerdemöglichkeit bei der EU-Kommission können Perso­ nen und Organisationen Gebrauch machen, wenn ein Mitgliedstaat (so­ wohl Bundes-, Landes- als auch kommunale Ebene) seinen rechtlichen Verpflichtungen der EU nicht nachkommt. Es muss keine persönliche Betroffenheit vorliegen, allerdings sind ein tiefergehendes Wissen über die entsprechende Rechtsmaterie sowie klare Beweise für die Rechtsverletzung erforderlich (Deutscher Naturschutzring 2010c). Zielgruppe Wie bei Petitionen und Beschwerden an den oder die Europäischen Bür­ gerbeauftragten können formal sowohl Personen (EU-Bürger*innen und Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in der EU haben) und Organisa­ tionen dieses Instrument nutzen. Im Gegensatz zu einer Petition muss kei­ ne persönliche Betroffenheit vorliegen (Deutscher Naturschutzring 2010c). Zeitpunkt der Einführung Die Rekonstruktion des genauen Zeitpunktes der Einführung der Be­ schwerdemöglichkeit war nicht vollständig möglich. Da die Beschwerden im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission An­ wendung finden und im ersten verfügbaren jährlichen Bericht der EUKommission an das EU-Parlament von 1983 über Verstöße des Gemein­ schaftsrechts bereits erwähnt sind (vgl. EU-Kommission 1983), scheint die Annahme plausibel, dass sie bereits zu dieser Zeit möglich waren.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Geschichte und rechtliche Grundlage Die Beschwerden an die EU-Kommission fungieren als Hinweise im Rah­ men des Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission (vgl. Deutscher Naturschutzring 2010c). Für die Beschwerden selbst gibt es keine rechtli­ che Grundlage oder Formschrift (vgl. ebd.). Allerdings ist das Vertragsver­ letzungsverfahren der Kommission in Art. 258 AEUV verankert. Institutionelle Anbindung Die Beschwerden werden zunächst entweder von der oder dem Generalse­ kretär*in oder den Vertretungen der EU-Kommission in dem jeweiligen Mitgliedsland entgegengenommen (vgl. ebd.). Anschließend werden sie an die zuständigen Dienststellen weitergeleitet und dort bearbeitet (vgl. ebd.). Anwendungsbereich Beschwerden bei der EU-Kommission beziehen sich auf Angelegenheiten rund um die Umsetzung des EU-Rechts. Dazu zählen sämtliche Richtlini­ en, Verordnungen oder Entscheidungen der EU. Angezeigt werden kön­ nen jegliche Maßnahmen (gesetzliche Regelung, Vorschrift oder Verwal­ tungsakt), die gegen Unionsrecht verstoßen (vgl. Deutscher Naturschutz­ ring 2010c). Allerdings muss der oder die Antragsteller*in klare Beweise für einen Verstoß vorbringen können. Sollten diese Voraussetzungen erfüllt sein, kann die EU-Kommission zunächst Druck auf die Mitglied­ staaten ausüben, damit sich diese erklären. Im Extremfall kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dieses hat jedoch weniger etwas mit einem konkreten Einzelfall zu tun, vielmehr will die EU-Kommission auf einer allgemeinen Ebene mit dem Vertragsverletzungsverfahren die Mitgliedstaaten zur Umsetzung bzw. Einhaltung von EU-Recht zwingen (vgl. Deutscher Naturschutzring 2010c). Indirekt kann das Implikationen für die politischen Entscheidungsprozesse in der EU haben, indem die Ergebnisse beispielsweise die Vorschläge zu neuer EU-Gesetzgebung oder zu der Überarbeitung von EU-Recht durch die EU-Kommission führen.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Durchführung/Verfahren Die Beschwerden können schriftlich (per Brief, Fax oder E-Mail) in einer EU-Amtssprache an die EU-Kommission (auch an eine nationale Vertre­ tung der EU-Kommission) übermittelt werden (vgl. ebd.). Die Dienststel­ len der EU-Kommission setzen sich dann mit dem oder der Beschwerde­ führer*in in Verbindung und benachrichtigen diese über die Entscheidun­ gen des Verfahrens (siehe auch EU-Kommission 2017).174 Allerdings ist das Verfahren für den oder die Beschwerdeführer*in sehr ressourceninten­ siv, da diese alle Möglichkeiten zuvor auf nationaler Ebene ausgeschöpft haben sollte. Zudem empfiehlt es sich für die Beschwerdeführer*in, auch während des Prozesses auf nationaler Ebene aktiv zu sein, um beispielswei­ se die EU-Kommission mit aktuellen Informationen zu versorgen (vgl. ebd.). Inklusivität Auch wenn Beschwerden bei der EU-Kommission grundsätzlich vielen Bürger*innen offenstehen, ist dafür ein großes Fachwissen über die jeweili­ gen rechtlichen Angelegenheiten vonnöten. Zudem müssen die Bürger*in­ nen vorher bereits auf nationaler Ebene Maßnahmen eingeleitet haben, die auch wieder mit einem erheblichen Zeit- und Ressourcenaufwand einhergehen. Daher kann vermutet werden, dass die Beschwerde bei der EU-Kommission wesentlich weniger von Bürger*innen genutzt wird, son­ dern primär von Organisationen. Deliberation Bei diesem Instrument gibt es kaum Ansatzpunkte für Deliberation: Dies bezieht sich einerseits auf die Überlegungen, die bereits bei den Beschwer­ den bei der oder dem Europäischen Bürgerbeauftragten zum Ausdruck kamen, und andererseits darauf, dass die EU-Kommission mit den Mit­ gliedstaaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit interagiert.

174 Entscheidungen können beispielsweise sein: die Aufforderung zur Äußerung, eine mit Gründen versehene Stellungnahme sowie die Befassung des Gerichts­ hofes der EU oder auch Einstellung des Verfahrens (vgl. Deutscher Naturschutz­ ring 2010c).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Verantwortlichkeit Häufiger Gegenstand der Kritik ist die Intransparenz des Beschwerdever­ fahrens. Nach Einreichen der Beschwerde verhandeln EU-Kommission und Mitgliedstaat vertraulich, die Beschwerdeführer*in wird erst über das Ergebnis informiert. Gemäß des Deutschen Naturschutzrings werden Be­ schwerden zudem sehr häufig eingestellt.175 Daher ist es für den oder die Beschwerdeführer*in häufig nicht möglich, seine oder ihre Beschwerde­ rechte einzufordern. Darüber hinaus ist das Verfahren sehr zeitaufwändig, dies kann die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse für die Beschwerdefüh­ rer*in zusätzlich erschweren (vgl. ebd.). 4.3.1.4 Zusammenfassung: Beschwerderechte auf europäischer Ebene Ein erstes Zwischenfazit fasst nachfolgend prägnante Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Beschwerderechten auf europäischer Ebe­ ne zusammen. Institutionelle Anbindung und Themen Petitionen und Beschwerden bei der oder dem Europäischen Bürgerbe­ auftragten sind als parlamentarische Dienste im weiteren Sinne beim EU-Parlament angesiedelt. Während Petitionen und Beschwerden bei der EU-Kommission eine mangelnde Umsetzung des EU-Rechts durch Mit­ gliedstaaten behandeln, beziehen sich Beschwerden bei der oder dem Bür­ gerbeauftragten auf Verstöße der Institutionen, Behörden und Agenturen auf Gemeinschaftsebene. Inklusivität Formal stehen alle Beschwerderechte sowohl Bürger*innen als auch Or­ ganisationen offen. Für Petitionen muss hinzugefügt werden, dass eine persönliche Betroffenheit des oder der Antragsteller*in vorliegen muss. 175 Als Gründe werden genannt: ein fehlender EU-Bezug; die Abwendung durch Mitgliedstaaten sowie fehlende Informationen (vgl. Deutscher Naturschutzring 2010c).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Allerdings erhält eine Petition eine höhere Wirkung, wenn sich mehr Personen zusammenschließen (auch um die politische Wirkung zu verstär­ ken, vgl. Deutscher Naturschutzring 2010a). Sowohl Petitionen als auch Beschwerden bei der oder dem Bürgerbeauftragten erfordern insgesamt keine hohen Ressourcen und stehen deshalb prinzipiell einer großen Zielgruppe offen. Die Beschwerdemöglichkeit bei der EU-Kommission steht zwar formal Personen und Organisationen offen, erfordert allerdings de facto erhebliche Ressourcen. Denn der oder die Beschwerdesteller*in muss vorher mit der nationalen Behörde zwingend Kontakt aufgenommen haben. Auch während des eigentlichen Beschwerdeverfahrens sollte sie sich zur Verfügung halten und die EU-Kommission mit aktuellen Infor­ mationen versorgen. Die detaillierten Fachinformationen, die vorherige Kontaktaufnahme und die lange Dauer des Verfahrens machen häufig Organisationen oder doch wenigstens eine ganz bestimmte, gut ausgebil­ dete Zielgruppe notwendig. Dabei wird offensichtlich, dass sich auch die faktischen Funktionen der partizipativen Instrumente zwischen den parlamentarischen Diensten, Bürgerbeauftragten und Petition von der Beschwerdemöglichkeit bei der EU-Kommission unterscheiden. Während Erstere sehr niedrige Zugangsschwellen haben und damit auf die individu­ ellen Probleme von EU-Bürger*innen abstellen, zielen Beschwerden bei der EU-Kommission darauf ab, qualitative fachliche Expertise (hier für ein Vertragsverletzungsverfahren) zu generieren. Dabei erscheinen die Ziele der Beschwerdemöglichkeit bei der EU-Kommission sehr ähnlich zu den der Konsultationsinstrumenten, die die EU-Kommission im Rahmen der Politikformulierung nutzt (siehe 4.3.2.2). Deliberation Beschwerderechte unterscheiden sich wesentlich hinsichtlich ihrer Funkti­ on im politischen Prozess und ihren Verfahrensbestandteilen von Instru­ menten der deliberativen Öffentlichkeitsbeteiligung (z. B. Bürgerhaushalte oder Mini Publics, siehe zu diesen)176. Infolgedessen ist der Gehalt an De­ liberation bei den außergerichtlichen Beschwerderechten sehr gering. Die konkreten Prozesse in den Verfahren sind den Beschwerdeführer*innen (bei dem bzw. der Bürgerbeauftragten und Beschwerden bei der EU-Kom­ mission) bzw. Antragsteller*innen (bei Petitionen) nicht bekannt. Ebenso wenig kann nachvollzogen werden, anhand von welchem Arbeits- und 176 Siehe dazu beispielsweise Alcántara et al. (2016).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Entscheidungsmodus die Ergebnisse in den Prozessen erreicht wurden. Dabei scheint politischer Druck insgesamt wesentlich plausibler als gegen­ seitiges Lernen und die Suche nach gemeinsamen Lösungen. Bedacht wer­ den sollte dabei auch, dass es die Themen und Konfliktsituationen von Be­ schwerden prinzipiell erschweren, bei diesen Lösungen im Sinne aller Be­ teiligten (Antragsteller*innen und Institutionen) zu finden, weil die Inter­ essen zu gegensätzlich sind. Die Diskussionen der Petitionen im Plenum des EU-Parlamentes hingegen haben größeres Potenzial für Deliberation, da dabei eine übergreifende Öffentlichkeit für das Thema der Petition her­ gestellt werden kann. Verantwortlichkeit Insgesamt sind Petitionen und Beschwerden bei dem oder der Bürgerbe­ auftragten durch ein wesentlich transparenteres Vorgehen gekennzeichnet als Beschwerden bei der EU-Kommission. Hinzu kommt der Umstand, dass die oder der Europäische Bürgerbeauftragte als eine Instanz wahr­ genommen wird, mit der gegen nationale Missstände von Institutionen vorgegangen werden kann. In dieser Hinsicht erhöht der oder die Euro­ päische Bürgerbeauftragte auch die Verantwortlichkeit der EU für die Bürger*innen. Dadurch ergeben sich auch Implikationen für das Legitimi­ tätsverständnis der EU, da durch deren Institutionen auch Rückwirkungen auf die Möglichkeiten der Verantwortlichkeit in den Mitgliedstaaten gene­ riert werden können. Ähnlich ist es im Prinzip auch bei den Beschwerde­ möglichkeiten der EU-Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungs­ verfahrens. Gleichwohl erfolgt die Absprache zwischen EU-Kommission und Mitgliedstaat auf vorrangig informellen Kanälen, sodass die Beschwer­ deführer*innen in der Regel nur eine geringe formale Nachvollziehbarkeit ihrer Beschwerden bewirken können. Im nächsten Kapitel werden partizipative Instrumente vorgestellt, die im weiteren Sinne als Konsultation zur EU-Gesetzgebung wirken. 4.3.2 Direkte Beteiligung in Form von Konsultation Beteiligungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene finden in der Regel als Beratung – Konsultation – beim Agenda Setting und bei der Politikformu­ lierung, aber auch bei der Politikumsetzung und beim Monitoring statt. Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Europäischer Sozialdialog, Komitologie)

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

findet keine Mitentscheidung durch Bürger*innen und zivilgesellschaft­ liche Akteure statt. Die Darstellung der partizipativen Instrumente ist grundsätzlich an den ausrichtenden Institutionen auf EU-Ebene und we­ sentlichen Unterscheidungsmerkmalen der Beteiligungsformen (Bürger­ konferenzen als exklusives Bürger*innen-Instrument oder die EBI als ein­ ziges transnationales Bürgerbegehren) orientiert. Zunächst wird hier der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA; 4.3.2.1) vorgestellt. Anschließend werden die Konsultationsinstrumente bei der EU-Kommissi­ on beschrieben (4.3.2.2). Darauf folgt die Erörterung des Strukturierten Dialogs (4.3.2.3) und der Bürgerkonferenzen 177(4.3.2.4). Zudem wird die Europäische Bürgerinitiative (4.3.2.5) vorgestellt. 4.3.2.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) Der EWSA ist laut eigenem Verständnis ein beratender Ausschuss der EU-Institutionen für wirtschafts- und sozialpolitische Themen sowie ein Repräsentant zivilgesellschaftlicher Interessen auf europäischer Ebene (vgl. EWSA 2018: 2). Zielgruppe Der EWSA besteht aus Mitgliedern der organisierten Zivilgesellschaft der Mitgliedstaaten, die sich für eine Periode von fünf Jahren auf europäischer Ebene zusammenfinden. In der Wahlperiode zwischen 2015 und 2018 bestand der beispielsweise Ausschuss aus 350 Mitgliedern aus 28 EU-Mit­ gliedstaaten (vgl. ebd.). Der EWSA ist in drei Gruppen aufgeteilt: „Arbeit­ geber“, „Arbeitnehmer“ und „Verschiedene Interessen“. Unter Letzterem sind die Interessen der Landwirte, Verbraucher, Umweltschutzorganisatio­ nen, Familienverbände und NGOs zu verstehen (vgl. ebd.). Damit sind die vom EWSA vertretenen Interessen äußerst heterogen (vgl. Huget 2007: 280), denn sie bestehen aus wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen In­ teressen der Mitgliedstaaten.

177 Bürgerkonferenzen und -dialoge werden als feststehende offizielle Begriffe hier nicht gegendert.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Zeitpunkt der Einführung Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss wurde bereits 1957 ein­ gesetzt (vgl. EWSA 2018: 1). Geschichte und rechtliche Grundlage Bereits in den Anfängen der EU wurde der EWSA als Beratungsgremi­ um eingerichtet. Allerdings verlor er durch die kontinuierliche Aufwer­ tung des EU-Parlamentes und die informelle Zusammenarbeit zwischen EU-Kommission und Interessengruppen an Bedeutung (vgl. Kohler-Koch 2011b: 30). Durch seine breite Interessenvertretung hat der EWSA zu­ dem Probleme bei der Interessenaggregation und ist gegenüber bilatera­ len Kontakten zwischen EU-Kommission und Interessengruppen und auf bestimmte Zielgruppen spezialisierten Partizipationsinstrumenten benach­ teiligt (z. B. der Soziale Dialog, siehe Kapitel 4.3.2.2.2). Allerdings konnte der EWSA erreichen, dass primärrechtlich seine zivilgesellschaftliche Ver­ ankerung im Vertrag von Nizza fixiert wurde (vgl. Kohler-Koch 2011b: 30f.). Aktuell ist der EWSA in Art. 304 Abs. 1 und 2 AEUV verankert. Im Laufe der Zeit veränderte sich auch seine eigene Rollenzuschreibung: Während er sich zunächst als eine vorrangig beratende Instanz des Binnen­ marktes für funktionale Interessen sah, hat er sich in den letzten Jahren stärker auf die organisierte Zivilgesellschaft ausgerichtet (vgl. Kohler-Koch 2007: 256). Institutionelle Anbindung Die Mitglieder des Ausschusses sind Vertreter*innen der organisierten Zi­ vilgesellschaft in den Mitgliedstaaten. Gleichwohl hat der EWSA selbst keine Kontrolle über seine Zusammensetzung, da die Vertreter*innen von den nationalen Regierungen vorgeschlagen und dann vom Europäischen Rat ernannt werden (vgl. Kohler-Koch 2007: 256). Dies geschieht für je­ weils fünf Jahre.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Anwendungsbereich Der heterogenen Zusammensetzung entspricht ein breit gefächerter An­ wendungsbereich: Der EWSA ist mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen in der EU betraut und muss bei der EU-Gesetzgebung zu Themen in diesem Bereich angehört werden (vgl. Geiger et al. 2010: 893f.). Durchführung/Verfahren Der EWSA erarbeitet Stellungnahmen zu Legislativvorschlägen der EU-Kommission im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich der EU (Art. 304 Abs. 1 AEUV, vgl. Huget 2007: 280). Zudem kann der EWSA auch Initiativstellungnahmen zu weiteren Themen einreichen (Art. 304 Abs. 1; vgl. Delapina 2012: 400). Seit 2012 können die EU-Kommission und das EU-Parlament den EWSA auch um Sondierungsstellungnahmen bitten, noch bevor sie einen Vorschlag ausarbeiten (Art. 304 Abs. 2 AEUV; vgl. Delapina 2012: 400). Stellungnahmen werden vom EWSA auf den Sitzungen mit einfacher Mehrheit beschlossen. Sie werden danach im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Inklusivität Kritisiert wird insbesondere das intransparente Berufungsverfahren der einzelnen Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen durch die Mitgliedstaaten (vgl. Huget 2007: 280). Da die Ausschussmitglieder von den nationalen Regierungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorge­ schlagen und vom Europäischen Rat ernannt werden, erscheinen die Zu­ gangsbedingungen stark begrenzt. Deliberation Argumentative Prozesse und gegenseitiges Lernen scheinen in den ver­ schiedenen Abteilungen des EWSA möglich zu sein, im Rahmen der Re­ cherche dieser Arbeit wurden hierzu allerdings keine wissenschaftlichen Analysen ausfindig gemacht, sodass darüber keine weiteren Aussagen mög­ lich sind.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Verantwortlichkeit Der EWSA hat eine rein beratende Funktion inne (vgl. Huget 2007: 280). Positiv ist unter den Gesichtspunkten der Transparenz und Öffentlichkeit zu betrachten, dass seine Stellungnahmen im Amtsblatt der EU veröffent­ licht werden. Gleichwohl besteht vonseiten der Gemeinschaftsinstitutio­ nen keine Verpflichtung, in öffentlichen Stellungnahmen zu erklären, wie sie mit den Empfehlungen des EWSA verfahren oder diese bewerten. Trotz seiner primärrechtlichen Verankerung und der hohen Formalisierung (er kann zum Beispiel nicht ad hoc eingesetzt werden) wird seine Bedeutung häufig als sehr gering eingeschätzt (vgl. ebd.; Kohler-Koch 2011b: 30). 4.3.2.2 Die Konsultationsinstrumente der EU-Kommission Partizipation als Konsultation der EU-Kommission im Rahmen ihres In­ itiativmonopols hat eine lange Tradition, die auf die Anfänge der Europä­ ischen Integration (vor allem im Bereich der Landwirtschaft) zurückgeht. Dabei ist Konsultation, ähnlich wie Lobbying, ein Prozess, der in enger Beziehung zur Entscheidungsfindung der Europäischen Kommission steht – mit dem Unterschied, dass die Konsultation ein von der Kommission gesteuerter Prozess ist (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 74). Wegweisend für die Entwicklung der Konsultationsinstrumente war das Weißbuch Eu­ ropäisches Regieren (EU-Kommission 2001, siehe Kapitel 1.3). Damit leitete die EU-Kommission eine Ausweitung der Konsultationsformate und des Kreises der Konsultierten ein und institutionalisierte zunehmend die Kon­ sultationsbeziehungen. Im Folgenden werden generelle Entwicklungen der Charakteristika der Konsultationsinstrumente vorgestellt (4.3.2.2.1). Anschließend werden zwei Beteiligungsformen separat vorgestellt: Der Europäische Sozialdialog wird aufgrund seiner herausragenden Komposition einzeln beschrieben (4.3.2.2.2). Den Online-Konsultationen wird ein eigenes Kapitel gewidmet, da sie das Standardinstrument der Konsultation in den verschiedenen Ge­ neraldirektionen der EU-Kommission ist (4.3.2.2.3).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

4.3.2.2.1 Allgemeine Charakteristika der Konsultationsinstrumente Rund um die Kommission gibt es ein ganzes Bündel an verschiedenen par­ tizipativen Instrumenten, die alle dem Ziel der Beratung der Kommission im politischen Entscheidungsprozess dienen. Zielgruppe Im Mittelpunkt der Konsultation stehen die Organisationen der Zivilge­ sellschaft, Wissenschaftler*innen bzw. Expert*innen. In den Anfängen der europäischen Integration umfassten die Organisationen der Zivilgesell­ schaft im Prinzip nur Wirtschaftsinteressen, ab den 1980er-Jahren wurden auch Arbeitnehmer*innen- und Arbeitgeber*inneninteressen miteinbezo­ gen. Etwa um die Jahrtausendwende wurde der Kreis der in die Konsul­ tationen einbezogenen Interessen nochmals stark erweitert. Einbezogen wurden nun beispielsweise auch Umwelt-, Menschenrechts-, Wohlfahrtsund Familienverbände (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 82). Ebenso er­ folgte nach dem Weißbuch auch eine Doppelansprache von Bürger*innen und Zivilgesellschaft, bei der auch einzelne Bürger*innen eingeladen wur­ den, mit an den Konsultationsinstrumenten teilzunehmen (vgl. ebd.: 84). Zeitpunkt der Einführung Bereits in den Anfängen der Europäischen Integration in den 1950erund 1960er-Jahren fand die Einbeziehung von organisierten Wirtschaftsin­ teressen in die beratenden Ausschüsse und in die Komitologie178 statt. Um die Jahrtausendwende kam es zu einer verstärkten Nutzung existierender Formate und einer Öffnung dieser für eine größere Gruppe der Organisa­ tionen der Zivilgesellschaft. Zudem wurden neue Formate eingesetzt (z. B. Online-Konsultationen).

178 Siehe dazu auch Kapitel 1.2.2.2.1 zum deliberativen Supranationalismus.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Geschichte und rechtliche Grundlage Die Einbeziehung der organisierten Interessen der Zivilgesellschaft erfolg­ ten von der EU-Kommission von Beginn an mit der Überlegung, die eigene Ressourcenarmut auszugleichen und fachliche Expertise aus den verschiedenen Wirtschaftsbereichen der Mitgliedstaaten zu erlangen (siehe Kapitel 1.1.4). Zunächst erfolgte die Einbeziehung lange Zeit informell über Ausschüsse und Politiknetzwerke – die EU-Kommission war damit selbst Teil des Demokratiedefizits und für viele Bürger*innen sinnbildlich für die Intransparenz der Gemeinschaftsbürokratie (vgl. Benz 1998: 355, ders. 2006: 108f.; Héritier 1999: 821). Mit dem Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001) wurde die Einbeziehung der Zivilgesell­ schaft und eine Ausweitung der direkten Partizipationsmöglichkeiten un­ ter das normative Etikett der „good governance“ gefasst und zu den Grundsätzen von Europäischem Regieren erhoben (EU-Kommission 2001: 13f.; siehe dazu ausführlich Kapitel 1.3). In der Folge kam es zu größeren Transparenzbestrebungen der EU-Kommission (vgl. Jachtenfuchs/KohlerKoch 2010: 81f.; Quittkat/Kohler-Koch 2011: 80, 83) und der Förderung von benachteiligten Interessen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82) und der Senkung von Zugangsschwellen durch die Nutzung von OnlineKonsultationen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 84f.). Die mit dem Weiß­ buch begonnenen Maßnahmen wurden mit dem Vertrag von Lissabon weiter institutionalisiert: Darin wurde der regelmäßige, transparente und offene Dialog als Prinzip dann primärrechtlich verankert (Art. 11 Abs. 2 EUV).179 Institutionelle Anbindung Das Weißbuch und die Regeln und Normen für „good governance“ (EUKommission 2001: 13f.; der generelle Partizipationsdiskurs) wurden im Generalsekretariat der EU-Kommission erstellt, derjenigen Abteilung, die direkt dem oder der Kommissionspräsident*in unterstellt ist180. Die kon­ 179 Damit wurden viele bereits bestehende weniger verfasste Formen der Partizipa­ tion nun nachträglich verfasst. Trotzdem bestehen bei den Konsultationsinstru­ menten verfasste und weniger verfasste Formen nebeneinander. 180 Dem Generalsekretariat obliegen Aufgaben wie die kommissionsweite Koordi­ nierung der Arbeiten zur Ausrichtung sämtlicher Initiativen an den politischen Prioritäten des Präsidenten. Es ist zudem für die Leitung des Entscheidungs­ prozesses der Kommission zuständig und die Schnittstelle zwischen der Kom­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

krete Umsetzung der einzelnen Verfahren erfolgt hingegen dezentral in den jeweiligen Generaldirektionen (vgl. Kröger 2008: 30).181 Daher kann auch die Verwendung der partizipativen Instrumente innerhalb der EUKommission schwanken. Gleichwohl sehen Quittkat und Kohler-Koch eine flächendeckende Ausdehnung des Anwendungsbereichs und eine Verbindlichkeit der Vorgaben von den Konsultationsstandards für alle Dienststellen der Kommission (vgl. EU-Kommission 2002b; Quittkat/Koh­ ler-Koch 2011: 85f.). Anwendungsbereich Die Konsultationsinstrumente werden in sämtlichen Bereichen eingesetzt, die in den Handlungsbereich der EU-Kommission fallen. Die Ausweitung des Kreises der beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen ist somit auch eine Spiegelung der zunehmenden Vergemeinschaftung von Politik­ feldern im Verlauf der europäischen Integration. Durchführung/Verfahren Nach Huget ist unter Konsultation „(…) ein Prozess zu verstehen, in dessen Rahmen die Kommission die betroffenen externen Parteien vor einem Beschluss durch die Kom­ mission und den anderen Organen. Die Aufgabe des Generalsekretariats ist weiterhin, eine effiziente und transparente Verwaltung sicherzustellen. Im Ge­ neralsekretariat erfolgen darüber hinaus die Politikgestaltung von bereichsüber­ greifenden Projekten (z. B. das Europäische Semester zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik) oder auch strategische Initiativen, wie die Agenda der Kom­ mission einer besseren Rechtssetzung. Das Generalsekretariat untersteht direkt dem oder der Kommissionspräsident*in (vgl. EU-Kommission 2021a). 181 Die EU-Kommission gleicht in ihrem Aufbau einer regulären Behörde, gleich­ wohl unterscheidet sie sich durch ihr multinationales und multikulturelles Design davon (vgl. Schendelen 2010: 77). Sie ist mit der Vielzahl an Fachabtei­ lungen (Generaldirektionen) polyzentrisch aufgebaut (vgl. ebd.). Jede General­ direktion wird von einem oder einer Kommissar*in geleitet. Vertikal betrachtet besteht die Kommission aus verschiedenen Schichten, horizontal betrachtet haben die Generaldirektionen alle ein eigenes Set an Politikinhalten und Struk­ turen, um diese Inhalte zu realisieren (ebd.). Die Zuständigkeitsbereiche der Generaldirektionen sind allerdings nicht mit Politikfeldern gleichzusetzen (vgl. ebd.: 78).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

mission in die Politikgestaltung einbeziehen möchte und bei dem die ‚organisierte Zivilgesellschaft‘ eine besondere Rolle spiele“ (Huget 2007: 225). Auch wenn dieses grundlegende Prinzip über die Jahrzehnte erhalten blieb, veränderten sich die Formate der Konsultation im Laufe der Europä­ ischen Integration. Dafür werden zunächst die klassischen Formate, bera­ tende Ausschüsse sowie die Komitologie vorgestellt. Anschließend werden die Veränderungen um die Jahrtausendwende und die neuen Formate (Foren, Kontaktgruppen, Workshops, Seminare) vorgestellt. Klassische Konsultationsinstrumente: Bereits seit den Anfängen der Integration (da kein explizites Datum be­ kannt ist, wurde die Entstehung auf 1957 und die Römischen Verträge datiert) nutzte die Kommission die externe Expertise für die Politikformu­ lierung in beratenden Ausschüssen (vgl. Töller 2002: 272f.). Dabei wurden neben Wissenschaftler*innen Sachverständige aus den Nationalstaaten so­ wie Expert*innen der organisierten Zivilgesellschaft konsultiert – bis ca. 1980 erstreckte sich das jedoch nur auf die organisierten Wirtschaftsinter­ essen im Rahmen des Binnenmarktprojektes (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 82). Neben informellen Kontakten und offenen Anhörungen fand die Konsultation der Zivilgesellschaft also zunächst vor allem in den Aus­ schüssen statt (vgl. Töller 2002: 272). Dabei ist es der EU-Kommission überlassen, wen sie zu den Ausschüssen einlädt, ob sie die Ausschüsse konsultiert oder nicht – sie ist zudem nicht an deren Positionen gebun­ den (vgl. ebd.; Quittkat/Kohler-Koch 2011: 82). Zudem unterscheidet sich noch immer die Nutzung der Ausschüsse zwischen den Politikbereichen erheblich (vgl. Töller 2002: 272). Darüber hinaus fand die – wenn auch sehr begrenzte – Einbeziehung der Zivilgesellschaft früh über die Komitologie statt (selbst festgesetzt auf ca. 1960). Die Komitologie bezeichnet in der Regel dauerhaft eingerichtete Ausschüsse der EU-Kommission für die Politikimplementation, in denen Delegierte der Mitgliedstaaten – vorrangig Beamt*innen – teilnahmen (vgl. Töller 2002: 271f.). Dabei entscheiden in der Regel die Regierungen, wen sie entsenden. Die große Mehrheit bilden leitende Beamte der nationalen Ministerien, es können jedoch auch semi-staatliche Organisationen und selten auch nicht-staatliche Akteur*innen vertreten sein (vgl. ebd.). An Unterausschüssen und Arbeitsgruppen der Ausschüsse können auch Sach­ verständige teilnehmen (vgl. ebd.). Allerdings war und ist es eindeutig sel­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

ten, dass ausschließlich Nicht-Regierungsakteur*innen Ausschussmitglie­ der darstellen (vgl. ebd.). Generelle Veränderungen der Konsultationsinstrumente um die Jahrtausendwende In den Jahren um die Jahrtausendwende öffnete sich die EU-Kommission zunehmend auch für eine große Bandbreite der organisierten Zivilgesell­ schaft in ihren Konsultationen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 82).182 Waren die beratenden Expert*innengruppen in den Jahren bis 1980 meist ausschließlich mit Vertreter*innen der organisierten Wirtschaftsin­ teressen (und Wissenschaftler*innen) besetzt, so wurden nun beispielswei­ se auch Vertreter*innen der Wohlfahrtsverbände, Umweltverbände und Menschenrechtsverbände als Expert*innen in die Beratungen miteinbezo­ gen. Zudem wurden die klassischen Zugangsformate Beratende Gruppen ab der Jahrtausendwende verstärkt für einen größeren Kreis der organisierten Zivilgesellschaft geöffnet (vgl. Gornitzka/Sverdrup 2008: 733, Kröger 2008: 17; Quittkat 2011a: 100). Sie dienen der Wissensbeschaffung der EU-Kom­ mission, werden oft ad hoc eingesetzt und haben häufig einen sehr exklusi­ ven Teilnehmendenkreis (vgl. Quittkat 2011a: 99). Gleichwohl unterschei­ det sich die Nutzung stark zwischen den unterschiedlichen GDs: Im Fall der GD Handel wurde sogar eine eigene Kontaktgruppe der organisierten Zivilgesellschaft eingerichtet,183 die strukturiert und längerfristig in den Konsultationsprozess eingebunden wurde (auch bekannt als Strukturierter Dialog mit der Zivilgesellschaft, siehe auch 4.3.2.4).184 Auch die intergouvernementalen Arbeitsausschüsse (z. B. Sozialschutz­ ausschuss, Ausschuss für Beschäftigungspolitik) für die Erarbeitung der Leitlinien und Indikatoren im Rahmen der Offenen Methode der Koor­

182 Bereits in den Jahren zwischen 1980 und 2000 rückten die Sozialpartner*innen mit dem Sozialen Dialog und teilweise auch betroffene Interessen vor Ort mit in den Fokus der Kommission (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 82). 183 Diese besteht aus den 4 NRO Gruppierungen Entwicklung, Soziales, Menschen­ rechte und Umwelt sowie Verbraucherorganisationen, Gewerkschaften, Arbeit­ geberorganisationen und EWSA (vgl. Alhadeff/Wilson 2002: 6, zitiert nach Krö­ ger 2008: 25). 184 Diese Beratende Gruppe konnte Themen auf der Tagesordnung vorschlagen, Organisationsaufgaben und somit selbst die Informations- und Transparenz­ funktion übernehmen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 92).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

dinierung185 bieten informelle Möglichkeiten für die Beteiligung von zi­ vilgesellschaftlichen Organisation (vgl. Höchstetter 2007: 37, siehe auch Kapitel 4.3.2.3 Strukturierter Dialog). Diese Ausschüsse bestehen, ähnlich wie die Komitologieausschüsse, aus Vertreter*innen der Mitgliedstaaten.186 Die Kommission ist volles Mitglied dieser Ausschüsse und übernimmt das Sekretariat und die Tagesarbeit (vgl. Höchstetter 2007: 37).187 Dabei variieren die eingeladenen zivilgesellschaftlichen Organisationen enorm – die Beteiligung ist auch in diesem Fall häufig informell gestaltet (vgl. Kröger 2008: 14). Doch nicht nur die klassischen Formate wurden für mehr Organisa­ tionen geöffnet, es wurden auch neue Zugangsformate mit stärker for­ malisierten Bedingungen der Konsultation eingesetzt. Als neue Formate werden ab der Jahrtausendwende Plattformen, Foren und Konferenzen ge­ nutzt. Diese Formate können nicht immer trennscharf abgegrenzt werden, da die Bezeichnungen der Zugangsformate nur unsystematisch zwischen den Generaldirektionen verwendet werden (vgl. Quittkat 2011a: 101).188 In der Regel gibt es Foren und Plattformen in verschiedenen Ausprägun­ gen. Offene Foren und Plattformen ähneln Konferenzen. Meist sind die Stakeholder unterschiedlicher Art (ZGO, politische Akteur*innen und Be­ hörden) je nach Thema der europäischen Ebene oder aber auch von unter­ schiedlichen Ebenen (national und subnational) vereint (vgl. ebd.: 106). Dabei werden die Positionen bzw. die Strategie der EU-Kommission im jeweiligen Bereich verbreitet (vgl. ebd.: 100,105); sie werden ebenso als in­ 185 Die Offene Methode der Koordinierung (OMK) ist kein partizipatives Instru­ ment per se, sondern bezeichnet eine Form des Regierens, die in der EU neben die Gemeinschaftsmethode und die intergouvernementale Methode tritt (vgl. Höchstetter 2007). Sie beinhaltet eine Reihe von Instrumenten und Mechanis­ men der Politikkoordination und baut auf Prozesse des gegenseitigen Lernens, verzichtet jedoch dabei auf rechtliche Verpflichtungen (vgl. Höchstetter 2007: 27; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 79). Die OMK beinhaltet insbesondere das Versprechen, die Adressat*innen der jeweiligen Politik auch an der Formulie­ rung und Implementation teilnehmen zu lassen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 79). Sie beabsichtigt, neue Partizipationsmöglichkeiten sowohl auf der europäischen als auch auf der nationalen (bzw. subnationalen) Ebene zu schaf­ fen. 186 Sie sind daher – im Gegensatz zur Komitologie – funktional dem Rat zuzuord­ nen (vgl. Höchstetter 2007: 37). 187 Daher ist davon auszugehen, dass die Kommission einigen Spielraum bei diesen Ausschüssen hat. 188 Als Erklärung führt Kröger an, dass die Implementation der partizipativen Ins­ trumente dezentral in den einzelnen Abteilungen erfolgt (vgl. Kröger 2008: 30; ähnlich auch Quittkat/Kohler-Koch 2011: 89).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

formelles Monitoringinstrument sowie zur Vernetzung der Akteur*innen genutzt (vgl. ebd.: 108).189 Foren und Plattformen können darüber hinaus auch einen stärker geschlossenen Charakter aufweisen: Diese Formate sind meist Arbeitsgruppen mit einem offiziellen Mandat, um die EU-Kommis­ sion bei ihrer Problemlösungsfähigkeit zu unterstützen (vgl. ebd.: 104). Hierbei kontrolliert die EU-Kommission den Zugang der zivilgesellschaft­ lichen Organisationen (Auswahlkriterien ähnlich dem Sozialen Dialog, siehe Kapitel 4.3.2.2).190 Die Teilnehmenden gehen dabei verbindliche Verpflichtungen ein und unterliegen häufig einem Monitoringverfahren, damit die kontinuierliche Beteiligung sichergestellt wird (vgl. ebd.: 106). Sie haben meist ziemlich klar umrissene Anforderungen vonseiten der EUKommission, wie sie bei der Politikformulierung und -umsetzung behilf­ lich sein können. Damit ist klar, dass alle Teilnehmenden das grundsätz­ liche Ziel der EU-Kommission unterstützen und verbindliche Ergebnisse vorweisen müssen, wie sie dies vorantreiben191 – häufig auch, indem sie ähnliche Initiativen oder Foren auf der regionalen oder lokalen Ebene vorantreiben (vgl. ebd.: 107). Dabei ermöglichen es gerade solche Foren der EU-Kommission, die längere Zeit bestehen, von dem Sachverstand der Betroffenen zu profitieren (vgl. ebd.: 109). Zudem werden Formate, wie Workshops und Seminare, geschaffen, an denen auch zivilgesellschaft­ liche Organisationen teilnehmen können (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 75).192 Auch wenn es hinsichtlich von Formalisierungsgrad und Offenheit der Zugangsformate Unterschiede gibt, soll an dieser Stelle auf ein paar allge­ meine Trends des Demokratisierungspotenzials verwiesen werden.

189 Als Beispiele können ab Anfang 2001 das Europäische Gesundheitsforum und das offene Alkoholforum ab 2008 der GD Gesundheit angeführt werden (vgl. Quittkat 2011a: 108). 190 Bei diesen Foren wird die Teilnahme von der Kommission bestimmt; ge­ wünscht sind als Teilnehmer vor allem europäische Organisationen, die eine breite Streuung von Themen vertreten und repräsentativ für ihren Sektor sind (vgl. Kröger 2008: 17). 191 Die erste Plattform der GD Gesundheit 2003 war das „Europäische Netz für Ernährung und körperliche Bewegung“, hierbei mussten die Teilnehmenden bereit sein, verbindliche Vorgaben einzugehen, um den Trend gegen Überge­ wicht zu stoppen (vgl. Quittkat 2011a: 106). 192 Insgesamt gibt es seit der Jahrtausendwende eine Vielzahl an Zugangsformaten zu den Konsultationen, wie beispielsweise auch Positionspapiere. Trotzdem können auch direkte und informelle Kontakte weiterhin bestehen (vgl. Kröger 2008: 30). An dieser Stelle wurden aus Zeitgründen jedoch nur die wichtigsten Formate herausgestellt.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Inklusivität Insbesondere seit der Jahrtausendwende ist eine Vergrößerung der Band­ breite der einbezogenen Interessen erkennbar (vgl. Huget 2007: 220; vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82). Zudem ist die aktive Förderung von benachteiligten Interessen durch die EU-Kommission hervorzuheben (Bsp.: Frauenbewegung), um Ungleichheiten in der Interessenvertretung zu beheben (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 82). Dies betrifft sowohl die finanzielle Förderung als auch die Förderung von transnationalen Zusammenschlüssen und Netzwerkinitiativen (siehe beispielsweise Huget 2007: 220).193 Allerdings variieren die Zugangsformate hinsichtlich der Offenheit: In­ teressanterweise beobachtet Christine Quittkat (vgl. 2011a: 100) gerade bei den offensten Formaten, den Konferenzen, eine Selbstselektion unter den Teilnehmenden, da diese die aufgebrachte Zeit der Teilnahme der eigenen Organisation gegenüber rechtfertigen müssen. Die durch Offen­ heit gewünschte Heterogenität spiegelt sich nicht in der Struktur der Teilnehmenden wider. Dabei muss in den geschlossenen Formaten da­ rauf hingewiesen werden, dass auch hier insbesondere die großen europä­ ischen Verbände angesprochen werden. Zwar achtet die EU-Kommission auf die Transparenz und Repräsentativität der zivilgesellschaftlichen Orga­ nisationen. Dafür müssen beispielsweise diese mindestens zur Hälfte in den Mitgliedstaaten als Sektor-Repräsentanten anerkannt sein (vgl. ebd.: 105). Ebenso achtet die EU-Kommission bei geschlossenen Expert*innen­ seminaren auf die Zusammensetzung der Akteur*innen (vgl. ebd.: 100). Diese haben hohe Anforderungen an die Mitglieder der Foren: Die Teil­ nehmer*innen sollen konkrete Pläne für das Ziel vorantreiben, die einzel­ nen Aktionspläne der Kommission umsetzen und einen Bericht am Ende vorlegen (vgl. ebd.: 107). Darüber hinaus sollen die Teilnehmenden für das gemeinsame Ziel weitere Initiativen auf der regionalen und lokalen Ebene anregen und mit ähnlichen Foren auf nationaler Ebene zusammen­ arbeiten (siehe beispielsweise EU-Kommission 2005: 6). Je stärker also die Gestaltungsmöglichkeiten der ZGO an der Gesetzgebung und Umsetzung, desto geringer ist die Offenheit der Formate und desto höher sind die Anforderungen an die beteiligten ZGO (vgl. ebd.: 107).

193 Wenn die Struktur der Interessenrepräsentation im Netzwerk gut ausbalan­ ciert ist, werden so Politikbeeinflussungsmöglichkeiten für eine Vielzahl an Akteur*innen geschaffen, ohne dass Interessen auf Kosten von Dritten verletzt werden (vgl. Héritier 1999: 273).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Deliberation Ansatzpunkte für Deliberationsprozesse zwischen den Teilnehmenden scheinen durchaus plausibel für die Konsultationsinstrumente zu sein, wenn auch eher in kleineren Formaten wie Seminaren oder Workshops. Hingegen scheinen Formate mit einem offenen Zugang, wie Konferenzen, allein schon durch die enorm große Anzahl an Teilnehmenden Hindernis­ se für Deliberation zu beinhalten. Eine steuernde Rolle der EU-Kommissi­ on, wie Joerges und Neyer (1997) dies im Fall der Komitologie beschrie­ ben haben, die sich positiv auf eine gemeinsame Problemlösung unter den Delegierten ausgewirkt hat, scheint vorrangig bei den geschlossenen und längerfristig angelegten Foren zu bestehen. Verantwortlichkeit Quittkat und Kohler-Koch (vgl. 2011: 84) verweisen darauf, dass die EUKommission zwar den Konsultationsprozess möglichst effizient gestalten will, dabei jedoch nicht den eigenen Handlungsspielraum einschränken möchte (vgl. ebd.). Ähnlich formuliert es Sandra Kröger mit Bezug auf ein Dokument der EU-Kommission: „However, the Commission does not implement an accreditation sys­ tem and ‘wants to maintain a dialogue which is as open as possible’, leaving the implementation of the participatory rhetoric to the differ­ ent DGs and services which ‘are responsible for their own mechanisms of dialogue and consultation’, refusing to take an ‘over-legalistic ap­ proach’, which, in its view, ‘would be incompatible with the need for timely delivery of policy’ (European Commission 2002: 10)” (Kröger 2008: 5). Auch wenn eine verstärkte Einbindung von gesellschaftlichen Akteur*in­ nen in die Entscheidungsfindung seit der Jahrtausendwende stattgefunden hat (vgl. Huget 2007: 220; Kohler-Koch 2010: 81)194, bleibt dies stets unter einem Rechtsanspruch auf Konsultation für die zivilgesellschaftlichen Or­ ganisationen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 84f.). Ein Problem für die

194 Umfassende Anhörungen und Veröffentlichung von geeigneten Konsultations­ unterlagen waren bereits im Vertrag von Amsterdam 1999 vorgesehen, al­ lerdings waren die Bestimmungen dazu sehr allgemein gehalten (vgl. Quitt­ kat/Kohler-Koch 2011: 84).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

teilnehmenden Organisationen besteht darin, dass die Vorbereitungen für die Meetings für die zivilgesellschaftlichen Organisationen schwierig sind, weil keine regelmäßigen Informationen vonseiten der EU-Kommission veröffentlicht werden (im Fall des zivilen Dialogs der GD Handel, vgl. Kröger 2008: 27), mithin die Prozesstransparenz nach wie vor mangelhaft umgesetzt wird. Zudem wird kritisiert, dass die Kommission die Agenda kontrolliert und keine gegenwärtigen Interessen zulässt, sondern diese von der Agenda ausschließt (vgl. Kröger 2008: 27). Die Dokumentation der Er­ gebnisse der Konsultation, die Berichterstattung, im Internet wird wider­ sprüchlich bewertet (vgl. ebd.: 17; Quittkat 2011a: 105). Dabei wird von den ZGO bemängelt, dass kein formaler Mechanismus dafür besteht, was mit ihren Empfehlungen passiert, wie die EU-Kommission damit umgeht und warum sie bestimmte Forderungen aufnimmt oder weglässt (zum Bei­ spiel bei Expertenseminaren und -gruppen; siehe Quittkat 2011a: 100). Ins­ gesamt besteht bei den Konsultationsformen ein Widerspruch zwischen den hohen Anforderungen von der EU-Kommission an die ZGO an Trans­ parenz und Verbindlichkeit und der fehlenden Transparenz und Verbind­ lichkeit der Konsultationsprozesse durch die EU-Kommission. In diesem Zusammenhang spricht Beate Kohler-Koch (2014: 10) auch von „gelenkter Partizipation“, die einer eigenen Agenda der Kommission folgt (siehe aus­ führlicher Kapitel 2). Kröger weist unter Bezug auf Jarman (2008) darauf hin, dass die Einbeziehung der Zivilgesellschaft ein instrumentelles Experi­ ment der Public Relations der EU-Kommission ist, um ihre Legitimität als Institution zu erhöhen – aber keinen wirklichen Einfluss der ZGO zulässt (vgl. Kröger 2008: 27). Demgegenüber steht das Risiko des Mitwirkungsund Autonomieverlustes für die ZGO durch die Umsetzung der Aktions­ pläne der EU-Kommission (vgl. ebd.). 4.3.2.2.2 Europäischer Sozialdialog Die Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen (Sozialpartner*innen) werden an der Politikformulierung und teilweise auch an der Politikim­ plementierung auf EU-Ebene beteiligt. Wie der EWSA beinhaltet auch der Soziale Dialog Ausschüsse auf europäischer Ebene (hier der Sozial­ partner*innen) sowie ein vertraglich gesichertes Konsultationsverfahren. Der Europäische Sozialdialog besteht aus einem branchenübergreifenden Sozialdialog und branchenspezifischen Sozialdialogen mit jeweiligen Aus­ schüssen. In den folgenden Ausführungen wird der branchenübergreifen­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

de Sozialdialog fokussiert.195 Einzigartig macht den sozialen Dialog, dass die Vereinbarungen der Sozialpartner*innen durch Beschluss des Europä­ ischen Rates Rechtswirkung erlangen können – so wurden bereits Richtli­ nien zu Elternurlaub, Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge erlassen (vgl. Delapina 2012: 399). Damit werden die Sozialpartner*innen im Prin­ zip zu Mit-Gesetzgebern auf europäischer Ebene (vgl. ebd.). Zielgruppe An dem Europäischen Sozialdialog sind ausschließlich die Spitzen der (europäischen) Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*innenverbände be­ teiligt (vgl. Huget 2007: 242).196 Dabei legt die EU-Kommission die Kriteri­ en an Repräsentativität und Legitimation fest, die die Verbände erfüllen müssen, wenn sie an dem Sozialdialog beteiligt werden möchten (vgl. ebd.: 243). Die EU-Kommission hat drei Anerkennungskriterien für Ver­ bände vorgestellt. Die teilnehmenden Organisationen sollen: „(1) branchenübergreifend, sektor- oder berufsspezifisch sein und über eine eigene Struktur auf europäischer Ebene verfügen; (2) (…) aus Verbänden bestehen, die in ihrem Land integraler und anerkannter Bestandteil des Systems der Arbeitsbeziehungen sind, (…) Vereinba­ rungen aushandeln können und so weit wie möglich alle Mitgliedstaa­ ten vertreten; (3) (…) über geeignete Strukturen verfügen, um effektiv an dem Anhörungsprozess teilnehmen zu können“ (EU-Kommission 1993: 13). Dabei folgt dieser Repräsentativitätsbegriff funktionalen Überlegungen: Der Verband muss in 75 % der EU-Mitgliedstaaten Mitgliedsorganisatio­ nen haben (vgl. Huget 2007: 244). Dies wird von der EU-Kommission damit begründet, bei Verhandlungen zu vertraglichen Beziehungen (Tarif­ verträge) überzeugen zu können (vgl. ebd.: 243f.).197

195 Zu den sektoralen Dialogen siehe beispielsweise Dufresne et al. (2006). 196 EGB für Arbeitnehmer*innen (Europäischer Gewerkschaftsbund), Business Eu­ rope für Arbeitgeber*innen (Dachverband der Europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände) und CEEP (der europäische Zentralverband der öffentli­ chen Wirtschaft) (vgl. Delapina 2012: 399). 197 Beim sektoralen Sozialen Dialog sind die Anforderungen an die Repräsentativi­ tät der Verbände dieselben wie beim Sozialen Dialog (vgl. Huget 2007: 245).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Zeitpunkt der Einführung Der branchenübergreifende Sozialdialog wurde 1985 auf Initiative des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jaques Delors eingesetzt (vgl. Duf­ resne 2006: 36; Delapina 2012: 399). Im Jahr 1998 wurden auch die bran­ chenspezifischen Sozialdialoge auf Beschluss der Kommission eingerichtet (EU-Kommission 1998). Geschichte und rechtliche Grundlage Die primärrechtliche Verankerung des Sozialdialogs ist in den Artikeln 153, 154 und 155 AEUV gegeben. In Art. 153 werden die Anwendungs­ bereiche der Konsultation geregelt: beschäftigungspolitische und soziale Fragen. Das vertraglich gesicherte Recht der Vertragspartner*innen auf Konsultation ist in Art. 154 verankert. Mit Art. 155 werden die Sozialpart­ ner*innen grundsätzlich auf EU-Ebene befähigt, bindende Vereinbarun­ gen herzustellen. Institutionelle Anbindung Die Einrichtung des branchenübergreifenden Sozialdialogs ging wesent­ lich auf die Initiative der EU-Kommission zurück (vgl. Dufresne 2006: 36) – konsequenterweise ist der Sozialdialog institutionell an die Kommission gebunden: Sie erteilt nach eigenen Kriterien den Zugang von Sozialpart­ ner*innen zu den Ausschüssen und Konsultationen und übernimmt orga­ nisatorische Aufgaben (vgl. Huget 2007: 247). Anwendungsbereich Die Sozialpolitik liegt in der EU prinzipiell im Zuständigkeitsbereich der einzelnen Mitgliedstaaten. Allerdings beinhaltet der Vertrag über die Eu­ ropäische Union eine horizontale Sozialklausel (Art. 9 AEUV), bei der die Europäische Union bestimmte zentrale Forderungen bei ihrer Politik beachten und durchsetzen soll. Diese sind ein hohes Beschäftigungsniveau, die Gewährleistung eines adäquaten Sozialschutzes, die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, ein hohes Allgemein- und Berufsbildungsniveau

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

und Gesundheitsschutz. So öffnet sich ein gewisser Handlungsraum für Maßnahmen der Sozialpartner*innen auf europäischer Ebene. Durchführung/Verfahren Der Soziale Dialog beinhaltet die Ausschüsse der Sozialpartner*innen auf europäischer Ebene (branchenübergreifend bzw. sektoral). Der Ausschuss des branchenübergreifenden Europäischen Sozialdialogs besteht aus 64 Vertreter*innen der Sozialpartner*innen, den EU-Sekretariaten der bran­ chenübergreifenden Sozialpartner*innen und nationalen Mitgliedsorgani­ sationen. Der Ausschuss kann Facharbeitsgruppen zu bestimmten Themen einbe­ rufen. Er tritt drei- bis viermal im Jahr zusammen. Dabei werden die Standpunkte von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen zu sozialen Themen erörtert, ausgehandelte Texte angenommen und deren Umset­ zung verfolgt sowie künftige Initiativen geplant (vgl. EU-Kommission, Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration 2020). Die Mitglieder des Ausschusses sind darüber hinaus an den Gipfeltreffen für den sozialen Dialog (dem sogenannten dreiseitigen Dialog) beteiligt. Die Gipfeltreffen finden in der Regel halbjährlich zu verschiedenen Bereichen wie Wachstum, Makroökonomie, Beschäftigung, Sozialschutz, Bildung und Ausbildung statt (vgl. ebd.). Es handelt sich um hochrangige Veran­ staltungen unter Vorsitz des oder der Kommissionspräsident*in (vgl. ebd.). Zudem beinhaltet der Sozialdialog nach Art. 154 AEUV ein vertraglich gesichertes zweistufiges Verfahren der Sozialpartner*innen an der Konsulta­ tion zu den in Art. 153 AEUV genannten beschäftigungspolitischen und sozialen Themen: Stufe eins sieht vor, dass die EU-Kommission die Sozial­ partner*innen zur etwaigen Ausrichtung einer Initiative anhören muss. In Stufe zwei muss die EU-Kommission diese dann zum Inhalt der Initiative anhören. Sollte in keinem der beiden Verfahren die Aufnahme zweiseiti­ ger Verhandlungen von den Sozialpartner*innen beschlossen werden und hält die EU-Kommission die Gemeinschaftsmaßnahme nach wie vor für zweckmäßig, so arbeitet sie eine Gemeinschaftsmaßnahme aus. Die Anhö­ rung nach Art. 154 ist allerdings auf die repräsentativen Organisationen der Sozialpartner beschränkt.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Inklusivität Wie bereits dargestellt wurde, legt die EU-Kommission die Kriterien für die Teilnahme der Verbände am Sozialen Dialog fest. Dabei ist fraglich, inwiefern die EU-Kommission berechtigt ist, die Kriterien für die Reprä­ sentativität der teilnehmenden Organisationen zu definieren. Huget (vgl. 2007: 243) kritisiert, dass der Sozialdialog ein sehr exklusives Instrument für eine sehr kleine Gruppe an Organisationen mit sehr spezifischen Merk­ malen ist. Inwiefern diese nach dem Mandat ihrer Mitglieder handeln, hängt sehr von den jeweiligen innerverbandlichen Beteiligungsstrukturen ab. In dieser Hinsicht sind beispielsweise die Probleme der geringer aus­ prägten Verbandsstruktur in den Mitgliedstaaten nach der Osterweiterung der EU 2004 zu nennen (vgl. Delapina 2012: 399f.). Deliberation Huget sieht in dem Europäischen Sozialdialog durchaus Potenziale auf der Output-Seite der Legitimation durch Deliberationsprozesse (vgl. Huget 2007: 247): Da die Sozialpartner*innen Probleme lösen, Interessen vermit­ teln und Konflikte von europäischer Politik durch ihre Mitgliedsorganisa­ tionen in den Mitgliedstaaten reduzieren, können sie auf diese Weise „gu­ te“ Ergebnisse von europäischer Politik in diesem Bereich herstellen (vgl. ebd.). In diesem Sinne scheinen hier ähnliche Bedingungen wie im Fall der Komitologie vorzuliegen. Delapina (vgl. 2012: 399) weist darauf hin, dass die Verhandlungen bei dem Europäischen Sozialdialog zunehmend unverbindlicher wurden und von gegenseitigen Blockaden zwischen Orga­ nisationen von Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*innen geprägt wur­ den. Kritisch erscheint in diesem Zusammenhang auch die Intransparenz der Verhandlungen des Europäischen Sozialdialogs, insbesondere für die größere Öffentlichkeit. Darüber hinaus sind die „guten“ Entscheidungen, die durch den Europäischen Sozialdialog getroffen werden, eigentlich dem Zuständigkeitsbereich der Nationalstaaten zuzuordnen (vgl. Huget 2007: 247). Huget sieht darin eine sehr fragwürdige Verschiebung von Input- zu Output-Legitimität durch die EU-Kommission, da es nur auf die „guten Ergebnisse“ ankommt. Hingegen wirft die Beteiligung am Sozialen Dialog auch viele Fragen auf: Insbesondere die fehlende parlamentarische Beteili­ gung fällt dabei ins Auge.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Verantwortlichkeit In keinem anderen Bereich ist die Beteiligung von organisierten Inter­ essengruppen auf EU-Ebene so stark institutionalisiert wie im Sozialen Dialog (vgl. Huget 2007: 242). Hier sind auch besonders weitreichende mögliche Kompetenzverlagerungen auf Verbände möglich (vgl. ebd.). Schaffen es die Sozialpartner*innen im Ausschuss, konsensfähige Lösun­ gen zu finden, können diese auch Rechtswirksamkeit erlangen. Trotzdem bleiben Defizite in den Bereichen Verfahrenstransparenz und Berichter­ stattung bestehen. Denn für das Konsultationsverfahren des Sozialdialogs bei Kommissionsinitiativen gilt analog zu den anderen Konsultationsfor­ men (4.3.2.2.1): Die Sozialpartner*innen besitzen kein Partizipationsrecht, darüber informiert zu werden, was mit den Informationen der Konsulta­ tion passiert und wie diese im politischen Entscheidungsprozess weiter genutzt werden. 4.3.2.2.3 Online-Konsultationen Online-Konsultationen sind das Standardinstrument der Konsultation für die EU-Kommission. Mittlerweile werden sie von der überwiegenden Mehrheit der Generaldirektionen der EU-Kommission mehr oder weniger regelmäßig genutzt.198 Die restlichen Generaldirektionen stellen entweder interne Servicefunktionen 199 der Kommission dar oder sind sensible Berei­ che200, in denen die Kontrolle bei den Mitgliedstaaten bleiben soll (vgl. Quittkat 2011b: 132). Zielgruppe Grundsätzlich stehen Online-Konsultationen sowohl Organisationen als auch Personen (der breiten Öffentlichkeit) offen (vgl. Quittkat 2011b: 136f.). Die genauen Zielgruppen können in verschiedenen Formaten der 198 Quelle: eigene Sichtung. 199 Beispielsweise Datenverarbeitung, Übersetzung (DGT), Humanressourcen und Sicherheit (HR), Haushalt (BUDG), Gemeinsame Forschungsstelle (JRC) und Dolmetschen (SCIC, vgl. Quittkat 2011b: 132). 200 Beispielsweise sind dies die Bereiche Wirtschaft und Finanzen (ECFIN), Nach­ barschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen (NEAR, vgl. Quittkat 2011b: 132).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Online-Konsultationen eingegrenzt werden: Es werden offene, zielgerich­ tete von geschlossenen Online-Konsultationen unterschieden. Offene On­ line-Konsultationen machen die überwiegende Mehrheit der Konsultatio­ nen aus (vgl. ebd.: 136); sie sprechen eine sehr große Zielgruppe an, nämlich Interessenvertreter*innen, Interessengruppen, die Öffentlichkeit, Mitgliedstaaten, europäische Behörden, Wirtschaftsunternehmen und Pri­ vatpersonen (vgl. ebd.: 136f.). Zielgerichtete Online-Konsultationen rich­ ten sich hingegen an klar definierte Zielgruppen. Sie werden meist bei sehr technischen Fragen verwendet, so beispielsweise bei der GD Steuern und Zollunion. Sie beinhalten häufig trotzdem den Hinweis, dass die Konsultation allen Bürger*innen offensteht (vgl. ebd.: 137). Geschlossene Online-Konsultationen bilden nur einen sehr kleinen Prozentsatz (knapp 4 %, vgl. ebd.: 138). Sie richten sich nur an Unternehmen, Unternehmens­ verbände und Behörden – oder an beide (vgl. ebd.). Die Nutzung der verschiedenen Formen der Online-Konsultationen variiert je nach GD und Thema (vgl. ebd.). Insbesondere technisch ausgerichtete Themen bzw. sol­ che, die sensible Bereiche wie Finanzen oder Subsidiarität berühren, wer­ den meist in geschlossenen Online-Konsultationen behandelt – allerdings ist nicht abschließend zu klären, was konkret die Offenheit des Formates beeinflusst (vgl. ebd.). Zeitpunkt der Einführung Online-Konsultationen sind im Rahmen der Öffnung der EU-Kommissi­ on für zivilgesellschaftliche Akteur*innen um die Jahrtausendwende ent­ standen. Bereits 1998 führt die GD Gesundheit eine Online-Konsultation durch; zu einem regulären Instrument wurden Online-Konsultationen aber erst ab 2000 (vgl. Quittkat 2011b: 131). Pioniere im Jahr 2000 waren die GD Gesundheit und Verbraucherschutz sowie die GD Umwelt, aber auch die GD Landwirtschaft sowie das Generalsekretariat haben OnlineKonsultationen früh eingesetzt (vgl. ebd.). Geschichte und rechtliche Grundlage Für Online-Konsultationen sind auch die einschlägigen Dokumente um die Jahrtausendwende zu nennen; insbesondere das Weißbuch Europäisches Regieren (EU-Kommission 2001). Erwähnt werden sie zudem im Rahmen der interaktiven Politikgestaltung (ein kommissionseigenes Programm zur

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Online-Befragung, vgl. Quittkat 2011b: 129), sowie verstärkt auch noch einmal in der Transparenzoffensive der Kommission ab 2006 (vgl. EUKommission 2006b). Institutionelle Anbindung Während die Öffnung der EU-Kommission und die Anwendung der On­ line-Konsultationen von der Kommission als Ganzes vorangetrieben wird (vgl. Quittkat 2011b: 164), erfolgt die Umsetzung dezentral bei den einzel­ nen Generaldirektionen – entsprechend unterschiedlich fällt die Nutzung (z. B. die Häufigkeit, aber auch der Zeitpunkt der Einführung, die Aus­ gestaltung und die Berichterstattung) aus. Grundsätzlich nutzen jedoch mittlerweile fast alle Generaldirektionen mehr oder weniger regelmäßig dieses Instrument zur Konsultation. Die Online-Konsultationen sollten im Rahmen der Initiative „Interaktive Politikgestaltung“ (IPM) von einem zentralen Internetportal YviE (Your Voice in Europe; vgl. ebd.: 127) flan­ kiert werden. Auch wenn die GDs in der Mehrheit auf dieses Portal hin­ weisen, ist es der Kommission bis heute nicht gelungen, eine zentrale Anlaufstelle dafür zu schaffen (sowohl bei eigener Recherche als auch bei Quittkat 2011b: 129). Zwischen den einzelnen Generaldirektionen gibt es große Unterschiede zwischen den Ankündigungen, der Nutzung, den Zielgruppen und der Nachbereitung der Online-Konsultationen. Anwendungsbereich Die Themen für Online-Konsultationen sind breit gefächert, sie müssen lediglich in den aktuellen oder auch zukünftigen Zuständigkeitsbereich der EU-Kommission bzw. einer Generaldirektion fallen. Das Instrument kommt in sämtlichen Phasen des Politikzyklus zum Einsatz, wird aber meist am Anfang eingesetzt (vgl. ebd.: 133). Durchführung/Verfahren Die Ausschreibungen für die Konsultationen finden entweder auf der je­ weiligen Homepage, dem Internetportal YviE oder auf beiden statt – häu­ fig jedoch lediglich auf Englisch (vgl. ebd.: 129 f.). In der Regel sind die Online-Konsultationen drei Monate geöffnet. Die Konsultationen können

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per E-Mail oder Online-Formular (je nach Standardisierungsgrad) von den Teilnehmenden eingesendet werden. Von Organisationen werden in der Regel auch Informationen über die Organisation selbst bzw. die Annah­ meerklärung gefordert. Bürger*innen können selbst entscheiden, ob ihre Eingaben anonym bleiben sollen; für Organisationen werden die Eingaben jedoch von der Kommission veröffentlicht (vgl. Quittkat 2011a: 101). Die Online-Konsultationen variieren auch hinsichtlich der Offenheit der gestellten Fragen: Diese reichen von offenen Formaten, bei denen ein Ent­ wurf kommentiert werden soll, über semi-standardisierte Formate (Fragen­ kataloge mit offenen Fragen) zu standardisierten Fragebögen (vgl. Quittkat 2011b: 140). Letzteres wurde insbesondere im Rahmen von Folgenabschät­ zungen genutzt und hat den Vorteil einer effizienteren Auswertung aus Sicht der Kommission (vgl. ebd.: 140f.). Bei diesen standardisierten Forma­ ten stellte Quittkat (vgl. ebd. 141f.) die höchsten Beteiligungsraten von Privatpersonen fest. Mit der Überarbeitung der Leitlinien zur Transparenz und Folgenabschätzung 2009 wurde verstärkt auf die offeneren Formate zurückgegriffen (vgl. ebd.). Während diese von den Organisationen der Zivilgesellschaft mehrheitlich klar favorisiert wurden, stellen sie einen erheblichen Zeitaufwand in der Nachbereitung für die Kommissionsmitar­ beiter*innen dar (vgl. ebd.: 140f.). Am Ende der Konsultation sollte zudem ein Konsultationsbericht ste­ hen, in welchem dargelegt wird, wie die Beiträge im Entscheidungsprozess bewertet werden – diesem wird die Praxis jedoch nicht gerecht (vgl. La­ bitzke 2016: 304; Quittkat 2011a: 101; Quittkat 2011b: 144, 165f.). Inklusivität Ein wesentliches Ziel von Online-Konsultationen besteht darin, die Inklu­ sivität des europäischen Entscheidungsprozesses zu erhöhen, indem eine größere Bandbreite von Akteur*innen erreicht wird (vgl. Quittkat 2011a: 123). Diesem Ziel entsprechen die geringen Zugangshürden von OnlineKonsultationen. Insgesamt weisen Online-Konsultationen eine ausgewoge­ nere Zusammensetzung der Akteure im Vergleich zu Konferenzen auf (vgl. ebd.: 101). Positiv ist in diesem Zusammenhang zu sehen, dass der überwiegende Teil der Konsultationen die offenen Formate für Zielgrup­ pen nutzt (vgl. Quittkat 2011b: 150f.; Bestätigung bei eigener Recherche) und sich die Konsultationen nicht nur an Verbände und Unternehmen richten.

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Allerdings werden die Konsultationen häufig nur auf Englisch angekün­ digt und beschrieben – damit wird der Kreis der Öffentlichkeit erheblich begrenzt und die Frage aufgeworfen, inwiefern hier nicht eher häufig ein kleines interessiertes Publikum angesprochen wird (vgl. Quittkat 2011b: 129f.). Insbesondere für Privatpersonen können die teilweise kurzen An­ kündigungsfristen ein Hindernis für die Teilnahme darstellen (vgl. ebd.: 152). Verschärfend kommt hinzu, dass es bislang trotz aller Bemühungen vonseiten der EU-Kommission keine zentrale Anlaufstelle für die Ankün­ digungen der Konsultationen gibt (vgl. ebd.: 131) – daher müssen die Internetauftritte der entsprechenden GDs beobachtet werden. De facto sind damit – entgegen der formalen Offenheit – enorme Hürden für die individuelle Beteiligung an Online-Konsultationen gegeben. Sie korre­ spondieren mit den niedrigen Beteiligungsraten an Online-Konsultationen (vgl. ebd.: 153; Kohler-Koch 2014: 9f.) und werfen die Frage auf, ob so neben dem interessierten gut gebildeten Publikum neue Akteur*innen ein­ gebunden werden können.201 Für die organisierten Interessen gilt in der Realität meist Expert*innen- und Stakeholder-Beteiligung, denn das Ge­ samtbild der Online-Konsultation ist von Branchen- und Fachverbänden der Wirtschaft, den in dem Politikfeld tätigen und auf die Themenberei­ che spezialisierten Organisationen geprägt und weniger von der allgemei­ nen Öffentlichkeit (vgl. Labitzke 2016: 305; Quittkat 2011b: 156f.). Zum Teil unterscheiden sich die Kernakteure zwischen den unterschiedlichen Politikfeldern erheblich (vgl. Quittkat 2011b: 157ff.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Online-Konsultatio­ nen aufgrund ihrer leichten Zugänglichkeit einen breiten Teilnehmenden­ kreis anziehen, es herrscht jedoch kein (numerisches) Gleichgewicht zwi­ schen den Akteur*innen (vgl. Labitzke 2016: 305; Quittkat 2011b: 160). Denn trotz der formalen Offenheit und der geringen Hürden an Ressour­ cen lassen sich auch für die organisierten Interessen Verzerrungen in der Teilnahme an Online-Konsultationen erkennen: So stellen Firmen und Unternehmensvertretungen die größte Gruppe (die auch generaldirekti­ onsübergreifend aktiv sind), gefolgt von den großen europäischen Dach­ verbänden (vgl. Quittkat 2011a: 112). Begründet wurde dies vonseiten der Organisationen mit den notwendigen Ressourcen (vgl. Quittkat 2011b:

201 Aimin Hu (vgl. 2010, zitiert nach Quittkat 2011b: 153) hat in seiner Arbeit über das Profil der an Online-Konsultationen beteiligten Bürger*innen ein klares Profil der individuellen Teilnehmenden herausgearbeitet: Es sind überwiegend gut gebildete männliche EU-Bürger aus Nordwesteuropa, die die Eingaben in Englisch vornehmen.

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160). Allerdings sind auch territoriale Verzerrungen erkennbar: Es domi­ nieren die ökonomisch starken Mitgliedstaaten mit langer Mitgliedschaft in der EU, nämlich Deutschland, Frankreich und (ehemals) Großbritanni­ en (vgl. ebd.: 161). Die neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa hingegen sind erst dabei, sich an das komplexe Konsultationsregime der EU-Kommission zu gewöhnen und sich auf dieses einzustellen (vgl. ebd.: 161f.). Ihr Fokus liegt entweder nicht auf den Online-Konsultationen oder aber sie überlassen ihre Vertretung den EU-Verbänden (vgl. ebd.: 162). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die formale Offenheit der Konsultation und die geringen Anforderungen nicht unbedingt zu einer Ausweitung der Akteur*innen führen. Stattdessen werden Verzerrungen in der Struk­ tur der Akteur*innen offenbar: zwischen Organisationen und Personen, interessenspezifisch und territorial. Deliberation Deliberation ist bei diesem Beteiligungsformat nur bedingt möglich. Koh­ ler-Koch (2007: 261) nennt als Gründe dafür insbesondere institutionelle Hemmnisse: Zum einen haben die Konsultationen ein offenes Ende, weil die Entscheidung nicht – wie im Fall der Komitologie – in der gleichen Arena getroffen wird. Aus diesem Grund ist es für die Teilnehmenden schwieriger, zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen (vgl. ebd.). Zum anderen gehen die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft und die EU-Kommission den Konsultationsprozess nicht vorsichtig an und sind nur bedingt kompromissbereit (vgl. ebd.: 261f.). Zudem befinden sich die Teilnehmenden sowohl in Bezug auf die Agenda-Kontrolle als auch hinsichtlich der Benutzung des Konsultationsinputs in einem Machtgefälle zur EU-Kommission (vgl. ebd.: 261). Verantwortlichkeit Auch an dem eigentlichen Konsultationsprozess werden Transparenzmän­ gel offenbar, weshalb Christine Quittkat Transparenz bei den Online-Kon­ sultationen auch als „Achillesferse der Kommission“ bezeichnet (Quittkat 2011b: 144). Die teilnehmenden Organisationen müssen sich in ein Lobby­ register eintragen. Allerdings besteht kein Anspruch auf Kontrolle, wie die EU-Kommission auf die eingereichten Beiträge reagiert bzw. nach welchen Kriterien sie die Eingaben auswertet und weiterverwendet (so

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auch die Hervorhebung von bestimmten Positionen bei divergierenden Meinungen) (vgl. auch Labitzke 2016: 304). Neben diesen Kritikpunkten hinsichtlich einer Unausgewogenheit202 wird zudem die Qualität der Aus­ wertung kritisiert: Insbesondere die standardisierten Konsultationen wer­ den häufig nur mit einfachen statistischen Methoden ausgewertet und las­ sen keine reflektierten Aussagen über die Daten zu. Diese Kritikpunkte sind aus Sicht der Bürger*innen und organisierten Interessen verständlich und nachvollziehbar, weisen jedoch auch auf ein grundsätzliches Problem der Beteiligung hin. Je mehr die Kriterien von Informationen und Trans­ parenz Beachtung finden, umso mehr erhöhen sie auch den Arbeitsauf­ wand für die Mitarbeiter*innen der Generaldirektionen. Insbesondere das häufige Fehlen der Konsultationsberichte erschwert es der Öffentlichkeit und den teilnehmenden Akteuren, den Konsultationsprozess nachzuvoll­ ziehen (vgl. Quittkat 2011b: 166). Im Jahr 2011 war die Veröffentlichung der Konsultationsbeiträge und -berichte nach wie vor die Ausnahme und zum Stand Ende 2020 203 noch nicht überall geschehen – den Bemühungen der EU-Kommission um Transparenz zum Trotz (vgl. ebd.: 165f.). Solange das Verfahren der Konsultation intransparent ist, bleibt eine Skepsis dem Instrument Online-Konsultation gegenüber, wie Quittkat resümiert (vgl. ebd.). 4.3.2.3 Der Strukturierte Dialog Der Strukturierte Dialog ist ein partizipatives Instrument der Kommission, um verschiedene Zielgruppen (Personen oder Organisationen) in den po­ litischen Entscheidungsprozess der EU einzubeziehen. Das Ziel ist damit auch eine Konsultation der Akteur*innen (keine Mitgesetzgebung) – aller­ dings in einer strukturierten, also systematischen und regelmäßigen Art und Weise. Geboren wurde der strukturierte Dialog mit der Zivilgesell­ schaft in der GD Handel. Dort wurde eine eigene Kontaktgruppe der orga­ nisierten Zivilgesellschaft eingerichtet, die strukturiert und längerfristig in den Konsultationsprozess eingebunden wurde: Sie konnte Themen auf der Tagesordnung vorschlagen und Organisationsaufgaben übernehmen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 92).

202 Auch Torsten Hüller (2010) stellte in seiner Beschäftigung mit zwei OnlineKonsultationen gravierende Fehler und eine unausgewogene Darstellung in den Berichten fest. 203 Eigene Sichtung (Stand 11.11.2020).

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Der Strukturierte Dialog wird insbesondere auch im Rahmen der Offe­ nen Methode der Koordinierung genutzt. Die Offene Methode der Koor­ dinierung (OMK) bezeichnet eine Form des Regierens204, die in der EU neben die Gemeinschaftsmethode und die intergouvernementale Methode tritt (vgl. Höchstetter 2007). Sie beinhaltet eine Reihe von Instrumenten und Mechanismen der Politikkoordination und baut auf Prozesse des gegenseitigen Lernens, verzichtet jedoch dabei auf rechtliche Verpflichtun­ gen (vgl. Höchstetter 2007: 27; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 79; siehe auch Kapitel 1.2.2.2.2). Die OMK beinhaltet insbesondere den Anspruch, die Adressat*innen der jeweiligen Politik auch an der Formulierung und Implementation teilnehmen zu lassen (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2010: 79). Der Struk­ turierte Dialog ist dabei eine Möglichkeit für die Einbeziehung von Stake­ holdern im Rahmen der OMK, wobei sich die konkrete Ausgestaltung der Konsultationsprozesse zwischen verschiedenen Bereichen unterschei­ den kann. Ebenso variieren die eingeladenen zivilgesellschaftlichen Orga­ nisationen enorm (bei der OMK „Pensionen“ waren beispielsweise keine zivilgesellschaftlichen Organisationen anwesend) – die Beteiligung ist auch in diesem Fall sehr informell gestaltet (vgl. Kröger 2008: 14). Auch die institutionelle Anbindung bei den einzelnen Varianten des Strukturierten Dialogs kann sich stark unterscheiden.205 4.3.2.3.1 Strukturierter Dialog mit der Jugend Der Strukturierte Jugenddialog ist ein Beteiligungsinstrument für Jugend­ liche (als Betroffene) bei der Umsetzung der EU-Jugendstrategie. Ziel ist eine systematische Einbindung (Konsultation) der Jugendlichen in die europäische, aber auch nationale, regionale und lokale Politik (vgl. Deut­ scher Bundesjugendring 2021a). Diese Beteiligungsform ist im Rahmen der Koordinierungsprozesse zwischen den Mitgliedstaaten entstanden. Die

204 Allerdings ist es keine eindeutig abgrenzbare Form des Regierens in Europa, sondern vielmehr ein Oberbegriff für ein Set von Maßnahmen, aus dem dann fallweise verschiedene Instrumentarien angewendet werden. Es gibt somit nicht „die“ OMK, sondern starke Unterschiede in den Instrumenten, den eingebunde­ nen Akteur*innen, sowie der Intensität von Überwachung und Koordination (vgl. Höchstetter 2007: 28). 205 Während die übergeordnete politische Verantwortung bei dem Europäischen Rat liegt, sind auf der Arbeitsebene der Ministerrat und die Kommission zu nennen (vgl. Höchstetter 2007: 36f.).

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nachfolgenden Darstellungen konzentrieren sich auf die Zeit zwischen 2010 und 2018. Zielgruppe Der Strukturierte Jugenddialog ist ein Beteiligungsinstrument für Jugend­ liche und junge Menschen. Sie sollen als Stakeholder in den für sie relevanten jugendpolitischen Bereichen partizipieren. Der Strukturierte Dialog steht sowohl Personen (Jugendlichen) als auch Organisationen in diesem Bereich offen. Letztere haben eine sehr große Bedeutung bei der Durchführung des Strukturierten Dialogs (vgl. ebd.). Zeitpunkt der Einführung Der strukturierte Jugenddialog findet seit 2010 statt (vgl. Deutscher Bun­ desjugendring 2021a). Er wurde bereits im Vorfeld der EU-Jugendstrategie 2009 in ähnlicher Form genutzt, jedoch bis zum Jahr 2010 nicht in einer institutionalisierten und strukturierten Form. Geschichte und rechtliche Grundlage Seit dem Vertrag von Lissabon ist Jugendbeteiligung ein vertraglich gesi­ chertes Ziel in der EU (Art. 165 AEUV). Der Strukturierte Jugenddialog ist das zentrale Beteiligungsinstrument der Betroffenen (d. h. der Jugend­ lichen) im Rahmen der EU-Jugendstrategie. Diese wurde im November 2009 von den EU-Jugendminister*innen verabschiedet und gilt für die Jahre 2010 bis 2018 (vgl. ebd.).Von 2019 bis 2027 gilt eine überarbeitete EU-Jugendstrategie (siehe dazu Rat 2019), danach wird der Strukturierte Dialog mit der Jugend seither unter dem Namen Jugenddialog fortgesetzt (vgl. Rat 2019: 6). Institutionelle Anbindung Während des Strukturierten Jugenddialogs ist auf europäischer Ebene der Lenkungsausschuss das entscheidende Gremium. Dieses besteht aus Akteur*innen der Exekutive und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

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Der Vorsitz wird von dem Europäischen Jugendforum übernommen (vgl. ebd.). Weiterhin sind die EU-Kommission, die nationalen Räte der Jugend­ präsidentschaft, die Jugendministerien und die Nationalagenturen für JU­ GEND IN AKTION der jeweiligen Triopräsidentschaft206 beteiligt (vgl. ebd.). Die inhaltliche und organisatorische Begleitung des Strukturierten Dialoges wird auf EU-Ebene durch die Mitglieder des Lenkungsausschus­ ses übernommen (vgl. ebd.).207 Außen vor sind dabei sowohl das EU-Parla­ ment als auch die nationalen Parlamente. Anwendungsbereich Für Jugendpolitik besitzt die EU lediglich eine ergänzende Zuständigkeit. Die Aufgaben lagen lange in der Förderung des (grenzüberschreitenden) Jugendaustauschs. Die EU-Jugendstrategie ist eine Einigung der EU-Ju­ gendminister*innen aus dem Jahr 2009, die auf die Verbesserung der Lebenssituation junger Menschen in Europa abzielt. Dafür soll zum einen mehr Chancengleichheit bei der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt geschaffen werden. Zum anderen sollen gesellschaftliches Engagement, die soziale Eingliederung und die Solidarität junger Menschen gefördert werden. Diese Ziele sind sehr allgemein gefasst und eröffnen damit Mög­ lichkeiten für neue Initiativen auf europäischer Ebene (vgl. Wicke 2013: 3). Durchführung/Verfahren Der Strukturierte Jugenddialog bzw. seit 2019 Jugenddialog ist ein Dialog­ forum, um Jugendliche an der Umsetzung der Jugendstrategie bei konkre­ ten Maßnahmen (auf europäischer Ebene) zu beteiligen. Der europäische Strukturierte Jugenddialog läuft immer in einem 18-monatigen Zeitraum

206 Darunter ist das Land zu verstehen, das die Ratspräsidentschaft aktuell innehat, sowie sein Vorgänger und sein Nachfolger. 207 „Gemeinsam entscheiden die Mitglieder des Europäischen Lenkungsausschusses darüber, wie das Schwerpunktthema über die drei Phasen hinweg bearbeitet wird, stimmen die Zeitpläne und Fragestellungen ab, bereiten die EU-Jugend­ konferenzen inhaltlich mit vor und kümmern sich um deren Nachbereitung (vgl. Deutscher Bundesjugendring 2021a).

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ab (Triopräsidentschaft im Rat).208 In diesem Zeitraum finden Konsulta­ tionen in drei Phasen dezentral in den Mitgliedstaaten zu einem bestimm­ ten Thema statt (z. B. Zusammenleben mitgestalten 2016-2017, Empower­ ment 2014-2015 und andere, vgl. Deutscher Bundesjugendring 2021b). Dabei obliegt die Umsetzung, Form und Methode der Konsultationen (z. B. Fragebogen, Workshops, nationale Konferenzen) den nationalen Arbeitsgruppen.209 Für Deutschland ist dies, ähnlich dem Europäischen Lenkungsausschuss, auch ein Gremium mit Vertreter*innen der Exekutive, halbstaatlichen Akteur*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen (vgl. Deutscher Bundesjugendring 2021c). Auch hieran sind keine Vertre­ ter*innen der Parlamente beteiligt. Anschließend werden nationale Berich­ te erstellt, die die Maßnahmen für ein Land bündeln (in Deutschland wird das von der Nationalen Koordinierungsstelle getätigt). In halbjährli­ chen Konferenzen (in dem Land der Ratspräsidentschaft) werden dann die Punkte aus den nationalen Berichten herausgearbeitet, die für alle Mitgliedstaaten wichtig sind, und gebündelt. Die Teilnehmer*innen der EU-Jugendkonferenzen sind Jugendvertreter*innen sowie Vertreter*innen der zuständigen Jugendministerien in den Mitgliedstaaten. Sie erarbeiten gemeinsam die wesentlichen Punkte in verschiedenen Dialogverfahren; am Ende entsteht eine Zusammenfassung. Diese wird dann an die EU-In­ stitutionen Rat und Kommission sowie an die nationalen Jugendministeri­ en weitergeleitet. Der EU-Jugendministerrat210 erörtert die Zusammenfas­ sungen in der Regel auf seinen turnusmäßigen Tagungen und gibt dazu Empfehlungen an die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission (vgl. Deutscher Bundesjugendring 2021a). Inklusivität211 Der Strukturierte Jugenddialog will explizit kein Elitenprojekt sein, son­ dern alle Jugendlichen in der EU einbinden (vgl. ebd.). Inwiefern das

208 Da die Konsultationen auch auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene durchgeführt werden, sollen auch auf nationaler Ebene Beteiligungsprozesse der Jugendlichen in jugendpolitischen Themen angestoßen werden. Dieser „na­ tionale“ Jugenddialog steht in diesen Ausführungen nicht im Mittelpunkt. 209 Für Deutschland gibt es eine Kombination aus Online-Konsultationen und „physischen“ Aktivitäten (Deutscher Bundesjugendring 2021c). 210 Der Begriff wird nicht gegendert, da dieser auf der Website so präsentiert wird. 211 Im Rahmen der Dokumentenrecherche wurden keine wissenschaftlichen Ana­ lysen zu dem Strukturierten Dialog mit der Jugend gefunden. Infolgedessen

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

gelingt, ist jedoch hauptsächlich von den Ministerien und Organisationen in den Mitgliedstaaten abhängig, da die Dialogprozesse dezentral ablaufen. Gemäß der EU-Jugendstrategie von 2019 bis 2027 sollen in den EU-Ju­ genddialogen nun insbesondere die Inklusivität des Prozesses erhöht wer­ den (vgl. Rat 2019: 6). Infolgedessen sollen insbesondere junge Menschen eingeschlossen werden, deren Stimme „die kein Gehör finden und/oder geringere Chancen haben, in die Entscheidungsprozesse und die Umset­ zung der EU-Jugendstrategie „eingebunden zu werden“ (ebd.). Aus diesem Leitsatz könnte gefolgert werden, dass es bei dem Format des Strukturier­ ten Dialoges zwischen 2010 und 2018 Verbesserungsbedarf gegeben hat, diese Gruppen einzubinden. Deliberation Hierzu liegen keine wissenschaftlichen Daten und Erhebungen vor, gleich­ wohl scheint vielfach ein Potenzial für Deliberation zu bestehen, sowohl in den nationalen Beteiligungsformen als auch bei den Jugendkonferen­ zen. Dies sollte in tiefergehenden Analysen genauer untersucht werden. Verantwortlichkeit Der Konsultationsprozess scheint sehr transparent gestaltet zu sein; deut­ lich transparenter als viele der Konsultationsverfahren der EU-Kommissi­ on. Dabei überzeugt der Strukturierte Dialog mit der Jugend insbesondere durch die transparente Aufbereitung der Ergebnisse der Konsultationsrun­ den, Konferenzen und EU-Jugendkonferenzen (vgl. Deutscher Bundesju­ gendring 2021a). Die nationalen Jugendvertreter*innen werden durch das Deutsche Nationale Komitee für internationale Jugendarbeit (Zusammen­ schluss der ZGO Deutscher Bundesjugendring, Ring politischer Jugend und die deutsche Sportjugend) ernannt. Dazu gibt es jeweils einen Bewer­ bungsaufruf für einen Zyklus des Strukturierten Jugenddialogs.212 Aller­ dings ist dieses Vorgehen nicht aus dem Internetauftritt des Strukturierten Jugenddialoges ersichtlich (vgl. ebd.). Unklar bleibt ebenfalls, wie viele

werden die drei analytischen Kriterien nach eigenen Plausibilitätsüberlegungen bewertet. 212 Information vgl. Daniel Adler, Mitglied der nationalen Arbeitsgruppe Deutsch­ land, Gespräch am 09.03.2016.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Jugendliche in einem Land teilnehmen müssen oder ob insgesamt eine Mindestanzahl der Jugendlichen in Europa benannt werden muss. Ein Ziel des Strukturierten Dialoges ist es, den beteiligten Jugendli­ chen eine Rückmeldung dazu zu geben, wie ihre Empfehlungen von den politischen Entscheidungsträger*innen umgesetzt weiter genutzt wur­ den (vgl. Fiebelkorn/Fischer 2014). Dieses Vorgehen wäre eine erhebliche Verbesserung im Vergleich zu der Berichterstattung bei vielen anderen Konsultationsformen der EU-Kommission. Gleichwohl ist es abhängig von der Umsetzung der teilnehmenden Organisationen der Mitgliedstaaten. In Deutschland ist es zudem auch abhängig von der Konsultationsmetho­ de: Teilnehmende der Online-Konsultationen bekommen eine Nachricht der nationalen Koordinierungsstelle zu den Folgen ihrer Forderungen. Teilnehmende der dezentralen Veranstaltungen sind auf die jeweils aus­ richtenden Organisationen angewiesen.213 Allerdings wird klar abgegrenzt, dass der strukturierte Jugenddialog kein Mitentscheidungsinstrument ist. Die politischen Entscheidungsträger*innen sind nicht verpflichtet, die For­ derungen der Jugendlichen umzusetzen (vgl. Deutscher Bundesjugendring 2021a). Vielmehr liegt die Verbindlichkeit darin, dass sich die Entschei­ dungsträger*innen ernsthaft mit den Forderungen auseinandersetzen sol­ len. 4.3.2.3.2 Der Strukturierte Dialog mit der Zivilgesellschaft im Politikfeld Kultur Der Strukturierte Dialog mit der Kultur ist eine systematische Beteili­ gungsmöglichkeit der Zivilgesellschaft im Kulturbereich. Er wird im Rah­ men der Offenen Methode der Koordinierung in diesem Bereich angewen­ det. Zielgruppe Der Strukturierte Dialog zielt auf zivilgesellschaftliche Organisationen im Kulturbereich (Stakeholder) ab (vgl. Goethe Institut 2020).

213 Information vgl. Daniel Adler, Mitglied der nationalen Arbeitsgruppe Deutsch­ land, Gespräch am 09.03.2016.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Zeitpunkt der Einführung Den Strukturierten Dialog gab es bereits in den Jahren 2008-2013. In die­ ser Zeit waren die Kontakte mit der Zivilgesellschaft noch über die zivilge­ sellschaftlichen Kulturplattformen (Intercultural Europe; Access to Culture; Cultural and Creative Industries) organisiert. Seit dem Jahr 2015 erfolgt erst die nachstehend beschriebene systematische Konsultation (vgl. ebd.). Geschichte und rechtliche Grundlage. Koordinierende und unterstützende Maßnahmen im Kulturbereich auf eu­ ropäischer Ebene sind in Art. 6 AEUV verankert. Im Rahmen der Agenda für Kultur hat die EU-Kommission (2007a) den Strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft als partizipatives Instrument eingeführt (vgl. ebd.). Institutionelle Anbindung Der Strukturierte Dialog mit der Kultur wird von der EU-Kommission organisiert. Die Ergebnisse des Strukturierten Dialogs werden sowohl vor der EU-Kommission als auch den Vertreter*innen der (intergouvernemen­ talen) Arbeitsgruppen der OMK präsentiert (vgl. ebd.). Anwendungsbereich In der Agenda für Kultur hat die EU-Kommission (2007a) drei strategische Ziele genannt: Die Förderung der kulturellen Vielfalt und des kulturellen Dialoges, die Förderung von Kultur als Katalysator für Kreativität sowie die Förderung von Kultur als vitales Element in den internationalen Bezie­ hungen der EU. In diesen Themenblöcken bewegen sich die Themen für den Strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft (vgl. ebd.). Durchführung/Verfahren Zwischen 2008 und 2013 bestand der Strukturierte Dialog aus zwei Säu­ len: dem Europäischen Kulturforum und den zivilgesellschaftlichen Kul­ turplattformen. Letztere wurde seit 2015 in das sogenannte Voices of Cul­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

ture Verfahren umstrukturiert, das ein dreistufiges Verfahren aus Brainstor­ ming Sessions, Brainstorming Reports und Dialogue Meetings beinhaltet. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen im Kulturbereich können sich auf öffentliche Ausschreibungen zu bestimmten thematischen Dialogen bewerben. In der Regel kamen bislang ca. 35 Vertreter*innen von zivilge­ sellschaftlichen Organisationen bei den Brainstorming Sessions zusammen und diskutierten ein Thema. Anschließend wurden die Kernideen der Ses­ sion in einem Brainstorming Report zusammengefasst und auf der Home­ page des Strukturierten Dialoges veröffentlicht. In einem dritten Schritt treffen sich einige der Vertreter*innen der zivilgesellschaftlichen Organisa­ tionen mit der EU-Kommission und besprechen dort die Ergebnisse der Brainstorming Sessions (vgl. Goethe Institut 2020). Inklusivität214 Angesprochen werden von dem Strukturierten Dialog bei Voices of Culture im Bereich Kultur tätige Organisationen der Zivilgesellschaft: Die beteilig­ ten Organisationen müssen gemäß der Informationen der Website des Dia­ loges repräsentativ für ihren Sektor sein, dies beinhaltet die Vertretung ver­ schiedener Interessen sowie eine bestimmte geografische Reichweite. Die Informationen auf der Homepage Voices of Culture sind nur auf Englisch verfügbar – dies scheint darauf hinzudeuten, dass mit dem Strukturierten Dialog eine konkret umrissene Gruppe an zivilgesellschaftlichen Organisa­ tionen im Kulturbereich angesprochen wird, die es in ihrem professionel­ len Umfeld gewöhnt sind, auf Englisch zu kommunizieren. Daher scheint die Inklusivität des Instrumentes durch die fest umrissene Zielgruppe stark eingeschränkt. Deliberation Zu diesem Kriterium gibt es noch keine empirischen Befunde. Da die Teilnehmenden der Dialoge gemeinsam einen Bericht erstellen, erscheint es plausibel, anzunehmen, dass die Beteiligungsform gewisse Potenziale für gegenseitiges Lernen unter den Teilnehmenden bereithält. Inwiefern

214 Auch zum Strukturierten Dialog mit der Kultur liegen bislang keine wissen­ schaftlichen Analysen vor. Die Bewertung der nachfolgenden inhaltlichen Krite­ rien erfolgt daher vor dem Hintergrund eigener Plausibilitätsüberlegungen.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

sich institutionelle Hemmnisse durch den Ablauf ergeben bzw. sich die gleichen Hemmnisse wie bei anderen Konsultationsformen zeigen, bedarf einer eingehenden empirischen Untersuchung. Verantwortlichkeit Auf der Homepage des Strukturierten Dialoges Voices of Culture werden die Themen, Agenda (Tagesordnung), Teilnehmenden und der Ort der verschiedenen Brainstorming Sessions und Dialogue Meetings genannt. Die Brainstorming Reports sind ebenso online verfügbar. Zudem ist ersichtlich, wer den jeweiligen Report geschrieben bzw. editiert hat. In­ sofern ist der Konsultationsprozess sehr transparent gestaltet – sowohl für die Teilnehmenden als auch die größere Öffentlichkeit. Auch wenn keine wissenschaftlichen Analysen zu dem Konsultationsverfahren vorlie­ gen, scheinen die bisherigen Indizien dafür zu sprechen, dass das Kriteri­ um Verantwortlichkeit positiv umgesetzt wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Anbindung des Strukturierten Dialoges an die Arbeitsgruppen der OMK und die Weiternutzung im europäischen Entscheidungsprozess. Denn gerade die Anbindung an die zivilgesellschaftlichen Plattformen, dem vorhergehenden Modell vor Voices of Culture, wurde durch ein externes Beratungsunternehmen als unzurei­ chend eingeschätzt (vgl. Ecorys 2013: 85). 4.3.2.3.3 Der Strukturierte Dialog im Bereich Sport Der Strukturierte Dialog im Bereich Sport auf europäischer Ebene bezeich­ net die systematische und strukturierte Einbeziehung der Stakeholder im Sportsektor ab 2010/2011. Bereits vorher gab es auf europäischer Ebene Dialogprozesse im Sportsektor, insbesondere durch das europäische Sport­ forum (vgl. Art. 2 Abs. i und iii, Rat 2010) sowie im Rahmen der informel­ len Konsultation zwischen den Ratsvorsitzenden, den Sportminister*innen und Sportdirektor*innen (vgl. Art. 2 Abs. ii, Rat 2010). Zudem wurde im Jahr 2008 ein Ausschuss für den sektoralen Dialog über Fußball eingerich­ tet.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Zielgruppe Zielgruppe für den Strukturierten Dialog sind zivilgesellschaftliche Orga­ nisationen im Bereich Sport (Stakeholder), bevorzugt mit europäischer Di­ mension, wie beispielsweise Dachorganisationen, europäische und natio­ nale Verbände, Vereine sowie Sportler und Sportlerinnen (vgl. Rat 2010). Zeitpunkt der Einführung Die Einsetzung einer strukturierten und beständigen Beteiligung von zi­ vilgesellschaftlichen Organisationen im Sportbereich ist auf die Entschlie­ ßung des Rates am 18.11.2010 zurückzuführen (vgl. Rat 2010). Geschichte und rechtliche Grundlage. Mit dem Weißbuch Sport (vgl. EU-Kommission 2007b) wurde die Grund­ lage für den Strukturierten Dialog im Bereich des Sports gelegt. Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (Art. 165) sieht zudem die Zustän­ digkeit der EU in Unterstützungs-, Koordinierungs- oder Ergänzungsmaß­ nahmen im Bereich Sport – sodass aus Sicht der Kommission auch die Entwicklung einer europäischen Dimension des Sports notwendig ist (vgl. EU-Kommission 2011). Wie eingangs beschrieben, wurden auch vor dem Strukturierten Dialog (sowie parallel) andere Mechanismen der Konsulta­ tion im Bereich Sport genutzt, so beispielsweise Online-Konsultationen, eine Expert*innengruppe und das EU-Sportforum als EU-weite Plattform (vgl. ebd.). Institutionelle Anbindung Die strukturierte Einbindung der ZGO im Sportbereich findet regelmäßig am Rande der Ratstagungen der für Sport zuständigen Minister*innen als informelles Treffen zwischen EU-Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen statt (vgl. Art. 4 Abs. i, Rat 2010). Institutioneller Hauptan­ bindungspunkt für den Strukturierten Dialog ist damit der Ministerrat215.

215 Wird als offizielle Bezeichnung nicht gegendert.

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Analog zu dem Strukturierten Dialog mit der Jugend sind auch bei diesem Dialog die Ratsvertreter*innen der Triopräsidentschaft, das Ratssekretariat, die Vertreter*innen der Kommission und das EU-Parlament anwesend (vgl. Art. 4 Abs. iv, Rat 2010). Anwendungsbereich Ging es bei dem Weißbuch Sport (EU-Kommission 2007b) der EU-Kom­ mission um eine Beschreibung der Besonderheit des Sports und der An­ wendung des EU-Binnenmarkts- und Wettbewerbsrechts auf den Sport (vgl. ebd.: 2), so kamen zusätzliche Schwerpunkte durch den Aktionsplan der EU-Kommission (vgl. Rat der Europäischen Union 2014: 4) hinzu.216 Durchführung/Verfahren Der Strukturierte Dialog mit dem Sport findet als informelles Treffen im Rahmen der regelmäßig stattfinden Ratstreffen der Sportminister*innen statt (vgl. Art. 4 Abs. i, Rat 2010) – und ist vorrangig eine Institutiona­ lisierung bereits bestehender informeller Strukturen. Für diese Treffen wird eine Tagesordnung entworfen; die Themen werden meist entweder der gerade abgehaltenen Ratssitzung oder der kommenden Ratssitzung entnommen (Art. 4 Abs. ii, Rat 2010). Dabei haben die Prioritäten der Triopräsidentschaft des Rates Vorrang in der Erstellung Tagesordnung (vgl. ebd.). Ebenso können aber auch die Themen des EU-Sportforums, der europäischen Plattform für Stakeholder im Sportbereich, auf den Treffen behandelt werden (vgl. ebd.). Die Erstellung der Tagesordnung wie auch die Einladung der zivilgesellschaftlichen Organisationen des Sportbereichs obliegt damit dem jeweiligen Ratsvorsitz (vgl. ebd.).

216 Für 2011 bis 2014 waren diese beispielsweise „Integrität des Sports (Antidoping, die Bekämpfung von Spielabsprachen, Jugendschutz, „good governance“ und Integrität der Geschlechter) oder Sport und Gesellschaft (gesundheitsfördernde körperliche Aktivität, Beschäftigung im Sport und allgemeine berufliche Bil­ dung im Sport; vgl. Rat der Europäischen Union 2014: 4). Wo endet das Zitat?

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Inklusivität217 Die Teilnahme erfolgt auf Einladung des Ratsvorsitzes, dabei werden zivilgesellschaftliche Organisationen mit europäischem Fokus bevorzugt. Somit wird ersichtlich, dass bei diesem Format kein Anspruch auf vollstän­ dige Inklusivität im Sinne einer Verbreiterung des Kreises von Akteur*in­ nen gelegt wird, sondern ein Fokus auf europäisch gebündelte Strukturen besteht. Deliberation Durch die informellen Treffen scheinen bei dem Strukturierten Dialog mit dem Sport nur bedingt deliberative Prozesse im Sinne von Joerges/Neyer (1997) möglich zu sein. Verantwortlichkeit Der Strukturierte Dialog im Sport besteht aus regelmäßigen, jedoch nur informell abgehaltenen Treffen. Daher scheint die Transparenz und Nach­ vollziehbarkeit für teilnehmende Organisationen und die Öffentlichkeit nur äußerst begrenzt möglich zu sein. 4.3.2.4 Bürgerkonferenzen und -dialoge218 Im Jahr 2006 wird auf EU-Ebene ein neues Instrument zur Beteiligung von Bürger*innen eingesetzt: Zunächst unter dem Begriff Bürgerkonferenzen (2006 bis 2009), später dann unter dem Begriff Bürgerdialoge (2012 bis heute) sowie zwischen Frühjahr 2021 und Frühjahr 2022 als Konferenz zur Zukunft der EU unter dem leicht veränderten Format der Bürgerkon­

217 Auch zum Strukturierten Dialog mit dem Sport liegen bislang keine wissen­ schaftlichen Analysen vor. Die Bewertung der nachfolgenden inhaltlichen Krite­ rien erfolgt daher vor dem Hintergrund eigener Plausibilitätsüberlegungen. 218 Ähnlich ist auch der EU-Konvent 2002/03 zu sehen, gleichwohl unterscheiden sich die Bürgerkonferenzen davon, indem sie vorrangig für Bürger*innen offen sind. Der EU-Konvent hingegen sprach sowohl diese als auch zivilgesellschaftli­ che Organisationen an (vgl. Europäischer Konvent 2003).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

ferenzen, versucht die EU-Kommission, die Bürger*innen stärker in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden. Zielgruppe Die Bürgerkonferenzen zielen auf die Beteiligung von Personen. Für die ersten beiden Auflagen (2006/07 und 2008/09) wurden die Bürger*innen dafür zufällig ausgewählt (vgl. Oldenburg 2007: 2).219 Das Verfahren wur­ de durch traditionelle Meinungsumfragen und Konsultationen mit orga­ nisierten Interessengruppen ergänzt (vgl. Schäfers 2013). Bei den Bürger­ dialogen ab 2012 wurden die Bürger*innen jedoch nicht mehr zufällig ausgewählt, sondern konnten sich selbst anmelden. Die Konferenz zur Zukunft bestand aus einem bisher nicht dagewesenen ausdifferenzierten Beteiligungssystem, bei dem einerseits 800 Bürger*innen per Losverfahren ausgewählt wurden, die in Bürgerforen mitwirken konnten, und anderer­ seits Bürger*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft sich über eine digitale mehrsprachige Plattform beteiligen konnten (vgl. Europäische Union 2022a: 9-11). Darüber hinaus konnten sich Bürger*innen und Orga­ nisationen der Zivilgesellschaft in nationalen Bürgerforen und Veranstal­ tungen beteiligen (vgl. ebd.: 8). Zeitpunkt der Einführung Die ersten Bürgerdialoge auf europäischer Ebene (als Bürgerkonferenzen) fanden zwischen 2006 und 2007 statt (vgl. Oldenburg 2007). Zwischen 2008 und 2009 gab es eine Fortsetzung der Bürgerkonferenzen, diesmal insbesondere vor und nach der Wahl zum EU-Parlament (vgl. Schäfers 2013). 2012 bis 2014 erfolgte dann eine Weiterführung unter dem Namen Bürgerdialoge. Seit 2014 bis heute gibt es weiterhin Veranstaltungen in einem veränderten Format (vgl. EU-Kommission 2014).

219 Die Teilnehmenden wurden nach verschiedenen Repräsentativitätskriterien so ausgewählt, dass sie die Vielfalt der Bevölkerung der unterschiedlichen Mit­ gliedstaaten abbilden (z. B. Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Hintergrund, länderspezifische Kriterien; vgl. Oldenburg 2007: 2).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Geschichte und rechtliche Grundlage Bereits 2002/03 wurde ein EU-Konvent zur Ausarbeitung der EU-Verfas­ sung organisiert, ein Vorläufer der Bürgerkonferenzen, der mit vielen ver­ schiedenen Dialogverfahren arbeitete und stark auf die Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft fokussiert war. Die Bürgerkonferenzen sind nach den gescheiterten Referenden zur Verfassung im Rahmen des „Plan D“220 der Kommission entstanden. Unter der Federführung von der Kom­ missarin für Kommunikation Margot Hallström wurde eine Wende von der Informations- zur Dialogpolitik vollzogen: Ziel war es, die Bürger*in­ nen direkt mit in den Dialog über Europa einzubeziehen (vgl. Oldenburg 2007: 1). 2009 wurden die Bürgerkonferenzen im Rahmen der Kommuni­ kationsstrategie der EU-Kommission „debate Europe“ weitergeführt (vgl. Freudenberger 2013: 17). Ursula von der Leyen bekräftigte bereits seit Beginn ihrer Amtszeit als Kommissionspräsidentin die Motivation, eine Bürgerkonferenz durchzuführen, die dem EU-Konvent 2002/2003 vor der Verfassung ähnlich ist. Sie begründete dies mit der zentralen Rolle der Bürger*innen in der EU: „From the very beginning, I made clear that people need to be at the very centre of all our policies. My wish is therefore that all Europeans will actively contribute to the Conference on the Future of Europe and play a leading role in setting the European Union’s priorities. It is only together that we can build our Union of tomorrow” (Ursula von der Leyen, in: EU-Kommission 2020a). Dubravka Šuica (zitiert nach Abele 2020), die Vizepräsidentin für Demo­ kratie und Demografie, ergänzte in der Ankündigung der Mitteilung der Kommission: „Wir müssen die Dynamik der hohen Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen nutzen und dem daraus resultierenden Aufruf zum Handeln nachkommen. Die Konferenz zur Zukunft Europas bietet eine einzigartige Gelegenheit, mit den Bürgern nachzudenken, ihnen zuzuhören, sich zu engagieren, Fragen zu beantworten und Sachver­ halte zu erklären. Wir werden das Vertrauen zwischen den EU-Orga­ nen und den Menschen, denen wir dienen, stärken. Dies ist unsere

220 Ein Beitrag davon sind die Bürgerkonferenzen, ein anderer der Strukturierte Dialog mit der Jugend (vgl. Oldenburg 2007).

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Chance, den Menschen zu zeigen, dass ihre Stimme in Europa Ge­ wicht hat“ (Abele 2020). Sie zieht damit eine Verbindung zwischen der Stärkung des Vertrauens zwischen den Menschen und den EU-Organen durch die Konferenz. Denn anhand der Konferenz soll den Bürger*innen gezeigt werden, dass ihre Stimme in Europa Gewicht hat. Institutionelle Anbindung Die Entwicklung der Bürgerkonferenzen entstand maßgeblich unter Lei­ tung der 2004 eingesetzten Kommissarin für Kommunikation Margot Mallström (vgl. Freudenberger 2013: 13). Dabei variierte die konkrete Aus­ gestaltung der Dialoge in der Zeit, ebenso wie die institutionelle Anbin­ dung. Eingebunden waren bei der ersten und zweiten Auflage das EU-Par­ lament sowie nationale Politiker*innen: Bei der ersten Auflage wurden die Ergebnisse der Bürgerdialoge feierlich an das EU-Parlament und andere europäische Entscheidungsträger*innen übergeben (vgl. Oldenburg 2007: 3). Die zweite Auflage der Bürgerkonferenzen 2008 und 2009 sollte insbe­ sondere die Beteiligung von Bürger*innen vor der EP-Wahl im Rahmen der „debate Europe“-Strategie erhöhen (vgl. Freudenberger 2013: 17). Hier waren die Abgeordneten noch stärker eingebunden: Zum einen waren Abgeordnete bzw. Kandidat*innen des EP bei den nationalen Bürgerforen anwesend, zum anderen wurden die Ergebnisse der Bürgerdialoge mit den neu gewählten Abgeordneten in der Zeit zwischen September und Dezember 2009 besprochen (vgl. Schärfers 2013). Die unter dem Namen Bürgerdialoge weitergeführten Veranstaltungen entstanden unter der Fe­ derführung des damaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso, mithin der politischen Leitung der EU-Kommission (vgl. EU-Kommission 2014). Bei den Bürgerdialogen 2012 bis 2014 waren Kommissar*innen, Abgeordnete des EU-Parlaments (in der Regel des jeweiligen Mitgliedslan­ des) sowie nationale Politiker*innen anwesend (vgl. ebd.). Im Unterschied zu den Konsultationsinstrumenten im politischen Entscheidungsprozess (siehe 4.3.2.2) obliegt im Fall der Bürgerkonferenzen die konkrete Umset­ zung weniger den einzelnen Generaldirektionen. Die Ausgestaltung der Konferenz zur Zukunft der EU weicht von den vorgehenden wesentlich ab, da erstere an alle drei Institutionen – EU-Kommission, Europäischer Rat und EU-Parlament – institutionell angebunden ist (Europäische Union 2022a: 7) und auch in ihrer Durchführung stärker dem Europäischen Konvent 2002/2003 ähnelt.

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Anwendungsbereich Bei den Bürgerkonferenzen stand, wenn auch unter verändertem themati­ schem Fokus, immer die Frage der Zukunft Europas im Mittelpunkt. Auf der Bürgerkonferenz 2006/07 wurden unter der Frage „Welches Europa wollen wir?“ drei Themenkomplexe herausgearbeitet: „Energie und Um­ welt“, „Familie und Sicherheit“ sowie „Globale Rolle und Immigration“ (vgl. Oldenburg 2007: 2). Auf den Bürgerforen 2008/09 stand die Frage im Mittelpunkt: „Wie kann die EU unsere wirtschaftliche und gesellschaft­ liche Zukunft in einer globalisierten Welt gestalten?“ (Schäfers 2013). Bei den Bürgerdialogen zwischen 2012 und 2014 standen in der Debatte über die Zukunft Europas Themen wie die Erholung von der Wirtschaftskrise, die Bürgerrechte, die Umwelt und der Klimawandel, Verbraucherschutz und Arbeit im Mittelpunkt. Allerdings wurde dies immer implizit zentral an eine Vertiefung der EU geknüpft, wie auch aus den Bürgerdialogen unter Kommissionspräsident Barroso ersichtlich wird: „They follow a call by European Commission President José Manuel Barroso for an EU-wide debate on proposals to deepen Economic and Monetary Union, and to create a legitimate political union.“ (Schäfers 2013) Die Konferenz zur Zukunft beinhaltete neun Themenbereiche (inklusive einem frei wählbaren Bereich), die einerseits institutionelle Aspekte (bei­ spielsweise „Demokratie in Europa“) und andererseits politische Inhalte („Klimawandel und Umwelt“, „Gesundheit“) darstellen (vgl. Europäische Union 2022a: 11). Dabei reflektieren die gewählten Themen gleichzeitig immer die Prioritäten der jeweiligen Präsidentschaft. Durchführung/Verfahren Die konkreten Verfahren der Bürgerkonferenzen variierten über die Zeit hinweg. Die Bürgerkonferenzen 2006/07, 2008/09 und 2012-2014 bestan­ den jeweils aus einem dreistufigen Verfahren. 2006/07 und 2012-2014 begannen sie jeweils mit einer Auftaktveranstaltung in Brüssel (vgl. Olden­ burg 2007: 2f.), während 2008/09 diese durch eine Online-Konsultation in Internetforen in allen Mitgliedstaaten im Dezember 2008 ersetzt wurde. Alle drei Auflagen der Bürgerkonferenzen enthielten in der zweiten Stufe nationale Bürgerdialoge. Im ersten Bürgerdialog 2006/07 fanden diese an vier Wochenenden im Jahr 2007 mit jeweils zwischen 50 und 200 anwe­

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

senden Bürger*innen statt (vgl. Oldenburg 2007: 3). Dabei ermöglichte ein Zusammenschalten der parallelen nationalen Konferenzen über Skype eine ortsübergreifende Zusammenkunft (vgl. ebd.). Neben den nationa­ len Bürgerkonferenzen gab es 2006/07 auch 15 regionale Bürgerforen in deutschen Städten (hier wurden jeweils 50 Personen per Zufallsgenerator ausgewählt), die Ergebnisse flossen aber nicht in die europäischen Bürger­ foren ein (vgl. Oldenburg 2007: 3). Bei den Bürgerforen 2008/09 fanden die „27 nationalen Bürgerkonferenzen an drei Wochenenden Anfang 2009 statt, wobei pro Wochenende Konferenzen in neun Ländern gleichzeitig tagten“ (Schäfers 2013). Die Veranstaltungen hatten das gleiche Format, jedoch variierte die Zahl der Teilnehmenden zwischen 30 und 150 Per­ sonen. An diesen Wochenenden waren auch sowohl Kandidat*innen als auch Abgeordnete des EU-Parlaments anwesend, um mit den Bürger*in­ nen zu diskutieren (vgl. ebd.). Bei den Bürgerdialogen 2012-2014 fanden in dieser Zeit insgesamt 50 Dialoge in den Mitgliedstaaten statt (vgl. EUKommission 2014). In allen Auflagen endeten die Bürgerdialoge mit einer paneuropäischen Abschlussveranstaltung: Im Mai 2007 wurden auf einer Abschlusskonferenz die Ergebnisse der 27 nationalen Erklärungen von Teilnehmenden der nationalen Bürgerkonferenzen, Projektpartner*innen und Politikexpert*innen zusammengeführt sowie am 9. und 10.5.2007 fei­ erlich dem EU-Parlament übergeben (vgl. Oldenburg 2007: 3). Zwei Jahre später fand der Europäische Bürgergipfel der zweiten Auflage ebenfalls im Mai 2009 statt (vgl. Schäfers 2013). Dazu wurden 150 Teilnehmende der nationalen Veranstaltungen zufällig rekrutiert, die auf dem Bürgergipfel die Empfehlungen mit politischen Entscheidungsträger*innen (Präsident der EU-Kommission und EU-Parlament) diskutieren konnten (vgl. ebd.). Die Abschlussveranstaltung der Bürgerdialoge 2012 bis 2014 fand 2014 un­ ter der Anwesenheit von 10 Kommissar*innen und anderen (europäischen und nationalen) Politiker*innen statt, auch hier wurde eine gemeinsame europäische Bürgererklärung verabschiedet (vgl. EU-Kommission 2014.). Alle drei Auflagen wurden durch verschiedene Veranstaltungen im Rah­ men eines Follow-ups abgerundet. Insgesamt wiesen die Bürgerdialoge ab 2012 einen stärker informativen Charakter auf, während bei den ersten Bürgerkonferenzen stärker die Beteiligung der Bürger*innen untereinan­ der im Mittelpunkt stand. Die Konferenz zur Zukunft in der EU baut auf wesentliche Charakteris­ tika der oben beschriebenen Varianten auf, unterscheidet sich gleichwohl auch von diesen durch die Länge (insgesamt ein Jahr), die differenzierte Beteiligungsstruktur aus Bürgerforen und Online-Partizipation und der hohen Teilnehmendenanzahl (mehr als 52.000 Plattformteilnehmer*innen

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und 650.000 Veranstaltungsteilnehmer*innen; vgl. EU-Kommission 2022a: 13). Grundlegendes Prinzip der Konferenz war, dass die von den europä­ ischen und nationalen Bürgerforen erarbeiteten Empfehlungen und die Inhalte der Plattformen in den unterschiedlichen Themenbereichen auf Plenartagungen mit Vertreter*innen von EU-Institutionen diskutiert und Schlussfolgerungen entwickelt wurden (vgl. EU-Kommission 2021). Diese wurden dann an das Exekutivkomitee übermittelt, einem Gremium, das aus Vertreter*innen der drei EU-Institutionen bestand (vgl. ebd.). Das Exekutivausschuss wiederum verfasste dann aufbauend auf diese Berichte, wobei auch die Beträge aus der digitalen Plattform berücksichtigt wurden (vgl. ebd.). Diese Berichte wurden an den gemeinsamen Vorsitz der drei EU-Institutionen übermittelt (vgl. ebd.) und sind, wie vielfältige weitere Angebote und zusätzliches Material, auf der Website der Konferenz zur Zukunft der EU (https://futureu.europa.eu/) einsehbar. Inklusivität Die Teilnehmer*innen der ersten beiden Konferenzen wie auch für die Konferenz zur Zukunft der EU wurden zufällig (nach Repräsentativitäts­ kriterien) ausgewählt – dieses Verfahren entspricht einem neuen Auswahl­ verfahren der partizipativen Instrumente auf EU-Ebene (Losverfahren). Das Auswahlverfahren kann somit prinzipiell neue, bislang nicht bzw. we­ niger interessierte Bürger*innen einbinden. Für die Dokumentenrecherche dieser Arbeit konnten keine Daten oder Analysen ausfindig gemacht wer­ den, wie hoch die Teilnahmerate der zufällig ausgewählten Bürger*innen ist. Deliberation Die Gestaltung der Bürgerdialoge scheint durchaus Potenziale für Delibe­ ration, Lösungsfindung über Argumente und gegenseitiges Lernen zu ber­ gen. Bislang gibt es gleichwohl nur eine äußerst geringe Anzahl an empiri­ schen Arbeiten (vgl. z. B. Oldenburg 2007, Schäfers 2013), die sich mit den Bürgerkonferenzen beschäftigen – unter diesen wird das Thema Delibera­ tion kaum behandelt. Die außerhalb des Analysezeitraums dieser Arbeit stattgefundene Konferenz zur Zukunft der EU bietet durch ihr ausgeklü­ geltes Beteiligungsdesign vielfältige innovative Impulse und Potenziale für Deliberationsprozesse unter den Teilnehmenden und zwischen diesen und

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

EU-Institutionen. Die breite Datenbasis auf der Website ermöglicht weiter­ führende empirische Arbeiten, die die genauen Deliberationsbedingungen und Prozesse hier untersuchen können. Verantwortlichkeit Bei allen Bürgerdialogen, insbesondere bei den ersten beiden und der Kon­ ferenz zur Zukunft der EU, wurde sehr stark auf eine Transparenz der Ent­ scheidungsfindung geachtet – sowohl durch die Verfügbarkeit der Erklä­ rungen der Bürger*innen als auch die Übertragung der Skype-Konferen­ zen, Medien und die Online-Plattform im Jahr 2021/2022 (vgl. Oldenburg 2007; Schäfers 2013; Europäische Kommission 2014; Europäische Union 2022a: 11). Kritisiert werden die Bürgerkonferenzen 2006/07 insbesondere dahingehend, dass ein überzeugendes und systematisches Konzept der EUKommission fehlt, ob und wie das gewonnene Feedback der Bürger*innen im politischen Entscheidungsprozess weiterverarbeitet wird (vgl. Kurpas et al. 2006: 5, zitiert nach Freudenberger 2013: 14). Bei der Konferenz zur Zukunft der EU war die Weiterverarbeitung der Eingaben der Bürger*in­ nen ein erklärtes Ziel der ausführenden EU-Institutionen (vgl. Europäische Union 2021). In einer ersten antwortenden Mitteilung hat die EU-Kom­ mission dies am 17. Juni 2022 (vgl. EU-Kommission 2022) dies bekräftigt und eine Unterscheidung der geforderten Maßnahmen der Bürger*innen in solche vorgenommen, die in Handlungsfelder der EU-Kommission fal­ len, und solche, die Vertragsänderungen notwendig machen (beispielswei­ se Änderungen zu Abstimmungsregeln im Rat). Maßnahmen, die den Handlungsbereich der EU-Kommission betreffen, sollen, sofern sie nicht schon in bestehenden Initiativen reflektiert sind, in das neue Arbeitspro­ gramm der EU-Kommission aufgenommen werden (vgl. EU-Kommission 2022, beispielsweise das Arbeitsfeld psychische Gesundheit). Hinsichtlich solcher Maßnahmen, die Vertragsänderungen erforderlich machen, hat sich die Kommission noch nicht weiter geäußert. Während der Europäi­ sche Rat es in seiner letzten Tagung bei einer unkonkreten Absichtserklä­ rung beließ (vgl. Europäische Union 2022b), hat sich das EU-Parlament bereits in einer Entschließung darauf geeinigt, die Integration in verschie­ denen Bereichen wie Energie, Gesundheit und Sozialpolitik voranzutrei­ ben und Vorschläge für ein ordentliches Änderungsverfahren der Verträge angeregt (z. B. Initiativrecht des EU-Parlaments, vgl. European Parliament 2022). Es gilt, weitere Maßnahmen der EU-Institutionen abzuwarten, um hier stärker fundierte Aussagen geben zu können.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

4.3.2.5 Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) Mit der EBI wird den Bürger*innen der EU das erste Mal die Möglichkeit eingeräumt, Rechtsvorschriften anzuregen und ein Thema auf die legislati­ ve Agenda zu setzen (vgl. Quittkat/Kohler-Koch 2011: 80).221 Allerdings können die Bürger*innen bei einer EBI nicht direkt über den Erlass von Gesetzen entscheiden (vgl. Cilo 2014: 78). Vielmehr ist sie eine Vorstu­ fe für gesetzgeberische Tätigkeiten (vgl. ebd.). Eine EBI stellt deshalb – ungeachtet der eigenen Bezeichnung und der generellen begrifflichen Un­ schärfe im Bereich Bürgerbeteiligungsformen und Referenden222 – eine Agenda-Initiative dar. In diesem Sinne ist sie ein partizipatives, jedoch kein direktdemokratisches Instrument (vgl. ebd.).223 In dieser Arbeit wird die EBI vielmehr als eine Form der Konsultation von Bürger*innen für die EU-Agenda im weiteren Sinne angesehen. Zielgruppe Die EBI ist formal ein Beteiligungsinstrument für Personen. Für eine EBI müssen sich zunächst sieben Bürger*innen224 aus mindestens sieben Mitgliedstaaten der EU zusammenfinden, die die Initiative ins Leben ru­ fen. Auch Mitglieder des EU-Parlaments können Organisator*innen für eine EBI sein, allerdings werden diese dann nicht für die Mindestanzahl im Bürgerausschuss mitgezählt. Eine erfolgreiche EBI braucht die Unter­

221 Die EBI soll damit den Bürger*innen ein indirektes Initiativrecht einräumen, das seinem Wesen nach eine große Nähe zu den indirekten Aufforderungsrech­ ten von EU-Parlament und dem Rat gemäß den Artikeln 225 und 241 AEUV aufweist (vgl. Cilo 2014: 87, 154). 222 So besteht die Schwierigkeit der Einteilung zum einen in den unterschiedlichen Ausprägungen direktdemokratischer Instrumente und zum anderen darin, dass es bislang keine einheitliche Terminologie zu direktdemokratischen Instrumen­ ten in der Wissenschaft gibt (vgl. Cilo 2014: 79). 223 Auch wenn an einigen Stellen der Literatur die EBI als ein direktdemokrati­ sches Instrument angesehen wird (vgl. z.B. Cilo 2014) und die Einordnung als Agenda-Initiative eine sehr markante Charakterisierung des Wesens der EBI ist, wird in dieser Arbeit gemäß Plottka (vgl. 2012: 420) eine EBI als ein partizipati­ ves Instrument angesehen, da keine direkte Rechtsfolge besteht. 224 Cilo verweist auch auf einen Kommissionsvorschlag, auch juristische Personen als Antragstellende mit aufzunehmen (vgl. Cilo 2014: 126).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

stützung von mindestens einer Million wahlberechtigter Bürger*innen225 aus einem Viertel der Mitgliedstaaten der EU (vgl. ebd.: 107). Juristische Personen sind davon, ebenso wie von Unterstützungsbekundungen, ausge­ schlossen; gleichwohl haben sie die Möglichkeit der finanziellen, organisa­ torischen und juristischen Unterstützung (vgl. ebd.; Kohler-Koch 2014). Zeitpunkt der Einführung Europäische Bürgerinitiativen sind seit dem 1. April 2012 möglich. Geschichte und rechtliche Grundlage Wenngleich es bereits vor der Jahrtausendwende Bestrebungen hin zu einer verstärkten Nutzung von Instrumenten zur Bürger*innenbeteiligung in der EU gab, konnte sich diese in Form der heutigen EBI erst während des EU-Konvents durchsetzen – und auch nur gegen enormen Widerstand (vgl. ebd.: 72).226 Die EBI hat gegenüber vielen anderen direkten Beteiligungsformen eine herausgehobene Stellung, da sie primärrechtlich im Vertrag von Lissabon in Art. 11 Abs. 4 im Abschnitt über die demokratischen Grundsätze veran­ kert ist (siehe auch ebd.: 77). Zudem ist die EBI im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Art. 24 Abs. 1 verankert. Die nä­ here Ausgestaltung wird in der Verordnung (EU) 211/2011 geregelt (vgl. ebd.: 154). Mit dem 1. Januar 2020 wurde diese EBI-VO durch eine neue Verordnung ersetzt (EU) 788/2019 – in der Verordnung wurden einige Reformmaßnahmen unternommen, die Defizite in der bisherigen Hand­ habung ausgleichen sollten.

225 Laut EBI-Verordnung orientiert sich das Mindestalter der Unterstützungsbekun­ dungen an den nationalen Vorschriften für das Mindestwahlalter für das EP (vgl. Cilo 2014: 90f.). 226 Die EBI in ihrer aktuellen Form geht insbesondere auf das Engagement der Abgeordneten Jürgen Meyer und Alain Lamassoure sowie die Zusammenarbeit mit verschiedenen NROs zurück: Am 06.06.2003 brachte Jürgen Meyer einen Kompromissvorschlag der EBI-Vorlage in den Konvent ein, der die Vorlage für die heutige EBI ist (vgl. Cilo 2014: 71). Dabei orientierte sich Meyer bei der EBI an den Artikeln 225 und 241 (AEUV) und den indirekten Initiativrechten des EP und des Rates (vgl. ebd.).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

Anwendungsbereich Eine EBI kann sich nur auf Themen beziehen, die im Zuständigkeitsbe­ reich der Union liegen (vgl. ebd.: 123), d. h. nach Art. 3 und 4 AEUV liegt entweder die ausschließliche oder geteilte Zuständigkeit der EU vor. Bei Letzterer muss zudem das Prinzip der Subsidiarität beachtet werden (vgl. ebd.: 108f.). Der Gegenstand der EBI darf nicht gegen höherrangiges Primärrecht verstoßen und keine Vertragsänderung bzw. -auflösung zum Gegenstand haben (vgl. ebd.: 123). Zudem müssen die Themen einer EBI auch im Rahmen der Vorschlagskompetenz der EU-Kommission liegen (vgl. ebd.: 123).227 Als Grundregel für den Anwendungsbereich kann for­ muliert werden, dass die EBI auf solche Gesetzgebungsakte angewendet wird, die auf die „internen Politiken und Maßnahmen der Union bezogen sind“ (vgl. ebd.: 112).228 Es können sowohl verbindliche als auch unver­ bindliche Rechtsaktformen begehrt werden (vgl. ebd.: 108). Cilo merkt zum Kompetenzbereich der EBI an, dass dieser nicht abschließend juris­ tisch gezogen werden kann und folglich politisch von der Kommission zu ziehen sein wird (vgl. ebd.: 123). Nach einer anfänglichen Euphorie, die mit vielen eingereichten Initiativen in den ersten beiden Jahren einher­ ging, drohte das Instrument in den Jahren 2016 und 2017 zu „versickern“, da nur sehr wenige Initiativen überhaupt eingereicht wurden. Ab 2018 kam es zu einem neuen Aufschwung in der Nutzung des Instrumentes.229 Themenschwerpunkte waren in dieser Zeit beispielsweise die Reisefreiheit und das Schengen-Abkommen, die Antidiskriminierung von Minderhei­ ten, Extremismus Prävention, die Klimakrise und der Brexit.

227 Dies sind alle Rechtsakte, die gemäß Art. 289 Abs. 1 AEUV im Rahmen des ordentlichen oder nach Art. 289 Abs. 2 im Rahmen des besonderen Gesetzge­ bungsverfahren erlassen werden (vgl. Cilo 2014: 112). 228 Dies betrifft ebenso Bereiche, wenn der Kommissionsvorschlag explizit vorgese­ hen ist (z. B. in Art. 121 Abs. 4 AEUV, Art. 122 Abs. 1 und 2 AEUV und Art. 148 Abs. 2 AEUV). 229 Im ersten Jahr (2012) wurden 23 Initiativen und im zweiten Jahr 13 Initiativen eingereicht. 2016 hingegen wurden nur noch 3 Initiativen beantragt, 2018 stieg die Zahl der eingereichten Initiativen auf 10 und 2019 auf 15 an (eigene Erhe­ bung).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

Durchführung/Verfahren Für die Durchführung der EBI müssen die Bürger*innen nach Art. 2 Nr. 3 EBI-VO einen Bürgerausschuss bilden (vgl. ebd.: 126). Der Bürge­ rausschuss230 dient der Kommunikation mit den EU-Organen während der EBI, wobei die Organisator*innen im Bürgerausschuss aus ihrer Mitte heraus einen oder eine*n Vorsitzende*n und Stellvertreter*innen wählen, die insbesondere für diese Aufgabe verantwortlich sind (vgl. ebd.: 126). Die Durchführung einer EBI kann in drei Stadien eingeteilt werden: Innerhalb von drei Monaten muss eine EBI bei der EU-Kommission regis­ triert werden und wird von ihr auf die Zulässigkeit geprüft (vgl. ebd.: 141). Dabei erfolgt die Prüfung zunächst unter rechtlichen Gesichtspunk­ ten (vgl. ebd.: 132). In einem zweiten Stadium erfolgt die Sammlung der Unterstützungsbekundungen (Unterschriften) innerhalb eines Jahres (vgl. ebd.: 141). In jedem Mitgliedstaat muss ein bestimmtes Quorum erreicht werden (vgl. ebd.: 107). Anschließend prüft die EU-Kommission in einem dritten dreimonatigen Stadium politisch, welche Schritte sie in Bezug auf die Initiative unternehmen wird (Art. 10 Abs. 1 VO (EU) 788/2019)231. Die Reform der EBI-Verordnung aus dem Jahr 2019 hat diesen Zeitraum auf sechs Monate verlängert (Art. 15 Abs. 2), um eine bessere Prüfung der ein­ gereichten Initiativen und eine breitere Diskussion über die weiteren Maß­ nahmen zu ermöglichen. Innerhalb dieser Frist ist die EU-Kommission nach Artikel 15 Abs. 1 angehalten, die Organisator*innen „auf geeigneter Ebene“ zu empfangen. Zudem werden die Organisator*innen nach Art. 14 Abs. 2 der EBI Verordnung öffentlich im EU-Parlament angehört. Ein Anlass der Kritik ist der große Entscheidungsspielraum der Kom­ mission bei den Maßnahmen, die sie in Bezug auf die EBI unternimmt: Sie muss gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung innerhalb der sechsmonati­ gen Frist den Organisator*innen und den anderen EU-Organen mitteilen, welche rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen sie zieht und wie das weitere Vorgehen aussieht. Gleichwohl wird in diesem Artikel der EBI-VO auch die Möglichkeit für die EU-Kommission eingeräumt, keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen – sie muss solches nur begründen. Anders gesagt, die EU-Kommission muss nicht zwingend einen Rechtsakt

230 Da es sich hierbei um eine offizielle Bezeichnung handelt, wird diese nicht gegendert. 231 Alle weiteren Artikel in diesem Abschnitt beziehen sich selbstverständlich auf die Verordnung (EU) 788/2019, um die Lesbarkeit zu verbessern, wird diese nachfolgend auch EBI-VO genannt.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

als Antwort auf die Initiative vorschlagen und, sofern sie einen Gesetzesin­ itiative anstößt, ebenso wenig den inhaltlichen Vorgaben der Initiatoren folgen (vgl. Kohler-Koch 2014). Sollte die EU-Kommission einen Rechts­ akt vorschlagen, läuft das reguläre Verfahren der Gemeinschaftsmethode ab. Hinzugekommen ist in der Überarbeitung der Verordnung der EBI, dass das EU-Parlament die Initiative abschließend politisch bewertet und sein weiteres Vorgehen abstimmt (Art. 14, Abs. 4 Satz 5). Auch wenn dem EU-Parlament keine formalen Mandate dabei zukommen, scheint diese Aufwertung eine Stärkung des EU-Parlaments bei der weiteren Behand­ lung der Initiative darzustellen. Ebenso neu hinzugekommen ist in der Reform der EBI-VO (Art. 15 Abs. 3), dass die EU-Kommission und die Organisator*innen die Unter­ zeichner*innen über die Entscheidung der EBI informieren. Zudem wer­ den durch die Reform Verfahrenserleichterungen für die Organisator*in­ nen durch die Kommission ermöglicht232: unter anderem ein zentrales Online-Sammelsystem etabliert (Art. 10), Datenaustauschsysteme für die Übermittlung der Online-Unterstützungsbekundungen der Mitgliedstaa­ ten eingesetzt, nationale Kontaktstellen (§ 1 Art. 6) geschaffen, und die Möglichkeit der Übersetzung der EBI durch die Kommission eröffnet (§ 1 Art. 4). Inklusivität Wenngleich das Recht auf eine EBI grundsätzlich allen Bürger*innen of­ fensteht, werden bei dieser Beteiligungsform insbesondere die hohen for­ malen Hürden kritisiert, die eine erfolgreiche EBI nehmen muss: Hier wer­ den die Mindestanzahl von 1 Million Unterschriften sowie die Teilnahme von Bürger*innen aus einem Viertel der Mitgliedstaaten (Bürgerausschuss) genannt. Im Vergleich zu Petitionen sind die formalen Anforderungen einer EBI ungleich höher. Beate Kohler-Koch (vgl. 2014) kritisiert, dass nur eine kleine Elite in Europa diese Anforderungen zu erfüllen vermag. Zudem werden so in der Konsequenz die Zielgruppen der EBI verwischt: Denn hinter den Personen, die dem Bürgerausschuss angehören, stehen häufig Organisationen, die transnational aufstellt sind (wie beispielsweise Greenpeace, der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst oder die katholische Kirche). Damit kommt es aber nicht unbe­ 232 Neu eingefügter Artikel 4 „Unterstützungsleistungen durch die Kommission“ (EBI VO 788/2019).

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

dingt zu einer stärkeren Einbeziehung von Bürger*innen in die politischen Entscheidungsprozesse der EU; dies scheint für viele Bürger*innen auf die Möglichkeit der Unterstützungsbekundung beschränkt. Für Beate Koh­ ler-Koch ist das insofern bedenklich, als dass so die reale Zielgruppe der EBI personell gut aufgestellte, professionelle und transnational vernetzte Organisationen sind (vgl. Kohler-Koch 2014, anders Plottka 2012). Für NGOs hingegen kann sich ein Potenzial für EBIs durch die Bildung einer Koalition ergeben, wie das Beispiel der EBI gegen das Pestizid Stop Glypho­ sat aus dem Jahr 2017 zeigt. Da die EBI häufig auch von Mitgliedern des EU-Parlaments initiiert werden, spricht Beate Kohler-Koch in diesem Zusammenhang von einer Stärkung des EU-Parlaments, da die EBI für die Abgeordneten quasi ein in­ direktes Initiativrecht darstellt (Kohler-Koch 2014), mit dem sie nicht nur ihre Forderungen lancieren, sondern auch alte und neue Wähler*innen an sich binden können. Allerdings muss an dieser Stelle kritisch gefragt werden, ob es nicht auch Gefahren birgt, wenn die Abgeordneten des parlamentarischen Raums sich des außerparlamentarischen Raums bedie­ nen, um ihre Themen auf die politische Agenda zu bringen. Zumindest ist an dieser Stelle von einer Verschiebung von den Instrumenten von repräsentativer und partizipativer Demokratie zu sprechen. Bislang hat die EBI insgesamt eine äußerst ernüchternde Bilanz gezo­ gen: In knapp zehn Jahren wurden 90 Initiativen bei der Europäischen Kommission zur Registrierung eingereicht.233 Zusätzliche 23 Anträge zur Registrierung wurden abgelehnt, weil sie nicht die formale Zuständig­ keit der EU und das Vorschlagsmonopol der Kommission betreffen.234 Von den 90 registrierten Initiativen waren bislang lediglich 6 formal er­ folgreich, d. h. sie konnten eine Million Unterstützungsbekundungen in einem Viertel der Mitgliedstaaten mobilisieren. Abgesehen von laufenden Verfahren235, bei denen noch keine Bewertung möglich ist, liegen die Gründe für diese ernüchternde Bilanz im Wesentlichen einerseits in orga­

233 Stand 14. Juli 2022. Die folgenden Angaben zu den EBIs wurden dem offiziel­ len Register der EBI entnommen (siehe Europäische Union 2022c). 234 Diese hohe Anzahl kann als ein Hinweis auf den erforderlichen hohen Grad an Professionalisierung gewertet werden, der für die Organisation einer EBI benötigt wird. 235 Eine Initiative ist derzeit registriert (ohne bereits startende Unterschriftensamm­ lung), bei 15 Initiativen läuft aktuell die Unterschriftensammlung, bei fünf Initiativen ist die Unterschriftensammlung und die Prüfung durch die EU-Kom­ mission erfolgt. Bei diesen Initiativen ist noch keine abschließende Bewertung möglich (Stand 14. Juli 2022, siehe Europäische Union 2022c).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

nisatorischen Schwierigkeiten der sieben Länderkampagnen (20 Initiativen wurden von den Organisator*innen zurückgezogen). Zudem scheiterten 43 Kampagnen, d. h. fast die Hälfte aller registrierten Initiativen, an der Sammlung der erforderlichen Unterstützungsbekundungen. Diese Bilanz verdeutlicht die hohen Hürden des Instrumentes, die die Inklusivität des Instrumentes einschränken. Deliberation Ansatzpunkte für Deliberation könnten sich bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission und bei dem Vorsprechen im EU-Parlament ergeben. Die überarbeitete EBI-Verordnung nimmt darauf Bezug, da das EU-Parla­ ment nun für eine ausgewogene Vertretung der öffentlichen und privaten Interessen bei dem Vorsprechen sorgen soll (Art. 14, Abs. 4 Satz 4, VO (EU) 788/2019). Daher scheint es plausibel, dass es bei der vorherigen Praxis der Anhörung der Initiativen Kritik an einer unausgewogenen Zu­ sammensetzung gab, die sich als deliberationshinderlich erwiesen haben. Weitere Potenziale für Deliberation ergeben sich auch aus der Herstellung von Öffentlichkeit für bestimmte Themen und Prozesse in der EU durch die Initiativen. Verantwortlichkeit Hinsichtlich der Transparenz- und Informationskriterien ist eine grund­ sätzlich positive Bilanz zu ziehen. Die Anforderungen an die EBI (Bürger­ ausschuss, Mindestanzahl der Unterstützungsbekundungen, Anwendungs­ bereich) sind klar ersichtlich und bekannt. Positiv sind zudem das dreistu­ fige Verfahren der EBI und die genauen Vorgaben zu bewerten, wann die Organisatoren der EBI über die Entscheidungen der EU-Kommission benachrichtigt werden. In der Überarbeitung der EBI-VO befindet sich nun ein Artikel, 15 Abs. 3 EBI-VO von 2019, der die EU-Kommission und die Gruppe der Organisator*innen dazu beauftragt, die Unterzeichner*in­ nen über die Entscheidung zu informieren. Diese Neuerung im Bereich der Berichterstattung ist ein wesentlicher Unterschied zu vielen anderen Konsultationsinstrumenten bei der EU-Kommission und in vergleichbarer Weise nur bei dem Strukturierten Dialog mit der Jugend enthalten. Die überarbeitete Verordnung beinhaltet ebenso einen Artikel zur Öffentlich­ keitsarbeit des Instrumentes (vgl. Art. 18 EBI-VO): Nach diesem Artikel

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4.3 Vorstellung der Beteiligungsformen auf EU-Ebene

ist es die Aufgabe der EU-Kommission, durch Kommunikationsmaßnah­ men und Informationskampagnen die Öffentlichkeit für die Ziele und die Funktionsweise der EBI zu sensibilisieren und somit die „aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben in der Union“ zu befördern (Art. 18 Abs. 1 EBI-VO). In Satz 2 wird zudem klargestellt, dass das EU-Parlament zu den Kommunikationsmaßnahmen der EU-Kommission beiträgt. Trotz der zunehmenden Transparenzbemühungen in der überarbeite­ ten Verordnung fällt insbesondere der weite Auslegungsspielraum der EUKommission mit den Initiativen negativ auf: Die EU-Kommission muss keinen Rechtsakt erlassen. Sofern sie dies doch tut, kann sie auch von den Forderungen der Organisator*innen abweichen oder diese ablehnen. Dies steht jedoch in einem scharfen Gegensatz zu den enorm hohen Anforderungen der EBI an die Organisator*innen. Diese werden in der neuen Verordnung zusätzlich durch Transparenzvorgaben der EU-Kom­ mission verstärkt: Die Organisator*innen müssen nun deutlicher über eh­ renamtliche Aufgaben und die Finanzierungsquellen ihrer jeweiligen EBI Auskunft geben (Art. 17 Transparenz neu eingefügt, EBI-VO). Von den bis­ lang fünf erfolgreichen Initiativen konnten bislang zumindest zwei EBIs bereits Teilerfolge in der Umsetzung ihrer Forderungen erreichen (EBI Right2water236 und Stop Glyphosat). Für die beiden Initiativen One of Us237 und Stop Vivisection238, die beide im ersten Jahr der Initiative eingereicht wurden, sah die Kommission keine Notwendigkeit, gesetzgeberisch einzu­ greifen. Ähnliches gilt für die Initiative Minority SafePack vom 3. April

236 Als Folge der EBI wurde eine Ausnahme des Wasserbereichs aus der Konzessi­ onsrichtlinie erwirkt (vgl. European Commission 2014a). Aus Sicht der Organi­ sator*innen der EBI ist dies ein Teilerfolg, da sich die Initiative neben einem Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser unter anderem auch ge­ gen eine Wasserliberalisierung wandte. 237 Im Falle von One of Us, weil es gerade erst eine gemeinsame Strategie zwischen EU-Kommission, Rat und EU-Parlament in diesem Bereich gab (vgl. European Commission 2014b) und die Kommission den existierenden Rechtsrahmen für ausreichend befand. Die Initiative One of Us, deren Organisator*innen der katholischen Kirche nahestanden, forderte ein Ende der finanziellen Unterstüt­ zung von Maßnahmen für Abtreibung oder auch wissenschaftliche Forschung am Embryo. 238 Im Falle der EBI Stop Vivisection argumentierte die Kommission, dass die beste­ hende Gesetzgebung das Ziel der Initiative teilt und insofern bereits unterstützt, da Tierversuche sowieso eine auslaufende Testmethode qua Gesetzgebung seien. Die Kommission organisierte als Folgemaßnahme einen Kongress, um Wissen in dieser Hinsicht zu bündeln (vgl. European Commission 2015).

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

2017239, die von der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN)240 organisiert wurde und sich für die sprachliche und kulturelle Förderung von Minderheiten in der EU einsetzt. Auch bei dieser EBI sieht die EU-Kommission eine vollständige Umsetzung der bestehenden gesetzlichen Regelungen als ausreichend an (vgl. European Commission 2021). Am 2. Oktober 2020 wurde zudem die Initiative Stop the Cage age für gültig erklärt, die ein Ende der Käfighaltung für eine Reihe von Nutztieren fordert (vgl. End the cage age 2020). In ihrer Antwort vom 30. Juni 2021 schlägt die EU-Kommission vor, einen Gesetzentwurf bis En­ de 2023 vorzulegen, die Käfighaltung für alle in der Initiative genannten Nutztieren schrittweise zu beenden (vgl. EU-Kommission 2021b). Auch wenn die Initiative und ihre Folgemaßnahmen nicht mehr im Rahmen dieser Arbeit analysiert werden können, scheint die EU-Kommission hier – im Gegensatz zu den anderen 5 Initiativen – deutlicher den Zielen der EBI zu folgen. Dies könnte mit der Übereinstimmung der Ziele der EBI mit den Prioritäten der EU Kommission, insbesondere dem „New Green Deal“ und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (ebd.), begründet sein und sollte in zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten genauer untersucht werden. Abgesehen von diesem Beispiel lässt die ernüchternde Umsetzungsquote der EBIs es jedoch fraglich erscheinen, ob sich das Instrument positiv auf die demokratische Verantwortlichkeit der EU auswirkt – gerade vor dem Hintergrund der hohen Hürden des Instrumentes. 4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen Nachdem die einzelnen Beteiligungsformen anhand des erarbeiteten Krite­ rienkatalogs vorgestellt wurden, liegt der Fokus in diesem Kapitel darauf, strukturelle Auffälligkeiten zwischen den Formen herauszuarbeiten und dabei wirkende Mechanismen zu identifizieren. Diese sollen helfen, zu analysieren, wer von den verschiedenen Beteiligungsformen profitiert, so­ 239 Diese Initiative hat am 3. April 2018 die erforderlichen Stimmen erhalten. Die verspätete Annahme vom 20.1.2020 macht auf Probleme der Koordinierung mit den nationalen Behörden und Koordinationsstellen aufmerksam. Diese müssen die von den Organisator*innen der EBI eingereichten Unterstützungs­ bekundungen verifizieren und dann an die Kommission melden. 240 Das FUEN ist eine europäische Dachorganisation von nationalen Minderheiten mit über 90 Mitgliederorganisationen in rund 30 Ländern, eine Organisation ähnlich der EGÖD.

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4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

wohl auf der Seite der gesellschaftlichen Akteure als auch auf der Ebene der Institutionen. Die Auswertungsschwerpunkte dieses Kapitels sind wie folgt angeord­ net: Um ein grundlegendes Verständnis von der Entwicklung der direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene zu erlangen, werden diese zunächst in Form einer chronologischen Entwicklung ausgewertet (4.4.1). Die Über­ sicht über die Entwicklung der verschiedenen Partizipationsformen hilft dabei, politische Zusammenhänge mit politischen Entwicklungen (Dis­ kussion um das Demokratiedefizit, gescheiterter EU-Verfassungsvertrag) in Verbindung zu setzen. In der chronologischen Darstellung der Beteili­ gungsformen werden die verschiedenen Zielgruppen (Personen oder Or­ ganisationen) reflektiert. Diese Übersicht bildet die Grundlage für die Analyse der verschiedenen Zielgruppen auf EU-Ebene (4.4.2): Im Mittel­ punkt steht dabei die Frage, wo sich einzelne Bürger*innen auf EU-Ebene beteiligen können, um die im theoretischen und empirischen Forschungs­ stand vorherrschende Konzentration auf die organisierte Zivilgesellschaft stärker der empirischen Realität anzupassen. Vielmehr sollen dabei unter­ schiedliche Konzepte der zielgruppenspezifischen Partizipation eingeführt werden (Expert*innen vs. fachunkundige Personen), die ein differenziertes Verständnis der direkten Beteiligungslandschaft zulassen. Anschließend werden die EU-Institutionen fokussiert: Welche Institutionen fördern wel­ che Beteiligungsangebote (4.4.3)? Ziel ist es, die Beteiligungsformen der EU-Konzentration, die im Mittelpunkt des theoretischen und empirischen Forschungsstandes um Partizipation und Legitimation stehen, in ein Ge­ samtbild einzuordnen und strukturelle Auffälligkeiten und Probleme der Beteiligungsformen sichtbar zu machen. Dabei wird insbesondere auf Dif­ ferenzen zwischen dem kommunizierten Partizipationsdiskurs und dem faktischen Handeln der Institutionen, insbesondere der EU-Kommission, eingegangen. Grundlage dafür sind die drei analytischen Kriterien Inklusi­ vität, Deliberation und Verantwortlichkeit. Kapitel 4.4.4 fasst die Ergebnisse zusammen (Zielgruppen, Institutio­ nen, Partizipationskonzepte) und arbeitet strukturelle Problemfelder von den beschriebenen Partizipationsformen auf EU-Ebene heraus, die in den beiden Fallstudien (Kapitel 6 und 7) detailliert untersucht werden.

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

4.4.1 Die Entwicklung der direkten Beteiligungsformen auf europäischer Ebene im Laufe der Zeit241 Insgesamt ist eine stete Zunahme der Beteiligungsmöglichkeiten auf euro­ päischer Ebene zu erkennen. Dies betrifft sowohl Partizipationsformen für Personen als auch für Organisationen und korrespondiert mit der zuneh­ menden Vergemeinschaftung der Politikfelder und Kompetenzausweitung auf europäischer Ebene. In den Anfängen der europäischen Integration bedeutete Partizipation zunächst primär die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft via den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (ab 1957) und die beraten­ den Ausschüsse sowie die Komitologie der EU-Kommission (ca. ab Anfang der 1960er-Jahre). Petitionen waren das erste Beteiligungsinstrument, das auch einzelne Bürger*innen nutzen konnten. Obwohl es bereits 1957 ein­ gesetzt wurde, wurde es erst ab 1979 (gleichzeitig mit der Direktwahl des EU-Parlaments) in nennenswertem Maße genutzt. Mit dem Europä­ ischen Sozialdialog wurde 1985 ein weiteres Beteiligungsinstrument für die organisierte Zivilgesellschaft eingesetzt – damit können die Sozialpart­ ner*innen auf europäischer Ebene quasi zu gesetzlichen Mitbestimmenden werden. Es wurde ab 1998 durch die Einsetzung der branchenspezifischen Sozialdialoge erweitert (auch wenn diese vorher schon teilweise eingesetzt waren). 1995 trat der Europäische Bürgerbeauftragte sein Amt an – mithin wurde eine neue Beteiligungsform geschaffen, die auch Bürger*innen of­ fensteht. Beschwerden bei der EU-Kommission waren schon in den 1980er-Jah­ ren möglich. Mit der Jahrtausendwende entstand ein ganzer Schwung an neuen bzw. verstärkt genutzten Partizipationsmöglichkeiten für Organisa­ tionen rund um das Konsultationswesen der Kommission. Die neuen Par­ tizipationsmöglichkeiten wurden insbesondere von der EU-Kommission im Rahmen ihrer Konsultationen in der Politikformulierung und -umset­ zung geschaffen und gingen mit einer umfassenden Öffnung dieser für ein breites Spektrum der Zivilgesellschaft und Bürger*innen einher (Dop­ pelansprache). Mit dieser doppelten Zielsetzung und Ansprache wurde explizit das mittlerweile standardmäßige Instrument der Online-Konsulta­ tionen verbunden. Für die Organisationen der Zivilgesellschaft wurden

241 Primär orientiert sich die zeitliche Darstellung an der Einführung eines Beteili­ gungsinstrumentes, für die EBI beispielsweise der 1.4.2012. Dabei werden die Ergebnisse der Kriterien zeitliche Einführung sowie Geschichte und rechtliche Grundlage genutzt.

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4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

zum einen bereits bestehende Konsultationsinstrumente intensiviert, d. h. für mehr Organisationen geöffnet (Expert*innenausschüsse mit Umwelt-, Menschenrechts- und Wohlfahrtsverbänden). Zum anderen wurden neue Zugänge der Konsultation ermöglicht (Foren, Plattformen, Konferenzen, Workshops, zivilgesellschaftliche Kontaktgruppen etc.). Dabei gilt jedoch zu beachten, dass diese Instrumente nicht von allen Generaldirektionen der EU-Kommission in gleicher Weise und zum gleichen Zeitpunkt ge­ nutzt wurden. Vielmehr ist die Jahrtausendwende ein Anfangspunkt, zu dem bestimmte Vorreiter unter den Generaldirektionen (z. B. GD Soziales und GD Umwelt) begannen diese zu nutzen. In den folgenden Jahren bis zum heutigen Zeitpunkt haben sich diese Instrumente bei der Mehrheit der Generaldirektionen eingebürgert. Die negativen Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlan­ den im Jahr 2005 markieren einen wichtigen Punkt für die Entwicklung der direkten Partizipationsformen auf europäischer Ebene. Die Erfahrung, dass die Bürger*innen nicht für mehr, sondern für weniger Europa stimm­ ten, unterstützte den begonnenen Trend der EU-Kommission, ihre Kom­ munikationsinstrumenten expliziter auf die einzelnen Bürger*innen hin auszurichten. Die EU-Kommission wechselte nun einer vorrangig infor­ mationsorientierten Kommunikationspolitik zu einer verstärkten Anspra­ che der Bürger*innen und einer verstärkten Einbeziehung dieser in die europäische Politik (Plan D). Dazu wurden in den Jahren 2006/07 sowie 2008/09 Bürgerkonferenzen eingerichtet, auf denen zufällig ausgewählte Bürger*innen ihre Vorstellungen über die EU austauschen konnten. 2012 bis 2014 wurden diese Formate in leicht abgewandelter Form (Bürger*in­ nen nicht mehr zufällig ausgewählt, Bürger*innen diskutieren mit Ent­ scheidungsträger*innen) weitergeführt. Seitdem finden bis heute Bürgerdi­ aloge statt, wobei diese zum Teil sehr unterschiedliche Formate benutzen. Für 2020 hatte Ursula von der Leyen eine große Europäische Bürgerkon­ ferenz angekündigt, die aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste. Die zunehmende Wichtigkeit der Bürger*innen für die EU und besonders für die EU-Kommission war auch verstärkt in der Prioritätenset­ zung der Präsident*innen der EU-Kommission wiederzufinden: mehr Be­ teiligung von Bürger*innen war eine der zehn Prioritäten in der Amtszeit Jean-Claude Junckers (vgl. European Commission 2017a) und ebenso eine zentrale Forderung Ursula von der Leyens (vgl. EU-Kommission 2020a). In den Jahren um 2008 wurde der von der GD Handel erprobte Struktu­ rierte Dialog in abgewandelter Form für die systematische Einbeziehung von Stakeholdern in Politikbereichen genutzt, in denen nur Koordinie­ rungsprozesse (zum Beispiel OMK) auf europäischer Ebene stattfanden,

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

d. h. ausgeweitet auf die Politikfelder mit lediglich ergänzender Zuständig­ keit (z. B. Jugend, Kultur und Sport). In den drei genannten Bereichen Ju­ gend, Kultur und Sport ist auffällig, dass die bereits existierenden Formen eines Strukturierten Dialoges – wenn auch für den Sport in geringerem Maße – weiter institutionalisiert und strukturiert wurden. Mit dem Vertrag von Lissabon kam zudem ein neues Partizipations­ instrument hinzu: Die Europäische Bürgerinitiative wurde als transnatio­ nales, genuin für Bürger*innen konzipiertes Instrument geschaffen. Es ermöglicht einer Gruppe von Bürger*innen, sofern sie eine Million Unter­ stützungsbekundungen mobilisieren können, ein bestimmtes Thema auf die Tagesordnung der EU zu bringen. Damit beinhaltet es, im Unterschied zu den Bürgerkonferenzen, eine sehr viel konkretere institutionelle Ver­ wendung der Forderung der Bürger*innen. Zusammenfassend kann die Entwicklung der direkten Beteiligungsfor­ men folgendermaßen beschrieben werden: In ihren Anfängen war direkte Partizipation vor allem durch die Zusammenarbeit von den organisierten (Wirtschafts-)Interessen gekennzeichnet. Das Verständnis der EU-Kommis­ sion wurde von einem stark instrumentellen Partizipationscharakter gelei­ tet. Die Diskussionen um das Demokratiedefizit in der Post-Maastricht Ära in den 1990er-Jahren, die negativen Verfassungsreferenden und der Vertrag von Lissabon setzten besondere Impulse für neue Partizipations­ formen und einen normativen Partizipationsdiskurs der EU-Institutionen. Damit wird deutlich, dass sich der Partizipationsbegriff der EU-Institutio­ nen, besonders der EU-Kommission, im Laufe der EU-Integration verän­ dert hat. Die nachfolgende Grafik ordnet die verschiedenen partizipativen Instru­ mente auf europäischer Ebene in einen zeitlichen Rahmen ein. Dabei wurde zwischen solchen Formen unterschieden, die genuin für Bürger*in­ nen konzipiert sind, solchen Beteiligungsformen, die auf Organisationen abzielen. Zudem wurden solche Beteiligungsformen gekennzeichnet, die für beide Zielgruppen offen sind. Dabei wird auch erkennbar, dass Be­ teiligungsformen für einzelne Bürger*innen die EU Integration seit den 1980er-Jahren hindurch begleiteten.

198

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

Die partizipativen Instrumente im Verlauf der europäischen Integration Online-Konsultationen

Strukturierter Dialog mit Sport

Öffnung Kommission: Plattformen, Foren,… Beratende Ausschüsse, Komitologie

Petitionen 1979

1960

Sozialer Dialog 1985

1957 1983

EWSA

Europäische Bürgerbeauftragte

Beschwerden bei Kommission

1993

1998

Vertrag von Maastricht*

Sektorale Soziale Dialoge

Erklärung der Farben: Organisationen und Personen Personen

Organisationen

2000

1995

*Inkraftgetreten.

Gescheiterte Verfassungsreferenden

Vertrag von Lissabon*

2005

2009

2006

2008

EBI 2011

2011

2015

2010

Voices of Culture Strukturierter Dialog mit Jugend Bürgerkonferenzen (weitere 2008/09 und 2012-14)

Strukturierter Dialoge: informelle Einsetzung

Abbildung 3: Die partizipativen Instrumente im Verlauf der europäischen Inte­ gration (eigene Darstellung) 4.4.2 Zielgruppen von Partizipation auf europäischer Ebene242 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert eine Vielzahl an unmittelbaren Beteiligungsmöglichkeiten für unterschiedliche Zielgruppen auf europäi­ scher Ebene. Wenig überraschend ist dabei der stete Ausbau der Betei­ ligungsformen für Organisationen.243 Überraschender ist jedoch die Er­ kenntnis, dass Formen für einzelne Bürger*innen von Anfang an zur EU gehört haben. Diese wurden insbesondere nach den gescheiterten Verfas­ sungsreferenden weiter ausgebaut (Bürgerkonferenzen und EBI). Zudem ist eine Reihe von Instrumenten formal sowohl an Organisationen als auch an einzelne Bürger*innen adressiert, wie die verschiedenen Beschwerde­ rechte oder Online-Konsultationen. Gleichwohl hat die Analyse des fakti­ schen Zugangs für einzelne Personen dabei Partizipationshindernisse iden­ tifiziert, die faktisch nur Organisationen partizipieren lassen. Während 242 Grundlage sind die Analysekriterien Zielgruppe sowie Zugang und Inklusion. 243 In diesem Zusammenhang sind der Europäische Wirtschafts- und Sozialaus­ schuss, das Ausschusssystem der EU-Kommission (z. B. Beratende Ausschüsse und die Komitologie), die verschiedenen neuen Konsultationsformate seit der Jahrtausendwende (Foren, Plattformen, Kontaktgruppen, Seminare, Workshops etc.), der Soziale Dialog und der Strukturierte Dialog in den Bereichen Kultur und Sport zu nennen.

199

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

beispielsweise die formalen und inhaltlichen Anforderungen bei Petitio­ nen und Beschwerden an die oder den Bürgerbeauftragten sehr niedrig gesetzt und offen gehalten sind, hat die Analyse der Beschwerden bei der EU-Kommission gezeigt, dass de facto häufig Organisationen im Hinter­ grund präsent sein müssen; es aber zumindest einer Person mit enormem Fachwissen und guter Ausbildung bedarf. Insbesondere die Tatsache, dass im Vorfeld einer Beschwerde bei der EU-Kommission die Klärungsmecha­ nismen auf nationaler Ebene ausgereizt sein müssen und der oder die Beschwerdesteller*in während des Verfahrens die EU-Kommission mit neuen Informationen versorgen soll, machen hohe Ressourcen (sowohl in zeitlicher als auch in fachlicher Hinsicht) vonnöten. Es scheint deshalb äußerst unwahrscheinlich, dass dieses Instrument von Personen ohne Vor­ kenntnisse der Angelegenheiten in größerem Umfang genutzt werden kann. Vielmehr erscheinen die Beschwerden in funktionaler Hinsicht auch als eine Art der Konsultation, um die EU-Kommission mit Expertise in diesem Bereich des Monitorings der Gesetzesumsetzung zu unterstützen. Auch bei Online-Konsultationen, dem Standard-Konsultationsinstru­ ment der EU-Kommission, das durch seine niedrigen Zugangsschwellen individuelle Bürger*innen mit einbinden soll, ist die Teilnahme eben die­ ser häufig verschwindend gering. Hindernisse hierfür scheinen der hohe technische Anteil, die Beschreibung der Konsultation in englischer Spra­ che, die kurze Ankündigungsdauer sowie das Fehlen einer zentralen An­ laufstelle zu sein. Dabei scheint sich auch hier ein Spannungsfeld zwischen der Ausgestaltung der Beteiligungsform und den Zielgruppen (einzelne Bürger*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft) von Beteiligungs­ formen abzuzeichnen.244 Schließlich zeigen sich sogar bei der EBI, einer Beteiligungsform, die ex­ plizit individuelle Bürger*innen in die politische Entscheidungsfindung in der EU einbinden will, hohe Hürden für die teilnehmenden Bürger*innen:

244 Bei dem Strukturierten Dialog mit der Jugend scheint die Zielsetzung zu sein, einzelne Personen (Jugendliche) und Organisationen im Rahmen der europä­ ischen Jugendstrategie gleichzeitig anzusprechen, um bessere Rahmenbedin­ gungen zu finden. Wenngleich repräsentative Aussagen schwierig erscheinen, da die Umsetzung der Konsultation den jeweiligen Verbänden und Landesbe­ hörden der 28 Mitgliedstaaten obliegt, scheint diese Beteiligungsform mehr Potenzial zu besitzen, sowohl einzelne Jugendliche als auch Organisationen einschließen zu können. Dabei ist insbesondere die Mischung aus Online- und Präsenzangeboten in Zusammenarbeit mit Schulen und Trägern positiv hervor­ zuheben.

200

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

Bereits die Vernetzung von sieben Bürger*innen aus sieben EU-Staaten verweist auf den Bedarf von Organisationen im Hintergrund. Die beschriebenen Probleme zeigen, dass die faktischen Anforderungen der Instrumente die organisierte Zivilgesellschaft notwendig machen. Da­ her kann der empirische Forschungsstand folgendermaßen differenziert werden: Es gibt zwar eine Reihe von direkten Beteiligungsangeboten für die EU-Bürger*innen, allerdings sind diese aus bestimmten Gründen so konzipiert, dass eben die Bürger*innen schwerer partizipieren können. Infolgedessen rücken die „bestimmten Gründe“ für die faktischen Hürden individueller Beteiligung in den Mittelpunkt: Welchen Einfluss hat der spezifische Umstand der Partizipation auf der supranationalen Ebene auf die Ausgestaltung der Beteiligungsformen für die jeweiligen Zielgruppen? Worin könnten die Spannungsverhältnisse zwischen den Anforderungen des Instrumentes und den Zielgruppen (Personen oder Organisationen) begründet liegen? Wie könnten diese Spannungsverhältnisse eventuell so­ gar aufgelöst werden? Dabei lassen sich bei der Analyse der Hürden der Beteiligungsinstrumente bereits zwei Konzepte von Partizipation herausar­ beiten: zum einen die Laienpartizipation von Bürger*innen ohne spezielle Ausbildung oder Spezialisierung und die gezielte Fachbeteiligung (in der Regel von Organisationen mit Ressourcen und Spezialisierung) (ähnlich de Schutter 2001: 198f.). Insbesondere eine faktisch gewünschte, geziel­ te Fachbeteiligung steht bei den Beteiligungsverfahren der individuellen Beteiligung entgegen. Wie sind diese Abweichungen zwischen kommuni­ ziertem Partizipationsdiskurs und faktischer Ausgestaltung zu erklären? Oder sind die Bekundungen der breiten Beteiligung von Bürger*innen vonseiten der EU-Institutionen, allen voran der EU-Kommission, ein Mar­ ketinginstrument, ohne den wirklichen Willen, tatsächliche Beteiligungs­ möglichkeiten für die Bürger*innen zu schaffen? Zudem rücken die Organisationen der Zivilgesellschaft stärker in den Mittelpunkt: Auch hier zeigen sich bei den Beteiligungsformen nach wie vor bestehende Ungleichgewichte territorialer und organisatorischer Art. Ebenso zeigen sich Schwierigkeiten, Organisationen auf den verschiede­ nen Ebenen im Mehrebenensystem zu verbinden. Die Analyse des Kriteri­ ums Zugang machte darauf aufmerksam, dass es Zugangsvorteile für solche Organisationen bei Konsultationsformaten der EU-Kommission gibt, die Expertise im gewünschten Sinne der Kommission oder eines von der Kom­ mission definierten Ziels liefern können (vgl. Kröger 2008: 33f.). Gleich­ zeitig bedeutet dies aber auch Zugangsnachteile für andere Organisatio­ nen, die das nicht liefern können bzw. wollen. In diesem Sinne scheinen sich die Hoffnungen der Theorie auf Zugang von Minderheiteninteressen

201

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

zur EU-Kommission (vgl. Schmidt 2010: 8, 9, 26) oder Zulassung von Ge­ genexpert*innen (vgl. Heinelt 1998: 93) eher nicht zu bestätigen. Folglich sollten die Mechanismen, die für diese faktischen Zugangsbeschränkungen und deren Zustandekommen verantwortlich sind, genauer untersucht wer­ den. Auch hier gilt es nach den dafür wirkenden Ursachen zu fragen: Wel­ chen Einfluss hat das Partizipationskonzept bzw. die Anforderungen der jeweiligen Beteiligungsform auf die Inklusivität? Welche Rolle spielt der Mehrebenenkontext?

Zielgruppen von Partizipation auf EU-Ebene Organisationen:

Bürger*innen: • Bürgerkonferenzen und -dialoge

• • Europäische Bürgerinitiative • • Strukturierter Dialog mit der Jugend • Online-Konsultationen • Beschwerderechte: Ombudsmann Beschwerden Kommission Petitionen

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Konsultationsinstrumente bei der Kommission: Beratende Ausschüsse Komitologie Sozialer Dialog Foren, Plattformen Konferenzen Workshops, Seminare, u.a. Strukturierte Dialoge

Eigene Darstellung. 2

Abbildung 4: Faktische Zielgruppen von Partizipation auf EU-Ebene (eigene Darstellung) Abbildung 4 hat zusammenfassend dargestellt, wo Personen und Organisa­ tionen in der EU faktisch partizipieren können: Im nächsten Abschnitt wird die institutionelle Anbindung der Beteiligungsformen untersucht. 4.4.3 Institutionelle Anbindung der partizipativen Instrumente auf Gemeinschaftsebene245 Um zu herausarbeiten zu können, welche Institutionen durch direkte Partizipation Vorteile erlangen, wird in diesem Kapitel analysiert, welche 245 Die Erörterungen stützen sich auf das Analysekriterium Institutionelle Anbin­ dung der einzelnen Instrumente. Als Kriterien zur Operationalisierung wurde hierfür zum einen untersucht, wem nicht-staatliche Akteur*innen bei den je­

202

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

Institutionen direkte Beteiligungsmöglichkeiten ausrichten, fördern und nutzen. Die zwischenstaatlichen Gremien Rat und Europäischer Rat stellen er­ wartungsgemäß nur wenige partizipative Instrumente auf europäischer Ebene zur Verfügung, da die Regierungen und Minister*innen die Bezie­ hungen zu Bürger*innen und Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten pfle­ gen. Der Europäische Rat kann durch die Ernennung der Mitglieder die Zusammensetzung des EWSA beeinflussen. Im Rahmen der intergouver­ nementalen Ausschüsse der OMK kann der Ministerrat zusammen mit der EU-Kommission zivilgesellschaftliche Akteur*innen einbinden (insbe­ sondere in der Sozial- und Beschäftigungspolitik). Zudem ist der Rat bei den Strukturierten Dialogen in den Bereichen Jugend-, Kultur- und Sportpolitik beteiligt. Dabei variiert die konkrete institutionelle Ausgestal­ tung der Beteiligungsformen zwischen EU-Kommission und Ministerrat: Bei dem Strukturierten Dialog mit der Jugend erfolgt die institutionelle Anbindung vorrangig über die Triopräsidentschaft und die EU-Jugend­ konferenzen – allerdings ist die EU-Kommission auch in dem zentralen organisatorischen Steuerungsgremium auf europäischer Ebene, dem soge­ nannten Lenkungsausschuss, mit vertreten. In diesem Fall folgt die kon­ krete inhaltliche Anbindung der Ergebnisse des Strukturierten Dialoges mit der Jugend an den Rat (bzw. die Triopräsidentschaft), während die EU-Kommission vor allem organisatorische und steuernde Kompetenzen auf der europäischen Ebene vornimmt. Im Fall des Strukturierten Dialoges mit der Kultur übernimmt die EU-Kommission die gesamte Organisation des Konsultationsprozesses (Voices of Culture). Gleichwohl teilen zivilgesell­ schaftliche Organisationen ihre Arbeitsergebnisse auch den Mitgliedern der Arbeitsgruppen des Rates mit. Im Falle des Strukturierten Dialoges mit dem Sport hingegen ist die institutionelle Anbindung wesentlich stärker beim Rat verortet. Dieser Strukturierte Dialog findet seit 2011 informell am Rande der Ratstagungen der Sportminister*innen statt, wo­ bei Tagesordnung und Einladung der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen dem Ratsvorsitz bzw. Ratssekretariat obliegen. Allerdings sind dabei Ver­ treter*innen der EU-Kommission auch anwesend. Neben der Beteiligung durch die Wahl der Abgeordneten des EU-Parla­ ments (und ihrer Arbeit im Wahlkreis) sind partizipative Instrumente, die explizit an das EP angebunden sind, vor allem bei den Beschwerderechten

weiligen partizipativen Instrumenten zuarbeiten, und zum anderen, wem sie verantwortlich sind bzw. wer sie ernennt. Teilweise werden auch Aspekte des Kriteriums Durchführung/Verfahren genutzt.

203

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

zu verorten. Dies betrifft zum einen Petitionen und zum anderen die Be­ schwerdemöglichkeiten bei der oder dem Europäischen Bürgerbeauftrag­ ten. Petitionen werden beim EU-Parlament im Petitionsausschuss bearbei­ tet, gegebenenfalls werden Petitionen auch vor dem Plenum des EU-Parla­ ments diskutiert. Der oder die Bürgerbeauftragte wird vom EU-Parlament auf fünf Jahre gewählt (kann allerdings in dieser Periode frei entscheiden). Zudem können Vertreter*innen des EU-Parlaments beim Strukturierten Dialog mit dem Sport am Rande der Ratstagungen mit anwesend sein. Bei einer formal erfolgreichen EBI (Zulassung des Themas durch die EUKommission, Sammlung der notwendigen Unterstützungsbekundungen) werden die Organisator*innen vor dem EU-Parlament angehört. Wie keine andere Institution hat die EU-Kommission auf Gemein­ schaftsebene ein ausdifferenziertes Repertoire an partizipativen Instrumen­ ten zur Verfügung: Sie nutzt umfangreiche Instrumente der Konsultation, angefangen bei den Beratenden Ausschüssen und Gruppen, der Komito­ logie und den verschiedenen neuen Formaten, die um die Jahrtausend­ wende hinzugekommen sind (Plattformen, Foren, Konferenzen, Seminare, Workshops, Online-Konsultationen usw.). Der damalige Kommissionsprä­ sident Jacques Delors hat sich für die Einrichtung des Sozialen Dialoges eingesetzt, folgerichtig sind die organisatorischen Anlaufpunkte des Sozia­ len Dialoges rund um die Kommission gelagert. Auch der Strukturierte Dialog entstammt der Kommission und wurde in der GD Handel ent­ wickelt. Dieses Instrument kommt in sehr unterschiedlichen Ausprägun­ gen auch im Rahmen der zwischenstaatlichen Koordinierungsprozesse in den Bereichen Jugend-, Kultur- und Sportpolitik zum Einsatz. Wie bereits gezeigt wurde, obliegen der EU-Kommission dabei vor allem or­ ganisatorische Kompetenzen: Im Falle des Strukturierten Dialoges durch die Anwesenheit in der europäischen Lenkungsgruppe, im Falle des Struk­ turierten Dialoges mit der Kultur durch die gesamte Organisation des Konsultationsprozesses.246 Auch Bürgerkonferenzen, Beschwerden bei der EU-Kommission und die EBI sind institutionell an die EU-Kommission angegliedert. In diesen Fällen nimmt die EU-Kommission sowohl inhalt­ liche bzw. konzeptionelle als auch organisatorische Kompetenzen wahr: Die Bürgerkonferenzen entstammen der EU-Kommission (im Rahmen ihrer Kommunikationspolitik), wenngleich das Format Veränderungen in

246 Beim Strukturierten Dialog mit dem Sport ist dies allerdings nicht der Fall.

204

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

den verschiedenen Ausführungen erfahren hat.247 Haben die zufällig aus­ gewählten Bürger 2006/07 und 2008/09 untereinander über die Zukunft der EU diskutiert, näherte sich das Format bei der Auflage 2012-2014 eher einer Podiumsdiskussion mit verschiedenen Teilnehmenden an, denen die Bürger*innen dann Fragen stellen konnten. Auch bei den Beschwerden gegen nicht bzw. nicht richtig umgesetztes EU-Recht übernimmt die EUKommission organisatorische und inhaltlich-konzeptionelle Aufgaben. Sie bestimmt den Umgang mit dem betreffenden Mitgliedstaat und die zu er­ greifenden Maßnahmen – dabei spielen sowohl inhaltlich-konzeptionelle als auch organisatorische Erwägungen eine Rolle. Schließlich ist sie der institutionelle Hauptanbindungspunkt bei der EBI auf der europäischen Ebene, denn die Kommission entscheidet in einer ersten Stufe über die formale Zulässigkeit der Initiative (Themenbereich, ausreichend Unter­ stützungsbekundungen) und ist für die zu ergreifenden Maßnahmen auf EU-Ebene durch das Initiativrecht verantwortlich. Damit können die bisherigen empirischen Befunde zu einzelnen partizi­ pativen Instrumenten, Politikfeldern und Zielgruppen insoweit bestätigt werden, als dass die EU-Kommission der institutionelle Dreh- und Angel­ punkt der überwiegenden Mehrheit der direkten Beteiligungsmöglichkei­ ten auf europäischer Ebene ist. Einen gänzlich anderen institutionellen Anlaufpunkt haben lediglich der EWSA (Europäischer Rat) sowie die Be­ schwerderechte, Petitionen und die oder der Europäische Bürgerbeauftrag­ te (beide EU-Parlament). Bei allen anderen partizipativen Instrumenten auf europäischer Ebene ist die EU-Kommission in irgendeiner Form invol­ viert. Dabei übernimmt die EU-Kommission (bzw. Teile davon) sehr oft organisatorische Aufgaben (z. B. bei dem Sozialen Dialog, den intergou­ vernementalen Arbeitsgruppen der OMK und dem Strukturierten Dialog) und kann somit Einfluss auf die Agenda der Besprechungen, aber auch die Auswahl und den Zugang zu den teilnehmenden nicht-staatlichen Akteu­ ren nehmen und bleibt selbst informiert. Darüber hinaus übernimmt die EU-Kommission organisatorische und inhaltlich-konzeptionelle Aufgaben bei diversen Konsultationsinstrumenten, entgegengenommenen Beschwer­ den, bei den Bürgerkonferenzen und -dialogen und bei der Europäischen Bürgerinitiative. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die EU-Kommission unter den EU-Institutionen am stärksten von den direkten Beteiligungsfor­

247 Eine Ausnahme bildet die Konferenz zur Zukunft der EU, an der alle drei EU-Institutionen – EU-Kommission, Europäischer Rat und EU-Parlament – be­ teiligt sind.

205

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

men profitiert. Sie tut dies in erster Linie, indem sie sich Informationen und Expertise sichert – und dies aus den Sektoren der Mitgliedstaaten in den Politikbereichen (Expert*innen- und Fachkonsultation). Mithilfe der Expertise der Partizipation kann die EU-Kommission somit die Qualität der politischen Entscheidungen erhöhen (Output-Legitimität) und die Le­ gitimation für eigene politische Vorhaben steigern. Dabei zeigen sich die Abweichungen vom öffentlich kommunizierten Partizipationsdiskurs in den EU-Dokumenten. Darüber hinaus profitiert die EU-Kommission auch durch Partizipation, da sie so über Koordinierungs- oder Abstimmungs­ prozesse mit anderen Akteur*innen, wie beispielsweise der Beteiligung am Strukturierten Dialog im Rahmen der OMK beteiligt werden kann. Zudem spielen direkte Beteiligungsmöglichkeiten für die EU-Kommission auch eine Rolle, um Aufgaben auszulagern, wie am Beispiel der Beschwer­ demöglichkeit bei der EU-Kommission verdeutlicht werden konnte. Eben­ so müssen zivilgesellschaftliche Akteur*innen, sofern sie an den längerfris­ tigen inhaltlichen Aufgaben der Konsultation beteiligt werden wollen, Verpflichtungen eingehen, verbindliche Ergebnisse für die Umsetzung der Ziele der Kommission bzw. der jeweiligen GD zu generieren (Generierung von Projektpartner*innen). Die folgende Abbildung fasst die jeweiligen direkten Beteiligungsfor­ men bei den verschiedenen EU-Institutionen zusammen.

Die institutionelle Anbindung von Partizipation auf europäischer Ebene Europäisches p Parlament • Beschwerderechte Petitionen Beschwerden bei dem Europäischen Bürgerbeauftragten

EU-Kommission Europäischer p Rat • Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

Ministerrat • Strukturierter Dialog mit Jugend, Sport und Kultur

• Konsultationsinstrumente: Beratende Ausschüsse und Komitologie Sozialer Dialog Konsultationsinstrumente ab 2000 (z.B. Online-Konsultationen, Foren, Plattformen, Seminare, Workshops)

• Strukturierter Dialog mit Jugend, Sport und Kultur • Bürgerkonferenzen • Europäische Bürgerinitiative • Beschwerde bei Kommission

Abbildung 5: Partizipation bei Institutionen der EU (eigene Darstellung)

206

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

4.4.4 Zusammenfassung: Strukturelle Problemfelder von Partizipation auf EU-Ebene Die vorhergehenden Kapitel haben gezeigt, dass über verschiedene direk­ te Beteiligungsformen hinweg einige Akteur*innen stärker profitieren als andere. Dabei profitiert auf institutioneller Ebene insbesondere die EUKommission von Information, Expertise, potenziellen Projektpartner*in­ nen und Ersatzlegitimation. Unter den gesellschaftlichen Akteur*innen profitieren vorrangig die Organisationen der Zivilgesellschaft, unter diesen insbesondere bestimmte Organisationen, wie europäische Dachorganisa­ tionen oder professionelle und ressourcenstarke Stakeholder. Auch wenn schon seit langem Formen individueller direkter Beteiligung auf EU-Ebe­ ne vorhanden sind, andere Formen für Bürger*innen geöffnet und neue Formen eingesetzt wurden – profitieren individuelle Bürger*innen eher nicht von einer stärkeren Beteiligung. Dem scheinen vielmehr strukturelle Hindernisse im Weg zu stehen. In diesem Sinne verdeutlichen die Ergeb­ nisse, wer von Partizipation profitiert, bereits strukturelle Probleme von direkter Partizipation. Diese sollen nun in einem zusammenfassenden Kapitel analysiert werden, um stärker auch deren Auswirkungen auf die demokratische Legitimation thematisieren zu können. Dafür werden die Ergebnisse der Analyse, wer durch Partizipation profitiert, stärker mit den Ergebnissen der drei Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwort­ lichkeit in Verbindung gebracht. Auf diese Weise können zwei strukturelle Problemfelder von direkter Partizipation herausgearbeitet werden: – Strukturelle Ungleichheiten in der Beteiligung der gesellschaftlichen Ak­ teur*innen – Strukturelles Abweichen des kommunizierten Partizipationsdiskurses vom faktisch umgesetzten Partizipationskonzept der EU-Kommission Die beiden Problembereiche werden nun beschrieben. Dabei wird auch auf Faktoren eingegangen, die die Probleme möglicherweise konstituie­ ren. Strukturelle Ungleichheiten in der Beteiligung der gesellschaftlichen Akteur*innen Dieses Problemfeld bezieht sich zum einen auf den strukturellen Nachteil individueller Beteiligung gegenüber den Organisationen der Zivilgesell­ schaft. Zum anderen werden hier Ungleichgewichte zwischen verschiede­

207

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

nen Organisationen näher betrachtet. Aufbauend auf die systematische Typologisierung der verschiedenen direkten Beteiligungsformen werden folgende Faktoren248 als möglich erachtet: – Welche Rolle spielen die Bedingungen des Mehrebenenkontextes der EU und die Besonderheiten der europäischen Gesetzgebung? – Welche Rolle spielen die jeweiligen Beteiligungsformen und -ziele (Par­ tizipation von fachunkundigen Bürger*innen vs. Expert*innenpartizi­ pation, Beschwerderechte, Partizipation als Konsultation)? – Welche Rolle spielen die Institutionen, die auf EU-Ebene Partizipati­ onsformen anbieten und fördern, insbesondere die EU-Kommission, bei diesen faktischen Zugangshürden? Den ersten Analysekomplex stellen die spezifischen Bedingungen der di­ rekten Partizipationsformen auf europäischer – und damit supranationa­ ler – Ebene dar. Darunter sind einerseits insbesondere die Herausforde­ rungen zu verstehen, die mit der europäischen Willensbildung und Ent­ scheidungsfindung verbunden sind, beispielsweise durch die Interaktion unterschiedlicher Politikebenen mit inter- und transnationalen Kommuni­ kationsprozessen. Andererseits betrifft dies die überwiegend technische Ausrichtung der europäischen Rahmengesetzgebung. Möglich scheint hier beispielsweise, dass diese Ausrichtung der Themen ein Hemmnis für indi­ viduelle Beteiligung darstellt und eine Selektion unter den Organisationen bedingt. Während Petitionen und Beschwerden bei der oder dem Bür­ gerbeauftragten besser für einzelne Bürger*innen geeignet sind, scheinen bei Beschwerden bei der EU-Kommission und den Online-Konsultationen größere Hemmnisse zu liegen. Daher soll zudem eruiert werden, inwiefern die Beteiligungsformen selbst Hemmnisse beinhalten, beispielsweise durch bestimmte funktionale Erfordernisse. Braucht Konsultation vorrangig Ex­ pertise, die fachunkundige Bürger*innen so nicht liefern können? Daran schließt der zweite Analysekomplex an, der die Rolle die Institu­ tionen bei der Ausgestaltung der direkten Beteiligungsformen untersucht. Insbesondere die EU-Kommission, die in ihren Ansprachen immer wieder die Wichtigkeit der Bürger*innen und einer breiten Beteiligung betont hat. Gleichwohl wurden bei den von ihr geförderten Instrumenten (Be­ schwerden und Online-Konsultationen) Hürden für einzelne Bürger*in­ nen identifiziert, die sich mit der Fachkonsultation in Verbindung bringen lassen. Schwierig erscheint ebenso, dass die EU-Kommission in der Regel

248 Selbstverständlich ist das eine analytische Trennung, die Faktoren wirken in der Realität ineinander.

208

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

eigenständig – ohne externe Kontrollinstanz – die Zugangsbedingungen für ihre Beteiligungsverfahren festlegen kann. Die faktischen Ungleichheiten bei der Beteiligung haben aus verschie­ denen Gründen legitimationshinderliche Effekte. Eine möglichst hohe Ko­ härenz der teilnehmenden Organisationen ist beispielsweise ein wesentli­ ches Ziel der assoziativen Ansätze. Strukturelle Ungleichheiten lassen den Mehrwert von direkter Beteiligung so insgesamt fragwürdig erscheinen. Die Hemmnisse für die individuelle Beteiligung sind bislang theoretisch wie empirisch nur unzureichend thematisiert. Da Bürger*innen jedoch zunehmend direkt in den Beteiligungsangeboten angesprochen werden, erscheint eine Analyse der Ursachen für die faktischen Hemmnisse umso wichtiger, um eine größere Skepsis und Frustration der Bürger*innen in Bezug auf die EU zu verhindern. Strukturelles Abweichen des kommunizierten Partizipationsdiskurses vom faktisch umgesetzten Partizipationskonzept der EU-Kommission Dass die EU-Kommission stark von den direkten Beteiligungsformen pro­ fitiert, wurde bereits im vorhergehenden Kapitel (4.4.3) dargestellt. Gleich­ wohl profitiert sie auf andere Weise, als sie dies in ihrem öffentlich kommunizierten Partizipationsdiskurs begründet – dies verdeutlicht die Abweichungen zwischen kommunizierten und tatsächlichen Partizipati­ onskonzept, wie die faktischen Hemmnisse bei der Inklusivität von indivi­ duellen Personen bei Konsultationen zeigen (Expert*innenkonsultation). Eine Auswertung der Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verant­ wortlichkeit macht darauf aufmerksam, dass es auch in anderen Bereichen strukturelle Abweichungen zwischen dem Diskurs und der Umsetzung von Partizipation gibt. Auffällig ist dabei vor allem ein Missverhältnis zwi­ schen den Anforderungen, die die EU-Kommission an die teilnehmenden Organisationen stellt, und den Standards an Transparenz und Verbindlich­ keit (Kriterium Verantwortlichkeit), die sie selbst bei der Konsultation einhält. So legt die EU-Kommission bei vielen Konsultationsformaten die Zugangskriterien selbst fest, ohne dass diese von einer unabhängigen dritten Stelle überprüft werden können. Zudem fordert die EU-Kommis­ sion häufig von partizipierenden Organisationen klare Bekenntnisse zu verbindlichen Resultaten im Sinne eines vorab gemeinsam vereinbarten normativen Ziels. Gleichwohl weist die EU-Kommission aber erhebliche Defizite bei der Vor- und Nachbereitung der Konsultationsformen auf, sowohl hinsichtlich der Transparenz der Entscheidungsverfahren und -pro­

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4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

zesse als auch bei Berichterstattung über die entstandenen Entscheidun­ gen und deren weitere Nutzung im politischen Entscheidungsprozess. Vergleicht man folglich relativ, welche Gruppen von den direkten Parti­ zipationsformen der teilnehmenden Akteur*innen profitieren, würde die EU-Kommission stärker profitieren, während die teilnehmenden Organi­ sationen – bedingt durch die hohen Anforderungen an sie, die Mängel der Verfahrenstransparenz und die Aufbereitung der Ergebnisse – tenden­ ziell weniger profitieren. Sie können zwar ihre Standpunkte in die Betei­ ligungsprozesse einbringen, erhalten gleichwohl nur bedingt inhaltliche Gestaltungsmöglichkeiten und keine zusätzlichen Kontrollmöglichkeiten durch die Beteiligung. Trotz der unterschiedlichen Handhabung zwischen den Generaldirektionen (beispielsweise bei den Online-Konsultationen) und Beteiligungsformen deutet sich dieses Problemfeld bei verschiedenen Konsultationsinstrumenten der EU-Kommission an. Daher gilt es, die Entstehungsbedingungen und -mechanismen dieses Ungleichgewichts zu untersuchen. Dafür werden folgende Faktoren als möglich erachtet: – Welche Rolle spielen die Bedingungen der Beteiligung auf europäi­ scher Ebene und die Besonderheiten der europäischen Entscheidungs­ findung im Mehrebenenkontext? – Welche Rolle spielt die interne Arbeitsorganisation in der EU-Kommis­ sion bei den Defiziten von Transparenz und Berichterstattung? – Welche Rolle spielen die jeweiligen Beteiligungsformen und -ziele (fa­ chunkundige Bürger*innen vs. Expert*innenpartizipation, Beschwerde­ rechte, Konsultation)? – Bestehen Zielkonflikte zwischen den verschiedenen Kriterien, z. B. zwi­ schen Inklusivität und Verantwortlichkeit? Bei dem zweiten strukturellen Problemfeld scheinen ähnliche Faktoren zum Tragen zu kommen, die bereits für den ersten Problembereich identi­ fiziert wurden. Die beiden Faktoren supranationale Beteiligung im Mehre­ benenkontext und die Beteiligungsform wurden bereits im Rahmen des ersten strukturellen Problemfelds erörtert. Zudem sind für dieses Problem­ feld neben diesen funktionalen Anforderungen der Beteiligungsform auch weitere Beteiligungsformspezifika relevant: In Anlehnung an Arnstein (1969), der Konsultation als Schein-Partizipation klassifiziert, könnte auch das Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen an die Organisationen und der Handhabung der EU-Kommission erklärt werden. Zudem soll die interne Arbeitsorganisation der Kommission bei einer Beteiligungsform genauer untersucht werden. Hintergrund ist dabei, dass die Regeln und Normen von Partizipation durch das Generalsekretariat vorgegeben, die einzelnen Formen dann aber in den jeweiligen Abteilungen dezentral um­

210

4.4 Auswertung: Strukturelle Auffälligkeiten der Beteiligungsformen

gesetzt werden. Dabei stellt die Aufbereitung der partizipativen Instrumen­ te zunächst einmal einen Mehraufwand an Arbeit für die Mitarbeiter*in­ nen der einzelnen Generaldirektionen dar. Sollte die Vor- und Nachberei­ tung aufgrund der generellen zeitlichen Auslastung der Mitarbeiter*innen der Kommission vernachlässigt werden (müssen)? Es bleibt zu klären, ob sich in dieser Hinsicht ein struktureller Gegensatz zwischen Aufbereitung (Qualität und Rechenschaft für die Partizipierenden) und Effektivität für die Mitarbeiter*innen der EU-Kommission zeigt. Zudem soll analysiert werden, ob sich die Abweichungen des Partizipa­ tionskonzeptes auch Zielkonflikte in den Anforderungen der Kriterien In­ klusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit erklären lassen, beispiels­ weise zwischen einem möglichst offenen Zugang auf der einen Seite und den Bedingungen von Deliberation und Verantwortlichkeit auf der ande­ ren Seite. Dies impliziert ebenso die Frage, ob nicht auch die Gütekriterien von europäischer Governance im Weißbuch 2001 in einem Spannungsver­ hältnis stehen (vor allem Inklusivität und Verantwortlichkeit). Sie verwei­ sen auf das von Scharpf grundsätzlich spannungsgeladene Verhältnis der input- und outputbezogenen Legitimationsmechanismen bzw. den Rück­ wirkungen der Throughput-Legitimation von Vivien Schmidt. Das abweichend umgesetzte Partizipationskonzept hat legitimationshin­ derliche Effekte, zum einen, weil es die bestehenden institutionellen Pro­ bleme der EU verstärkt und den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft und Bürger*innen keine stärkere Verantwortlichkeit und Kontrollmöglichkei­ ten eröffnet. Plausibel erscheint bei diesen Akteuren vielmehr ein schwin­ dendes Vertrauen in die EU und ihre Institutionen durch die Beteiligung, da die Bürger*innen ihre Forderungen nicht durchsetzen können (vor einem instrumentellen Partizipationsverständnis). Möglich scheint ebenso eine stärkere Politisierung durch die Beteiligung im Sinne eines norma­ tiven Partizipationsverständnisses. Daher gilt es, die Entstehung dieses Problemfelds und die daran mitwirkenden Faktoren nachzuvollziehen, um Ansatzpunkte für Reformvorschläge zu thematisieren und zu einem differenzierten theoretischen Partizipationsverständnis beizutragen. Die systematische Übersicht über die Beteiligungsformen eröffnet je­ doch auch Hinweise auf legitimationsförderliche Aspekte durch direkte Beteiligung, die bislang nur unzureichend in die theoretische und empiri­ sche Forschung einbezogen wurden: Dabei hat die Analyse gezeigt, dass Bürger*innen die Möglichkeit von Beschwerden bei der oder dem Europä­ ischen Bürgerbeauftragten nutzen, um eine stärkere Verantwortlichkeit ihren mitgliedstaatlichen Institutionen gegenüber zu bewirken (Kapitel 4.3.1.2). In diesem Sinne werden durch die Beschwerdeinstanz auf EU-Ebe­

211

4 Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene

ne auch Kontrollmechanismen zur nationalen Ebene für Bürger*innen und Zivilgesellschaft erst ermöglicht. Insgesamt hat die systematische Zusammenstellung der direkten Partizi­ pationsinstrumente auf EU-Ebene gleichwohl vorrangig auf strukturelle Probleme von Partizipation aufmerksam gemacht. Diese erscheinen nicht nur bei einzelnen Beteiligungsformen oder Politikfeldern, sondern erstre­ cken sich über verschiedene Instrumentengruppen, wie die Konsultations­ möglichkeiten bei der EU-Kommission. Die Identifikation der strukturel­ len Probleme erscheint hilfreich, um die Kluft zwischen theoretischen Erwartungen und ernüchternden empirischen Ergebnissen für direkte Par­ tizipation auf EU-Ebene zu erklären. Sie ist gleichwohl nur ein erster Schritt, in einem zweiten Schritt wird nun verstärkt nach den genauen Entstehungsbedingungen und -mechanismen für die strukturellen Proble­ me von Beteiligung gesucht. Dafür werden zwei Fallstudienanalysen ge­ nutzt. Die Auswahl der Fallstudien und das konkrete methodische Vorge­ hen werden im nächsten Kapitel vorgestellt.

212

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl Diese Arbeit geht der Fragestellung nach, welche Akteur*innen von den direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene profitieren. Dazu wurden in dem vorhergehenden Kapitel zunächst die verschiedenen legalen, verfass­ ten, direkten und themenbezogenen Beteiligungsformen auf EU-Ebene systematisch nach verschiedenen Kriterien untersucht und strukturelle Problemfelder dieser Beteiligungsmöglichkeiten herausgearbeitet. Insbe­ sondere für die Konsultationsformen im weiteren Sinne wurden auf diese Weise zwei Problemfelder herauskristallisiert. Diese sind: – Strukturelle Ungleichheiten in der Beteiligung der gesellschaftlichen Akteur*innen (Problembereich 1) – Strukturelles Abweichen des kommunizierten Partizipationsdiskurses vom faktischen Partizipationshandeln der EU-Kommission (Problem­ bereich 2) Die Identifikation dieser Probleme verdeutlicht die ernüchternden empiri­ schen Ergebnisse von direkter Partizipation auf EU-Ebene, die den theore­ tischen Erwartungen nicht gerecht werden. Allein die Identifikation dieser strukturellen Probleme reicht nicht aus, um die dabei wirkenden Ursachen und Faktoren nachvollziehen und erklären zu können. Dies erscheint gleichwohl wichtig, um die Entstehung und Etablierung der strukturellen Probleme von direkter Partizipation und deren strukturellen Effekten auf die demokratische Legitimation der EU besser verstehen, evaluieren und möglicherweise abmildern zu können. Daher werden die dabei wirkenden Faktoren an zwei konkreten Beteiligungsformen (Fallstudien) im Detail untersucht und analysiert, warum und auf welche Weise bestimmte Ak­ teur*innen mehr von dieser konkreten Partizipationsform profitieren als andere. Die Auswahl der beiden Fallstudien wurde anhand des theoretischen Samplings getroffen (vgl. Wrona 2005: 23). Die Fallbeispiele dienen ei­ nerseits dazu, die in Kapitel 4 identifizierten Problemfelder der Beteili­

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5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

gungsformen im Detail an dafür „typischen Fällen“ nachzuvollziehen.249 Andererseits sollen die Fallbeispiele zwei möglichst unterscheidbare Betei­ ligungsformen auf EU-Ebene darstellen, um ein möglichst breites Feld der unmittelbaren, themenspezifischen Beteiligung abzudecken und somit auch durch einen direkten Vergleich unterschiedlicher Bedingungen der Beteiligung bereits erste Rückschlüsse auf eine mögliche Übertragbarkeit auf andere Beteiligungsformen zu erreichen. Aus diesem Grund wurden zwei Beispiele unterschiedlicher Formen von Konsultation bei der EUKommission ausgewählt. Zum einen wurde mit dem Strukturierten Dia­ log im Politikfeld Kultur Voices of Culture (Kapitel 6) ein Beispiel für eine rein organisationsbasierte Fachkonsultation aufgegriffen, die in besonde­ rem Maße dem Trend innerhalb der EU-Kommission entspricht, direkte Partizipationsformen stärker zu institutionalisieren. Zum anderen wurde mit der Europäischen Bürgerinitiative Right2water (Kapitel 7) ein Beispiel gewählt, das Bürger*innen für direkte Beteiligung auf EU-Ebene gewin­ nen will. Dabei hat die Beschreibung des Instrumentes bereits in Kapitel 4 gezeigt, dass die Anforderungen von EBIs Organisationen im Hinter­ grund notwendig machen, sodass die faktischen Hürden für individuelle Beteiligung im Mehrebenensystem herausgearbeitet werden können (Pro­ blembereich 1). Zudem können auch etwaige Ungleichheiten zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft berücksichtigt werden. Diese können dann nochmals in einem anderen Politikfeld an dem Beispiel Voices of Cul­ ture unter den Bedingungen der Fachkonsultation untersucht werden. Da beide Beteiligungsformen an die EU-Kommission angegliedert sind, kön­ nen die Faktoren für Abweichungen des kommunizierten Partizipations­ diskurses vom umgesetzten Partizipationshandeln vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bedingungen von direkter Partizipation analysiert wer­ den (Problembereich 2).250 Als solche Bedingungen werden beispielswei­ se die folgenden genannt: Bei beiden Beteiligungsformen unterscheiden sich die Verfahren signifikant, d. h. die Abläufe bei beiden Beteiligungs­ prozessen divergieren stark. Zudem unterscheiden sich das Anwendungsge­ biet der Beteiligungsform bzw. die politischen Entscheidungsmodi in dem jeweiligen Politikfeld erheblich. In dieser Hinsicht ist insbesondere die 249 Beide Fallstudien wurden mittels Strategien des Typical Case Samplings als typische Fälle für die jeweiligen strukturellen Problemfelder von direkter Parti­ zipation ausgewählt (vgl. Wrona 2005: 23). Die Fallbeispiele wurden so gewählt, dass sie jeweils für den anderen Problembereich auch Aussagen zulassen. 250 Nachrangig ist für die Fallauswahl der Zeitpunkt der politischen Entschei­ dungsfindung, da sehr viele Beteiligungsmöglichkeiten im Agenda-Setting oder in der Politikformulierungsphase angewendet werden.

214

5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl

Art der Unionszuständigkeit relevant, denn eine Unterscheidung zwischen ausschließlicher und ergänzender Zuständigkeit und damit korrespondie­ rend unterschiedliche Entscheidungsmodi (Gemeinschaftsmethode, OMK) lassen Rückschlüsse auf das Handeln der verschiedenen Institutionen und auf bestimmte Probleme der Verantwortlichkeit zu (siehe Kapitel 1). Die Auswahl der beiden unterschiedlichen Beteiligungsformen ermög­ licht eine Varianz, um ein möglichst genaues Verständnis von den jewei­ ligen Faktoren für die strukturellen Probleme von Partizipation in den unterschiedlichen legitimatorischen Kriterien bei verschiedenen Partizipa­ tionsbedingungen zu erhalten: Durch die beiden Fallbeispiele können in diesem Sinne Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Faktoren gewonnen werden, die eine Inklusivität direkter Partizipation einschränken.251 Unter­ schiede der konkreten Beteiligungsprozesse lassen Einsichten über Hemm­ nisse von Deliberation durch unterschiedliche Formate und Themen der Beteiligung generieren (z. B. spezialisierte technische Beratung in kleinen Fachgruppen und öffentliche Mobilisierung von „politisierbaren“ Themen für Unterschriftensammlungen). Für die Kategorie Verantwortlichkeit sind neben Unterschieden in der internen Organisation der Beteiligungsform bei der EU-Kommission zudem die unterschiedlichen Entscheidungsmodi in dem jeweiligen Politikfeld relevant. Nachfolgend werden beide Fallstudien vorgestellt und die jeweilige Aus­ wahl im Detail begründet. 5.1.1 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture Das erste Fallbeispiel stellt der Strukturierte Dialog zwischen den zivilge­ sellschaftlichen Stakeholdern und der EU-Kommission im Kultursektor Voices of Culture dar. Bei dieser Beteiligungsform partizipiert ausschließlich die organisierte Zivilgesellschaft im Kulturbereich. Die Analyse fokussiert zum einen auf Ungleichheiten zwischen beteiligten Organisationen (Pro­ blembereich 1) und Differenzen zwischen dem kommunizierten Partizipa­ tionskonzept und faktischen Handeln der Kommission (Problembereich 2).

251 Relevant war dabei insbesondere für die Fallauswahl, ob die Kommission die Teilnehmenden auswählt oder die Bürger*innen den Prozess selbst initiieren können.

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5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

Einen Strukturierten Dialog zwischen der EU-Kommission und dem Kultursektor gab es bereits ab dem Jahr 2009, gleichwohl glich dieser in der Zeit von 2009 bis 2013 den Konsultationsinstrumenten der Kom­ mission über zivilgesellschaftliche Plattformen (siehe Kapitel 4.3.2.3). Die Beteiligung in dieser Form wurde durch ein externes wissenschaftliches Beratungsinstitut (vgl. Ecorys 2013) evaluiert, wobei diese darauf hinwie­ sen, dass die Effizienz der Ergebnisse in dem Prozess ausbaufähig sei und die zivilgesellschaftlichen Stakeholder besser an die Gruppen der OMK angebunden werden sollten (vgl. Ecorys 2013: 85). Im Jahr 2015 wurde der Dialog mit der Zivilgesellschaft unter dem veränderten Format Voices of Culture erneut aufgenommen. Um eine Sichtbarkeit für die Zivilgesell­ schaft zu erhöhen und eine bessere Anbindung an die Arbeitsgruppen der OMK zu erreichen, wurde empfohlen, in dem neuen Format thematisch orientierte Dialoge auszurichten. Diese sollten die zivilgesellschaftlichen Plattformen ersetzen (vgl. ebd.: 85). Dabei sollten die Themen der Dialoge am Arbeitsplan des Rates im Bereich Kultur ausgerichtet werden (vgl. ebd.). Ebenso wurde empfohlen, dass die Dialoge stärker von der EU-Kom­ mission zu steuern und insgesamt flexibler zu handhaben seien (vgl. ebd.: 85f.). Aufbauend auf diese Empfehlungen wurden in dem neuen Format von Voices of Culture nun verschiedene thematische Dialoge mit klarer Struktur (je zwei Treffen) genutzt. Die Ausschreibungen für die Teilneh­ menden erfolgen dabei öffentlich. Zudem sind die Teilnehmendenlisten der zivilgesellschaftlichen Stakeholder, die Tagesordnung der Dialoge und die erarbeiteten Berichte auf einer begleitenden Internetseite verfügbar. Diese Beteiligungsform entspricht also in besonderem Maße dem Trend, die Konsultationsbeziehungen zwischen der EU-Kommission und den zi­ vilgesellschaftlichen Stakeholdern zu institutionalisieren, zudem werden klare Anforderungen an die Teilnehmenden in den Ausschreibungen ge­ nannt (thematische Expertise und gewisse geografische Repräsentation). Inhaltlich handelt es sich bei den verschiedenen Dialogen um Fachthemen (z. B. Dialog eins 2015: Audience Development via Digital Means), die poli­ tisch nicht in einem größeren Maße strittig sind. Das Politikfeld war lange Zeit in der vollständigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Erst mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Grund­ lagen für eine ergänzende Zuständigkeit der EU festgelegt. 1999 hat dann der Vertrag von Amsterdam die Rechtsgrundlage für gemeinsame Programme, Maßnahmen, Aktionen und Initiativen im Kulturbereich gelegt, die die kulturellen Aktivitäten der Mitgliedstaaten auf vielfältige

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5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl

Weise unterstützen sollen.252 Damit sind nun insbesondere die Rahmenbe­ dingungen für eine stärkere Vernetzung der Zivilgesellschaft im Bereich Kultur auf EU-Ebene gelegt. Allerdings müssen die Maßnahmen der EU die Diversität der europäischen Kulturen respektieren und fördern (vgl. ebd.). Eine nennenswerte Beteiligung der Zivilgesellschaft an der europä­ ischen Gesetzgebung begann gleichwohl im Jahr 2007 mit der Europä­ ischen Agenda für Kultur von der Kommission (EU-Kommission 2007a). In dieser Mitteilung forderte die EU-Kommission eine stärkere kulturelle Zusammenarbeit in der EU (vgl. Ecorys 2013: i). Sie begründete diese mit der hohen Marktfragmentierung im Kulturbereich, die sich aus der hetero­ genen Organisations- und Produktionsstruktur der Kulturwirtschaft und der Bindung dieser an die Nationalstaaten ergibt. In der Konsequenz sah die EU-Kommission zum einen eine unzureichende internationale Wettbe­ werbsfähigkeit der Kulturwirtschaft in der EU und zum anderen begrenzte Wahlmöglichkeiten der Konsumenten (vgl. ebd.). Die EU-Kommission begründete folglich die Notwendigkeit für eine stärkere europäische Ko­ ordination des Politikfeldes und eine Einbeziehung der Zivilgesellschaft auf EU-Ebene ökonomisch: durch mangelnde Wahlmöglichkeiten für Konsument*innen und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Um mehr Kooperation im Kulturbereich zu ermöglichen, empfahl sie zudem neue Governance-Modi zwischen den Mitgliedstaaten (insbesondere OMK), an­ deren Governance-Ebenen und der Zivilgesellschaft (vgl. ebd.). Auch wenn der Strukturierte Dialog der Kultur inhaltlich (durch den Arbeitsplan) und organisatorisch an die EU-Kommission angegliedert ist, werden die Ergebnisse des Strukturierten Dialoges an die Arbeitsgruppen der OMK übermittelt, da diese die relevante politische Entscheidungs­ struktur im Politikfeld Kultur darstellen. Die Arbeitsgruppen der OMK

252 So stellt Artikel 6 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU heraus, dass die Kompetenzen der EU Maßnahmen betreffen, die die Mitgliedstaaten im Bereich Kultur unterstützen, koordinieren oder die Maßnahmen der Mitgliedstaaten ergänzen. Artikel 167 des AEUV stellt dann weitere Details für bestimmte Handlungen der EU zur Verfügung, sodass diese Maßnahmen unternehmen kann, um die Mitgliedstaaten zu ermutigen, den gemeinsamen Kulturbereich zu entwickeln und Aufmerksamkeit auf das gemeinsame kulturelle Erbe zu richten, gleichwohl unter Beachtung der nationalen und regionalen Vielfalt. Die Maßnahmen der EU sollten gemäß dem AEUV eine Kooperation der Mitgliedstaaten unterstützen und fördern sowie die nationalen Handlungen ergänzen, indem sie die Kultur und die Geschichte der europäischen Völker verbreiten.

217

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

können dann – in Abstimmung mit der EU-Kommission – über weitere Schritte der Einbindung des zivilgesellschaftlichen Inputs entscheiden. Der Strukturierte Dialog wird von der Generaldirektion Bildung und Kultur der EU-Kommission inhaltlich ausgestaltet und durchgeführt; da­ bei sind organisatorische Aspekte auch an das Goethe-Institut ausgelagert. Die jeweiligen thematisch ausgerichteten Strukturierten Dialoge werden von der EU-Kommission und dem Goethe-Institut ausgeschrieben. Die interessierten Organisationen aus dem Kulturbereich können sich dann darauf bewerben und werden anschließend ausgewählt. Das Verfahren bietet verschiedene Ansatzpunkte für Deliberation, sowohl zwischen den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft, da diese gemeinsam einen Brainstor­ ming-Bericht erstellen, als auch zwischen der Zivilgesellschaft und der EU-Kommission (insbesondere auf dem zweiten Treffen). Die EU-Kommission kann diese Ergebnisse in weitere Programme (im Rahmen der Ergänzung und Unterstützung) einfließen lassen. Zudem werden die Ergebnisse der Dialoge an die Arbeitsgruppen der OMK wei­ tergeleitet. Da das Gutachten der externen Beratungsfirma dem Vorgänger­ format der zivilgesellschaftlichen Plattformen in dieser Hinsicht nur eine unzureichende Effizienz bestätigt hat, erscheint weiterhin insbesondere interessant, wie bei der Beteiligungsform Voices of Culture eine Verfahrens­ transparenz und Berichterstattung für die Teilnehmenden gewährleistet und umgesetzt wird (Verantwortlichkeit). Aus dieser Analyse lassen sich Erkenntnisse für Faktoren ableiten, die eine abweichende Umsetzung vom kommunizierten Partizipationskonzept erklären. 5.1.2 Fallstudie: Die EBI Right2water Um die strukturellen Probleme von individueller Beteiligung (Problem­ feld 1) zu analysieren, wurde die Europäische Bürgerinitiative als Beteili­ gungsform als zweites Fallbeispiel ausgewählt. Zum Zeitpunkt der empiri­ schen Untersuchung (Oktober 2016 bis Mai 2017) war die EBI Right2wa­ ter die einzige formal erfolgreiche EBI, auf die die EU-Kommission mit legislativen Maßnahmen geantwortet hatte. An diesem Fallbeispiel kön­ nen im Rahmen des Problembereichs 1 (Ungleichheiten der Beteiligung der gesellschaftlichen Akteur*innen) insbesondere die Hemmschwellen von individueller Partizipation im Mehrebenensystem analysiert werden. Auch wenn die neue transnationale Beteiligungsform explizit Bürger*in­ nen anspricht und wie keine andere die Kluft zwischen Bürger*innen und EU-Institutionen verringern will (vgl. Cilo 2014: 71f.; Kaufmann 2012;

218

5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl

Maurer und Vogel 2009: 8f.), werden Organisationen im Hintergrund gebraucht. Im Fall der Initiative Right2water übernahm diese Aufgabe der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD), der durch ein breites Bündnis an Umwelt- und Menschenrechtsorganisa­ tionen dabei unterstützt wurde.253 Die EBI forderte die Umsetzung des von der UN im Jahr 2010 beschlos­ senen Menschenrechtes auf Zugang zu sauberem Wasser in der EU (vgl. EPSU 2021). In diesem Sinne stellte sie den besonderen Charakter von Wasser heraus, demgemäß Wasser nicht mit einer Ware gleichgesetzt wer­ den darf und forderte den Ausschluss der Wasser- und Abwassersysteme aus dem Binnenmarkt der EU ebenso wie aus internationalen Handelsver­ trägen. Zudem forderte sie, dass sich die EU auch international für einen besseren Zugang zu sauberem Wasser einsetzt (vgl. ebd.). EBIs beziehen sich auf Themenbereiche mit einer Unionszuständigkeit (hier Wasserver- und Abwasserentsorgung). Dabei laufen die folgenden Entscheidungen, die die EU-Kommission in Bezug auf die Initiative un­ ternehmen will, nach der Gemeinschaftsmethode ab. Gleichwohl ist in dem Mechanismus der EBI nicht vorgeschrieben, dass die EU-Kommission durch Initiativen oder Ähnliches auf formal erfolgreiche EBIs hin tätig werden muss – sie muss ihr Vorgehen lediglich begründen. EBIs werden von den Bürger*innen initiiert und an die Kommission herangetragen (Inklusivität). Potenzielle Möglichkeiten für Deliberation könnten sich sowohl in der Organisation der Initiative als auch bei dem Vorsprechen der Organisator*innen vor den EU-Institutionen Kommission und EU-Parlament ergeben. Das Vorsprechen vor dem EU-Parlament ist durch seine Öffentlichkeit und Liveübertragung besonders wichtig, weil es dadurch einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Zudem ist die kommissionsinterne Organisation der Bearbeitung der EBIs interessant: Während sich eine Abteilung im Generalsekretariat um die Formalitäten (Zuständigkeit, Fristen, Verfahren) kümmert, waren an der Abstimmung der Folgemaßnahmen in Bezug auf die EBI Right2water verschiedene Generaldirektionen neben dem Generalsekretariat beteiligt (Verantwortlichkeit). Das Thema der EBI eignet sich für diese Arbeit in besonderem Maße, um die in Kapitel 1 herausgearbeiteten Legitimations­

253 Der Dachverband EGÖD übernahm insbesondere die Koordination der Kampa­ gne auf EU-Ebene und die Kommunikation mit der EU-Kommission. Die natio­ nalen Mitgliedsorganisationen (insbesondere die jeweiligen Fachbereiche der Wasser- und Abwasserversorgung) waren in vielen Fällen für die Organisation der Länderkampagnen verantwortlich.

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5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

probleme der EU-Kommission als Institution zu verdeutlichen (Kapitel 1.1.1.4). Die EBI thematisiert die Folgen der Ausweitung des europäischen Wettbewerbsrechts auf die nationale Problemlösungsfähigkeit. Dabei ist die Wasser- und Abwasserversorgung, ähnlich wie Energie, Eisenbahn oder Telekommunikation, nach Fritz W. Scharpf (vgl. 1999: 146), Teil der sogenannten staatsnahen Dienstleistungen, service public oder auch öffentlichen Daseinsvorsorge. Diese Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Erfüllung einerseits eine hohe – elementare – Bedeutung für die Bevölkerung hat, mithin Folgen einer negativen Integration (Dere­ gulierung) durch das europäische Wettbewerbsrecht starke Ängste eines Sozialabbaus in der Bevölkerung hervorrufen können. Andererseits sind die staatsnahen Dienstleistungen, in diesem Fall die Wasserver- und Ab­ wasserentsorgung in den Mitgliedstaaten, sehr unterschiedlich organisiert; es existieren sowohl zentrale und dezentrale Versorgungsmodelle als auch private und öffentliche Trägerschaft, zudem auch Mischformen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Mit der zunehmenden Ausweitung des Binnen­ marktes wurden die staatsnahen Dienstleistungen auch von einer Ausdeh­ nung des europäischen Wettbewerbsrechtes – d. h. Deregulierungsprozes­ sen – betroffen (vgl. ebd.: 146), die insbesondere in solchen Systemen mit öffentlicher Trägerschaft zu Deregulierungsprozessen und zu einer Erfüllung dieser staatsnahen Dienstleistungen durch private Wasserunter­ nehmen führte (beispielsweise in Italien, Deutschland und Österreich)254. Dabei geht die Ausdehnung des Wettbewerbsrechtes auf die staatsnahen Dienstleistungen, insbesondere auf die nicht-politischen Institutionen EUKommission und EUGH zurück, die darin einen Abbau von einseitiger Wettbewerbsverzerrung sahen, so beispielsweise bei der Arbeitnehmerent­ senderichtlinie (Richtlinie 96/71/EG; vgl. ebd.). Die Wasserver- und Ab­ wasserentsorgung war insbesondere von der Bolkestein-Richtlinie im Jahr 2003 betroffen (Richtlinie 2006/123/EG). Die Frage nach der Regelung von Wasser durch das europäische Wettbewerbsrecht stellt sich bei der EBI vor dem Hintergrund der Überarbeitung des Vergaberechts, bei der insbesondere die Konzessionsrichtlinie relevant war. Mit dem Vertrag von Amsterdam schufen die Mitgliedstaaten im Jahr 1997 eine rechtliche Grundlage, mit der die EU-Kommission und der EUGH auf weitere wichtige Werte hingewiesen wurden, die ebenfalls im Ausgleich widerstreitender Interessen bei der Harmonisierung des Binnen­

254 In diesen Ländern war durch die kommunale Trägerschaft der öffentlichen Wasserver- und Abwasserentsorgung der Deregulierungsdruck bei Finanzpro­ blemen der Kommunen besonders groß.

220

5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl

marktes zu berücksichtigen sind (vgl. ebd.: 146). Scharpf wertet dieses nicht direkt als intergouvernementale Kontrolle, gleichwohl als wichtiges Signal, dass EU-Kommission und EUGH mit den Mitgliedstaaten und dem Rat in einem Diskurs bleiben (vgl. ebd.). In der Folge gibt es Beispiele, in denen die EU-Kommission und der EUGH beginnen, die Reichweite der negativen Integration und des europäischen Wettbewerbsrechtes zu begrenzen, z. B. bei Sparkassen und auch bei Rundfunkanstalten (vgl. ebd.: 147f.). Der Umgang der EU-Kommission mit der EBI erscheint dabei insbesondere vor folgendem Spannungsfeld interessant: Dieses be­ steht einerseits aus der Rolle der EU-Kommission (der Vollendung des Binnenmarktes und der Output-Orientierung) und den dabei stützenden institutionellen Arrangements in den Verträgen des Wettbewerbsrechtes einerseits, sowie dem beschriebenen politisch verantwortlichen Reagieren (Kursveränderung) auf Mehrheiten durch die EU-Kommission anderer­ seits. Auf diese Weise können Einsichten erlangt werden, welche Möglich­ keiten und Potenziale das Instrument EBI für eine erhöhte Kontrolle der EU-Entscheidungsfindung durch die Bürger*innen beinhaltet. So können durch die Analyse dieses Fallbeispiels auch Rückschlüsse auf eventuelle Abweichungen des propagierten Partizipationskonzeptes und des tatsächli­ chen Handelns der Kommission aufgezeigt werden (Problembereich 2). Daher können mit diesem Fallbeispiel sowohl die Probleme der Betei­ ligung individueller Bürger*innen als auch Ungleichheiten zwischen Or­ ganisationen reflektiert werden (Problembereich 1). Zudem erscheint ins­ besondere der inhaltliche Fokus auf Wasser als staatsnahe Dienstleistung als ertragreich für die Analyse der Legitimationsprobleme der EU-Kommis­ sion als Institution. Allerdings stellt diese EBI als erste erfolgreiche EBI überhaupt gewissermaßen einen Sonderfall dar. Am 6. Oktober 2017 – nachdem die empirischen Daten für die EBI Right2water erhoben wurden – erreichte die Initiative Stop Glyphosat255 die formalen Kriterien des EBI-

255 Diese EBI wurde von einem Verbund von NGOs unter der Koordination von der Kampagnen-Organisation WeMove.EU organisiert. Ihr wichtigstes Ziel be­ stand darin, ein Verbot für das Pestizid Glyphosat zu erreichen, für das gerade ein Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene lief. Darüber hinaus forderte die Initiative, die europäischen Pestizidprüfverfahren ausschließlich von öffent­ lichen Behörden durchführen zu lassen Die EBI wurde am 25. Januar 2017 von der Kommission registriert. In weniger als einem halben Jahr hatten die NGOs die erforderlichen Stimmen gesammelt, sodass sie die Unterschriftensammlung bereits zum 2. Juli 2017 schließen konnten. Am 6. Oktober 2017 wurde die formal erfolgreiche EBI dann bei der EU-Kommission zur Prüfung eingereicht (European Commission 2017c).

221

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

Verfahrens und erzielte als bis dato einzige Initiative weitere EBI-Teilerfol­ ge bei der Umsetzung ihrer Forderungen.256 Die Beurteilung durch einen Beteiligten dieser EBI wird vergleichend mit herangezogen, um eventuelle Fehlschlüsse durch die besonderen Bedingungen der EBI als erste erfolgrei­ che Initiative zu vermeiden.257 5.1.3 Zusammenfassung: Die Auswahlkriterien der beiden Fallstudien Die beiden Fallstudien wurden so ausgewählt, dass sie einerseits typisch für die strukturellen Probleme direkter Beteiligungsformen auf EU-Ebene sind. Andererseits sollten mit der Auswahl verschiedene Zielgruppen von Partizipation erfasst sowie möglichst unterschiedliche Zuständigkeiten und Entscheidungsmodi in den Politikfeldern abgebildet werden, um eine große Bandbreite von Partizipationsformen auf EU-Ebene vorzustellen. Auf diese Weise sollte eine Varianz der legitimatorischen Kriterien Inklusi­ vität, Deliberation und Verantwortlichkeit ermöglicht werden, die dann möglichst detaillierte Rückschlüsse für die übrigen Beteiligungsformen zulässt. Die nachfolgende Tabelle 2 fasst die Auswahlkriterien und deren jeweili­ ge unterschiedliche Ausprägung bei den beiden Fallstudien zusammen.

256 Die Initiative End the cage age erreichte im Jahr 2020 ebenso die erforderlichen Unterstützungsbekundungen. In ihrer Antwort vom 30. Juni 2021 kündigte die EU-Kommission einen Legislativentwurf im Sinne der Initiative bis Ende 2023 vor. Da diese Initiative außerhalb des Analysezeitraums dieser Arbeit erfolgte und ihre Implikationen noch nicht vollständig absehbar sind, können sie hier nicht tiefergehend berücksichtigt werden. Sie sollten in zukünftigen Untersu­ chungen genauer analysiert werden. 257 Am 10. Mai 2012 wurde die EBI als erste erfolgreiche Initiative bei der Kommis­ sion registriert. Aus diesem Grund ergaben sich beispielsweise etliche Anfangs­ probleme, die vorrangig technische (z. B. Datenschutz bei Online-Unterschrif­ ten, Server-Probleme bei der Datensammlung), aber auch prozedurale Aspekte betrafen, wie die Frage nach Zuständigkeiten mit nationalen Institutionen bei der Registrierung und Verifizierung von Unterschriftenlisten oder notwendigen Angaben für die Unterschriften. Die Kommission kam den Organisator*innen aufgrund der Anfangsschwierigkeiten entgegen und verlängerte den Zeitraum für die Unterschriftensammlung bis zum 1. November (um fünf Monate, Con­ rad 2014: 35).

222

5.1 Vorstellung und Begründung der Fallauswahl Beteiligungsform

Strukturierter Dialog im Kulturbereich (Fallbeispiel 1)

Konkreter Fall

Voices of Culture Dialoge 1, 2, 3, 4 und 5 (2015-2017)

Strukturelles Problemfeld von Partizipation

– –

Europäische Bürgerinitiative (Fallbeispiel 2) Right2water (eingereicht 2013)

Ungleichheiten in der Struktur der gesellschaftlichen Akteur*innen (Nachteil für individuelle Beteiligung, Ungleichheiten zwischen Or­ ganisationen) Kommuniziertes Partizipationskonzept weicht von faktischem Parti­ zipationshandeln der Kommission ab

Zielgruppe



Organisationen (Expert*innen und Stakeholder)



Personen (Organisationen notwendig im Hintergrund)

Anwendungsgebiet



Ergänzende Zuständigkeit der EU



Grundsätzliche Zuständig­ keit EU



Vorschlagsrecht Kommission

Politischer Entscheidungs­ modus



OMK



Gemeinschaftsmethode

Thema



„unpolitische“ Fachthemen



EU Wettbewerbsrecht und Wasser als Teilbereich der staatsnahen Dienstleistungen (negative Integration durch EU-Kommission und na­ tionale Problemlösungsfähig­ keit) erzeugt ein „politisierba­ res“ Thema

Anforderungen an Beteili­ gung



Fach- und Expert*innenkonsulta­ tion



Transnationale Vernetzung von Organisation, öffentliche Mobilisierung für Unterstüt­ zungsbekundungen

Inklusivität (Zugangsbedingungen)

– –

Initiiert von EU-Kommission



Initiiert von Bürger*innen bzw. zivilgesellschaftlichen Organisationen

Potenziale für Deliberation (Partizipationsformate)



In den Treffen (Workshops) der Teilnehmenden untereinander und



Bei der Organisation der EBI zwischen Zivilgesellschaft und Unterstützenden

– Interne Organisation in der EU-Kommission

– –

Auswahlkriterien: Expertise und Sektor Repräsentativität (nach Kriterien der EU-Kommission)

mit den Vertreter*innen der EUKommission



Generaldirektion Bildung und Kultur



Organisation durch Goethe-Insti­ tut



Bei Vorsprechen vor EUKommission und EU-Parla­ ment mit den Institutionen Generalsekretariat (formale Prüfung der EBIs) und betroffene GDs

Tabelle 2: Auswahlkriterien für beiden Fallstudien (eigene Darstellung)

223

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien Die beiden Fallstudien werden methodisch mit leitfadengestützten Ex­ pert*inneninterviews der Beteiligten der jeweiligen Partizipationsform umgesetzt. 5.2.1 Vorstellung und Begründung der Methode Expert*inneninterviews Expert*inneninterviews sind eine Methode der qualitativen Sozialfor­ schung.258 In dieser Arbeit werden sie in Anlehnung an Robert Kaiser (2014: 6) folgendermaßen definiert: „Qualitative Experteninterviews können definiert werden als ein syste­ matisches und theoriegeleitetes Verfahren der Datenerhebung in Form der Befragung von Personen, die über exklusives Wissen über politi­ sche Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse oder über Strategien, Instrumente und die Wirkungsweise von Politik verfügen.“ Expert*inneninterviews kommen typischerweise bei Fallstudien zum Ein­ satz (vgl. Kaiser 2014: 3). Das Ziel besteht in der tiefen Durchdringung von einem oder nur sehr wenigen Fällen, wie beispielsweise der einzelnen Partizipationsform (vgl. ebd.). Dabei geht es weniger um die Generalisier­ barkeit der Forschungsergebnisse als um das Verständnis der konkreten Partizipationsform, um Theorien zu verstehen und weiterzuentwickeln (vgl. ebd.: 4). Der Vorteil von Expert*inneninterviews besteht darin, dass sie bei trans­ nationalisierten Prozessen, wie bei den hier fokussierten Beteiligungsfor­ men, das Problem des begrenzten analytischen Zugangs beheben können (vgl. ebd.: 23). Denn das genaue Wissen von den jeweiligen Beteiligungs­ prozessen kann allein von den Beteiligten dieser Prozesse erfahren werden und ist nicht über andere Quellen in der Tiefe generierbar.259 Gerade um die kausalen Mechanismen zu erforschen, die dafür sorgen, dass strukturel­ 258 Zu Expert*inneninterviews als sozialwissenschaftliche Methode siehe auch Meu­ ser/Nagel (2002, dies. 2009). 259 Aus methodologischer Sicht ergeben sich daraus die Probleme, dass die traditio­ nellen Quellenzugänge der qualitativen Politikforschung, wie amtliche Doku­ mente, Parteiprogramme oder Presseberichterstattung, nur eingeschränkt Moti­ ve für das Handeln der Akteur*innen erkennen lassen, weil entscheidende Teile der Partizipationsformen als entgrenzter Prozess jenseits des Nationalstaates verfügbar sind (vgl. Kaiser 2014: 24). Hinzu kommt, dass ja gerade die formalen

224

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

le Probleme von direkter, verfasster und themenbezogener Partizipation auf EU-Ebene nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt werden können, sind sie wichtig. Zudem sind sie vor dem Hintergrund der technisch aus­ differenzierten Partizipationsprozesse und Anwendungsfelder (Wasserwirt­ schaft der EU, die verschiedenen Dialoge im Kulturbereich) notwendig, um ein Grundverständnis des jeweiligen Problemkontextes erlangen zu können (Kontextwissen; vgl. ebd.: 24), ohne das die Handlungen und Strategien der Akteur*innen nicht ausreichend hätten eingeordnet werden können. Da die Partizipationsprozesse nicht-staatliche Akteur*innen mit­ einbeziehen, scheint es folgerichtig zu sein, diese auch in die Analyse mit einzubinden (vgl. ebd.: 25f.). Zudem können durch die Interviews mit den Beteiligten die in Kapitel 4 herausgearbeiteten Abweichungen zwischen in offiziellen Dokumenten festgelegten und faktischen Partizipationsbedin­ gungen besser eingeordnet und nachvollzogen werden. Expert*inneninterviews und Arten von Erkenntnisinteresse Bei Expert*inneninterviews kann sowohl ein deskriptives als auch ein kausales Erkenntnisinteresse im Vordergrund stehen (vgl. ebd.: 4): Eine deskriptive Ausrichtung fokussiert die Charakteristika sozialer Phänome­ ne, die kausale hingegen deren Entstehung und Veränderung (vgl. ebd.: 4). Entsprechend können dann entweder in der deskriptiven Variante von Expert*inneninterviews das Erlangen von Informationen über Merkmale und Eigenschaften eines Prozesses, wie einer Partizipationsform, im Vor­ dergrund stehen, oder aber es sollen diejenigen kausalen Mechanismen, die dafür ursächlich waren, rekonstruiert werden (vgl. ebd.: 4). In dieser Arbeit werden Expert*inneninterviews in beiden Ausrichtungen genutzt: Deskriptiv sollen die jeweiligen Partizipationsprozesse und die Perspekti­ ven und Erwartungen der Beteiligten beschrieben werden. Dabei werden sowohl Teilnehmende der Zivilgesellschaft als auch Vertreter*innen der am Prozess beteiligten Institutionen (wie EU-Kommission und EU-Parla­ ment) einbezogen. Aus kausaler Perspektive werden hingegen diejenigen Mechanismen rekonstruiert, die bedingen, dass sich strukturelle Problem­ felder von Partizipation etablieren und einige Akteur*innen mehr profitie­ ren als andere. Einige mögliche Faktoren wurden dabei bereits in Kapitel 4 herausgearbeitet, beispielsweise die Beteiligungsform oder der Mehrebe­ Informationen über die Partizipationsprozesse die faktische Umsetzung nur bedingt wiedergeben (siehe Kapitel 4).

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5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

nenkontext. Das Ziel der Analyse ist es dabei, durch ein Gegenüberstellen der verschiedenen Perspektiven ein besseres Verständnis davon zu bekom­ men, wie und durch welche Mechanismen die strukturellen Problemfelder (strukturelle Ungleichheiten in der Beteiligung der gesellschaftlichen Ak­ teur*innen, ein Abweichen der faktischen Partizipationsrealität bei der EU Kommission von ihrem kommunizierten Partizipationskonzept) verur­ sacht und somit legitimationshinderliche Effekte erzeugt werden. Dabei werden die Erwartungen der unterschiedlichen Beteiligten an den Partizi­ pationsprozessen und die der jeweils anderen Beteiligten offengelegt und in die Analyse miteinbezogen – um somit auch auf eventuelle Differenzen der Erwartungen und Ansprüche an Partizipation hinweisen zu können. Auf diese Weise sollen auch mögliche, den Beteiligten nicht bewusste Fak­ toren sichtbar gemacht werden. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass diese strukturellen Probleme sich für jeden Teilnehmenden so darstellen müssen. Sie werden als strukturelle Probleme bezeichnet, da sie zum einen nicht ausschließlich bei einer Person vorkommen, sondern sich als Motiv durch verschiedene Interviews ziehen. Sie werden zum anderen durch Strukturen und Faktoren bedingt, die den einzelnen Beteiligten so viel­ leicht nicht klar sind. Während bisherige Studien häufig vorrangig auf die Seite der Zivilgesellschaft fokussieren, soll mit diesem Design ein Mehr­ wert durch ein besseres Verständnis der verschiedenen Erwartungen und Perspektiven hergestellt werden. Selbstverständlich beanspruchen die In­ terviews als Methode der qualitativen Sozialforschung keine Vollständig­ keit oder Repräsentativität – sie sollen jedoch helfen, das Zustandekom­ men der strukturellen Probleme von Partizipation nachzuvollziehen, in­ dem sie ein heuristisches Erklärungsmodell für das Zustandekommen und die Einordnung von bestimmten Aussagen ermöglichen. Anschließend werden die Ergebnisse der Fallstudien auf die strukturel­ len Auffälligkeiten, d. h. die Erkenntnisse des einzelnen Beispiels auf die anderen Beteiligungsformen, zurückgebunden und weiterentwickelt. Expert*inneninterviews und Wissensarten Expert*inneninterviews können zudem hinsichtlich der Art des Wissens, das sie liefern, differenziert werden: In Betriebs- oder Prozesswissen (über den Prozess der Aushandlung und Entscheidungen) sowie Deutungs- und Kontextwissen (Rahmenbedingungen, Zwänge oder Interessenstrukturen; vgl. Kaiser 2014: 41). Dabei wird Betriebswissen als exklusivstes Wissen der Expert*innen eingestuft, da diese Art des Wissens nicht über andere

226

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

methodische Zugänge erhoben werden kann (vgl. ebd.). Die Expert*innen­ interviews in den Fallstudien zielten in erster Linie auf die Generierung von Betriebswissen über die jeweiligen Partizipationsprozesse ab. Dabei sollen die Interviews zeigen, unter welchen Umständen bestimmte Ent­ scheidungen getroffen wurden, wie und warum beispielsweise über die Beteiligungsprozesse informiert wird (vonseiten der EU-Kommission) und welche bestimmten faktischen Zugangshürden bestanden (vonseiten der Zivilgesellschaft; vgl. ebd.: 42). Auf diese Weise können die kausalen Mechanismen rekonstruiert werden, die die strukturellen Problemfelder von Partizipation bedingen. Zudem zielen die Interviews auch auf die Generierung von Deutungs- und Kontextwissen ab (vgl. ebd.: 43). Dabei helfen die subjektiven Sichtweisen und Interpretationen der Expert*innen auf und an die Partizipationsprozesse solche Handlungsorientierungen und Entscheidungsmotivationen von Akteur*innen zu rekonstruieren, die sich nicht unmittelbar aus deren Interessen und Präferenzen oder den jeweiligen institutionellen Bedingungen ableiten lassen (vgl. ebd.). In die­ sem Sinne sollen mögliche Differenzen über Anforderungen an die EU und die Partizipationsprozesse gewonnen werden (beispielsweise von den Mitarbeitenden in der EU-Kommission).260 5.2.2 Vorgehensweise Sowohl bei dem Vorgehen zur Vorbereitung und Durchführung der Fall­ studien als auch bei der Auswertung orientierte sich diese Arbeit grund­ sätzlich an dem vorgeschlagenen Vorgehen von Kaiser (vgl. 2014: 12). Dieser nennt zehn wichtige Schritte bei der Planung, Durchführung und Analyse von Expert*inneninterviews, um eine theoriegeleitete Durchfüh­ rung und Auswertung der Daten zu ermöglichen (ebd.: 144): „1. Entwicklung des Interviewleitfadens 2. Pre-Test des Interviewleitfadens 3. Auswahl und Kontaktierung der Interviewpartner 4. Durchführung des Experteninterviews 5. Protokollierung der Interviewsituation 6. Sicherung der Ergebnisse (Protokoll oder Transkription)

260 Allerdings weist Kaiser (vgl. 2014: 44f.) darauf hin, dass Deutungswissen in der konkreten Interviewsituation nicht unbedingt erkennbar ist und erst in der späteren Auswertungsphase erfasst werden kann.

227

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

7. Kodierung des Textmaterials 8. Identifikation der Kernaussagen 9. Erweiterung der Datenbasis 10. Theoriegeleitete Generalisierung und Interpretation“ (Kaiser 2014: 12). Die Interviewleitfäden sind dieser Arbeit im Anhang beigefügt. Nachfol­ gend werden einige wesentliche Schritte der Vorgehensweise nochmals detailliert beschrieben. 5.2.2.1 Entwicklung des Interviewleitfadens Auf Basis der Forschungsfragen „Wer profitiert von der Beteiligungsform? Durch welche Faktoren werden die strukturellen Problemfelder von Par­ tizipation konstituiert?“ wurde ein Interviewleitfaden entwickelt. Dieser diente als Grundlage für die Interviewführung und Übersetzung der theo­ retischen Annahmen in die Lebenswirklichkeit der Interviewpartner*in­ nen. Analytisch sind auch die Fallstudien von den drei Kriterien Inklusivi­ tät, Deliberation und Verantwortlichkeit geleitet. Bei den einzelnen Analysekriterien stehen beispielsweise folgende As­ pekte im Zentrum: Inklusivität – Wie bewerten die Teilnehmenden die Offenheit des Instrumentes, und wie schätzen Sie etwaige Zugangshürden ein? Worin sehen diese Grün­ de für die Hürden? – Welche Verzerrungen sind in der Teilnehmendenstruktur erkennbar? – Wie begründen und bewerten die Vertreter*innen der beteiligten Insti­ tutionen (z. B. EU-Kommission und EU-Parlament) die Zugangsbedin­ gungen für die jeweilige Beteiligungsform? Welche Hürden sehen sie? Deliberation – Lassen sich aus den Aussagen der teilnehmenden Bürger*innen und der Zivilgesellschaft Hinweise für Deliberation und gegenseitiges Ler­ nen finden? Wenn ja, wodurch wurden diese befördert (oder behin­ dert)?

228

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

– Wurde Deliberation aus Sicht der teilnehmenden Bürger*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen von den Institutionen befördert? War dies gewünscht? – Gab es unter den Teilnehmenden Hinweise für eine gemeinsam ge­ teilte Identität, eine gemeinsame Zugehörigkeit durch die Beteiligung oder Ähnliches? – Wurde ein gegenseitiger, auf Argumenten beruhender Austausch von den Vertreter*innen der Kommission im Rahmen der Beteiligungs­ form, beispielsweise bei einem persönlichen Treffen, als wichtig erach­ tet? Wie hat die EU-Kommission versucht, diesen zu fördern? Verantwortlichkeit – Wie haben die Teilnehmenden aus der Zivilgesellschaft die Verfahrens­ transparenz und die Kommunikation der EU-Kommission während des Beteiligungsprozesses empfunden? – Wie evaluieren die Teilnehmenden die Berichterstattung über die weite­ re Verwendung der Ergebnisse im politischen Entscheidungsprozess? Wurden die Teilnehmenden über das weitere Vorgehen informiert? Wurden diese Schritte den Teilnehmenden gegenüber begründet? Wo­ durch wurden aus Ihrer Sicht etwaige Hürden verursacht? – Wie schätzen die Vertreter*innen der EU-Kommission die Punkte Ver­ fahrenstransparenz und Berichterstattung ein? Welche Priorität gaben sie diesen Punkten? Worin sahen sie mögliche Probleme, und welche Möglichkeiten zur Verbesserung sahen sie? Bei der Operationalisierung des Interviewleitfadens wurde folgenderma­ ßen vorgegangen: Zunächst wurden die Untersuchungsfragen konzeptio­ nell operationalisiert, d. h. Dimensionen identifiziert, anhand derer die Frage, wer durch die Beteiligungsform profitiert und wie, beobachtbar wird (vgl. Kaiser 2014: 56). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die abgeleiteten Analysedimensionen theoretische Relevanz besitzen. Die Analysedimensionen wurden dann in konkrete Fragekomplexe übersetzt – im Prinzip stellen diese Anweisungen dar, wie die Ausprägungen der Di­ mension empirisch überprüft werden können (vgl. ebd.: 56f.). Die Frage­ komplexe wurden in den Interviewleitfaden strukturierend aufgenommen und dann in einem letzten Schritt zu konkreten Interviewfragen fortentwi­ ckelt, die aus der Sicht der Interviewpartner*innen nachvollziehbar und verständlich sind (vgl. ebd.: 57).

229

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

Für das Kriterium Inklusivität wurde als eine Analysedimension bei­ spielsweise die Hürden durch den Faktor Beteiligung auf supranationaler Ebene in einem Mehrebenenensystem identifiziert. Folglich wurde als Fra­ genkomplex das Verfahren der EBI und seine transnationale Ausrichtung aufgenommen. Hierfür wurden Fragen entwickelt, die auf Verfahren oder Hürden schließen lassen, die durch den Mehrebenenkontext verursacht werden. Die Interviewleitfäden für die beiden Fallstudien sind im Anhang dieser Arbeit zu finden. Für beide Fallstudien wurde zudem ein Pretest durchge­ führt, um den Interviewleitfaden zu erproben. In den konkreten Interview­ situationen wurde der Leitfaden teilweise flexibel gehandhabt: Wenn etwa in der Interviewsituation Aspekte angesprochen wurden, die wichtig für die Analyse erschienen, wurde von diesem Leitfaden abgewichen. Solche Aspekte wurden dann mit in den Interviewleitfaden aufgenommen, der für weitere Interviews angepasst wurde. 5.2.2.2 Auswahl der Expert*innen für die Fallstudien Expert*innen haben einen relationalen Status, der sich vom Forschungsin­ teresse her definiert. In dieser Arbeit werden Expert*innen in Anlehnung an Meuser und Nagel zum einen dadurch definiert, dass sie „in irgendei­ ner Weise Verantwortung (…) für einen Entwurf, eine Implementierung oder die Kontrolle einer bestimmten Problemlösung“ (Meuser/Nagel 2002: 73f.) sowie – im Falle dieser Arbeit – eines Beteiligungsprozesses überneh­ men. Zum anderen sind Expert*innen in dieser Arbeit diejenigen Perso­ nen, die unmittelbar in die Entscheidungs- bzw. Partizipationsprozesse involviert sind und somit über einen privilegierten Informationszugang verfügen (vgl. ebd.). Dies schließt die Vertreter*innen der Institutionen und Zivilgesellschaft gleichermaßen für die ausgewählten Partizipations­ prozesse ein. Auf diese Weise soll ein Mehrwert durch ein besseres Ver­ ständnis der verschiedenen Erwartungen und Perspektiven hergestellt wer­ den. Dabei zielen die Interviews insbesondere auf die Generierung von Betriebswissen über die Partizipations- und Entscheidungsprozesse, Kon­ textwissen über die Gesetzgebung und Rahmenbedingungen (beispielswei­ se die länderspezifischen Regelungen der öffentlichen und privaten Was­ serwirtschaft) und Deutungswissen über Partizipation und Zuschreibung der EU generell ab.

230

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

5.2.2.3 Datenbasis Folgende Interviews wurden für die Auswertung der beiden Fallstudien genutzt: Fallstudie Strukturierter Dialog mit der Kultur In die Auswertung dieser Fallstudie wurden Insgesamt 35 Interviews mit Expert*innen einbezogen. Davon wurden zwei Interviews mit den Organi­ satoren, d. h. hier den Institutionen, geführt: Ein Interview wurde mit einer Mitarbeiterin der GD Bildung und Kultur bei der EU-Kommission, ein Interview wurde mit einer Mitarbeiterin des Goethe-Instituts geführt. Insgesamt 33 Interviews wurden mit Teilnehmenden aus den ersten fünf Dialogen geführt. Dazu wurden alle 162 Teilnehmenden der ersten fünf Dialoge per E-Mail einmal angeschrieben und gefragt, ob sie Interes­ se an einem Interview hätten.261 Die Interviews wurden dann mit allen Teilnehmenden geführt, die auf diese E-Mail-Anfrage antworteten. Die Antwortrate der ersten Anfrage betrug 22,8 % (37) – knapp ein Viertel der Teilnehmenden antwortete sofort nach der ersten Anfrage.262 Aufgrund dieser hohen Antwortrate wurde von einer weiteren Erinnerung der Be­ teiligten abgesehen. Die Interviews wurden in der Regel entweder via Skype (je nach Verbindungsqualität über Video oder Audio) oder in Einzelfällen auch via Telefon geführt. Da die Teilnehmenden aus ganz Europa stammten, war eine persönliche Interviewführung aus forschungs­ praktischen Gründen nicht zu bewerkstelligen. Präsenzinterviews wurden darüber hinaus nicht als notwendig erachtet, da in den Interviews vorran­ gig der Inhalt interessierte, und die Interviews mit einem Kreis an Exper­ ten*innen geführt wurden, die fachliche Gespräche am Telefon bzw. per Videotelefonie gewohnt waren. Teilweise waren dabei Beeinträchtigungen der Verbindung und der Sprachqualität vorhanden. Allerdings fielen diese bei der Interviewführung nicht stark ins Gewicht. Entsprechende Passagen wurden in den Transkripten kenntlich gemacht. Ein Interview musste

261 Die Listen der Teilnehmenden waren auf der Internetseite von Voices of Culture ersichtlich. Für einige Dialoge waren dort auch E-Mail-Adressen ersichtlich, teilweise wurden diese nachträglich recherchiert. 262 Zwei Teilnehmende hatten keine Zeit für ein Interview und haben die Fragen schriftlich beantwortet. Diese sind allerdings nicht in die Auswertung eingeflos­ sen.

231

5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

dann allerdings von der Auswertung ausgeschlossen werden, weil auf der Audioaufnahme zu viel Hall lag, sodass es nicht verständlich und somit eine Transkription nicht möglich war. Ein weiteres Interview wurde aus der Auswertung ausgeklammert, weil sich der Interviewte aufgrund von zu geringen Englischkenntnissen schlichtweg nicht zu den Untersu­ chungsschwerpunkten befragen ließ. Insgesamt wurden also vonseiten der Teilnehmenden aus der Zivilgesellschaft 33 Interviews in die Auswertung einbezogen. Diese teilen sich wie folgt auf die einzelnen Dialoge auf: – 6 Interviews aus dem Dialog: Audience Development via Digital Means, 2015 – 8 Interviews aus dem Dialog: Participatory Governance of Cultural Herita­ ge, 2015 – 9 Interviews aus dem Dialog: Developing the Entrepreneurial and Innova­ tion Potential of the Cultural and Creative Sectors, 2016 – 4 Interviews aus dem Dialog: Promoting Intercultural Dialogue and Brin­ ging Communities Together Through Culture in Shared Public Spaces, 2016 – 6 Interviews aus dem Dialog: The Role of Culture in Promoting the Inclusi­ on of Refugees and Migrants, 2016 Aus jedem Dialog wurden dabei mindestens 4 Teilnehmende interviewt, sodass tendenziell auch Entwicklungen über die Dialoge hinweg reflektiert werden konnten. Die Interviews wurden zwischen Mai und September 2017 in Brüssel sowie über Video- und Audiotelefonie geführt. Fallbeispiel EBI Right2water Im Falle der EBI Right2water wurden 11 Interviews mit Beteiligten der Zi­ vilgesellschaft geführt, darunter waren Interviews mit den Organisator*in­ nen (Europäischer Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst, EGÖD) und den unterstützenden Organisationen der EBI auf europäischer Ebene (Food and Water Europe). Dabei konnten die Vertreter*innen des EGÖD insbesondere Dinge zum Verfahren der EBI und der Kommunikati­ on mit den EU-Institutionen beisteuern, während die NGO Food and Wa­ ter Europe Aspekte zur Kampagne und Kommunikation zwischen zivilge­ sellschaftlichen Organisationen beitragen konnten. Da die überwältigende Mehrheit der Unterstützungsbekundungen der Bürgerinitiative Right2wa­ ter aus Deutschland kommt (1.382.195 von insgesamt 1.884.790) und mit­ hin auch in Deutschland das Interesse an der Initiative besonders groß war, wurden sechs Organisator*innen der deutschen Kampagne miteinbe­ zogen. Die Kampagne in Deutschland wurde von der Mitgliedsorganisati­

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5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

on ver.di getragen. Die Vertreter*innen von ver.di waren darüber hinaus auch in den Bürgerausschuss, das zentrale Organisationsgremium der EBI, eingebunden. Insbesondere bei der Mobilisierung der Unterstützungsbe­ kundungen wirkten in Deutschland eine Reihe von Umwelt- und Men­ schenrechtsverbänden mit263; diese wurden neben Vertreter*innen von ver.di ebenfalls miteinbezogen. Zudem wurden vergleichend zwei Organi­ sator*innen aus anderen Mitgliedsstaaten mit aufgenommen: Den Bund der Gemeindebediensteten in Österreich und die Wassergewerkschaft in Thessaloniki (EYATH, Thessaoloniki Water Supply and Severage). In die Analyse wurden darüber hinaus auch fünf Interviews mit Unter­ stützenden aus dem EU-Parlament mit aufgenommen. Diese Abgeordne­ ten ergänzen die Perspektive der Zivilgesellschaft durch ihre institutionel­ len Einblicke aus der Arbeit im EU-Parlament in relevanten Ausschüssen, wie dem Binnenmarkt- oder Umweltausschuss. Da sie die Initiative aktiv unterstützt haben, werden sie vorrangig als Unterstützende der Initiative bezeichnet. Schließlich wurden drei Gespräche mit Mitarbeitenden auf Arbeitsebe­ ne aus beteiligten Generaldirektionen der EU-Kommission geführt: aus der Generaldirektion Binnenmarkt, der GD Entwicklungszusammenarbeit (DEVCO) und der GD Umwelt. Kaiser führt in dieser Hinsicht die positi­ ven Ergebnisse der mittleren Hierarchieebenen an (vgl. ebd.: 132), weil diese – im Gegensatz zu hohen Hierarchieebenen der Generaldirektor*in­ nen – stärker in die Verhandlungsprozesse eingebunden sind. Aus diesem Grund können die Mitarbeitenden der mittleren Hierarchieebenen auch mehr Betriebswissen beisteuern. Im Mittelpunkt dieser Interviews standen die Erklärung und das Zustandekommen der Maßnahmen der EU-Kom­ mission auf die Initiative. Zudem wurden weiterhin zwei Hintergrundgespräche mit Mitarbei­ ter*innen aus der GD Justiz geführt (24.04.2017 und 24.05.2017), die an der Konzessionsrichtlinie mitgearbeitet hatten. Diese durften jedoch nicht aufgezeichnet und für die systematische Auswertung verwendet werden. Außerdem wurde ein Interview mit Mitarbeiter*innen im Generalsekreta­ riat geführt (27.04.2017). Dieses durfte jedoch ebenso nicht aufgezeichnet werden und wurde zudem zusammen mit anderen Studierenden geführt, was eine Durchführung des eigenen Gesprächsleitfadens erschwerte. Diese Gespräche werden nicht in die Analyse miteinbezogen, sondern – sofern

263 Beispielsweise sind darunter BUND, die Grüne Liga, Eco Mujer oder der Berli­ ner Wassertisch e. V. zu nennen.

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5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

sie relevant erscheinen – in Form von Notizen oder Hintergrundinforma­ tionen in Fußnoten mit aufgegriffen. Insgesamt beinhaltet diese Fallstudie 19 Interviews. Die Interviews wur­ den zwischen Oktober 2016 und Mai 2017 in Brüssel, Berlin und an weite­ ren Orten geführt. Vereinzelt wurden Gespräche auch über Skype geführt. Allen Interviewpartner*innen aus beiden Fallstudien wurde Anonymität bei der Auswertung garantiert. Dies entsprach insbesondere dem Wunsch der Gesprächspartner*innen aus der EU-Kommission, um ein offenes Ge­ spräch mit möglichst hohem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu er­ möglichen. Aus diesem Grund werden die Transkripte, die genauen Inter­ viewtermine und die Namen der konkreten Interviewpartner*innen nicht veröffentlicht. 5.2.2.4 Auswertungsverfahren Für eine systematische Auswertung wurden die Interviews zunächst in Textform überführt264 und anhand von interpretativen Verfahren ausge­ wertet. Sie sollen helfen, das Zustandekommen der strukturellen Proble­ me von Partizipation nachzuvollziehen, erheben gleichwohl keinen An­ spruch auf Repräsentativität. Die Auswertungsverfahren orientieren sich an der themenanalytischen Inhaltsanalyse nach Mayring (2003, 2010; siehe auch Kaiser 2014: 90f.).265 In Anlehnung an Mayring wurde dabei in drei Schritten vorgegangen: Zunächst wurde das Textmaterial auf analytisch relevante Zusammenhän­ ge reduziert (Zusammenfassung). Dies wurde nach Relevanz für die struk­ turellen Problemfelder von Partizipation in den Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit entschieden – mithin die gleichen Kategorien, die schon bei der Erstellung des Interviewleitfadens relevant

264 Da bei den Expert*inneninterviews dieser Arbeit nur der Inhalt für die Analyse interessant war, wurden die Transkripte lediglich in eine Schriftform überführt, ohne jedoch ein striktes Transkriptionssystem zu übernehmen (in Anlehnung an Kaiser 2014: 97). Bei den Interviews der Fallstudie Voices of Culture wurden zudem offensichtlich nicht für die Analyse benötigte Informationen paraphra­ siert. Bei der Verschriftlichung der Interviews wurden etwaige Grammatikfelder der Interviewten nicht korrigiert, da diese für das Forschungsinteresse nicht re­ levant sind. Die in den Kapiteln 6 und 7 präsentierten Zitate wurden vereinzelt sprachlich redigiert, um einen besseren Lesefluss zu ermöglichen. 265 Aufgrund der Vielzahl der Interviews wurde die Auswertung und Kodierung softwaregestützt mit MAXQDA durchgeführt.

234

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

waren. In einem zweiten Schritt wurden ergänzende oder erläuternde Informationen zu Textpassagen hinzugefügt, um Verständnisproblemen entgegenzuwirken (Explikation; Kaiser 2014: 91). Anschließend wurden die ausgewählten Passagen im eigentlichen Sinne inhaltlich strukturiert, d. h. Kategorien wurden den drei Kriterien Inklusivität, Deliberation, Ver­ antwortlichkeit und dabei möglichen erklärenden Faktoren zugeordnet. Dies erfolgte überwiegend deduktiv, d. h. auf Basis theoretischer Überle­ gungen (ausführlicher siehe Mayring 2003: 84, 89). Doch auch induktiv wurden neue Kategorien oder Subkategorien mit aufgenommen, die sich aus dem Material ergeben haben (vgl. Mayring 2010: 67ff.).266 Die indukti­ ve Vorgehensweise wurde beispielsweise genutzt, um weitere Faktoren, die die strukturellen Problemfelder der jeweiligen Beteiligungsform bedingen, herauszuarbeiten. Ebenso kam die induktive Auswertungsweise bei dem Deutungswissen der Beteiligten um Partizipation und Legitimitätsvorstel­ lungen der EU zum Tragen. Anschließend wurden die so gewonnenen Kernaussagen der Interviews auf Grundlage der theoretischen Vorüberle­ gungen analysiert und interpretiert. Dabei sollten zum einen die in Ka­ pitel 3 anhand der Typologie identifizierten strukturellen Problemfelder konkretisiert und differenziert werden (welche Probleme in welchen Kri­ terien). Gezeigt werden sollte, welche Akteure durch die Beteiligungsfor­ men konkret profitieren. Zum anderen soll somit auch nachvollziehbar gemacht werden, durch welche Faktoren (z. B. Beteiligungsform, Mehre­ benenkontext) dies geschieht. Da sich die Ergebnisse jedoch zunächst nur auf die Fallstudien beziehen, werden die Ergebnisse in Kapitel 8 auf Basis der Gemeinsamkeiten der Beteiligungsformen (Typologie in Kapitel 4) zurückgeführt und plausible Rückschlüsse auf weitere Beteiligungsformen formuliert. Auf Grundlage dieser Analyse wird zusammenfassend eruiert, welche Akteur*innen von den unmittelbaren themenbezogenen Beteili­ gungsformen profitieren, um in Kapitel 9 Implikationen für Theorie und Praxis zu formulieren. Die Darstellung der Ergebnisse der Expert*inneninterviews folgt der Differenzierung der Wissensarten nach Kaiser: Kontextwissen über Parti­ 266 Die Vorgehensweise dieser Arbeit bei der induktiven Strukturierung orientiert sich an dem nachfolgenden Vorgehen von Mayring (vgl. 2010: 67ff.): Die Be­ stimmung der Analyseeinheiten, anschließend die Paraphrasierung der relevan­ ten Textstellen und die Generalisierung der Paraphrasen unter ein selbstgewähl­ tes Abstraktionsniveau, hiernach in zwei Schritten die Reduktion des gefilterten Materials, woraus dann Kategorien gebildet werden. In einem letzten Schritt soll das zusammenfassende Kategoriensystem am Ausgangsmaterial überprüft werden.

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5 Analyse der strukturellen Probleme anhand von zwei Beteiligungsformen

zipationsformen oder Politikfelder wird im Gegensatz zu Betriebswissen weniger direkt und ausführlich zitiert (vgl. ebd.: 130). Bei Vorstellungen, beispielsweise über Partizipation, die dem Deutungswissen zuzuordnen sind, werden typische Aussagen vorgestellt. Dabei wurde weitestgehend auf Häufigkeitsangaben verzichtet, weil sie zum einen für die Gegenüber­ stellung der Perspektiven wenig Bedeutung haben. Zum anderen war dies beispielsweise bei der Fallstudie EBI Right2water oft nicht möglich, da sich die Interviews mit den verschiedenen Beteiligten auf unterschiedliche Aspekte des Verfahrens stützten (wenn beispielsweise die EGÖD über in­ stitutionelle Aspekte, die NGOs über die Mobilisierung bei der Kampagne sprachen). Sofern Häufigkeitsangaben gemacht wurden (z. B. bei den Teil­ nehmenden des Strukturierten Dialoges) dient dies allein der Veranschau­ lichung von herausgearbeiteten Motiven, sie haben als qualitative Methode der Sozialforschung keinen Anspruch auf Repräsentativität. 5.2.3 Risiken der Methode und Strategien zur Minimierung dieser Risiken Expert*inneninterviews beinhalten potenzielle Probleme und Fehlerquel­ len: Da die Interviewpartner*innen die Informationen liefern, können die Informationen prinzipiell auch nicht nachgeprüft werden (vgl. Kaiser 2014: 32). Ebenso ist nicht abschließend zu klären, ob die Expert*innen im Interview ihre eigene Sichtweise wiedergeben oder sich auf die formale Position einer Organisation beziehen – dieses Problem ergibt sich insbe­ sondere bei den Interviews mit den Vertreter*innen der EU-Kommission (vgl. ebd.). Zudem tritt – wie in allen Interviewformen – das Problem der sozialen Erwünschtheit hinzu (vgl. ebd.: 32). Um diese Fehlerquellen zu minimieren, wurde ein Protokoll der Gesprächssituation direkt danach an­ gefertigt, in dem eventuelle nonverbale Auffälligkeiten der Gesprächspart­ ner*in und Eindrücke oder auch Hinweise zu etwaigen Verbindungspro­ blemen (im Falle der Skype-Interviews) zu notieren. Diese Informationen werden dann auch in der Analyse mitberücksichtigt. Bei der qualitativen Inhaltsanalyse beschreibt Mayring (vgl. 1990: 32) darüber hinaus das Problem der Subjektivität der Betrachter*in. Diese ist beispielsweise bei der Kategorienbildung zu erkennen (vgl. ebd.). Um dieser Problematik zu begegnen, erweist es sich insbesondere als wichtig, durch die Gütekriterien Neutralität und Offenheit gegenüber den Erkennt­ nissen aber auch anderen Relevanzsystemen und Deutungsmustern eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse zu ermöglichen (vgl.

236

5.2 Methodisches Vorgehen bei der Analyse der Fallstudien

Kaiser 2014: 7). Dazu wurden die Kriterien für die Auswahl der Expert*in­ nen, die Entwicklung des Leitfadens (im Anhang der Arbeit) und die Auswertungsmethode erläutert (vgl. ebd.: 6).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten Im Rahmen dieser Fallstudie soll durch die Einsichten der verschiedenen Beteiligten in den Partizipationsprozess Voices of Culture ein besseres Ver­ ständnis davon ermöglicht werden, welche Faktoren die strukturellen Pro­ blemfelder von Partizipation verursachen. Dies betrifft einerseits die Frage nach Ungleichheiten in der Beteiligung der verschiedenen Organisationen (Problemfeld 1) und andererseits das Abweichen des kommunizierten Par­ tizipationsdiskurses vom tatsächlichen Partizipationshandeln der EU-Kom­ mission (Problemfeld 2). Die Darstellung der Ergebnisse folgt den verschiedenen Gruppen der Beteiligten (Teilnehmende der Zivilgesellschaft und Organisator*innen) für die drei Kriterien Inklusivität (Kapitel 6.1.1), Deliberation (Kapitel 6.1.2) und Verantwortlichkeit (Kapitel 6.1.3)267. Dabei wird zunächst be­ schrieben, worauf sich die Informationen der Interviewpartner*innen be­ ziehen, diese wiedergegeben und dann in einer abschließenden Zusam­ menfassung inhaltlich interpretiert. Die Darstellung beginnt bei jedem Kriterium mit den Ergebnissen der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft. Danach schließt sich eine Vorstellung der Ergebnisse der Organisator*innen, d. h. der EU-Kommission und des Goethe-Instituts, an. Anschließend wird für jedes Kriterium eine Synthese erstellt, die die interpretierten Informationen der verschiedenen Gruppen an die Frage zurückbindet, welche Faktoren bei diesem Kriterium die strukturellen Probleme verursachen. Abschließend werden die strukturellen Probleme dieser Beteiligungsform in Kapitel 6.2 nochmals zusammengefasst und in einer Tabelle veranschaulicht.

267 Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, wurden Belege der Interviews in Fußnoten aufgelistet.

238

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

6.1.1 Inklusivität 6.1.1.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft268 In diesem Teilkapitel wird dargestellt, wie die Teilnehmenden der Zivil­ gesellschaft die anderen Teilnehmenden und deren Auswahl durch die EU-Kommission bewerten und wie sie dies begründen. Insgesamt haben sich fast alle der Teilnehmenden der Zivilgesellschaft positiv über die anderen ausgewählten Teilnehmenden geäußert (29 von 33; 88 %).269 Die positive Bewertung wurde in vielen Interviews zum einen mit der hohen Qualität der anderen Teilnehmenden (17 von 29)270 und der so entstandenen positiven und motivierten Arbeitsatmosphäre und Diskussionsqualität begründet (21 von 29)271. Zum anderen wurde die positive Bewertung der Teilnehmenden von zehn Interviewpartner*innen (34 %) mit der interessanten Mischung der verschiedenen territorialen Ebenen im Mehrebenensystem und den verschiedenen Subsektoren des

268 In den Interviews mit den Teilnehmenden sollen angegebene Häufigkeitswerte lediglich ein Gefühl für Gewichtungen von Aussagen unter den Teilnehmenden vermitteln – die in den Ergebnissen dargestellten Analysen basieren auf qualita­ tiven und interpretativen Methoden der Sozialforschung, die keinen Anspruch auf Repräsentativität haben. Ihr Ziel besteht vielmehr in der Erklärung von strukturellen Problemlagen durch die Gegenüberstellung von Perspektiven. 269 In 32 der 33 Interviews der Beteiligten haben sich diese positiv oder negativ zu der Selektionsmethode oder den anderen Teilnehmenden geäußert. Unter die­ sen äußerten sich zehn Teilnehmende ausschließlich positiv über die anderen Teilnehmenden (Interviews Nr. 3, 4, 8, 10, 11, 15, 16, 17, 23, 32). Allerdings äußerten 19 Teilnehmende (Interviews Nr. 1, 2, 6, 7, 9, 12, 13, 14, 19, 20, 21, 24, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 33) trotz einer positiven Gesamtbewertung auch konstruk­ tive Kritik, die jedoch an ihrem positiven Gesamteindruck wenig änderte. Ein Interviewter (Nr. 18) konnte sich nicht mehr an die anderen Teilnehmenden und deren Qualität erinnern. 270 Interviews Nr. 2, Abs. 14; Nr. 3, Abs. 45; Nr. 6, Abs. 21; Nr. 7, Abs. 46; Nr. 8 Abs. 36; Nr. 9 Abs. 52; Nr. 10, Abs. 11; Nr. 11, Abs. 35, 39; Nr. 12, Abs. 28; Nr. 13, Abs. 54; Nr. 15, Abs. 36; Nr. 16, Abs. 21; Nr. 23, Abs. 31; Nr. 26, Abs. 28; Nr. 28, Abs. 22; 26, 28, 72; Nr. 32, Abs. 20; Nr. 33, 21). 271 Nr. 1, Abs. 30; Nr. 2, Abs. 12; Nr. 3, Abs. 43; Nr. 4, Abs. 10; Nr. 6, Abs. 21; Nr. 8, Abs. 46; Nr. 9, Abs. 24; Nr. 11, Abs. 49; Nr. 12, Abs. 28; Nr. 14, Abs. 47; Nr. 16, Abs. 36f.; Nr. 17, Abs. 21; Nr. 23; Abs. 31; Nr. 24, Abs. 32, 40; Nr. 27, Abs. 24; Nr. 28, Abs. 29f.; Nr. 29, Abs. 79; Nr. 31, Abs. 79; Nr. 31, Abs. 36; Nr. 32, Abs. 20; 22; Nr. 33, Abs. 21, 30f.).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

Kultursektors begründet (11 von 29)272. Diese Begründungsmuster wurden auch zusammen angeführt und wirkten ineinander273. Folgendes Beispiel eines Interviewten soll dies verdeutlichen: „Beides, also das schien mir insgesamt sehr gut gemischt zu sein und wie gesagt, also Künstler, Künstlerinnen, Leute aus der Kultur neigen ja eher zum Individualismus, ist jedenfalls meine Einschätzung. Und es ist gelungen eine Gruppierung zu finden, die relativ schnell arbeits­ fähig wurde, also Individualisten aus dem Kulturbereich aus, jetzt weiß ich nicht wie viel verschiedenen Ländern, mit unterschiedlichen institutionellen und kulturellen Hintergründen und Nationalhinter­ gründen, das kann auch erst mal in einem großen Ich bin aber der Tollste landen. Und das hat eine relativ geringe Rolle überhaupt nur gespielt“ (Interview Nr. 33, Abs. 29). Sofern Kritikpunkte der Teilnehmenden an den anderen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft geäußert wurden, bezogen sich diese vorrangig auf Ungleichgewichte in der Struktur der Teilnehmenden; solche Hinweise wurden auch von Interviewpartner*innen gegeben, die sich insgesamt sehr positiv über die Auswahl äußerten. Drei Interviewte übten ausschließlich Kritik an den Teilnehmenden, äußerten jedoch nichts Positives (Interview Nr. 5, 22, 25) – sie befanden sich in der deutlichen Minderheit. Bezogen auf die Struktur der Teilnehmenden wurde von ca. jedem bzw. jeder dritten Interviewten274 kritisiert, dass es eine gewisse Dominanz von großen, häufig auch öffentlichen Institutionen unter den Teilnehmenden gibt: Dazu wurden beispielsweise nationale Kulturinstitutionen, wie der British Council (auch „cultural bureaucrats“, Interview Nr. 22, Abs. 51), oder aber auch die europäischen Dachverbände, wie Culture Action Europe, gezählt. In diesem Zusammenhang wurde auch von einigen Teilnehmen­ den (vor allem von EU-Organisationen) moniert, dass das Goethe-Institut als nationale Organisation die Umsetzung des Strukturierten Dialoges mit der Kultur übernommen hat – und dies nicht beispielsweise einer europä­ ischen Dachorganisation übertragen wurde (Nr. 4, Abs. 40; Nr. 5, Abs. 80;

272 Interviews Nr. 1, Abs. 28; Nr. 14, Abs. 49; Nr. 15, Abs. 18; Nr. 16, Abs. 19; Nr. 20, Abs. 12; Nr. 21, Abs. 30; Nr. 29; Abs. 73; Nr. 30, Abs. 8; Nr. 32, Abs. 16; Nr. 33, Abs. 27, 29. 273 Entsprechend sind hier bei der Auswertung Überlappungen der Werte möglich. 274 Interviews Nr. 2, Abs. 8; Nr. 5, Abs. 34; Nr. 12, Abs. 80; Nr. 14, Abs. 61; Nr. 19, Abs. 17; Nr. 20, Abs. 12; Nr. 21, Abs. 50; Nr. 22, Abs. 51; Nr. 26, Abs. 28; 30, 35-36; Nr. 27, Abs. 19, 58; Nr. 33, Abs. 25.

240

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Nr. 7, Abs. 74; Nr. 24, Abs. 58). Dies soll in den beiden folgenden Aussagen von Teilnehmenden verdeutlicht werden: „Ein Problem, das kam nicht nur zur Sprache, aber ein Problem, das ich sehe bei dieser Version jetzt des Strukturierten Dialoges ist, dass das Projekt durch das Goethe-Institut organisiert wird. Und so sehr ich das Goethe-Institut schätze, ist es für mich ein Tick unverständlich, was ein nationales kulturelles Institut mit so einem Auftrag, warum sie so einen Auftrag beauftragt werden. Es ist allgemein ein Warnhinweis des Kultursektors, die sagen, es gehen immer mehr Aufträge an Bri­ tish Council, Goethe-Institut. Ich halte das für problematisch“ (Nr. 4, Abs. 40). „Ich würde, ich muss scharf überlegen. Ich glaube, also was ich selbst tatsächlich ein bisschen leichtsinnig fand, ist, dass natürlich das Goe­ the-Institut alles anderes als eine zivilgesellschaftliche Organisation ist. Und das hat viele zivilgesellschaftliche Organisationen tatsächlich ein bisschen vor den Kopf gestoßen, dass eigentlich ja ein, ja das GoetheInstitut ist wirklich der deutsche Botschafter schlechthin, dass die nun diesen Zuschlag da bekommen haben, das war tatsächlich ein bisschen merkwürdig, würde ich sagen“ (Nr. 24, Abs. 58). Von anderen Teilnehmenden wurde darüber hinaus auch von einer Do­ minanz des akademischen Bereichs, also Institutionen und Forschungs­ einrichtungen, gesprochen (Nr. 19, Abs. 17). Im Gegensatz dazu waren Praktiker*innen („practitioners“, ebd.) aus dem Feld, oder auch direkt Betroffene, auch die Unternehmen (besonders im Dialog III), unterreprä­ sentiert.275 Einige Teilnehmende kritisierten in dieser Hinsicht auch, dass sich diese Ungleichheiten der Struktur der vertretenen Zivilgesellschaft auch auf die Deliberationsprozesse zwischen den Beteiligten der Zivilge­ sellschaft auswirkten, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen: „Yes, we presented and we had like a talk. It was quite an open talk­ ing in the sense that there is one problem of course with this open methodology that we people start to be over representative within the team of course. I mean XY [Name anonymisiert, J. S.] was member of the team, who is pretty active in general in international networking and he likes to talk a lot. And he starts to lead those talks and that will also be a problem” (Nr. 5, Abs. 35). 275 Interviews Nr. 2, Abs. 18-26, 30; Nr. 6, Abs. 3; 23; Nr. 19, Abs. 17; Nr. 19, Abs. 20f.; Nr. 20, Abs. 12.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

„(…) there is a real need to balance up the power here, if you’re doing a session about participatory governance in a program that is supposed to be widening the input and influence of civil society in strategy of policy making, it’s kind of ironic that some of the loudest voices are still the most established institutions” (Nr. 12, Abs. 80). Weitere Diskrepanzen, die von Teilnehmenden wahrgenommen wur­ den, bezogen sich beispielsweise auf territoriale Ungleichgewichte (vgl. Zentrum-Peripheriegefälle, z. B. Interview Nr. 5, Abs. 52f.) und Ebenen im Mehrebenensystem (zu wenig Graswurzelbewegungen, z.B. Nr. 14, Abs. 61). Auch die Auswahlmethode der Teilnehmenden von der EU-Kommissi­ on wurde mehrfach kritisiert.276 Dies soll beispielhaft an folgendem Zitat einer Teilnehmerin verdeutlicht werden: „Also tatsächlich ist diese Frage der Auswahl, haben Sie bestimmt auch schon mit anderen Ihrer zu interviewenden Menschen besprochen, war die Auswahl für uns immer relativ unklar, weil das ja durch die EU-Kommission wahrscheinlich mit Vorarbeit vom Goethe-Insti­ tut und dann durch die EU-Kommission entschieden wurde, wer da kommt und wer nicht kommt. Das kreiert natürlich unter den, in der Zivilgesellschaft selbst immer wieder auch Unverständnis, wer da ausgewählt wird und wer nicht“ (Nr. 24, Abs. 32). Dabei wurde teilweise von Teilnehmenden auch die Beurteilung der Re­ präsentativität der beteiligten Organisationen hinterfragt (Nr. 1, Abs. 28; Nr. 13, Abs. 54). Dies verdeutlicht beispielsweise ein Zitat einer Vertreterin einer europäischen Dachorganisation im Kulturbereich: „Ich hatte zum Beispiel dann aber in Florenz mich gewundert, dass wir da ausgewählt waren und gleichzeitig war auch eins unserer Mit­ glieder, ein ganz kleines Theater mit dabei, das relativ, wo ich mich ge­ fragt habe, wie da die Repräsentanz beurteilt wurde“ (Nr. 1, Abs. 28). Schließlich wurde auch die als zu groß wahrgenommene Diversität der Teilnehmenden von einzelnen Interviewten als hinderlich bewertet, um eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu ermöglichen und Deliberations­ prozesse unter den Teilnehmenden in Gang zu setzen (Nr. 21, Abs. 30; Nr. 7, Abs. 24; Nr. 30, Abs. 13).

276 Siehe Interviews Nr. 5, Abs. 74; Nr. 7, Abs. 46; Nr. 24, Abs. 32; Nr. 27, Abs. 21f.; Nr. 31, Abs. 28; Nr. 12, Abs. 72.

242

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Zusammenfassung und Interpretation Insgesamt wurden die Teilnehmenden und die Auswahl der jeweiligen Gruppe von den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft sehr positiv von den Interviewten bewertet. Dies wurde häufig mit der Diversität der ver­ schiedenen Ebenen und Subsektoren des Kultursektors und der hohen Qualität der Teilnehmenden begründet, die eine sehr konstruktive Arbeits­ atmosphäre und Prozesse des gegenseitigen Lernens ermöglicht haben. Die positive Bewertung der Teilnehmenden wurde folglich stark mit delibera­ tiven Aushandlungsprozessen begründet und zeigt eine positive Wechsel­ wirkung der gesteigerten Inklusivität und deliberativen Prozesse unter den Teilnehmenden. Vereinzelt wurde diese Vielfalt jedoch auch gerade als hinderlich für deliberative Prozesse in der Gruppe angesehen. Trotz der überwiegend positiven Einschätzungen wurden von den Inter­ viewten auch Kritikpunkte an der Teilnehmendenauswahl geäußert, die sich häufig auf Ungleichgewichte in der Struktur der Teilnehmenden be­ zogen. In diesem Sinne wurde besonders eine starke Überrepräsentation an nationalen und teilweise halböffentlichen Kulturorganisationen kriti­ siert: Diese Kritik ist zum einen mit dem Charakteristikum der Zivilgesell­ schaft im Kulturbereich verbunden, die eine staatliche Finanzierung erfor­ dert, und zum anderen ein Symptom der späten Vergemeinschaftung des Politikfeldes. Demgegenüber seien NGOs, Graswurzelbewegungen und Praktiker*innen in den Dialogen unterrepräsentiert; wobei diese Kritik auch damit begründet wurde, dass sich diese Ungleichgewichte negativ auf die Deliberationsprozesse zwischen den Beteiligten ausgewirkt haben. Zudem wurde auch Kritik an der Auswahlmethode der EU-Kommission und dem von ihr verwendeten Repräsentativitätsbegriff geübt. Gleichwohl sind diese Kritikpunkte in der Minderheit gegenüber einer insgesamt sehr positiven Bewertung der Teilnehmendenauswahl. 6.1.1.2 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen Die Informationen der Interviews mit den Organisator*innen EU-Kom­ mission und Goethe-Institut werden dafür genutzt, um die mit dem neuen Format verbundenen Zielstellungen der Auswahl der Organisator*innen zu beschreiben. Die Interviews mit den Institutionen zeigten, dass bei dem neuen For­ mat ein sehr starker Fokus auf die Auswahlmethode der Teilnehmenden aus der Zivilgesellschaft gelegt wurde. Dies zeigt sich beispielsweise in

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

einem stark institutionalisierten und professionalisierten Zugangsverfah­ ren: Die Teilnehmenden werden nun für jeden Dialog über eine öffentli­ che Ausschreibung gesucht.277 Die Ausschreibung wird über verschiedene Kanäle, wie europäische Dachorganisationen im Kulturbereich, Europe Desk (EU-Programme mit nationalen Kontaktstellen), über E-Mail-Vertei­ ler an Organisationen, auf ihrer Homepage, in sozialen Medien usw. veröffentlicht (Nr. 35, Abs. 51). Nach der Ausschreibung des jeweiligen Dialoges folgt dann die Auswahl der Teilnehmenden. Die EU-Kommission greift dafür auf ein Team von Expert*innen zurück, die die Organisationen mithilfe einer aufwändigen Matrix auswählen (Nr. 34, Abs. 49). Dabei be­ gründet die EU-Kommission die Auslagerung der Teilnehmendenselektion damit, dass sie diese selbst nicht leisten könnte (Nr. 34, Abs. 93). Teil des Teams sind wissenschaftliche Expert*innen des Kultursektors und des jeweiligen Themengebietes (Nr. 34, Abs. 36). Für die Selektion einer Orga­ nisation zu einem Dialog sind im Wesentlichen zwei Kriterien relevant: Die thematische Expertise und die Fähigkeit, einen weiten Kreis an Stake­ holdern anzusprechen. „Every time we open a call, of course we have some specific criteria, so that one important element is of course that these stakeholders really focus on the topic of the specific Structured Dialogue. They need to show that they have an expertise in the field that they have done some work in the field and they can actually contribute to the discussion, that they have an interest, a clear interest in the specific field. And then, another important criteria is geographical reach, meaning that they usually, they need to be able to reach out geographical speaking a wide number of people and other stakeholders” (Nr. 34, 47). Die Hauptkriterien (thematische Expertise und weiter Kreis an Stakehol­ dern) werden für die Ermittlung der teilnahmeberechtigen Organisationen in fünf Kriterien operationalisiert (wie im Zitat dargestellt wurde). Die Expert*innen vergeben dann für jedes Kriterium Punkte und ermitteln über eine mathematische Formel die teilnehmenden Organisationen. Ziel ist es dabei, zum einen die Auswahl so klar und transparent wie nur mög­ lich zu gestalten und zum anderen, die „repräsentativsten Organisationen“ herauszufiltern:

277 Ein Teilnehmender wurde von den Organisator*innen angeschrieben und auf die Anmeldung aufmerksam gemacht, da er eine sehr spezifische Expertise in seiner Organisation aufweisen konnte (Nr. 22, Abs. 9f.).

244

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

„So, the result of all these in a kind of mathematical way will give us the answer. That’s basically how it works. We really try to get like the most representative ones” (Nr. 35, Abs. 49). „Most representatives not just in terms of geographical scope or exper­ tise, but all these criteria, that every time are used for each specific topic” (Nr. 35, Abs. 93). Dabei beziehen sich die „repräsentativsten Organisationen“ nicht allein auf die geografische Reichweite oder Expertise, sondern auf das mathema­ tische Ergebnis von allen Kriterien. Gleichwohl können damit auch unter­ schiedliche Schwerpunkte der Organisationen auf die beiden Kriterien ge­ legt und für die Zusammensetzung der Gruppe des Dialoges ausbalanciert werden. So sind beispielsweise europäische Dachverbände durch ihren weiten Mitgliederkreis besonders legitimiert: „We also get a few networks that have to be involved in a certain way, big players such as Culture Action Europe, NEMO, that are represent­ ing a lot of people, tend to apply, tend to have their legitimacy as we were speaking into the process, of course” (Nr. 35, Abs. 57). Zudem versuchen sie, gezielt solche Organisationen zu involvieren, die sich durch eine bestimmte thematische Expertise auszeichnen: „Because we try have those big European players, but we also try to have specific expertise” (Nr. 35, Abs. 57). Solche könnten auch von öffentlichen Institutionen stammen, wenngleich diese nicht die Hauptzielgruppe der Organisator*innen seien (Nr. 35, Abs. 41-43). Ziel des Auswahlverfahrens sei es vielmehr, eine repräsentative Gruppe zusammenzustellen, die für den Sektor und das jeweilige Thema sprechen kann. Repräsentativ bedeutet dabei, möglichst alle verschiede­ nen Stimmen abzubilden und die Diskussion nicht zu stark nur durch Expert*innen gesteuert zu haben: „And as we went into the process we realised that the European Com­ mission wanted something well more coming from the participants because it’s their voices that they want to hear and that they told us if we wanted a paper done by an expert we would have done so and we don’t want them to channel the discussion and we don’t want them to feel that its led by the experts, so we had to in a sense that the experts were not as much needed as we thought it would be in the beginning of the process” (Nr. 34, 87).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

Dabei verweisen auch die Organisator*innen auf zwei Probleme: zum einen auf die Schwierigkeiten, eine repräsentative Gruppe zusammenzu­ stellen (Nr. 35, Abs. 39), da der kulturelle Sektor sehr heterogen ist (Nr. 35, Abs. 30). Repräsentativität bedeutet dabei für die Organisator*innen, alle Mitgliedstaaten einzubeziehen (Nr. 35, Abs. 36) – und gleichwohl werden nicht in gleichem Maße aus allen Mitgliedstaaten Bewerbungen einge­ sandt. Stattdessen zeichnen sich Unterschiede ab, beispielsweise kommen sehr viele Bewerbungen aus Großbritannien278, während solche aus Osteu­ ropa deutlich seltener vertreten seien. Die Organisator*innen verweisen zum anderen auf das Problem, Reprä­ sentativität zu messen. Dabei haben sie ihr Vorgehen modifiziert von anfänglichen messenden Fragen zu einer stärker auf Selbstbeschreibung basierenden Variante: „Äh, that’s it. So, at the beginning we, well with the team leader we were kind of wondering how can you measure representativeness. It’s quite difficult. So at the beginning we had questions about how many are international, national, or regional, how many organisations do you have in your network? How many people can you reach? What is geographical scope? But this was not clear enough, or not helping the experts enough. So this is why now we actually ask them why you think you’re representative of your sector. And I think it’s in these answers that the experts find try to see how representative an organisation can be and of course, the experts always do double checks on the website to get more information and to learn a little bit more about the organisation if they don’t know them yet” (Nr. 35, Abs. 39). Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse Die Organisator*innen investieren Zeit und Ressourcen in ein aufwändi­ ges und professionalisiertes Verfahren, um die Teilnehmenden für die Dialoge auszuwählen. Dabei besteht das Ziel darin, eine möglichst reprä­ sentative Gruppe für jeden Dialog zusammenzustellen. Repräsentativität bestimmt sich sowohl aus einer geografischen Reichweite, Stakeholder anzusprechen (Input-Legitimität), als auch aus spezialisierter thematischer Expertise (Output-Legitimität). Zudem sollen möglichst viele unterschied­ liche Organisationen eingeschlossen werden, d. h. eine möglichst diverse

278 Zu diesem Zeitpunkt war Großbritannien noch Mitglied der EU.

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Gruppe zusammengestellt werden. In diesem Sinne können die Organisa­ tor*innen zwischen den verschiedenen Organisationen ausbalancieren, d. h. stärker thematisch spezialisierte Organisationen (Output-Legitimation) können mit europäischen Dachorganisationen (Input-Legitimation) ausge­ glichen werden. Dabei zeigt sich eine Unterscheidung der EU-Kommission zwischen repräsentativen Organisationen und der repräsentativen Gruppe. Allerdings besteht das übergeordnete Ziel des Auswahlverfahrens, das da­ rin besteht, eine möglichst diverse Gruppe auszuwählen. Diese soll mög­ lichst viele Eindrücke des Sektors vermitteln, wobei die Formulierung von Repräsentativität insgesamt eine funktionale Ausrichtung erhält (wenn öffentliche Organisationen Expertise liefern können, werden sie in den Dialog integriert). Die Interviews mit den Organisator*innen illustrieren zudem ihre Sicht auf die verbleibenden Ungleichgewichte in der Zivilgesellschaft, die trotz des aufwändigen und professionalisierten Verfahrens nicht ausgeglichen werden können. Dabei stellen die Bedingungen des europäischen Ent­ scheidungsfindung im Mehrebenenkontext einen Faktor für dieses struk­ turelle Problem (Ungleichgewichte in der Zivilgesellschaft) dar, da durch diese eine Pluralisierung von Problemlagen erzeugt wird. Hinzu kommen die Charakteristika des Kulturbereichs durch seine kurze Zeit der Verge­ meinschaftung und den teilweise sehr unterschiedlichen zivilgesellschaftli­ chen Strukturen in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Die Organisator*innen verdeutlichen in ihren Interviews die Schwierigkeit, Repräsentativität von Organisationen zu messen, und zeigen, dass die Institutionalisierung des Zugangsverfahrens auch eine enorme Professionalisierungsleistung bedeu­ tet, um die gewünschte Inklusivität herzustellen. Die Sicht der Organisa­ tor*innen trägt zu einem differenzierteren Repräsentativitätsverständnis der EU-Kommission bei, das nicht nur Wert auf die Repräsentativität der jeweiligen Organisation legt, sondern auf die Repräsentativität der zu konsultierenden Gruppe. Dabei können auch diese Kategorien (Repräsen­ tativität der Organisation und der Gruppe) durchaus in einem Spannungs­ verhältnis stehen. Insgesamt scheint das Repräsentationsverständnis der EU-Kommission hier jedoch vorrangig die funktionalen Anforderungen für EU-Programme zu erfüllen, da der Fokus auf der eingebrachten Exper­ tise von diversen Akteur*innen aus dem Kultursektor liegt.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

6.1.1.3 Strukturelle Probleme beim Kriterium Inklusivität und dafür ursächliche Faktoren Das Ziel der EU-Kommission ist es, mit dem neuen Format eine möglichst repräsentative Gruppe für das Thema des jeweiligen Dialoges zusammen­ zustellen. Dabei bezieht sich die Repräsentativität der Gruppe sowohl auf input- (Reichweite, Dachorganisationen) als auch outputbezogene Argu­ mente (thematische Expertise). Um dies zu erreichen, greift die Kommissi­ on auf ein externes (wissenschaftliches) Expert*innenteam und komplexe mathematische Berechnungsverfahren zurück. Die Interviews mit den Teilnehmenden zeigen, dass die überwiegende Mehrheit mit der Auswahl der EU-Kommission sehr zufrieden ist. Sie begründen die Zufriedenheit ähnlich wie die EU-Kommission mit der Diversität der Organisationen und der hohen Qualität der Teilnehmenden, die dadurch Prozesse des gegenseitigen Lernens in Gang bringen. Dabei stimmen die Bewertungen von Beteiligten mit den Zielstellungen der Or­ ganisator*innen weitgehend überein, d. h. in der Mehrheit schätzen auch die Teilnehmenden den Repräsentativitätsbegriff der EU-Kommission, da diese ebenso in ihre positive Bewertung der Teilnehmenden funktionale Aspekte nutzen (gegenseitiges Lernen, hohe Qualität, interessante Erfah­ rungen). In beiden Gruppen wurden in den Interviews gleichwohl auf nach wie vor bestehende Ungleichgewichte (Strukturelles Problemfeld 1) in der Gruppe aufmerksam gemacht. Diese stellten sich hauptsächlich als ein Übergewicht von öffentlichen und nationalen Kulturorganisationen dar, die zum einen mit Charakteristika des Kultursektors (Heterogenität, kurze Zeit der Vergemeinschaftung) verbunden sind. Zum anderen ver­ weisen sie auf Probleme, die mit dem Mehrebenenkontext (Pluralisierung der Problemlagen) und dem funktionalen Repräsentativitätsverständnis der EU-Kommission einhergehen, beispielsweise wenn die Kommission öffentliche Organisationen dann integriert, wenn diese eine passende Ex­ pertise liefern können. Die Diversität der Akteur*innen, die durch das Format erzielt wurde, wurde gleichwohl auch von einigen Teilnehmenden als Hindernis für das gemeinsame Arbeiten betrachtet. Argumentiert wurde dabei vonseiten der Teilnehmenden, dass die Unterschiede zwischen den Organisationen zu groß seien, um ein gemeinsames Dokument zu erarbeiten. Folglich beste­ hen zwischen dem Kriterium Inklusivität sowohl positive als auch negative Wechselwirkungen. In diesem Sinne kann auf Spannungen zwischen bei­ den Kriterien aufmerksam gemacht werden, da eine vergrößerte Inklusivi­

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

tät Deliberationsprozesse unter den Teilnehmenden potenziell erschwert. Deshalb werden verstärkte Anforderungen an den Prozess und das Format gestellt, um die unterschiedlichen Organisationen in deliberative Prozesse einzubinden. Diese Punkte werden unter dem folgenden Kriterium Deli­ beration nun genauer betrachtet. 6.1.2 Deliberation 6.1.2.1 Ergebnisse der Interviews mit Teilnehmenden der Zivilgesellschaft Die Informationen aus den Interviews mit den Teilnehmenden der Zivil­ gesellschaft werden genutzt, um zu beschreiben, wie diese die Delibera­ tionsprozesse innerhalb der Zivilgesellschaft und mit den Organisator*in­ nen bewerten und welche förderlichen und hinderlichen Aspekte sie dabei wahrgenommen haben. Deliberation zwischen den Teilnehmenden Für die Deliberationsprozesse innerhalb der Zivilgesellschaft identifizie­ ren die Teilnehmenden verschiedene Deliberationshindernisse über die verschiedenen Dialoge hinweg, die sich auf das Format, die Auswahl der Teilnehmenden und die Rolle der EU-Kommission beziehen. Als größtes Hindernis wurde dabei thematisiert, dass die Dauer des Formats als zu kurz empfunden wurde (bei 17 von 33 Teilnehmenden)279. „You know, you had all those people there, but we didn’t had time to discuss the things, that really matter and that could have made an impact. So I think in that sense I felt that there was a potential that was not really taken. And because of the needing more time we didn’t really had time to really talk, to stretch the surface” (Nr. 13, Abs. 18). In diesem Zusammenhang wurde von den Teilnehmenden sehr häufig auch die mit dem Dialog verbundene Zielstellung kritisiert, ein Policy-Do­

279 Interviews Nr. 1, Abs. 26; Nr. 2, Abs. 34; Nr. 3, Abs. 31, 63; Nr. 4, Abs. 10, 14; Nr. 9, Abs. 52; Nr. 10, Abs. 11, 45; Nr. 11, Abs. 29, 69; Nr. 12, Abs. 24; Nr. 13, Abs. 18, 44, 50, 52; Nr. 14, Abs. 19, 87, 91; Nr. 15, Abs. 60, 68, 77f.; Nr. 17, Abs. 60f.; Nr. 21, Abs. 38, 60; Nr. 23, Abs. 23, 68; Nr. 26, Abs. 48; Nr. 27, Abs. 14; Nr. 33, Abs. 77, 78-81.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

kument im Nachgang des ersten Treffens zu schreiben, wie diese Zitate mit einem Vergleich auf das vorherige Format des Dialoges (zivilgesell­ schaftliche Plattformen) verdeutlichen: „Denn es ging darum, einerseits, dass die Brainstorming Session im Grunde genommen ein Policy-Dokument werden sollte, was ein biss­ chen unrealistisch war in Anbetracht, dass man im Vorfeld [im Vor­ gängerformat vor 2013 mit den Plattformen, J. S.] irgendwie oder in den vorherigen Prozessen ein Jahr dafür Zeit hatte und hier sollte das passieren, ja auf einer halbtägigen Sitzung“ (Nr. 1, Abs. 26). „Negativ ist, dass wir uns nie wirklich kennenlernen, das heißt wir treffen uns zweimal, es ist sehr viel frontal teilweise von der Kommissi­ on. Man hört sich das an, man diskutiert schnell, dann trifft man sich ein paar Monate später nochmal und friemelt dann an einem Text, den man dann präsentiert. Aber es ergibt sich relativ wenig durch die Dauer, durch die Dauer ergab sich ein bisschen besserer Kontakt zwischen den einzelnen Player. Das ist jetzt weniger der Fall“ (Nr. 4, Abs. 10). Dabei sprachen sich einige Teilnehmende auch für einen permanenten und dauerhaft stattfindenden Dialog zwischen der EU-Kommission und der Zivilgesellschaft aus: „It should be a process of Brainstorming, a Brainstorming process between civil society actors. I am talking about culture, I am not talking about fields that I don’t know. About culture, there should be an ongoing Brainstorming process, maybe less large, maybe including people but on smaller groups, but there should be money invested by the European Commission to have this permanent contact with the civil society. And you know in real time what are the changes, what are the questions, what are the problems, because if they do that every five years for two months, it makes no sense” (Nr. 15, Abs. 68). Wie bereits unter dem vorhergehenden Kriterium Inklusivität angespro­ chen, wurde der zeitliche Aspekt von den Teilnehmenden insbesondere vor dem Hintergrund der Diversität der Gruppe kritisch thematisiert. Fol­ gendes Zitat soll dies illustrieren: „I said, it was very ambitious, because it was trying to get 35 people in one room to contribute within two and a half hours I think. It half you know basically running voice down to it, of what the time was spent of it. I think that’s probably too short of time, perhaps for that. Espe­

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

cially with various people, from various backgrounds, varied countries, varied backgrounds, varied languages, communication skills” (Nr. 14, Abs. 19). Weitere Hindernisse für Deliberation wurden von den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft in den Methoden und der Terminologie der EU-Kommis­ sion gesehen. Gerade im Zusammenspiel mit der diversen Gruppe und der knappen zeitlichen Bemessung des Formats wurden teilweise zu weit gefasste Fragestellungen der EU-Kommission kritisiert, die deliberative Prozesse und konkrete Lösungen erschwerten (8 Teilnehmende)280. Dies sollen die folgenden Zitate aus unterschiedlichen Dialogen verdeutlichen: „Yes, of course, I prefer the CCI [Dialog III, J. S.] report, because it is more concrete. It’s more focused and although, again it skips this political too much, but at the end of the day it is rather clear, while the report on the culture and migration is for me very loose and does not produce very much. But is not the fault of the people who wrote it, it’s because the group of people who was there is extremely different and even the issue is not clear. If you ask the people around the table, what do you mean by culture and migration, you would have 20 people around the table and 20 different answers. Very difficult to get on that issue of you don’t have some you know more focused orientation” (Nr. 15, Abs. 42). „The group had an enormous broad question that can lead to many answers” (Nr. 20, Abs. 16). „So, it’s almost important to go deep in something, so maybe the area was too wide, because to talk about intercultural dialogue in public spaces is really a wide topic, so maybe it should be narrowed down, because the time was so short, or it could be so wide, but then it should be structured more clear I think” (Nr. 27, Abs. 22). Dabei zeigen die ausgewählten Beispiele, dass die Teilnehmenden ihre Kritik an den weiten Themen- und Fragestellungen damit begründeten, dass diese gute Ergebnisse und einen guten Input der Zivilgesellschaft erschwerten (mithin eine outputorientierte Erklärung).

280 Interviews Nr. 3, Abs. 31; Nr. 10, Abs. 33; Nr. 12, Abs. 70, 74; Nr. 15, Abs. 42; Nr. 17, Abs. 17; Nr. 20, Abs. 16, 43; Nr. 21, Abs. 30; Nr. 27, Abs. 22.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

13 Teilnehmende281, knapp 40 % der Interviewten, hatten in irgendeiner Form Kritik an dem methodischen Ansatz und der verwendeten Termi­ nologie der Kommission; dies betrifft beide Treffen, sowohl die Brainstor­ ming-Session als auch das Dialogue Meeting. Auch wenn sich die Kritik besonders in den ersten beiden Dialogen häufte, wurde sie doch grundsätz­ lich in jedem Dialog geäußert. Kritik entzündete sich dabei zum einen an verwendeter Terminologie, zum anderen auch an den Erwartungen, die mit bestimmten Fragen verbunden wurden (z. B. Nr. 6, Abs. 17; Nr. 31, Abs. 30), wie die folgenden Zitate aus dem ersten und dem fünften Dialog zeigen: „That was quite tricky because I think many of the participants, in­ cluding myself, actually felt that this was the wrong way of framing the question. Because if you are talking about how digital affects some of those things, there are a lot of other commonalities that actually cross over those. I think that made things actually quite difficult and the whole of those first two days and lot of us that we were sort of very much constrained by answering questions than given the questions anyone wanted. Simply because it was very through the prison of individual art forms and I think it was partly an issue about digital where digital was often framed around technology” (Nr. 6, Abs. 17). „And I think, for me the biggest challenge of the whole process and you know this is reflected in the report, because I am one of the people who wrote it, but there was an assumption from the European Com­ mission and facilitator which is present in the questions, that were asked, that the work is built around this thing called integration and that therefore it’s the cultural work has to happen with the refugees and the migrants themselves (…). And I wasn’t the only person who said this, it was reflected quite widely through the group of practition­ ers” (Nr. 31, Abs. 30). Insbesondere bei dem zweiten Dialog (Participatory Governance of Cultural Heritage, 2015) häufte sich Kritik an der Methodik der EU-Kommission von den Teilnehmenden, da der Titel bereits das Adjektiv partizipativ ent­ hält. Dies soll in folgendem Beispiel verdeutlicht werden:

281 Interviews Nr. 2, Abs. 8, 10; Nr. 6, Abs. 17, Nr. 7, 38; Nr. 8, Abs. 10; Nr. 9, Abs. 60; Nr. 10, Abs. 11, 45; Nr. 11, Abs. 29, 31; Nr. 12, Abs. 24; Nr. 13, Abs. 18; Nr. 21, Abs. 38, 82; Nr. 22, Abs. 31-34; Nr. 24, Abs. 32; Nr. 31, Abs. 26; Nr. 31, Abs. 30.

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

„That we expected, that it will be really participatory, that it will be exchange of ideas and so on. And it was more structured in a way of questions and you know collecting answers from us“ (Nr. 8, Abs. 10). Als Hindernis für einen gegenseitigen Austausch und eine gemeinsame Problemlösung erwiesen sich die von der EU-Kommission und dem Goethe-Institut gewählten Methoden auch, weil sie mit der Arbeitsweise des Kultursektors kollidierten, wie folgendes Zitat beschreibt: „Man kann, also wenn Sie solche Sachen machen mit Kulturleuten, dann müssen Sie deren Mindset, sie müssen das kennen und sie müssen damit umgehen können. Weil die können ihnen so einen Veranstaltung und so eine Initiative, die können ihnen das kaputt ma­ chen. Weil die einfach nicht dieses strukturierte Arbeiten und dieses zielorientierte Arbeiten, das ist oft gar nicht auf deren Agenda, ach, die agieren da einfach anders“ (Nr. 7, Abs. 38). In diesem Zitat wird unter dem Begriff „Mindset“ die unterschiedliche Herangehens- und Arbeitsweise der zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen im Kulturbereich und der EU-Kommission (Verwaltung bzw. politischen Entscheidungsträger*innen) beschrieben.282 Ähnlich fasst es auch das Zitat aus einem anderen Dialog: „So for us that Structured Dialogue wasn’t structured at all. They had no clue about how to handle a group of really progressive creative practitioners, because they have chosen really strong people, with hard background, with a lot of knowledge and experience and they couldn’t let us. My group was fighting with them all the time. We fight about the process, they approached and we broke it down. We said we are not gonna follow it. (…) Yeah, we broke the process, we didn’t follow it, because it had no sense. So we started, like we developed in few groups and we decided to discuss what they gave us and we said, not that doesn’t make sense, so then we started to create our own methodology” (Nr. 2, Abs. 8-10). Zudem wurde auch der Vorwurf an die EU-Kommission geäußert, dass diese zu wenig inhaltliche Steuerung auf den Treffen übernimmt. Eine andere Teilnehmerin beschreibt dies folgendermaßen:

282 Ein Teilnehmender hat diesen Konflikt über die methodische Herangehenswei­ se zwischen den Teilnehmenden und den Organisator*innen auch als konstruk­ tiv und befruchtend empfunden (Nr. 12, Abs. 24, 26).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

„Die EU-Kommission hat tatsächlich gesagt, ihr seid hier um miteinan­ der zu reden, also eigentlich war der Tenor mehr, wir geben euch die Möglichkeit miteinander zu reden und dann möchten wir, dass ihr daraus einen Report macht. Also, was ich damit sagen will, ist, dass es wenig Leitung gab, sozusagen inhaltliche Leitung oder auch so nen, wir möchten gern, dass ihr spezifisch darüber redet oder wir haben Fragen zu diesem Punkt. Sondern es war relativ allgemein gehalten und tatsächlich uns auch mehr überlassen, wie wir dieses Thema jetzt angehen und welche Punkte wir für wichtig halten oder eben auch nicht“ (Nr. 24, Abs. 32). „I think they wanted to keep hands off you know and not influence for the direction in any way. But I’d say they wouldn’t have had to stay there all day, just to be there in the beginning and so get input and there were an awful questions raised and the people there couldn’t really answer them on behalf of the European Commission” (Nr. 14, Abs. 38-40). Deliberation mit Vertreter*innen der EU-Kommission Insbesondere auf dem zweiten Treffen, dem Dialogue Meeting, hatten die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zum Dialog mit Vertreter*innen der EU-Kommission. Dabei wurde der Austausch mit der EU-Kommission sehr unterschiedlich bewertet – teilweise sogar von Teil­ nehmenden desselben Dialoges. 16 Teilnehmende haben sich positiv über den Austausch und Dialog mit der EU-Kommission geäußert.283 Dabei wurde besonders der direkte Austausch und Dialog gelobt (z. B. Nr. 3, Abs. 47; Nr. 13, Abs. 28). Zudem wurden die Vertreter*innen der Kom­ mission als sehr engagiert und offen wahrgenommen.284 Positiv gewertet wurde zudem von Teilnehmenden, dass Vertreter*innen höherer Hierar­ chieebenen der EU-Kommission (Nr. 7, Abs. 62; Nr. 12, Abs. 14; 42, Nr. 19, Abs. 25) oder auch von anderen Generaldirektionen (Nr. 28, Abs. 36) zu dem Treffen mit den zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen erschienen

283 Interviews Nr. 3, Abs. 47; Nr. 13, Abs. 28; Nr. 5, Abs. 88; Nr. 7, Abs. 62; Nr. 12, Abs. 14; 42, Nr. 19, Abs. 25; Nr. 10, Abs. 25; Nr. 14, Abs. 63, 64f.; Nr. 15, Abs. 48; Nr. 17, Abs. 34; Nr. 16, Abs. 54; Nr. 28, Abs. 36; Nr. 19, Abs. 25; Nr. 29, Abs. 89; Nr. 31, Abs. 40ff.; Nr. 33, Abs. 45. 284 Nr. 5, Abs. 88; Nr. 19, Abs. 25; Nr. 29, Abs. 89, Nr. 31, Abs. 40ff.; Nr. 33, Abs. 45.

254

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

waren.285 Der positive Austausch mit der EU-Kommission wurde von Teil­ nehmenden der Zivilgesellschaft beispielsweise darin gesehen, dass die EU-Kommission vorstellte, was sie in ihren Arbeitsbereichen aktuell zu dem Thema des Strukturierten Dialoges erarbeitete, wie folgende Beispiele zeigen: „Yes, and I remember that at the time they announced then that the horizon 2020 for instance program would have included the participa­ tory governance of cultural heritage subject. So, that was interesting, that was useful for people like me also working on European projects and on writing applications. That it was useful to know. So, you have some insights, some fresh news from the EC. You talk to them, they talk to you. And it is and encounter, but I mean it cannot be more than that. So, you receive fresh information, which is always good and useful. I think it cannot be more than that actually. It would be difficult for it to be more than that” (Nr. 10, Abs. 25). „I think in the end we really got the idea also from the people from the European Commission, because they were very appreciative of the work, we did. They really listened, they invited people from all the other DGs, these people came. I really got the impression, that people listened to us” (Nr. 29, Abs. 59). Die Teilnehmerin dieses letzten Zitates begründete das Interesse der Ver­ treter*innen der EU-Kommission damit, dass der Bericht der Zivilgesell­ schaft sehr konkret, praktisch und „hands-on“ geschrieben sei und in die „Sprache der politischen Entscheidungsträger*innen übersetzt“. Dieser Bericht wurde (als einziger) von der zuständigen OMK-Arbeitsgruppe in den Anhang ihres eigenen Berichtes gesetzt. Die Teilnehmerin, die in die Erstellung dieses Berichtes eingebunden war, beschreibt die Zufriedenheit der EU-Kommission mit dem Bericht folgendermaßen: „I think what they appreciated, also I think, what it is, it’s just, that we didn’t just write a report with points and abstract things, we always linked it to existing projects, good and bad examples. (…) So, it was very very practical. It was not abstract at all, it was just taken from real 285 Dies war dieser Teilnehmerin wichtig, da der Kulturetat der EU-Kommission – verglichen mit anderen Bereichen – sehr gering ist und hier der Austausch mit anderen Generaldirektionen mehr Wertschätzung (auch in Form einer Er­ höhung der Fördertöpfe) für die Leistung der Kultur erbringen sollte (Nr. 28, Abs. 36).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

life examples, that we thought were representative for what was going on in Europe now and I think it made it also very readable but also very concrete, you know, very hands-on, it was really very clear what we meant and there were links to existing projects, so everyone who read the report could immediately go looking at these projects to really understand what we were talking about and it was not that long, it was quite short the report I think, very hands-on, divided in these three parts on impact, on the reasons why impact and measuring, measuring projects, so and it was full of very concrete recommendations, that were short and understandable and I think that’s why it was , yeah, it was easy to read and very easy to take the big points out of it. So, I think, that’s why they were so positive, because we wrote it for them. (…) It was really written with the idea of being a document to be read by policy makers, that’s what we tried to do” (Nr. 29, Abs. 61). Allerdings haben nicht alle Teilnehmenden der Zivilgesellschaft den Aus­ tausch mit der EU-Kommission positiv bewertet. 11 Teilnehmende, circa ein Drittel, haben den Austausch negativ bewertet: Häufig wurde in die­ sem Zusammenhang der Dialog als einseitig empfunden.286 Dabei wurde von diesen Teilnehmenden kritisiert, dass es nicht zu einem „wirklichen“ Dialog kam, sondern die Vertreter*innen der EU-Kommissionsvertreter es als einen Dialog betrachteten, wenn sie ihre Arbeitsbereiche und den Arbeitsstand präsentierten (Nr. 6, Abs. 29, 31; Nr. 21, Abs. 60). In diesem Sinne wurde auch eine fehlende Wertschätzung der EU-Kommission für die ehrenamtliche Arbeit der zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen bei der Erstellung des Policy-Berichts kritisiert (Nr. 7, Abs. 80, 82, 84; Nr. 14, Abs. 31; Nr. 17, Abs. 60; Nr. 30, Abs. 25). Eine Teilnehmerin (Nr. 7, Abs. 82) verwies in diesem Zusammenhang auf die Reaktion der EU-Kom­ mission, dass aus den Ausschreibungsunterlagen für die Dialoge hervor­ geht, dass dieser Aufwand ehrenamtlich zwischen den beiden Treffen von den Teilnehmenden erbracht werden muss.

286 Interviews Nr. 2, Abs. 12, 40; Nr. 5, Abs. 24; Nr. 6, Abs. 29, 31; Nr. 7, Abs. 62, 80, 82, 84; Nr. 8, Abs. 10, 12, 18, 26; Nr. 14, Abs. 31, 87, 89; Nr. 17, Abs. 44, 60; Nr. 21, Abs. 60; Nr. 23, Abs. 43, 45; Nr. 29, Abs. 45; Nr. 30, Abs. 25, 27; Nr. 31, Abs. 16, 31, 57f.

256

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Zusammenfassung und Interpretation Insgesamt zeigen sich in den Interviews über alle Dialoge hinweg viel­ fältige Deliberationshindernisse für die Arbeitsweise der Teilnehmenden untereinander, die von vielen Teilnehmenden beschrieben werden. Diese Hindernisse sind vor allem mit der zeitlichen Begrenzung, der Diversität der Gruppe und Kritik an der Methodik der EU-Kommission verbunden, die es ihnen erschwerten, einen Bericht zu verfassen. Die Kritik der Teil­ nehmenden an den Deliberationshindernissen erfolgte häufig vorrangig outputbezogen, um ein möglichst qualitativ hochwertiges Ergebnis ihrer Beratung erreichen zu können. Wesentlich seltener wurde die Kritik in­ putbezogen, d. h. über eine Art und Weise der Einbeziehung in die Willensbildung, begründet (wie bei Nr. 8, Abs. 10). Als hinderlich wurde weiterhin von einigen Teilnehmenden die zurückgenommene inhaltliche Leitungs- und Steuerungsrolle der EU-Kommission empfunden, um eine gemeinsame Problemlösung und gegenseitiges Lernen zu befördern. Über den Austausch mit der EU-Kommission liegen sehr gegensätzliche Bewertungen der Teilnehmenden vor: Während einige der Teilnehmen­ den diesen Austausch als sehr offen und engagiert bezeichneten, nahmen andere ihn als sehr einseitig war. Dabei bleibt grundsätzlich festzustellen, dass es sich auch bei dem positiv bewerteten Austausch der Teilnehmen­ den mit der EU-Kommission nicht unbedingt oder nur selten um Delibe­ ration im Sinne einer gemeinsamen Problemlösung handelt. Positiv wur­ den dabei von den Teilnehmenden eher die speziellen Erkenntnisse zur EU-Kommission oder zu Programmen genannt, die einen persönlichen Nutzen für diese Teilnehmenden hatte. Kritik am Dialogverständnis der EU-Kommission entzündete sich stärker an Deliberation im Sinne eines gemeinsamen Argumentierens, bei dem die EU-Kommission keinen fakti­ schen zweiseitigen Dialog ermögliche. Eine Teilnehmerin beschrieb die unterschiedliche methodische Arbeits­ weise zwischen der EU-Kommission und den zivilgesellschaftlichen Teil­ nehmenden mit einem unterschiedlichen „Mindset“ zwischen dem Kultur­ sektor und der EU-Kommission. Diese Beschreibung erscheint dabei als hilfreich, um die Kritik von Teilnehmenden an dem methodischen Ansatz der EU-Kommission einzuordnen. Zudem bietet sich diese Sichtweise an, um die positive Reaktion der EU-Kommission und der Arbeitsgruppe der OMK auf den Policy-Bericht des fünften Dialoges zu erklären.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

6.1.2.2 Ergebnisse der Interviews mit Organisator*innen In diesem Kapitel werden die Zielstellungen beschrieben, die die Organi­ sator*innen mit dem Strukturierten Dialog und dem Austausch mit der Zivilgesellschaft verbunden haben. Dabei wird herausgearbeitet, welche Hindernisse die Organisator*innen bei den deliberativen Prozessen zwi­ schen und mit der Zivilgesellschaft wahrgenommen haben. Deliberation zwischen den Teilnehmenden Die Interviews mit den Organisator*innen zeigen, dass diese Deliberations­ prozessen zwischen den Teilnehmenden eine hohe Priorität zuschreiben, da diese Prozesse die Qualität des Ergebnisses – des Policy-Berichts – stei­ gern: „But overall speaking, I really think that it’s the dynamics within the group that makes a difference, the way they engage, the way they really they’re able to engage in a conversation among themselves even before engaging with us” (Nr. 34, Abs. 89). Dabei möchte die EU-Kommission selbst wenig steuernd in diese Diskussi­ on zwischen den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft eingreifen, um ein möglichst gering kanalisiertes und authentisches Ergebnis aus dem Kultur­ sektor in dem Policy-Dokument zu ermöglichen und den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft die Chance zu geben, möglichst frei untereinander zu diskutieren. Dies soll mit den folgenden beiden Zitaten veranschaulicht werden: „And as we went into the process we realised that the European Com­ mission wanted something well more coming from the participants because it’s their voices that they want to hear and that they told us if we wanted a paper done by an expert we would have done so and we don’t want them to channel the discussion and we don’t want them to feel that its channelled by the experts, so we had to in a sense that the experts were not as much needed as we thought it would be in the beginning of the process” (Nr. 34, 87). „(…) the two first Brainstorming Sessions, the European Commission was not present because the European Commission felt that their presence would too much channel the discussions or would be too much of a Dialogue Meeting basically. And people could maybe not

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

speak freely or that it was not the point of the Brainstorming Session and we still agree with that. That the European Commission should not be there through the whole time. But that they should be at least present at the beginning to explain the process and what is expected from the participants and why we were doing this” (Nr. 35, Abs. 63). Auch vonseiten der Organisator*innen wurden deliberationshinderliche Aspekte des Formates bzw. der Organisation der Dialoge reflektiert, die ihnen von den Teilnehmenden zurückgemeldet wurden. Darunter verstan­ den sie insbesondere die hohe Diversität der Teilnehmenden (die sich vorher nicht kannten) und die knappe zeitliche Bemessung des Formats (Nr. 34, Abs. 32). Sie sahen dieses Problem besonders stark in den ersten beiden Dialogen: „Yeah, for example for the first two meetings we kind of underestimat­ ed the fact that we only had one day and a half and it’s a really short time, especially when people don’t know each other at all with such a diverse group and we put a little bit too much pressure I think on them to produce something out of one day and a half and the process was still not very clear of them” (Nr. 34, Abs. 32). „Because that was also a feedback that we received from the first two Brainstorming Sessions that everybody had so many good or even bad practises to share and they didn’t feel there was enough time to discuss these and unfortunately one day and a half is not a lot, so this is also way to try to provide this information to other participants” (Nr. 35, Abs. 34). Dabei wurde insbesondere von den Organisator*innen betont, dass es sich bei dem neuen Format um einen konstanten Lernprozess handelte (Nr. 35, Abs. 28, 87). Die Organisator*innen versuchten auf die Deliberationshin­ dernisse durch organisatorische und kommunikative Veränderungen ein­ zugehen: Um für die Diskussion unter den Teilnehmenden auf dem ersten Treffen eine bessere gemeinsame Grundlage zu ermöglichen, wurden die Informationen, die die Teilnehmenden bei ihrer Bewerbung aus ihrem Netzwerk generiert haben, zu Merkblättern zusammengeführt, die die Teilnehmenden dann vor dem Treffen erhalten hatten (Nr. 34, Abs. 22; Nr. 35, Abs. 32). „Then a key expert is doing report from all these answers received and then we send it well in advance the group, so that they get an idea of ok what is the position of the group a little bit, or ok, I dont really

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

agree with that point or what did they mean or because everybody is very focused on their sector, so it’s a very good input for them to see what the other sectors have to say and maybe see things in a different way. So that helped a lot, this Brainstorming paper, summary paper, and we usually try to use it during the Brainstorming Session” (Nr. 35, Abs. 32). Zudem haben die Organisator*innen nach dem zweiten Dialog auch sprachliche Veränderungen vorgenommen, um den Druck der Teilneh­ menden der Zivilgesellschaft etwas abzumildern, ein gemeinsames PolicyDokument zu erarbeiten. In diesem Sinne wurde beispielsweise dieses Policy-Dokument umbenannt von „Brainstorming report“ zu „summary“ oder „key messages“. Die Organisator*innen begründen die sprachliche Änderung folgendermaßen: „We are using key messages, because it was putting way too much pressure on the group to produce something, because of course the participants have very high standards and it’s frustrating for them I think to not have the time and the resources and so on, to really create a report. So we just wanted to say, well it’s the summary of what you have been discussing and it serves as a basis for the Dialogue Meeting so that we can have a basis and it’s not policy recommendations, its key messages basically” (Nr. 35, Abs. 34). Ähnlich begründen sie auch die folgende sprachlichen Neuerung: Statt von „representative“ sprechen sie nun von „participants“, wenn sie sich auf andere Teilnehmende beziehen: „(…) but in terms of words that we were using, we did a lot work in there to avoid misunderstandings and creating to many expectations maybe, for example at the beginning we made, we used the word representative and that created a lot of debate because of course, in which sense can this group be representative of the cultural sector and there we had a lot of remarks about that, that this group has been selected but it can in no way be representative which is normal and we understand the point, it’s just that we have to try do something and even though 35 participants are not enough it’s for logistical reasons as well to have a dialogue with 35 participants is already quite a challenge and we wouldn’t be able to have more in that sense” (Nr. 35, Abs. 34).

260

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Deliberation zwischen den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft und der EUKommission In den Interviews der Organisator*innen erläuterten diese auch die Ziele, die sie mit dem Austausch mit den zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen verbanden. Dieser Austausch war nach Ansicht der Organisator*innen ins­ besondere auf dem zweiten Treffen (Dialogue Meeting) vorgesehen. Das Ziel des Dialoges mit der Zivilgesellschaft definieren sie folgendermaßen: „But it’s really that you meet with people who are really on the ground and they work on these issues and they come to you and they say listen this is my idea, listen this is my priority, listen this is what I would really to see as part of the policy and programs reality. So, the most important thing is to have this exchange, to have this dialogue, to listen to what they need and what they would like to have and to really find a kind of common ground. But the idea of listening and engaging in a dialogue exchanging with them is really what I really find you know super interesting and useful for both sides, I hope” (Nr. 34, Abs. 117). An der Beschreibung des Dialogziels wird ersichtlich, dass der Fokus der Organisator*innen darauf liegt, mit dem Dialog dem Kultursektor die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden. Dies schließt ebenso die Mög­ lichkeit ein, durch den Austausch einen „gemeinsamen Boden“ für weite­ re Handlungen und Maßnahmen zu ermöglichen. Gleichwohl erscheint eine Antwort der EU-Kommission nicht als expliziter Teil des Dialoges. Vielmehr liegt der Fokus des Austauschs der Organisator*innen auf dem Zuhören. Die Organisator*innen haben bereits auf das Problem hingewiesen, durch die hohe Erwartungshaltung der Teilnehmenden Frustration bei diesen zu erzeugen. Allerdings bleibt nach ihrer Ansicht das Ziel des Dia­ loges, eine Verbindung zwischen der EU-Kommission und dem Kultursek­ tor herzustellen, um somit gemeinsam Dinge möglich zu machen. „Because it puts a lot of pressure on the participants and I mean it’s completely normal, seeing that all this participants are giving so much time and efforts into the process and of course when you’re in such a great dynamic with such a diverse group you really want to achieve something, so yeah, we need to be careful to not create too much frustration. Because the aim of this whole process is also build a link between the EC and the cultural sector and to see what we can do together to make things work” (Nr. 34, Abs. 34).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse Die Organisator*innen sehen deliberative Prozesse unter den Teilnehmen­ den der Zivilgesellschaft als wichtig an für die Erstellung des Policy-Doku­ ments und damit für den Output des Dialoges. Sie nehmen ebenso delibe­ rationshinderliche Aspekte im Format (Zeit, Diversität der Gruppe) wahr, auf die sie sowohl organisatorisch als auch kommunikativ reagieren. Das Ziel dieser Maßnahmen liegt grundsätzlich darin, die Erwartungshaltung der Teilnehmenden an den Dialog von und den von diesen wahrgenom­ menen Druck zu mildern. Gleichwohl werden vonseiten der Organisa­ tor*innen nicht die grundsätzliche Struktur des Formates oder verwendete Methoden infrage gestellt, wie dies von einigen Teilnehmenden geschieht. Dies könnte auf die Unterschiede der Arbeitsweise zwischen dem Kultur­ sektor und der EU-Kommission zurückgeführt werden, die eine Teilneh­ mende als Unterschiede im „Mindset“ beschrieben hatte. Insbesondere die Rolle der EU-Kommission bei dem Kriterium Delibe­ ration scheint von der von Joerges und Neyer (1997) beschriebenen abzu­ weichen. Während die EU-Kommission in der Komitologie eine aktive Rolle innehatte, bestimmte – europäische – Lösungen präferierte und so­ mit gemeinsame Lernprozesse unter den Delegierten förderte, erscheint die Rolle der EU-Kommission bei den Aushandlungsprozessen des Struk­ turierten Dialoges deutlich zurückgezogener – Ziel ist hier vielmehr ein „Eigenprodukt“ der Zivilgesellschaft des Sektors, in das von der EU-Kom­ mission möglichst nicht eingegriffen werden soll. Dies zeigt sich auch bei der Beschreibung des Ziels von dem Austausch der Zivilgesellschaft, bei dem der Fokus der Organisator*innen auf dem Zuhören liegt. Diese Sichtweise wird durch die Beteiligungsform Konsultation unterstützt, bei der – im Gegensatz zu den Ausschüssen der Komitologie – keine gemein­ same Entscheidungsfindung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteur*innen vorliegt. 6.1.2.3 Strukturelle Probleme im Kriterium Deliberation und dafür ursächliche Faktoren Sowohl Organisator*innen als auch Teilnehmende identifizierten in den Interviews Hemmnisse des Formats für deliberative Prozesse, gegenseitiges Lernen und die Suche nach gemeinsamen Problemlösungen bei der Inter­ aktion der Teilnehmenden der Zivilgesellschaft. Diese lagen beiden Grup­ pen zufolge hauptsächlich in der Diversität der Teilnehmenden (Span­

262

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

nung mit dem Kriterium Inklusivität) und der knappen zeitlichen Bemes­ sung des Formats. Die Organisator*innen versuchten darauf zu reagieren, indem sie durch organisatorische und sprachliche Veränderungen den Druck auf die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft minderten. Gleichwohl stellten sie nicht die grundsätzliche Struktur der Beteiligungsform infrage. Da die Kritikpunkte von Teilnehmenden aus allen Dialogen genannt wur­ den, d. h. auch nach den Veränderungen durch die Organisator*innen auftraten, wird hier von strukturellen Problemen von Deliberation für die Teilnehmenden gesprochen. Diese werden durch die eben genannten Faktoren Inklusivität der Teilnehmenden und zeitliche Befristung gene­ riert. Hinzu kommen zusätzliche Hemmnisse, die in den Interviews mit Teilnehmenden genannt wurden, die sich auf die Methodik (z. B. zu weit gefasste Fragestellungen) und die Terminologie (z. B. den Fragen unter­ liegende Narrative) bezogen. Auch die Rolle der EU-Kommission selbst wurde von Teilnehmenden als hinderlich bewertet, da diese zu wenig inhaltliche und kommunikative Steuerung übernommen hatte. Diese Be­ schreibung der Teilnehmenden wird durch die von den Organisator*innen beschriebenen Ziele des Dialoges bestätigt. Beide zeigen eine veränderte Rolle der EU-Kommission gegenüber derjenigen, mit der Joerges und Ney­ er (1997) ihre Überlegungen an eine gemeinsame europäische Problemlö­ sung begründeten. Denn dort hatte die EU-Kommission die verschiedenen Möglichkeiten der Beratung reduziert und zugleich eine gemeinsame Pro­ blemlösung befördert. Ebenso zeigen sich Hindernisse der Deliberation in der verschiedenen Arbeitsweise zwischen der EU-Kommission und der Zi­ vilgesellschaft aus dem Kultursektor, die durch die zeitliche Befristung des Dialoges verstärkt werden. Widersprüchlich bleibt gewissermaßen, dass die Teilnehmenden zwar mit dem gegenseitigen Lernen die Zufriedenheit der Teilnehmendenauswahl begründet haben (6.1.1.1), gleichwohl vielfäl­ tige Deliberationshindernisse im Format sehen. Dies könnte damit erklärt werden, dass die Teilnehmenden Deliberationshindernisse stark outputbe­ zogen verbunden haben: In dem Sinne, dass die deliberativen Prozesse aus Sicht der Teilnehmenden trotz der guten Qualität der anderen Teilneh­ menden unter ihren Möglichkeiten blieben. Der Strukturierte Dialog bietet, insbesondere bei dem zweiten Treffen, ebenso potenzielle Anknüpfungspunkte für deliberative Prozesse zwischen Vertreter*innen der EU-Kommission und der Zivilgesellschaft. Dabei wur­ de der Austausch mit der EU-Kommission sehr unterschiedlich von den Teilnehmenden bewertet. Von der Hälfte der Teilnehmenden wurde dieser Austausch als sehr positiv, offen und engagiert bewertet. Auch wenn diese positive Einschätzung sicherlich förderlich für den Aufbau

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

von gegenseitigem Vertrauen zwischen diesen Teilnehmenden und der EU-Kommission ist, scheint es sich dabei nur sehr begrenzt um delibera­ tive Prozesse zwischen den Beteiligten zu handeln. Vielmehr erhielten die Teilnehmenden Einblicke in die Arbeitsbereiche der EU-Kommission oder neue Förderprogramme. Eben diese Austauschprozesse wurden von einem Drittel der Teilnehmenden als einseitig kritisiert – weil es sich nicht um einen Dialog handelte. Die mit dem Dialog verbundenen Zielstellun­ gen der Organisator*innen bestätigen diese Kritik insofern, als dass sie in ihrer Beschreibung der Ziele des Austausches mit der Zivilgesellschaft den Fokus auf das Zuhören legen. In diesem Sinne scheinen insgesamt bei dem Strukturierten Dialog nur in sehr begrenztem Maße solche Deli­ berationsprozesse, wie bei Joerges und Neyer (1997) in der Komitologie beschrieben, möglich zu sein. Es deutet sich ein weiterer Erklärungsfaktor für die strukturellen Deliberationsprobleme an: die Unterschiede der Be­ teiligungsform. Während die Delegierten in der Komitologie mit über das Ergebnis entscheiden, ist der Strukturierte Dialog mit der Kultur rein be­ ratend angelegt. Die Entscheidung verbleibt jedoch bei der EU-Kommissi­ on bzw. den OMK-Gruppen. Die Beteiligungsform erklärt gewissermaßen auch die stärker zurückgenommene Rolle der EU-Kommission, die den Strukturierten Dialog vorrangig als Informationsquelle zu nutzen scheint. Gleichwohl kann es auch zu deliberativen Prozessen zwischen der Zivil­ gesellschaft und der EU-Kommission bzw. den Gruppen der OMK kom­ men, wie das geschilderte Beispiel aus Dialog V zeigt, bei dem der Bericht von der OMK-Gruppe übernommen wurde. Dieses Beispiel verdeutlicht erneut die unterschiedlichen Arbeitsstile („Mindset“) zwischen den politi­ schen Entscheidungsträger*innen als weiteren Faktor, da eine Verständi­ gungsleistung in die politische Arbeitssprache von den Vertreter*innen der Zivilgesellschaft erbracht wurde. 6.1.3 Verantwortlichkeit Bei diesem Kriterium sind die größten Abweichungen der Perspektiven zwischen Teilnehmenden aus der Zivilgesellschaft und den Organisa­ tor*innen in den Interviews erkennbar. Für eine strukturierte Darstellung wird das Kriterium in die den Unterkriterien Transparenz des Beteili­ gungsprozesses, Berichterstattung der Organisator*innen und Bewertung der Ergebnisse durch die Beteiligten untergliedert.

264

6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

6.1.3.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft Die Informationen der Interviews der Teilnehmenden werden genutzt, um darzustellen, wie sie die Transparenz des Prozesses und die Berichterstat­ tung der Organisator*innen beurteilen sowie die Ergebnisse des Dialoges bewerten. Transparenz des Beteiligungsprozesses 13 Teilnehmende, mehr als ein Drittel, kritisierten die Transparenz des Be­ teiligungsprozesses und kommunizierten die Informationen der EU-Kom­ mission über die weitere Verwendung des erarbeiteten Inputs der Zivilge­ sellschaft, dem Policy-Dokument.287 Dabei beanstandeten die Beteiligten, dass ihnen bei dem ersten Treffen – der Brainstorming Session – nicht klar war, was das Ziel des Dialoges war und wozu sie mit ihrer Expertise beitragen würden. In diesem Zusammenhang fiel den Beteiligten die un­ zureichende Kommunikation der Kommission negativ auf. Insbesondere wurde kritisiert, dass Vertreter*innen der Kommission in den ersten bei­ den Dialogen nicht anwesend waren, um eine Einführung zum Inhalt und Ziel des Dialoges zu geben (Nr. 6, Abs. 27; Nr. 7, Abs. 62, 68, 70; Nr. 9, Abs. 16, 28, 30). „Sie sind in der Tat, also wir hatten beim ersten Treffen war es so, dass die Kollegen sich sehr darüber geärgert haben, dass beim ersten Treffen überhaupt niemand von der Kommission sich blicken ließ. Das war in Florenz damals. Und das war ein großes Ärgernis, weil man das Gefühl hatte, die Kommission will ja was von uns haben, aber hält es nicht mal für notwendig, da selber aufzukreuzen und sich zu und das zu kommunizieren und das war in dem Florenzer Treffen ein ganz großes, das wurde ganz ganz negativ aufgenommen“ (Nr. 7, Abs. 62). Auch wenn die Organisator*innen durch organisatorische und kommuni­ kative Veränderungen darauf reagiert haben, wurde dies ebenso in weite­ ren Dialogen kritisiert, wie folgende Zitate verdeutlichen:

287 Interviews Nr. 6, Abs. 27; Nr. 7, Abs. 62, 68, 70; Nr. 9, Abs. 16, 28, 30; Nr. 10, Abs. 11; Nr. 13, Abs. 12, 58, 60; Nr. 14, Abs. 37, 49; Nr. 17; Abs. 27; Nr. 18, Abs. 104; Nr. 21, Abs. 38; Nr. 24, Abs. 36, 40.

265

6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

„Grundsätzlich war das ein ganz ganz tolles Meeting und auch ein wirklich ertragreiches Meeting mit also so einer sehr aktiven Teilnah­ me von den einzelnen Repräsentanten, da. Grundsätzlich würde ich sagen, nein, aber jetzt so spezifisch bei mir eher schon. Also es hat mich einfach in der Frage gelassen, was wir produzieren, für wen wir produzieren und was am Ende dabei rauskommt. Und klar, wenn man das nicht beantworten kann, dann ist natürlich die Lust da Arbeits­ stunden reinzuinvestieren nicht mehr ganz so groß“ (Nr. 24, Abs. 40). „I think it would have been helpful, had there been more clarity from them at the beginning as to the sort of report which they wanted to receive at the end, but they didn’t do that. I think it should perhaps just a bit stated a bit more strongly, but at the same time I could see that they were anxious not to impose their will and (…) on this as far as they could” (Nr. 31, Abs. 30). Die Unklarheit über den Beteiligungsprozess zeigt sich – stark zugespitzt – darin, dass ein Teilnehmender bei einem Folgetreffen eines sich aus dem Strukturierten Dialog mit der Zivilgesellschaft etablierenden Netzwerkes (Dialog III) nicht wusste, dass dies schon auf Initiative der Zivilgesellschaft entwickelt worden war – und nicht mehr Bestandteil des regulären Prozes­ ses des Strukturierten Dialoges war (Nr. 18, Abs. 108). Im Zusammenhang mit der fehlenden Transparenz im Beteiligungspro­ zess verband sich häufig die Kritik, dass den Beteiligten nicht genau klar war, wie der Strukturierte Dialog mit den Arbeitsgruppen der Offenen Methode der Koordinierung zusammenhing.288 Dies wurde oftmals damit begründet, dass die unzureichende Kommunikation über die beiden Pro­ zesse – die OMK-Gruppen und der Strukturierter Dialog – das Erstellen des Policy-Dokuments erschwert hätte und somit den Impact der Beratung der Zivilgesellschaft gemindert hätte (z.B. Nr. 14, Abs. 14, 16; auch Nr. 17, Abs. 56). Dies soll in den beiden folgenden Zitaten verdeutlicht werden: „Wichtiger war uns dann die Vorstellung bei dem OMC Treffen. Da wurden ja dann beide Reporte nochmal dem Gremium vorgestellt. Aber da gabs im Vorfeld dann auch Diskussionen, warum wir das, wel­

288 Interviews Nr. 2, Abs. 50; Nr. 14, Abs. 14, 16; Nr. 5, Abs. 44; Nr. 7, Abs. 64; Nr. 10, Abs. 61; Nr. 12, Abs. 14, 44; Nr. 13, Abs. 58; Nr. 17, Abs. 56; Nr. 20, Abs. 26, 27f., 30; Nr. 21, Abs. 71, 82; Nr. 23, Abs. 68; Nr. 24, Abs. 12, 34. Für den Dialog IV gab es keine korrespondierende OMK-Arbeitsgruppe, dies war beispielsweise einem Teilnehmenden überhaupt nicht klar (Nr. 26, Abs. 66).

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

che Rolle eigentlich diese OMC Leute spielen, dass wir denen einen Report präsentieren sollen. Das hätte stärker, mit Sicherheit stärker kommuniziert werden sollen, warum es wichtig ist, die einzubeziehen, weil das einfach viele auch nicht wussten, warum dieses Gremium, ausgerechnet dieses Gremium nun wichtig wäre“ (Nr. 7, Abs. 64). „Well what I would recommend is to clarify the position of the action for culture group in the OMC processes. I think now you have two more or less parallel processes, which you could consider is, put action for culture group position in an early stage of the process and then bring it to the OMC group from there further with the OMC group, something like that, cause if you work with two parallel totally pro­ cesses it’s not so clear how one contributes the other” (Nr. 20, Abs. 43). In diesem Zusammenhang wurden von den Teilnehmenden der Zivilge­ sellschaft auch eine bessere Koordination der beiden Gruppen (Nr. 20, Abs. 26, 27f., 30; Nr. 21, Abs. 60) und gemeinsame Sitzungen vorgeschla­ gen (z. B. Nr. 4, Abs. 16; Nr. 5, Abs. 46; Nr. 12, Abs. 60). „Die Schwierigkeit ist auch der Disconnect, der war früher auch da. Zwischen dem Treffen der Vertreter der Nationalstaaten und der Ver­ treter der Zivilgesellschaft, oder cultural operaters. Da gab’s ja auch dieses Split. Faktisch produziert man einen Text, liefert ihn an die Kommission ab und wir wissen alle, was mit Texten passiert. Da kommt nicht viel raus. Wichtiger wäre es wirklich ein Ineinandergrei­ fen der nationalstaatlichen Ebene mit der zivilgesellschaftlichen Ebene strukturell zu verankern, dass die sich wirklich treffen. Es darf nicht nur 5 Kommissionsmenschen oder 7 da vorne sitzen und sich anhö­ ren, was für ein Text geschrieben wurde“ (Nr. 4, Abs. 14). Berichterstattung durch die EU-Kommission Die Bewertung der Berichterstattung erscheint sehr gemischt unter den Teilnehmenden. Positive Darstellungen finden sich in allen Dialogen, insbesondere in dem fünften, in dem dann auch der Bericht der Zivilge­ sellschaft von der zuständigen OMK-Arbeitsgruppe übernommen wurde. Negative Darstellungen finden sich über alle Dialoge verteilt. Einige Teil­ nehmende konnten sich auch gar nicht an die Thematik erinnern und werden deshalb nicht in die Auswertung miteinbezogen.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

Acht Teilnehmende äußerten sich positiv über die Berichterstattung der EU-Kommission, wie der Bericht der zivilgesellschaftlichen Vertreter*in­ nen weiter genutzt wird.289 Ein Teilnehmer des ersten Dialoges verwies beispielsweise darauf, dass die EU-Kommission eine Liste mit den jeweili­ gen Landesvertreter*innen der Arbeitsgruppe der OMK ausgeteilt hatte (Nr. 5, Abs. 40). Zudem wurde das Goethe-Institut positiv genannt, das die Teilnehmenden per E-Mail über die weitere Nutzung des Berichtes informiert hat: In diesem Zusammenhang nannte eine Teilnehmerin aus Dialog II (Participatory Governance of Cultural Heritage) aus dem Jahr 2015 eine E-Mail des Goethe-Instituts circa vom 6. Juni 2016, nach der der Bericht der Zivilgesellschaft als Vorbereitung in eine Kommunikation der EU-Kommission vom 8. Juni 2016 eingeflossen ist und in eine Strategie für internationale kulturelle Beziehungen Eingang gefunden hat (Nr. 14, Abs. 33). Die anderen Teilnehmenden dieses Dialoges haben dies gleich­ wohl nicht erwähnt und konnten sich an diese E-Mail nicht erinnern. Ein anderer Teilnehmender dieses Dialoges beschreibt es folgendermaßen: „To be honest, yes I received some e-mails, but I lost interest, to be ho­ nest. Of course, I was I checked those emails, but after that experience I somehow decided entire process and so on, because of many duties I have, that’s another reason of course, but I decided this will not be my priority” (Nr. 8, Abs. 22). Vier von sechs Teilnehmenden290 aus dem V. Dialog (The role of culture in the inclusion of migrants and refugees, 2016) äußerten sich positiv über die Berichterstattung der Organisator*innen. In diesem Zusammenhang kam der positive Umstand zum Tragen, dass die zuständige OMK-Arbeits­ gruppe bereits den Tag vorher in Brüssel zusammenkam und Vertreter*in­ nen des Strukturierten Dialoges dort teilnehmen und ihren Dialog vor­ stellen konnten. Der Bericht der Zivilgesellschaft wurde auch von den Vertreter*innen der Arbeitsgruppen der OMK sehr positiv aufgenommen und wurde in deren Bericht inkludiert (Nr. 29, Abs. 63), sodass dieser an­ schließend auf der Internetseite der EU-Kommission publiziert, öffentlich zugänglich gemacht und zudem in den entsprechenden Ministerien der teilnehmenden Länder zirkulieren konnte (ebd.). Damit konnten auch die Vertreter*innen der EU-Kommission dann auf dem Dialogue Meeting am

289 Interviews Nr. 5, Abs. 40; Nr. 7, Abs. 64, 78; Nr. 14, Abs. 33, 73, 74-81; Nr. 20, Abs. 30; Nr. 28, Abs. 40; Nr. 29, Abs. 22f.; Nr. 30, Abs. 29, 37; Nr. 31, Abs. 64. 290 Interviews Nr. 28, Abs. 40; Nr. 29, Abs. 22f.; Nr. 30, Abs. 29, 37; Nr. 31, Abs. 64.

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Tag danach auf ein konkretes positives Ergebnis für die zivilgesellschaftli­ chen Vertreter*innen hinweisen. Neun Teilnehmende, über alle Dialoge verteilt, kritisierten hingegen an der Berichterstattung der Organisator*innen, dass die EU-Kommission und das Goethe-Institut nach dem zweiten Treffen die Teilnehmenden nicht weiter darüber informierten, wie der Bericht der Zivilgesellschaft anschlie­ ßend im politischen Entscheidungsprozess genutzt wurde, beispielsweise in Programmen der EU-Kommission.291 Dabei wurde von einer Teilneh­ menden kritisiert, dass der ehrenamtliche Arbeitsaufwand für die zivilge­ sellschaftlichen Vertreter*innen unverhältnismäßig groß sei, die Berichte zu erstellen – denn die Berichte wurden von den Teilnehmenden eigen­ ständig in der Zeit zwischen dem ersten Treffen (Brainstorming Session) und zweiten Treffen (Dialogue Meeting) erstellt (Nr. 2, Abs. 34, 44).292 „And you now just reminded me that that was one of the last ques­ tions to the European Commission. Ok, we‘ve been spending like I don’t know how many months working on it, discussing it and what now? And they were really confused, because they had no answer on how to continue this dialogue on how to actually report back to us because after the open meeting where xy [Name anonymisiert, J. S.] I think we had two OMC meetings, where they presented the policy discussion, but after that nothing. We didn’t receive like how it’s integrated, like what was our contribution, so it’s kind of a lost, so this would need like more structure a little bit and further engagement. Because otherwise and for me, what is really important why I consider it’s very important to work on a longer scale with us, because if you develop something on the European level, each of the representatives came from a different country. So the goal should be, that whatever we did on the European level, we should transfer on the local, on the national level. But we weren’t able to do that, because we don’t have a conclusion. So with what should I approach my local community saying ok now this new policy, these are like new directions we should

291 Interviews Nr. 1, Abs. 38, 68, 70, 72; Nr. 2, Abs. 34, 44; Nr. 4, Abs. 38; Nr. 6, Abs. 33; Nr. 13, Abs. 38; Nr. 20, Abs. 24; Nr. 24, Abs. 25, 26, 28; Nr. 26, Abs. 65f., 66, 90; Nr. 33, Abs. 53. 292 Dabei wird erneut die fehlenden (finanzielle) Wertschätzung der Arbeit der Teilnehmenden an dem Bericht ersichtlich (so auch Nr. 7, Abs. 80, 82; 84; Nr. 17; Abs. 16; Nr. 30, Abs. 25, 27; Nr. 5, Abs. 34; Nr. 14, Abs. 23), die die EU-Kommission im Vorhinein nur schlecht kommuniziert hat (Nr. 6, Abs. 25; Nr. 7, Abs. 38).

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

work on, like this is what we did, now can we now like lounge it in Slovenia, work on it” (Nr. 2, Abs. 34). Die Frage, wie die erarbeiteten Empfehlungen von der europäischen auf die nationale Ebene angebunden werden können, wurde auch in anderen Interviews virulent. In einem anderen Zitat wird beispielsweise die Wich­ tigkeit einer ausführlicheren Berichterstattung der EU-Kommission damit begründet, dass die weitere Verwendung des Berichts der Zivilgesellschaft für die Kontaktaufnahme des Ministeriums in dem Mitgliedstaat Sloweni­ en hilfreich wäre. „We haven’t. We didn’t get a feedback from the European Commis­ sion how our recommendations were integrated into the further poli­ cy or what will be done. Ok, but they had, xy [Name anonymisiert, J. S.] had OMC meeting, they were so pleased with the policy recom­ mendations like they even responded to her that they never thought that they would get so much and so much in-depth that where we would go would deep into it. But then, I mean if were going deep into it just say ok what’s gonna be done in second third level etc. So we know what to do. So I was lacking the direction, ok like, because I pointing it out like in Slovenia to get a dialogue with our ministry of culture or to get a dialogue with our film funds etc. it’s so hard, like all the doors are closed. I said that I have sent I don’t know how many emails and letters pointing out that I am requesting for a dialogue and I never got and the EC responded that one of the most active in the dialogue between like the side that is of the most active is the Slovenian body. So I said but how is this possible? Like Slovenien governmental institution, like the ministry of culture doesn’t speak with the Creative practitioners. So I was lacking the direction, ok like, because I pointing it out like in Slovenia” (Nr. 2, Abs. 44). Zudem deutete eine Teilnehmerin an, dass die fehlende Berichterstattung über die weitere Verwendung des Berichts darauf hinweist, dass die Kon­ sultation der Zivilgesellschaft durch die EU-Kommission vorrangig dem Zwecke einer Formalität dient: „Wir haben überhaupt keine Rückmeldung darüber, was mit diesem Text dann tatsächlich, was es tatsächlich bewirkt hat, wer ihn gelesen hat, was sie davon gedacht, also wirklich, nichts, gar nichts. Es wurde abgehakt“ (Nr. 4, Abs. 38).

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Bewertung der Ergebnisse des Strukturierten Dialoges durch die Teilnehmenden Auch die Einschätzung der Ergebnisse des Strukturierten Dialoges variierte sehr unter den Teilnehmenden. Da sich nicht alle der Teilnehmenden dazu geäußert haben und andere zudem sehr verschiedene Aspekte ge­ nannt haben, wird bei diesem Unterkriterium von Häufigkeitsangaben abgesehen. Vielmehr sollen verschiedene Perspektiven der Bewertung des Strukturierten Dialoges durch die Beteiligten aufgezeigt werden. Auch wenn ein Bericht der zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen (The role of culture in the inclusion of migrants and refugees, 2016) von der zustän­ digen OMK-Arbeitsgruppe übernommen wurde (z. B. Nr. 29, Abs. 45), wurde in vielen Interviews der Teilnehmenden darauf hingewiesen, dass der Strukturierte Dialog keine klaren und konkreten Ergebnisse gebracht hat bzw. hat bringen können. Die Begründungen dafür variierten unter den Teilnehmenden. Einige begründeten es mit dem Ziel der Beratung, dem Austausch mit der EU-Kommission, das zum einen die Erwartun­ gen einer konkreten Umsetzung dämpft (Nr. 18, Abs. 68; Nr. 19, Abs. 27; Nr. 33, Abs. 89) und sich zum anderen an vielen verschiedenen Stellen der politischen Entscheidungsfindung niederschlägt (Nr. 1, Abs. 22; Nr. 10, Abs. 27; Nr. 23, Abs. 41; Nr. 25; Abs. 10). Zudem wurde darauf hingewie­ sen, dass es auch einer gewissen Zeit bedarf, damit sich die Ergebnisse des Strukturierten Dialoges in konkreten Ergebnissen niederschlagen kön­ nen (Nr. 3, Abs. 71; Nr. 11, Abs. 70; Nr. 21, Abs. 38). Dieser Bedarf an Zeit wurde teilweise mit der bestehenden Entscheidungsstruktur, d. h. den geringen Kompetenzen der EU-Kommission im Kultursektor (Nr. 23, Abs. 37; Nr. 28, Abs. 23f.), dem geringen Stellenwert des Themas Kultur in der EU-Kommission (Nr. 28, Abs. 22) und der Schwierigkeit verbunden, die Empfehlungen der europäischen Ebene auf der nationalen und lokalen Ebene angemessen umzusetzen (Nr. 4, Abs. 46, Nr. 6, Abs. 31, 33; Nr. 10, Abs. 23; Nr. 27, Abs. 12; Nr. 31, Abs. 61). Gleichwohl wurde von zwei Teil­ nehmenden auch gerade die Wichtigkeit darin gesehen, dass diese Projek­ te als „Druckmittel“ für nationale Regierungen anzusehen sind (Nr. 18, Abs. 68; Nr. 26; Abs. 66), wie folgendes Beispiel verdeutlicht: „Aber abgesehen davon, dass die Kommission natürlich nichts davon umsetzt oder sagen wir es mal so, oder man nicht direkt nachvollzie­ hen kann, was dann einfließt in den ganzen Kommissionsprozess, dass Papiere oder auch solche Initiativen gut sind, weil dann in den Mitgliedsländern Organisationen darauf hinweisen können und sagen Mensch, schaut’s euch das mal an, sogar die Kommission spricht da­

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

rüber, versucht das umzusetzen und wir brauchen das auch und das sind dann schon gute Instrumente“ (Nr. 18, Abs. 68). Zudem wurde in Interviews der Beteiligten darauf hingewiesen, dass sich die Ergebnisse des Strukturierten Dialoges in Programmen der EU-Kom­ mission, beispielsweise in geänderten Prioritäten, niederschlagen (Nr. 10, Abs. 23; Nr. 14, Abs. 69; Nr. 23, Abs. 41; Nr. 31, Abs. 58). Neben solchen politischen Ergebnissen wurden die Ergebnisse der Dia­ loge von den Teilnehmenden darin gesehen, persönliche Netzwerke für weitere Projekte aufzubauen.293 Eine Teilnehmerin sah darin sogar den größten Mehrwert des Dialoges (Nr. 7, Abs. 80). Im Fall des III. Dialoges (Developing the Entrepreneurial and Innovation potential of the Cultural and Creative Sectors, 2015) hat sich beispielsweise aus der Mehrheit der Teil­ nehmenden der Zivilgesellschaft ein Lobbying-Netzwerk ohne externe Fi­ nanzierung herausgebildet (Nr. 7, Abs. 42, Nr. 4, Abs. 38; Nr. 15, Abs. 18 ; Nr. 17, Abs. 17, 24-29; Nr. 18, Abs. 61-66; Nr. 20, Abs. 18). Dabei wollten die Teilnehmenden die Ziele des Strukturierten Dialoges weiter vorantrei­ ben, wie folgendes Zitat beschreibt: „Aber ich muss auch sagen, aus der Kreativwirtschaft ist in der Tat etwas Tolles entstanden, weil da hat sich jetzt eine kleine Gruppe von fünf, sechs Einrichtungen, darunter auch wir, zusammengefunden, die jetzt europäisches Lobbying anfangen wollen, bzw. wir haben eine eigene Initiative dazu jetzt aus dieser Voices of Culture Initiative gegründet, die wir auch jetzt verortet haben. Wir haben also sogar jemand, der da für uns arbeiten wird. Wir haben da sogar Geld aufge­ trieben und da ist etwas entstanden für die Beteiligten, für einige der Beteiligten, nämlich die, die sich weiter engagiert haben, wo ich sage, also da ist was richtig Gutes draus entstanden“ (Nr. 7, Abs. 42). Zusammenfassung und Interpretation Die Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft machen auf Transparenzprobleme des Beteiligungsprozesses aufmerksam, die diese häufig mit der unklaren und unzureichenden Kommunikation der EUKommission und der Entscheidungsstruktur im Politikfeld (die OMK-Ar­ beitsgruppen) begründen. An dieser Stelle zeigt sich erneut der Faktor 293 Interviews Nr. 2, Abs. 14; Nr. 8, Abs. 14; Nr. 10, Abs. 31; Nr. 14, Abs. 55; Nr. 27, Abs. 51f.; Nr. 28, Abs. 44; Nr. 29, Abs. 81; Nr. 30, Abs. 37; Nr. 33, Abs. 89.

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

des Mehrebenensystems, der die Transparenz der Beteiligungsprozesse und auch eine Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse erschwert. Die Berichterstat­ tung der EU-Kommission wird von den Teilnehmenden sehr unterschied­ lich bewertet, wobei selbst Teilnehmende innerhalb eines Dialoges sehr verschieden darüber berichten. Die Information über die Mitteilung der EU-Kommission über eine internationale Kultur-Strategie wurde nur von einer von acht Teilnehmenden des Dialoges ins Spiel gebracht. Daran zeigt sich zum einen die Subjektivität der Bewertungen der Teilnehmen­ den, zum anderen jedoch auch die Schwierigkeit, die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft über weitere Entwicklungen zu informieren. Vielleicht sollten hier andere Kommunikationswege (z. B. eine zentrale Internetseite) gewählt werden. Gleichwohl lässt sich daran bereits ablesen, dass die Rück­ bindung der Ergebnisse an eine größere (Medien-)Öffentlichkeit äußerst unrealistisch bleibt, da schon die in den Prozess involvierten Teilnehmen­ den die weitere Verwendung im politischen Entscheidungsprozess als ab­ strakt empfinden. Allerdings ist die Anbindung des Strukturiertes Dialoges an die Arbeits­ gruppen der OMK kein „neues“ Problem: Bereits in dem Evaluationsbe­ richt der externen Forschungsagentur Ecorys wurde bei dem alten Format die Verbindung des Strukturierten Dialoges mit der Zivilgesellschaft mit den Gruppen der OMK kritisiert, wobei hier besonders eine fehlende Effizienz des Outputs für die OMK-Gruppen hervorgehoben wurde (vgl. Ecorys 2013: 85). Aus Sicht der Interviews der Beteiligten ist dies mit dem neuen Format nur unzureichend verbessert worden. Die Bewertung des Ergebnisses des Dialoges zeigt auch, wie schwer die Nachvollziehbarkeit der Beteiligung und der Ergebnisse für die Teilneh­ menden der Zivilgesellschaft im europäischen Kontext ist – auch wenn sich andere positive Effekte durch Netzwerke und persönliche Erfahrun­ gen für die Beteiligten ergeben (Letzteres im Sinne eines normativen Parti­ zipationsverständnisses). 6.1.3.2 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen Die Interviews mit den Organisator*innen werden genutzt, um zu beschrei­ ben, wie diese die Transparenz des Prozesses bewerten, welche Vorstellungen sie über die Berichterstattung der Ergebnisse und ihrer weiteren Verwen­ dung haben und wie sie die Ergebnisse des Strukturierten Dialoges bewerten.

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

Transparenz des Beteiligungsprozesses Ein Ziel des neuen Formats des Strukturierten Dialoges war es, eine besse­ re Verbindung zu den Arbeitsgruppen der OMK herzustellen und somit die Transparenz des Prozesses zu erhöhen. Dies sollte durch die themati­ sche Wahl der Dialoge in Übereinstimmung mit den Arbeitsgruppen der OMK gewährleistet werden (Nr. 34, Abs. 2, 4f.). „There is an important element you might be aware of but it’s impor­ tant and I stress it, that there is a very strong link between the themes of the SD and the themes of the OMC groups, so usually what we have is a SD that reflects and mirrors the topics of OMC groups and the results of the dialogue with the cs usually fits into the work of the OMC group. How? Because usually there is a report which is done by the SD and the key messages of this report” (Nr. 34, Abs. 4f.). In den Interviews mit den Organisator*innen wurden keine starken Män­ gel der Transparenz des Beteiligungsprozesses thematisiert. Allerdings wur­ den – bedingt durch das neue Format – durchaus Anfangsschwierigkeiten in unterschiedlichen „Erwartungen“ der Teilnehmenden und der Organi­ sator*innen wahrgenommen (Nr. 35, Abs. 28). Die Organisator*innen re­ agierten darauf, indem sie versuchten, den Druck von den Teilnehmenden etwas abzumildern, beispielsweise durch sprachliche (von „Brainstorming report“ zu „Summary“ oder „key points“, Nr. 35, Abs. 32) oder organisato­ rische Veränderungen: Beispielsweise waren ab dem III. Dialog (Developing the Entrepreneurial and Innovation potential of the Cultural and Creative Sector, 2015) Vertreter*innen der EU-Kommission zu Beginn der Brainstor­ ming Session anwesend und gaben eine kurze Einführung zum Inhalt und Ziel des Dialoges (Nr. 35, Abs. 63). Berichterstattung durch die EU-Kommission In dieser Hinsicht verweisen die Organisator*innen darauf, dass sie das Ma­ terial, die Ergebnisse und die Eindrücke mit den Teilnehmenden teilten und öffentlich machten, wie diese Zitate zeigen: „We share the impressions, we share the outcomes, that’s for sure, (…) all the material will be online in any case sooner or later because just like the report for the SD then you get the reports and the handbooks for the different OMC groups, so you get all this information pub­ lished in any case, I mean everything goes public” (Nr. 34, Abs. 79).

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Die Organisator*innen verweisen darüber hinaus darauf, dass sie für eine weitere Aufbereitung der Ergebnisse oder weitere Anstrengungen in dieser Hinsicht generell nicht die ausreichenden finanziellen Ressourcen haben (Nr. 35, Abs. 83). Die Frage nach der weiteren Verwendung des Inputs der Zivilgesell­ schaft ist aus Sicht der Organisator*innen relativ leicht zu beantworten. Denn der eigentliche Kernprozess – und damit auch das wesentliche Ziel des Dialoges – ist mit der Erstellung des Berichts der Zivilgesellschaft und dem Dialogue Meeting beendet: „The aim of the dialogue meeting is really for European Commission to hear what the sector has to say. It‘s really the outcome of the whole Voices of Culture process“ (Nr. 35, Abs. 71). Eine Aufklärung über eine weitere Verwendung ist aus Sicht der Organisa­ tor*innen schwierig, da es nicht mehr in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. „They [civil society, J. S.] ask usually ask this question during the Dia­ logue Meeting, say ok so what is going to happen with our outcome and the output? And the answer from the EC, since the EC is present is usually, well you can present it at the OMC meeting and what happens at the OMC meeting we have no control over it, obviously, but we do hope that its gonna be included in a certain way in the output the OMC group” (Nr. 35, Abs. 85). Dabei verweist die EU-Kommission auf eine begrenzte eigene Zuständig­ keit über die weitere Nutzung des Inputs der Zivilgesellschaft im Entschei­ dungsprozess. Das nachfolgende Zitat beschreibt nochmals diesen abge­ grenzten Verantwortungsbereich (Nr. 35, Abs. 14): „And at the Dialogue Meeting, the European Commission which has been in contact with the OMC group in parallel ask the group, if they would be willing to present at the OMC meeting group and asks the OMC meeting group, if they would be willing to hear what civil society has to say. So, of course, and luckily, the OMC always have said that they were really keen into hearing what the cultural sector has to say, but this cannot be for sure from the start. Because OMC working group is something that is not chaired by the EC, but is something that the member states chair themselves and they decide it for themselves what they want to do and the EC is only providing the framework for that. And it’s also a voluntary process, so not all member states are coming and well, they usually do, for all the OMC meetings that we had, we had about 25 member states, 23, so quite a

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

high interest, but just for this to say, that the EC tries to make the link, but it’s not always sure from the outset” (Nr. 35, Abs. 14). Darüber hinaus sehen die Organisator*innen auch eine Verantwortlichkeit bei den Teilnehmenden selbst für die weitere Nutzung und Verbreitung der Ergebnisse: „Then they [European Commission, J. S.] usually highly encourage the group to take ownership of the result and to disseminate it as broadly as possible” (Nr. 35, Abs. 85). „to make it more accessible, that participating the results at different conferences, so it’s really a little up to the group how far they want to push it and what they want to do with the results, if they want to use it, if they want to make something out of it, of all the work they’ve put or if just gonna die on the desk basically” (Nr. 35, Abs. 85). Bewertung der Ergebnisse des Strukturierten Dialoges durch die Organisator*innen Die Organisator*innen sind insgesamt sehr zufrieden mit den Ergebnissen des Strukturierten Dialoges im neuen Format Voices of Culture. Sie begrün­ deten dies damit, dass sie zum einen ihre Stakeholder der Zivilgesellschaft erreichen und zum anderen von diesen ein positives Feedback erhalten (Nr. 34, Abs. 11). Zudem sehen sie in den hohen Anmeldezahlen der Orga­ nisationen für die einzelnen Dialoge einen Beleg für die Zufriedenheit der teilnehmenden Organisationen (Nr. 34, Abs. 65). Innerhalb der EU-Kom­ mission wird der Strukturierte Dialog im Voices of Culture-Format daher auch als eine Art Best Practice gehandelt (Nr. 34, Abs. 11). Als ein konkretes Ergebnis verwiesen sie auf den Bericht des V. Dialoges, der von der OMK-Gruppe in deren Bericht im Anhang aufgenommen wurde (Nr. 35, Abs. 16). „So it was the only theme that was not directly linked with the OMC, but so luckily for us the OMC erase and there they decided to include they key messages of the VOC group into the report and it actually had been published a week ago, something. So, when you look at the annexes, you can really see the report of VoC, which I think is really a great achievement” (Nr. 35, Abs. 16).

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6.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Zusammenfassung und Interpretation: Die Organisator*innen haben zwar anfängliche Probleme des Beteiligungs­ prozesses bei den Teilnehmenden bemerkt, sahen diese aber vorrangig in unterschiedlichen Erwartungen zwischen der EU-Kommission und den zivilgesellschaftlichen Teilnehmenden – und haben darauf durch sprach­ liche und organisatorische Veränderungen reagiert. Probleme der Verbin­ dung zu den OMK-Arbeitsgruppen, wie sie von den Teilnehmenden geäu­ ßert wurden, kamen hier nicht zur Sprache und waren den Organisator*in­ nen eventuell gar nicht bewusst. Durch die thematische Abstimmung der Strukturierten Dialoge und der OMK-Arbeitsgruppen sollte die Verbin­ dung zwischen der Zivilgesellschaft und den Arbeitsgruppen der OMK den Organisator*innen zufolge gewährleistet sein. Ihre Berichts- und Transparenzverpflichtungen sahen die Organisa­ tor*innen durch die öffentliche Bereitstellung der Berichte und Materia­ lien erfüllt. Sie verwiesen zudem darauf, dass für sie das Ergebnis des Dialoges der Austausch sei und sie über eine weitere Verwendung im politischen Entscheidungsprozess durch die Zuständigkeiten im EU-Kon­ text keine Aussagen machen könnten. Sie schieben gleichwohl auch den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft eine eigene Verantwortung bei der weiteren Verbreitung der Ergebnisse zu. Diese Haltung könnte dahinge­ hend interpretiert werden, dass die Organisator*innen hier über eine sym­ bolische Partizipation (wie Konsultation) hinausgehende Vorstellung an die Verbindlichkeit der Teilnehmenden stellen. Die Organisator*innen bewerteten die Ergebnisse des neuen Formats Strukturierter Dialog sehr positiv. Augenscheinlich wurden die von den zi­ vilgesellschaftlichen Vertreter*innen geäußerten Aspekte nur sehr bedingt an die Organisator*innen zurückgemeldet. Zudem fällt auch an dieser Stelle wieder die stark abweichende Vorstellung eines Austauschs zwischen Organisator*innen und Zivilgesellschaft auf: Da für die Organisator*innen der Austausch darin besteht, die Zivilgesellschaft zu konsultieren und de­ ren Meinung zu hören, erscheint aus ihrer Sicht auch plausibel, dass sie mit dem Ergebnis der Strukturierten Dialoge zufrieden sind. 6.1.3.3 Strukturelle Probleme beim Kriterium Verantwortlichkeit und dafür ursächliche Faktoren Bei diesem Kriterium zeigten sich starke Abweichungen der Bewertung durch Teile der Zivilgesellschaft und die Organisator*innen. Diese sind in

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

unterschiedlichen Erwartungshaltungen, Bedingungen des europäischen Entscheidungssystems und der Beteiligungsform Konsultation begründet. Die Interviews mit den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft zeigen strukturelle Probleme der Prozesstransparenz. Darunter ist zu verstehen, dass den Beteiligten nicht klar war, wie der Prozess aufgebaut ist, wie Entscheidungen zustande gekommen sind und wofür diese genutzt wer­ den. Aus den Interviews ging zudem hervor, dass die Einbettung in die bestehende Entscheidungsstruktur im Politikfeld Kultur (Faktor europäi­ sches Mehrebenensystem) und die unzureichende Kommunikation der EU-Kommission negativ wahrgenommen werden. Dabei fällt auf, dass die neue Struktur (2 Treffen) des Strukturierten Dialoges aus Sicht der Betei­ ligten wenig zu einer erhöhten Prozesstransparenz beiträgt. Gleichwohl ist dies den Organisator*innen nicht bewusst, da sie dies nicht von den Teilnehmenden zurückgemeldet bekommen und sich auf hohe Anmelde­ zahlen bei den Dialogen stützen. Die aus Sicht einiger Teilnehmender unzureichende Kommunikation der EU-Kommission im Prozess kann mit der Haltung der EU-Kommission begründet werden, möglichst wenig in die Diskussionen der Zivilgesellschaft einzugreifen, um so einen authenti­ schen Input der Zivilgesellschaft zu bekommen. Beide Sichtweisen deuten auf sehr unterschiedliche Erwartungen an den Prozess und den Dialog hin: Während einige der Teilnehmenden der Zivilgesellschaft eine mög­ lichst konkrete Prozessbeschreibung und möglichst konkrete Ergebnisse der Umsetzung ihres Inputs wünschen, liegt der Fokus des Dialogs bei der EU-Kommission auf dem Zuhören – entschieden wird an anderer Stel­ le (Faktor Erwartungshaltung der Beteiligten). Zudem werden die unter­ schiedlichen Erwartungen durch die Charakteristik der Beteiligungsform gestützt (Faktor Beteiligungsform Konsultation). Auch bei der Berichterstattung über die Ergebnisse des Beteiligungspro­ zesses und die weitere Verwendung durch die EU-Kommission können strukturelle Probleme zwischen den Beteiligten herausgearbeitet werden. Zum einen erweist sich die Verteilung der Zuständigkeiten im Entschei­ dungsprozess des Mehrebenensystems als ein Problem, da die EU-Kommis­ sion den Prozess bei dem Dialogue Meeting dann als beendet betrachtet und nicht für die OMK-Arbeitsgruppen sprechen kann. Dies erschwert es zum einen, klar zurechenbare Ergebnisse zu identifizieren – auch für die Beteiligten der Zivilgesellschaft. Zum anderen zeigen sich auch hier wie­ der Unterschiede der Erwartungen der Beteiligten: Während die Organisa­ tor*innen ihre Berichtspflichten darin sehen, Ergebnisse und Materialien öffentlich verfügbar zu machen, erhoffen sich die Teilnehmenden häufig konkretere Ergebnisse. Ebenso sehen die Organisator*innen auch eine Ver­

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6.2 Zusammenfassung

antwortung bei der Zivilgesellschaft, die Ergebnisse weiter zu verbreiten. Im Gegensatz dazu kritisieren Teile der Zivilgesellschaft ihren einseitigen unbezahlten Arbeitsaufwand bei dem Dialog (beispielsweise in der Erstel­ lung des Policy-Berichts). Zudem lässt sich das Problem des geeigneten Weges der Berichterstattung für die Organisator*innen herausarbeiten, da Informationen über die weitere Nutzung per E-Mail ein Jahr später kaum in das Bewusstsein der Teilnehmenden zu gelangen scheinen. Dies könnte auch damit erklärt werden, dass den späteren Ergebnissen – beispielsweise die Mitteilung der EU-Kommission über eine internationale Kultur-Stra­ tegie – wenig praktische Relevanz für die Teilnehmenden der Zivilgesell­ schaft zuerkannt werden kann (Faktor europäisches Mehrebenensystem). 6.2 Zusammenfassung: Strukturelle Probleme in den drei Kriterien und die dabei wirkenden Faktoren In diesem Kapitel sollen die strukturellen Probleme der drei Kriterien für das ausgewählte Fallbeispiel nochmals rekapituliert und die dabei wirken­ den Faktoren herausgearbeitet werden. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Analyse der Abweichungen des kommunizierten und umgesetzten Partizipationskonzeptes der EU-Kommission. Dabei wird auch diskutiert, welche Akteur*innen bei dem ausgewählten Fallbeispiel profitieren. In dem Kriterium Inklusivität werden trotz erhöhter Diversität Un­ gleichheiten in der Zivilgesellschaft sichtbar: Diese sind zum einen durch Charakteristika des Mehrebenensystems zu erklären, da dieses insbesonde­ re für Graswurzelbewegungen die Teilhabe an den Beteiligungsprozessen auf EU-Ebene erschwert. Zudem wurde für das Fallbeispiel insgesamt ein funktional ausgerichteter Repräsentativitätsbegriff der EU-Kommissi­ on identifiziert, der sowohl output- als auch inputbezogene Kriterien ausbalanciert. Beide Aspekte, die Bedingungen der Willensbildung und Entscheidungsfindung im Mehrebenensystem und die funktionalen Anfor­ derungen der EU-Kommission, führen – trotz der Bemühungen um erhöh­ te Inklusivität der Organisator*innen – faktisch dazu, dass Ungleichheiten nicht zu vermeiden sind. Dabei profitieren vor allem bereits halböffentli­ che Organisationen, aktive EU-Organisationen und solche, die über rele­ vante Ressourcen und Expertise verfügen. Die Abweichung der faktischen Inklusivität von der, die die EU-Kommission öffentlich kommuniziert, kann folglich durch das Zusammenwirken dieser Faktoren erklärt werden. Gleichwohl sind die Ungleichheiten auch mit den Sektorspezifika verbun­ den: Dabei ist die Zivilgesellschaft im Politikfeld Kultur zum einen sehr

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6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture

heterogen und zum anderen als ein sehr junges europäisches Politikfeld stark an die Nationalstaaten angebunden. In dem Kriterium Deliberation wurden strukturelle Hindernisse für die Deliberationsprozesse zwischen den Teilnehmenden herausgearbeitet: Diese liegen einerseits im Format der Beteiligungsform, insbesondere in der knappen zeitlichen Bemessung, der großen Diversität der Gruppe (Inklusi­ vität) und der verwendeten Terminologie. Die Unterschiede verweisen zudem auf abweichende Erwartungen zwischen den Beteiligten an den Dialog und das Format, die jedoch nicht unbedingt explizit geäußert wur­ den. Während die Teilnehmenden sich eine aktivere und inhaltlich steuern­ de Rolle der EU-Kommission wünschten, wollte diese den Input der Zivil­ gesellschaft möglichst ungefiltert und hielt sich im Hintergrund. Hinzu kamen Unterschiede in der Arbeitsweise („Mindset“) zwischen dem Kultur­ sektor und der EU-Kommission. Insbesondere die Differenzen der Erwar­ tungshaltung an den Dialog und den Beteiligungsprozess konnten auch als hinderlich für gemeinsames Lernen zwischen den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft und den Vertreter*innen der EU-Kommission herausgear­ beitet werden. Diese Differenzen erklären in Teilen die Frustration der zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen vor dem Hintergrund der eigenen Arbeitsleistung und des Arbeitsaufwandes. Bezogen auf die theoretischen Erwartungen, die mit direkter Partizipation verbunden sind, kann für dieses Fallbeispiel eine deutlich veränderte Rolle der EU-Kommission im Vergleich zu der Komitologie-Studie von Joerges und Neyer (1997) identifiziert wer­ den. Dabei agiert die EU-Kommission viel zurückhaltender und erfüllt nicht die ihr zugewiesene aktive Rolle bei der Herausbildung gemeinsamer Pro­ blemlösungen. Die zurückhaltende Rolle wird wesentlich durch die Beteili­ gungsform Konsultation gestützt. Die EU-Kommission profitiert durch den Input der Zivilgesellschaft. Letztere kann durch das Netzwerken und per­ sönliche Lernprozesse von der Beteiligung im Sinne eines normativen Partizipationsverständnisses profitieren. Weitergehende Hoffnungen an De­ liberation, insbesondere eine kritische Öffentlichkeit, scheinen durch die starke fachliche Ausrichtung der Dialoge eher unwahrscheinlich. Dies ge­ schieht auch, da die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft bei ihrer Darstel­ lung von Deliberation stark outputbezogen (und damit auch instrumentell) begründen. Für stärkere gegenseitige Lerneffekte der Beteiligten scheint es notwendig, einen gesteigerten Wert auf die Übersetzungsleistung zwischen den Arbeitsweisen von EU-Institutionen und der Zivilgesellschaft zu legen, wie die Übernahme des Berichts von Dialog V zeigt. Gleichwohl wäre dafür eine aktivere Rolle der EU-Kommission bei der Kommunikation von Stan­ dards des Berichts wahrscheinlich notwendig.

280

6.2 Zusammenfassung

Für das Kriterium Verantwortlichkeit wurden bereits in der Typolo­ gie der Beteiligungsformen (Kapitel 4.4.4) die stärksten Abweichungen zwischen dem kommunizierten Konzept der EU-Kommission und dem tatsächlichen Handeln festgestellt. Analog finden sich auch bei diesem Kriterium die stärksten Abweichungen zwischen der Bewertung durch die Zivilgesellschaft und die EU-Kommission. Während erstere Mängel bei der Transparenz der Beteiligungsprozesse und der Berichterstattung der EU-Kommission sehen, sind diese Probleme der EU-Kommission gar nicht unbedingt bewusst. Dies liegt zum einen an den Charakteristika des politischen Entscheidungssystems der EU, den mit dem Dialog verbun­ denen Zielen bzw. Erwartungen und der Beteiligungsform Konsultation. Die Teilnehmenden kritisieren zum einen die unklare Kommunikation der EU-Kommission und zum anderen die Einbindung in die Entschei­ dungsstruktur mit den Arbeitsgruppen der OMK. Der EU-Kommission sind beide Kritikpunkte indes nicht bewusst. Sie verweist bei ihrer Bewer­ tung darauf, dass sie alle Dokumente öffentlich zugänglich macht und sieht in hohen Anmeldezahlen für die Dialoge ein positives Feedback der Zivilgesellschaft. Dabei scheinen die Lebenswelten zwischen EU-Kommis­ sion und der Zivilgesellschaft teilweise sehr weit voneinander entfernt zu sein, sodass im Prinzip ein Dialog über den Dialog notwendig wäre. Im Ergebnis profitiert auch hier die EU-Kommission von der Expertise, ihre Kommunikation über die Erfolge des Dialoges scheint gleichwohl unrealistisch. Die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft beschreiben häufig eine gewisse Frustration, die mit der Beteiligung einhergeht, gleichwohl scheint dies durch persönliche Erfahrung und Netzwerktätigkeiten häufig aufgewogen zu werden. Insgesamt scheint die Partizipation bei diesem Fallbeispiel jedoch vorrangig funktionalen Aspekten der Teilnehmenden und der EU-Kommission zu dienen (einem instrumentellen Partizipations­ verständnis entsprechend). Ebenso erscheint bei diesem Beispiel eine ver­ besserte Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse nur sehr begrenzt durch die direkte Partizipation befördert zu werden. Die folgende Tabelle fasst die strukturellen Probleme in den drei Kriteri­ en und die dabei wirkenden Faktoren für das Fallbeispiel zusammen:

281

6 Fallstudie: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture Inklusivität

Deliberation

Verantwortlichkeit

Strukturelles Problem

Ungleichheiten in der Zivil­ gesellschaft

Deliberationshemmnisse

Intransparenz der Prozes­ se, Defizite der Berichtspflichten (schwierige Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse)

Faktor

– –

Mehrebenensystem



Rolle und Kommu­ nikation EU-Kom­ mission

– –

Mehrebenensystem



Format

Sektorspezifika



Kommunikation und Rolle EU-Kommissi­ on

funktionaler Reprä­ sentativitätsbegriff EUKommission





wenig vergemein­ schaftet heterogene Ar­ beitsbedingungen

– – – –

Inklusivität: zu di­ verse Gruppe er­ schwert Deliberati­ on Beteiligungsform Konsultation Divergierende Er­ wartungen (Dialog­ verständnis)

– –

Entscheidungsstruk­ tur im Politikfeld

Divergierende Erwar­ tungen (Dialogver­ ständnis, Ziele des Prozesses) Beteiligungsform Konsultation

Tabelle 3: Zusammenfassung der strukturellen Problemfelder und dafür ursäch­ liche Faktoren der Fallstudie Voices of Culture (eigene Darstellung)

282

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten Im Rahmen dieser Fallstudie werden die beiden in Kapitel 4 herausge­ arbeiteten strukturellen Problemfelder von direkter Partizipation am Bei­ spiel der ersten erfolgreichen EBI Right2water untersucht, die im Jahr 2012 vom Europäischen Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst or­ ganisiert wurde.294 Für das Problemfeld 1 (Ungleichheiten in der Zivilgesellschaft bei der Beteiligung) werden am Beispiel dieser formal auf Bürger*innen abzielen­ den Beteiligung zum einen die Hindernisse für individuelle Partizipation auf EU-Ebene untersucht. Da für eine erfolgreiche EBI Organisationen der Zivilgesellschaft erforderlich sind, können zum anderen auch Faktoren für nach wie vor bestehende Ungleichheiten zwischen Organisationen heraus­ gearbeitet werden, die beispielsweise in den Hürden des Instrumentes be­ gründet sind. Für das Problemfeld 2 (abweichendes Partizipationshandeln vom kommunizierten Partizipationsdiskurs der EU-Kommission) ist bei der EBI Right2water insbesondere interessant, dass diese die Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechtes durch die EU-Kommission auf die Wasserver- und Abwasserentsorgung als Teilbereich staatsnaher Dienstleis­ tungen bzw. der öffentlichen Daseinsvorsorge thematisiert (Scharpf 1999: 146).295 Sie setzt damit am Kern der Legitimationsprobleme der EU-Kom­

294 Generelle Informationen zum Instrument EBI siehe Kapitel 4.3.2.5, Informatio­ nen zu dieser EBI und der Fallauswahl siehe Kapitel 5.1.2. 295 Staatsnahe Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Erfüllung eine elementare Bedeutung für die Bevölkerung hat. Aus diesem Grund lassen sich auch mögliche Folgen der negativen Integration, d. h. Deregulierung von öffentlichen Wassersystemen aufgrund des europäischen Wettbewerbsrechtes durch die EU-Kommission, stark bei den Bürger*innen „politisieren“. Die EUKommission agiert bei Eingriffen in die nationale Daseinsvorsorge im Span­ nungsfeld ihrer zugewiesenen Rolle (Vollendung des Binnenmarktes), den insti­ tutionellen Arrangements im EU-Recht (Vorrang vor negativem Recht) und dem politisch verantwortlichen Reagieren, das sich durch Rücksichtnahme auf Mehrheiten auszeichnet (siehe ausführlich Kapitel 5.1.1). Daher ist die Analyse, wie die EU-Kommission auf diese Initiative reagiert hat, in besonderem Maße aufschlussreich dahingehend, welche Prioritäten das Handeln der EU-Kommis­ sion leiten.

283

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

mission an (siehe Kapitel 1.1.1.4), ermöglicht Einsichten in die konkreten Faktoren, die ein verantwortliches Handeln der EU-Kommission beför­ dern bzw. behindern und stellt eine stärker „politisierbare“ Forderung im Vergleich zur Fachkonsultation des vorherigen Fallbeispiels dar. Die Darstellung der Ergebnisse folgt den verschiedenen Gruppen der Beteiligten (Organisator*innen der EBI, Unterstützende aus dem EU-Par­ lament, Mitarbeitende der EU-Kommission) für die drei Kriterien Inklusi­ vität (Kapitel 7.1.1), Deliberation (Kapitel 7.1.2) und Verantwortlichkeit (Kapitel 7.1.3).296 Auch bei dieser Fallstudie werden die Informationen der Interviews zunächst eingeordnet, dann beschrieben und in einer ab­ schließenden Zusammenfassung interpretiert. Bei der Darstellung der Er­ gebnisse werden nicht für jedes Kriterium alle Gruppen der Interviewten einbezogen, da die verschiedenen Beteiligten zu unterschiedlichen orga­ nisatorischen und inhaltlichen Aspekten der Initiative befragt wurden. Die Interviews der Organisator*innen der EBI dienen in der Regel der Bestandsaufnahme bei jedem Kriterium. Sofern sie sich auf relevante institutionelle Aspekte beziehen oder wesentliche Unterschiede zu den Organisator*innen bestehen, werden die die Initiative unterstützenden Ab­ geordneten des EU-Parlaments separat dargestellt.297 Die Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission zielten vorrangig auf fachliche Aspekte der jeweiligen GD, die die Maßnahmen der EU-Kommission auf die Initiative erläutern. Sie spielen beispielsweise bei dem Kriterium Inklu­ sivität keine Rolle. Anschließend wird für jedes Kriterium eine Synthese erstellt, die die interpretierten Informationen der verschiedenen Gruppen an die Frage zurückbindet, welche Faktoren bei diesem Kriterium die strukturellen Probleme verursachen. Abschließend werden die strukturel­ len Probleme dieser Beteiligungsform in Kapitel 7.2 nochmals zusammen­ gefasst und in einer Tabelle veranschaulicht. Die Auswertung erfolgt rein interpretativ, eventuelle Angaben zu Häu­ figkeiten kommen ergänzend und rein informativ zum Einsatz.298

296 Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, wurden größere Anzahlen von Belegen der Interviews in Fußnoten aufgelistet. 297 Gleichwohl handelt es sich dabei um Unterstützende der Initiative aus dem so­ zialdemokratischen bzw. linken Parteispektrum. Um eine inhaltliche Einseitig­ keit der Analyse zu verhindern, werden die Abgeordneten des EU-Parlamentes hier auch als Unterstützende der Initiative bezeichnet. 298 Beispielsweise haben sich die Organisator*innen bei der Initiative stark unter­ schieden. Die Vertreter*innen von ver.di und EGÖD (dem europäischen Dach­ verband) konnten zu den Institutionen auf EU-Ebene etwas sagen, die Um­

284

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

7.1.1 Inklusivität Unter dem Punkt Inklusivität werden die formalen Bedingungen der Or­ ganisation von Europäischen Bürgerinitiativen am Beispiel der Initiative Right2water untersucht, die politische Umsetzung der Forderung spielt dabei keine Rolle (dies wird unter dem Kriterium Verantwortlichkeit dis­ kutiert). Die Informationen der Interviews mit den Organisator*innen der EBI und den Unterstützenden des EU-Parlamentes werden genutzt, um die faktischen Hürden des Instrumentes zu beschreiben, die die Inklusivität einschränken. Da sich kein analytischer Mehrwert durch eine gesonderte Darstellung der unterstützenden Abgeordneten aus dem EU-Parlament, beispielsweise durch institutionelle Aspekte, ergeben würde, werden diese gemeinsam beschrieben. Die Mitarbeitenden der EU-Kommission werden hier nicht miteinbezogen, da diese in Fachabteilungen tätig waren und über wenig Wissen zu dem Prozess der EBI verfügten. 7.1.1.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI und Unterstützenden aus dem EU-Parlament Vonseiten der Organisator*innen der Zivilgesellschaft, d.h. insbesondere des ausrichtenden Europäischen Gewerkschaftsverbandes für den öffentli­ chen Dienst (EGÖD), wurden in den Interviews Hürden für die Organisa­ tion einer EBI identifiziert (z.B. Nr. 7, Abs. 76). Einige der Hindernisse wurden von den Organisator*innen der EBI auf den besonderen Umstand zurückgeführt, dass die EBI die erste erfolgreiche Initiative war. Dies wur­ den in mehreren Interviews unter dem Stichwort „Kinderkrankheiten“ der EBI gefasst (Nr. 10, Abs. 42; Nr. 11, Abs. 79): Darunter sind beispiels­ weise langwierige Verfahrensschritte zu fassen, die bei der EU-Kommis­ sion erst etabliert werden mussten oder sich bei der Verifizierung der gesammelten Unterstützungsbekundungen in Abstimmung mit den natio­ nalen Verwaltungsbehörden ergaben (Nr. 5, Abs. 36, 38; Nr. 19, Abs. 30, 32). Zudem wurden in dieser Hinsicht auch technische Probleme und Ver­ fahrensvorschriften genannt, wie Datenschutzanforderungen für das On­ line-Sammelsystem (Nr. 5, Abs. 36; Nr. 10, Abs. 20299; Nr. 11, Abs. 46-51;

welt- und Menschenrechtsorganisationen eher zur Umsetzung der Kampagne in Deutschland. 299 Bezieht sich konkret auf unterschiedliche Anforderungen der Verordnungen in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten, sodass in manchen Ländern wie

285

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

Nr. 16, Abs. 24; Nr. 19, Abs. 30). In dieser Hinsicht kritisierten sowohl Organisator*innen (Nr. 16, Abs. 26) als auch einige der Abgeordneten die fehlende Begleitung der EU-Kommission im Prozess und unterlassene Hil­ festellungen, bspw. bei den Übersetzungen (Nr. 16 Abs. 26, ähnlich Nr. 15 Abs. 76), aber auch bei der Formulierung von EU-weiten Ausführungsbe­ stimmungen (Nr. 16 Abs. 24, 46). Dieser Punkt wird dann unter der Ver­ fahrenstransparenz im Kriterium Verantwortlichkeit noch einmal genauer aufgegriffen. Zudem wurden von den Organisator*innen und Unterstützenden im EU-Parlament zusätzliche Hürden des Instrumentes identifiziert, die sich nicht auf den besonderen Umstand der ersten erfolgreichen Initiative zu­ rückführen ließen. Darunter wurde zunächst der Umstand gesehen, dass das Verfahren der EBI insgesamt sehr aufwändig ist und sehr lange dauert (Nr. 5, Abs. 84; Nr. 7, Abs. 2; Nr. 13, Abs. 59), sodass dafür im Prinzip eine Struktur im Hintergrund bzw. ein hauptamtlicher Apparat benötigt wird. Eine Verantwortliche der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der deutschen Mitgliedsorganisation der EGÖD, rechnet dies folgendermaßen vor: „Das Thema abgearbeitet und insofern muss man eigentlich die Kam­ pagne sehr viel länger planen als 1 Jahr Vorbereitung, ein Jahr Durch­ führung. Man muss mindestens noch zwei Jahre Lobbying hintendran hängen, damit dann, mit der Unterstützung von X Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern im Rücken, das ist dann anders nochmal, das ist keine Frage, aber das muss man mitdenken, mitplanen“ (Nr. 5, Abs. 74). Sie bekräftigt dies damit, dass eine andere erfolgreiche EBI sich einen hauptamtlichen Apparat für die EBI geschaffen hat: „Also es ist sehr aufwändig, es kostet viel viel Zeit und es ist ja nicht so, dass ich unter Langeweile leide, wenn ich keine EBI habe. Das ist also quasi on top. Das wird fast allen anderen auch so gehen. Ich meine, für Stop TTIP sind dann schließlich Campaigner organisiert worden, das wäre sonst auch nicht zu meistern gewesen. Weil die hatten ja keine hauptamtliche Organisation, die mussten sich eine schaffen. Wir konnten auf eine zurückgreifen“ (Nr. 5, Abs. 84).

Deutschland oder Österreich mehr personenbezogene Daten angegeben werden mussten als in anderen (Nr. 10, Abs. 20; Nr. 15 Abs. 16; Nr. 16, Abs. 26).

286

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Eine bestimmte europäisch vernetzte und mit Ressourcen ausgestattete Organisation im Hintergrund einer EBI sei zudem aus verschiedenen Gründen unerlässlich (Nr. 5, Abs. 84; Nr. 6, Abs. 82, 84; Nr. 4, Abs. 16, 79; Nr. 11, Abs. 26), beispielsweise um die finanziellen Ressourcen für eine Vertretung in Brüssel zu stemmen, die die Koordinierung mit der EUKommission übernimmt oder um die Anreise zum Vorsprechen vor der EU-Kommission und dem EU-Parlament zu finanzieren (Nr. 5, Abs. 38). Eine europäische Dachorganisation wie die EGÖD wurde von den Or­ ganisator*innen und Unterstützenden im EU-Parlament darüber hinaus als sehr förderlich angesehen, weil sie die erforderliche europäische Ver­ netzung für eine EBI erleichterte (Nr. 7, Abs. 95; Nr. 12, Abs. 60; Nr. 13, Abs. 48; Nr. 16 Abs. 26, 118).300 Dies sollen folgende Zitate exemplarisch verdeutlichen: „Sie [die EBI, J. S.] braucht Organisationen, die dahinter stehen. Und zwar Organisationen, die im europäischen Kontext stehen. Die wenn möglich auch untereinander Verbindungen haben, also wo auch euro­ päisch irgendwie organisiert sind“ (Nr. 7, Abs. 129). „Gleichzeitig braucht man ein Netzwerk in allen 28 Mitgliedstaaten, ich würde keinen Mitgliedstaat, auch wenn er vielleicht noch so klein ist, hier aussparen, denn gerade dieses Netzwerk hier in ganz Europa ist ganz entscheidend. Wichtig ist es auch natürlich eine angemessene Plattform zu haben, eine Gesprächsbasis zu haben, um die verschiede­ nen Akteure auch wirklich gemeinsam an diesem Projekt zu beteili­ gen. Das wäre so von der Seite der Initiatoren“ (Nr. 10, Abs. 71). Als weitere Hindernisse des Instrumentes wurde identifiziert, dass ein komplexes Thema bei einer EBI in eine 800-Zeichen-Beschreibung ge­ bracht werden muss – und dafür ein gewisser Grad an Professionalisierung der Organisation gebraucht wird (Nr. 5, Abs. 36). „Sagen wir mal, inhaltlich waren die drei Punkte klar, also das, was wir da als drei Punkte rein, das waren ja die, das war ja das Men­ schenrecht, also das war der Zugang zu Wasser, es war als dritter Punkt die Hinwendung zum Weltwassermarkt, also Hinwendung zur also der Punkt, wo man gesagt hat, europäische Politik muss darauf

300 Die europäische Dachorganisation der EGÖD wurde auch als sehr hilfreich beschrieben, um den Text der EBI in die sieben anderen Landessprachen zu übersetzen (Nr. 15 Abs. 76; Nr. 16, Abs. 26).

287

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

hinwirken, dass das Menschenrecht auf Zugang zu Wasser auch in den anderen nicht europäischen Ländern umgesetzt wird und sollte seine Politik danach ausrichten. Wir konnten schlecht etwas anderes sagen. Man muss halt sehr genau gucken, was so ne EBI, die muss ja der europäischen Politik entsprechen, die kann nicht irgendwo dran vorbeigehen, deswegen sind EBIs ja abgelehnt worden, also muss man schon sehr genau und sehr geschickt formulieren und dann ging’s irgendwie um Wörter und es ging darum, dass das Englische immer so einen kleinen anderen Touch hat als das Deutsche und als das Französische“ (Nr. 7, Abs. 36). Diesen Aspekt bestätigten auch die Abgeordneten des EU-Parlamentes, be­ tonten dabei aber zusätzlich die Komplexität des Gegenstandsbereichs der EU und ihrer Zuständigkeiten, die die Professionalisierungsanforderungen begründet (Nr. 18 Abs. 72, Nr. 16 Abs. 122, Nr. 15 Abs. 16; Nr. 18, Abs. 72): „Ja, das ist das große Problem. Das Politikverständnis, das viele irgend­ wie haben, sie müssten sich genau überlegen, wie kann man ihr Anlie­ gen tatsächlich in Gesetzgebung übersetzen. Ich meine, man hat ja nicht mal die katholische Kirche mit ihrem erfolgreichen Anliegen es geschafft, das so zu formulieren, dass es irgendwo geeignet gewesen wäre für die europäische Gesetzgebung. Das ist ja absurd. Also sie müssten auskennen mit der europäischen Kompetenz, mit der Kompe­ tenz der Mitgliedstaaten, mit den Grenzen der europäischen Kompe­ tenz, was kann die EU überhaupt, wozu ist sie berechtigt. Und dann müssten Sie natürlich immer belegen, auf welche Artikel Sie sich stüt­ zen kann, also auf welche Vertragsartikel sie sich stützen kann, geeig­ net gewesen wäre für die europäische Gesetzgebung. Das ist ja absurd. Also sie müssten auskennen mit der europäischen Kompetenz, mit der Kompetenz der Mitgliedstaaten, mit den Grenzen der europäischen Kompetenz, was kann die EU überhaupt, wozu ist sie berechtigt. Und dann müssten Sie natürlich immer belegen, auf welche Artikel Sie sich stützen kann, also auf welche Vertragsartikel sie sich stützen kann“ (Nr. 16, Abs. 122). Darüber hinaus verweist ein Organisator von ver.di darauf, dass es für eine erfolgreiche EBI auch Meinungsführer*innen im EU-Parlament, d. h. im parlamentarischen Raum, braucht, die die EBI unterstützen. Dieser As­ pekt verweist ebenso auf die Notwendigkeit bereits bestehender Kontakte zwischen den Organisator*innen der EBI und Abgeordneten des EU-Parla­ mentes (Nr. 7, Abs. 131; ähnlich Nr. 18, Abs. 72).

288

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Aus diesen Gründen resümieren mehrere Organisator*innen, dass das Instrument EBI zwar für Organisationen geeignet sei, aber nicht für einzel­ ne Bürger*innen, wie in folgendem Zitat deutlich wird: „Da gibt’s noch viele Fragen, wie einfach das ist für Bürger wie du und ich das zu unterzeichnen, am Ende kannst du auch sehen, dass die EBIs, die ein Erfolg waren, doch organisiert waren durch Organisa­ tionen nicht durch Bürger. Für Bürger war das ziemlich schwer das zu organisieren“ (Nr. 11, Abs. 26).301 „Was ich nicht glaube ist, dass eine Gruppe von 7 Leuten, und ich untertreib jetzt mal sehr, eine ganz ganz gute Idee hat und meint, jetzt startet sie eine EBI. Das schaffen die nicht. Also es gibt, es kann immer nur mit dem Hintergrund gehen, weil Sie müssen immer daran denken, es kostet auch Geld. Also neben der Arbeit, die man reinste­ cken muss, kostet es einen Haufen Geld. Man muss werben, insofern halte ich diese EBI diese ganze Richtlinie im Augenblick noch immer, weil sie eben auch diese, sie braucht diese menpower, sie braucht diese finanzielle Kraft, noch viel zu wenig umgesetzt. Also wenn der Gesetz­ geber Europäische Kommission oder Europa, wenn der Gesetzgeber wirklich wollte, dass das ein Instrument wird, was auch genutzt wird, damit man die Menschen hört, dann muss ich den Menschen mehr mehr Mikrofone geben“ (Nr. 7, Abs. 129). Die beiden Zitate verdeutlichen, dass die Organisator*innen der Zivilge­ sellschaft der Ansicht sind, dass das Instrument – entgegen dem Titel Bür­ gerinitiative – nicht für diese, sondern für große, europäisch ausgerichtete Organisationen geeignet ist (vgl. Nr. 16 Abs. 26, 118; Nr. 15, Abs. 76). 7.1.1.2 Strukturelle Probleme beim Kriterium Inklusivität und dafür ursächliche Faktoren302 In diesem Abschnitt werden die Informationen der Interviews mit den Or­ ganisator*innen der EBI und den Unterstützenden aus dem EU-Parlament

301 Der Interviewte stammt aus den Niederlanden, daher die sprachlichen „Eigen­ heiten“. 302 Da die Organisatoren und Abgeordneten des EU-Parlamentes keine großen Abweichungen bei diesem Kriterium aufwiesen, wurden die Informationen von beiden Gruppen zusammen dargestellt. Aus diesem Grund wird hier auch

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

zusammengefasst und interpretiert. Des Weiteren wird auf die strukturel­ len Probleme direkter Partizipation für individuelle Bürger*innen und Organisationen (Problemfeld 1) eingegangen, um so mögliche konstituie­ rende Faktoren herausarbeiten zu können. Die Interviews mit den Organisator*innen der EBI und den Unterstüt­ zenden aus dem EU-Parlament weisen auf enorme Hürden des Instrumen­ tes hin. Diese zeigen, dass nur ein bestimmter, stark eingegrenzter Kreis an Organisationen geeignet zu sein scheint, erfolgreiche EBIs durchzuführen. Einzelne Bürger*innen oder auch kleine NGOs und Graswurzelbewegun­ gen scheinen dafür nicht geeignet zu sein.303 Dabei wurde neben erhebli­ chen finanziellen und personellen Ressourcen (insbesondere auf die euro­ päische Vernetzung und das Wissen über die EU-Gesetzgebung) eingegan­ gen, die eine Inklusivität des Instruments erschweren. Ebenso zeigt sich, dass diese Herausforderungen die Beteiligung auf supranationaler Ebene durch ein Mehrebenensystem bedingt werden: Denn der politische Kon­ text erzeugt die für das Instrument notwendige europäische Vernetzung sowie das benötigte Wissen über die EU-Gesetzgebung und die komplexen und technisch-abstrakten Themen. In der Konsequenz wird der enorm hohe Grad an Professionalisierung erzeugt, den nur ein klar eingegrenzter Kreis an Organisationen liefern kann. Einige dieser Hürden sind jedoch auf den Umstand zurückzuführen, dass es sich um die erste erfolgreiche EBI handelte. 7.1.2 Deliberation 7.1.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI Zunächst werden die Informationen der teilnehmenden Organisator*in­ nen der Initiative genutzt, um zu beschreiben, welche Möglichkeiten für deliberative Prozesse sich bei der Organisation, Gestaltung und Durchfüh­ rung der Initiative mit Bürger*innen und Zivilgesellschaft ergeben haben. Zudem wird aus Sicht der Organisator*innen beschrieben, welche Poten­

einer Zusammenfassung und Interpretation der Beschreibung in Bezug auf die strukturellen Probleme von direkter Beteiligung auf EU-Ebene und deren kon­ stituierenden Faktoren gesprochen – als von einer Synthese von verschiedenen Perspektiven. 303 Es sei denn, sie schließen sich wie im Falle der Stop-Glyphosat-Initiative zu einer Koalition zusammen (Näheres dazu siehe 7.3).

290

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

ziale sich für Deliberation mit den Institutionen wie der EU-Kommission und dem EU-Parlament bei dem jeweiligen Vorsprechen ergeben haben und worin sie mögliche Hindernisse für Deliberation gesehen haben. Deliberation bei der Organisation, Gestaltung und Durchführung der Initiative Indizien für deliberative Prozesse schienen sich eher bei der Umsetzung der EBI als bei der inhaltlichen Festlegung der drei Ziele zu ergeben: Ob die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse dabei innerhalb des Europäischen Gewerkschaftsverbandes auf Argumenten basierten und eine gemeinsame Problemlösung dabei im Vordergrund stand, lässt sich durch die erhobenen Interviewdaten schwer rekonstruieren. Gleichwohl sind einige Indizien erkennbar, die tendenziell dagegen sprechen: Ein solches Indiz ist beispielsweise die Äußerung der Vertreter*in von ver.di, dass ver.di zufrieden mit dem Ergebnis sei (bezogen auf die inhaltlichen Schwerpunkte der EBI), aber dass dies nicht auf alle anderen Mitgliedsor­ ganisationen der EGÖD zutreffe (Nr. 5, Abs. 9f.). „Also verdi ist mit dem Ergebnis zufrieden, ja. Andere sind nicht so zufrieden, weil z. B. die Forderung danach, wie das finanziert werden soll oder das eben das nicht einkommensabhängig sein darf, dass der Stadt das garantieren muss, und so das ist da halt nicht sehr konkret in den Forderungen drin, da gibt’s andere die waren da nicht so zufrie­ den“ (Nr. 5, Abs. 9f.). Plausibel scheint dabei, dass sich der mitglieder- und ressourcenstarke deutsche Verband durchgesetzt hat, da er auf die Unterstützung eines in Deutschland seit Langem existierenden Netzwerkes um die Wasserbe­ wegung und die „Rückendeckung“ einer deutschen Generalsekretärin im Europäischen Verband zurückgreifen konnte (Nr. 7, Abs. 20). „Und da Deutschland die stärkste Gewerkschaft ist, ist es ja auch so, dass die Generalsekretärin zumindest des öffentlichen Bereichs, Gene­ ralsekretärin aus Deutschland kam, das war, das hat die Sache immer ein bissel leichter gemacht. Ja, weil da auch ne Denke ist, da vorne und die sind ja auch gewählt“ (Nr. 7, Abs. 32). Gegen Entscheidungen, die auf Argumenten und gegenseitigem Lernen basieren, spricht zudem, dass sich einige Mitgliederverbände bei der Initia­

291

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

tive enthalten haben.304 In diesem Zusammenhang wurden in den Inter­ views mehrfach die unterschiedlichen Wassersysteme der Mitgliedstaaten (privat/öffentlich, zentral/dezentral) und die verschiedenen Strukturen der Gewerkschaften betont (Nr. 9, Abs. 59; Nr. 8, Abs. 25; Nr. 7, Abs. 24; Nr. 4, Abs. 34 und 38). Zudem haben sich die Aussagen von Vertreter*innen der Mitgliederverbände über die Abstimmungen teilweise komplett wider­ sprochen (von „wenig Diskussionsbedarf“ Nr. 10 Abs. 6 und 8, über „ziem­ liche lange Prozesse mit vielen Diskussionen“ Nr. 5, Abs. 8). Von den unterstützenden Umweltorganisationen und der Wasserbewe­ gung wurde darüber hinaus kritisiert, dass die Gewerkschaft EGÖD die Ziele der EBI allein festlegen wollte, ohne die NGOs miteinzubeziehen, wie folgendes Zitat zeigt: „Vorneweg: Als Initiativen auch eine gewisse, am Anfang war es ein bisschen holprig, möchte mal so einsteigen in das Thema und zwar deswegen, weil EGÖD, die das ja initiiert hatten, von ganz Anfang an klar gestellt hatten, dass sie die Fragestellung stellen und wir erst aktiv werden konnten nachdem dieser Prozess schon gelaufen war und da gab es von verschiedenen Seiten Kritik daran. (…) Und dadurch haben wir am Anfang durchaus diskutiert, ob wir da einsteigen oder nicht. Nicht, da wir prinzipiell gegen dieses Thema waren, sondern weil wir es nicht klar genug formuliert fanden und haben uns aber dann doch entschlossen auch voll zu unterstützen, weil der Vorteil natürlich von dieser EBI war, dass das Thema EU weit auf die TO gekommen ist. Also im Nachhinein halte ich das schon alles für richtig, aber der Anfang war holprig“ (Nr. 4, Abs. 4). Deliberation in der Umsetzung einer EBI-Länderkampagne Für die Organisation und Durchführung der Kampagne der EBI in Deutschland konnte ver.di auf einen Unterstützer*innenkreis aus verschie­ denen Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen zurückgreifen, die an der Kampagne mit beteiligt waren. Dieser Kreis bestand aus einem Netz­ werk an verschiedenen Organisationen, das sich 1998 gegen die Liberalisie­ rung des Wassersektors in Deutschland gegründet hatte (Nr. 7, Abs. 66). Die darin stattfindenden Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse wur­

304 Dies war beispielsweise in Großbritannien der Fall, das eine vollständige privati­ sierte Wasserver- und Abwasserentsorgung hatte (Nr. 7, Abs. 42).

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

den von den interviewten 6 Teilnehmenden fast ausschließlich positiv bewertet. Dabei betonten die Interviewten durchaus die Unterschiede der Organisationen305, allerdings wurden diese von den meisten als berei­ chernd wahrgenommen (Nr. 9, Abs. 34; Nr. 7, Abs. 78, 81; Nr. 6, Abs. 16, 18 und 20) und gerade die sachliche Diskussion und der sachliche Aus­ tausch betont sowie gegenseitige Lerneffekte herausgestellt (z. B. „Reibun­ gen konstruktiver Art“, Nr. 8 Abs. 41-43, Nr. 6 Abs. 22).306 Gerade von den kleinen Umwelt- und Menschenrechtsverbänden wurde positiv her­ ausgestellt, dass sie ihre Meinung mit einbringen konnten (Nr. 6, Abs. 18) und im Falle der lokalen Wasserinitiative Berliner Wassertisch e. V. hat die Zusammenarbeit mit ver.di bei der Kampagne den Blick auf die Ge­ werkschaften verbessert (Nr. 4, Abs. 89), wobei laut diesem Mitglied der Berliner Wasserinitiative Gewerkschaften auch international von sozialen Bewegungen mit Skepsis betrachtet werden (Nr. 4, Abs. 12). „Ja. Also das war so, dass es ja, das wurde nicht danach bewertet, ob man jetzt Tausende hinter sich hat, sondern also gute Vorschläge wur­ den auch gut angenommen. Also das würde ich so sehen, ja“ (Nr. 6, Abs. 18). Hingegen wurde in dem Interview mit einem Vertreter der deutschen Dachorganisation im Natur- und Umweltschutz (BUND) auf Differenzen hingewiesen, die die demokratische Verfasstheit der Organisation betref­ fen (Nr. 8, Abs. 38-42). Dabei kritisierte dieser Vertreter, dass bestimmte Sondermeinungen der kleinen Organisationen ohne demokratisches Man­ dat zu viel Raum einnehmen (ebd.). Er kritisierte weiterhin, dass diese kleinen Projekte nicht unbedingt ausreichend Wissen über die Thematik

305 Beispielsweise Unterschiede hinsichtlich Organisationsgrad, Formalisierung usw. (z. B. Nr. 8, Abs. 39-40). 306 Im Rahmen der Interviewerhebung bestand die Möglichkeit, am 20.01.2017 an einem solchen Treffen teilzunehmen, da der Kreis der unterstützenden Orga­ nisationen sich auch nach dem formalen Ende der Initiative weiter getroffen hatte. Die Anzahl der Treffen nahm dabei ab und fand zu bestimmten Anlässen statt, in diesem Fall bei der „Wir haben es satt“-Demo in Berlin am 21.01.2017. Inhalt des Treffens war die Berichterstattung, wie die Themen der EBI weiterge­ führt wurden und welche neuen Herausforderungen sich für die Umsetzung des Menschenrechtes auf Wasser ergeben, insbesondere im Hinblick auf inter­ nationale Handelsverträge, wie etwa CETA. Bei diesem Treffen konnte die freundschaftliche Atmosphäre der verschiedenen Organisationen, eine sachliche und auf Argumenten und dem Ziel einer gemeinsamen Problemlösung beru­ hende Arbeitsweise bestätigt werden.

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und Argumentationsgeschick haben, sodass diese sogar den Erfolg der Kampagne gefährden könnten (Nr. 9, Abs. 51). Ansatzpunkte für eine transnationale Solidarität und kollektive Identität bei der Kampagne Einige der Interviewten sprachen sich auch dahingehend aus, dass das transnationale Design der Initiative ein Zusammenwachsen auf EU-Ebene, die Entstehung von Gemeinsamkeiten und einem gemeinsamen Bewusst­ sein über Ländergrenzen sowie eine Art von geteilter Identität ermöglichte (Nr. 4, Abs. 83) – und dies auch ohne regelmäßigen physischen Kontakt (Nr. 5, Abs. 88). „Das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist, weil man da europa­ weit zusammenarbeiten muss, findet man auch Wege, wie man euro­ paweit zusammenarbeiten kann, das wird viel zu selten versucht. (…) Und dass man da mal über den Tellerrand kuckt und erfährt, wie denken die eigentlich darüber. Ach guck mal, die denken da anders drüber. Was ist denn der Beweggrund und ach interessant und man lernt voneinander“ (Nr. 5, Abs. 82). „Also der Witz ist, wir haben ja außer in Brüssel in dem Koordinie­ rungskreis auf EU-Ebene gar nicht zusammengesessen. Wir haben dann uns kennengelernt auch virtuell zum Teil nur über diese EBI, z. B. den Kollegen da in Griechenland oder Kollegen in Österreich und so. Und ich hab immer noch Kontakt mit denen und kann zu Wasser Fragen mit denen mich austauschen. Aber es war eben klar, wir haben da ein gemeinsames Anliegen und verfolgen das obwohl wir uns nicht begegnen. Das fand ich sehr interessant“ (Nr. 5, Abs. 88). Zudem haben zivilgesellschaftliche Organisationen, wie die Grüne Liga und die Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft (AöW) „Schützenhilfe“ bei einer Veranstaltung in Griechenland gegeben, bei der es um die Priva­ tisierungsvorhaben der Troika in Griechenland ging (Nr. 8, Abs. 23). Auf dieser Veranstaltung berichtete dann der Vertreter der Grünen Liga von den Erfahrungen der Privatisierung der Stadtwerke in Berlin. Bei dieser Gelegenheit sammelten sie auch Unterschriften für die EBI in Griechen­ land (Nr. 8, Abs. 23): „In Griechenland hatte ich irgendwie eine Einladung von so ner Um­ weltorganisation. Ich sollte da was zum Wasser sparen erzählen, dach­

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

te ich, ja auch schön und dann hab ich irgendwie im Gepäck gehabt 3 Kollegen, u. a. die xy [Name anonymisiert, J. S.] von AöW, sind wir dann nach Thessaloniki hin, ich dachte, ich werde denen jetzt nicht erzählen, dass Wasserprivatisierung für euch doof ist und dass ihr das nicht machen sollt, ich hab nur Berliner Erfahrungen erzählt und Frau Hecht hat so in Griechisch kopierte Unterschriftenlisten dabei. Also da haben wir auch ein bisschen versucht, da die Unterstützung mit zu kriegen, zumal die ja wiederum von der EU schwer auch gefordert sind, ihre Wasserwerke zu privatisieren. Und also das hat ein müh damit zu beigetragen, dass die auch das Quorum geschafft haben, also wir haben auch schon ein bisschen gekuckt, nachdem irgendwie in Deutschland das Ding durch war, mit einer Mio. Unterschriften, hat­ ten wir das praktisch alleine erfüllt, aber wir wollten ja auch nicht nur, dass Minimum an Mitgliedsstaaten haben, sondern auch zeigen, dass irgendwie eine breite Basis hat. In ein paar Ländern lief es überhaupt nicht“ (Nr. 8, Abs. 23). Insgesamt gab es in den Interviews Hinweise darauf, dass die EBI auch zu einer Stärkung der Bewegung rund um Wasser geführt hat, wobei einige der Interviewten auch eine Brücke zu der Anti-TTIP-Bewegung geschlagen haben, zu der sie sich als Vorläufer sahen (z. B. Nr. 5, Abs. 56, 58; Nr. 9, Abs. 49; Nr. 12, Abs. 54). So wurden also von der Bewegung, die sich zunächst vorrangig auf das Thema Wasser bezog, dann auch andere im weitesten Sinne globalisierungs- oder kapitalismuskritische Themen auf EU-Ebene bearbeitet. Herstellung von Öffentlichkeit für das Thema Wasser Ein großer Erfolg des Instrumentes besteht 5 Interviewten zufolge darin, eine breite, länderübergreifende Öffentlichkeit für das Thema Wasser (Nr. 4 Abs. 72, Nr. 11, Abs. 4 und 123, Nr. 6 Abs. 62) und, teilweise damit verbunden, auch für die Themen der öffentlichen Daseinsvorsorge herzu­ stellen (Nr. 5, Abs. 56 und 84, Nr. 6, Abs. 64, Nr. 10, Abs. 69).307 Diese The­

307 Die Rolle der Medien (das meint vor allem große nationale Medien, wie Fernse­ hen oder Printmedien) wurde dabei als sehr wichtig eingeschätzt, wenngleich (mehrfach) geschildert wurde (Nr. 4, Abs. 22; Nr. 5 Abs. 20; Nr. 6, Abs. 10), dass es sehr schwierig sei, in den nationalen Medien erwähnt zu werden (Nr. 9, Abs. 33; Nr. 12, Abs. 60).

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men konnten in die Öffentlichkeit und das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gebracht werden, wie die folgenden Zitate zeigen: „Ansonsten würde ich mir das sehr gut überlegen, weil das ja, es ist sehr sehr aufwändig und der Erfolg ist ja nicht garantiert. Also selbst wenn man formal erfolgreich ist, ist ja inhaltlich noch gar nichts erreicht, normalerweise. Also da muss man ja daran weiter arbeiten und insofern muss man kucken. Wenn es darauf ankommt, eine ge­ sellschaftliche Diskussion auszulösen über ein Thema, dann ist das ein guter Weg. Aber der ist sehr aufwändig“ (Nr. 5, Abs. 84). „Also ich sehe es als großen Erfolg der EBI an, dass das Thema Wasser als Allgemeingut und nicht als Ware ja über diesen ganzen Zeitraum wirklich in der Bevölkerung, in den Medien thematisiert worden ist und dass der Wert des also ein Zugang zu Trinkwasser zu haben und eben auch ne gute sanitäre Versorgung, dass das nochmal viel stärker ins Bewusstsein gekommen ist“ (Nr. 6, Abs. 62). Einige der Organisator*innen gingen sogar so weit zu sagen, dass durch die EBI auch eine Debatte zugunsten der Organisator*innen beeinflusst werden konnte. Darin zeigte sich dann nach dieser Sichtweise auch der Erfolg der Initiative: nämlich zu erwirken, dass der Wasserbereich aus der Konzessionsrichtlinie entfernt wurde und somit die Liberalisierung des Sektors (zunächst) verhindert werden konnte (Nr. 9 Abs. 88f.; Nr. 12, Abs. 54). „And now we see that the trend in Europe is towards public water management, even countries like Spain, Portugal or Ireland. So, some­ how I think it was a key moment for the debate like to push a bit this window of, in which the debate was having place, because we were coming from this neo-liberal agenda in which everything is really liberalized, internal market rules, concession directive, so I think it was a good tool, to put a debate on the table and to shift it a bit” (Nr. 12, Abs. 54). In diesem Zusammenhang wurde auch von den Organisator*innen geäu­ ßert, dass so eine größere Aufmerksamkeit gegenüber der Rolle der EU hergestellt wurde und die ablaufenden Prozesse und Zusammenhänge im Mehrebenensystem einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, beispielsweise welche Auswirkung die Konzessionsrichtlinie auf die Wasserversorgung der Kommunen in Deutschland hat (Nr. 5, Abs. 56) oder die Rolle der EU-Kommission bei der Troika (Nr. 12, Abs. 54).

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

„Ja auf jeden Fall. Ich denke schon, weil es, also für viele, für mich auch, ist ja eigentlich die EU Ebene sehr weit weg. Und so eine EBI bringt die erstmal wieder nach Hause ein bisschen“ (Nr. 4, Abs. 83). „Aber das fand ich total super und dass die und für Europa ist der wichtige Erfolg, dass die Menschen unter dem Gesichtspunkt disku­ tiert haben, was will ich eigentlich von Europa, was erwarte ich mir von Europa und nicht bleib mir bloß weg mit Brüssel. Die haben da eine Forderung gehabt, eine sehr konkrete“ (Nr. 5, Abs. 56). Dabei wird die Überzeugungsarbeit, die bei der Mobilisierung für Un­ terschriften für die EBI abläuft, unterschiedlich bewertet: Während ein griechischer Gewerkschaftsrepräsentant dies als „infiltrate their brains“ be­ zeichnete (Nr. 14, Abs. 46), stellten andere Mitglieder des deutschen Unter­ stützer*innenkreises es beispielsweise als „Vehikel dar, um mit Menschen auf der Straße ins Gespräch zu kommen“ (Nr. 4, Abs. 85). Dabei liegt der Schwerpunkt stärker auf dem beidseitigen Gespräch, dem gegenseitigen Austausch. Diese Interviewten betonten weiterhin, dass die Unterschrift auf dem Papier, sprich die analoge Überzeugungsarbeit, mehr Anknüp­ fungspunkte für Deliberation beinhaltete, als dies über die virtuelle Samm­ lung der Unterschriften auf digitalem Wege möglich wäre (Nr. 6, Abs. 78; Nr. 14, Abs. 46). Mögliche Deliberationsprozesse mit Institutionen (mit EU-Kommission und EUParlament) Die EBI bietet als Verfahren auch Ansatzpunkte für Deliberationsprozesse mit den EU-Institutionen. Diese fanden insbesondere auf den persönlichen Vorsprechterminen zwischen den Organisator*innen und der EU-Kommis­ sion und dem EU-Parlament am 17. Februar 2014 statt.308 Dort konnten die Organisator*innen ihre Anliegen vortragen, erklären und Fragen mit den institutionellen Vertreter*innen besprechen. Das Treffen mit der EUKommission fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, das beim EUParlament wurde durch eine Livestream-Übertragung der Anhörung einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

308 Die Anhörung fand am 17. Februar 2014 statt. Am Vormittag durften 15 Vertre­ ter*innen der EBI vor der Kommission vorsprechen, am Nachmittag dann vor Vertreter*innen des Europäischen Parlamentes.

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Anhörung bei der EU-Kommission Bei der Anhörung der Kommission war der Vizekommissar Sefcovic anwe­ send, da er zuständig für das Instrument EBI ist (Nr. 12, Abs. 30). Zudem waren Vertreter*innen derjenigen Generaldirektionen vertreten, die für die Inhalte der Initiative und deren Umsetzung verantwortlich waren, beispielsweise die Bereiche Binnenmarkt, Gesundheit, Umwelt und Ent­ wicklung sowie Handel (Nr. 5, Abs. 46; Nr. 13 Abs. 26-28). Der Ablauf der Anhörung war stark reglementiert und folgte in drei Blöcken im Wesentli­ chen den drei Hauptzielen der Initiative, wobei die Vertreter*innen der EU-Kommission nach jedem Themenblock etwas erwidern bzw. Nachfra­ gen stellen konnten (Nr. 5 Abs. 46). Gerade dieser als relativ starr empfun­ dene Ablauf wurde von den Organisator*innen als hinderlich für Prozesse der Deliberation empfunden, da Austauschprozesse und eine Diskussion nur sehr eingeschränkt möglich waren (Nr. 7 Abs. 97-99). „(…) und die Diskussion innerhalb dieses Gremiums bei der Kommis­ sion, erstmal war es natürlich auch beschränkt, d. h. es waren die Anzahl der Teilnehmer beschränkt und es war insofern beschränkt, wer reden durfte und wer nicht“ (Nr. 7, Abs. 97). Zudem wurde von den Organisator*innen kritisiert, dass bei ihnen der Eindruck entstand, dass die Nachfragen, die von den Kommissionsvertre­ ter*innen geäußert wurden, nicht ernst gemeint – im Sinne von lösungs­ orientiert – waren. Aus diesem Grund wurde von einigen Organisator*in­ nen die intrinsische Motivation der EU-Kommission an der Umsetzung der EBI Right2water angezweifelt (Nr. 5, Abs. 46; Nr. 12, Abs. 30-34; Nr. 11, Abs. 91). „Also das war schon, so richtig ernst gemeinte Fragen, wir wollen gern wissen, was euer Anliegen ist, weil wir erwägen, es zu erfüllen, so kam einem das nicht vor“ (Nr. 5, Abs. 46). Vielmehr wurde von einigen der teilnehmenden Organisator*innen, die in dieser Arbeit interviewt wurden, der Vorwurf erhoben, bei der Anhörung der EU-Kommission habe es sich um eine „Pflichtveranstaltung“ gehandelt (Nr. 7, Abs. 105, weniger stark Nr. 11, Abs. 91). Diese habe sich ihre Mei­ nung zu der Initiative bereits vorab gebildet, wobei die Veranstaltung dazu diente, öffentlichkeitswirksam zu inszenieren, wie wichtig die Partizipati­ on von Bürger*innen in der EU sei und welch großen Erfolg die EU-Kom­

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mission damit verbuchen könne (Nr. 10, Abs. 48; Nr. 7, Abs. 97 und 105; Nr. 5, Abs. 52).309 Dies sollen die nachfolgenden vier Zitate verdeutlichen: „(…) and then the first round was five questions on (…), then there was a general explanation and in fact the communication of the Commission follows a little bit the structure of the meeting. They first told us everything they’ve done, and then they introduced a few elements, then we explained our case, they took little notice in the communication, some thin appeal and then they explained us again what they would do. The issue of the waterframework directive came, it’s up for revision in 2018, the water linking provision, they also said was up for revision in 2016, which they opened. And we were very very of this, because a revision of a Directive is also expert meeting in Commission buildings in Brussel time with the lobbyists of Brussels. So, we go there with our 2 Mio signatures and then we are surrounded by people, that they are payed by water multinationals, that they have different umbrellas, Aquafed, WSCTP, SUEZ. So you have 6 guys are actually payed by the same matrix, too much for the right 2 water. So, the hearing with the Commission we didn’t feel any. Sorry, we didn’t gather any internal motivation. They were prepared, (...), it was like, we all agree, and then we are very happy, and so on. And then they did the communication. The parliament was more interesting“ (Nr. 13, Abs. 30-34). „Ja, also wie bereits kurz angeschnitten, waren sie natürlich sehr be­ müht, weil diese erste erfolgreiche EBI auch öffentlichkeitswirksam als ein Werkzeug der direkten Demokratie seitens der Kommission zu präsentieren. Kommissar Sefcovic hat in den höchsten Tönen diese Mitwirkung und Entstehung der Gewerkschaften an diesem Werkzeug gelobt, es hat wirklich sehr sehr anerkennende Worte gegeben, es hat eine sehr feierliche Übergabe stattgefunden“ (Nr. 10, Abs. 48). „Also wie gesagt mein Eindruck von der Kommission, das war ne Art von Pflichtveranstaltung, war ne Art von öffentlicher Darstellung, was machen wir doch alles für unsere europäischen Bürgerinnen und Bür­ ger. Seht mal hier her und also eigentlich mehr zur Schau Stellen als wirklich deutlich zu machen, dass man sich diesen Anliegen widmen würde. Ja, ich glaub, so kann man es sagen“ (Nr. 7, Abs. 105).

309 Dieser Vorwurf wurde in unterschiedlichen Nuancen geäußert.

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„Ich mein, es war natürlich schon, wir waren natürlich schon stolz auf den Erfolg, aber im Sinne von, dass die Kommission gesagt hat, das würden wir damit tun und wir haben das gesehen und wir haben darüber nachgedacht, aber wir sehen nicht, wie wir das tun können. Aber wenn du so, ist das auch ok. Und diese Diskussion haben wir nie gehabt mit der Kommission, auch nie bis zur Mitteilung, der Bericht. Die Kommission ist nicht auf uns zurückgekommen um zu sagen, denkst du wenn wir das so tun, dass das geht. Oder sollen wir mehr, du sagst das, das ist nicht praktisch oder das geht nicht, sollen wir das so tun. Das ist nicht passiert. Das hätte die Kommission denk ich schon tun können vor dem 17. oder zwischen dem 17. und dem 19.3., wenn die die Mitteilung veröffentlicht haben“ (Nr. 11, Abs. 91). Wie das letzte Zitat verdeutlicht, nahmen die Organisator*innen die Kom­ munikation der EU-Kommission als sehr widersprüchlich wahr: Einerseits lobte diese die Initiative und die Organisator*innen, andererseits vermiss­ ten sie ein wirkliches Interesse der EU-Kommission an ihrem Anliegen (Nr. 11, Abs. 91). Sie sahen daher nur eingeschränkte Möglichkeiten für Deliberation mit der EU-Kommission, weil diese die Initiative nicht um­ setzen wollte. Anhörung vor dem EU-Parlament Die Anhörung beim Europäischen Parlament wurde von den Organisa­ tor*innen positiver bewertet. Positiv wurde dabei zunächst das rege Inter­ esse der Abgeordneten an der Anhörung wahrgenommen (Nr. 12, Abs. 40; Nr. 7, Abs. 105; Nr. 5, Abs. 50).310 Weiterhin wurde die Leitung der Anhö­ rung positiv wertgeschätzt (Nr. 7, Abs. 107; Nr. 10, Abs. 60). „Geleitet wurde das Ganze von Grote, und der hat das sehr einfühlsam und sehr sehr gut gemacht und da hab ich mich persönlich angenom­ men gefühlt. Da hab ich gesagt, das Anliegen ist auf jeden Fall in guten Händen, trotz der damals auch schon konservativen Mehrheit des EPs, das läuft ganz gut. Wir haben ja auch mit CDU Leuten und mit CSU Leuten Kontakte gehabt, was die Frage der EBI anbetrifft und unsere Wasserkonferenzen, die wir gemacht haben, immer den 310 Zudem wurde der Unterschied einer politischen Debatte beim EU-Parlament herausgestellt (Nr. 11, Abs. 91).

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Gesprächskontakt zu politisch Verantwortlichen gesucht oder zu Fach­ leuten aus den politischen Parteien. Also wie gesagt, da war mein Eindruck war da wirklich so, das ist jetzt gut aufgehoben“ (Nr. 7, Abs. 107). Eine interviewte Vertreterin von ver.di nahm im Unterschied zu der Anhö­ rung der EU-Kommission ernst gemeinte Fragen vonseiten der Parlamen­ tarier*innen wahr, die einen „tatsächlichen Willen“ der Umsetzung der EBI im Blick hatten (Nr. 5, Abs. 50). „Das war richtig großartig. Es war der größte Ausschusssaal, den sie zur Verfügung haben und sie haben das so organisiert, dass die The­ menblöcke nacheinander kamen, da merkt man auch Themenwechsel, Wechsel der Abgeordneten. Es waren im Verlaufe dieser Anhörung mind. 60 Abgeordnete da, also das ist wirklich wahrgenommen wor­ den. Da waren wir ein bisschen im Zweifel, und dadurch konnte man, das lief da genauso, dass eben aus unseren Reihen immer eine Person zu einem Themenblock vortrug und dann eben Fragen und Stellung­ nahmen der Abgeordneten kamen und da war das auch tatsächlich so, da wurden auch Fragen gestellt. Was wollt ihr denn? Wie meint ihr denn das? Was wäre denn eine Erfüllung eurer Forderung? Es gab natürlich auch die Abgeordneten, die ihre Statements abgeliefert haben, weil sie im Protokoll stehen wollen und das wars dann. Und es gab da sehr viel positive Bezugnahme auf unsere Forderung, also natürlich kam auch die französische Abgeordnete, denen AQUAFED die Stellungnahme geschrieben hat, das war sowas von überdeutlich, das war eigentlich schon eher peinlich. Aber das war die absolute Minderheit, die allermeisten haben wirklich gefragt, wie es ist und da gabs eben auch z. B. Unionsabgeordnete, die in Bayern, da ist das ja auch relativ stark, die gesagt haben, ja, ich bin zwar sonst für den Binnenmarkt, aber an der Stelle, ist der einfach fehl usw. Und es war eben eine öffentliche Anhörung und der Saal war voll, also es waren da 400 Menschen, da fühlte man sich tatsächlich gehört. Das war super. Das hätte auch ganz anders laufen können“ (Nr. 5, Abs. 50). Diese Hinweise auf Deliberation im Sinne von „ernst gemeinten Fragen“ wurden explizit von dieser einen Organisatorin geäußert, doch auch an­ dere Interviewte fühlten sich bei der Anhörung im EU-Parlament gut aufgehoben (ebd., Nr. 10, Abs. 60; Nr. 7, Abs. 107). Sehr positiv wurde wei­ terhin der hohe Zuspruch in den Kommentaren der Abgeordneten aufge­ nommen (Nr. 13, Abs. 16; Nr. 11, Abs. 79; Nr. 10, Abs. 60; Nr. 7, Abs. 107; Nr. 5, Abs. 50). Geäußerte Kritik der Parlamentarier*innen wurde z. B.

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mit fehlendem Interesse oder mit Bezug auf Lobbying beurteilt (Nr. 13, Abs. 34; Nr. 10, Abs. 60; Nr. 7, Abs. 105; Nr. 5, Abs. 50). „The hearing of the parliament is more useful, because if you have mobilized support, you can actually put the Commission under fire, which is what we did. To ensure that at least half of those MEPs spoke clearly in our favour and would not just be in our favour, it would attack, challenge the Commission, (…). So, we had that list and that favour, that middle-ground were asking questions to the Commission, what do think on this, what do you think on that. So, the internal mood of the hearing was big chunk of people saying, hey, this is citizens, you must listen to them and another big chunk saying ok, I assume that you will listen, so what do you think you re gonna do. And a very few people say no, and so on. Now, we wrote to the one of us ECI, build a sense of support within the parliament, the Commission” (Nr. 13, Abs. 36). Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse Die Interviews mit den Organisator*innen der Initiative zeigen vielfälti­ ge Anknüpfungspunkte für Deliberation in der Zivilgesellschaft und mit Bürger*innen bei diesem Instrument. Allerdings fanden diese stärker bei der Umsetzung der EBI statt als bei der Formulierung der inhaltlichen Ziele: Die Umweltorganisationen wurden beispielsweise von den Gewerk­ schaften bei der inhaltlichen Festlegung der Ziele ausgeschlossen. Ebenso scheint es, dass sich die ressourcenstarken Verbände Deutschland und Österreich mit ihrem Netzwerk bei der Formulierung der EBI durchge­ setzt haben, ohne auf gegenseitiges Lernen zu setzen. Hingegen ergaben sich vielfach Deliberationsprozesse bei der Mobilisie­ rungs- und Kampagnenarbeit zwischen den Organisator*innen, d. h. zwi­ schen unterschiedlichen Organisationsarten und dies auch über Länder­ grenzen hinweg. Dabei fanden sich ebenso Anhaltspunkte für eine Form einer transnationalen Solidarität und gemeinsam geteilten Identität unter den Organisator*innen. Darüber hinaus sind Anhaltspunkte für eine län­ derübergreifende Stärkung der Öffentlichkeit für das Thema Wasserversor­ gung zu finden, wobei dies – wie das Beispiel der Unterstützung der deut­ schen Umweltverbände für die Veranstaltung zu den Privatisierungsvorha­ ben der Troika gezeigt hat – auch verschiedene Aspekte und Zuständigkei­ ten (EBI und Privatisierung durch Troika) verknüpft werden. Gleichwohl entwickelte sich diese Identität – gleiches gilt für die Deliberationsprozesse

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bei der Mobilisierung für Unterstützungsbekundungen – immer vor dem „Feindbild“ EU-Kommission, Liberalisierung und der privaten Wasserwirt­ schaft. Die Möglichkeit zum Argumentieren, zu sachlicher Problemlösung und gegenseitigen Lernen entwickelte sich folglich nur entlang einer vorgegebenen inhaltlichen Trennlinie (öffentlich/privat), nicht über diese hinweg. In diesem Sinne erscheint Deliberation bei der EBI bereits auf ein gemeinsames Ziel beschränkt, über das hinaus es kein gegenseitiges Lernen geben kann, da dies mit den Anforderungen der Beteiligungsform (der Mobilisierung von Unterstützungsbekundungen) in Konflikt geraten würde. Nach dieser Logik (vereinfacht für oder gegen unsere Initiative) bewerten die Organisator*innen der EBI auch die Treffen mit den Institu­ tionen. In diesem Sinne wurde an der Anhörung mit der EU-Kommission kritisiert, dass deren Vertreter*innen keinen ernst gemeinten Dialog pfle­ gen wollten. Dabei empfanden die Organisator*innen einen Gegensatz zwischen dem Lob der EU-Kommission für das Instrument und den nicht ernst gemeinten und unkonkreten Nachfragen von diesen. Das Vorspre­ chen vor dem EU-Parlament wurde wesentlich positiver von den Organisa­ tor*innen bewertet. Dabei wurde von den Organisator*innen insbesondere dann etwas positiv bewertet, wenn ein*e Abgeordnete*r etwas im Sinne der Initiative gesagt hat oder an der Umsetzung der Initiative Interesse gezeigt hat – mithin geschah auch dies innerhalb der Logik dafür/dagegen. Deliberation im Sinne einer sachlichen Argumentation sahen die Organi­ sator*innen folglich vorrangig bei der Umsetzung der Initiative, nicht aber bei dem Inhalt der Initiative an sich. Damit kann auch diese binäre Aus­ richtung der EBI (dafür/dagegen) als hinderlicher Faktor für Deliberation mit den EU-Institutionen herausgearbeitet werden. 7.1.2.2 Ergebnisse der Interviews mit Unterstützenden aus dem EUParlament Die Informationen aus den Interviews mit den Unterstützenden aus dem EU-Parlament werden genutzt, um die Perspektive der Organisator*innen zu kontrastieren. Sie beziehen sich sowohl auf die deliberativen Prozesse in der Zivilgesellschaft als auch auf Deliberationsprozesse mit den EU-Institu­ tionen.

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Deliberation in der Zivilgesellschaft bei der EBI Die Abgeordneten haben positiv hervorgehoben, dass grenzübergreifende Zusammenarbeit von Bürger*innen und NGOs angeregt und damit auch eine übergreifende Solidarität geschaffen wurde (Nr. 19, Abs. 20; Nr. 15, Abs. 78). Ebenso verdeutlichten auch die Interviews mit den Abgeordne­ ten, dass das Instrument EBI das Potenzial hat, eine übergreifende europäi­ sche Öffentlichkeit für das Thema Wasser, aber auch, damit verbunden, für die öffentliche Daseinsvorsorge herzustellen (Nr. 15, Abs. 64; Nr. 16, Abs. 126; Nr. 18, Abs. 22, 48, 76; Nr. 17, Abs. 6). In dieser Hinsicht ergänzte eine Abgeordnete aus dem EU-Parlament die Leistung des Instrumentes EBI dahingehend, dass die EU-Gesetzgebung zum Thema Wasser grundsätzlich sehr komplex und den Bürger*innen schwer zu vermitteln sei: „Naja, das Problem ist einfach, dass in dem Fall die EU Vorschläge gemacht hat, die genau die Struktur der Wasserversorgung in Deutsch­ land, aber teilweise auch in Österreich, also in bestimmten Staaten, untergraben hätte, weil die Wasserversorgung in den Stadtwerken meistens gekoppelt ist auch an die Energieversorgung, die Energiever­ sorgung aber bereits liberalisiert war und die Anforderungen deshalb an die Wasserversorgung so schwierig einzuhalten gewesen wären, dass in der Konsequenz die Stadtwerke hätten ausschreiben müssen. Konzessionen hätten europaweit ausschreiben müssen, und da ist es dann natürlich immer ein Problem, da greifen sich dann die Privaten die Filetstücke raus und die anderen können sehen, wo sie bleiben. Also das war die komplexe Situation, aber das zu vermitteln, weil da hätte man auch die gesamte Struktur dieser Stadtwerke vermitteln müssen und vermitteln müssen, was die Liberalisierung des Energiebe­ reichs für den Wasserbereich für Folgewirkungen hat. Also das war die schwierige Situation“ (Nr. 16, Abs. 4). Den Erfolg der EBI begründete diese Abgeordnete dann auch damit, dass Abwehrkämpfe gegen die EU-Gesetzgebung, wie in diesem Fall gegen die Konzessionsrichtlinie, leichter zu mobilisieren seien als solche dafür: „Abwehrkämpfe gegen die EU sind glaub ich sowieso politisch leich­ ter zu organisieren und zu vermitteln als Kämpfe um eine europäi­ sche Gesetzgebung, vom allgemeinen Klima her fürchte ich“ (Nr. 16, Abs. 44).

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Deliberation zwischen Zivilgesellschaft und EU-Institutionen In dieser Hinsicht wurde das Zustandekommen des Erfolgs der EBI – der Ausnahme des Wasserbereichs aus der Konzessionsrichtlinie – unter­ schiedlich von den befragten Abgeordneten beurteilt. Die eben zitierte Ab­ geordnete sieht in der Ausnahme des Wasserbereichs fast schon eine Trotz­ reaktion Michel Barniers als damaligen Binnenmarkt-Kommissar bei den Trilogverhandlungen, um sein Gesicht in den bevorstehenden EU-Wahlen zu wahren, nachdem die Quoren der EBI in immer mehr Mitgliedstaaten erfüllt wurden: „Und da kam das. Und in dem Fall hatte natürlich in erster Linie mit der Binnenmarktdirektion zu tun, also weniger mit den anderen. Die haben sich da schön rausgehalten, weil sie es ja direkt nicht betroffen hat, und die Binnenmarktdirektion war an der EBI überhaupt nicht interessiert. Für die war das lästig. Und wie gesagt am Anfang hatten sie noch die große Hoffnung, sie könnten das alles als deutsch-österrei­ chisches Problem abtun. Und damit erledigen, aber nachdem dann immer mehr Länder auch über die Quoren kamen, wurden sie nervös. Und dann zuallererst wurde noch versucht mit Diffamierungen dage­ gen anzugehen, also Herr Barnier hat ja einige üble Presseerklärungen dazu rausgebracht oder auch Statements gemacht, wo er das ganze versucht hat als Unsinn abzutun usw. Nur dann als es über die 1 Mio. ging, und auch die Abgeordneten nervös wurden, weil ja die nächsten Europawahlen anstanden, da wurde dann auch Barnier nervös. Und da hatte dann kurzerhand den ganzen, also man kann nur sagen, regelrecht den Paddel hingeschmissen, er hat sich nicht mehr weiter drum gekümmert. Für ihn war es dann erledigt. Er sagte, abblasen, fertig, aus“ (Nr. 16, Abs. 50). Ein anderer Abgeordneter hingegen sieht in dem Agieren von Michel Barnier vielmehr Ansatzpunkte für Deliberation (Nr. 18 Abs. 30, 38) und fügt hinzu, dass Barnier selbst kein „Neoliberaler“ sei, sodass seine Grund­ überzeugung den Weg ein Stück weit geebnet hat (Nr. 18, Abs. 40). Dieser Parlamentarier kritisierte die Organisator*innen dafür, dass sie sich so massiv negativ über Michel Barnier bzw. die EU-Kommission GD Binnen­ markt geäußert haben, da dies zum einen nicht zweckdienlich und zum anderen nicht unbedingt sachlich gewesen sei. Er sah darin vielmehr eine Vereinfachung der Organisator*innen, die auch auf Barnier hätten zuge­ hen und in einem Austausch definieren können, was öffentliche Daseins­ vorsorge ist (Nr. 18, Abs. 22, 34). Gleichwohl hätten sie sich sehr auf eine

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vereinfachende Anti-Kommissions-Haltung in der Öffentlichkeit versteift – und zudem in der Berichterstattung das ungeklärte Osteuropa-Korrupti­ onsproblem verschwiegen, das nach diesem Abgeordneten ein Grund für die Neuregelung der Wasserkonzessionen in der Konzessionsrichtlinie sei (Nr. 18, Abs. 34): „Und das ist mein Kritikpunkt auch an die NGOs, die haben das nicht aufgenommen und diese Korruptionsseite ist jetzt nicht bekämpft. Das ist weiterhin eine offene Geschichte. Barnier hat dann in der Zeit in Frankreich mal ein Interview gegeben und hat sich im Interview dafür eingesetzt und hat gesagt, es ist an der Zeit, dass wir definieren was ist öffentliche Daseinsvorsorge und dass wir einen stabilen klaren rechtlichen Rahmen schaffen, wie wir mit öffentlicher Daseinsvorsor­ ge umgehen. Insofern ist es tatsächlich nicht nach meinem Eindruck das Interesse der Kommission, bzw. von Barnier gewesen, die Wasser­ versorgung zu privatisieren, es ging um ein anderes Problem und das ist nach wie vor nicht gelöst. Und das ist wiederum auch ein Ergebnis dieser Debatten, die deutsche, insbesondere deutsche und westeuropäi­ sche Befindlichkeiten transportiert haben, aber ausgeblendet haben, dass es ein reales Problem in osteuropäischen Ländern gibt, das auf­ grund dieser Debatten nicht gelöst worden ist“ (Nr. 18, Abs. 34). „Ich find’s auch richtig, dass diese Debatte zwischen Bürgerschaft und Kommission stattgefunden hat und die Kommission an dieser Stelle, glaub ich, auch ein Stückchen sensibler geworden ist (…) Ich hab den Eindruck, dass diese Debatte schon dazu beigetragen hat, dass es da ne höhere Sensibilität gibt, in der Kommission gibt, mittlerweile“ (Nr. 18, Abs. 36). Zu dem Vorsprechen der Organisator*innen vor dem EU-Parlament er­ gänzt eine Abgeordnete, dass sie bei dem Treffen den Tagesablauf als stark reglementiert erlebt habe (Nr. 16, Abs. 66). Wenngleich sie die Zuteilung der Redezeiten aus Organisationsgründen nachvollziehen konnte, bedau­ erte sie, dass es so keine richtige Aussprache hätte geben können: „Also es war fast schon wieder überorganisiert mit klaren Sprechzeiten und Sprech-, also da wurde dann je nach Fraktion wurde dann Sprech­ zeiten zugeteilt, die je nach Abgeordneten runtergebrochen werden mussten. Also es gab da sehr sehr strikte Regeln, gut aber, ich mein bei so einem großen Parlament muss man das natürlich auch machen. War nur schade, weil dadurch keine wirkliche Aussprache stattfand, sondern eher ein Ritual, mehr oder weniger. Die Hoffnung war,

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

dass die Kommission sich deutlicher äußert, die Hoffnung ist leider nicht erfüllt wurden. Die Kommission hat sich sehr nebulös geäußert, hat keine klaren Aussagen gemacht, keine klaren Versprechungen ge­ macht, teilweise waren es auch widersprüchliche Aussagen zwischen verschiedenen Direktionen. Also es war insgesamt kein klares Bild“ (Nr. 16, Abs. 66). Sie bestätigt dabei in dem Zitat den Eindruck der Organisator*innen, dass von den Vertreter*innen der EU-Kommission keine klaren Aussagen zu der Initiative gemacht wurden. Zusammenfassung und Interpretation: Die Unterstützenden aus dem EU-Parlament haben auch die Ansatzpunkte des Instruments für Deliberationsprozesse in der Zivilgesellschaft gelobt, insbesondere die Möglichkeit, eine transnationale Öffentlichkeit in der EU herzustellen. Dass dies im Fall von dieser EBI geglückt ist, führte eine Abgeordnete darauf zurück, dass die EBI ihre Forderung als einen Abwehr­ kampf gegen europäische Gesetzgebung dargestellt hat. Sie ergänzt, dass Abwehrkämpfe gegen die EU leichter zu mobilisieren seien als solche dafür. Sie weist dabei auch auf eine Vereinfachung der Organisator*innen hin, um die überaus komplexe Materie der EU-Gesetzgebung zum Thema Wasser öffentlichkeitswirksam zu vermitteln (Faktor Mehrebenensystem im Spannungsfeld zu Faktor Anforderung der Beteiligungsform EBI). Die­ ser Aspekt wurde auch von einem Abgeordneten des EU-Parlamentes noch stärker zugespitzt, der die Organisator*innen für ihre vereinfachende Hal­ tung der EU-Kommission gegenüber kritisierte. Gleichwohl wurde dies wurde nicht von den anderen Unterstützenden geteilt. So sah eine andere Abgeordnete das Ergebnis, den Wasserbereich aus der Konzessionsrichtli­ nie auszusparen, eher als eine Folge öffentlichen Drucks durch die EBI – mithin könnte hier vielleicht von dem Effekt einer kritischen Deliberation und damit einhergehenden Kontrolle durch die Bürger*innen gesprochen werden. Eine Abgeordnete beschrieb auch das Vorsprechen mit den Organisa­ tor*innen vor dem EU-Parlament als sehr stark reglementiert und durch­ organisiert und vermisste den Charakter einer offenen Aussprache. Dies bestärkt insoweit die Interpretation der Aussagen der Organisator*innen, dass Letztere das Vorsprechen beim EU-Parlament so positiv bewerteten, weil sie dort mehr Zuspruch bekamen. Mithin fußte die positive Bewer­

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

tung vorrangig auf einem Zuspruch innerhalb der binären Logik der EBI und weniger auf einer gemeinsamen Problemfindung. 7.1.2.3 Ergebnisse der Interviews mit den Mitarbeitenden der EUKommission Die Informationen der Mitarbeitenden der EU-Kommission geben die Ein­ schätzung wieder, die diese von den Organisator*innen der EBI hatten und beziehen sich auf die geplanten Maßnahmen der EU-Kommission im jeweiligen Fachbereich und nicht auf das Vorsprechen der Organisator*in­ nen am 17. Februar 2014. Von zwei Mitarbeitenden der EU-Kommission wurde – wenn auch in unterschiedlichen Facetten – der Vorwurf einer inhaltlichen Versteifung der Organisator*innen laut, die deliberativen Prozessen und einer gemein­ samen Problemlösung im Weg stand. Der Mitarbeiter GD Umwelt äußerte die hohen Kosten als Problem, die die Umsetzung des Menschenrechtes auf Wasser nach sich ziehen würde. Er begründete dies damit, dass zu jedem Haus Wasserleitungen verlegt werden müssten und dass das mit hohen Kosten verbunden wäre. Zudem würden diese Kosten bestimmte Staaten, wie beispielsweise Rumänien, besonders betreffen, sodass in der Konsequenz dort das Wasser teurer werden würde, weil die Kosten für die Leitungen auf die Verbraucher*innen umgelegt werden würden – dieses Vorgehen sei nicht im Sinne der EU-Kommission (Nr. 3, Abs. 30). Nach diesem Mitarbeiter traten die Organisator*innen der EBI als „fast schon dogmatisch“ auf (Nr. 3, Abs. 12). Deutlich drastischer zeigt sich diese Einstellung bei dem Mitarbeiter aus der GD Binnenmarkt beim Thema Liberalisierung von Wasser- und Abwassersystemen (Nr. 2, Abs. 49, 59). Während dieser Mitarbeiter die Forderung der EBI zunächst vorrangig als ein Kommunikationsproblem betrachtete, da die Entscheidung, mit der Wasserversorgung an den Markt zu gehen, allein bei der jeweiligen öffentlichen Stelle läge (Nr. 2, Abs. 3), sah er im Laufe der Verhandlungen zunehmend „Propaganda und Ideologie“ vonseiten der Organisator*innen (Nr. 2, Abs. 49, 59). „Propaganda“ aus Sicht dieses Mitarbeiters stellte sich vor allem in dem übertriebenen Angstszenario vor privaten Wasser­ anbietern dar (Nr. 2, Abs. 23, 45). Aus Sicht dieses Mitarbeiters hängt die Qualität der Wasserversorgung eher davon ab, wie gut die Konzessionsver­ träge verhandelt sind – und das wiederum an der Professionalisierung

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

der öffentlichen Stellen.311 Vielmehr äußerte er die (wenn auch nicht zu belegende) Vermutung, dass die deutsche Kommunalwirtschaft ihre Interessen bei der Initiative im Spiel hatte, weil es immer die deutsche Kommunalwirtschaft war, die derart die Ausnahme aus den Konzessions­ verträgen gefordert hatte (Nr. 2, Abs. 3). Dies soll in dem folgenden Zitat verdeutlicht werden: „Ich fand eine gewisse Enttäuschung schon, weil ich doch einiges an Missverständnissen gesehen und Fehlkonstruktionen und auch an Ideologisierung und es gab dort einfach einen bestimmten Moment, wo man auch mit den Leuten nicht mehr vernünftig reden konnte, um es mal sehr generativ auszudrücken. Weil, das seh ich immer wie­ der, das erinnert mich auch an den Brexit, oder an solche Dinge, dass einfach Sachen dann in der Öffentlichkeit so stark sind, dass sie nicht mehr gekontert werden können, obwohl die Behauptung durchaus fragwürdig ist. Im Grunde müsste man die Dinge m. E. differenzierter sehen, man sollte nicht einfach die private Leistungserbringung zum Buhmann machen und die öffentliche in den Himmel loben, das ganze sind wirklich schwierige Dinge, die auf beiden Seiten Experten verlangen und wenn das nicht vernünftig geregelt ist, und wenn die Leute nicht die Expertise haben, nicht die nötige Expertise reinsteckt, dann wird das nicht funktionieren, egal, wie es organisiert ist“ (Nr. 2, Abs. 59). Im Hinblick auf die Frage von öffentlicher und privater Trägerschaft weist der Mitarbeiter aus der GD Binnenmarkt darauf hin, dass er positive Mo­ delle in beiden Bereichen gesehen habe (Nr. 2, Abs. 49). Der entscheidende Faktor sei ihm zufolge die Professionalisierung, die in die ausgehandel­ ten Verträge gesetzt wird (Nr. 2, Abs. 11, 49, 59). Insbesondere durch die Kleinteiligkeit der Gemeindeautonomie in Deutschland sieht er Probleme einer zu geringen Professionalisierung (Nr. 2 Abs. 51). Interessant ist, dass der Mitarbeiter der GD Binnenmarkt betont, dass die EU-Kommission einem Liberalisierungsverbot von Wasser neutral gegenüberstehe (Nr. 2, Abs. 23). Allerdings sähe er ein solches Verbot in dem Zuständigkeits­ bereich der Mitgliedstaaten, dass beispielsweise einzelne Mitgliedstaaten bzw. auch die ganze EU (Mehrheit der Staaten) den Bereich ausnehmen

311 Auch der Mitarbeiter der Generaldirektion Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung sieht die Frage nach einer öffentlichen oder privaten Wasserversor­ gung als eher nachrangig an, betont aber die Wichtigkeit der Wasseranbieter „to balance their books“ (Nr. 1, Abs. 3).

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

bzw. eine einheitliche EU-Regelung treffen könnten. An der persönlichen Randnotiz des Mitarbeiters wird jedoch ersichtlich, dass er nichts davon hält, eine private Wasserversorgung zu verbieten, weil es genug Eingriffs­ möglichkeiten für den Staat gibt (Nr. 2, Abs. 23). „Ob ich jetzt, ich würde das [Liberalisierungsverbot, J. S.] persönlich nicht unterstützen, weil da kommen wir wieder zu dem, was wir vorher gesagt hatten, weil ich durchaus der Meinung bin, dass man solche Sachen auch mit Privatunternehmen gestalten kann oder der öffentliche Sektor kann sich auch genügend Eingriffsmöglichkeiten vorbehalten“ (Nr. 2, Abs. 23). Der Mitarbeiter weist darauf hin, dass es prinzipiell möglich wäre, eine Li­ beralisierung von Wasser und Abwasser in der EU zu verbieten (wie bspw. gerade das Tabakwerbeverbot), gleichwohl würde das das ganze System, so wie es jetzt funktioniert, auch durcheinanderbringen (Nr. 2, Abs. 27). Zudem sieht er dafür nicht unbedingt eine Mehrheit unter den Mitglied­ staaten, die sich damit eine Selbstbindung geben würden, die sie eigentlich nicht wollten (Nr. 2, Abs. 45). Dieser Mitarbeiter verweist auf ein anderes Ergebnis der EBI, das seiner Meinung nach sehr sachdienlich ist, jedoch in der öffentlichen Debatte weitgehend ohne Beachtung geblieben ist: eine stärkere Zusammenarbeit der EU-Kommission mit den Mitgliedstaaten hin zu einer Professionalisierung der Vergabestellen (Nr. 2, Abs. 53). Zusammenfassung und Interpretation: Die Informationen der Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kom­ mission zeigen durch ihr Fachwissen eine andere Perspektive auf die EBI. Dabei äußerten beide Mitarbeiter in unterschiedlicher Gewichtung den Vorwurf an die Organisator*innen, nicht an Problemlösung interes­ siert gewesen zu sein, sondern dogmatisch zu argumentieren. Beide Inter­ views bereichern die bisherigen Darstellungen von Organisator*innen und Unterstützenden des EU-Parlamentes, da sie Informationen beinhalten, die in den anderen Interviews nur unzureichend thematisiert wurden. Dazu zählt der Kostenaspekt bei der Umsetzung des Menschenrechtes auf Wasser oder die Professionalisierung der Vergabestellen. Sie verdeut­ lichen zudem die unterschiedlichen Perspektiven von Kommissionsmitar­ beiter*innen im Vergleich zu den Organisator*innen der Bürgerinitiative: Der Mitarbeiter der GD Binnenmarkt bezog sich beispielsweise in seiner Argumentation auf Beschwerden von Unternehmen aufgrund von einer

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Diskriminierung durch öffentliche Stellen bei der Auftragsvergabe in Deutschland (z. B. Nr. 2, Abs. 3). Diese Perspektive wurde im Rahmen der Interviews mit den Organisator*innen nicht thematisiert. Die Gegenüber­ stellung von Sacharbeit und Propaganda erscheint bei dem Mitarbeiter der GD Binnenmarkt deutlich schärfer – dies deckt sich auch mit der Beschreibung der Organisator*innen der einzelnen GDs (auch bei diesen wurde die GD Binnenmarkt negativer dargestellt als die GD Umwelt). Dieser Mitarbeitende bringt stattdessen die Ausnutzung der Kommunal­ wirtschaft in Deutschland für eigene Anliegen in Spiel. Die Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission bestätigen damit die Verein­ fachung der Darstellung EBI durch die Organisator*innen, die mit der Beteiligungsform EBI einhergehen. 7.1.2.4 Strukturelle Probleme im Kriterium Deliberation und dafür ursächliche Faktoren Bei diesem Kriterium scheinen starke Bewertungsunterschiede zwischen den Perspektiven der Beteiligten zu bestehen, insbesondere zwischen den Organisator*innen der Zivilgesellschaft und den Mitarbeitenden der EUKommission. Beide Gruppen sagen über sich selbst, dass sie an der Sache interessiert seien, während die jeweils andere Seite ideologisch handele. Neben starken inhaltlichen Differenzen (öffentliche und private Organisa­ tionsform der Wasserwirtschaft) scheint dies zusätzlich durch die Anforde­ rungen der Beteiligungsform EBI verstärkt zu werden (Erklärungsfaktor Beteiligungsform EBI). Die Interviews haben hingegen gezeigt, dass es – um Unterstützungsbekundungen zu mobilisieren – Vereinfachungen braucht (Anforderungen des Instrumentes), wobei diese bei der Komple­ xität der europäischen Entscheidungsfindung und der Thematik an ihre Grenzen kommen (Faktor Mehrebenensystem und EU-Gesetzgebung). Zu­ dem zeigten die Interviews mit den Organisator*innen, dass gegenseitiges Lernen, eine geteilte Identität und eine gemeinsame Problemlösung vor­ rangig innerhalb des definierten Ziels der EBI ablaufen können (Anforde­ rung Beteiligungsform EBI). Auch wenn diese Anforderungen gerade eine EU-weite Öffentlichkeit ermöglichen, schränken sie die Deliberationspro­ zesse mit den Institutionen im Sinne einer gemeinsamen Problemlösung deutlich ein. Zudem zeigen sich sehr unterschiedliche Erwartungen der beteiligten Gruppen an den Dialog, insbesondere bei dem Vorsprechen. Dabei störten die Organisator*innen sich stark an den unkonkreten Fragen der EU-Kom­

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

mission und dem übermäßigen Lob (Erklärungsfaktor Mehrebenensystem, Beteiligungsform Konsultation). Unter Bezugnahme auf die hohen Hür­ den des Instrumentes forderten sie deshalb eine Umsetzung des Bürger­ willens, d. h. Deliberation bestand aus ihrer Sicht vorrangig darin, ihr Anliegen umzusetzen. Aus dieser Sicht hat auch die EU-Kommission bei ihrem Vorsprechen wenig Anhaltspunkte für Deliberation gegeben. Inter­ essant ist dabei die Aussage eines Mitarbeitenden der EU-Kommission, den Verzicht auf weitere Maßnahmen damit zu begründen, dass das Anliegen nicht der Mehrheit der Mitgliedstaaten entspräche. In diesem Sinne zeigen sich sehr unterschiedliche Erwartungen an die Definition des Willens der Bürger*innen aber auch an den Dialog bei einer formal erfolgreichen EBI. 7.1.3 Verantwortlichkeit Um Argumentationsunterschiede der Gruppen sichtbar zu machen, wer­ den Informationen der Organisator*innen der Zivilgesellschaft und der Unterstützenden aus dem EU-Parlament separat dargestellt. 7.1.3.1 Ergebnisse der Interviews mit den Organisator*innen der EBI Die Interviews der Organisator*innen beschreiben, wie diese die Kriterien Transparenz und Berichterstattung im Verfahren bewerten. Transparenz im und über den Prozess: Bei diesem Punkt kritisierten die Organisator*innen, dass die EU-Kommis­ sion diese zu wenig über den Verlauf des Beteiligungsprozesses aufklärte – dies betraf beispielsweise die Terminfindung für das Vorsprechen vor der EU-Kommission und dem EU-Parlament (Nr. 5, Abs. 38): „Und das war dann am 20.12. und ja dann haben wir uns gefragt, so und was passiert jetzt? Weil wir wissen ja, dass Anspruch haben auf eine Anhörung durchs EP und durch die Kommission. Wie wird das denn laufen? Wann wird das denn laufen? Und dann haben die gesagt, na wir müssen jetzt erstmal gucken und dann haben wir gesagt. Naja, aber wenn wir da nach Brüssel kommen sollen, dann müssen ja vielleicht auch ein bisschen planen und wissen wann und so. Und das war dann alles relativ kurzfristig, EGÖD, also damals hat

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

der Jerry so ungefähr jeden Tag da angerufen und gesagt, aber wir müssen jetzt nochmal ein Datum wissen, wir müssen jetzt nochmal, wenn ihr die Präsidentin des Bürgerkomitees und andere wichtige Vorstandsmitglieder kommen sollen und die wollen ja kommen, die haben ja nun keinen leeren Terminkalender, die müssen das ja ein bisschen planen“ (Nr. 5, Abs. 38). Dabei mussten die Organisator*innen dann der EU-Kommission „hinter­ herrennen“, die wenig Initiative zeigte, sie mit Informationen über den Prozess und das weitere Vorgehen zu informieren. Allerdings verwiesen die Organisator*innen darauf, dass dieser Umstand auch mit der Sondersi­ tuation als erste EBI zusammenhing (Nr. 5, Abs. 26): „Und das Problem war eher, dass der Jerry und dann auch der Jan Willem von der EU-Kommission so am ausgestreckten Arm eigentlich verhungert, die den verhungern ließen, weil die eben nicht rüber kamen damit, wann passiert jetzt was, weil wir auch die allerersten waren“ (Nr. 5, Abs. 26). Trotz dieses Sonderumstandes wurde von einigen der Organisator*innen eine mangelnde Motivation der EU-Kommission identifiziert, darauf zu reagieren (z. B. in Nr. 4, Abs. 58; Nr. 6, Abs. 36). Diese wurde mit einer Skepsis der EU-Kommission sowohl gegenüber dem Thema (Liberalisie­ rungsverbot von Wasser) als auch gegenüber dem neuen Instrument EBI erklärt (Nr. 6, Abs. 36), wie beispielsweise durch das folgende Zitat veran­ schaulicht: „Aber was ich davon mitbekommen habe, war, dass das so ein Learning by doing war. Also bei der zuständigen GD hab ich verstan­ den, gab’s jetzt nicht direkt einen Widerwillen gegen das Instrument, aber unter dem Motto, naja, die haben sich das was ausgedacht in Lissabon, aber wie man das wirklich machen kann, hatte sich da noch keiner so, ok, das brauchen die ja auch nicht, aber bei der Formulie­ rung so einer VO kann man sich vielleicht doch ein paar Gedanken machen, wie kann das eigentlich funktionieren und vielleicht mal ein paar Leute fragen, die schon mal Kampagnen gemacht haben oder sowas“ (Nr. 6, Abs. 36).

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

Erklärung der Entscheidung und Berichterstattung durch die EU-Kommission Die EU-Kommission hat ihre Antwort, welche Maßnahmen sie auf die EBI hin durchführen will, am 19. März 2014 in einer Mitteilung dargelegt und begründet. Dabei ist sie laut EBI-Verordnung nicht verpflichtet, Maß­ nahmen auf die Initiativen hin einzuleiten, sie muss ihre Entscheidung le­ diglich begründen. Auf die Berichterstattung wird bei diesem Instrument daher besonderer Wert gelegt. Die Entscheidung der EU-Kommission vom 19.3.2014 wurde von den Organisator*innen ausschließlich negativ aufgefasst – wenn auch in unter­ schiedlichen Facetten. Das größte Ziel aus Sicht der Organisator*innen, die Ausnahme des Wassersektors aus der Konzessionsrichtlinie, wurde dabei nicht der EU-Kommission, sondern ihrem eigenen Verdienst zuge­ schrieben (Nr. 5, Abs. 52). „Wenn man nur den Erfolg der EBI nur an dieser Mitteilung messen würde, dann könnte man sagen, die war nicht erfolgreich, das wär aber nicht richtig. Weil es war ja, es geht ja nicht um einen Verwal­ tungsakt, sondern es war ja eine politische Aktion und unter dem Gesichtspunkt, was haben wir politisch erreicht, war die sehr erfolg­ reich die EBI. Also was ganz klar messbar ist, wir haben die aus der Konzessionsrichtlinie die Wasserwirtschaft rausgehalten, das hat steht quasi auch in der Mitteilung drin, aber das hat nicht die Kommission gemacht, sondern das haben wir gemacht. Wir haben das erreicht und das ist auch wichtiger Faktor für alle künftigen EBIs, man braucht eigentlich einen aktuellen Gesetzgebungsprozess auf EU Ebene, den man beeinflussen kann, weil wenn man nur auf die Mitteilung hofft, ist die viele Mühe wahrscheinlich vergeblich. (…) Gut, das ist messbar, fassbar, das haben wir erreicht. Aber die Frage ist wie lange noch, die Revisionsklausel, die in der Verordnung drin steht und eben nicht sagt, was bedeutet das, das Menschenrecht auf Wasser, diese Ausnah­ me, sondern was bedeutet das für den Binnenmarkt, diese Ausnahme, macht schon klar, die Kommission hat da nicht dazu gelernt, sondern ist halt dem Druck gewichen und weil sie den Rest unbedingt wollte“ (Nr. 5, Abs. 52). Hingegen wurde die angebotene Erklärung der EU-Kommission bei ihrer Entscheidung weitestgehend abgelehnt bzw. zurückgewiesen, dass diese das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser nicht umsetzen könne, da die Wasserver- und Abwasserentsorgung im Zuständigkeitsbe­ reich der Mitgliedstaaten liegt. Die Kritik an der EU-Kommission wurde in

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

unterschiedlichen Nuancen geäußert, von „Larifari, nichts entschieden, de­ primierend“ (Nr. 4, Abs. 64), „unbefriedigend“ (Nr. 6, Abs. 52) und „hätten mehr erwartet“ (Nr. 5, Abs. 52) zu extremer Ablehnung (Nr. 13, Abs. 38). Dabei wurden die hohen Hürden für die Organisator*innen auf der einen Seite genannt und zum anderen die geringe Bereitschaft der EU-Kommis­ sion angesprochen, die EBI umzusetzen (Nr. 6, Abs. 52). Das Argument, das die EU-Kommission nutzte (Wasser- und Abwasserbereich in der Ver­ antwortung der Mitgliedstaaten), wurde zudem kritisiert, da die EBI als europäische Initiative zugelassen wurde (Nr. 6, Abs. 52) – und in dem Sin­ ne eine europäische Lösung von den Organisator*innen erwartet wurde. Die konkreten Maßnahmen, die die EU-Kommission in der Mitteilung auf die EBI angeführt hat, bezogen sich zum einen nach den Organisa­ tor*innen nicht auf ihre Forderungen (Bsp. Konsultationen zur Trinkwas­ serrichtlinie312, Nr. 5, Abs. 52). Zum anderen wurde, beispielsweise bei den Maßnahmen, die die EU-Kommission zur internationalen Förderung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser vorgeschlagen hat, kritisiert, dass bei genau diesen Maßnahmen insgesamt das Budget gekürzt wurde (Nr. 5, Abs. 52). Insgesamt wurde, wie bereits bei dem Vorsprechen vor der EUKommission, insbesondere der Gegensatz zwischen dem hohen Lob für die Organisator*innen in der Mitteilung und den unkonkreten Maßnah­ men für die Umsetzung EBI negativ wahrgenommen (Nr. 5, Abs. 52)313: „Also sowohl in der Anhörung als auch in der Mitteilung kann man das ja auch lesen, sind wir unglaublich gelobt worden für die Demo­ kratisierung, zu der wir beigetragen haben, in der EU. Das hätten wir ganz toll gemacht, total super und ja, dann haben sie sich noch ein bisschen selbst gelobt für das tolle Instrument, was sie da geschaffen haben. (…) Ne, ist total wichtig das Menschenrecht auf Wasser, aber wir sind nicht zuständig, war uns jetzt echt zu wenig. Der nächste Punkt, keine Liberalisierung, da hats uns ehrlich gesagt, nicht über­ rascht. 40 Jahre Liberalisierungspolitik macht man jetzt nicht wegen einer EBI zunichte“ (Nr. 5, Abs. 52). Wie sich in diesem Zitat bereits zeigt, etablierten die Organisator*innen überwiegend einen eigenen Erklärungsansatz für die Entscheidung der EU-Kommission. Dieser legt im Grunde genommen die Verbindung zwischen der EU-Kommission, Liberalisierungspolitik und Lobbying der großen privaten Wasserwirtschaft, insbesondere Veolia und Suez, nahe 312 Siehe dazu European Commission 2014c. 313 Siehe dazu auch ausführlicher Scholz 2018.

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

(Nr. 12, Abs. 38, 50). Dabei wurde auch auf die starke Stellung der GD Binnenmarkt innerhalb der EU-Kommission verwiesen (Nr. 10, Abs. 56): „Diese EBI hat einfach, was ich vorhin schon sagte, das politische Ziel widerspricht der politischen Leitlinie der Kommission, das ist ganz klar. Die ist für Liberalisierung und ist für, das ist klar“ (Nr. 4, Abs. 75). „Ja, das hat ja auch was mit Demokratiefragen zu tun, das hat was mit Öffentlichkeit im Verhältnis zu Konzernen, also ich glaube es gibt auch in Europa eine starke Lobby für Konzerne“ (Nr. 6, Abs. 54). In der Konsequenz sahen einige Organisator*innen in der Handhabung des Instrumentes eine Alibi-Funktion, bei der die Bereitschaft fehle, den Willen der Bürger*innen umzusetzen (z. B. Nr. 6, Abs. 50): „Klar diese Möglichkeit eines Bürgerbegehrens wurde eingerichtet, aber ich habe so ein bisschen Zweifel, dass es so gewollt ist, dass es ne tatsächlich aktive demokratische Beteiligung der Bevölkerung gibt, ob das wirklich erwünscht ist. Ich hatte ein bisschen den Eindruck, dass hat auch so eine Alibi-Funktion“ (Nr. 6, Abs. 50). Dies soll auch nochmals mit dem folgenden Zitat aufgezeigt werden. Da­ bei wird auch noch stärker die Verbindung zum institutionellen Defizit der EU gezogen (problematische Verantwortlichkeit für Bürger*innen und EP zu EU-Kommission) und zudem die Frustration der Organisator*in­ nen verdeutlicht, die mit der Handhabung des Instrumentes durch die EU-Kommission einhergeht: „So it’s really frustrating, because at some point the process is not accessible to us, like the places where decisions have taken and also they are not transparent. Like, for example we know that the European Commission has drafted an answer to the report from EP, they are not forced to do it, but it’s a good practice that they have, and we know that this draft is blocked in the College of Commissioners, because there are some Commissioners that are blocking that. And I mean, the civil servants they tell you, it’s like, no It’s blocked. I mean, and two months later you ask and it’s blocked. And of course they don’t explain you the reasons you can imagine that, so I mean I guess that they did like a really nice draft, and at some point of political level is blocked and you don’t know where and you don’t know with whom you can speak and especially what else can you do. I mean, yeah, normally we used to joke, that I mean for this ECI the only

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thing that we have left to do, is to burn ourselves and in Bonso style in front of the Commission, because I mean what else can you do when you are asking for something that is easy to do, that is accepted by the UN, is a human right is consensus you have the pope, the Parliament, the European Economic and Social Comitee, but nothing is happening and nobody is explaining you why, officially. So, yeah, I mean, we organized like a thing two years ago on world water day, like one year after the answer from the Commission, so we brought people from all around Europe, they were meeting MEPs, they were meeting the Commission, like what else can we do. No, I mean, we are not asking for money, we are not asking for something impossible to completely change the design of the European Union or break the EU. It’s about recognizing a right and when you use all the tools, that democratically you have, and nothing happens, I mean what else can you do and especially for us, that we are based in Brussels that we have the responsibility on how people perceive EU, I mean we are not out of reasonable explanation or how can you ask people to mobilize for towards the Commission and the Parliament if nothing happens. No, it’s yeah, on this topic its extremely frustrating” (Nr. 12, Abs. 52). Dabei wird diese Handhabung auch von einer Organisatorin als Gefahr für die Demokratie in der EU dargestellt: „Insofern denke ich, dass sie sinnvoll ist, aber wie gesagt, in dem Maße in dem sie von der Kommission mit Füßen getreten wird, kann das natürlich auch nach hinten raus gehen“ (Nr. 4, Abs. 83). Zusammenfassung und Interpretation Die Organisator*innen der Zivilgesellschaft äußern sich sehr negativ so­ wohl über die Prozesstransparenz und die Kommunikation der EU-Kom­ mission als auch über ihre Berichterstattung. Dabei variiert die Kritik in Nuancen. Die von der EU-Kommission angebotene Erklärung wird von den Organisatoren quasi durchweg nicht akzeptiert und stattdessen als Erklärung etabliert, dass die EU-Kommission nicht an ihrem Thema inter­ essiert sei, da sie auf der Seite der privaten Wasserwirtschaft stehe. Sie thematisieren auch einen Widerspruch zwischen hohen Anforderungen an die Zivilgesellschaft bei einer EBI, der restriktiven Handhabung des Instrumentes durch die EU-Kommission und den vorhandenen institutio­ nellen Mechanismen, die den Bürger*innen zur Verfügung stehen, um

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

politisch verantwortliches Handeln in der EU zu erwirken. In der Konse­ quenz erzeugt das bei diesen Organisatoren ein äußerst negatives Bild der EU-Kommission und der politischen Entscheidungsfindung in der EU. Gleichwohl konnten sie durch die EBI auch politischen Druck außer­ halb der Institutionen erzeugen und somit die Ausnahme des Wassersek­ tors aus der Konzessionsrichtlinie erreichen. 7.1.3.2 Ergebnisse der Interviews mit den Unterstützenden aus dem EUParlament Die Darstellungen der Unterstützenden aus dem EP beziehen sich sowohl auf die Antwort der EU-Kommission auf die EBI am 19. März 2014 als auch auf weitere institutionelle Prozesse nach der EBI. Transparenz im und über den Prozess Auch von einigen Abgeordneten wird die restriktive Haltung der Kommis­ sion gegenüber dem Thema Transparenz kritisiert. Dies machten sie bei­ spielsweise an den geringen Hilfestellungen der EU-Kommission während des Prozesses fest, in dem die Organisator*innen sich mehr oder weniger allein und ohne Begleitung vonseiten der EU-Kommission in diesem neu­ en Instrument behaupten mussten (Nr. 16, Abs. 26). „Ja, also die Unterstützung durch die Kommission war natürlich so gut wie nicht da. Also da war an sich, die machten im Prinzip alles alleine. Die haben mehrfach auch vom Parlament aus, Anfragen an die Kommission gestellt und Druck versucht auszuüben, dass da mehr Unterstützung läuft und mehr gemacht wird. Aber also da muss man wirklich sagen, da hat die Kommission sich überhaupt nicht bemüht, null, und angesichts der Situation, dass es die erste Initiative war, oder die ersten, es war ja nicht die einzige, wär es natürlich umso wichtiger gewesen, das zu begleiten. Die organisatorischen Probleme kennen sie lange um zu wissen und zu helfen, aber da lief nix, überhaupt nichts“ (Nr. 16, Abs. 26).

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Berichterstattung durch die EU-Kommission Zudem wurde die mangelnde Aufbereitung von Informationen über das Instrument selbst, d. h. beispielsweise bislang eingereichte Initiativen, ab­ gelehnte Initiativen, bemängelt, die auch nur schleppend vorangebracht wurden (Nr. 16, Abs. 46). „Also die Kommission kümmert sich eigentlich herzlich wenig um die EBI, sie hat zwar inzwischen eine Webpage, das war am Anfang auch noch nicht der Fall, das hat sie jetzt notgedrungen eingerichtet. Wo man alle Initiativen erkennen kann, die abgelehnten, die gescheiter­ ten, also auch das war ja am Anfang gar nicht, auch die abgelehnten, das war mühsam auszufinden. Aber jetzt steht das alles wunderbar auf einer Webpage, aber das ist auch so ziemlich alles, was inzwischen gemacht worden ist. Und am Anfang war nicht mal das der Fall. Da war Null. Da war überhaupt keine Vorbereitung, nichts. Sie hatten zwar diese eine, eine Verordnung, glaub ich, die hatten sie, genau“ (Nr. 16, Abs. 46). Die Erklärung der EU-Kommission in der Mitteilung, wie sie in der Folge auf die EBI reagieren wird, wurde von den Abgeordneten überwiegend (bis auf einen) negativ bewertet. Dabei wurde die Antwort als vage, un­ konkret und auch verzögernd oder verschleppend wahrgenommen, damit die EU-Kommission das Anliegen der Bürger*innen, das als politisch ge­ fährlich eingestuft werde, aussitzen könne (z. B. Nr. 18, Abs. 32; Nr. 16, Abs. 40, 50, 66, 90). Dabei wurde kritisiert, dass die EU-Kommission die EBI und die Bürger*innen nicht ernst nimmt, da sie nicht auf die Forde­ rung nach einem Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser eingehe (Nr. 15, Abs. 14). Besonders wurde in diesem Zusammenhang kritisch gesehen, dass die EU-Kommission zwar auf der einen Seite in der Mitteilung das Argument bringt, dass die Wasserversorgung in den Mitgliedstaaten liege, sie hier also nicht viel tun könne, allerdings im Rah­ men der Troika selbst aktiv an der Privatisierung der Wasserversorgung mitgewirkt hätte (Nr. 19, Abs. 18, 32; Nr. 16, Abs. 75). Diese Strategie wur­ de als widersprüchlich kritisiert (Nr. 19, Abs. 38; Nr. 16, Abs. 79). Ebenso wurde von einer Abgeordneten beanstandet, dass die EU-Kommission mit ihrer Antwort und ihrem Agieren den Eindruck erwecke, dass die EBI sie störe oder ihr lästig sei (Nr. 15, Abs. 14). Gerade die vagen Äußerungen der EU-Kommission in der Mitteilung auf die Initiative erschienen vor dem Hintergrund einer Revision der Binnenmarktrichtlinie in fünf Jahren als formale Phrasen (Nr. 19, Abs. 40, 90). Denn mit dieser Revision ginge

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

gleichwohl das Risiko einer erneuten Aufnahme des Wasserbereichs in die Konzessionsrichtlinie einher (ebd.). Eine andere Abgeordnete sieht in dem Umgang der EU-Kommission mit der EBI die Gefahr, dass die EU-Kom­ mission so vorrangig den Euro-Skeptizismus nähre, weil sie den Willen der Bürger*innen nicht ernst nehme und gegenteilig handele (Nr. 19, Abs. 38, 40). „Ich war nicht sehr glücklich über die Art und Weise, wie das gelaufen ist. Da haben wir als EP auch heftige Diskussionen geführt, auch mit der Kommission z.T., weil wir gesagt haben, so geht es nicht, wir können nicht etwas in den Verträgen hineintun, und sagen wir wollen eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit in der Definierung dessen, was wir europäisch machen wollen. Und dann, wenn sich Leute enga­ gieren, dass dann mehr oder weniger als etwas gesehen wird, das mehr das, den Ablauf der Dinge stört, als eine Hilfe und das kann ich nicht akzeptieren. Das geht nicht und da denke ich, muss die EK leider immer noch, also es hat sich nicht geändert, immer noch dazulernen, dass eben diese EBI etwas Wichtiges ist, dass sie auch wirklich ernst nehmen muss“ (Nr. 15, Abs. 14). Gleichwohl stimmt eine Abgeordnete, auch wenn sie diesem Widerspruch grundsätzlich wahrnimmt, der EU-Kommission insofern zu, als dass einige Länder, wie die Niederlande das Recht auf Wasser bereits umgesetzt hät­ ten (kostenloser Zugang zur Wasserver- und Abwasserentsorgung, Nr. 16, Abs. 73, 79). Nach Meinung dieser Abgeordneten bleibt das Problem an der Wasserthematik, dass im Binnenmarkt unterschiedliche Organisations­ strukturen nebeneinander bestehen. So gebe es öffentliche Wasserversor­ ger, wie in Deutschland oder Österreich, aber eben auch vollkommen privatisierte Systeme wie in Großbritannien (Nr. 16, Abs. 73, 75, 77). Schließlich wurde auch kritisiert, dass die EU-Kommission die zulässi­ ge Zeitspanne überschritten hätte, um auf den Folgebericht des Umwelt­ ausschusses des EU-Parlaments zur EBI Right2water (Boylan-Bericht) zu antworten (Nr. 19, Abs. 14, 16, 20). Generell wurde im Zusammenhang mit der Erstellung dieses Berichtes von einer EU-Abgeordneten im Um­ weltausschuss eine restriktive Rolle der EU-Kommission beschrieben, die als wenig entgegenkommend und wertschätzend wahrgenommen wurde (Nr. 19, Abs. 14). Die Abgeordneten wiesen darauf hin, dass in dem Design des Instru­ mentes EBI zu viel Freiraum für die EU-Kommission gelassen werde und diese durch das EU-Parlament aufgrund des Initiativ-Monopols schwer zu einem Handeln bewegt werden könne (Nr. 19, Abs. 26; Nr. 17, Abs. 54;

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7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Nr. 16, Abs. 126). Sie machen auf notwendige Änderungen in dem Design der EBI (durch Reformen) aufmerksam, die eine bessere Kontrolle ermög­ lichen. Diese könnten beispielsweise darin liegen, der EU-Kommission den Zugang zu der EBI tendenziell zu entziehen bzw. dies an eine unabhängi­ ge Stelle zu delegieren. Zudem wurde kritisiert, dass die EU-Kommission selbst darüber entscheidet, welche EBIs sie annimmt oder ablehnt (Nr. 17, Abs. 20, 22, „der Bock zum Gärtner gemacht“), wobei stattdessen für ein unabhängiges Gremium plädiert wurde. Ebenso wurde empfohlen, besser zu überlegen, wie die EBI in den Gesetzgebungsprozess integriert werden könne (Nr. 16 Abs. 126). Die Abgeordneten erklärten den Umgang der EU-Kommission mit der EBI auch damit, dass in der Kommission hauptsächlich politische Beamt*innen arbeiten, die es nicht gewohnt sind, ihre Arbeit einer Öf­ fentlichkeit zu präsentieren (im Gegenzug bspw. zu MdEPs) und zudem mit geringen Ressourcen auskommen müssen, somit eine Prioritätenset­ zung vornehmen müssten (Nr. 16, Abs. 102). Hingegen verwiesen andere Abgeordnete auf die politische Kultur der Beamt*innen der Kommission, insbesondere im Bereich Binnenmarkt und Wettbewerb: Diese seien libe­ ral bzw. neoliberal gefärbt, zum einen durch die in der Regel liberalisie­ rungsfreundlichen Kommissare in diesem Bereich (Nr. 15, Abs. 36, explizit anders: Nr. 18, Abs. 42) und zum anderen durch einen generellen Main­ stream in den EU-Institutionen in den vergangenen Jahrzehnten (Nr. 17, Abs. 36). „Ich will jetzt gar nicht so weit gehen, dass es möglicherweise auch Leute gibt in der Kommission, die sich den Wirtschaftsinteressen von verschiedensten Gruppen (ob Automobilindustrie oder öffentliche Da­ seinsvorsorge) ist, oder da sogar auf irgendeiner Liste stehen, soweit muss man gar nicht gehen, es reicht, ganz wesentlich schon, das politische Grundverständnis. Politische ökonomische Mainstream der letzten 40 Jahre der hat sich sowas von internalisiert, auch in dem Handeln von Menschen und in der Sichtweise, dass das aus sich heraus funktioniert. Da muss gar kein großer, da reicht ein intensiveres Lob­ bying, da muss gar nicht mehr passieren“ (Nr. 17, Abs. 36). Diese Einstellung der politischen Beamt*innen ginge soweit, dass einige dieser in der GD Binnenmarkt gegen den Kommissar Barnier gearbeitet hätten (Nr. 15, Abs. 22, 24, 25-28), der selbst als wesentlich offener dem Anliegen der EBI gegenüber beschrieben wurde (Nr. 18, Abs. 40; Nr. 15, Abs. 25-28, 32, 34, 37f.). Allerdings widersprach dieser Darstellung der Kultur der politischen Beamt*innen ein Abgeordneter (Nr. 18, Abs. 40,

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7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

explizit anders Nr. 17, Abs. 22). Dabei sehen die befragten Abgeordneten mehrheitlich einen großen Spielraum für die Prioritäten und Entschei­ dungsfindung bei dem zuständigen Kommissar (Nr. 18, Abs. 42, mit Ein­ schränkung Nr. 15, Abs. 24), auch wenn dieser natürlich zum einen Mehr­ heiten innerhalb der Kommission organisieren (Nr. 16, Abs. 50) und zum anderen sich mit seinen Beamt*innen in der Generaldirektion zusammen­ finden muss. Zusammenfassung und Interpretation Die Interviews mit den Unterstützenden aus dem EU-Parlament bestätigen mehrheitlich sowohl die Bewertung der Organisator*innen in Bezug auf die Transparenz des Beteiligungsverfahrens als auch auf die Berichterstat­ tung der EU-Kommission. Einen Mehrwert erzeugen sie zudem dadurch, dass sie auf die internen Vorgänge bei der Entscheidungsfindung der EUKommission referieren und damit Vorgänge der politischen Verantwort­ lichkeit innerhalb der EU-Kommission besser nachvollziehbar machen (z. B. politisch verantwortliches Handeln durch EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier). Sie beschreiben darüber hinaus die beschränkten Mög­ lichkeiten einer institutionellen Verantwortlichkeit der EU-Kommission durch das EU-Parlament (institutionelles Defizit), beispielsweise im Rah­ men der Kommunikation der EU-Kommission mit dem Umweltausschuss im Nachgang der Initiative. 7.1.3.3 Ergebnisse der Interviews mit den Mitarbeitenden der EUKommission Die Interviews mit den Mitarbeitenden der EU-Kommission wurden ge­ nutzt, um die Entstehungsbedingungen und die Begründung der Antwort der EU-Kommission besser zu verstehen. Sie sollen daher auch zu einem differenzierten Verständnis der Maßnahmen und innerorganisatorischen Verantwortlichkeit der EU-Kommission beitragen und somit die darge­ stellte Begründung der Organisator*innen kontrastieren.

322

7.1 Ergebnisse der Analyse: Perspektiven der Beteiligten

Die Mitarbeitenden der EU-Kommission sind nur bedingt mit der Ant­ wort und den Folgemaßnahmen zufrieden, wenn auch aus unterschiedli­ chen Gründen.314 Eine Begründung für die „zögerlichen Maßnahmen“ der EU-Kommissi­ on besteht nach einem Mitarbeiter darin, dass die Organisator*innen mit ihrer EBI zeigten, dass sie nur ein mangelhaftes Wissen um die Funktionsund Arbeitsweise der EU-Kommission hatten (Nr. 3, Abs. 8, 12). Dabei hob dieser Mitarbeiter zum einen die Arbeitsweise der EU-Kommission hervor, nämlich funktionsspezifisch, d. h. in unterschiedlichen Abteilungen, zu ar­ beiten. Das Thema der EBI (3 Forderungen) war für diese Zuständigkeits­ verteilung zu allgemein und unspezifisch formuliert, sodass sich keine Ab­ teilung direkt zuständig fühlte (Nr. 3, Abs. 8, 12). Zum anderen kritisierte der Mitarbeiter, dass der konkrete Anknüpfungspunkt für die Gesetzge­ bung bei der Initiative fehlte: sowohl die Wasserrahmenrichtlinie ((Richt­ linie (EG) 60/2000)) als auch die Trinkwasserrichtlinie ((Richtlinie (EG) 83/1998)) seien als Instrumente eigentlich nicht richtig „passend“ gewesen (Nr. 3, Abs. 16). Ungünstig wäre auch der Zeitpunkt gewesen, da die EBI zum Ende der ausgehenden Barroso-II-Kommission eingereicht wurde und niemand das Thema zu dem Zeitpunkt anfassen wollte (Nr. 3, Abs. 8).315 Die neue Juncker-Kommission verfolgte dann „better regulation“ als An­ satz, d. h. die Gesetzgebung auf Notwendigkeit zu überprüfen und gegebe­ nenfalls nachzubessern – damit passte die Formulierung von neuer Gesetz­ gebung hier nicht unbedingt (ebd.). Diese Aussagen des Mitarbeiters der EU-Kommission erklären die zögerliche Antwort der EU-Kommission mit punktuellen Maßnahmen (die Konsultation zur Trinkwasserrichtlinie als Kompromiss) sowie die lange Dauer von Maßnahmen der Kommission (die Überprüfung der Trinkwasserrichtlinie; Nr. 3, Abs. 16). Ein anderer Mitarbeiter wies in einem ähnlichen Sinne darauf hin, dass politische Prioritäten eine Rolle spielten innerhalb der EU-Kommission: So wurde der Wasseretat von der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit und

314 Ein Mitarbeiter aus der GD Umwelt beschreibt die Antwort der EU-Kommissi­ on auch als sehr „zögerlich“ (Nr. 3, Abs. 8, 59), ein Mitarbeiter aus der GD Ent­ wicklung und Internationale Zusammenarbeit ist nicht mit den Maßnahmen in seinem Bereich zufrieden (Nr. 1, Abs. 82 f.), ein weiterer Mitarbeiter aus der Ab­ teilung Binnenmarkt hält die Herausnahme der Konzession für die schlechteste aller Lösungen (Nr. 2, Abs. 53). 315 EBI wurde bei der EU-Kommission am 20.12.2013 als erfolgreich registriert; ein knappes halbes Jahr vor den Europawahlen im Mai 2014 und der anstehenden Neubesetzung der EU-Kommission.

323

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

Entwicklung geschrumpft, weil der neue Kommissar andere politische Prioritäten setzte (Nr. 1, Abs. 84-89, 94). Zudem verwies ein anderer Mitarbeiter der EU-Kommission – gefragt nach Voraussetzungen einer erfolgreichen EBI – darauf, dass diese eine ausreichende Wichtigkeit des Themas in der EU bräuchte. Dies bezieht sich auf den Rat und die Mehrheit der Mitgliedstaaten, die eine Gesetzge­ bungsvorlage von der EU-Kommission rechtfertigten. Er will damit dem euroskeptischen Vorwurf begegnen, dass zu viel aus Brüssel geregelt wer­ de: „Und da ist die Initiative ein bisschen schwach, weil ich meine, wie wir eben gesagt haben, ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt z.B. die Mitgliedstaaten sich vorstellen könnten, ein solches Grundrecht in die Grundrechtscharta aufzunehmen oder so, weil sie einfach sich selber dadurch die Hände zu sehr binden würden. Es muss also auch ein Thema sein, wo auch genügend Konsens da ist, dass man das euro­ päisch regeln sollte. Weil ja sonst kommt ja auch der Euroskeptizismus wieder ins Spiel, denn man kann das ganze immer auch so sehen, dass da jetzt die Mitgliedstaaten daran gehindert werden, selber etwas zu tun. Da wird wieder etwas aus Brüssel aufgezwungen, wenn auch aufgrund einer Initiative, wo die vom Volk kam. Und ich denke, dieses Thema muss wichtig genug sein, um das rechtfertigen zu können“ (Nr. 2, Abs. 115). Zusammenfassung und Interpretation Die Interviews der Mitarbeitenden verdeutlichen zunächst einmal zusätzli­ che faktische Hürden des Instrumentes EBI in der Arbeitsweise der Kom­ mission, die mit bedacht werden müssen, damit es zu einer Umsetzung der Initiative kommt, und die die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen in der EU zusätzlich erschweren. Sie zeigen weiterhin, dass dieselbe Begründung für ein komplett gegen­ sätzliches Handeln gewählt wurde: Während also die Organisator*innen der EBI die Demokratie in der EU dadurch gefährdet sehen, dass die EUKommission den Bürgerwillen – ausgedrückt in der EBI – nicht umsetzt, argumentiert ein Mitarbeiter der EU-Kommission, dass die EBI zunächst nur eine Minderheitenmeinung der Bürger*innen darstelle, deren Umset­ zung gegen den Willen einer Mehrheit der EU erst den Euro-Skeptizismus evozieren könnte.

324

7.2 Zusammenfassung

7.1.3.4 Strukturelle Probleme im Kriterium Verantwortlichkeit und dafür ursächliche Faktoren Bei dem Kriterium Verantwortlichkeit zeigen sich strukturelle Probleme aus Sicht der Beteiligten aus der Zivilgesellschaft und von den Unterstüt­ zenden aus dem EU-Parlament, sowohl in Bezug auf eine unzureichende Kommunikation und Begleitung sowie Transparenz der EU-Kommission durch den Prozess als auch bei der Berichterstattung. Dabei haben die Organisator*innen relativ einheitlich die von der EU-Kommission vorge­ brachte Erklärung (Wasser im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten) nicht akzeptiert und stattdessen ihr eigenes Erklärungsmodell etabliert (Lobbying der privaten Wasserwirtschaft). Als besonders schwerwiegend erwies sich in diesem Fall die Kommunikation der EU-Kommission, in­ dem sie die Organisator*innen und das Instrument lobt, gleichwohl auf der Maßnahmenebene unkonkret bleibt. Genau darin zeigt sich für die Beteiligten die Abweichung des kommunizierten Partizipationskonzeptes von der faktischen Umsetzung, die in diesem Fall durch die hohen Hür­ den des Instrumentes zusätzlich verschärft wird (Faktor europäisches Mehr­ ebenensystem). Zudem zeigen die Ergebnisse der Interviews mit den Mitar­ beitenden der EU-Kommission, dass die Arbeitsweise der EU-Kommission eine weitere Hürde der Beteiligungsform darstellt (Arbeitsbereiche, Amts­ zeiten), die ebenso für die erfolgreiche Umsetzung einer EBI zu beachten ist. Auch die Interviews mit den Abgeordneten zeigen, wie schwierig eine demokratische Verantwortlichkeit auf EU-Ebene aus Sicht des EU-Parla­ mentes durchzusetzen ist (institutionelles Defizit). Allerdings zeigen die Interviews auch, dass eine Verantwortlichkeit der EU-Kommission durch öffentlichen Druck der Bürger*innen hergestellt werden kann (Ausnahme von Wasser aus der Konzessionsrichtlinie), sodass die EU-Kommission durchaus politisch handelt und auf Mehrheiten Rücksicht nimmt. Dabei bewegt sich die EU-Kommission in einem Spannungsfeld des Reagierens auf Mehrheiten, der ihr zugewiesenen institutionellen Rolle und der Prä­ gung durch eine politische Kultur der Beamt*innen. 7.2 Zusammenfassung: Strukturelle Probleme in den drei Kriterien und dabei wirkende Faktoren In diesem Kapitel werden die herausgearbeiteten strukturellen Probleme der Bürgerinitiative Right2water zusammengefasst.

325

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

Inklusivität Die Inklusivität von EBIs ist zunächst einmal stark dadurch eingeschränkt, dass nur ein begrenzter Kreis an Organisationen – europäisch vernetzt, ressourcenstark – oder aber eine breite Koalition an Organisationen dazu in der Lage ist, die Initiativen formal erfolgreich zu stemmen, d. h. eine Million Stimmen in einem Viertel der Mitgliedstaaten zu mobilisieren. Individuelle Bürger*innen oder Graswurzelbewegungen können daran nicht teilnehmen. Dies liegt vor allem an den Bedingungen des europä­ ischen Mehrebenenkontextes und der transnationalen Ausrichtung der Beteiligungsform. Dieser Kontext bedingt zudem durch das erforderliche Wissen und die vorgegebenen Themen auf EU-Ebene enorme Professiona­ lisierungsanforderungen, die die Inklusivität des Instrumentes einschrän­ ken. Die EU-Institutionen und die EU-Kommission reagierten im Laufe der Zeit auf einige der Hindernisse, die auf den Umstand der ersten erfolg­ reichen EBI zurückzuführen sind, indem die begleitende administrative Unterstützung der EBI verbessert, die Rechtsvorschriften harmonisiert und Verfahrenserleichterungen vorgenommen wurden (in der neuen EBI-Ver­ ordnung, siehe Kapitel 4.2.3.5). Insgesamt bleiben gleichwohl die wesentli­ chen strukturellen Hindernisse der EBI im Bereich Inklusivität bestehen. Deliberation Das Instrument EBI bietet vielfach Potenziale für grenzüberschreitende Kommunikation, gegenseitige Lernprozesse bei der Organisation der EBI und in Teilen sogar einer nachrangigen kollektiven Identität unter den Unterstützenden. Gleichwohl geschieht dies nur innerhalb dieses Rah­ mens, d. h. des gemeinsamen Zieles der Initiative. Gerade für die Mobi­ lisierung der Stimmen in den verschiedenen Ländern wurde gleichwohl eine Vereinfachung der Themen benötigt. Diese wurden als Abwehrkämp­ fe gegen die Liberalisierung der EU durch die EU-Kommission formuliert. Dadurch wurde im Ergebnis die Ausnahme von Wasser aus der Konzessi­ onsrichtlinie erreicht. In diesem Sinne wurde durch die EBI Deliberation als eine kritische Kontrolle der Machthabenden durch die Organisator*in­ nen und Unterstützer*innen ermöglicht. Gleichzeitig behindert die binäre Logik der Beteiligungsform EBI (dafür/dagegen) outputbezogene Delibera­ tionsprozesse mit den Institutionen. Denn die Interviews haben gezeigt, dass die Organisator*innen Deliberation und Austausch vorrangig in einer Umsetzung der Initiative sahen, d. h. innerhalb des von der Initiative

326

7.2 Zusammenfassung

definierten Ziels. Dabei zeigt sich der Zielkonflikt zwischen einer themati­ schen Vereinfachung der EBIs und der Komplexität der EU-Gesetzgebung und Fachspezialist*innen der EU-Kommission – der sich ausdrückt in ge­ genseitigen Vorwürfen der Ideologie und Inanspruchnahme Dritter (Fak­ tor Beteiligungsform EBI, europäischer Faktor Mehrebenensystem). Zudem zeigen sich die unterschiedlichen Erwartungen der Beteiligten an den Dialog, wobei die Organisator*innen unter Deliberation verstehen, wie die EU-Kommission ihre Initiative, d. h. den Willen der Bürger*in­ nen, umsetzt. Aus dieser Sicht hat auch die EU-Kommission bei ihrem Vorsprechen wenig Anhaltspunkte für Deliberation gegeben. Diese wiede­ rum begründet ihr Deliberationsverständnis damit, dass das Anliegen der Initiative nicht der Mehrheit der EU-Bürger*innen entspricht. Verantwortlichkeit Aus Sicht der Organisator*innen der Zivilgesellschaft und der meisten Un­ terstützenden aus dem EU-Parlament bestanden sowohl in Bezug auf Pro­ zesstransparenz als auch auf die Berichterstattung der EU-Kommission struk­ turelle Probleme. Die Transparenzmängel können teilweise auch mit dem Sonderumstand begründet werden, dass dies die erste erfolgreiche EBI war. Besonders in den Mängeln der Berichterstattung zeigte sich für die Organisator*innen die Abweichung des faktischen vom kommunizierten Partizipationskonzept der EU-Kommission, insbesondere im Widerspruch zwischen dem hohen Lob der EU-Kommission auf das Instrument EBI und den unkonkreten Maßnahmen (Faktor Kommunikation EU-Kommissi­ on, Beteiligungsform Konsultation als symbolische Politik). Zudem wurde die­ ser Gegensatz insbesondere vor den hohen Hürden des Instrumentes für die Organisator*innen beklagt (Faktor europäisches Mehrebenensystem). Die Organisator*innen waren von der angebotenen Erklärung der EU-Kom­ mission nicht überzeugt. Stattdessen etablierten sie ihre eigene Erklärung, die der EU-Kommission ein gegensätzliches Ziel in der Liberalisierung und eine Allianz mit der privaten Wasserwirtschaft unterstellte. Sie mach­ ten weiterhin auf die geringen institutionellen Kontrollmöglichkeiten der Bürger*innen und auch des EU-Parlamentes aufmerksam (Faktor institutio­ nelles Defizit). Gleichwohl wurde die Herausnahme des Wasserbereichs aus der Konzessionsrichtlinie erreicht – ein Ziel der Initiative. Dies wurde über die Mobilisierung von außerinstitutionellem öffentlichem Druck er­ reicht, mithin zeigen sich Kontrollmöglichkeiten durch die Bürger*innen und eine gewisse politische Verantwortlichkeit der EU-Kommission. In

327

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water

diesem Sinne profitieren durchaus auch die Bürger*innen von dem Instru­ ment, indem sie Teile ihrer Forderungen umsetzen können, allerdings eher durch öffentlichen Druck und weniger auf institutionellem Weg über das EU-Parlament.316 Die Organisator*innen argumentieren dabei sowohl mit einem instru­ mentellen als auch normativen Partizipationsverständnis. Nach einem in­ strumentellen Partizipationsverständnis heben sie insbesondere die hohen Hürden des Instrumentes im EU-Kontext hervor, die eine unbedingte Umsetzung der Forderung begründen. Gleichwohl zeigen sich auch bei diesem Beispiel sehr deutlich die Facetten des normativen Partizipations­ begriffs der Organisator*innen, indem sie auf die gegenseitigen Lerneffek­ te und Solidaritätserfahrungen abstellen – allerdings innerhalb eines defi­ nierten Zieles. Die EU-Kommission profitiert in dieser Fallstudie deutlich weniger, zum einen verliert sie an Ansehen durch ihre Kommunikation mit den Bürger*innen, zum anderen muss sie sich schließlich dem deliberativen Druck beugen; zumal die Mitarbeitenden der EU-Kommission mit dem Ergebnis aus verschiedenen Gründen inhaltlich nicht einverstanden wa­ ren. Es profitieren in diesem Fall insbesondere die Mitgliedstaaten, da ihre

316 Diese Analyse bezieht sich auf den Erhebungszeitraum dieser Arbeit (Oktober 2016 bis September 2017) und stellt keine abschließende Wertung der EBI dar. Außerhalb des Erhebungszeitraums folgten gleichwohl weitere Entwicklun­ gen zu dieser Thematik. Im Zuge der ESM-Kredite für Griechenland wich die EU-Kommission von der oben beschriebenen Sichtweise ab und koppelte die Kredite an eine Öffnung des Wassersektors für private Anbieter (Stierle 2018). Hingegen hat die EU-Kommission im Jahr 2018 in einem Vorschlag für die Überarbeitung der Trinkwasserrichtlinie (European Commission 2018) das Recht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser gestärkt (ebd.). Insbesondere benachteiligte Gruppen sollen durch Informationskampagnen einen verbesser­ ten Zugang zu Trinkwasser erhalten (Stierle 2018). Gleichwohl stellt auch dieses Engagement nicht die Umsetzung des zentralen Anliegens der Initiative dar, das in der Anerkennung des Menschenrechts auf Wasser bestand (Schulz 2018 mit Bezug auf Durivaux von EPSU). Diese Skizzierung der Entwicklungen außer­ halb des Erhebungszeitraums zeigt einerseits den steten Bedarf an weiterführen­ den Analysen des Themas. Gleichwohl zeigt sich andererseits, dass, auch wenn es Fortschritte bei der Umsetzung der EBI beispielsweise in der Überarbeitung der Trinkwasserrichtlinie gab, diese doch erst sehr spät, nämlich mehr als fünf Jahre nach der Initiative erfolgten. Mithin wird sich ein Großteil der unterstüt­ zenden Bürger*innen sehr wahrscheinlich nicht mehr an das konkrete Anliegen erinnern können und auch die in dieser Analyse angeführten Argumente der Organisator*innen der Initiative werden durch die späteren Entwicklungen be­ stätigt.

328

7.2 Zusammenfassung

Rolle weitgehend nicht thematisiert wird, da die EU-Kommission und die private Wasserwirtschaft zum Feindbild stilisiert werden. Die dargestellten Befunde der Fallstudie, insbesondere in den Kriterien Deliberation und Verantwortlichkeit, wurden bei der nachfolgenden Initiati­ ve Stop Glyphosat bestätigt.317 Die folgende Tabelle gibt einen abschließenden Überblick über die strukturellen Probleme in den drei Kriterien und die dafür wirkenden Faktoren:

317 Die EBI wurde im Jahr 2017 von verschiedenen NGOs organisiert, federfüh­ rend waren dabei die Online-Kampagnen-Organisationen WeMove.EU und Campact. Ziel der EBI war es, ein EU-weites Verbot des Pestizids Glyphosat zu erreichen, das im Verdacht steht, krebserregend beim Menschen zu sein. Darüber hinaus forderte die Initiative, die europäischen Pestizidprüfverfahren ausschließlich von öffentlichen Behörden durchführen zu lassen. Noch vor dem offiziellen Antwortschreiben der EU-Kommission auf die Initiative wurde eine faktische Antwort der EU-Institutionen auf die EBI gegeben: Am 27. November 2017 entschied der Ministerrat das Pestizid Glyphosat für fünf weitere Jahre zu verlängern. Die Kommission rechtfertigte dies in ihrer späteren Antwort auf die Initiative damit, dass in der existierenden Forschung kein Zusammenhang zwi­ schen Glyphosat und Krebserkrankungen gefunden wurde. Zugleich verwies sie auf den gefundenen Kompromiss der Verlängerung auf 5 statt der üblichen 15 Jahre (European Commission 2017b). Zudem kündigte die Kommission eine Überarbeitung des generellen Lebensmittelrechts an, um mehr Transparenz bei den Zulassungsprozeduren von Pestiziden zu erreichen. Ein Hintergrundgespräch mit einem Organisatoren dieser EBI (Nr. 20) macht ähnliche Defizite in den Kriterien Deliberation und Verantwortlichkeit sicht­ bar: Auch die Organisator*innen dieser EBI hatten bei dem Vorsprechen vor der EU-Kommission am 20.10.2017 den Eindruck, dass die Kommissionsvertre­ ter*innen kein wirkliches Interesse an ihrem Anliegen hatten (Deliberation, Nr. 20). Im Kriterium Verantwortlichkeit attestierten sie zwar eine bessere administrative Unterstützung der Kommission durch das Verfahren, kritisier­ ten gleichwohl die vorgeschlagene Überarbeitung der Allgemeinen Lebensmit­ telverordnung als unzureichend, da diese nur einen kleinen Teilbereich der zweiten Forderung der EBI nach mehr Transparenz und Objektivität für die Zulassungsverfahren von Pestiziden beträfe und zudem die Frage der durchfüh­ renden Stellen der Verfahren gar nicht antastete (Nr. 20). Diese punktuellen Einblicke der zweiten, ähnlich erfolgreichen EBI bestätigen die in der Fallstudie aufgezeigten Probleme, insbesondere in den Kriterien Deliberation und Verant­ wortlichkeit, und bekräftigen ihren strukturellen Charakter. Die Implikationen der außerhalb des Analysezeitraums dieser Arbeit eingereich­ ten und erfolgreichen Initiative End the cage age (siehe Kapitel 4.3.2.5) können in diese Analyse nicht miteinbezogen werden und sollten in zukünftigen For­ schungen genauer untersucht werden.

329

7 Fallstudie: Die Europäische Bürgerinitiative Right2water Inklusivität

Deliberation

Verantwortlichkeit

Strukturelles Problem

Ungleichheiten innerhalb der Zivilgesellschaft

Deliberationshemmnisse

Abweichen des faktischen vom kommunizierten Parti­ zipationskonzept, Intranspa­ renz der Prozesse, Defizite der Berichtspflichten von EU-Kommission (schwierige Nachvollziehbarkeit der Er­ gebnisse)

Faktor









Mehrebenensys-tem (komplexe Gesetzge­ bung, transnationale Ausrichtung) Anforderung der Be­ teiligungsform EBI (Mobilisierung, Ver­ einfachung)





Rolle und Kommu­ nikation der EUKommission bei Vorsprechen Format: EBI braucht Vereinfa­ chung, kollidiert mit Spezialisierung der EU-Kommission Divergierende Er­ wartungen

– – –

Mehrebenensystem (insbesondere institutio­ nelles Defizit) Kommunikation und Rolle der EU-Kommissi­ on Divergierende Erwar­ tungen Beteiligungsform Kon­ sultation

Tabelle 4: Zusammenfassung der strukturellen Problemfelder und dafür ursäch­ lichen Faktoren in der Fallstudie EBI Right2water (eigene Darstel­ lung)

330

8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

Vor dem Hintergrund der Legitimationsprobleme in der EU, die ab den 1990er-Jahren verstärkt thematisiert wurden, warben Wissenschaftler*in­ nen und die EU-Kommission für eine verstärkte Schaffung von direkten Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger*innen und die Zivilgesellschaft auf EU-Ebene. Allerdings zeigten die empirischen Analysen zu diesen Beteili­ gungsformen ernüchternde Ergebnisse. Um diesen Gegensatz zwischen theoretischen Erwartungen und empirischen Ergebnissen nachvollziehen zu können, ist diese Arbeit der forschungsleitenden Frage gewidmet, wel­ che Akteur*innen von den direkten Beteiligungsmöglichkeiten profitieren – und auf welche Weise dies geschieht, d. h. welche Faktoren dies bedin­ gen. Dazu wurden in einem ersten Schritt in Kapitel 4 durch eine sys­ tematische Aufarbeitung der verschiedenen direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene strukturelle Problemfelder der direkten Beteiligungsmög­ lichkeiten herausgearbeitet.318 Um zu verstehen, wodurch die strukturellen Probleme der direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene etabliert und verursacht werden, wurden die konkret wirkenden Faktoren der Problem­ felder anhand von zwei Fallstudien (Voices of Culture, Kapitel 6, und EBI Right2water, Kapitel 7) untersucht. Im vorliegenden Kapitel werden die Ergebnisse der beiden Fallstudi­ en zusammengefasst und plausible Schlussfolgerungen für die übrigen direkten Beteiligungsformen gezogen. Es stellt den dritten Schritt im For­ schungsdesign dar, indem es die Mikro-Ebene (Fallstudien) an die MakroEbene (Typologie der Beteiligungsformen) zurückbindet. Zunächst wer­ den die Ergebnisse der beiden Fallstudien rekapituliert und vergleichend erörtert, um herauszuarbeiten, welche Faktoren jeweils zu den struktu­ rellen Problemen beigetragen haben (Kapitel 8.1). Diese erste reflexive Betrachtung der beiden unterschiedlichen Beteiligungsformen ermöglicht bereits weiterführende Erkenntnisse über den Einzelfall hinaus. Anschlie­ ßend werden die Faktoren vor dem Hintergrund der in Kapitel 4 erarbei­

318 Dazu zählen zum einen insbesondere die strukturellen Ungleichheiten der Struktur der Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Nachteil einzelner Bür­ ger*innen und zum anderen die Abweichungen des kommunizierten vom fak­ tisch umgesetzten Partizipationskonzept der EU-Kommission.

331

8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

teten Charakteristik diskutiert und plausible Rückschlüsse auf Probleme bei den übrigen Beteiligungsformen gezogen (Kapitel 8.2). In einem letz­ ten zusammenfassenden Schritt werden die wichtigsten Faktoren heraus­ gestellt, die die strukturellen Probleme direkter Partizipation auf EU-Ebe­ ne bedingen (Kapitel 8.3). Dies ist zum einen wichtig, um zu evaluieren, welche Akteur*innen strukturell von den direkten Beteiligungsformen profitieren. Zum anderen stellen die Faktoren mögliche Stellschrauben für Reformoptionen direkter Beteiligung auf EU-Ebene dar (ausführlicher Kapitel 9.2) 8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation: Vergleich der beiden Fallstudien In den Fallstudien wurden folgende Faktoren herausgearbeitet, die die strukturellen Probleme in den Kriterien Inklusivität, Deliberation319 und Verantwortlichkeit konstituiert und somit dazu beigetragen haben, dass einige Akteure*innen davon stärker bevorteilt werden. Die nachfolgende Tabelle 5 fasst die Ergebnisse der Fallstudien zusammen und zeigt die unterschiedlichen Faktoren in beiden Fallstudien.

319 Für das Kriterium Deliberation wurden in Kapitel 4 keine strukturellen Pro­ bleme direkter Partizipation herausgearbeitet, da für viele Beteiligungsformen keine wissenschaftlichen Untersuchungen für das Kriterium Deliberation keine wissenschaftlichen Aufarbeitungen vorhanden waren. Allerdings zeigten sich bei einigen Instrumenten, beispielsweise bei Online-Konsultationen, durchaus Deliberationshindernisse. In den Fallstudien zeigten sich bei der Untersuchung des Kriteriums Deliberation auch strukturelle Probleme, die wiederum an die übrigen Formen von direkter Partizipation rückgebunden werden können (zu den Deliberationshindernissen der Fallstudien Kapitel 6.2 und 7.2, zu der Aus­ wahl der Kriterien Inklusivität, Deliberation, Verantwortlichkeit Kapitel 3).

332

8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation Inklusivität

Deliberation

Verantwortlichkeit

Strukturelles Problem

Ungleichheiten in der Zivil­ gesellschaft

Deliberationshemmnisse

Intransparenz der Pro­ zesse, Defizite der Be­ richtspflichten (schwieri­ ge Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse)

Faktoren der Fallstudie (Voices of Cul­ ture)

– –

Mehrebenensystem



– –

Mehrebenensystem



Sektorspezifika Kultur­ bereich:



Kommunikation und Rolle EU-Kom­ mission

Funktionaler Reprä­ sentativitätsbegriff EUKommission





Faktoren der Fallstudie (EBI Right2water)

– –

wenig vergemein­ schaftet heterogene Ar­ beitsbedingungen

Mehrebenensystem (komplexe Gesetzge­ bung, transnationale Ausrichtung) Anforderung der Be­ teiligungsform EBI (Mobilisierung, Verein­ fachung)

– – – –

– –



Rolle und Kommu­ nikation der EUKommission Format Inklusivität: zu diver­ se Gruppe erschwert Arbeiten Beteiligungsform Konsultation Divergierende Erwar­ tungen (Dialogver­ ständnis)

– –

Entscheidungsstruk­ tur im Politikfeld Kultur

Divergierende Er­ wartungen (Dialog­ verständnis, Ziele des Prozesses) Beteiligungsform Konsultation

Rolle und Kommu­ nikation EU-Kom­ mission bei Vorspre­ chen

– –

Mehrebenen-system

Format: EBI braucht Vereinfa­ chung, kommt an seine Grenzen bei der Fachspezialisie­ rung der EU-Kom­ mission



Kommunikation und Rolle EU-Kom­ mission

Divergierende Erwar­ tungen (Dialogver­ ständnis und hohe Hürden)

– –

Institutionelles De­ fizit/geringe Verant­ wortlichkeit

Divergierende Er­ wartungen Beteiligungsform Konsultation

Tabelle 5: Strukturelle Problemfelder und dafür ursächliche Faktoren in beiden Fallstudien im Vergleich (eigene Darstellung) Im nächsten Schritt werden die unterschiedlichen Faktoren für die struk­ turellen Probleme in den Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verant­ wortlichkeit in beiden Fallstudien gegenübergestellt. Eine erste Synthese erfolgt mit Blick darauf, was sich aus den Fallstudien ableiten lässt. Die Be­ schreibung der einzelnen Faktoren ist dabei vorrangig analytischer Natur, in der Realität bedingen sich die verschiedenen Faktoren gegenseitig und wirken ineinander.

333

8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

8.1.1 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Inklusivität In beiden Fallbeispielen wurde ersichtlich, dass der Kontext der Beteili­ gung auf der supranationalen Ebene im Mehrebenensystem der EU (inklu­ sive der Entscheidungsprozesse der EU) spezifische strukturelle Probleme der Inklusivität der Beteiligungsform bewirkt, indem so enorme organisa­ torische, fachliche und personelle Anforderungen an die beteiligten Orga­ nisationen gestellt werden. Sowohl bei der Beteiligung im Kulturbereich als auch bei der EBI wurden enorme finanzielle, personelle, organisatori­ sche und fachliche Hürden ersichtlich, die dazu führten, dass insbesondere große europäisch ausgerichtete Organisationen – oder eben eine breite Koalition an NGOs mit spezialisierten, professionell aufgestellten Organi­ sation – dazu in der Lage sind. Einzelne Bürger*innen und lokale Graswur­ zelbewegungen können folglich nicht bzw. strukturell deutlich schlechter an diesen Beteiligungsformen teilnehmen, auch wenn sie explizit von poli­ tischen Institutionen wie der EU-Kommission angesprochen werden, sich daran zu beteiligen. Der europäische Mehrebenenkontext verstärkt und pluralisiert darüber hinaus Spannungslinien von Ungleichheiten der Beteiligungsstruktur. Als solche treten neben die vertikalen Ebenen (nationale, subnationale und lo­ kale Ebene) Ungleichgewichte zwischen Mitgliedstaaten (z. B. geringe Be­ teiligung osteuropäischer Staaten) und die Entwicklung der jeweiligen Zi­ vilgesellschaft. Auch organisatorische Unterschiede (Dachorganisationen haben häufig Organisationen als Mitglieder und keine natürlichen Perso­ nen) oder das Stadt-Land-Gefälle stellen mögliche Spannungslinien inner­ halb der Beteiligungsstruktur dar. Der Herausforderungen durch das europäische Mehrebenensystem wer­ den zusätzlich durch die funktionalen Anforderungen der Beteiligungs­ form Konsultation verstärkt: Durch diese wird ein gewisses Maß an Wissen oder eine fachliche Expertise zum Zweck der Beteiligung vorausgesetzt. Dabei unterscheiden sich die Themen auf europäischer Ebene (fachlich-ab­ strakte, technische Ausrichtung) wesentlich von Themen der Beteiligung auf der lokalen Ebene, die sich direkt aus der Lebenswirklichkeit der Menschen erschließen. An dem Beispiel des Strukturierten Dialoges Voices of Culture wurde ersichtlich, wie schwierig es für die EU-Kommission ist, eine für den Sektor repräsentative Gruppe zusammenzustellen. Zwar müssen dabei die besonderen Sektorspezifika des Kulturbereichs im Auge behalten werden. Gleichwohl zeigten sich daran die Schwierigkeiten der EU-Kommission, die verschiedenen Spannungslinien des Mehrebenensys­ tems mit der fachlichen Komponente der Beteiligungsform Konsultation

334

8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation

zusammenzubringen. Zudem sollten die Intention der ausführenden Or­ ganisation EU-Kommission mit betrachtet werden, die sich – auch in Kombination mit der Beteiligungsform Konsultation – stark an funktio­ nalen und strategischen Zielen orientiert, um ihrer institutionellen Rolle gerecht zu werden. 8.1.2 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Deliberation Da die beiden Beteiligungsformen der Fallstudien auf sehr unterschiedli­ che Bedingungen für Deliberation abzielen (z. B. fachliche Expert*innen­ konsultation bei Voices of Culture und ein politisierbares Thema für eine übergreifende Öffentlichkeit bei der EBI), ergeben sich unterschiedliche Probleme für verschiedene Facetten von Deliberation. Dafür werden nach­ folgend hier die bekannten Unterkriterien Deliberation innerhalb der Zi­ vilgesellschaft und Deliberation mit Organisationen eingeführt, die bereits in den Fallstudien genutzt wurden. Deliberation innerhalb der Zivilgesellschaft und mit Bürger*innen Beide Fallbeispiele haben gezeigt, dass potenzielle gegenseitige Lernprozes­ se unter den Teilnehmenden der Zivilgesellschaft im Kulturbereich bzw. den Organisator*innen der Initiative von diesen gewünscht und bestätigt wurden. Allerdings wurden die Lernprozesse im Fall des Strukturierten Dialoges durch das Format (d. h. die Institutionalisierung, die geringe Zeit bei den Treffen und auch die Methodik und Kommunikation der EU-Kommission; dazu ausführlicher weiter unten) eingeschränkt. Gerade die wiederholten Treffen bei der EBI zeigten zum einen, wie aufwändig das Verfahren für die Beteiligten ist, aber zum anderen wurden auch die Möglichkeiten sichtbar, die durch die transnationale und organisations­ übergreifende Zusammenarbeit bei direkter Beteiligung auf EU-Ebene vor­ handen sind. In diesem Sinne scheint die stärkere Institutionalisierung von Beteiligungsformen, sofern diese auch mit kürzeren thematischen Treffen einhergeht, hinderlich für Deliberationsprozesse unter den Teilnehmen­ den zu sein. Im Hinblick auf die Beteiligungsform EBI wurde zudem gezeigt, dass Deliberationsprozesse in der Regel nur innerhalb einer inhaltlichen Trenn­ linie möglich sind (nämlich für das Menschenrecht und für öffentliche Wasserversorgung), die zugleich das Feindbild der liberalisierenden EU-

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

Kommission abgrenzend vor Augen hatte. Auch wenn also Bürgerinitiati­ ven stärker transnationale Deliberationsprozesse in der EU ermöglichten, bleibt dadurch eine Begrenzung der erzeugten Solidarität und Identität bestehen, da diese auch durch einen Abwehrkampf gegen die EU geprägt ist (ähnlich auch bei der EBI Stop Glyphosat im Jahr 2017). Hinderlich für deliberative Prozesse unter den Teilnehmenden waren darüber hinaus die Bedingungen des europäischen Mehrebenenkontextes, insbesondere die so erzeugte Komplexität für die Beteiligten der Zivilge­ sellschaft: Bei dem Strukturierten Dialog im Kultursektor stellten sich die zu unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge der Teilnehmenden (z. B. lokale Initiative vs. europäischer Dachverband) als Deliberationshindernis­ se dar (gerade in Verbindung mit dem knappen zeitlichen Rahmen des Formates). Dabei zeigte sich ein Spannungsfeld zwischen hoher Inklusivi­ tät und Deliberationsprozessen unter den Teilnehmenden der Zivilgesell­ schaft. Deliberation mit Institutionen Als deliberationshinderlich aus Sicht der Zivilgesellschaft wurde in beiden Fallstudien die Rolle der EU-Kommission beim Austausch mit den Organi­ sator*innen und der Zivilgesellschaft beschrieben. Dabei hat die EU-Kom­ mission in beiden Fällen nicht die von Joerges und Neyer (1997) für die Komitologie beschriebene Rolle übernommen, die Suche nach gemeinsa­ mer Problemlösung aktiv zu steuern, indem sie gewisse europäische Lö­ sungen vorgibt und so die Bandbreite an potenziell möglichen Lösungen minimiert (siehe Kapitel 1.2.2.2.1). In beiden Fallbeispielen wurde auch der starre Ablauf der EU-Kommission bei dem Treffen mit der Zivilgesell­ schaft kritisiert und damit einhergehend der Vorwurf an die EU-Kommis­ sion adressiert, die Beteiligungsformen als eine Formsache zu betrachten. Dieses Motiv zeigte sich viel stärker aus Sicht der Organisator*innen der EBI und nur bei Teilen der Teilnehmenden des Strukturierten Dialoges – insofern scheint sich hier der größere inhaltliche Gegensatz zwischen der EBI-Forderung der Organisator*innen und der GD Binnenmarkt bemerk­ bar zu machen. Zudem scheint in beiden Fällen die Rolle der EU-Kommission durch die Beteiligungsform Konsultation gestützt zu werden: Während die in der Komitologie vertretenen nationalen Delegierten über die selbst er­ arbeiteten Deliberationsergebnisse abgestimmt haben (Beteiligungsform Mitentscheidung), waren die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in bei­

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8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation

den Fallbeispielen nicht an der Entscheidungsfindung beteiligt. Dabei begründete die EU-Kommission im Strukturierten Dialog ihre zurückge­ nommene Rolle explizit mit der Beteiligungsform, d. h. damit, dass sie eine möglichst ungefilterte authentische „Meinung“ aus dem Sektor erfah­ ren möchte. Im Fall der EBI betonte ein Mitarbeitender der EU-Kommissi­ on, dass es für eine Umsetzung der Initiative keine Mehrheit unter den Mitgliedstaaten gebe. Die Beteiligungsform Konsultation bewirkt darüber hinaus, dass sich stark divergierende Erwartungshaltungen der verschiede­ nen Beteiligten an den Prozess – insbesondere zwischen der EU-Kommis­ sion und der Zivilgesellschaft – etablieren, diese jedoch nicht reflektiert und überwunden werden können, weil die Beteiligungsform nur eine symbolische Partizipation darstellt. Die unterschiedlichen Erwartungen betreffen sowohl Fragen der Arbeitsweise, ausgedrückt beispielsweise in dem unterschiedlichen „Mindset“ zwischen dem Kultursektor und politi­ schen Entscheider*innen oder den unterschiedlichen Perspektiven auf das Vergaberecht zwischen EU-Kommission und Gewerkschaften. Neben un­ terschiedlichen Perspektiven, die sich auf die Arbeitsweise oder Profession gründen, lassen sich sehr unterschiedliche Erwartungen an den Dialog seitens der Beteiligten herausarbeiten, die ebenso durch die Beteiligungs­ form Konsultation gestützt werden: Während die Beteiligten der Zivilge­ sellschaft eine möglichst genaue Umsetzung ihrer Beratung wünschen – und entsprechend darauf auch den Fokus im Dialog legen –, zeigt die Perspektive von den Beteiligten der EU-Kommission, dass diese den Fokus auf das Zuhören legen und nicht auf ihre Antwort. Da die Antwort, sprich die weitere Verwendung des Inputs der Zivilgesellschaft, nicht in der Beteiligungsform inbegriffen sind, erscheinen die Deliberationsprozesse zwischen der Institution EU-Kommission und den zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen begrenzt. Gleichwohl haben beide Fallstudien graduelle Unterschiede der unter­ schiedlichen Perspektiven und an der Kritik an der Rolle der EU-Kommis­ sion gezeigt. Denn die Kritik an EU-Kommission und ihrer Berichterstat­ tung stärker bei den Organisator*innen der EBI zu finden als bei den Teilnehmenden des Strukturierten Dialoges Voices of Culture. Es macht auf eine notwendige weitergehende Differenzierung der Faktoren bei dem Kriterium Deliberation aufmerksam: Zum einen sollten die Beteiligungs­ formen der EU-Kommission dahingehend unterschieden werden, ob sie eine Konsultation (Verwertbarkeit der Ergebnisse) für die EU-Kommission im politischen Entscheidungsprozess im engeren Sinne darstellen und ob sie von der EU-Kommission selbst initiiert (Strukturierter Dialog) oder von außen an sie herangetragen werden (EBI). Gerade im Fall des Struktu­

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

rierten Dialoges (gute Verwertbarkeit der Ergebnisse und selbst initiiert von der EU-Kommission), scheint ein offenerer Umgang mit dem Dialog vorzuliegen. Insofern erklärt sich auch die restriktivere Handhabung der Kommunikation und Berichterstattung bei der EBI. Darüber hinaus haben auch die Bedingungen des europäischen Mehr­ ebenensystems hinderliche Effekte auf die Deliberationsprozesse zwischen den Institutionen und der Zivilgesellschaft. Dies betrifft in einem weiteren Sinne auch die europäische Gesetzgebung und die Arbeitsbedingungen innerhalb der EU-Kommission. Letztere führen zu einer enorm hohen Komplexität. Diese Komplexität steht in einem Spannungsverhältnis zu einer gewissen benötigten Vereinfachung für die Mobilisierung der Un­ terstützungsbekundungen bei der EBI. In der Konsequenz ist nicht nur die Umsetzung der EBIs erschwert, auch Deliberationsprozesse und gegen­ seitige Lerneffekte mit den Institutionen, wie der EU-Kommission, sind deutlich eingeschränkt. Ebenso besteht die Herausforderung für die Teil­ nehmenden der Zivilgesellschaft, diese komplexen Ergebnisse den eigenen Mitglieder*innen oder Unterstützer*innen zu vermitteln. 8.1.3 Faktoren für strukturelle Probleme des Kriteriums Verantwortlichkeit In beiden Fallbeispielen wurden aus Sicht der Beteiligten der Zivilgesell­ schaft (bei der EBI auch aus Sicht der unterstützenden Abgeordneten des EU-Parlaments) Mängel an der Transparenz der Beteiligungsprozesse und den wahrgenommenen Berichterstattungspflichten der EU-Kommission hervorgehoben. Diese erschwerten in beiden Fällen eine Nachvollziehbar­ keit der weiteren Verwendung des gesellschaftlichen Inputs im politischen Prozess. In Teilen geschah dies auch im Fall des Strukturierten Dialoges (hier vor allem vor dem Hintergrund der ehrenamtlichen Arbeit an dem Policy-Bericht). In beiden Fällen wurden diese Mängel durch die Kom­ munikation der EU-Kommission verschärft, die die Beteiligten zu wenig durch den jeweiligen Beteiligungsprozess führte. Gleichwohl zeigten die Interviews mit den Beteiligten der EU-Kom­ mission, dass ihnen erstens etwaige Probleme gar nicht bewusst waren (z.̼ B. Erfolg durch hohe Anmeldezahlen an Dialogen) oder die Berichter­ stattungs- und Transparenzpflichten als „erfüllt“ ansahen, indem sie Ma­ terial (wie Brainstorming-Berichte) online zur Verfügung stellten. Beide Perspektiven deuten auch bei diesem Kriterium auf stark divergierende Erwartungen der Beteiligten an die Partizipation und die jeweils anderen

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8.1 Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation

Beteiligten. Dabei zeigte das Beispiel des Strukturierten Dialoges auch, wie schwierig es aus Sicht der Organisator*innen ist, die Teilnehmenden mit späterer Berichterstattung zu erreichen (die meisten Teilnehmenden konnten sich an spätere Follow-up-Mails durch die Organisator*innen nicht erinnern). Dabei zeigte sich ein weiterer Faktor, der die Nachvoll­ ziehbarkeit der Entscheidungen in beiden Beispielen erschwerte: die spezi­ fische institutionelle Entscheidungsstruktur im europäischen Mehrebenen­ system. Im Fall des Strukturierten Dialoges erschwerten diese die weitere Verwendung des Inputs der Zivilgesellschaft und führten auch dazu, dass die EU-Kommission sich nicht institutionell für eine Berichterstattung der Arbeitsgruppen der OMK zuständig fühlte. Im Fall der EBI begründete dies – Zuständigkeitsbereich Wasser in Mitgliedstaaten – die Antwort der EU-Kommission, keine weiteren Maßnahmen zur Umsetzung des Men­ schenrechts auf Wasser einzuleiten. Diese Erklärung wurde jedoch von den Organisatorinnen nicht anerkannt und stattdessen durch den Erklä­ rungsansatz von Lobbying und Verbindung zur privaten Wasserwirtschaft ersetzt. Dabei stieß den Teilnehmenden insbesondere die Verbindung ei­ nes übermäßigen Lobes durch die EU-Kommission für die Beteiligung mit den unkonkreten Maßnahmen der EU-Kommission auf. Genau darin zeigte sich für die Organisator*innen der EBI die Abweichung des kom­ munizierten und faktischen Partizipationskonzeptes der EU-Kommission und folglich der Vorwurf, dass die Beteiligung bzw. das Vorsprechen der Organisator*innen für die EU-Kommission eine Formsache darstellt (Fak­ tor Kommunikation EU-Kommission). Dieser Vorwurf zeigte sich auch im anderen Fallbeispiel, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form. Auch dabei verwiesen einige der Teilnehmenden darauf, dass die Konsultation der Zivilgesellschaft eine Formsache der EU-Kommission sei. Der Vorwurf wurde damit begründet, dass die Mitarbeitenden der EU-Kommission kein wirkliches Interesse daran hatten, bzw. keine konkreten Schritte einer wei­ teren Nutzung im politischen Entscheidungsprozess vorweisen konnten. Die Mängel im Bereich Verantwortlichkeit sind zum einen teilweise mit real existierenden Mängeln der Verantwortlichkeit des Entscheidungs­ systems der EU zu erklären: Dies betrifft insbesondere den Fall der EBI, wobei sich die Organisator*innen und das EU-Parlament (Initiativent­ schließung vom 8. September 2015, siehe EU-Parlament 2015) nicht gegen die EU-Kommission bzw. die Mehrheit der Mitgliedstaaten durchsetzen konnten. In diesem Sinne können die direkten Partizipationsformen die Verantwortlichkeit von Bürger*innen und Zivilgesellschaft nicht institutio­ nell stärken. Sie können gleichwohl, wie dieses Beispiel gezeigt hat, einen außerinstitutionellen Druck entfalten, der eine politische Verantwortlich­

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

keit der EU-Kommission erzeugt (Ausnahme des Wasserbereichs aus der Konzessionsrichtlinie). Zudem hängen die von den Bürger*innen und der Zivilgesellschaft wahrgenommenen Mängel der Berichterstattung auch mit der Beteili­ gungsform Konsultation zusammen, die als symbolische Partizipation keine Gewähr für Partizipationsrechte und Berichterstattung in einer be­ stimmten Form festschreibt oder die Bürger*innen an einer Umsetzung der Maßnahmen beteiligt. 8.2 Rückschlüsse der Fallstudien auf strukturelle Probleme der übrigen direkten Beteiligungsformen In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Fallstudien auf die anderen Beteiligungsformen übertragen. Dies erfolgt vor dem Hintergrund der in Kapitel 4 erarbeiteten Typologie der Beteiligungsformen. Demnach lassen sich auf EU-Ebene grundsätzliche direkte Beteiligungsformen als Beschwerderechte und als Möglichkeiten der Konsultation im weiteren Sinne finden.

Direkte Partizipationsformen auf EU-Ebene Beschwerderechte • Petitionen • Beschwerden bei der oder dem Europäischen Bürgerbeauftragten • Beschwerden bei der EUKommission

Konsultationsformen • EU-Kommission: Gesetzgebung (Beratende Ausschüsse und Komitologie, Online-Konsultationen)

• Strukturierter Dialog mit Jugend, Sport und Kultur Bürgerkonferenzen Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Europäische Bürgerinitiative

Abbildung 6: Direkte Partizipationsformen auf EU-Ebene (eigene Darstellung) Wie die Fallstudienanalysen folgt die Erörterung von möglichen Rück­ schlüssen den drei analytischen Kriterien Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit.

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8.2 Rückschlüsse der Fallstudien auf strukturelle Probleme

Inklusivität Für die strukturellen Probleme bei dem Kriterium Inklusivität (Nach­ teil für individuelle Beteiligung, Ungleichheiten der Beteiligungsstruktur) wurden insbesondere die Faktoren von Beteiligung auf supranationaler Ebene im europäischen Mehrebenensystem, die Beteiligungsform Konsul­ tation und die Anbindung an die EU-Kommission aus den beiden Fall­ studien herausgearbeitet. Da die direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebe­ ne bis auf wenige Ausnahmen als Konsultation an die EU-Kommission angegliedert sind, erscheint es plausibel, anzunehmen, dass diese Proble­ me auch bei allen anderen Konsultationsformen auf EU-Ebene auftreten werden. Eventuelle Abweichungen bzw. Abmilderungen von diesen Pro­ blemen erscheinen folglich durch die geringeren Hürden der Beschwerde­ rechte (Petitionen und bei dem Europäischen Bürgerbeauftragten) sowie bei anderen Zugangsformaten oder -bedingungen plausibel, wie bei zufäl­ lig ausgewählten Bürger*innen per Losverfahren (beispielsweise bei der Konferenz zur Zukunft der EU). Auch die intensive Verzahnung der Ebenen, wie bei dem Strukturierten Dialog mit der Jugend, bietet eine Chance, um die strukturellen Probleme der Inklusivität abzumildern. Deliberation Für die Deliberationshindernisse mit den Institutionen wurden in beiden Beteiligungsformen die passive und auf Formalitäten bezogene Rolle der EU-Kommission vonseiten der Zivilgesellschaft verantwortlich gemacht, die sich stark von derjenigen in der Komitologie unterscheidet, die Joerges und Neyer (1997) beschrieben haben. Dies wurde durch die Beteiligungs­ form Konsultation verstärkt, wie in beiden Fallbeispielen gezeigt wurde. Denn diese trug zu einer Verstärkung der verschiedenen Erwartungen der Beteiligten an den Dialog bei und erschwerte eine gemeinsame Refle­ xion über diese, im Unterschied zu einer geteilten Entscheidungsfindung von Zivilgesellschaft und Politik. In der Konsequenz bewirkt das durch die Expert*innen und Zivilgesellschaft eingebrachte Wissen ohne Zweifel eine Stärkung der Ergebnisqualität und Effizienz der Entscheidungen. Gleichwohl scheinen Hoffnungen auf deliberative Entscheidungsprozesse zwischen den Institutionen und der Zivilgesellschaft stark begrenzt zu sein. Die einzigen Ausnahmen sind der Soziale Dialog, die Komitologie und solche Konsultationsformen, in denen die jeweilige Generaldirektion eine andere Rolle einnimmt.

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

Für die Lernprozesse unter den Teilnehmenden lässt sich – aufbauend auf die Ergebnisse der Fallstudien – rekapitulieren, dass es wiederholte Formate des Austausches braucht, damit die Lernprozesse in Gang kom­ men sowie eine klare Kommunikation der ausführenden Organisation EUKommission. Die zivilgesellschaftlichen Plattformen und Beratungsgrup­ pen scheinen besser dafür geeignet zu sein, deliberative Prozesse zu ermög­ lichen. Gleichwohl braucht es dafür auch die konsistente Kommunikation der EU-Kommission. Auch die Hoffnungen auf eine stärkere Mobilisierung einer übergreifen­ denden Öffentlichkeit in der EU durch Partizipation scheinen begrenzt: Vor dem Hintergrund der Komplexität des politischen Kontextes kommen direkte Beteiligungsformen wie Bürgerinitiativen oder Volksentscheide an ihre Grenzen, wie das Beispiel der Europäischen Bürgerinitiative gezeigt hat (auch Merkel/Ritzi 2017: 244f.).320 Dabei sollte die Integration mögli­ cher direktdemokratischer Elemente gut bedacht werden. Ebenso zeigen sich bei vielen Formen der engeren Fachkonsultation strukturelle Proble­ me, diese an eine übergreifende Öffentlichkeit anzubinden (siehe das Bei­ spiel des Strukturierten Dialoges). Verantwortlichkeit Als prägende Faktoren für die Abweichung des kommunizierten vom fak­ tischen Partizipationskonzept (Problemfeld 2) wurde der politische Kon­ text der EU identifiziert, der eine Nachvollziehbarkeit des durch die Betei­ ligung eingebrachten Inputs erschwert. Dies zeigte sich auch bei verschie­ denen Zuständigkeiten und verschiedenen Modi der politischen Entschei­ dungsfindung (sowohl bei der Gemeinschaftsmethode der EBI als auch bei der OMK im Politikfeld Kultur). Eine erschwerte Nachvollziehbarkeit des durch die direkte Zivilgesellschaft eingebrachten Inputs erscheint daher plausibel bei allen Konsultationsformen auf EU-Ebene. Dies betrifft die Beschwerderechte in unterschiedlichem Maße: Vorrangig gilt dies für die informellen Abstimmungsprozesse bei Beschwerden bei der EU-Kommissi­

320 Sabine Kropp weist in ihrem lesenswerten Beitrag zu deliberativen Formen allgemein darauf hin, dass diese Formen besser in lokalen und überschaubaren Zusammenhängen geeignet sind, die möglichst direkt an die Lebenswirklich­ keit der Betroffenen anschließen und wesentlich weniger bei solchen Materien, die sich aus unterschiedlichen Zuständigkeiten zusammensetzen (vgl. Kropp 2021: 57).

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8.2 Rückschlüsse der Fallstudien auf strukturelle Probleme

on, gewissermaßen auch die informellen Schlichtungsversuche der oder des Bürgerbeauftragten und geringfügiger bei den Petitionen des EU-Parla­ ments. Ebenso scheint die Mobilisierung einer größeren übergreifenden Öffentlichkeit durch die abstrakten Fachthemen der EU-Gesetzgebung stark erschwert und nur unter bestimmten Bedingungen möglich (wie bei EBIs). Eine erschwerte demokratische Verantwortlichkeit für die zu beteiligen­ den Bürger*innen und Organisationen ist darüber hinaus aber auch auf bestehende institutionelle Defizite im politischen System zurückzuführen. Diese zeigt sich insbesondere in der geringen Kontrolle der EU-Kommissi­ on durch die Bürger*innen via Wahl und Abwahl durch das EU-Parlament und konnte am Beispiel der EBI Right2water gezeigt werden (als weder die Stellungnahme des EWSA noch das indirekte Initiativrecht des EU-Par­ lamentes die EU-Kommission zum Handeln bringen konnten). Kritische Kontrollrechte durch Bürger*innen über direkte Beteiligung sind somit bei den derzeit zu findenden Konsultationsformen – und auch bei den Beschwerderechten – auf EU-Ebene eher unwahrscheinlich und müssten dafür tatsächlich anders institutionell angegliedert werden; beispielsweise an eine unabhängige Stelle. Gleichwohl lassen sich durch die direkten Be­ teiligungsformen außerinstitutionelle diskursive und deliberative Potenziale von politischer Verantwortlichkeit erzeugen, wie das Beispiel EBI deutlich gemacht hat. Durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit infolge der EBI konnten die Organisator*innen die Herausnahme des Wasserbereichs aus der Konzessionsrichtlinie erreichen. Möglichkeiten für eine stärkere Ver­ antwortlichkeit durch die direkten Beteiligungsformen sind also folglich vorhanden, gleichwohl begrenzt auf ein spezifisches Zusammenkommen verschiedener Bedingungen. Da jedoch bis auf die Komitologie und den Europäischen Sozialdialog alle Formen direkter Beteiligung weitestgehend als Konsultation gestaltet sind, scheinen Abweichungen wenig plausibel und nur auf bestimmte Einzelfälle (beispielsweise bei Beratenden Gruppen einzelner GDs, die einen größeren Spielraum haben) beschränkt zu sein. Darüber hinaus fiel die Kommunikation der EU-Kommission negativ auf, die eine Prozesstransparenz in beiden Beteiligungsformen nur unzu­ reichend vermittelte und sich in ihren Pflichten der Berichterstattung sehr stark auf formale Positionen zurückgezogen hat. Dabei stand die überhöhte sprachliche Würdigung der Organisator*innen der EBI und des Instrumentes EBI aus Sicht der Organisator*innen in einem Missverhältnis zu den unkonkreten, teilweise nicht direkt damit verbundenen Maßnah­ men der EU-Kommission in Bezug auf ihre Forderung. Auch wenn bei beiden Fallstudien beachtet werden sollte, dass es sich jeweils um neue

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

Beteiligungsformen (wie die EBI) oder Formate (wie Voices of Culture) han­ delt, zeigt sich diese Diskrepanz der Kommunikation der EU-Kommission als wiederkehrendes Motiv der verschiedenen Konsultationsformen, nicht zuletzt auch in ihrer ersten Mitteilung auf die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft der EU (vgl. Europäische Kommission 2022).321 Dabei scheint diese spezifische Kommunikationsstrategie häufig wesent­ lich durch die Arbeitsweise der EU-Kommission erklärbar, bei der die die Beteiligungsformen durchführenden und umsetzenden Mitarbeitenden in den einzelnen Generaldirektionen sehr vorsichtig und formal agieren. Dies kann auch – wie die Interviews mit den Abgeordneten des EU-Par­ laments belegten – damit in Zusammenhang gebracht werden, dass die Mitarbeitenden der EU-Kommission in den einzelnen Abteilungen wenig Erfahrung im Umgang mit der Öffentlichkeit haben. Der übergeordnete Partizipationsdiskurs hingegen, der sich in den öffentlichen Dokumenten der EU-Kommission, dem Vorsprechen oder eben der Antwort auf die EBI zeigt und in dem Partizipation öffentlichkeitswirksam inszeniert und ge­ lobt wird, wird von der politischen Leitung der EU-Kommission geprägt. Genau darin zeigt sich für die Beteiligten im Fall der EBI (in abgeschwäch­ ter Form auch bei dem Strukturierten Dialog) die Abweichung des tatsäch­ lichen Partizipationshandelns der EU-Kommission und ihrem öffentlichen Diskurs darüber. Problematisch ist bei der Kommunikation der EU-Kom­ mission in ihrem Partizipationsdiskurs insbesondere, dass sie einerseits in ihrem Partizipationsdiskurs die genutzte symbolische Form der Partizipati­ on (Konsultation) überhöht, sich jedoch selbst bei konkreten Maßnahmen stark auf formale Positionen zurückzieht. Zugleich schreibt sie den teil­ nehmenden Bürger*innen und Organisationen einen großen Anteil der Verantwortung für die weitere Verbreitung bzw. Umsetzung der Ergebnis­ se zu, der eine geteilte Entscheidungsfindung vermuten ließe. In der Tat sind die Anforderungen an die Beteiligten bereits die Bedingungen supra­ nationaler Beteiligung in einem Mehrebenensxstem enorm hoch. Daher

321 Auch hier zeigt sich die EU-Kommission einerseits euphorisch über die Ergeb­ nisse der Bürgerbeteiligung, andererseits bleibt sie bei ihren antwortenden Maß­ nahmen sehr vorsichtig. Zwar zeigt sie Initiativen an, die sie im Einklang mit den Forderungen der Bürger*innen erlassen oder anzustoßen begonnen hat. Die Kommission ist auch bereit, neue Impulse für ihr Arbeitsprogramm 2023 mit aufzunehmen (beispielsweise psychische Gesundheit, vgl. EU-Kommission 2022). Gleichwohl verhält sie sich äußerst vorsichtig zu solchen Forderungen, die Vertragsänderungen nötig machen, wie beispielsweise Änderungen von Ab­ stimmungsregelungen, und weist eine Verantwortlichkeit hier von sich und nimmt nicht Stellung dazu.

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8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse

könnte vom Standpunkt der eingebrachten Zeit und Ressourcen einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen durchaus von einer geteilten Umset­ zung der getroffenen Maßnahmen gesprochen werden – beispielsweise wenn die Teilnehmenden des Strukturierten Dialogs ihre Ergebnisse selbst weiterverbreiten sollen oder aber Beratende Gruppen in der EU-Kommis­ sion die beschlossenen Maßnahmen umsetzen sollen. Allerdings bezieht sich das nur auf die gesellschaftlichen Teilnehmer*innen – nicht jedoch auf die EU-Kommission. Denn bezogen auf die Kontrollmöglichkeiten der Bürger*innen und Zivilgesellschaft bleiben die Beteiligungsformen stark begrenzt. Darin liegt im Grunde die Abweichung des Partizipationskon­ zeptes der EU-Kommission. Da die direkten Beteiligungsformen neben den Beschwerderechten fast ausschließlich an die EU-Kommission als Kon­ sultation angegliedert sind, erscheint dieses strukturelle Problem nur in einzelnen Ausnahmefällen unter bestimmten Bedingungen abgemildert werden zu können. 8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse: Wer profitiert durch welche Faktoren von der direkten Beteiligung? Die Ausführungen in diesem Kapitel haben vor dem Hintergrund eines auf viele Einzelfälle orientierten empirischen Forschungsstandes den Blick auf die strukturellen Probleme direkter Beteiligung gelegt und nach da­ für ursächlichen Faktoren gesucht. Der analytische Blick dieser Arbeit konzentriert sich auf die strukturelle Ebene – gleichwohl soll hier kein überzogenes strukturelles Argument vorgebracht werden. Bei Einzelfällen können sich selbstverständlich durch andere Bedingungen und Umstän­ de Abweichungen von den beschriebenen Problemen ergeben. Vielmehr soll mit dieser Arbeit durch das Herausarbeiten der für die strukturellen Probleme von Partizipation konstituierenden Faktoren ein heuristisches Muster präsentiert werden, das hilft, analytisch begründete und explizit herausgearbeitete Bedingungen (Faktoren) zu beschreiben. Zusammenfassend werden nun die wichtigsten Faktoren für die struk­ turellen Probleme von direkter Partizipation auf EU-Ebene noch einmal dargestellt. Sie werden als die relevanten Hebel dafür angesehen, dass die theoretischen Erwartungen an direkte Beteiligungsformen mit ernüch­ ternden empirischen Ergebnissen konfrontiert werden. Die nachfolgende Aufarbeitung ist analytischer Natur, in der Realität bedingen sich die be­ schriebenen Faktoren gegenseitig. Abschließend wird zudem dargestellt,

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

welche Akteur*innen durch diese Faktoren insgesamt von den direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene profitieren. 8.3.1 Die wichtigsten Faktoren für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation auf EU-Ebene Der erste wesentliche Faktor für die strukturellen Probleme von direk­ ter Partizipation stellt der politische Kontext dar. Darunter sind einerseits die Bedingungen zu verstehen, die sich aus der Beteiligung auf der su­ pranationalen europäischen Ebene ergeben, die eine transnationale Aus­ richtung der Beteiligungsform implizieren und in der Konsequenz eine hohe Professionalisierung für die Beteiligten nach sich ziehen (z. B. hin­ sichtlich Sprachenkenntnissen). Andererseits sind unter dem Kontext die spezifischen Zuständigkeiten, Prozesse und Entscheidungsstrukturen des europäischen Mehrebenensystems und deren Konsequenzen für die direk­ ten Beteiligungsformen zu verstehen, insbesondere die technische Ausrich­ tung der Themen und die Rahmengesetzgebung. Durch den politischen Kontext der EU werden strukturelle Probleme in allen drei Kriterien verursacht: Der Mehrebenenkontext erzeugt zusätzliche Spannungslinien (territorial, vertikal, Stadt-Land), die die Inklusivität der Beteiligungsform erschweren und strukturelle Ungleichheiten unter den Teilnehmenden bewirken. Zudem stellt der Kontext der europäischen Entscheidungsfin­ dung mit seiner Komplexität an Themen und Abläufen eine zusätzliche Herausforderung für Deliberation in der Zivilgesellschaft und zwischen der Zivilgesellschaft und den Institutionen, insbesondere der EU-Kommis­ sion, dar. Dabei zeichnet sich ein Zielkonflikt zwischen den Kriterien Inklusivität und Deliberation im Mehrebenensystem ab, insbesondere auf der europäischen Ebene. Darüber hinaus setzt die Komplexität der europä­ ischen Entscheidungsfindung der notwendigen Vereinfachung von direk­ ten Beteiligungsformen, wie der EBI, Grenzen. Institutionelle Defizite des politischen Systems der EU, wie eine geringe demokratische Verantwort­ lichkeit der EU-Kommission, verstärken diese Defizite bei direkter Partizi­ pation für die Teilnehmenden und die größere Öffentlichkeit zusätzlich. Mit anderen Worten gesagt: So, wie die Beteiligungsformen in das euro­ päische Entscheidungssystem eingegliedert sind, werden sie in den meisten Fällen die bestehenden institutionellen Defizite reproduzieren, weil sie strukturell an die EU-Kommission ohne garantierte und abgesicherte Me­ chanismen der Verantwortlichkeit angegliedert sind.

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8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Beteiligungsform Konsultation bewirkt ebenso strukturelle Probleme bei allen Kriterien. Sie bedingt die Einschränkung bei dem Kriterium In­ klusivität, da nicht alle Organisationen, geschweige denn individuelle Bür­ ger*innen eine entsprechende Expertise auf dem Niveau liefern können, das benötigt wird. Die Beteiligungsform Konsultation verstärkt Deliberati­ onshemmnisse zwischen den verschiedenen Beteiligten im EU-Kontext, da die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft und die EU-Kommission gemein­ sam keine Lösung finden und die Probleme gemeinsam lösen müssen. Ebenso trägt sie im Rahmen einer symbolischen Partizipation zu einer un­ zureichenden Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen für die Zivilgesell­ schaft und Bürger*innen bei, da sie als Beteiligungsform keine Definition und Einforderungsmöglichkeit von Partizipationsrechten beinhaltet. Die ausführende Organisation EU-Kommission (z. B. ihre Rolle, Kom­ munikation und Intention) wurde in den Fallbeispielen als ein weiterer wesentlicher Faktor für strukturelle Probleme der direkten Beteiligungs­ formen identifiziert. Da die EU-Kommission vorrangig funktionale Ex­ pertise und Information durch die Beteiligung generieren will, fallen bestimmte Organisationen, aber auch individuelle Bürger*innen stärker aus ihrem Raster – im Ergebnis wird die propagierte breite Inklusivität eingeschränkt. Auch dabei zeigt sich für die Beteiligten eine Abweichung des kommunizierten Partizipationsdiskurses und ihrer Umsetzung durch die EU-Kommission. Ferner erschweren ihre unzureichende Kommunika­ tion im Beteiligungsprozess und ihre zurückgenommene Rolle die Delibe­ ration unter den Beteiligten der Zivilgesellschaft sowie zwischen ihr und der Zivilgesellschaft. Zudem haben die Mängel der Prozesstransparenz und die Vernachlässigung der Berichtspflichten (insbesondere in der Erklä­ rung von Entscheidungen) gezeigt, dass dies die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen für die Beteiligten der Zivilgesellschaft enorm erschwert. Dabei erscheint in der EU-Kommission tatsächlich ein sehr unausgewoge­ nes Bild der eigenen Rechte und Pflichten gegenüber der Zivilgesellschaft zu bestehen, das fast so anmutet, als sei es ein Privileg der Zivilgesellschaft, angehört zu werden. Insbesondere heikel ist dabei die Kommunikation der politischen Leitung der EU-Kommission durch Kommissionspräsident*in­ nen, die einen Partizipationsdiskurs zeichnen, der durch die interne Ar­ beitsorganisation nicht umgesetzt werden kann und – so scheint es – allein schon aufgrund der dezentralen Implementation in den Generaldirektio­ nen ohne feste Vorgaben auch gar nicht unbedingt umgesetzt werden soll.

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8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

8.3.2 Wer profitiert von den direkten Beteiligungsmöglichkeiten auf EUEbene? Die beschriebenen Faktoren (politischer Kontext, Beteiligungsform, aus­ führende Organisation) führen dazu, dass die direkten Beteiligungsformen strukturelle Probleme aufweisen und nicht alle Akteur*innen im gleichen Maße von diesen profitieren. Dabei werden die nachfolgenden Erörterun­ gen zunächst vor dem Hintergrund eines instrumentellen Partizipations­ verständnisses vorgenommen. Anschließend werden Aspekte aus Sicht des normativen Partizipationsverständnisses ergänzt. Für die Konsultationsformen auf EU-Ebene kann grundsätzlich322 fest­ gehalten werden, dass – vereinfacht ausgedrückt – alle diejenigen Ak­ teur*innen, die bereits etabliert sind, davon nach einem instrumentellen Partizipationsverständnis tendenziell stärker profitieren (z. B. EU-Organisa­ tionen, ressourcenstarke Verbände). Dies bedeutet eine Verstärkung der bereits bestehenden Ungleichgewichte – sowohl auf institutioneller als auch gesellschaftlicher Seite –, verursacht durch die spezifischen Bedingun­ gen (Faktoren) von direkter Partizipation auf EU-Ebene. Dabei profitieren insbesondere die bereits gut organisierten und spezialisierten Organisatio­ nen der Zivilgesellschaft durch eine Ausweitung der Konsultationsformen, während einzelne Bürger*innen und lokale NGOs, Graswurzelbewegun­ gen oder auch solche einer gering entwickelten Zivilgesellschaft (beispiels­ weise in Osteuropa) tendenziell nicht in dem Maße in die Beteiligungs­ formen einbezogen werden (können). Der Grund liegt dabei weniger darin, dass diese Gruppen nicht formal an diesen Beteiligungsprozessen teilnehmen können oder dass es beispielsweise keine Angebote für einzel­ ne Bürger*innen gibt. Vielmehr liegen die Ursachen in der spezifischen Verbindung der Bedingungen der Beteiligung auf der europäischen Ebene und dem europäischen Entscheidungssystem, den funktionalen Anforde­ rungen der Beteiligungsform Konsultation und der Intention und der Rolle der ausführenden Organisation EU-Kommission. Auf institutioneller Ebene profitiert insbesondere die EU-Kommission durch die verstärkten Beteiligungsmöglichkeiten, indem sie damit eine kostengünstige Experti­ se der Zivilgesellschaft generieren, potenzielle Projektpartner*innen und Argumente für die eigenen Vorhaben gewinnen und bestimmte Aufga­ ben auch auslagern kann. Auch dabei gilt: Sie kann dies aufgrund der spezifischen Bedingungen der direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene 322 Ausnahmen im Einzelfall sind durch bestimmte Umstände selbstverständlich möglich.

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8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse

tun. Aus diesem Grund kann die EU-Kommission ihre strategischen In­ teressen relativ gut mit den Beteiligungsformen durchsetzen. Hingegen verliert tendenziell das EU-Parlament, da es entweder nicht beteiligt ist oder – wie im Fall der EBI – seinen Standpunkt nicht durchsetzen kann. Dadurch werden die institutionellen Defizite der EU vor Augen geführt und verstärkt – gleichzeitig erscheint eine Mobilisierung der Bürger*innen für die Wahlen tendenziell weniger plausibel. Denn diese bekommen die begrenzten Kontrollrechte des EU-Parlaments am Beispiel der direkten Beteiligungsformen vor Augen geführt. Durch die Ausgestaltung der Betei­ ligungsformen profitiert die EU-Kommission auch relativ gesehen stärker als die teilnehmenden gesellschaftlichen Akteur*innen. Dabei sind insbe­ sondere die hohen Anforderungen an die teilnehmenden Organisationen und die Mängel der Verantwortlichkeit durch den politischen Kontext und institutionelle Probleme sowie die Beteiligungsform Konsultation zu nennen, die dazu führen, dass die Beteiligten ihre Interessen in der Regel schlecht institutionell gegen einen Widerstand der EU-Kommission durch­ setzen können.323 Gleichwohl lassen sich nach einem normativen Verständnis von Partizi­ pation Möglichkeiten ableiten, bei denen die Beteiligten der Zivilgesell­ schaft profitieren. Sie tun dies, indem sie persönliche Lernerfahrungen erwerben (z. B. fachlicher Art) oder aber mögliche neue Projektpartner*in­ nen kennenlernen. Auch sind, abhängig von der Beteiligungsform und dem Format, Ansatzpunkte für grenzüberschreitende Solidaritätserfahrun­ gen und eine Form der geteilten kollektiven Identität möglich. In diesem Sinne können auch Emanzipationsprozesse gegenüber der europäischen Ebene von den Organisationen und der breiteren Öffentlichkeit erwor­ ben werden. Gleichwohl bleiben zum einen Prozesse der Vereinfachung und politische Ansichten der jeweiligen Organisationen relevant (öffentli­ che oder private Wasserversorgung). Zum anderen sind die institutionel­ len Möglichkeiten einer Kontrolle durch die Bürger*innen dabei stark begrenzt. Auch wenn sich im Fall der EBI deliberative Kontrollmöglich­ keiten (Herausnahme der Wasserver- und Abwasserentsorgung aus der

323 Wesentlich größere Erfolgsaussichten scheinen hingegen für die zivilgesell­ schaftlichen Akteur*innen zu bestehen, wenn sich ihre Ziele mit strategischen Prioritäten der EU-Kommission in Einklang bringen lassen, wie die Initiative End the cage age zeigt – auch wenn hier noch eine genaue wissenschaftliche Untersuchung aussteht (siehe dazu auch Kapitel 4.3.3.5).

349

8 Ergebnisse der Fallstudien: Rückschlüsse auf direkte Beteiligung auf EU-Ebene

Konzessionsrichtlinie) ergeben haben, scheint dies von vielen spezifischen Bedingungen abzuhängen, die vorab schwer zu kalkulieren sind.324 Für die Beschwerderechte steht eine weitergehende Untersuchung in diesem Sinne noch aus. Insbesondere jedoch für die parlamentarischen Beschwerderechte lassen sich durch niedrigschwellige Angebote mehr Bür­ ger*innen einbinden, d. h. die Verstärkungsrechte der bereits potenten Akteur*innen erscheinen hier nicht so stark (anders beispielsweise die Beschwerden bei der EU-Kommission).325 Ob die Beschwerderechte eine stärkere Kontrolle für die Bürger*innen ermöglichen, scheint ambivalent zu sein: Einerseits sind sie in ähnlicher Weise in das Entscheidungssystem eingegliedert wie die übrigen Konsultationsformen, mithin mit den be­ stehenden institutionellen Defiziten der EU konfrontiert. Deshalb wird es auch bei den Beschwerderechten stark auf die jeweiligen konkreten Bedingungen des Einzelfalls ankommen, ob so eine stärkere politische Ver­ antwortlichkeit angeregt werden kann (instrumentelles Partizipationsver­ ständnis). Andererseits scheinen Potenziale für eine stärkere Einforderung der demokratischen Verantwortlichkeit der eigenen mitgliedstaatlichen Institutionen über die europäische Ebene möglich (z. B. über die oder den Bürgerbeauftragten). Auch wenn dies nur symbolischer Art sein sollte, können sich auf diese Weise Emanzipations- und Lernprozesse für die Bürger*innen ergeben. Eine Möglichkeit, die gerade vor dem Hintergrund des Erstarkens von autoritären Regierungen in Osteuropa weiter zu unter­ suchen wäre. In einem abschließenden Kapitel werden diese Ergebnisse zu den theo­ retischen Erwartungen, die mit verstärkten direkten Beteiligungsmöglich­ keiten einhergingen (Kapitel 1), in Bezug gesetzt, Rückschlüsse auf die Beziehung von Partizipation und demokratischer Legitimation in der EU gezogen und Handlungsoptionen für direkte Partizipation erarbeitet. 324 Wesentlich größere Erfolgsaussichten scheinen EBIs zu haben, wenn ihre The­ men mit strategischen Prioritäten der EU-Kommission bzw. Teilen davon über­ einstimmen (siehe vorherige Fußnote). Denn in diesen Fall kann die EU-Kom­ mission die Initiativen als strategische Ressource für ihre Vorhaben nutzen. Tun EBIs dies aber nicht und sind tendenziell gegen die Prioritäten der EU-Kom­ mission bzw. Teilen davon gerichtet, wie dies beispielsweise die Initiativen Righ­ t2Water und Ban Glyphosate taten, dann kommt es wesentlich mehr darauf an, welchen außerinstitutionellen Druck diese aufbauen. Dies vorherzubestimmen ist nicht möglich, da hier sehr verschiedene, komplexe Faktoren ineinander­ wirken (beispielsweise die Eigendynamik der Initiative Right2Water, nachdem diese in den deutschen Fernsehsendungen aufgegriffen wurde). 325 Das Kriterium Deliberation erscheint bei den Beschwerderechten nicht von hoher Relevanz und wird daher hier außen vorgelassen.

350

8.3 Zusammenfassung der Ergebnisse

Darüber hinaus werden die Ergebnisse genutzt, um ein differenziertes Verständnis von Partizipation und ihren Effekten auf die demokratische Legitimation zu entwickeln.

351

9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse In diesem Kapitel werden die Wirkungen von direkter Beteiligung auf die demokratische Legitimation der EU zusammenfassend bewertet (9.1), Handlungs- bzw. Reformoptionen für die direkten Beteiligungsformen abgeleitet (9.2) und die Ergebnisse für die Weiterentwicklung der Partizi­ pationsforschung genutzt (9.3). Abschließend werden in einem Ausblick Desiderate für die weitere Forschung aufgezeigt (9.4). Einleitend werden zunächst der Aufbau, die Fragestellung und die we­ sentlichen Ergebnisse der Arbeit rekapituliert. Forderungen nach mehr direkter Beteiligung in europäischen Willens­ bildungsprozessen wurden in den 1990er-Jahren vor dem Hintergrund des Demokratie- und Legitimationsdefizites der EU laut. Diese Forderun­ gen wurden von wissenschaftlicher Seite, insbesondere von den Vertre­ ter*innen der assoziativen und deliberativen Demokratie, geäußert und mit Legitimitätsgewinnen auf der Input-und Output-Seite begründet (Ka­ pitel 1). Auch die EU-Kommission, die selbst die geringste demokratische institutionelle Legitimation unter den EU-Institutionen besitzt (Kapitel 1.1.4), hat sich seit den 1990er-Jahren für eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft eingesetzt und ihre Konsultationsmöglichkeiten für Bür­ ger*innen und die organisierte Zivilgesellschaft kontinuierlich ausgeweitet (Kapitel 1.3). Allerdings zeigten empirische Untersuchungen zu direkter Beteiligung auf EU-Ebene ernüchternde Ergebnisse, die im Kontrast zu den theoretischen Erwartungen standen (Kapitel 2). Sie wiesen beispiels­ weise auf nach wie vor bestehende Ungleichheiten in der Beteiligung und auf eine strategische Nutzung der EU-Kommission von diesen Instrumen­ ten hin. Gleichwohl ist bislang wenig über dieses Auseinanderklaffen von theoretischen Erwartungen und empirischen Ergebnissen bekannt. Daher besteht das Ziel dieser Arbeit darin, nachzuvollziehen, wie diese Lücke der Partizipationsforschung der EU zu erklären ist und welche konkreten Bedingungen dafür verantwortlich sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Akteur*innen von den direkten Beteiligungsformen profitie­ ren und auf welche Weise, d. h. durch welche Faktoren, dies geschieht.

352

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, ein differenziertes Verständnis von direkter Partizipation und ihren Wirkungen auf die demokratische Legiti­ mation zu erlangen (Kapitel 3). Da der bisherige empirische Forschungsstand vorrangig durch Fallstu­ dien auf einzelne Beteiligungsformen, Zielgruppen und Politikfelder ge­ prägt ist, lag der Schwerpunkt des Forschungsdesigns dieser Arbeit auf einer systematischen Untersuchung der verschiedenen Partizipationsfor­ men auf EU-Ebene (Kapitel 3). Hierfür wurden drei Kriterien entwickelt, die das legitimatorische Potenzial von direkter Partizipation in den ver­ schiedenen theoretischen Ansätzen und bei der EU-Kommission evaluie­ ren (Inklusivität, Deliberation und Verantwortlichkeit). Zudem wurde die systematische Untersuchung der Beteiligungsformen durch ein Zwei-Ebe­ nen-Design umgesetzt: In einem ersten Schritt wurde eine systematische Erfassung und Gegenüberstellung der verschiedenen direkten, verfassten und legalen Partizipationsformen auf EU-Ebene vorgenommen. Dabei wurden die Beteiligungsformen kriterienbasiert untersucht und so struk­ turelle Auffälligkeiten zwischen den Beteiligungsformen sichtbar gemacht (Kapitel 4). Als solche wurden zum einen die Ungleichheiten in der Struk­ tur der Beteiligung (Problemfeld 1) und das Abweichen des kommunizier­ ten Partizipationskonzeptes vom umgesetzten Partizipationshandeln der EU-Kommission (Problemfeld 2) identifiziert. Die strukturellen Problem­ felder der direkten Beteiligungsformen wurden in einem zweiten Schritt in den zwei Fallstudien Voices of Culture (Kapitel 6) und EBI Right2water (Kapitel 7) im Detail untersucht. Dabei lag der Fokus der Fallstudien darauf, diejenigen Faktoren nachzuvollziehen, die die strukturellen Pro­ bleme der Beteiligungsformen verursachen. Dafür wurden Beteiligungsfor­ men als Fallbeispiele ausgewählt, die einerseits typisch für die strukturel­ len Problemfelder sind und sich andererseits wesentlich in ihren Charak­ teristika, wie Zielgruppe oder Vergemeinschaftungsgrad, unterschieden (Kapitel 5). In Kapitel 8 wurden die Ergebnisse der beiden Fallstudien zu­ sammengefasst und dahingehend diskutiert, welche der herausgearbeiteten Faktoren auf die anderen Beteiligungsformen auf EU-Ebene übertragbar zu sein scheinen. Dafür wurde auf die in Kapitel 4 erarbeitete Typologie der Beteiligungsformen zurückgegriffen. Auf diese Weise wurden im We­ sentlichen drei Faktoren herausgearbeitet, die die strukturellen Probleme und damit die legitimationshinderlichen Effekte von direkter Beteiligung auf EU-Ebene bedingen:

353

9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

– Der politische Kontext (supranationale Beteiligung im europäischen Mehrebenensystem) – die Beteiligungsform Konsultation und – die ausführende Institution EU-Kommission (Rolle, Kommunikation, Organisation, Intention) Durch das spezifische Ineinandergreifen dieser drei Faktoren profitieren von direkter Beteiligung in der EU grundsätzlich diejenigen Akteur*innen, die bereits etabliert sind, d. h. es werden bestehende Ungleichgewichte reproduziert. Dies betrifft im Institutionengefüge der EU vor allem die EU-Kommission (und in geringerem Maße auch die Mitgliedstaaten). In gesellschaftlicher Hinsicht profitieren insbesondere europäische Dachver­ bände und fachlich spezialisierte Organisationen von den verstärkten Parti­ zipationsmöglichkeiten. Durch das Ineinanderwirken dieser Faktoren wird die EU-Kommission auch relativ gesehen stärker von den partizipativen Instrumenten bevorteilt als die teilnehmenden zivilgesellschaftlichen Or­ ganisationen und die Bürger*innen. Um zu einer abschließenden Bewertung zu gelangen, ob und wie die Ausweitung der direkten Beteiligungsformen auf EU-Ebene die demokrati­ sche Legitimation der EU stärkt, werden in einem nächsten Schritt die erhofften Effekte von Partizipation (Kapitel 1) den plausibel erscheinenden Effekten – bedingt durch die strukturellen Problemfelder von Partizipation – gegenübergestellt. Die Überlegungen sind dabei konzeptioneller Art, sie fußen nicht auf repräsentativen statistischen Analysen. Grundlage ist die in Kapitel 1.4 erarbeitete Übersicht über die verschiedenen Erwartungen an direkte Partizipation auf EU-Ebene. Diese werden mit den Effekten der strukturellen Probleme von Partizipation abgeglichen, die in dieser Arbeit identifiziert wurden. Dabei werden auch die jeweils wirkenden Faktoren beschrieben. Um die Darstellung übersichtlicher zu gestalten, werden zu­ nächst die inputbezogenen (9.1.1) und dann im Anschluss die outputbezo­ genen Erwartungen (9.1.2) erörtert. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und in ein Modell integriert, das die Effekte von Partizipa­ tion auf die demokratische Legitimation der EU darstellt (9.1.3). 9.1.1 Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte von direkter Partizipation auf der Input-Seite Die nachfolgende Tabelle zeigt relevante Erwartungen (Spalte 1) an di­ rekte Partizipation auf der Input-Seite und vergleicht diese mit plausibel erscheinenden Effekten (Spalte 2), die sich aus den herausgearbeiteten

354

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse

strukturellen Problemen ergeben. Zudem werden die Faktoren aufgelistet, die die strukturellen Probleme bedingen (Spalte 3). Erhoffte Wirkung

Plausible Effekte Einschränkung durch strukturelle Pro­ bleme direkter Partizipation

Faktoren



Ausgleich Schwächen des EP (assoziati­ ve und deliberati­ ve Demokratie, Vivi­ en Schmidt, EU-Kom­ mission)



– –

Politischer Kontext



EU-Kommission

Kollektive Identität (über Organisationen bei assoziativer Demokratie, über Entscheidungs-modus bei deliberativer De­ mokratie)



Repräsentativität der Entwürfe der EUKommission (Heinelt 1998)







Ungleichheiten:

– –

Erscheint nur bedingt realistisch, da:







Rückkopplung Le­ benswelt der Betroffe­ nen (Heinelt 1998) Verringerung der Dis­ tanz zwischen Bür­ ger*innen und EU-In­ stitutionen



Nachteil für Bürger*innen

Möglich, aber voraussichtlich inner­ halb von inhaltlich bestimmten Grenzen





Bestimmte Organisationen

der Zugang zu Konsultationen von EU-Kommission selbst­ ständig reguliert wird eine übergreifende Öffentlich­ keit nur bedingt hergestellt wird





– –

Komplexität des politi­ schen Kontextes in der EU im Konflikt mit Beteiligungsform EBI: Not­ wendigkeit der Vereinfa­ chung für die Mobilisie­ rung der Öffentlichkeit Repräsentativität der EUKommission vorrangig funktional bestimmt (d. h. Fokus auf Expertise) Pluralisierung der Pro­ blemlagen im Mehrebe­ nensystem

die zivilgesellschaftlichen Or­ ganisationen in der Reali­ tät nicht unbedingt zivilge­ sellschaftlichen Organisationen nach Heinelt (1998) entspre­ chen

Eingeschränkt durch:





Beteiligungsform Konsulta­ tion

Erschwerte Repräsentationsbe­ dingungen (Organisationen im EU Kontext häufig mit Mitglie­ derorganisatio-nen) Funktionale Ausrichtung der Zivilgesellschaft von der EUKommission

– – – –

funktionales Repräsentati­ vitätsverständnis der EUKommission Charakteristika der Struk­ tur der Zivilgesellschaft in den Politikfeldern Vereinfachung als Bedin­ gung für öffentliche Mobi­ lisierung bei einigen direk­ ten Beteiligungsformen Schwierigkeit, Repräsenta­ tivität zu messen

Tabelle 6: Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte direkter Partizipati­ on auf der Input-Seite im Vergleich (eigene Darstellung)

355

9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

Zusammenfassend kann für die inputbezogenen Erwartungen in Bezug auf direkte Beteiligung konstatiert werden, dass für diese durch die struk­ turellen Probleme von direkter Partizipation auf EU-Ebene nur stark ein­ geschränkt möglich erscheinen. Die wichtigsten plausiblen Überlegungen lauten folgendermaßen: Den Hoffnungen auf einen Ausgleich der Schwächen des EU-Parlaments durch direkte Beteiligung auf EU-Ebene (assoziative Demokratie, EU-Kom­ mission) stehen strukturelle Ungleichheiten in der Zivilgesellschaft entge­ gen. Infolgedessen können direkte Partizipationsformen zwar ergänzend zur Wahl des EU-Parlamentes genutzt werden, gleichwohl sollte dabei beachtet werden, dass die direkten Formen bestehende Ungleichheiten verstärken.326 Positive Effekte erscheinen hingegen bei den parlamentarischen Beschwer­ derechten möglich, durch niedrigschwellige Angebote mehr Bürger*innen einbinden zu können. Für diese Formen scheinen die Verstärkungseffekte der bestehenden Probleme daher nicht so stark (anders verhält es sich bei den Beschwerden bei der EU-Kommission). Insgesamt sollte die Begründung für eine ergänzende Nutzung von Partizipation daher stärker in einem funktio­ nalen Sinne von Partizipation und weniger in einem normativen Sinne als Ausgleich der Probleme des Demokratiedefizits erfolgen. In diesem Sinne sollten die Erwartungen an das legitimatorische Potenzial von direkter Beteiligung auf der Input-Seite vorsichtiger formuliert werden. Dies betrifft insbesondere die EU-Kommission, die in ihren Dokumenten (wie Weißbü­ chern) die mit einer Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten verbun­ denen Erwartungen realitätsnäher formulieren sollte. Die Ergebnisse dieser Arbeit haben gezeigt, dass die direkten Beteiligungs­ formen Möglichkeiten für gegenseitige Solidarität und eine Form der kol­ lektiven Identität unter den Teilnehmenden bieten. Allerdings erscheint diese Identität tatsächlich vorrangig als eine sekundäre, die – wie bei der EBI Right2water – zudem ein klares Feindbild vor Augen hatte (EU-Kommission und private Wasserwirtschaft). Darüber hinaus brauchen Prozesse für die Entstehung solcher Identitätsformen Zeit, Ressourcen und förderliche For­ mate (siehe 9.2). Auch die Rolle der EU-Kommission scheint bei den Konsultationsformen wesentlich zurückhaltender und weniger aktiv als in der Komitologie (Joerges/Neyer 1997). Dort hatte sie durch die Unterstüt­ zung von europäischen Lösungen aktiv daran mitgewirkt, eine gemeinsame Identität unter den nationalen Delegierten zu befördern. Da sich die Rolle

326 Beschwerderechte wurden in der Literatur zu direkter Beteiligung nicht reflek­ tiert. Ihr Potenzial wird – aufbauend auf die Ergebnisse aus Kapitel 4 – stärker auf der Output-Seite der Legitimation gesehen (9.1.2).

356

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse

der EU-Kommission jedoch bei den untersuchten Konsultationsformen dieser Arbeit stark von der Beschreibung von Joerges und Neyer unterschie­ den hat, scheinen die Erwartungen an die Entstehung einer kollektiven Identität durch die direkten Beteiligungsformen – zumindest für die Kon­ sultationsformen auf EU-Ebene – nur begrenzt plausibel. Insbesondere die Hoffnung, die Hubert Heinelt (1998: 93) in einer stärke­ ren Repräsentativität der Entwürfe der EU-Kommission durch die Einbezie­ hung der Zivilgesellschaft verbindet, erscheint als schwer realisierbar. Dage­ gen sprechen die funktionale Ausrichtung der Konsultationen qua Beteili­ gungsform bei der EU-Kommission und die erschwerten Bedingungen der Repräsentationsbeziehungen innerhalb der zivilgesellschaftlichen Organisa­ tionen. Darüber hinaus werden diese im Falle von Fachkonsultationen häufig nicht weiter an eine größere Öffentlichkeit transportiert. Somit bestehen auch nur begrenzt Potenziale, eine Öffentlichkeit für etwaige Gegenexpert*innen zu ermöglichen. Die Rückkopplung der EU an die Lebenswelt der Menschen und die Verringerung der Distanz zwischen den Bürger*innen und den EU-Institu­ tionen erscheint bei bestimmten, die Öffentlichkeit mobilisierenden For­ men, wie EBIs, plausibel. Allerdings ist dabei einschränkend hinzuzufügen, dass dies wahrscheinlich innerhalb eines inhaltlich selektiven Rahmens geschieht (wie beispielsweise bei der EBI Right2water öffentliche Wasserver­ sorgung). Auch dabei gilt, dass dies von den konkreten Bedingungen der jeweiligen Organisationen der Zivilgesellschaft abhängt, da beispielsweise nur bestimmte Organisationen ausreichend Ressourcen für diese Beteili­ gungsformen zur Verfügung haben (Verstärkung bestehender Ungleichhei­ ten). Zusammenfassend müssen die Erwartungen von direkter Partizipation auf der Input-Seite der Legitimation der EU stark durch die strukturellen Probleme der Beteiligungsformen eingeschränkt werden. Dabei können diese zwar das Institutionensystem ergänzen, gleichwohl bewirken sie je­ doch Verstärkungseffekte der bestehenden institutionellen Probleme. Infol­ gedessen sollten zum einen die mit der direkten Beteiligung verbundenen Erwartungen von Institutionen und theoretischen Ansätzen realitätsgetreuer formuliert werden. Dies meint insbesondere, die konkreten Charakteristika der Partizipationsformen (z. B. Mehrebenenkontext, Beteiligungsform) zu beachten. Zum anderen sollten konkretere Anforderungen der Beteiligungs­ formen erarbeitet und Überlegungen über generelle Entscheidungen der Kompetenzverteilung der EU abgeleitet werden (siehe auch 9.2).

357

9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

9.1.2 Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte von direkter Partizipation auf der Output-Seite Die nachfolgende Tabelle 7 zeigt relevante Erwartungen (Spalte 1) an di­ rekte Partizipation auf der Output-Seite und vergleicht diese mit plausibel erscheinenden Effekten (Spalte 2), die sich aus den herausgearbeiteten strukturellen Problemen ergeben. Zudem werden die Faktoren aufgelistet, die die strukturellen Probleme bedingen (Spalte 3). Erhoffte Wirkung

Plausible Effekte Einschränkung durch strukturelle Probleme direkter Partizipation





Trifft grundsätzlich zu



Möglich, aber eingeschränkt durch Deliberationshindernisse

Effizienzsteigerungen durch:





Expertise und zielgenaue Kanalisierung der Interes­ sen

Faktoren

Bessere Steuerungsfähig­ keit (bei assoziativer und deliberati­ ver Demokratie, EU-Kommission, Governance-Ansatz)



Effizienzsteigerungen durch Argumentation und Lösungen im Sinne aller (deliberative De­ mokratie, EU-Kommission, Vi­ vien Schmidt)

– –



358

Zurückhaltende Rol­ le der EU-Kommissi­ on Konsultationsformate (Konsultation be­ günstigt unterschied­ liche Erwartungshal­ tungen von Beteilig­ ten) Inkompatibilität der Anforderungen von bestimmten Beteili­ gungsformen und Komplexität des Meh­ rebenenkontextes

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse Erhoffte Wirkung

Plausible Effekte Einschränkung durch strukturelle Probleme direkter Partizipation

Faktoren





Bedingte Transparenz und un­ zureichende Kommunikation der EU-Kommission

– –

Mehrebenenkontext

Mängel in Berichterstattung der EU-Kommission über Betei­ ligungsformen



Stärkung einer EU-weiten Öf­ fentlichkeit möglich, aber von spezifischen Themen und For­ maten abhängig



Kommunikation und Intention EU-Kom­ mission



Transparenz und Verantwort­ lichkeit der europäischen Ent­ scheidungen (EU-Kommission, Vivien Schmidt) Diskursive und deliberative Kontrolle (Deliberative Ansät­ ze, Vivien Schmidt).

– – – –

Institutionelle Män­ gel

Beteiligungsform Konsultation

Institutionelle Kontrollmöglich­ keiten gering Möglichkeit von deliberativem Druck durch Beteiligung mög­ lich, aber abhängig von spezifi­ schen Formaten und Faktoren

Tabelle 7: Erwartungen und plausibel erscheinende Effekte direkter Partizipati­ on auf der Output-Seite im Vergleich (eigene Darstellung) Zusammenfassend kann für die Output-Seite konstatiert werden, dass die erhofften positiven Wirkungen auch hier durch die strukturellen Proble­ me von Partizipation eingeschränkt sind. Zweifelsohne wird durch die di­ rekten Konsultationsformen mehr Expertise und Wissen aus den Mitglied­ staaten und den jeweiligen Sektoren eingebracht. Allerdings erscheinen weitergehende Hoffnungen auf der Output-Seite durch die derzeitigen Charakteristika der direkten Beteiligungsformen nur bedingt umsetzbar. Die wichtigsten plausiblen Überlegungen lauten folgendermaßen: Effizienzsteigerungen durch Expertise, die zielgenaue Kanalisierung und bessere Steuerungsfähigkeit der Interessen (assoziative und deliberative De­ mokratie, EU-Kommission, Governance-Ansatz) scheinen plausibel und zudem enorm wichtig für den EU-Kontext. Hingegen erscheinen weitergehende Effizienzsteigerungen durch Deli­ beration, sachliches Argumentieren und das Finden von gemeinsamen Lösungen (deliberative Ansätze) nur begrenzt möglich. Die zurückgenom­ mene Rolle der EU-Kommission und die Anforderungen der Beteiligungs­ form Konsultation lassen die theoretischen Annahmen der deliberativen Ansätze fraglich werden. Zudem erscheinen bei bestimmten Beteiligungs­ formen generelle Restriktionen durch eine für die Mobilisierung notwen­ dige Vereinfachung und den komplexen Systemhintergrund der EU. Einige direkte Beteiligungsformen, wie die EBI, scheinen über das Potenzial zu verfügen, eine übergreifende Öffentlichkeit für bestimmte

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9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

Themen herzustellen und den Bürger*innen auf diese Weise ein besseres Verständnis und eine stärkere Kontrolle der EU-Politik zu ermöglichen. Durch die Beteiligung kann dabei auch eine Emanzipation der Bürger*in­ nen erreicht und deliberativer Druck auf die EU-Institutionen erreicht werden – der in der Konsequenz ein politisch verantwortliches Handeln der EU-Institutionen, insbesondere der EU-Kommission, erwirkt (Heraus­ nahme von Wasser aus der Konzessionsrichtlinie). Gleichwohl scheinen dafür sehr viele verschiedene Aspekte zusammenkommen zu müssen, was bei den Organisator*innen der zweiten Initiative Stop Glyphosat nicht ge­ lungen ist. Zudem zeigt sich die Reproduktion der institutionellen Defi­ zite der EU, da die Beteiligung als Konsultation an die EU-Kommission angebunden ist. Für eine stärkere Erzielung von politischer Verantwort­ lichkeit bräuchte es voraussichtlich solche Formen, die nicht nur eine sym­ bolische, sondern eine tatsächliche Verantwortungsübernahme der gesell­ schaftlichen Akteur*innen bei der Beteiligung ermöglichen, wie beispiels­ weise Formen der Mitentscheidung. Weiterhin scheinen viele Formen der Fachkonsultation bei der EU-Kommission nicht oder nur sehr bedingt geeignet zu sein, eine übergreifende Öffentlichkeit zu mobilisieren, weil die Bedingungen des politischen Kontextes der EU und die Mängel der EU-Kommission in der Prozesstransparenz und begleitenden Kommunika­ tion dies schon für die Beteiligten eine Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse erschweren. Dabei zeigt sich für viele Beteiligten der Zivilgesellschaft ins­ besondere das abweichende Partizipationshandeln vom kommunizierten öffentlichen Partizipationsdiskurs der EU-Kommission (Problemfeld 2). Die Beschwerderechte wurden bislang in theoretischen Ansätzen zu di­ rekter Beteiligung und bei der EU-Kommission nicht thematisiert. Sie bie­ ten, beispielsweise als Beschwerdemöglichkeit bei der oder dem Europä­ ischen Bürgerbeauftragten, auch neue Ansatzmöglichkeiten für eine stär­ kere Verantwortlichkeit der nationalen Regierungen und Institutionen durch direkte Beteiligung auf EU-Ebene. Gleichwohl erscheinen auch hier ähnliche Probleme der Verantwortlichkeit wie bei den Konsultationsfor­ men im engeren Sinne, denn auch diese Formen scheinen durch ihre Eingliederung in das politische Entscheidungssystem bestehende institu­ tionelle Ungleichgewichte zu reproduzieren. Deshalb wird es auch bei den Beschwerderechten stark auf die jeweiligen konkreten Bedingungen des Einzelfalls ankommen, ob so eine stärkere politische Verantwortlichkeit angeregt werden kann. Insgesamt scheinen die Potenziale der Output-Legitimation vor allem in der eingebrachten Expertise zu liegen, auch wenn es natürlich abweichen­ de Beispiele gibt. Die Ursachen dafür liegen in der spezifischen Kombina­

360

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse

tion der konkreten Faktoren (politischer Kontext, ausführende Organisati­ on, Beteiligungsform) für direkte Beteiligung auf EU-Ebene. Um durch solche direkte Beteiligung auch stärkere Kontrollrechte für Bürger*innen und die organisierte Zivilgesellschaft zu ermöglichen, wären verschiedene Handlungsoptionen notwendig, die bei den strukturellen Faktoren anset­ zen (siehe Kapitel 9.2). Nachdem die Erwartungen an direkte Partizipation mit den plausibel erscheinenden Effekten auf EU-Ebene abgeglichen wurden, soll in einem nächsten Schritt die Beziehung zwischen direkter Partizipation und demo­ kratischer Legitimation in der EU in einem Modell zusammengeführt werden. 9.1.3 Direkte Partizipation und demokratische Legitimation der EU: Eine komplexe Wechselwirkung Der Vergleich der erwarteten Legitimitätssteigerungen und der plausiblen Effekte durch direkte Partizipation macht auf eine strukturelle Wechsel­ wirkung zwischen den direkten Beteiligungsmöglichkeiten und den Legi­ timationsmechanismen der EU aufmerksam. In den folgenden Ausführun­ gen soll diese Beziehung systematischer dargestellt werden.327 Grundlage dafür ist der in Kapitel 1.2.3 vorgestellte Ansatz von Vivien Schmidt, in dem sowohl positive als auch negative Rückwirkungen der direkten Beteiligungsmöglichkeiten in der Throughput-Legitimation auf die ande­ ren beiden Legitimationsquellen (Input- und Output-Legitimation) erfasst werden. Die Ergebnisse dieser Arbeit unterstreichen somit die in Kapitel 1.1.1 vorgestellte Kritik an Fritz W. Scharpfs Konzeption, der die eine Wechselwirkung zwischen Input- und Output-Legitimation zwar postu­ lierte, gleichwohl den tatsächlichen faktischen Interdepenzen beider Legi­ timationsmodi zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Um die Wechselwirkung zwischen den Beteiligungsmöglichkeiten und den Legitimationsmodi darzustellen, werden die in Kapitel 4 systematisier­ ten Beteiligungsformen auf den Ansatz von Schmidt übertragen (siehe 327 Arne Pautsch und Daniel Zimmermann (2020: 399) haben ein anderes Bewer­ tungsschema für die Ermittlung von Defiziten und Potenzialen partizipativer Gesetzgebung in Deutschland entwickelt. Sie orientieren sich auch an den drei Legitimationsmodi Input-, Output- und Throughput-Legitimation. Im Ge­ gensatz zu dem hier präsentierten Modell stellen Pautsch und Zimmermann weniger auf die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Legitimationsmodi ab.

361

9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

1.2.3). Schmidt weist den direkten Beteiligungsformen in der EU einen ei­ genen Legitimationsmechanismus zu, der neben die beiden Mechanismen Input- und Output-Legitimation tritt.328 Ihr Modell wird in dieser Arbeit zudem differenziert und ausgebaut, da Schmidt unter Throughput-Legiti­ mation weitgehend unsystematisch die Konsultation bei der EU-Kommis­ sion einordnet (vgl. Schmidt 2010: 8), d. h. weder zwischen Zielgruppen (Bürger*innen oder Organisationen) unterscheidet noch Beschwerderechte in irgendeiner Form mit einbindet.

Effekte von Partizipation auf Legitimation Input-Legitimation • Erhöhung der Inklusivität der Akteure • Gegenseitige Solidarität, Rückbindung an Lebenswelt Hinderlich, z.B.: • Verstärkung bestehender Ungleichgewichte • Solidarität und kollektive Identität nur innerhalb bestimmter Grenzen

Output-Legitimation

Wechselwirkung

ThroughputLegitimation Legitim g ion

Förderlich, z.B.:

Beschwerderechte

Konsultation

Faktoren • Politischer Kontext (Mehrebenensystem, Gesetzgebung, bestehende Defizite), • Beteiligungsform, • Intension, Rolle und Organisation der ausführenden Institution.

• Zivilgesellschaft oft funktional bewertet (nach Expertise) Verursachen hinderliche Effekte

Förderlich, z.B.: • Expertise und Sachverstand • Neue Ansatzpunkte für Verantwortlichkeit durch Beschwerderechte und außerinstitutionellen Druck Hinderlich, z.B.: • Eingeschränkte Deliberation mit Institutionen (vorrangig bei bestimmten Formen) • EU-weite Öffentlichkeit erschwert • Eingeschränkte institutionelle Verantwortlichkeit Verursachen hinderliche Effekte

Abbildung 7: Zusammenfassende Darstellung der Effekte von direkter Partizi­ pation auf die demokratische Legitimation in der EU (eigene Darstellung) Die Abbildung 7 fasst die Effekte von direkter Partizipation in der Throughput-Legitimation zusammen. Dabei werden aus Gründen der analytischen Vereinfachung zunächst die Wirkungen der Throughput-Le­ gitimation auf die beiden anderen Mechanismen der Legitimation darge­ stellt. In der Realität besteht die Beziehung aus einer zweiseitigen Wech­ selwirkung. Das Modell soll veranschaulichen, wieso die direkten Beteili­ gungsmöglichkeiten auf EU-Ebene unter ihren theoretischen Erwartungen bleiben. Die Rückwirkungen auf die Input- und Output-Legitimation zei­ 328 Unter der Throughput-Legitimation fasst sie darüber hinaus die politischen Prozesse in der EU bei der Entscheidungsfindung. Diese Prozesse werden durch die direkten Beteiligungsformen auch betroffen, stehen hier gleichwohl nicht im Fokus der Analyse.

362

9.1 Partizipation und Legitimation auf EU-Ebene: Zusammenfassung der Ergebnisse

gen, dass direkte Partizipationsmöglichkeiten auf EU-Ebene strukturelle Probleme aufweisen, einerseits die Ungleichheiten in der Struktur der Beteiligung (die die bestehenden Ungleichheiten verstärken, Problemfeld 1) und andererseits ein abweichendes Partizipationshandeln vom kommu­ nizierten Partizipationsdiskurs durch die EU-Kommission (Problemfeld 2). Diese Probleme sind durch ein Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren bei direkter Partizipation auf der EU-Ebene zu erklären: Durch den politischen Kontext, die Eigenheiten der Beteiligungsform Konsulta­ tion und die Intentionen der ausführenden Organisation (insbesondere EU-Kommission). Diese Faktoren sind maßgeblich für die strukturellen Probleme von direkter Partizipation verantwortlich und mindern somit das Legitimationspotenzial der direkten Partizipationsformen. Sie bilden den charakteristischen Hintergrund von direkter Beteiligung in der derzei­ tigen Form auf EU-Ebene. Da dieser Hintergrund herausgearbeitet wurde, ist es nun möglich, verschiedene direkte Beteiligungsmöglichkeiten diffe­ renziert einzuordnen oder verschiedene Möglichkeiten der Eingliederung der Beteiligungsformen in das Entscheidungssystem zu diskutieren. Dabei können einzelne Formen der Beteiligung durchaus andere Ergebnisse auf­ weisen. Gleichwohl ermöglicht dieses analytische Raster, diese Fälle struk­ turell in den EU-Kontext einzuordnen. Insgesamt wird deutlich, dass die direkten Beteiligungsformen zwar Potenziale für die Input-, aber auch für die Output-Legitimation beinhal­ ten, diese aber durch strukturelle Problemfelder begrenzt sind – und somit bestehende Defizite weder ausgleichen noch überwinden, sondern teilweise reproduzieren. Darin zeigt sich die Wechselwirkung im Modell, da auch die anderen beiden Legitimationsmechanismen die ThroughputLegitimation beeinflussen. So können beispielsweise die Probleme einer kollektiven Identität der Input-Seite nicht durch eine stärkere ThroughputLegitimation ersetzt werden, sondern müssen auf der Input-Ebene gelöst werden. Direkte Beteiligung kann – beispielsweise durch die Beschwerde­ rechte – neue Impulse für eine stärkere demokratische Verantwortlichkeit ermöglichen. Allerdings zeigen sich auch dabei die bereits vorhandenen Mängel der institutionellen Infrastruktur der EU-Institutionen (Unabhän­ gigkeit der nicht-politischen Institutionen), die auch vorrangig auf der Seite der Output-Legitimation zu lösen wären. Im nächsten Schritt werden mögliche Ansatzpunkte für Reformmög­ lichkeiten der direkten Beteiligungsformen in der EU gegeben, um die hinderlichen Effekte auf die anderen beiden Legitimationsquellen zu mil­ dern bzw. die positiven Effekte zu unterstützen.

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9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

9.2 Mögliche Reformoptionen für direkte Partizipation Mögliche Ansatzpunkte für Reformen der partizipativen Instrumente auf EU-Ebene sind in der Minderung der hinderlichen Effekte von direkter Partizipation zu sehen. Diese setzen an den Faktoren politischer Kontext (Mehrebenenkontext, Gesetzgebungssystem der EU, ausführende Instituti­ on) und der Beteiligungsform an, da diese die strukturellen Probleme von Partizipation bedingen. Sie setzen damit gleichzeitig an bestehenden Problemen der Input- und Output-Legitimation an. Ansätze an der Beteiligungsform Die Systemkomplexität der EU wurde bereits bei der Fallstudie der EBI Right2water (Kapitel 6) als hinderlich für eine öffentlichkeitsübergreifende Mobilisierung identifiziert. In dieser Hinsicht ist zu überlegen, inwiefern solche Beteiligungsformen mit dem EU-Kontext grundsätzlich in Konflikt geraten. EBIs scheitern an dieser Komplexität entweder in dem Sinne, dass sie nicht zustande kommen (weil sie nicht genügend Unterschriften mobilisieren können) oder aber nicht politisch umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage durchaus plausibel: Sollten solche Verfahren weniger für den europäischen Kontext geeignet sein? Denn es besteht insbesondere die Gefahr, dass die hohen Hürden für die Beteili­ gung Frustration unter den Teilnehmenden erzeugen. Braucht es konkre­ tere Kriterien für die Fälle, in denen sie doch für den europäischen Kon­ text geeignet sind? Beispielsweise in Bezug auf Personalfragen, bei denen die Themen nicht so komplex erscheinen? Oder sollten diese Verfahren aufgrund der Systemkomplexität in der EU grundsätzlich nicht in diesem Kontext genutzt werden?329

329 Ähnlich argumentieren Wolfgang Merkel und Claudia Ritzi mit Blick auf di­ rektdemokratische Instrumente (2017: 244f.) sowie Sabine Kropp (2021: 57) etwas allgemeiner für deliberative Formen. Dezidiert anders argumentiert Jan Labitzke (2016: 314f.) im Fazit seiner Untersuchung der Online-Konsultationen mit Bezug auf Heidrun Abromeit (1998: 100ff.; zitiert nach Labitzke 2016: 314): Er spricht sich für die Einsetzung von abrogativen Referenden aus, um den Bürger*innen der EU ein Möglichkeit zu geben, gegen solche EU-Gesetzgebung zu votieren, die gegen eine Mehrheit der Bürger*innen gerichtet ist. Ziel einer solchen Möglichkeit wäre dann nicht der Input der Bürger*innen und Zivilge­ sellschaft der Gesetzgebung, sondern eine Institutionalisierung von Protest in der EU.

364

9.2 Mögliche Reformoptionen für direkte Partizipation

Die Beteiligungsform Konsultation wurde ebenso als Faktor herausgear­ beitet, der strukturelle Probleme der direkten Beteiligung auf EU-Ebene bedingt. Sie begünstigt und stabilisiert die divergierenden Erwartungen der Beteiligten und somit auch die Mängel in der demokratischen Ver­ antwortlichkeit. Sie bedingt ebenfalls Einschränkungen bei der Inklusivi­ tät der Formen durch ihre funktionale Ausrichtung. Als Teil der symbo­ lischen Partizipation (nach Arnstein 1969: 217) beinhaltet Konsultation keine Rechte auf eine Verantwortungsübernahme der Bürger*innen, wie dies beispielsweise bei der Form Mitentscheidung der Fall ist. Diese Rechte würden die Mängel in den Berichtspflichten der EU-Kommission mindern und unter Umständen auch eine größere Öffentlichkeit unter den Betrof­ fenen, aber auch darüber hinaus herstellen, da die Organisationen die Ergebnisse anders vermitteln würden und über die Art der Umsetzung auch Rechenschaft ablegen müssten. Damit verbunden ist jedoch auch die Frage, ob die Beteiligten der EU-Institutionen, allen voran jene der EUKommission, auch bereit wären, Entscheidungskompetenzen abzugeben. Politischer Kontext in der EU Die Ergebnisse dieser Arbeit geben Anlass, die Eingliederung der direk­ ten Beteiligungsformen in das politische Entscheidungssystem zu hinter­ fragen, da so bestehende institutionelle Defizite (insbesondere im Kriteri­ um Verantwortlichkeit) verstärkt werden. Reformperspektiven, die den Schwerpunkt auf eine stärkere Kontrolle der Bürger*innen durch die Be­ teiligung legen, sollten folglich die Anbindung der Beteiligungsmöglich­ keiten an die EU-Kommission infrage stellen. Um den Bürger*innen durch Partizipation eine stärkere Kontrolle zu ermöglichen, wäre zu überlegen, ob diese entweder an anderer Stelle in den Gesetzgebungsprozess einglie­ dert werden. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die einzelnen Ver­ fahren stärker zu vereinheitlichen und zu institutionalisieren, um so die Möglichkeit des Einforderns von Partizipationsrechten für die Beteiligten der Zivilgesellschaft zu stärken. Allerdings scheint fraglich, ob dies unter den derzeitigen Bedingungen der dezentralen Umsetzung der Partizipati­ onsformen in den einzelnen GDs zu leisten ist. Ebenso ist unsicher, ob eine stärkere Vereinheitlichung und strikte Richtlinien der Handhabung der einzelnen GDs durch die Leitung der EU-Kommission (und die ande­ ren EU-Institutionen) politisch gewünscht sind (vgl. auch Labitzke 2016: 311).

365

9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

Die Rolle und Kommunikation der EU-Kommission wurde ebenso als ein Faktor herausgearbeitet, der die strukturellen Probleme von direkter Beteiligung bedingt. Kritisch zu werten ist insbesondere die Kommunika­ tion der EU-Kommission, die die Erfolge und Erwartungen von direkter Partizipation sprachlich überhöht, ihre Maßnahmen aber nicht erklärt, sondern sich auf formale, juristisch wirkende Positionen zurückzieht. Die besondere Herausforderung der direkten Partizipation auf EU-Ebene liegt in der Verbindung der hohen Erwartungen (die zusätzlich von der EU-Kommission geschürt werden) und den hohen Hürden auf der trans­ nationalen Ebene für die Beteiligungsformen. Es ist dieses grundsätzliche Spannungsfeld zwischen hohen Hürden und hohen Erwartungen, das die großen Herausforderungen für partizipative Demokratie auf EU-Ebene bedingt und für die Beteiligten häufig die Abweichung zwischen dem kommunizierten Partizipationsdiskurs und dem faktischen Handeln der EU-Kommission darstellt. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob es grundsätzlich der richtige Weg ist, mehr direkte Beteiligungsmöglichkei­ ten auf EU-Ebene zu schaffen, um dort das Legitimationsdefizit auszuglei­ chen. Diese Frage manifestiert sich am deutlichsten in jüngster Zeit am Bei­ spiel der Konferenz zur Zukunft der EU, bei der eine enorm komplexe Beteiligungsstruktur zusätzlich zum europäischen Institutionensystem ge­ schaffen wurde. Dabei beeindruckt die Architektur aus Online-Plattform, gelosten europäischen Bürgerräten, nationalen Bürgerräten, Plenartagung und Exekutivausschuss – die sicher eine enorme Lernerfahrung und eine gewisse Form der europäischen Identität der beteiligten Bürger*innen geschaffen hat. Und doch bleibt die Frage, wie die Empfehlungen der Bürger*innen in dem Abschlussbericht weiter im regulären Politikprozess der EU-Institutionen nachvollziehbar weiterverarbeitet werden (können). Es scheint sich fast ein Widerspruch zwischen den für die Beteiligung notwendigen Erwartungen und dem tatsächlich Umsetzbaren anzudeuten. Dies wirft die Frage auf, stellt man sich die strukturellen Probleme direk­ ter Beteiligung auf EU-Ebene vor Augen, ob es nicht besser wäre, das Prin­ zip Subsidiarität stärker umzusetzen und somit mehr Beteiligungsmöglich­ keiten – und Kompetenzen – wieder zurück an die unteren Ebenen zu geben (Problem der Input-Legitimation). Idealerweise würde dies auf der lokalen Ebene geschehen, denn in der direkten Lebenswirklichkeit sind die Beteiligungsprozesse wesentlich leichter demokratisch auszugestalten (ähnlich auch Decker 2021: 140). In diesem Sinne wäre ein weiterer An­ satzpunkt für Reformen, das Subsidiaritätsprinzip bei direkter Beteiligung stärker umzusetzen.

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9.3 Impulse für die Partizipationsforschung

Zudem könnten mögliche Handlungsansätze an den förderlichen Effek­ ten von direkter Partizipation ansetzen und darauf abzielen, diese zu ver­ stärken. Als legitimationsförderlich für die EU wurde gegenseitiges Lernen oder auch die Möglichkeit einer gemeinsamen Identität durch die direkten Konsultationsformen im Vergleich zu Wahlen oder Einspruchsrechten ge­ sehen. Allerdings braucht es dafür längerfristige stabile Beteiligungsstruk­ turen, für die im Zweifelsfall auch mehr Ressourcen für die Umsetzung der Formate bereitgestellt werden. Ebenso wird für eine Vernetzung inner­ halb der Zivilgesellschaft eine längerfristige Struktur gebraucht. So könn­ ten direkte Partizipationsmöglichkeiten die horizontalen und vertikalen Kommunikationswege in der EU durchaus befruchten, gleichwohl kommt dies in den aktuell vorhandenen Formaten, beispielsweise durch zeitliche Restriktionen, an seine Grenzen. Darüber hinaus hat diese Arbeit gezeigt, dass Beschwerderechte und direkte Beteiligungsformen auf EU-Ebene von Bürger*innen und Zivilgesellschaft genutzt werden, um eine stärkere Ver­ antwortlichkeit der eigenen mitgliedstaatlichen Regierung zu erwirken. Dies könnte durch eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit – auch durch die beteiligten Organisationen der Öffentlichkeit – verstärkt beworben werden. 9.3 Impulse für die Partizipationsforschung Die Ergebnisse dieser Arbeit tragen neben dem engen Bezugsrahmen – Partizipation und Legitimation der EU – auch zu der theoretischen Partizi­ pationsforschung bei. Sie bereichern die starre Dichotomie von instrumen­ tellem und normativem Partizipationsverständnis und ermöglichen ein differenziertes Partizipationsverständnis (9.3.1). Zudem werden die Ergeb­ nisse genutzt, um generelle Überlegungen über die Faktoren anzustellen, die die Wirkung von Partizipation auf die demokratische Legitimation beeinflussen (9.3.2). 9.3.1 Ein differenziertes Partizipationsverständnis Während Vertreter*innen eines instrumentellen Partizipationsverständnis­ ses, wie u. a. Fritz W. Scharpf, die Möglichkeiten von und die existieren­ de Realität an direkten Beteiligungsformen unterschätzen, neigen Vertre­ ter*innen eines normativen Verständnisses dazu, die positiven Effekte von direkter Beteiligung zu überhöhen – und sehen sich mit ernüchternden

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9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

empirischen Ergebnissen konfrontiert, die im Widerspruch zu den theore­ tischen Annahmen stehen. Dabei haben die Interviews in den Fallstudien (Kapitel 6 und 7) gezeigt, dass die Teilnehmenden der Zivilgesellschaft häufig sowohl aus einer in­ strumentellen als auch aus einer normativen Perspektive heraus argumen­ tierten, die sich teilweise gar nicht voneinander trennen ließen. Für viele Beteiligte war die Durchsetzung des Partizipationsziels sehr wichtig, d. h. ein instrumentelles Partizipationsverständnis (Konsultation bzw. Umset­ zung der EBI). Gleichzeitig äußerten die Teilnehmenden in beiden Fallstu­ dien auch andere positive Aspekte, die mit der Beteiligung einhergingen, beispielsweise gegenseitiges Lernen und die eigene Horizonterweiterung, gegenseitige Solidarität oder auch zukünftige Projektpartner*innen zu ge­ winnen. Diese Sichtweise fußt stärker auf einem normativen Partizipati­ onsverständnis. Dabei argumentierten viele der Teilnehmenden aus beiden Perspektiven. Die jeweilige Gewichtung zwischen den Perspektiven schien sich zwischen den Beteiligten individuell zu unterscheiden, d. h. für den oder die eine*n Teilnehmende*n stand stärker der instrumentelle Aspekt – die Zielerreichung – im Vordergrund, für den oder die andere*n weniger. Dies wurde im Kontext der EU, insbesondere bei der EBI, mit den ho­ hen Hürden an die Zivilgesellschaft begründet. Für andere Teilnehmende stand das gegenseitige Lernen jenseits des konkreten Erfolges der Beteili­ gung stärker im Vordergrund. Insgesamt scheint es folglich sehr viel plau­ sibler, von einem differenzierten Partizipationsverständnis auszugehen, das sowohl instrumentelle als auch normative Aspekte einschließt. Das differenzierte Partizipationsverständnis ermöglicht es, die unzureichenden Darstellungen des instrumentellen Verständnisses und die Theorie-Empi­ rie-Kluft der Vertreter*innen eines normativen Verständnisses zu überwin­ den. Doch nicht nur das Partizipationsverständnis benötigt eine differenzier­ te Darstellung – auch die Wirkungen der direkten Beteiligungsformen auf die demokratische Legitimation der EU haben sich als ambivalent erwie­ sen und sind nicht immer unbedingt positiv zu bewerten. Vielmehr schei­ nen diese von einem Wechselspiel von verschiedenen Faktoren abhängig zu sein, die nun im nächsten Kapitel erörtert werden.

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9.3 Impulse für die Partizipationsforschung

9.3.2 Einflussfaktoren von Partizipation auf die demokratische Legitimation Die Erkenntnisse dieser Arbeit legen nahe, dass die Wirkungen von Par­ tizipation auf die demokratische Legitimation von einem Wechselspiel von verschiedenen Faktoren bedingt werden. In einem nächsten Schritt sollen diese Faktoren für andere politische Systeme abstrahiert werden. Aufbauend auf die Erkenntnisse am Beispiel der EU sind folgende drei Faktoren relevant, um die konkreten Wirkungen von Partizipation auf die demokratische Legitimation eines Systems zu beurteilen. Diese sind: – Der Kontext (bspw. das politische Entscheidungssystem, die ausführen­ de Organisation usw.) – Die Anforderungen der Beteiligungsform (Konsultation, Mitentschei­ dung, Delegation) – Die Zielgruppe (Personen oder Organisationen) Die Erkenntnisse dieser Arbeit zeigen, dass der spezifische politische Kontext von Partizipation (insbesondere der institutionelle Rahmen) viel stärker miteinbezogen werden sollte, wenn über die Effekte von Partizi­ pation gesprochen wird. Denn die spezifischen Charakteristika von der europäischen Ebene – insbesondere ihre transnationale und technische Ausrichtung und die Anforderungen der Willensbildungs- und Entschei­ dungsprozesse im europäischen Mehrebenensystem – verursachen struktu­ relle Probleme direkter Beteiligung: Die transnationale Ausrichtung und ihre Sprach- und Professionalisierungsanforderungen beeinträchtigen bei­ spielsweise die Inklusivität direkter Beteiligung, während die Komplexität der europäischen Gesetzgebung und ihre aufgeteilten Zuständigkeiten auf die Mitgliedstaaten eine übergreifende Mobilisierung der Öffentlichkeit vor enorme Herausforderungen stellen, die wiederum für einige Formen direkter Beteiligung, wie Bürgerinitiativen, essenziell sind. Es sind diese spezifischen Eigenschaften des Kontextes der EU, die dafür sorgen, dass beispielsweise Bürger*inneninititaiven hier nicht die gleiche legitimations­ förderliche Wirkung haben müssen, wie sie dies auf lokaler Ebene haben. Aber der politische Kontext ist nicht allein ausschlaggebend für die legi­ timatorische Wirkung einer Beteiligungsform. Ganz wesentlich bestimmt sich dieser zudem durch die Anforderungen der jeweiligen Beteiligungs­ form (beispielsweise von Konsultation) und durch die Kompatibilität der Beteiligungsformen für bestimmte Zielgruppen von Partizipation (für in­ dividuelle Personen und für Organisationen). Schließlich prägt auch das jeweilige Verständnis von demokratischer Legitimation die einzelnen Be­

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9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

stimmungsgrößen (Beteiligungsprozess, Zielgruppe und Kontext) und de­ ren Gewichtung bzw. Priorisierung.

Effekte von Partizipation auf demokratische Legitimation: Bestimmungsgrößen Kontext

Demokratische Legitimation Beteiligungsform/prozess

Zielgruppe

Abbildung 8: Effekte von Partizipation auf Legitimation: Bestimmungsgrößen (eigene Darstellung) Die vorhergehende Grafik hat die grundlegende Vorstellung dieser Arbeit für den Zusammenhang und die Einflussfaktoren von Partizipation auf die demokratische Legitimation dargestellt. Dabei beeinflussen die einzelnen Kategorien nicht nur die Wirkungen von Beteiligungsinstrumenten auf die Legitimation eines politischen Sys­ tems, sondern sie beeinflussen sich gegenseitig. Der Kontext von Partizipa­ tion, d. h. beispielsweise die Ebene, auf der Partizipation stattfindet, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, für welche Zielgruppe die Beteili­ gungsform geeignet ist. Individuelle Beteiligung ist auf der lokalen Ebene einfacher zu realisieren als auf der supranationalen Ebene, auf der hohe Sprach- und Professionalisierungsanforderungen zu beachten sind.330 Aber auch der Kontext und die Beteiligungsform stehen in einem Abhängig­ keitsverhältnis, in dem Sinne beispielsweise, dass der Kontext in Form der ausführenden Organisation auch einen Einfluss darauf hat, wie demokra­

330 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive arbeitet Anne Camper (2021: 33) speziell für Instrumente direkter Demokratie heraus, dass diese am günstigsten in klei­ neren Einheiten auf der regionalen und lokalen Ebene zu realisieren sind.

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9.4 Ausblick

tisch der Beteiligungsprozess gestaltet sind (in diesem Fall beispielsweise die Angliederung an die EU-Kommission und die fehlende Transparenz der Partizipationsprozesse). Ebenso werden Mängel des Kontextes, wie eine fehlende Kontrolle für Bürger*innen, durch die Beteiligungsmöglich­ keiten unter Umständen zusätzlich verstärkt. Darüber hinaus hat das Bei­ spiel EBI die Frage aufgeworfen, ob jede Beteiligungsform für jeden poli­ tischen Kontext anwendbar ist (für deliberative Demokratie siehe Kropp 2021: 57). Die Kategorien Zielgruppen und Beteiligungsform beeinflussen sich jedoch ebenfalls, und zwar in dem Sinne, dass eine Beteiligungsform für Personen und Organisationen unterschiedliche Anforderungen (Ziel­ gruppen) erzeugt. Quittkat (vgl. 2011b: 142) hat beispielsweise gezeigt, dass Bürger*innen geschlossene Fragen bei Online-Konsultationen präfe­ rierten, während zivilgesellschaftliche Organisationen eher offene Frageka­ tegorien bevorzugt haben. Dabei sind hier sowohl Beteiligungsmöglichkei­ ten als individuelle Rechte, wie beispielsweise Wahlen und Beschwerde­ rechte, oder themenbezogene Möglichkeiten der Beteiligung (wie Konsul­ tationen) eingeschlossen. Schließlich hat auch das jeweilige Konzept von demokratischer Legitimation einen Einfluss darauf, welche Zielgruppe in welchem Kontext und in welchen Beteiligungsprozessen im Fokus steht. 9.4 Ausblick Der Titel dieser Arbeit wurde bewusst provokant gewählt – er hinterfragt kritisch die Annahme des normativen Partizipationsverständnisses, dass eine verstärkte direkte Einbindung der Bürger*innen und organisierten Zivilgesellschaft zwangsläufig auch die demokratische Legitimation stärkt. Ob ein verstärktes Angebot an direkten Beteiligungsmöglichkeiten in der Summe weniger Legitimation ermöglicht, als ohne die Formen der direk­ ten Partizipation bestünde, kann und soll in dieser Arbeit nicht abschlie­ ßend beurteilt werden. Denn dies ist zum einen von der Ausgestaltung der Beteiligungsformen, dem politischen Kontext, der Zielgruppe und zudem von dem jeweiligen Partizipationsverständnis abhängig. Zum anderen wä­ ren dafür repräsentative und statistische Untersuchungen notwendig, die im Rahmen dieser qualitativ angelegten Forschungsarbeit nicht zu leisten waren. Der Erkenntnisgewinn dieser Arbeit liegt darin, den Blick auf die strukturellen Zusammenhänge zu legen, in denen sich die direkten Betei­ ligungsmöglichkeiten befinden und diese als Ansatzpunkt für die Erklä­ rung der Theorie-Praxis-Abweichung von Partizipation zu nehmen. Damit

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9 Zusammenfassung und Ausblick: Mehr Partizipation – weniger Legitimation?

erschließen sich neben den konkreten Ergebnissen für das Beispiel EU Impulse für ein differenziertes Verständnis von Partizipation. Zudem erge­ ben sich so Ansatzpunkte, um Faktoren zu identifizieren, die festlegen, ob direkte Partizipation einen Mehrwert für die demokratische Legitimati­ on ermöglichen kann. Dieser mögliche Mehrwert wird immer vor dem Hintergrund der jeweiligen Wechselwirkungen zwischen den Kategorien Zielgruppe, Kontext und Beteiligungsform bestimmt. Die Ergebnisse dieser Arbeit weisen auf weitere Forschungsdesiderate hin: Sie machen darauf aufmerksam, dass die Partizipationsforschung eine größere Aufmerksamkeit auf eine Differenzierung nach Beteiligungsfor­ men, Kontexten und Zielgruppen und dabei jeweils auftretenden Span­ nungsverhältnissen legen sollte, um mögliche Wirkungen und Erwartun­ gen an Partizipation zu formulieren. In diesem Sinne schenken beispiels­ weise die Vertreter*innen von assoziativer Demokratie dem Aspekt der Be­ teiligungsform Konsultation und den damit einhergehenden funktionalen Anforderungen zu wenig Aufmerksamkeit, wenn sie die positiven Effekte von Partizipation begründen. Joerges und Neyer (1997) arbeiten bei dem deliberativen Supranationalismus zu wenig den Einfluss der Beteiligungs­ form Mitbestimmung heraus, die die aktive Rolle der EU-Kommission in der Komitologie bei ihren Fallstudien prägt. Vivien Schmidt systematisiert nur unzureichend die verschiedenen Beteiligungsformen und Zielgruppen der Throughput-Legitimation. Vielmehr zeichnet sich ein multidimensio­ nales Verständnis von politischer Partizipation ab, das durch unterschiedli­ che Faktoren bestimmt wird, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Folglich sollten auch die bestehenden, teilweise dichotomen Typologien von politischer Partizipation kritisch hinterfragt werden. Einerseits ist dies mit veränderten Partizipationseinstellungen und -erwartungen der Bevölkerung zu begründen, wie am Beispiel der ursprünglich unkonven­ tionellen Beteiligungsform Bürgerinitiative gezeigt wurde. Diese ist im Fall der EU primärrechtlich normiert und in einer eigenen Verordnung geregelt – unkonventionell scheint schwerlich das passende Adjektiv für diese Beteiligungsform zu sein. Andererseits haben die Ergebnisse dieser Arbeit gezeigt, dass die Wirkungen von Partizipation nur vor den konkret dabei wirkenden Faktoren eruiert werden können, beispielsweise vor dem jeweiligen politischen Kontext, der konkreten politischen Kommunikation der ausführenden Institution und der Zielgruppe. Entsprechend scheint es zielführender, zukünftige Forschung auch stärker auf diese Wechselwir­ kung hin auszurichten, beispielsweise auf das Zusammenspiel von mittel­ baren Formen im repräsentativen Institutionengefüge und unmittelbaren Formen. Ebenso gilt es, mit Sabine Kropp (vgl. 2021: 58) gesagt, bereits

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9.4 Ausblick

in den theoretischen Ansätzen mit zu reflektieren, welche Nebenwirkun­ gen sich ergeben können, wenn die voraussetzungsvollen Ansprüche, bei­ spielsweise bei den deliberativen Ansätzen, nicht in der Realität umgesetzt werden können. Zudem sollten die Beschwerderechte verstärkt in die For­ schung zu direkter Partizipation miteinbezogen werden. Desiderate für die weitere Forschung sind insbesondere im Hinblick auf eine Operationalisie­ rung und Quantifizierung der in dieser Arbeit entwickelten Faktoren (Be­ teiligungsform, Kontext, Zielgruppe) zu sehen. Darüber hinaus erschlie­ ßen sich weitere Anwendungsbeispiele dieser Faktoren in der Übertragung auf andere politische Systeme, um so beispielsweise bestimmte Faktoren weiter zu differenzieren. Schließlich und abschließend sollten – vor dem Hintergrund der kom­ plexen Wechselwirkung von verschiedenen Faktoren – partizipative Ins­ trumente mit Bedacht in das jeweilige repräsentative Institutionengefüge eingegliedert werden. Denn nur vor dem Hintergrund dieser sorgfältigen Prüfung bestimmt sich der legitimatorische Mehrwert von direkter Parti­ zipation. Sicher scheint hingegen, dass bereits bestehende institutionelle Probleme durch eine Ausweitung direkter Beteiligung allein nicht gelöst werden.

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Anhang

Interview Leitfäden Fallstudie 1: Der Strukturierte Dialog mit der Kultur Voices of Culture Leitfaden für Partizipierende (Beispiel für den ersten Dialog, Audience Development) Dear Mr/Ms xxx, thank you very much for your time! Do you consent to the interview being recorded? This helps me structurally analyse the data. Of course, all of the data will be analysed anonymously. The interview focuses on your experiences and impressions of the ‘The Voice of Culture’ on ‘Audience development via digital means’. Questions before starting the interview – Did you participate in the Brainstorming Session and the Brainstorm­ ing Report and the Dialogue Meeting? – Did you participate in another dialogue or just in the one about ‘Audi­ ence development’? The first part of the interview will be about your aims for participating, your organisation and legal aspects of the issue. The main part will be about the process of ‘The Voice of Culture’ (Brainstorming Session, …). Starting part – Please describe briefly your organisation. – Why did you participate in the Structured Dialogue for the organisa­ tion xxx? – Before participating, how did you prepare internally? – What did you hope to achieve from participating in the Structured dialogue on “Audience Development via Digital Means”? – Could you describe the legal basis of the issue “Audience Development via Digital Means” before the dialogue? – What stake, do you think, the Commission has in this subject (what subject, perhaps specify)? – In what regard, do you think, the Commission may help you to achieve your goals on that subject?

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Interview Leitfäden

Main part: procedure: The Voice of Culture A Brainstorming Session – What was requested for the application? – Could you please briefly describe your impressions of the Brainstorm­ ing Meeting on March 17 and 18 2016 in Barcelona? What methods did you work with? How would you describe the working atmosphere back then at the meeting? – How content were you with the selection of the other participants by the Goethe institute? – From your point of view, what were the most important resolutions of this meeting? – How would you describe the involvement of Commission representa­ tives and the Goethe Institute on that meeting? Were they heavily involved or merely observing/ less involved/ acting as observers? B Brainstorming Report – How content are you with the quality of the Brainstorming report? C Dialogue Meeting in Brussels on April 29th 2016 – In case you were present: Could you describe your impressions (e.g. atmosphere and structure/ agenda of the meeting)? – How would you describe the exchange with Commission representa­ tives? – Which representatives were present? Did they receive your ideas and propositions from the Brainstorming report? – – In case you weren’t present: Did you observe the dialogue meeting with Commission representatives? – – Did you have further contact with Commission representatives after the Dialogue Meeting? – Were your ideas and propositions used further on?) How were they used (e.g. for the OMC Working groups? ) – What were the following steps for your organisation? How did you inform your members and the public about the results of the VOC dialogue on ‘Audience development via digital means’?

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Anhang

– What steps do think will be important in this regard? – Did you participate in any other dialogue besides the one on “Audience Development via Digital Means”? Did you notice structural, organisa­ tional or content-related differences? – How content are you with the Goethe institute’s organisation of the dialogue? – – Did you participate in cultural affairs on the European level before 2015? (e.g. at the European Culture forum or the civil society plat­ form)? – How content are you with the procedural re-organisation of VoC? – What do you think the reasons for this re-organisation were? – – What is the most important thing, you‘ve learned from participating in the VoC on ‘Audience development via digital means’? Thank you very much for taking part in this interview! It has been very interesting to talk to you. Leitfaden für Organisator*innen (beispielhaft für den ersten Dialog, Audience Development): Dear Mr/Ms xxx, thank you very much for your time! Do you consent to the interview being recorded? This helps me structurally analyse the data. Of course, all of the data will be analysed anonymously. The interview focuses on your experiences and impressions of the ‘The Voice of Culture’ on ‘Audience development via digital means’. Warm-up question – In what regard were you involved in the Structured Dialogue between the Commission and the Civil Society stakeholders? – What were your tasks? Idea and implementation of the re-organised form (‘The Voice of Culture’) since 2015 – What were reasons for re-organising the Structured Dialogue with the cultural sector in 2015?

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Interview Leitfäden

– Could you restate the processes inside the DG that lead to the goal of re-organising the involvement of civil society? – Why did you ended the platforms (on Intercultural Dialogue and Inter­ cultural Dialogue)? – Why did you continue the European Culture Forum? How would you evaluate its relevance? – What were the main priorities for the re-organised process? – The re-organisation of the process was achieved in cooperation with a so called partner consortium. why did you choose the partners Goethe institute, Flagey and Alia for the implementation of the new process? – Could you please tell me a little bit about your cooperation with the partners in the consortium for the re-organisation of the process, like how often did you meet, who was present, was there timeline and so on. – Were you content with their work? As far as I know, it is now mainly the Goethe institute that is continuing the work. Process: ‘Structured Dialogue’’ – What were you hoping to achieve with that re-organisation of the pro­ cess (I mean the Brainstorming Session, the Brainstorming Report and the Dialogue Meeting and the organisation that first the participants from the civil society meet and then the present their input to the Commissions’ representatives)? – Was this process fixed or saved from the beginning? Or were you dis­ cussing different models? Brainstorming Session – Could you tell me a little bit about the participant selection? What criterias were important for you? – I found representiveness/representation as (representation of a wide range of interests and a wide geographical range), how did you check these criteria? Did you also check for content-related criteria? If so, how did you do it? (ability to be a multiplicator) – Who checked the criteria? Did you do it in the Commission or did you do in cooperation with the partners? – From your point of view, what role playes the participant selection in terms of legitimacy of the process? – Are some organisations at a few dialogues present?

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– Regarding geographical terms, did you observe differences? – Could you tell me a little bit about the organisation and procedure of the Brainstorming Session? – What methods did you work with? – Were you also present? – Was the Goethe institute present? Did the participated only as facili­ tators or also content-related? – Did the, let’s call it design, of the Brainstorming Session changed between the Dialogues? Brainstorming Report – What is the aim of the Brainstorming Report? – Are there general guidelines for the edition of these reports, because I noticed that for some dialogues only a few participants did the editing and for other dialogues, all the participants did it. Dialogue Meeting – Could you tell me a little bit about the organisation and procedure of the Brainstorming Session? Maybe refer to an example? – What is the aim of the Dialogue Meeting? – As far as I know Commission representatives are present, how do you select them, issue-related or who wants to join? At which level? – How do you select the participants from the civil society? Did you choose those who edited the Brainstorming Report? After the Dialogue Meeting: What happens next? – How do or did you further use the input from the civil society? Do the participants get an ‘de-briefing’ about how their expertise has been used for? – As far as I understand, the VoC dialogue is part of the OMC groups. Was the interaction with expert groups of the OMC forseen? If so, how did you organise this interaction? Via the Commission representatives? – Regarding your experiences on different dialogues of ‘The Voice of Culture’, did you noticed differences in participant behaviour, quality standards (e.g. between audience development via digital means, partic­ ipatory governance in cultural heritage, …)?

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Interview Leitfäden

Closing question – What is the most important thing, you‘ve learned from participating in the VoC on ‘Audience development via digital means’? Thank you very much for taking part in this interview! It has been very interesting to talk to you. Fallstudie 2: EBI Right2water Leitfaden für die Organisator*innen der EBI Im ersten Teil stehen zunächst die Zusammenarbeit und Kommunikati­ onsprozesse innerhalb der Zivilgesellschaft bei der Initiative im Vorder­ grund. Hier geht es um Ihre Erfahrungen als nationale Kontaktperson in der internationalen Koordinationsgruppe von EPSU, mit anderen beteilig­ ten Organisationen und Gesprächen mit Bürgern. Im zweiten Teil des Interviews geht es dann um die Verfahren auf europäischer Ebene, die bei der Bürgerinitiative right2water eine Rolle ge­ spielt hatten. Zugleich geht es aber auch um die Ergebnisse, die durch die EBI right2water erreicht wurden. Dabei interessieren mich besonders Ihre Erfahrungen mit europäischen Institutionen (Kommission, Europäisches Parlament). Fragebereich 1: Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen Akteuren aus Zivilgesellschaft/ Erfahrungen mit Bürgern Einstieg – Was hat Sie dazu veranlasst, die EBI right2water zu unterstützen? – Können Sie beschreiben, wie Sie die EBI right2water unterstützt haben bzw. welche Aufgaben Sie dabei wahrgenommen haben? – Sie waren ja verantwortlich für die Kampagnenarbeit in Deutschland: Können Sie uns beschreiben, wie die Bürgerinitiative abgelaufen ist? (3 Phasen?) – Wie haben Sie denn innerhalb von ver.di die Kommunikation zwi­ schen den Abteilungen abgestimmt? – Wo sehen Sie Unterschiede zu anderen nationalen Kampagnen der EBI? Welche?

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Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parlamentariern – In Deutschland haben bei der Kampagne neben ver.di beispielsweise auch lokale Wasserbewegungen, Umweltorganisationen und NGOs zu­ sammengearbeitet. Können Sie uns ein wenig von dieser Zusammen­ arbeit erzählen, also ob es beispielsweise differierende Themen oder Herangehensweisen gab? – Auf der Website der Bürgerinitiative r2w habe ich auch Parlamentarier des EU-Parlamentes gesehen, die die Initiative unterstützt haben. In welcher Funktion sollten diese das tun? Bürgerausschuss – Der EPSU-Kongress hat bereits im Jahr 2009 die Entscheidung getrof­ fen, dass EPSU eine Bürgerinitiative gegen Wasserprivatisierung durch­ führen will. Können Sie uns beschreiben, wie die Abstimmungen zwischen den Mitgliedsorganisationen aus den verschiedenen Mitglied­ staaten danach abliefen (beispielsweise bei der Abstimmung, welche Botschaft die Initiative nach außen tragen will)? – Ich hatte auch gelesen, dass die EPSU die Arbeit auf europäischer Ebene von dem Koordinierungsbüro übernommen wurde. Wie lief die Kommunikation zwischen ihnen – und der deutschen Kampagne – und dem Koordinierungsbüro ab? Fragebereich 2: Verfahren und Institutionen bei der europäischen Bürgerinitiative auf europäischer Ebene Konkrete Fragebereiche der EBI right2water: Bewertung der Europäischen Kommission im Prozess und hinsichtlich der Ergebnisse – Der Hauptanbindungspunkt bei einer europäischen Bürgerinitiative ist ja die Europäische Kommission – wie zufrieden waren Sie mit der Begleitung und Betreuung der Kommission während des gesamten Prozesses? – Wie zufrieden waren Sie mit den ergriffenen Maßnahmen der Europä­ ischen Kommission? – Welche Gründe und Faktoren waren aus Ihrer Sicht für die ergriffenen Maßnahmen der Kommission wichtig?

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Interview Leitfäden

– Sie waren ja am 17.2.2014 sowohl bei dem Vorsprechen des Europä­ ischen Parlamentes dabei als auch vor der Kommission. Können Sie mir bitte ein wenig zu Ablauf und Inhalt der beiden Treffen berichten? Bewertung weiterer Institutionen auf EU-Ebene – Sie waren ja Expertin für das EWSA und konnten hier die Stellungnah­ me zu der EBI r2w mitbeeinflussen. Können Sie dazu etwas erzählen? – Mit dem Votum vom 8. September 2015 hat das EP entschieden, die Kernforderungen der EBI right2water über sein indirektes Initiativ­ recht an die Kommission zu artikulieren. Wie bewerten Sie das? Weitergehende Fragen zu Beteiligung und Partizipation in der EU Erfolgreiche EBI – Was braucht Ihrer Meinung nach eine erfolgreiche EBI? – Was braucht sie, um auch umgesetzt zu werden auf europäischer Ebe­ ne? Vorteile der EBI als Beteiligungsform – Welche Vorteile sehen Sie in der EBI als Instrument für die Organisa­ tionen der Zivilgesellschaft, so wie ver.di? – Welche Vorteile sehen Sie im Vergleich zu anderen Beteiligungsfor­ men? – Welche Vorteile für Bürger? – Sehen Sie auch Nachteile oder Probleme darin? – Sehen Sie auch Probleme darin, beispielsweise in Vergleich zu ande­ ren Beteiligungsformen? Beeinflussung der Beteiligungsform – Würden Sie nochmal eine Europäische Bürgerinitiative organisieren? Würden Sie wieder mehr auf klassische Beteiligungsformen zurückgrei­ fen?

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Anhang

Wichtigste Erfahrung aus der EBI – Was ist das Wichtigste, das Sie sich aus der Bürgerinitiative rigt2water mitnehmen? – In Ihren Aufzeichnungen habe ich gelesen, dass Sie gesagt haben, somit hätte sich transnationale Solidarität entwickelt. Was meinen Sie damit? Leitfaden für Unterstützende aus dem EU-Parlament The interview consists of three parts. Firstly, I aim to explore how you experiences the initiative’s organisa­ tion, e.g. how did you support the initiative, what feedback have you received from citizens and how did you experience the organisers. Secondly, I focus on the processes of the ECI right2water, especially at the European level, e.g. the role of the Commission and EP during the ECI procedure. Which results has the ECI accomplished compared to its goals? Is any further action needed? Thirdly and lastly, I want to close with some more general questions about participation in the European Union. 1) Cooperation and communication with citizens and other actors in civil society – Why did you support the ECI right2water? – How did you support the initiative? – How did you get in contact with the initiative and its organisers? – How did you communicate with the organisers? – What was your impression of the initiative’s organisers (e.g. at the hearing at the Parliament on February 17th 2014)? – Did you participate in any national campaign or observe them? – Were there any pertinent differences between national campaigns? 2) Actors, institutions and procedures at the European level – How do you evaluate the Commission’s communication and sup­ port during the procedure of the ECI? – In terms of legislation and action, how well do you think the Com­ mission responded regarding the initiative’s issue? – Could you summarise your impressions of the hearing at the EP on February 17th 2014? – Could you describe the follow-up of the hearing in the ENVI committee (from February 2014 until the decision to use its own indirect right of initiative in September 2015)? – What are further necessary actions at the European level?

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Interview Leitfäden

3) Further questions regarding participation in the European Union – What do you think are the (institutional) conditions for a successful European citizens’ initiative? – What are the advantages of an ECI? – Would you organise or support an ECI again? – What is the main lesson you have learned from the ECI right2water? Leitfaden für Mitarbeitende der EU-Kommission Im Rahmen des Interviews interessieren mich zum einen, wie Sie die Or­ ganisatoren der Initiative wahrgenommen haben, beispielsweise bei Korre­ spondenz im Rahmen der Bürgerinitiative oder bei dem Vorsprechen am 17. Februar 2014. Zum anderen würde ich gerne Ihren Sachstand zum Inhalt der Bürgerinitiative mit aufnehmen (Zuständigkeiten im Bereich Wasser EU und Mitgliedstaaten, frühere Gesetzgebung auf EU-Ebene) und die erlassenen Maßnahmen der Kommission in Bezug auf right2water dis­ kutieren (Ausnahme Wasser aus der Konzessionsrichtlinie, Überarbeitung Wasserrahmenrichtlinie, Trinkwasserrichtlinie, usw.). Da right2water eine der ersten erfolgreichen EBIs war, würde ich zudem gerne mit Ihnen darüber sprechen, wie Sie das Instrument bei right2water erlebt haben und welche Chancen Sie in dem Instrument sehen. Aufwärmfrage – Können Sie mir beschreiben, wie Sie in die EBI right2water involviert waren, d.h. welche Aspekte der Bürgerinitiative in Ihren Aufgabenbe­ reich gefallen sind und welche Aufgaben Sie dabei wahrgenommen haben? Die Organisator*innen der Initiative – Wie haben Sie die Organisatoren der EBI wahrgenommen? • Beispielsweise im Rahmen von Korrespondenz oder • Auf der Anhörung am 17. Februar 2014 Sachstand zum Inhalt der Bürgerinitiative - Allgemein – Können Sie die bestehende Rechtslage im Bereich EU-Wasserpolitik skizzieren und beschreiben, inwiefern dies verändern wollte?

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Anhang

– Wo sehen Sie Probleme dieser Forderungen? Was war dabei die heikels­ te Forderung? – Können Sie mir den Unterschied zwischen Liberalisierung und Privati­ sierung erläutern? – Die Verteilung der Unterschriften unterschied sich ja relativ stark geo­ grafisch (in Deutschland 1,3 Mio.). Wie beurteilen Sie das? Zuständigkeit des Mitarbeiters – Mit welcher Forderung hatten Sie in Ihrer Abteilung zu tun? – Erforderte die Bearbeitung in Ihrer Abteilung eine Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen der Kommission? Wenn so, dann mit wel­ chen und inwiefern? – Wie wurde diese Forderung in Ihrer Abteilung diskutiert? Vorsprechen am 17.04.2014 – Waren Sie an dem Vorsprechen der Organisatoren anwesend? Können Sie uns Ihre Eindrücke von dem Vorsprechen darstellen? Ergebnisse der Bürgerinitiative – In der Mitteilung (Antwort) auf die Bürgerinitiative wurde gesagt, dass Wasser am besten in den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten ist und die Kommission diese Kompetenzverteilung achten will. Ketzerisch gefragt: Hätte dieses Argument nicht bei der formalen Prüfung des An­ liegens vor der Phase der Unterschriftensammlung kommen müssen? – Was sehen Sie als größten Erfolg dieser Bürgerinitiative an? EBI allgemein – Was braucht Ihrer Meinung nach eine erfolgreiche EBI? – Welche Vorteile sehen Sie in der EBI als Instrument für die Organisa­ tionen der Zivilgesellschaft, so wie ver.di? – Was ist das Wichtigste, das Sie sich aus der Bürgerinitiative rigt2water mitnehmen

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332 In dieser Rubrik werden verwendete Dokumente von EU-Institutionen aufgelis­ tet. Darunter werden neben Rechtsgrundlagen, auch Mitteilungen, Beschlüsse, Pressemitteilungen und sonstige Veröffentlichungen der Institutionen und Kör­ perschaften gezählt. Bekannte Verträge, wie Vertrag über die EU (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), werden nicht aufgelistet, da diese allgemein verfügbar angesehen werden.

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