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German Pages 252 Year 2019
Kerstin Rego Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
Gesellschaft der Unterschiede | Band 52
Für Reinhard.
Kerstin Rego (Dr. rer. pol.) arbeitete am Lehrstuhl für Organisation an der TU Chemnitz und am Fachgebiet Organisationssoziologie der TU Berlin. Sie promovierte bei Rainhart Lang und G. Günter Voß. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Organisation, Arbeit, Gesundheit und Gesundheitswesen.
Kerstin Rego
Medizinische Fachlichkeit und Emotionen Voraussetzungen, Funktionsweise und Folgen des gynäkologischen Emotionsmanagements
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Inhalt 1 Einleitung | 7 1.1 Wissenschaftliche Relevanz und konzeptioneller Anknüpfungspunkt | 9 1.2 Methodik: Interviewdaten und Grounded Theory Methodologie | 16 1.2.1 Das Interview als Datenerhebungsmethode | 16 1.2.2 Die Grounded Theory Methodologie | 20 1.3 Präkonzepte: Explizierung subjektiver Forschungseinflüsse | 31 1.4 Aufbau der Arbeit | 34 2
Gynäkologie: Arbeit, Organisation und Emotionen | 39 2.1 Profession, Arbeitstätigkeiten und Arbeitsorganisation | 40 2.1.1 Gynäkologie als Teil der medizinischen Profession | 40 2.1.2 Arbeitstätigkeiten in der Gynäkologie | 43 2.1.3 Organisationsformen gynäkologischer Arbeit | 47 2.2 Emotionen | 57 2.2.1 Zum Emotionsbegriff | 58 2.2.2 Die Bedeutung einzelner Emotionen in der gynäkologischen Arbeit | 64 2.3 Gynäkologische Arbeit als Emotionsarbeit | 73 2.3.1 Emotionsarbeit: Konzepte und Weiterentwicklungen | 73 2.3.2 Emotions- und Gefühlsarbeit bei Gynäkolog*innen | 83 3
Das Gleichgewicht von Medizinischer Fachlichkeit und Emotionen | 87
3.1 Ausgangspunkt: Die emotionsneutrale Medizin | 88 3.2 Den Umgang mit Emotionen erlernen als Lernen durch Erfahrung | 91 3.3 Zwei Ausprägungen der Balance zwischen Medizin und Emotion | 107 3.3.1 Sich distanziert einlassen | 107 3.3.2 Sich einlassen | 112
3.3.3 Von Sich-Distanziert-Einlassen bis Sich-Einlassen: Ausdruck der Person oder der Situation? | 121 3.4 Die Notwendigkeit zu balancieren: Widersprüche in der gynäkologischen Arbeit | 123 3.4.1 Die emotionsneutrale Medizin trifft auf die Patientin als Mensch | 123 3.4.2 Emotionen sind wichtig, aber auch belastend | 129 3.4.3 Gynäkolog*innen zwischen Selbstsorge und der Sorge für Andere | 136 4
Das Gleichgewicht halten: Strategien als Balancierstäbe | 143
4.1 Strategien der Grenzziehung und Herstellung von Nähe | 144 4.1.1 Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion | 144 4.1.2 Strategien der (emotionalen) Trennung von Arbeit und Leben | 153 4.1.3 Emotionsvermeidung durch Delegation | 161 4.1.4 Strategien der Herstellung von Nähe | 163 4.2 Sich anderen mitteilen als Strategie | 168 5
Konsequenzen des Ausbalancierens für Gynäkolog*e und Patientin | 179
5.1 Das Gleichgewicht halten als Gratwanderung | 180 5.2 Das gelingend erlebte Gleichgewicht von Medizin und Emotion | 185 5.3 Die Machtasymmetrie zwischen Gynäkolog*in und Patientin | 189 6
Schlussbetrachtung | 195
6.1 6.2 6.3 6.4
Zusammenfassung | 195 Diskussion der zentralen Ergebnisse und Beiträge | 206 Diskussion der Begrenzungen dieser Arbeit | 218 Ausblick | 222
Literatur | 227 Danksagung | 243 Darstellungsverzeichnis | 244 Anhang | 245
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Einleitung „Das Positive an unserem Beruf äh, das ist phantastisch, das ist überhaupt gar keine Frage, nech. Und wenn man ’ne Schwangerschaft betreut, Risiko, Problem, wo man am Ende sag ich mal, siegreich ist, und ’nen gesundes Kind äh, geboren wird und die Eltern sehr glücklich sind, das sind Momente, wo ich heute noch Tränen vergieße.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik1)
Wie das Zitat exemplarisch veranschaulicht, haben Gynäkologinnen und Gynäkologen einen Beruf, der ihnen viel Freude bereiten kann und sie zufrieden sein lässt. Insbesondere die Begleitung einer Geburt, bei der Mutter und Kind wohlauf sind, beschreiben sie als herausragend schönes Ereignis. Doch wie jeder Beruf, hat auch der der Gynäkolog*innen2 seine Schattenseiten. Zu diesen Schat-
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„G5“ steht für „Gynäkologe 5“ und gibt an Zitaten jeweils die fortlaufende Nummer des Interviews an. Als „leitend“ werden in dieser Arbeit Ober- und Chefärzte bezeichnet.
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Üblicherweise findet sich an dieser Stelle der Hinweis, dass aufgrund der besseren Lesbarkeit die männliche Schreibform Angehörige beider Geschlechter umfasst. Durch die Lektüre verschiedener, mit der Geschlechtsneutralität (z.B. zur vermeintlichen Geschlechtsneutralität von Organisation: Acker (1990) oder zur „männlichen Herrschaft“ (Bourdieu 2012 [1998]) und der symbolischen Gewalt, die von diesen scheinbar neutralen Sprachregelungen ausgeht (vgl. auch hier: Kapitel 6.2, Punkt 3)) befasster Arbeiten, hat die Autorin ein zunehmendes Unbehagen gegenüber dieser Handhabung entwickelt. Zunächst wurde eine protestierende Gegenschreibweise ins Auge gefasst: „Aufgrund der einfacheren Lesbarkeit verwendet die Autorin in der vorliegenden Arbeit ausschließlich die weibliche Schreibweise zur Bezeichnung beider
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tenseiten gehören, mit den Worten des in einer Klinik tätigen Gynäkologen 9, „schlimme Dinge“, gar „extreme Dinge“. Zu diesen schlimmen oder extremen Dingen zählen z.B. Abtreibungen in fortgeschrittenen Schwangerschaftsmonaten und Totgeburten ebenso wie nicht heilbare Krebserkrankungen. In der Gynäkologie werden tagtäglich Themen behandelt, die sozial als schwierig oder gar widerlich gelten (Bolton 2005a: 169f.). Und Gynäkolog*innen gehen mit diesen Themen und den dazugehörigen Emotionen um. Sie nehmen Abtreibungen vor, teilen Eltern mit, dass ein Kind im Mutterleib verstorben ist, oder bringen Patientinnen bei, dass medizinisch nichts mehr für sie getan werden kann. Und – es gelingt ihnen. Darum steht im Mittelpunkt dieser Arbeit die Frage, wie es Gynäkolog*innen gelingen kann und gelingt, mit diesen schwierigen Ereignissen ihres täglichen Berufsalltags umzugehen und den Balanceakt zwischen herausragend schönen und extremen, schlimmen emotionalen Ereignissen zu meistern. In diesen Balanceakt fließen neben den eigenen Emotionen auch die Emotionen Anderer, insbesondere der Patientinnen, mit ein. Verbunden mit dieser Frage nach dem gynäkologischen Management der Emotionen und seiner Funktionsweise frage ich in dieser Arbeit insbesondere nach den sozialen Voraussetzungen eines solchen Emotionsmanagements sowie den damit verbundenen Folgen. Ohne die Ergebnisse im Einzelnen vorwegzunehmen, lässt sich zur Funktionsweise an dieser Stelle sagen: Gynäkolog*innen bewegen sich in ihrer täglichen Arbeit zwischen medizinischer Fachlichkeit einerseits und eigenen Emotionen und denen Dritter andererseits. Dies sind die beiden Größen, die sie in ihren alltäglichen Arbeitshandlungen ausbalancieren und miteinander in Einklang bringen. Auf der einen Seite steht die emotionsneutrale, rein fachliche Welt der Medizin, wie sie in der Ausbildung vermittelt wird. Auf der anderen Seite bedeutet die praktische Arbeit an und mit der Patientin, über das FachlichMedizinische hinaus eigene Emotionen ebenso wie die Emotionen Anderer in Rechnung zu stellen und mit ihnen umzugehen. Die Art der medizinischen Ausbildung und die sich in der praktischen Arbeit manifestierenden Emotionen sind Beispiele für die spezifischen Voraussetzungen dieses Balanceakts. Diesen Balanceakt zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotion bewältigen Gynäkolog*innen mittels bestimmter Strategien. Aus der Art des Ausbalancierens zwiGeschlechter“. Da andererseits sicher auch männliche Gynäkologen ungern unter einer rein weiblichen Schreibweise subsumiert werden möchten, werden im Folgenden beide Geschlechterbezeichnungen (z.B. „Gynäkologen und Gynäkologinnen“) angegeben oder aber in einem Begriff vereint (z.B. „Gynäkolog*innen“). Die Autorin hofft, dass der oder die nicht-feministisch inspirierte Leser*in dem hierdurch etwas verkomplizierten Text mit Nachsicht begegnen wird.
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schen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen sowie den dazu herangezogenen Strategien, die durch die Voraussetzungen geprägt sind, ergeben sich wiederum spezifische Folgen für die Gynäkolog*innen und ihre Patientinnen, etwa mit Blick auf das Machtverhältnis zwischen beiden. Die detaillierte Darstellung dieser hier kurz umrissenen Ergebnisse bildet den Kern der vorliegenden Arbeit.
1.1 WISSENSCHAFTLICHE RELEVANZ UND KONZEPTIONELLER ANKNÜPFUNGSPUNKT Die diesem Kapitel vorangestellten Absätze zeigen zunächst nah am empirischen Gegenstand auf, dass Emotionen in der praktischen gynäkologischen Arbeit eine Rolle spielen und, so die Folgerung, auch mit ihnen umgegangen werden muss. Wie bereits angedeutet erlernen Gynäkolog*innen den Umgang mit Emotionen in bestimmter Weise und erhalten ihn mittels noch zu konkretisierender Strategien aufrecht. In diesem Abschnitt soll die praktische Frage nach dem Umgang und den Umgang ermöglichenden Prozessen um die wissenschaftliche Relevanz einer solchen Frage ergänzt werden. In einem zweiten Schritt soll dann die Wahl des Bereichs der Gynäkologie zur Beantwortung der zunächst allgemeinen Frage nach dem Umgang mit arbeitsbezogenen Emotionen, seinen Voraussetzungen und Folgen begründet werden. Das organisationswissenschaftliche Interesse an Emotionen ist in den letzten Jahren zunehmend gestiegen (Ashkanasy/ Dorris 2017). Elfenbein (2007: 315) konstatiert sogar: „Emotion has become one of the most popular – and popularized – areas within organizational scholarship“. Auch wenn Emotionsforschung (noch) kein Bestandteil des Mainstreams der Organisationsforschung ist3, spiegelt ein wachsender Korpus an Forschung und theoretischen Konzeptualisierungen das zunehmende Interesse an emotionalen Phänomenen, die organisationales Geschehen beeinflussen. Dabei wird zum einen die Rolle von Emotionen für klassische organisationale Themen wie Führung (z.B. in Ashkanasy et al. 2016, Connelly/ Gooty 2015 zur Einleitung eines Special Issue zu „Leadership and Emotions“ in „Leadership Quaterly“, Croft et al. 2015), Entscheidungsfindung (etwa Ashkanasy et al. 2002, Fineman 2003) oder organisationalen Wandel (z.B. Ashkanasy et al. 2002, Ashkanasy et al. 2016) herausgearbeitet. Zum anderen wird der Einfluss spezifischer Phänomene wie emotionaler Intelligenz, emotio-
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Allerdings hat das Thema unter dem Titel „Emotion and Organizing“ immerhin bereits Eingang in das bei Sage herausgegebene „Handbook of Organization Studies“ gefunden (Fineman 2006, 1996).
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naler Ansteckung oder Emotionsarbeit auf organisationales Geschehen fokussiert. Diese Vielfalt spiegelt sich im Facettenreichtum zahlreicher Herausgeberbände (z.B. Ashkanasy/ Cooper 2008, Ashkanasy et al. 2002, 2000, Fineman 2000, 1993, Härtel et al. 2011, Payne/ Cooper 2001, Schreyögg/ Sydow 2001) ebenso wider wie in verschiedenen Versuchen, das wachsende Wissen zu systematisieren (z.B. Ashkanasy 2003, Ashkanasy/ Dorris 2017, Elfenbein 2007, Grandey/ Gabriel 2015). Dabei erweist sich Emotionsarbeit als eines der Kernthemen der organisationswissenschaftlichen Emotionsforschung (Elfenbein 2007: 335, Grandey/ Gabriel 2015, Grandey/ Melloy 2017). Unter Emotionsarbeit versteht sich zunächst das Management der eigenen Gefühle in Interaktion mit Kund*innen im Rahmen einer Arbeitstätigkeit. Das Konzept der Emotionsarbeit ist in der derzeitigen Diskussion untrennbar mit dem Namen Arlie Russell Hochschild verknüpft. Hochschild (2006 [1983]) beschrieb bereits in den 1980er Jahren, wie Stewardessen und Rechnungseintreiber einer US-amerikanischen Fluglinie ihren Emotionsausdruck im Rahmen ihrer täglichen Arbeit managen müssen. So bleiben Stewardessen z.B. trotz Turbulenzen oder unfreundlicher Fluggäste freundlich und zuvorkommend, während Rechnungseintreiber säumigen Kund*innen gezielt Angst einjagen sollen. Sie betont dabei, dass Emotionsarbeit immer auch im Privaten, in sozialen Interaktionen, geleistet wird (sie spricht hier von ‚Verbeugungen mit dem Herzen‘). Werden diese ‚Verbeugungen mit dem Herzen‘ jedoch zum Arbeitsgegenstand, und, wie im Falle der Fluglinie den Mitarbeiter*innen genau von der Organisation vorgeschrieben, so ergibt sich nach Hochschild eine neue Qualität der Nutzung von menschlicher Arbeitskraft durch Unternehmen, welche über die Nutzung von körperlichen und geistigen Fähigkeiten hinausgeht. Während Hochschilds Konzept von Emotionsarbeit auf der theoretischen Ebene einer marxistischen Argumentation folgt, entwickelten Strauss et al. (1980) etwa zeitgleich eine Konzeption von ‚sentimental work‘, welche auf einer interaktionistischen Tradition fußt. Beide Konzepte wurden auf soziologischtheoretischer Ebene fort- und zusammengeführt, u.a. von Dunkel (1988) und Gerhards (1988). Emotionsarbeit ist außerdem eine der Komponenten, die in das umfassendere Konzept der Interaktionsarbeit einfließen (Böhle 2011, Beiträge in Böhle/ Glaser 2006, dort insbesondere zum Konzept Böhle/ Glaser/ Büssing 2006, im kurzen Überblick: Dunkel 2013: 46). Auch in der Psychologie wurde das Konzept der Emotionsarbeit aufgegriffen. Auf der konzeptionellen Ebene steht Emotionsarbeit hier in Verbindung mit Emotionsregulation, dem individuellen emotionalen Coping und emotionaler Intelligenz (vgl. z.B. Grandey/ Gabriel 2015). Weiterhin interessieren insbesondere die Bedingungen, unter denen
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Emotionsarbeit belastend wirkt (z.B. Dormann/ Zapf/ Isic 2002, Rastetter 2012). Insgesamt sind in der Soziologie, Psychologie sowie der organisations- und personalwirtschaftlich orientierten Betriebswirtschaftslehre zahlreiche empirische Studien zu Ausmaß und Formen von Emotionsarbeit entstanden. So gibt es, um nur einen kleinen Ausschnitt zu präsentieren, Befunde zur Emotionsarbeit bei der Polizei (z.B. Branca 2009, Szymenderski 2012), bei Busfahrer*innen (etwa Scott/ Barnes/ Wagner 2012), in Call Centern (z.B. Dormann/ Zapf/ Isic 2002), im Außendienst von Versicherungsvertretern (z.B. Rastetter 2008, 2001), und gar bei (insbesondere qualitativ) forschenden Wissenschaftler*innen (DicksonSwift et al. 2009). Trotz dieses großen Korpus an Forschungsliteratur zum Management von Emotionen in der Arbeitswelt bleibt das Wissen über die Funktionsweise, die Voraussetzungen und auch die Folgen von Emotionsarbeit weiterhin unvollständig. Mit Blick auf die Funktionsweise ist insbesondere zu problematisieren, dass Forschung zum Management von Emotionen Emotionsarbeit mehrheitlich mit den von Hochschild (2006 [1983]) konzeptionalisierten Strategien des Tiefenund Oberflächenhandels gleichsetzt und auf diese beschränkt wird (Grandey/ Gabriel 2015: 327). Ansätze, die Emotionsmanagement umfassender beleuchten und weitere Strategien hervorheben (z.B. Hayward/ Tuckey 2011) werden demgegenüber kaum rezipiert. Folglich stellt sich die Frage, inwiefern ein Management von Emotionen in seiner Funktionsweise mehr umschließt als die von Hochschild hervorgehobenen Strategien. Ähnlich eingeschränkt ist das Wissen über die Voraussetzungen von Emotionsmanagement im Sinne der weiteren Rahmenbedingungen, die ein spezifisches Emotionsmanagement ermöglichen oder verwehren. Auch ‚umfassende‘ Modelle wie das von Grandey und Gabriel (2015: 325) beschränken sich hier auf persönliche Eigenschaften und Eigenschaften des zu managenden Ereignisses. Ähnlich sieht die Forschungssituation bei den Folgen von Emotionsmanagement aus, wo die Folgen in der Regel mit dem Wohlergehen der Mitarbeiter*innen und der Organisation gleichgesetzt werden (z.B. Grandey/ Gabriel 2015). Insgesamt lässt sich also fragen, ob es über überindividuelle und die konkrete Situation hinausgehende Faktoren gibt, die Voraussetzungen für und Folge von Emotionsmanagement sind. Dass diese Fragen in der bisherigen Emotionsarbeitsdebatte unzureichend aufgeworfen und beantwortet werden, hat nach Ansicht der Autorin mehrere Gründe. Die interaktionistisch geprägte Forschung von Strauss et al. (1980) arbeitet zum Beispiel eine Reihe von in der Arbeitsinteraktion genutzten Strategien heraus, wird aber in der oben skizzierten heutigen Debatte um Emotionsarbeit kaum mehr rezipiert. Zudem war jene Studie auf die Interaktionen in der Arbeitssituation fokussiert, so dass sich hier die Frage nach den das Management
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von Emotionen jenseits der untersuchten Arbeitssituation beeinflussenden Faktoren nicht stellte. Bei Hochschild (2006 [1983]) wiederum finden sich sowohl Hinweise auf die sozialen Voraussetzungen von Emotionsarbeit (etwa in Form verschiedener Emotionssozialisationen in den verschiedenen amerikanischen Gesellschaftsschichten) sowie einige, wenn auch wenige empirische Hinweise auf die individuellen Folgen von Emotionsarbeit jenseits der konkreten Arbeitssituation. Allerdings werden erstere heute nicht weiter beachtet, und bei zweiteren führt Hochschilds theoretische Fundierung dazu, dass sie diese Folgen konzeptionell lediglich als durch die Verwertung von Arbeitskraft hervorgerufene Entfremdung fasst. Beide Konzeptionen haben gemeinsam, dass ihnen primär an einer Analyse von Veränderungen in der Arbeitswelt gelegen ist. Blickt man auf Hochschild und Strauss et al. nachfolgende, jüngere und insbesondere in der Organisationswissenschaft rezipierte Forschung zu Emotionsarbeit, so muss man feststellen, dass diese weitestgehend durch die Psychologie geprägt ist. Hierbei wird in der Regel auf Hochschild (1983) zurückgegriffen, dabei allerdings die soziologische, marxistischen Theoriefiguren folgende Fundierung fallen gelassen. Im Vordergrund steht dann eine (vorherrschend quantitative) Messung der Auswirkungen von Emotionsarbeit, verstanden als Strategien des Oberflächenund Tiefenhandelns, auf psychologisch relevante Größen wie z.B. das Wohlergehen (‚employee well-being‘, im Überblick Grandey/ Gabriel 2015, Holman et al. 2008, Zapf 2002) oder die Arbeitszufriedenheit (z.B. zum Einfluss von Emotionen auf Arbeitszufriedenheit und Leistung allgemein: Wagner/ Ilies 2008). Dabei lag der Schwerpunkt lange auf einem vermuteten Zusammenhang von Emotionsarbeit und negativen gesundheitlichen Folgen wie Burnout (z.B. Büssing/ Glaser 1999a, 1999b, Dormann/ Zapf/ Isic 2002, Grandey et al. 2015, Nerdinger/ Röper 1999, Zapf 2002) und wird erst in jüngerer Zeit um positive Auswirkungen ergänzt (vgl. hierzu im Überblick Holman et al. 2008, Humphrey et al. 2015, Mesmer-Magnus et al. 2012, Zapf 2002). Der Umgang mit den organisationalen Anforderungen der Emotionsarbeit wird – aus Sicht jener Disziplin folgerichtig – mittels individueller Coping-Strategien beschrieben. Dass dies zu kurz greift, wird den Psycholog*innen allmählich selbst bewusst: „Finally, research on emotional labour and well-being has largely focused on intrapersonal processes. […] On reflection this omission may seem somewhat strange given that emotional labour is a fundamentally social process. A focus on interpersonal processes is required.“ (Holman et al. 2008: 313)
Was ist also aus dem Blick geraten? Der Mainstream der Emotionsarbeitsforschung beschäftigt sich mit Emotionsarbeit ausschließlich im Sinne von indivi-
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duellen, psychologischen Strategien und vernachlässigt gleichzeitig Voraussetzungen und Folgen von Emotionsarbeit, die über individuelle und maximal noch organisationale Größen hinausgehen. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass sich dieses Feld derzeit recht fest in der Hand einer psychologisch orientierten Emotionsforschung befindet4. Gleichzeitig hat die soziologisch orientierte Emotionsarbeitsforschung zwar sozialtheoretische Grundlagen für das Verständnis von Emotionsarbeit anzubieten, und könnte hieraus sicher auch Voraussetzungen und Folgen ableiten, beschäftigt sich aber nicht mit Fragen des sozial vermittelten, individuellen Managements von Emotionen. Dabei ist die Autorin überzeugt, dass sich mit einem frischen Blick auf die Frage nach dem Emotionsmanagement und seinen Rahmenbedingungen eine über psychologische Coping-Strategien hinausgehende Antwort finden lässt, die für die organisationswissenschaftliche Emotionsforschung relevante Einsichten bietet. Im Einzelnen sollen die drei Aspekte Funktionsweise, Voraussetzungen und Folgen von Emotionsmanagement untersucht werden, die sich folgendermaßen untersetzen lassen: • Wie werden Emotionen in der und für die Arbeit bearbeitet? Wie funktioniert
das Management von Emotionen, und welche Strategien werden jenseits von Oberflächen- und Tiefenhandeln gegebenenfalls noch eingesetzt? • Welche sozialen Voraussetzungen lassen sich herausarbeiten, die zu einer spezifischen Form des Emotionsmanagements führen? Gibt es hier mehr Einflussgrößen als individuelle Eigenschaften und organisationale Gefühlsdarstellungsregeln? • Welche Folgen gehen, neben den in der Forschung bereits beschriebenen individuellen Folgen, mit einem spezifischen Emotionsmanagement einher? Und wie wirken sich ggf. die sozialen Voraussetzungen auf individuelle Folgen aus? Um dieses Ziel zu erreichen, erschien es zielführend, die empirische Untersuchung zunächst auf eine Berufsgruppe zu beschränken. Aus mehreren, im Folgenden angeführten Gründen erweist sich das medizinische Teilgebiet der Gynä4
Dies zeigt einerseits ein Blick auf die Lebensläufe der oben für den Bereich der Emotionsforschung in Organisationen zitierten Autor*innen. Andererseits manifestiert sich dies auch institutionell: „Emonet“ (http://www.emotionsnet.org/) als das Netzwerk von Organisations- und Emotionsforschern organisiert neben einer Mailingliste regelmäßige Tagungen und Herausgeberbände. Die Mailingliste ist in ihren Beiträgen sehr von Psycholog*innen geprägt, und auch das auf den Tagungen präsentierte Selbstverständnis deckt sich – nach eigener Erfahrung der Autorin – damit.
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kologie als besonders vielversprechend hierfür. Erstens gibt es einige Besonderheiten dieser Berufsgruppe, die diese zwar nicht singulär auszeichnen, welche sich aber in ihrem Zusammenspiel als analytisch wertvoll erweisen: • Innerhalb der medizinischen Spezialgebiete ist die Gynäkologie, ähnlich wie
die Urologie, ein besonders heikler und tabubeladener Bereich. Hier werden die weiblichen Geschlechtsorgane untersucht und es wird mit sozial unangenehmen Themen, wie Abtreibungen oder Geschlechtskrankheiten, umgegangen (vgl. z.B. Bolton 2005a: 169f.). Aus diesem Grund lässt sich eine besondere Intensität der auftretenden Emotionen erwarten und man kann folglich davon ausgehen, dass es sich um einen besonders erkenntnisgenerierenden Extremfall handelt. • Bei der Gynäkologie handelt es sich um ein Fachgebiet der Medizin, und somit um eine Profession. Professionen unterscheiden sich u.a. hinsichtlich der Länge und Intensität der Ausbildung und somit der Sozialisationsphase in den Beruf, hinsichtlich des Vorhandenseins und Wirkens von ethischen Standards und hinsichtlich der Selbstkontrolle durch die Gruppe der Gynäkolog*innen von anderen Berufen. Es ist anzunehmen, dass sich hieraus Auswirkungen auf die Art des Umgangs mit Emotionen ergeben5. • Der Beruf de*r Gynäkolog*in lässt sich, im Unterschied zu vielen anderen Berufen, in verschiedenen organisationalen Kontexten (z.B. Krankenhaus oder Einzelniederlassung) ausführen. Somit kann hier nachgezeichnet werden, inwiefern der Umgang mit Emotionen vom organisationalen Kontext beeinflusst wird. Zweitens ist die Gynäkologie ein Bereich, der bislang innerhalb der Studien zur Emotionsarbeit keine Berücksichtigung gefunden hat. Es gibt zwar einige Studien für Berufe im Gesundheitswesen im weiteren Sinne. Aber diese beziehen sich auf andere Berufsgruppen wie die der Krankenpfleger*innen (nursing) (Büssing/ Glaser 1999a, 1999b, Hayward/ Tuckey 2011, Overlander 1994, Strauss et al. 1980, Ward/ McMurray 2011: 1584, vgl. hierzu auch Kapitel 2.3.1), der Gesundheitsassistenten (engl. ‚healthcare assistants‘, bei Kessler/ Heron/ Dopson 2015) oder die Hospizarbeit (Cain 2017). Mann (2005) versucht, 5
Einen kurzen Hinweis auf die Besonderheiten von Emotionsarbeit bei Professionen bietet Fineman (2006: 678), ohne allerdings weiter auf Ärzte einzugehen. Im angloamerikanischen Sprachraum wird die Krankenpflege zu den Professionen gezählt, was u.a. mit einem anderen, akademischen Ausbildungsweg zusammenhängt. Dennoch lassen sich die weiter unten genannten Studien zu Emotionsarbeit in der Krankenpflege nicht einfach auf die Ärzteschaft übertragen.
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diese begrenzte Literaturlage zu überwinden, indem sie ein allgemeines Modell der emotionalen Arbeit im Gesundheitsbereich entwickelt. Zu Mediziner*innen und im Speziellen Gynäkolog*innen sind der Autorin keine Studien bekannt. Somit liegt ein weiterer Beitrag dieser Arbeit darin, empirisches Wissen über die bislang nicht auf ihr Management der Emotionen hin untersuchte Berufsgruppe der Gynäkolog*innen bereitzustellen. Diese Lücke im Bereich der Forschung zum ärztlichen Umgang mit Emotionen ist drittens vor dem Hintergrund der eingangs kurz skizzierten Relevanz von Emotionen im gynäkologischen Arbeitsalltag erstaunlich. Denn Gynäkolog*innen haben in ihrer täglichen Arbeit emotionale Anforderungen zu erfüllen: • Sie zeigen Emotionen, die sie nicht empfinden und gegebenenfalls erst hervor-
rufen müssen, zum Beispiel wenn sie Verständnis und Zuwendung bei einem Schwangerschaftsabbruch zeigen, auch wenn sie die Gründe der Frau individuell nicht nachvollziehen können. • Sie unterdrücken unpassende Gefühle und zeigen diese nicht, etwa wenn ein*e Gynäkolog*in sexuelles Interesse an einer Patientin hat und dies aber aus berufsethischen Gründen nicht zum Ausdruck bringt. • Und Gynäkolog*innen müssen im Rahmen ihrer täglichen Arbeit auch die Gefühle ihrer Patientinnen, Angehörigen, Kolleg*innen usw. bearbeiten. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Patientin durch gutes Zureden oder Ablenken sich soweit beruhigt und entspannt, dass eine Unterleibsuntersuchung durchgeführt werden kann. Folglich ist es lohnenswert, der Frage auf den Grund zu gehen, wie Gynäkolog*innen mit aus ihrer Arbeit resultierenden Emotionen umgehen und welche Rahmenbedingungen das Emotionsmanagement beeinflussen. Da sich für die Forschungsfrage keine befriedigende Antwort finden ließ, und auch keine empirischen Befunde für die aus den oben genannten Gründen gewählte Untersuchungsgruppe der Gynäkolog*innen vorliegen, ist eine explorative empirische Studie zielführend. Dabei sollte die empirische Methode zugleich einen möglichst frischen Blick auf die Thematik ermöglichen, um über die Grenzen bisheriger Konzeptionalisierungen hinaus neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Darum folgt das hierfür gewählte qualitative Vorgehen der Grounded Theory Methodologie.
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1.2 METHODIK: INTERVIEWDATEN UND GROUNDED THEORY METHODOLOGIE In diesem Kapitel wird dargestellt, wie die dieser empirischen Studie zugrunde liegenden Daten erhoben und analysiert werden. In Abschnitt 1.2.1 wird zunächst der Prozess der Datenerhebung beschrieben und begründet, warum ich6 mich für die Methode der Interviewdurchführung entschieden habe. Abschnitt 1.2.2 veranschaulicht anschließend die Grounded Theory Methodologie als das Verfahren, mit welchem ich die Interviewdaten analysiert habe und welches auch den Auswahlprozess meiner Interviewpartner*innen beeinflusst hat. 1.2.1 Das Interview als Datenerhebungsmethode Die Datengrundlage für die vorliegende Untersuchung stellen Interviews mit Gynäkolog*innen dar. Die Entscheidung zur Durchführung von Interviews habe ich aus forschungspraktischen Überlegungen getroffen. Sie bringt grundsätzliche Vor- und Nachteile mit sich. Zu den Vorteilen zählt, dass Interviews in der empirischen Forschung beliebt sind, relativ oft angewendet werden (Breuer 2010: 63, Lamnek 2010: 301) und somit als Methode der Datengewinnung gut ausgearbeitet sind. Es existieren eine Reihe von verschiedenen Interviewformen, die sich unter anderem durch den Grad ihrer Standardisierung unterscheiden (vgl. für Übersichten über verschiedene Interviewformen z.B. Hopf 2012, Lamnek 2010: 326 ff., Mey/ Mruck 2007). So lässt sich, mit Blick auf das jeweilige For-
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Im Folgenden verwende ich das sogenannte „sprechende Ich“ insbesondere dann, wenn über für den Forschungsprozess relevante Entscheidungen Auskunft gegeben werden soll (z.B., warum eine bestimmte Interviewform gewählt wird oder eine spezifische Fallauswahl getroffen wird), wenn eigene Handlungen beschrieben werden (z.B. die Durchführung der Interviews) oder eigene Beobachtungen (z.B. im Rahmen der Interviews) wiedergegeben werden. Auch in der Darlegung der Analyseergebnisse wird teilweise auf die Ich-Form zurückgegriffen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn meine eigene Perspektivität als Einflussgröße auf den Forschungsprozess veranschaulicht werden soll. Im Sinne der für diese Arbeit bedeutsamen reflexiven Grounded Theory Methodologie (Breuer 2010) ist es ein Bestandteil des Analyseprozesses, die eigene Subjektivität zu reflektieren, um sie so produktiv für den Analyseprozess nutzen zu können (vgl. Kap. 1.2.2 und 1.3). Der angenehme Nebeneffekt: ich muss mich als Forscherin nicht aus dem Produkt meiner Forschung herausstehlen, sondern durch die Verwendung der Ich-Form wird kenntlich gemacht, dass diese Arbeit das Ergebnis meiner, meine Subjektivität einschließenden, Forschungsentscheidungen ist.
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schungsthema, die angemessene Form der Interviewführung auswählen. Weiterhin kann man mit Interviews unverzüglich und relativ direkt an die Informationen gelangen, die man zur Beantwortung der Forschungsfrage benötigt. Somit erlauben Interviews die zielgerichtete Erfassung von relevanten Informationen und bieten folglich eine ökonomische Form der Datenerhebung (Deppermann 2013, Abs. 3). Auch können die Informationen zum Zeitpunkt ihres Entstehens direkt und unverzerrt aufgezeichnet werden, wodurch sie intersubjektiv nachvollziehbar und reproduzierbar sind (Lamnek 2010: 301). Zu den Nachteilen hingegen zählt, dass ein Interview als sprachbasiertes und nach der Transkription textbasiertes Medium auch nur sprachlich Ausdrückbares enthält. Dies kann mit Blick auf meinen Forschungsgegenstand, Emotionen, von Nachteil sein. Um diesen Nachteil aufzuwiegen, hatte ich zu Beginn meiner Arbeit auch vorgesehen, Beobachtungsdaten zu erheben. Am Ende mehrerer Interviews mit niedergelassenen Gynäkolog*innen habe ich nach der Möglichkeit, einen Arbeitstag zu begleiten, gefragt, allerdings durchweg (bedauernde) Ablehnung mit Verweis auf die Vertraulichkeit der Ärzt*in-Patient*innen-Beziehung erhalten (siehe auch Kapitel 6.3). Somit erlaubt mir die Datenerhebung über die Form des Interviews einen Einblick in einen Bereich, der mir sonst, z.B. über die Form der ethnografischen Datengewinnung, verschlossen geblieben wäre (Deppermann 2013, Abs. 3). Zu guter Letzt könnte man der ‚zügigen‘ Datengewinnung via Interview zwar durchaus den Vorwurf der „Verandasoziologie“ (Girtler 2004: 9ff.) machen. Denn ich habe mein Untersuchungsfeld tatsächlich nur sehr kurz, für die Dauer der Interviewführung, betreten und verlasse mich in meinen Analysen auf die Beschreibungen und Ausführungen meiner Interviewpartner*innen. Gleichzeitig erfolgt im Rahmen der Grounded Theory Methodologie (vgl. Abschnitt 1.2.2) eine derart intensive und tiefe Auseinandersetzung mit dem Material, dass sich auch ‚nur‘ mit Interviewmaterial eine sehr solide Analyse erarbeiten lässt. Somit entgegne ich dem Vorwurf der Verandasoziologie, dass eine Empirie, bei der die Veranda zwar nur kurz zur Datenerhebung verlassen wird, aber danach eine sehr ausführliche und gründliche Analyse der Daten (gerne auch auf der bequemen Veranda) erfolgt, durchaus einiges taugt. Die eigentliche Interviewdurchführung lehne ich an das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel (1982, 1989, 2000, sowie vergleichend zum narrativen Interview: Mey 2000) an. Der Erkenntnisgewinn der Forscherin entsteht in dieser Interviewform in einem induktiv-deduktiven Wechselspiel. Das induktive Element wird durch die Darstellung der subjektiven Problemsicht der Interviewten vertreten, während die Forscherin durch Nachfragen von der narrativen in eine eher dialogische Form wechseln kann, um so eigene, sich entwickelnde Hypothesen zu prüfen. Damit lehnt sich das problemzentrierte Interview deutlich
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an die Verfahren der Grounded Theory Methodologie an (Witzel 1996: 51ff., 2000: Absatz 3) und ist somit stimmig zu der von mir gewählten Datenanalysemethode (vgl. Kapitel 1.2.2). Witzel (1982: 89ff., 2000: Absätze 5ff.) beschreibt vier Instrumente des problemzentrierten Interviews: den Kurzfragebogen, die Tonträgeraufzeichnung, den Leitfaden und das Postskript. Ich habe alle vier Instrumente eingesetzt. Der Kurzfragebogen (vgl. zur konkreten Ausgestaltung Anhang A, „Kurzfragebogen“) wurde den Interviewpartner*innen zugesandt beziehungsweise übergeben, nachdem sie die Bereitschaft zur Teilnahme am Interview signalisiert hatten und lag mir jeweils spätestens zu Beginn des Interviews vor. Das eigentliche Interview wurde von einem Leitfaden unterstützt, den ich unter Bezug auf die allgemeinen Gestaltungsempfehlungen bei Witzel (2000) sowie Mey und Mruck (2007) ausgestaltet habe. Der Leitfaden gliedert sich in vier Themenbereiche: Arbeitstag und organisatorisches Umfeld, Emotionen in der Arbeit, Bewältigung von Emotionen sowie Profession und Sozialisation (vgl. Anhang B, „Interviewleitfäden“). Außerdem habe ich zwei alternative Ausstiegsfragen formuliert, die die Interviewpartner*innen gegen Ende des Interviews auf positive Aspekte zu sprechen lassen kommen sollen. Die Interviews endeten mit der Gelegenheit zur Ergänzung nicht thematisierter Aspekte und Feedback zur Interviewgestaltung seitens der Interviewten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass der Leitfaden eher eine Art Orientierungsfolie darstellt und in jedem Interview situations- und gesprächsverlaufsbedingt angepasst umgesetzt wurde. Durch die Konkretisierung des Forschungsanliegens im Prozess der Datenanalyse hat sich der Leitfaden auch über die Interviews weiterentwickelt und verändert. Ich habe alle Interviews mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und im Anschluss an jedes Interview ein Postskript erstellt, diese beiden Elemente werden weiter unten erläutert. Insgesamt habe ich zwischen 2011 und 2014 zehn Interviews sowohl mit niedergelassenen als auch mit in einer Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen in Sachsen geführt. Die Interviews dauerten zwischen 28 und 135 Minuten mit einer durchschnittlichen Länge von 76 Minuten. Die Kontaktaufnahme erfolgte dabei auf verschiedenen Wegen. Zunächst habe ich zehn zufällig ausgewählte niedergelassene Gynäkolog*innen angeschrieben, von denen auf telefonische Nachfrage hin fünf zu einem Interview bereit waren. Allerdings hat sich einer dieser Gynäkologen gegen die Teilnahme entschieden, als er bei der telefonischen Kontaktaufnahme von meiner Absicht, das Interview aufzuzeichnen, erfahren hat. Diese vier Interviews habe ich im ersten Halbjahr 2011 geführt. Ein zweiter Anspracheweg verlief über eine persönlich bekannte Geschäftsführerin einer Klinik, die den Kontakt zu fünf in dieser Klinik arbeitenden Gynäko-
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log*innen hergestellt hat. Auch diese fünf Interviews wurden im ersten Halbjahr 2011 geführt. Im zweiten Halbjahr 2014 kam (als drittem Weg der Proband*innenansprache) durch meine persönliche, informelle Ansprache ein weiterer Interviewtermin mit einer niedergelassenen Gynäkologin zustande. Besonders für dieses letzte Interview habe ich meinen Leitfaden noch einmal deutlich überarbeitet, um dem Stand der Datenanalyse bis zu jenem Zeitpunkt gerecht zu werden (vgl. Kapitel 1.2.2 zur sukzessiven Konkretisierung des Forschungsgegenstandes und der Entwicklung der Kernkategorie). Bei der Gestaltung der Interviewsituation habe ich mich weitestgehend an die Vorschläge von Mey und Mruck (2007) gehalten. So habe ich jede*r Interviewpartner*in vorab ein Informationsblatt mit dem Thema der Forschungsarbeit, meinen Kontaktdaten und einer Vereinbarung zum Umgang mit den Daten zugeschickt bzw. übergeben. Während die Befragten ein Exemplar behalten sollten, habe ich ein zweites Exemplar zu meinen Unterlagen genommen, damit beide am Interview beteiligten Parteien Transparenz über den vereinbarten Umgang mit den Daten haben (vgl. Anhang C, „Interviewvertrag“). Dieses Vorgehen umschließt auch, dass meine Interviewpartner*innen, wie von Witzel (2000: Absatz 11) empfohlen, im Vorfeld bereits den grob umrissenen Gegenstand meiner Untersuchung kannten. Weiterhin habe ich vor jedem Interview in einem Präskript handschriftlich Aspekte wie meine Eindrücke zu*r Interviewpartner*in aus den bisherigen Kontakten, meine Stimmung und meine Erwartungen an das Interview festgehalten. Im Anschluss an jedes Interview habe ich in einem Postskript alles notiert, was mir kurz vor und während des Interviews aufgefallen ist (vgl. zu Prä- und Postskript Mey/ Mruck 2007: 271, sowie zu Postskripten auch Witzel 2000: Absatz 9). Gegenstand dieser Postskripte waren alle von mir erinnerten Informationen zum Beispiel über Lage des Interviewortes (bei den Niedergelassenen: der Praxis), Ausstattung des Intervieworts/ der Praxis, Art der Begrüßung, durch die Interviewten gewählte Sitzordnung, Störungen oder Unterbrechungen im Interviewverlauf, Verabschiedung, meine persönlichen Eindrücke und Stimmungen. Um den interviewten Personen einen Interviewrahmen zu bieten, in dem sie sich möglichst wohlfühlen können (vgl. Mey/ Mruck 2007: 265), habe ich jeweils ihren Arbeitsort oder Räumlichkeiten innerhalb der Universität als Alternativen angeboten. Alle niedergelassenen Gynäkolog*innen haben ihren Arbeitsort, also ihr Sprechzimmer in ihrer Praxis, gewählt. Die in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen hatten diese Wahlmöglichkeit in der praktischen Umsetzung nicht, da die Interviewtermine hier durch die Geschäftsführung koordiniert und als Örtlichkeit ein Besprechungsraum innerhalb der Klinik festgesetzt war. Dementsprechend fanden diese Interviews während der regulären Arbeitszeit der
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Gynäkolog*innen statt, während die niedergelassenen Gynäkolog*innen ihre Termine in die gewöhnliche Arbeitszeit, aber außerhalb ihrer Sprechzeiten gelegt haben. Das eigentliche Interview wurde, wie mit den Interviewpartner*innen vereinbart, aufgenommen und im Anschluss von mir transkribiert. Dabei habe ich mich für das Verschriftlichen der Interviews in Standardorthographie und im Fließtext entschieden. Transkriptionssysteme wie GAT oder HIAT (vgl. z.B. Kowal/ O’Connell 2012) erschienen mir entsprechend des Grundsatzes, nur Merkmale zu verschriftlichen, die auch analysiert werden sollen (Kowal/ O’Connell 2012: 444), nicht sinnvoll. Ich habe die Transkription der Interviews größtenteils selbst durchgeführt. Dies hat den Vorteil, dass ich mit der Stimmlage und den Betonungen durch das häufige Hören gut vertraut bin und sich ein gutes Gefühl für d*ie Interviewpartner*in herausbildet. Des Weiteren habe ich mich bemüht, die Interviews sprachlich nicht zu glätten, etwa in Bezug auf Satzbau, Abbrüche im Satz oder Verwendung von Dialekt, um die Satzmelodie und damit auch die Betonungen nicht zu verändern. Während der Verschriftlichung eingefügte Zeichen, z.B. eine viersekündige Redepause („….“), werden an den in dieser Arbeit verwendeten Zitatstellen erläutert. Die Analyse der Daten wird im folgenden Unterkapitel beschrieben. Technisch wurde sie von der Software zur qualitativen Datenanalyse MAXQDA unterstützt. 1.2.2 Die Grounded Theory Methodologie Die Sammlung und Analyse der dieser Arbeit zugrunde liegenden Daten beruht auf der Grounded Theory Methodologie. Da sich diese in den letzten 40 Jahren, seit dem Erscheinen des ersten Buches von Glaser und Strauss 1967, deutlich entwickelt und ausdifferenziert hat (vgl. Darstellung 1), ist es wichtig, die eigene Arbeit innerhalb dieser Methodenfamilie zu verorten. Wie die farbigen Hervorhebungen in Darstellung 1 zeigen, schließt diese Arbeit in erster Linie an die methodischen Überlegungen von Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996 [1990]), Strauss (1998 [1987]) sowie, vor allem hinsichtlich ihrer methodischen Anregungen, an Adele E. Clarke (Clarke 2011, Clarke 2005, Clarke 2003, Clarke/ Friese 2007) an7.
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Mit der Entscheidung für diesen Zweig der Grounded Theory Methodologie geht auch einher, dass das hier zu entwickelnde Modell in den paradigmatischen Annahmen des amerikanischen Pragmatismus gründet (vgl. dazu etwa Strübing 2008: 37ff.).
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Darstellung 1: Genealogie der Grounded Theory Methodologie
Glaser & Strauss Discovery (1967) Schatzman (1991) Dimensional Analysis
Glaser
Glaser (1978) Theoretical Sensitivity
Straus Bowers (1987), Caron & Bowers (2000), Bowers & Schatzman (2009)
Strauss & Corbin (1990, 1998)
Corbin & Strauss (2008)
Glaser (1992, 1994, 1996, 1998, 2001, 2003, 2005, 2006)
Strauss (1987) Qualitative Analysis
Charmaz (2000, 2006) Constructivist GT Clarke (2003, 2005, 2008) Situational Analysis
Glaserian GT Stern
Quelle: Eigene Darstellung nach Morse 2009: 17, mit farbiger Hervorhebung der hier verwendeten Grounded Theory Methodologie-Richtungen8
Ziel der Grounded Theory Methodologie ist es, aus dem Datenmaterial heraus eine Theorie für einen bestimmten Gegenstandsbereich, hier den Umgang mit Emotionen bei Gynäkolog*innen, zu entwickeln. Diese Theorie (als das Produkt des mit der Grounded Theory Methodologie durchgeführten Forschungsprozesses) beschreibt und erklärt das interessierende Phänomen, und ist dabei in den Daten begründet und verankert (Böhm 2012: 475f.). Um dies zu erreichen, fin-
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Diese Grafik stellt die englischsprachigen Weiterentwicklungen der Grounded Theory Methodologie dar. Im deutschsprachigen Raum gibt es verschiedene zusätzliche Weiterentwicklungen, unter anderem von Franz Breuer (2010) oder Bruno Hildenbrand (2005).
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den Datenerhebung, -analyse und -auswertung zeitlich parallel und in Abhängigkeit voneinander statt (Glaser/ Strauss 2005 [1967]: 52). Mit der Analyse der ersten Daten geht eine induktive Hypothesenbildung einher, und die so entstehenden Hypothesen werden anhand neuer Daten geprüft und erweitert. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das theoretische Sampling. Dabei wird anhand der sich ausbildenden Hypothesen entschieden, welche nächsten Daten zur Überprüfung geeignet sind, bzw. in welchen Fällen sich Varianz erwarten lässt. Daraus folgt, dass neue Daten Stück für Stück nacheinander erhoben werden sollten. Diesem Kriterium konnte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht gerecht werden. Die persönliche Distanz zum Untersuchungsfeld, Gynäkolog*innen und Medizin ermöglichte mir im Vorfeld der Interviewdurchführung nur eine Zuordnung der möglichen Interviewpartner*innen anhand der Kriterien ‚Niederlassung‘ und ‚Klinik‘. Die Annahme, dass der Kontext der Medizin als eher in sich geschlossener Bereich einer Befragung durch mich als Laien skeptisch gegenüberstehen würde, veranlasste mich im Frühjahr 2011 dazu, zehn niedergelassene Gynäkolog*innen anzuschreiben. (Für mich) überraschend sagten vier direkt zu, und ich führte diese vier Interviews durch. Im gleichen Zeitraum bot eine mir bekannte Klinikleiterin an, mir den Zugang zu den in ihrer Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen zu ermöglichen. Im Handumdrehen waren fünf Interviewtermine (mit allen zu dem Zeitpunkt anwesenden Gynäkolog*innen) vereinbart und durchgeführt. Es gelang mir lediglich, das Angebot, alle weiteren dort arbeitenden Gynäkolog*innen zu befragen, auf einen möglichen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dennoch hatte ich mit einem Schlage neun Interviews geführt. Mit Strauss und Corbin (1996: 155) kann man in diesem Zusammenhang von einem systematischen Sampling sprechen. Um das Kriterium des den gesamten Analyseprozess begleitenden theoretischen Samplings dennoch erfüllen zu können, habe ich im Weiteren innerhalb meiner systematischen Stichprobe gesampelt und jeweils nach minimalen und maximalen Vergleichsmöglichkeiten in meinem Datenkorpus gesucht. Darstellung 2 zeigt den Prozess des theoretischen Samplings innerhalb von vorliegendem Material anhand der Schlüsselkategorie exemplarisch auf. Ein solches Vorgehen ist nach Truschkat, Kaiser-Belz und Volkmann (2011: 362ff. sowie 372) durchaus vertretbar, sofern die möglichen Konsequenzen für das sich entwickelnde Modell berücksichtigt und reflektiert werden.
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Darstellung 2: Veranschaulichung des theoretischen Samplings anhand der Schlüsselkategorie „sich (distanziert) einlassen“ Theoretisches Sampling zur Kategorie „sich (distanziert) einlassen“ Überlegung zur Interview Kernergebnisse Interviewauswahl 10 • Alle relevanten Zitatstellen Da ich bereits eini- Gynäkologin beziehen sich auf „sich einge in die Richtung (G10) (zuletzt erlassen“ (neue Kategorie) der Kategorie zie- hobenes Interview) • Dabei lassen sich drei Unterlende Kodierungen formen (Subkategorien) diffevergeben hatte, renzieren: sich emotional einwollte ich bei der lassen, sich für sich selbst revertieften Beschäfflektierend einlassen (auch tigung mit einem über die Interaktion hinaus), Interview beginund sich fachlich-medizinisch nen, das noch frei einlassen (über die Interaktivon solchen Koon hinaus und in der Regel dierungen ist und über die Arbeitszeit hinaus) mir einen frischen Blick erlaubt 4 • Revidierung der VorannahAls nächstes wollte Gynäkologin me: lässt sich insgesamt am ich einen Kontrast- (G4) (aufgrund des ehesten als „sich distanziert fall analysieren, Eindrucks durch einlassend“ beschreiben (neue um mehr über den Interviewführung, -transkription und Kategorie) angenommenen Gegenpol „sich partielle Kodierun- • Dennoch gibt es Situationen, distanzieren“ zu gen) in den auch sie sich einlässt erfahren (-> inhaltliche Ergänzung der vorab gebildeten Subkategorien) • Und: es gibt Situationen, in denen sie sich tatsächlich „distanziert“ (neue Kategorie) Nach Gynäkologin Gynäkologe 7 (G7) • Tatsächlich gibt es hier einen 10, die sich frei- (aufgrund des EinZwang, sich einzulassen, den willig einlässt, und drucks durch Inich in der Subkategorie „sich Gynäkologin 4, die terviewführung, einlassen müssen“ fassen sich in der Haupt- -transkription und • Auch die Subkategorien „sich sache bewusst disfachlich-medizinisch einlas-
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tanziert einlässt, wollte ich mir einen Fall ansehen, dem diese Bewusstheit oder Freiwilligkeit fehlt
partielle Kodierungen)
Im Interview 7 wurde ein Zwiespalt deutlich, zwischen „Emotionen nicht an sich herankommen lassen“ und „sich einlassen müssen“. Diesem nicht recht erklärbaren Zwiespalt wollte ich weiter auf den Grund gehen.
Gynäkologin 1 (G1) (aufgrund des Eindrucks durch Interviewführung, -transkription und partielle Kodierungen vermutete ich ähnliche Figuren, die einen guten Vergleich erlauben würden)
•
Aufgrund der bereits erreichten Ausgestaltung der Kategorie „sich einlassen“ suche ich einen Vergleichsfall, der mir mehr über den Pol „sich distanzieren/ distanziert einlassen“ verrät
Gynäkologe 9 (G9) (aufgrund des Eindrucks durch Interviewführung, -transkription und partielle Kodierungen)
•
•
•
sen“ und „sich emotional einlassen“ können weiter ausdifferenziert werden. Neu und damit kategorienerweiternd ist die Wahrnehmung, dass dieses sich einlassen belastend ist (statt bereichernd) Meine Vermutung widerlegt sich. G1 beschreibt sich selbst als jemanden, der „sich distanziert einlässt“, zeigt aber in vielen Fundstellen, dass sie sich tatsächlich vielfach emotional, fachlich-medizinisch einlässt oder mitunter auch die Position vertritt, „sich einlassen zu müssen“ G1 weiß, dass sie sich nicht zu sehr einlassen darf, tut es aber dennoch oft: wenn hier ebenfalls ein Zwiespalt vorliegt, dann unter umgekehrten Vorzeichen als bei G7 Neu entsteht die Unterkategorie „professionelle Distanz“ als Grenzfall des „sich distanziert Einlassens“ Aber ich muss meine erste Einschätzung revidieren. G9 ist nicht per se „distanziert“, sondern zeigt starke Momente des „sich für sich selbst reflektierend einlassen“ und hilft so, diese Unterkategorie stärker auszudifferenzieren (Beispiel:verdeutlicht, dass er so einen inneren Abstand zu emotionalen Ereignissen des Arbeitsalltags gewinnt)
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Gynäkologe 7 und Gynäkologe 5 (G5) • Die hierarchische Position ist nicht von erklärender Bedeu9 sind bemüht, ei- teilt beide Merktung, auch wenn damit mehr nen inneren Ab- male – Vergleich, wahrgenommene Verantworstand zu den emo- um ggf. ein getung einhergeht tionalen Ereignis- meinsames Muster sen im Arbeitsall- entdecken zu kön- • Relevanter erscheint das Fachgebiet: G7 und G9 sind tag zu gewinnen. nen primär in der Gynäkologie täBeide eint die hietig, die Zahl der drastischen rarchisch höhere (und belastenden) Ereignisse, Position in einer über die G5 als Geburtshelfer Klinik und der berichtet, ist deutlich gerinKontakt mit vielen ger. Folglich lässt er sich „drastischen“ Erprimär emotional ein. eignissen. Dennoch wählen sie unterschiedliche Umgangswege. 6 • Die These kann verworfen Ich modifiziere Gynäkologin werden. Auch sie lässt sich beschreibt meine vorherge- (G6) primär emotional ein. hende These und sich selbst als formuliere: Man „Hineinfühllässt sich dann eher Mensch“. Stimmt These, nicht ein, wenn meine man weiß, dass es müsste sie sich diseinen belastet oder tanziert einlassen. belasten würde. Mit Blick auf die herausgearbeiteten Kategorien und Subkategorien stellt sich eine Sättigung ein. Neue (Unter)Kategorien werden nicht gefunden. Das heißt, im Sinne einer Beschreibung der (Unter)Kategorien sind diese theoretisch gesättigt. Eine Erklärung für die Positionierung der Gynäkolog*innen innerhalb dieser Kategorien konnte an dieser Stelle allerdings (noch) nicht gefunden werden. Die weitere Analyse zeigt, inwiefern diese in den ursächlichen Bedingungen zu finden sein wird.
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Lediglich das zehnte Interview ist mit einer bewusst theoretisch ausgewählten Interviewpartnerin erfolgt. Hier ging es mir darum, eine*n Gynäkolog*in zu befragen, welche*r sich erst vor kurzer Zeit mit einer eigenen Praxis niedergelassen hat. Eine solche Gynäkologin war mir zufällig bekannt. Somit hat sich mein Interviewleitfaden auch nur für das zehnte Interview verändert, da die bis dato herausgebildeten Hypothesen andere Fragen nahelegten, um Daten zu ihrer Überprüfung zu generieren. Unabhängig davon, ob die Auswahl des zu erhebenden Materials nun gezielt oder zufällig erfolgt, sind also nicht gegenstandsunspezifische, z.B. statistische, Verteilungsmerkmale entscheidend, sondern das theoretische Sampling erfolgt auf Basis der analytischen Fragen, die der jeweilige Stand der Theoriebildung im Projekt vorgibt (Glaser/ Strauss 2005 [1967]: 70, Strübing 2008: 30). Ziel ist es, eine konzeptuelle Repräsentativität zu erreichen: „d.h. es sollen alle Fälle und Daten erhoben werden, die für eine vollständige analytische Entwicklung sämtlicher Eigenschaften und Dimensionen der in der jeweiligen gegenstandsbezogenen Theorie relevanten Konzepte und Kategorien erforderlich sind.“ (Strübing 2008: 32).
Das Sampling wird folglich durch den Analyseprozess begleitet, und die Analyse der Daten mit der damit einhergehenden Hypothesenentwicklung lenkt den weiteren Samplingprozess9. Jede Auswahlentscheidung über neues oder bereits vorliegendes, erneut zu analysierendes Material wird aus den bereits erarbeiteten Elementen abgeleitet, um die Theorie (als Ganzes und in ihren Teilen, den Kategorien) weiter und reichhaltiger auszudifferenzieren (Glaser/ Strauss 2005 [1967]: 53ff., Strübing 2008: 31). Dabei werden die sich dabei allmählich aus dem Material entwickelnden bzw. herausgearbeiteten Kategorien nicht fixiert, wie zum Beispiel in der Qualitativen Inhaltsanalyse, sondern bleiben offen für Veränderungen (Muckel 2011: 336). Es geht bei der Kategorienentwicklung darum, aus dem Datenmaterial heraus Ähnlichkeiten und Beziehungen innerhalb der und zwischen den Kategorien auszuarbeiten. Es werden „polyphone Kategorien angestrebt, die Widersprüche zulassen sowie dem Anspruch der Dichte gehorchen“ (Muckel 2011: 336, Hervorhebungen im Original).
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In diesem Sinne betont z.B. Hildenbrand (2005: 66) die prinzipielle Sparsamkeit des theoretischen Samplings: es werden immer nur so viele Daten erhoben, wie für den nächsten Auswertungsschritt notwendig sind, und es werden auch nur genau die Auswertungsdaten erhoben, welche sich für den Auswertungsprozess als relevant darstellen.
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Der Auswertungsprozess beginnt mit dem offenen Kodieren einiger, in Bezug auf die Forschungsfrage besonders vielversprechend erscheinender Interviewabschnitte. Hier sollte reichhaltiges Material herangezogen werden, um eine Maximierung der möglichen Lesarten und Perspektiven zu erreichen (Strübing 2008: 31). Besonders hilfreich für das konzeptuelle ‚Aufbrechen‘ der Daten wirken die sogenannten ‚generativen Fragen‘ (vgl. Mey/ Mruck 2009: 120 sowie Böhm 2012: 477f.). Durch die Analyse werden erste Konzepte (Kodes)10 gefunden, die anhand von Vergleichen und Dimensionalisierungen (vgl. Mey/ Mruck 2009: 126, Strauss/ Corbin 1996: 44, 50ff. sowie 63ff.) ausgearbeitet werden. Das Vergleichen und Dimensionalisieren dient dazu, die Variationsmöglichkeiten und -breite eines Kodes, also eines interessierenden Aspektes des Datenmaterials, aufzudecken und systematisch auszuarbeiten (Strübing 2008: 26). Es bildet die Grundlage, um später die Beziehungen zwischen verschiedenen Kodes oder Kategorien herauszuarbeiten (Strauss/ Corbin 1996: 51). Um diese Verbindungen zwischen verschiedenen Konzepten herauszuarbeiten, wird das axiale Kodieren eingesetzt. Hier habe ich vor allem mit dem Kodierparadigma von Strauss (1998: 56f.) bzw. Strauss und Corbin (1996: 78ff.) und den von Clarke (z.B. Clarke 2011, Clarke/ Friese 2007) vorgeschlagenen situational maps11 gearbeitet. Das Kodierparadigma (vgl. in seiner Grundform Darstellung 3) soll dabei unterstützen, die getrennt nebeneinander stehenden Kodes und Kategorien miteinander in einen Zusammenhang zu bringen. Es geht darum, Fragen nach den untersuchten Phänomenen (‚Worum geht es?‘), deren Kontext (‚Welche Einflüsse strukturieren den konkreten Handlungsraum?‘), und ursächlichen Bedingungen (‚was führt zum Phänomen?‘) zu stellen. Auch die intervenierenden Bedingungen als relevante strukturelle (z.B. kulturelle, biographische oder geografische) Vorbedingungen für die Strategien, die phänomenbezogenen Handlungen und Strategien selbst sowie deren Konsequenzen werden hinterfragt. Diese Fragen werden in theoriebildender Absicht an das Material 10 Eine Diskussion der verschiedenen und verschieden verwendeten Begriffe Kode, Konzept und Kategorie findet sich zum Beispiel bei Muckel (2011: 337f.). Hier werden im Folgenden die Begriffe Kode und Konzept als Synonyme verwendet, und lediglich vom größeren Begriff der Kategorie als einer Gruppe von miteinander in Beziehung stehenden Kodes unterschieden. 11 Dabei verwende ich Clarke’s maps allerdings eher als Arbeitswerkzeug innerhalb der Arbeit mit dem Kodierparadigma und löse ihren Anspruch an die Berücksichtigung von nicht-menschlichen Akteuren und Diskursen nur sehr bedingt ein. Paradigmatisch bleibe ich also den bei Strauss der Grounded Theory Methodologie zugrunde liegenden interaktionistischen Wurzeln verbunden und folge Clarke nicht ‚around the postmodern turn‘.
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herangetragen (Strauss/ Corbin 1996: 78ff., Mey/ Mruck 2009: 129f., Strübing 2008: 28). Darstellung 3: Das Kodierparadigma
Kontext
Ursächliche Bedingungen
Phänomen
Intervenierende Bedingungen
Konsequenzen
Strategien
Quelle: Eigene Darstellung nach Mey/ Mruck 2009: 131
Dabei zielt das Kodierparadigma nicht auf die umfassende Beantwortung der Forschungsfrage ab, sondern darauf, den Prozess des axialen Kodierens zu koordinieren, indem systematisch der Kontext eines in den Daten vorkommenden Phänomens aufgearbeitet wird. Dementsprechend leitet die Überprüfung und eventuell anzuschließende Modifizierung von Zusammenhangshypothesen die Fall- und Datenauswahl (Strübing 2008: 31). Ziel ist es, zu einem umfassenden Verständnis eines Phänomens und seines Kontextes zu gelangen, um in späteren Schritten eine umfassende Theorie erarbeiten zu können. Da die mithilfe des Kodierparadigmas aufgearbeiteten Phänomene in vielfältigen Zusammenhängen zueinander stehen, kann dabei eine Ursache eines Phänomens bei einem anderen Phänomen Strategie sein (Strübing 2008: 26ff.). Es ist naheliegend, dass auch in den Phasen des axialen Kodierens immer wieder auf die Technik des offenen Kodierens zurückgegriffen wird. Entwickelt sich das Modell bzw. die materiale Theorie rund um eine Kern- oder Schlüsselkategorie als dem zentralen Phänomen (hier: die Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotion als ‚sich (distanziert) einlassen‘)12, geht man 12 Im Rahmen des axialen Kodierens werden also verschiedenste Kodes und Kategorien als Phänomen in das Grundschema des Kodierparadigmas eingesetzt, um Verbindun-
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langsam in die Phase des selektiven Kodierens über. Dies dient dazu, letzte Fragen zu einzelnen Kategorien zu beantworten und noch nicht ausgearbeitete Verbindungen zwischen der Kernkategorie und anderen Kategorien zu spezifizieren (Mey/ Mruck 2009: 134). Hier zielt die Sampling-Strategie auf das Schließen von Lücken sowie die Theorieprüfung. Es wird durchaus noch neues Material hinzugezogen, aber auch viel bereits Vorhandenes erneut unter einem veränderten Blickwinkel betrachtet (Strübing 2008: 31). Die Analysearbeit ist dann abgeschlossen, wenn das sich entwickelnde Modell gesättigt ist. Damit ist gemeint, dass die Kategorien selbst sowie die Beziehungen zwischen den Kategorien gut ausgearbeitet sind und dass aus neu hinzugezogenem Material keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf die sich entwickelnde Theorie gewonnen werden können (Mey/ Mruck 2009: 112, Muckel 2011: 337). Truschkat, Kaiser-Belz und Volkmann (2011: 373) heben hervor, dass man hierzu Vertrauen in die Daten und in den Umstand, dass sich soziale Phänomene deutlich schneller wiederholen, als man vermutet, braucht. In meinen Daten zeigte sich eine zügige theoretische Sättigung zum Beispiel an der Kategorie ‚sich anderen mitteilen über Emotionen‘. Das Grundmuster zeichnete sich bereits nach der Analyse von Zitatstellen aus drei Interviews ab. Die Sichtung der entsprechenden Zitatstellen in allen weiteren Interviews brachte noch kleine Verfeinerungen mit sich, hat aber die zentrale Argumentation dieser Kategorie nicht verändert (vgl. hierzu inhaltlich Kap. 4.2). Ein anderer zu beachtender Punkt bei der Bestimmung einer ausreichenden Sättigung ist die Frage nach der Reichweite der entwickelten Theorie. Da hier eine materiale Theorie13 entwickelt werden soll, die Aussagen über den empirischen Bereich der Gynäkologie geben will, ist es zum Beispiel im Rahmen dieser Arbeit nicht sinnvoll, das Sampling auf andere medizinische Fachrichtungen auszudehnen. Im Rahmen der Methodenliteratur zur Grounded Theory Methodologie wird das Forschen in Gruppen immer wieder empfohlen bzw. eingefordert (z.B. Mey/ Mruck 2009: 142f.). Das Forschen in Gruppen dient dabei nicht nur der Qualigen zwischen diesem und anderen Kodes/ Kategorien auszuarbeiten. Die Analyse schließt sich, wenn sich eine Kernkategorie als Phänomen abzeichnet, zu der sich die meisten anderen Kategorien in Bezug setzen lassen. Auf eine exemplarische Darstellung habe ich an dieser Stelle verzichtet. Da das finale Kodierparadigma die Organisation der folgenden Kapitel anleitet, findet es sich, sich allmählich in seinen Bestandteilen entfaltend, in den Kapiteln 3 bis 5 jeweils am Kapitelende. 13 Die Unterscheidung zwischen materialer und formaler Theorie findet sich bereits bei Glaser und Strauss (2005 [1967]: 42f.). Sie wird mit Bezug zur Frage der Sättigung der entwickelten Theorie zum Beispiel von Truschkat/ Kaiser-Belz/ Volkmann (2011: 374) aufgegriffen.
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tätssicherung von qualitativen Forschungsarbeiten, sondern auch der Maximierung der Perspektivenvielfalt auf das Analysematerial und der Erhöhung der theoretischen Sensibilität der Forschenden. Theoretische Sensibilität meint die „persönliche Fähigkeit des Forschers bzw. der Forscherin, Feinheiten in der Bedeutung der Daten aufzudecken“ (Muckel 2011: 340, vgl. auch Strauss/ Corbin 1996: 25ff.)14. Um diesem Kriterium auch im Rahmen einer individuellen Qualifizierungsarbeit wie dieser Doktorarbeit gerecht werden zu können, habe ich mich (neben der Nutzung verschiedener Präsenzangebote wie dem Berliner Methodentreffen oder der Göttinger Forschungswerkstatt für qualitative Forschung in der (Palliativ)Medizin) im Dezember 2012 einer neu entstehenden OnlineArbeitsgruppe angeschlossen, in welcher von allen Teilnehmerinnen GroundedTheory-Projekte bearbeitet werden. Die fachlichen und sozialen Vorteile der Mitarbeit an einer solchen Online-Arbeitsgruppe werden z.B. von Moritz (2009) beschrieben. Potentiale und Herausforderungen von Online-Arbeitsgruppen sowie den praktischen Arbeitsmodus speziell unserer Online-Arbeitsgruppe haben wir in Albrecht-Ross et al. (2015) beschrieben. Dort findet sich auch ein Beispiel für ein Arbeitstreffen, um einen Einblick in unsere konkrete Arbeitsweise zu gewähren. Besonders hilfreich war diese Arbeitsgruppe, um die Interaktion im Interview zwischen mir als Interviewender und den Interviewpartner*innen zu beleuchten und, dem Verständnis des Interviews als Interaktion (Deppermann 2013, Mey 2000) folgend, in die Analyse einzubeziehen. Denn die Analyse in der Gruppe erlaubt es hier eher, aus der ‚eigenen Haut‘ herauszutreten und eine neutral-analytische Perspektive auf das Interviewmaterial anzulegen. Darüber hinaus werden in der Gruppe mehrere Deutungsperspektiven gegenübergestellt, die zum Teil aus der fachlich-heterogenen Gruppenzusammenstellung und unterschiedlichen biografischen Erfahrungen resultieren und das Reflexivitätspotential der Gruppe erhöhen. Diese Vielfalt an Deutungsperspektiven ist auch hilfreich, um eigene Vorannahmen aufzudecken und für die empirische Analyse fruchtbar zu machen. Im nächsten Abschnitt möchte ich einige meiner Vorannahmen explizieren.
14 Das Thema der theoretischen Sensibilität wird von den verschiedenen Strömungen innerhalb der Grounded Theory Methodologie kontrovers eingeschätzt, zum Beispiel mit Blick auf die Quellen der theoretischen Sensibilität und den Einsatz(zeitpunkt) von Literatur. Eine Übersicht und pragmatische Positionierung findet sich bei Truschkat/ Kaiser-Belz/ Volkmann (2011: 356ff.).
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1.3 PRÄKONZEPTE: EXPLIZIERUNG SUBJEKTIVER FORSCHUNGSEINFLÜSSE Franz Breuer (2010) nimmt in seinem Buch ‚Reflexive Grounded Theory‘ die Position ein, dass die Forscherin „selbst als Subjekt und Person im Kontext der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisarbeit“ (2010: 115) vorkommt. Daraus folgert er, dass die subjektiven Anteile der Forschenden im Rahmen ihrer Arbeit reflektiert werden sollten, um sich dieser Einflüsse bewusst zu werden. Das Ziel ist, die so gewonnenen Erkenntnisse für die weitere Forschungsarbeit produktiv zu verwenden. Reflexionsbedürftig oder mindestens reflexionsmöglich sind dabei verschiedenste Elemente: die gewählte Form der Datenerhebung, die Interaktionsdynamiken zwischen Interviewpartner*in und Interviewender, die der Interviewführung und -analyse zu Grunde liegenden theoretischen und alltagsweltlichen Vorannahmen der Forscherin und einiges mehr. Breuer (2010) schlägt für die konkrete Umsetzung verschiedene Methoden vor, um die Reflexion über diese Aspekte anzustoßen und kontinuierlich fortzuführen, beispielsweise den Austausch mit anderen Forschenden über eigenes Material und -deutungen. Diesen Austausch, also meine Einbindung in verschiedene Formen der kollektiven Daten- und Ergebnisdiskussion, habe ich bereits im vorhergehenden Kapitel angesprochen. Ein weiteres Hilfsmittel ist das Führen eines Forschungstagebuchs (Breuer 2010: 129ff.). Dieses hat mehrere Funktionen, von denen eine ist, sich über Vorannahmen deutlich zu werden, die man unweigerlich zu Beginn der Empirie über sein Feld hegt. Solche Vorannahmen oder Präkonzepte (ebd.: 130) zu reflektieren, beugt dem vor, dass man eigene blinde Stellen an das Material heranträgt und folglich im ungünstigsten Fall genau das mit seiner Forschung herausfindet, was man bereits vorab vermutet hat. Um den Leser*innen einen Einblick in meine reflexive Arbeit zu geben, möchte ich an dieser Stelle einige meiner zentralen Präkonzepte offen legen. Diese markieren einerseits den wissenschaftlichen (aber auch persönlich-biographischen) Startpunkt dieser Arbeit und können somit hilfreich für das weitere Verständnis sein. Gleichzeitig soll ihre Darstellung aber auch Transparenz über vollzogene (Gedanken-)Schritte liefern und so die Nachvollziehbarkeit der entstandenen Grounded Theory erhöhen. Im Besonderen möchte ich (1) den Einfluss meiner arbeitssoziologischen Prägung, (2) den Einfluss der wissenschaftlichen Debatte über Emotionsarbeit und (3) den Einfluss meiner eigenen heterosexuellen Lebensweise thematisieren. (1) Arbeitssoziologische Vorprägung meines Blickwinkels Vom ersten Moment der Arbeit an diesem Thema ist für mich völlig eindeutig gewesen, dass meine Arbeit darum kreist, wie Gynäkolog*innen mit ihren aus
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der Arbeit resultierenden Emotionen umgehen. Insbesondere die Seite der Patientinnen ist mir als Untersuchungsgegenstand gar nicht in den Sinn gekommen. Dabei sind ja die Patientinnen ebenso an der Ärzt*in-Patientinnen-Interaktion beteiligt, und aufgrund individueller Betroffenheit z.B. von Krankheiten oder Schwangerschaften wahrscheinlich sogar einem intensiveren emotionalen Erleben ausgesetzt. Ich denke, dass ich hier einen typisch arbeitssoziologischen Blick auf die Arbeitenden einnehme. So beeinflussen meine arbeitssoziologischen Kenntnisse und Interessen von vornherein die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes. Diese Vorprägung ist mir erst allmählich bewusst geworden, und zum Teil auch erst durch Irritationen in Gesprächen mit Menschen, die selbst bzw. deren Angehörige schwere gynäkologische Behandlungen aus Patientinnen- bzw. Angehörigensicht erlebt haben. Im Rahmen meiner Forschung habe ich dieses Präkonzept lediglich als Einschränkung meiner Fragestellung zur Kenntnis genommen. Anders verhält es sich mit dem nächsten Punkt. (2) Die wissenschaftliche Debatte über Emotionsarbeit Als Studentin der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt „Produktion und Arbeit“ habe ich mich zunächst im Kontext von Dienstleistungsarbeit mit Emotionsarbeit beschäftigt und dieses Thema später weiter vertieft. So habe ich das Interesse für mein Doktorarbeitsthema ausgeprägt, aber gleichzeitig auch starke Vorannahmen über den Gegenstand dieser Arbeit entwickelt. Zu Beginn meiner empirischen Arbeit bin ich erstens davon ausgegangen, dass der Umgang mit Emotionen Arbeit ist. Da dieser Umgang mit Emotionen im Rahmen eines Lohnarbeitsverhältnisses in ganz bestimmter, in der Regel vom Management vorgeschriebener Weise erfolgen muss, handelt es sich um einen neuen Grad der Vernutzung von Arbeitskraft: Hochschild folgend, wird nun nicht nur auf Körper und Geist, sondern auch auf die Gefühle der Arbeitenden zugegriffen. Durch diese (neo)marxistische Brille geprägt, bin ich zweitens davon ausgegangen, dass Emotionsarbeit und die daraus resultierende Notwendigkeit, mit den geforderten Emotionen umzugehen, die Arbeitenden belastet. Mein Blick war also eher bereit, negative Folgen der Emotionsarbeit aufzunehmen, als nach positiven Effekten zu fragen. Und drittens habe ich auch die Annahme unbewusst mit mir herumgetragen, dass negative Emotionen mehr Anstrengungen benötigen, um mit ihnen umzugehen, als positive. Sprich: dass es anstrengender sei, einer Patientin eine für sie schlechte Nachricht zu überbringen, als sich mit ihr zu freuen. Der letzte Punkt ist dabei wohl weniger der Emotionsarbeitsdebatte anzulasten, als meinen eigenen persönlichen Annahmen darüber, dass sich positive Emotionen leichter zeigen als negative. Es ist wohl für lebenserfahrene Leser*innen müßig
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zu erwähnen, dass es vielleicht eher mit der eigenen Position und Grundstimmung zusammenhängt, ob das eine leichter gelingt als das andere. Meinen durch die Emotionsarbeitsdebatte geprägten Blick auf Emotionen als Arbeit habe ich auch mit in meine Interviewführung hineingetragen. Er wurde zum Teil direkt in der Interviewsituation durch meine Interviewpartner*innen korrigiert, zum Teil durch die eigene und gemeinsame Analysearbeit an den transkribierten Interviews. Beide Einflüsse gemeinsam haben mich diese Vorannahmen erkennen lassen, so dass ich ‚meinen‘ Anteil in der Analyse zurücknehmen, und den Blick für einen offeneren Umgang mit dem Thema ‚Emotionen in der Arbeit‘ öffnen konnte. (3) Heterosexuelle Vorannahmen Erst im Verlauf meiner Analysearbeit an dem Interviewmaterial ist mir deutlich geworden, wie sehr meine eigene heterosexuelle Lebensweise (eigentlich wider besseren Wissens!) meine Interviewdurchführung geprägt hat. Erst an dieser späten Stelle habe ich bemerkt, dass ich lediglich die männlichen Gynäkologen nach ihrem Umgang mit dem anderen Geschlecht als ‚Arbeitsgegenstand‘ und Interaktionspartnerin gefragt habe. Ich bin davon ausgegangen, dass der Umgang mit dem nackten weiblichen Körper nur für Männer eine besondere Rolle spielen könnte. Dass der Umgang mit einem nackten Körper aber für alle Gynäkolog*innen gewöhnungsbedürftig sein könnte, oder auch Frauen gegenüber ihren Patientinnen sexuelle Gefühle entwickeln könnten, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Für den Verlauf der empirischen Analyse ist insbesondere der zweite Punkt, die Vorprägung durch die Emotionsarbeitsdebatte, bedeutsam gewesen. Im Rahmen der Analysearbeit an den Interviews habe ich mich sukzessive von den Vorannahmen gelöst, die ich durch meine Beschäftigung mit der Emotionsarbeitsdebatte erworben hatte. Durch das Erkennen meiner Präkonzepte konnte ich zu ihnen Abstand gewinnen, und auch alternative Deutungen an das Material herantragen. Insgesamt hat dieser Prozess dazu geführt, dass sich der Mittelpunkt meiner Untersuchung verschoben hat: die folgenden Kapitel zeichnen mit großem Respekt für die Gynäkolog*innen nach, wie ihnen der Umgang mit „extremen Dingen“ in einem für sie schönen Beruf gelingt. Auch wenn für die Veränderung des Untersuchungsgegenstands vor allem der zweite Punkt zentral war, sind dadurch der erste und dritte Punkt nicht unwichtig. Sie stellen grundlegende Spezifizierungen meines Themenbereichs dar, die mir nun als solche bewusst sind. Nebenbei zeigen die obigen Ausführungen, wie weit die eigene Reise in einem Grounded-Theory-Projekt sein kann. Durch das Erkennen eigener Präkonzepte und ‚blinder Stellen‘ verändert sich auch die
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eigene Position zum Gegenstand, und letztlich auch man selbst als Forscherin und Person.
1.4 AUFBAU DER ARBEIT Im Aufbau dieser Arbeit folge ich der Logik des mittels der Grounded Theory Methodologie entwickelten empirischen Modells und weiche dadurch vom ‚klassischen‘ Aufbau einer Doktorarbeit ab. Anstelle des mehr oder weniger typischen Dreiklangs ‚Theorie – Methode – Ergebnisse‘ sind die nachfolgenden Kapitel 2 bis 5 jeweils bestimmten Elementen des Kodierparadigmas (vgl. Darstellung 3 in Kap. 1.2.2) zugeordnet, so dass sich das entwickelte Modell zum gynäkologischen Umgang mit aus der Arbeit resultierenden Emotionen und seinen Rahmenbedingungen schrittweise entfaltet. Dabei werden insbesondere in Kapitel 2, aber auch in den nachfolgenden Kapiteln, die empirischen Ergebnisse mit den relevanten theoretischen Konzepten und Forschungsbefunden verbunden. Ich habe mich zu diesem Aufbau entschlossen, weil ich ihn zum einen für eine Grounded Theory, also dem Ergebnis einer Untersuchung mit Hilfe der Grounded Theory Methodologie, angemessener empfinde. Zum anderen erscheint mir diese Art der Darstellung auch leser*innenfreundlicher, da empirische Ergebnisse und theoretische bzw. aus der Literatur stammende Erkenntnisse enger verzahnt und somit plastischer einander gegenübergestellt werden können. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Eine grafische Darstellung des Aufbaus findet sich in Darstellung 4. Die oben erwähnte Orientierung der Kapitel 2 bis 5 an dem entwickelten empirischen Modell wird in Darstellung 4 durch die diese Kapitel verbindende farbliche, graue Hinterlegung angezeigt. Bei der Erläuterung des Aufbaus der Arbeit soll auch die Einleitung (Kapitel 1) der Vollständigkeit halber kurz resümiert werden. Nach der praktischen und theoretischen Herleitung der Relevanz des Themas für eine organisationswissenschaftliche Emotionsforschung folgte die Darstellung des für die empirische Analyse verwendeten Datenmaterials, die Darstellung der Analysemethode und -methodologie sowie ein Einblick in die für eine reflexive Durchführung der Grounded Theory Methodologie notwendige Beschäftigung mit den Präkonzepten der Autorin.
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Darstellung 4: Aufbau der Arbeit
Das Kapitel 2, „Gynäkologie: Arbeit, Organisation und Emotionen“ beschreibt den Kontext des Phänomens ‚Gynäkolog*innen im Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen‘. Zu diesem Kontext (im Sinne von den Untersuchungsgegenstand spezifizierenden Eigenschaften) gehört, dass die Gynäkologie als Teil der Medizin eine Profession ist und spezifische Arbeitstätigkeiten umfasst. Zudem findet gynäkologische Arbeit in verschiedenen organisationalen Kontexten statt, insbesondere den Organisationsformen Niederlassung (einzeln oder zu mehreren) und Krankenhaus. Diese drei Kontexteigenschaften (Profession, Arbeit und Organisation) sind Gegenstand des Kapitels 2.1. Weiterhin grenze ich das dieser Arbeit zugrunde liegende Emotionsverständnis ein, und
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zeige empirisch die Bedeutung von drei spezifischen Einzelemotionen (Angst, Empathie und Mitleid) in der Gynäkologie auf (Kap. 2.2). Außerdem wird die gynäkologische Arbeit in Bezug zum Konzept der Emotionsarbeit gesetzt und herausgearbeitet, welche Formen und welchen Umfang an Emotionsarbeit Gynäkolog*innen leisten (Kap. 2.3). Die in der Darstellung 4 vom Kontextkapitel aus nach unten weisenden Klammern sollen verdeutlichen, dass der spezifische Kontext gynäkologischer Arbeit und der Organisationen, in denen diese professionelle Arbeit stattfindet, sowie die damit verbundenen Emotionen die anderen Komponenten des paradigmatischen Modells (ursächliche Bedingungen, Phänomen, Strategien und Konsequenzen) grundlegend beeinflussen und prägen. In Kapitel 3, „Das Gleichgewicht von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen“, wird das Phänomen entfaltet. Es stellt die Antwort auf die Frage dar, wie Gynäkolog*innen mit den aus ihrer Arbeit resultierenden Emotionen umgehen und welche Voraussetzungen diesen spezifischen Umgang begründen. Diese Antwort ist dreigeteilt. Erstens lernen die Gynäkolog*innen im Studium eine emotionsneutrale Medizin kennen (Kap. 3.1). Im Anschluss an diese rein fachlich-medizinische Ausbildung erlernen sie den Umgang mit Patient*innen und damit auch mit in und durch Interaktionen auftauchenden Emotionen im Rahmen ihrer praktischen, alltäglichen Berufstätigkeit (Kap. 3.2). Diese beiden Schritte führen als Voraussetzungen zum Kern des Phänomens (Schlüsselkategorie): in ihrer alltäglichen Arbeitspraxis vermögen Gynäkolog*innen, mit aus der Arbeit resultierenden Emotionen umzugehen, indem sie sich entweder distanziert oder emotional einlassen (Kap. 3.3). Somit werden in diesem Kapitel die verschiedenen Ausprägungen der Balance zwischen Emotion und medizinischer Fachlichkeit beschrieben. Grundsätzlich ergibt sich dabei die Notwendigkeit zum Ausbalancieren von verschiedenen Widersprüchen, die in der gynäkologischen Arbeit angelegt sind. Diese Widersprüche bilden im Sinne des Kodierparadigmas die ursächlichen Bedingungen des Phänomens und werden in Kapitel 3.4 behandelt. Die jeweils spezifische Auflösung der skizzierten Widersprüche liefert Erklärungspunkte dafür, warum Gynäkolog*innen auf bestimmte Ausprägungen des Gleichgewichts zwischen Medizin und Emotion zurückgreifen. Das Kapitel 4, „Das Gleichgewicht halten: Strategien als Balancierstäbe“, zeigt auf, wie genau es den Gynäkolog*innen gelingt, im Arbeitsalltag das individuelle Gleichgewicht zwischen Medizin und Emotion aufrecht zu erhalten. Hierbei kommt insbesondere verschiedenen Formen der Grenzziehung (Kap. 4.1) eine hohe Bedeutung zu, während Strategien der Herstellung von Nähe eine geringe Rolle spielen. Weiterhin spielt es eine große Rolle, sich anderen mitteilen zu können (Kap. 4.2). Insgesamt stehen nicht alle Strategien allen Gynäkolog*innen gleichermaßen zur Verfügung. Es gibt verschiedene begrenzende und
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ermöglichende Faktoren (intervenierende Bedingungen), die zum Beispiel mit dem Organisationstyp gynäkologischer Arbeit zusammenhängen. Auch sie werden in diesem Kapitel erläutert. Kapitel 5, „Konsequenzen des Ausbalancierens für Gynäkolog*in und Patientin“, behandelt die Folgen, welche sich aus dem Phänomen (Kap. 3.1 bis 3.3) und den mit Blick auf das Phänomen eingesetzten Strategien (Kap. 4) ergeben. Hier ist zunächst augenfällig, dass die Gynäkolog*innen sich trotz des erreichten Gleichgewichts einer Gratwanderung ausgesetzt sehen: jenseits des Gleichgewichts lauern die zwei Gefahren, sich zu sehr auf Emotionen einzulassen oder sich zu wenig einzulassen (Kap. 5.1). Doch trotz dieser wahrgenommenen Bedrohungsszenarien erleben sich Gynäkolog*innen in ihrem jeweiligen Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen insgesamt durchaus als authentisch und ihren Umgang mit Emotionen als gelingend. Dies betrifft sowohl ihre medizinischen Grundsätze als auch ihren Umgang mit und ihr Zulassen von Emotionen in der Ärzt*in-Patientinnen-Interaktion (Kap. 5.2). Eine weitere Folge des beschriebenen gynäkologischen Umgangs mit Emotionen besteht darin, dass sich die Machtasymmetrie zwischen Gynäkolog*in und Patientin auch auf das Zulassen von und sich Einlassen auf Emotionen in der Interaktion ausdehnt, und zwar zugunsten eines Machtvorsprungs auf Seiten der Gynäkolog*innen (Kap. 5.3). Die Arbeit schließt in Kapitel 6 mit einer Schlussbetrachtung. Zunächst werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst (Kap. 6.1). Anschließend stelle ich die Beiträge meiner Arbeit zur organisationswissenschaftlichen Debatte um Emotionen in der Arbeit und Emotionsmanagement heraus, indem ich sie kritisch gegen bisherige Befunde diskutiere (Kap. 6.2). Dem folgt eine Diskussion der methodischen und konzeptionellen Begrenzungen der vorgelegten Arbeit (Kap. 6.3). Ich schließe mit einem Ausblick, indem ich aus meiner Sicht besonders produktive Ansatzpunkte für die weitere Erforschung von Emotionsmanagement in Organisationen herausstelle und auf praxisrelevante Implikationen meiner Ergebnisse verweise (Kap. 6.4). Dem Literaturverzeichnis nachfolgend findet sich ein Anhang, der die in Kapitel 1.2.1 benannten empirischen Materialien enthält.
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Gynäkologie: Arbeit, Organisation und Emotionen
In diesem Kapitel wird der Kontext vermittelt, in dem die gynäkologische Arbeit und damit auch der Umgang mit Emotionen stattfinden. Dieser Kontext15 ist von Bedeutung, da er den Rahmen darstellt, in dem der in den nachfolgenden Kapiteln 3 bis 5 beschriebene Prozess des Umgangs mit den aus der gynäkologischen Arbeit resultierenden Emotionen stattfindet (vgl. auch Darstellung 4 in Kapitel 1.4). Die den Forschungsgegenstand rahmenden Kontextbedingungen werden dabei in drei Unterkapitel gegliedert. Zuerst werden in Kapitel 2.1 die organisations- und arbeitsbezogenen Kontextbedingungen für die Gynäkologie dargestellt. Daran schließt sich das Kapitel 2.2 an, welches den in dieser Arbeit verwendeten Emotionsbegriff und eine Übersicht über das Spektrum der von den Gynäkolog*innen thematisierten Emotionen beinhaltet, wobei die Emotionen Angst, Empathie und Mitleid in ihrer Bedeutung für die gynäkologische Arbeit 15 Dies entspricht dem Kontextbegriff im Sinne des Kodierparadigmas von Strauss und Corbin (1996). Jene definieren den Kontext zum untersuchten Phänomen als die „spezifische Reihe von Eigenschaften, die zu einem Phänomen gehören; d.h. die Lage der Ereignisse oder Vorfälle in einem dimensionalen Bereich, die sich auf ein Phänomen beziehen. Der Kontext stellt den besonderen Satz von Bedingungen dar, in dem die Handlungs- und interaktionalen Strategien stattfinden.“ (Strauss/ Corbin 1996: 75) Diese Definition lässt sich meines Erachtens zweideutig lesen. In einer ersten Lesart, welcher ich hier folge, bezieht sich der Kontext auf den gesamten Forschungsgegenstand. Diese Lesart legt insbesondere der letzte zitierte Satz nahe. In einer zweiten Lesart kann man den Kontext aber auch eher kleinteilig auf die direkt zum Phänomen gehörenden Eigenschaften und Dimensionen beziehen. Die im Verständnis dieser zweiten Lesart gewonnenen Erkenntnisse finden sich in der Darstellung des eigentlichen Phänomens in Kapitel 3 (vgl. zu den Begriffen Kontext und Phänomen auch Kapitel 1.2.2).
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detailliert diskutiert werden. Dann werden in Kapitel 2.3 die Ergebnisse der ersten beiden Kapitel zusammengeführt, in dem die Arbeit an und mit Emotionen anhand des Konzepts der Emotionsarbeit dargestellt und für den Bereich der Gynäkologie nachgezeichnet wird. Allen Unterkapiteln ist gemeinsam, dass auf eine literaturbasierte Beschreibung bzw. Verortung des jeweiligen Themas die empirische Ausprägung für diese Untersuchung folgt und so beide eng miteinander verknüpft werden.
2.1 PROFESSION, ARBEITSTÄTIGKEITEN UND ARBEITSORGANISATION Nachfolgend behandele ich die organisations- und arbeitsbezogenen Kontextbedingungen zum Forschungsgegenstand. Dazu gehören zuerst Besonderheiten, die mit der Gynäkologie als einem Teil der medizinischen Profession gegenüber ‚herkömmlichen‘ Dienstleistungsberufen einhergehen (Kapitel 2.1.1). Auch die konkreten Arbeitstätigkeiten der Gynäkolog*innen (Kapitel 2.1.2) stellen eine Kontextbedingung dar, die den Umgang mit den täglich erlebten Emotionen beeinflusst. Und drittens wirken sich die verschiedenen Organisationsformen, in denen gynäkologische Arbeit stattfindet, auf die Arbeitsorganisation und die Möglichkeiten des Umgangs mit Emotionen aus (Kapitel 2.1.3). 2.1.1 Gynäkologie als Teil der medizinischen Profession Unter Professionen versteht man „Berufe eines besonderen Typs“ (Stichweh 2008: 330), welche „sich durch besondere Erwerbs-, Qualifikations- und Kontrollchancen auszeichnen und deshalb oft ein ausgeprägtes Sozialprestige genießen.“ (Demszky von der Hagen/ Voß 2010: 762). Bei der Medizin handelt es sich um eine sogenannte ‚alte‘ bzw. ‚reine‘ Profession (Noordegraaf/ Schinkel 2011: 99), das heißt einen Beruf, in welchem diese selbstbestimmten Erwerbs-, Qualifizierungs- und Kontrollchancen besonders stark ausgeprägt sind und über einen langen Zeitraum etabliert und verteidigt werden konnten. Berufsverbände institutionalisieren sowohl eine spezifische technische Basis als auch eine bestimmte ethische Haltung, welche verpflichtend für ihre Mitglieder ist. Sie verfügen gleichzeitig über Mittel der Kontrolle und Sanktion bei Fehlverhalten (z.B. Schinkel/ Noordegraaf 2011: 69). Demnach muss ein angehender Mediziner nicht nur einen Beruf im Sinne einer Summe an Tätigkeiten erlernen, sondern wird zu einem gut ausgebildeten und sich richtig benehmenden Gruppenmitglied, also einem Teil der medizinischen Profession (Noordegraaf/ Schinkel
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2011: 100). Schinkel und Noordegraaf (2011: 69) schreiben dazu an anderer Stelle: „A professional does not merely work; he/she has to be educated and trained, (socialized) as member of an occupational domain, supervised by his/her peers and held accountable.“
Fragt man nach den Entstehungsgründen der Professionen, lassen sich funktionale und machtorientierte Erklärungsansätze unterscheiden (vgl. z.B. Schinkel/ Noordegraaf 2011: 69f., für eine breitere Ausdifferenzierung z.B. Pfadenhauer 2003). Die machtorientierten Ansätze bearbeiten unter anderem Fragen der hierarchischen Über- und Unterordnung bestimmter Berufsgruppen sowie des damit verbundenen Status kritisch (als kurze Übersicht und für die Medizin z.B. Light 2007). In jüngerer Zeit wird die (kritische) Diskussion über die Profession Medizin von verschiedenen Schwerpunktthemen bestimmt. Dazu gehört zum Beispiel eine nach wie vor erkennbare Ausweitung der ärztlichen Zuständigkeit auf neue Bereiche, etwa bei der Betreuung von Geburten in Krankenhäusern unter der Kontrolle von Gynäkolog*innen (anstelle von Hebammen) und steigenden Zahlen medizinischer Eingriffe wie Kaiserschnitten (Weik 2011) oder der nunmehr vorranging medizinischen Behandlung des Aufmerksamkeit-Defizit-Syndroms (Raschendorfer 2004). Im Sinne von Abbott (1988) kann man hier von einer Ausweitung der Zuständigkeit (jurisdictional claim) auf neue Bereiche sprechen, und somit von einer zunehmenden Professionalisierung. Gleichzeitig stellt das Gesundheitswesen eine intermediäre Sphäre zwischen Markt, Staat und Gemeinschaft dar, in der sich Organisationen als hybrid (Evers/ Ewert 2010) beschreiben lassen. Im deutschen Krankenhaussektor spielen allerdings primär staatliche und marktliche Einflüsse eine Rolle, die eher in einem Primat der Ökonomie als in einer tatsächlichen Hybridisierung münden (ebd.: 122ff.). Innerhalb der Krankenhäuser zeigt sich das Primat der Ökonomie u.a. in einem Erstarken des Einflusses des zunehmend ökonomisch ausgebildeten Managements von Kliniken. Hier kommt es zu Machtkonflikten zwischen Management (im Sinne Reed’s (1996: 582) eine ‚organizational‘ oder ‚managerial profession‘) und Ärzteschaft (z.B. Noordegraaf/ Schinkel 2011), aus welchen durchaus eine Einschränkung der Zuständigkeit und des Einflusses der Mediziner*innen erwachsen kann. Die gesundheitswesensweite Spannung zwischen Medizin und Ökonomie untersucht und beschreibt auf organisationaler Ebene zum Beispiel Schubert (2010) bzw. in den individuellen Auflösungsversuchen Hardering (2016). Den machtorientierten Erklärungsansätzen folgend, gehe ich im Weiteren davon aus, dass die dominante Position, welche sich die Medizin innerhalb der Berufshierarchie und der gesellschaftlichen Struktur erkämpft hat und trotz aktu-
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ell zum Teil gegenläufigen Tendenzen weitgehend aufrecht erhält, einen Einfluss sowohl auf die Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin hat, als auch die Gefühlswelten der Gynäkolog*innen mitbestimmt. Letzteres wird sich zum Beispiel in Kapitel 3.1 zeigen, in welchem die Rolle des medizinischen Studiums als ein Training zur Einnahme einer emotionsneutralen Haltung erläutert wird. Insgesamt finden sich im empirischen Material verschiedene Belege für die Auswirkungen, welche mit dem Status der Gynäkologie als medizinischer Profession einhergehen, auf die gynäkologische Arbeit und die Gynäkolog*innen. Diese Bezüge zwischen einer machtorientierten Sichtweise auf die Profession Medizin und den hier vorzustellenden Ergebnissen werden entsprechend in den folgenden Kapiteln entfaltet. Ein Punkt soll jedoch an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden. Er betrifft den Grad an Distanz, der sich durch die medizinische Ausbildung zwischen Laien und ‚Professionellen‘ öffnet und umschreibt, was es bedeutet, ein Mitglied der Gruppe der Mediziner*innen zu sein. Der Grad dieser Professionalität (im Unterschied zum Laien) manifestiert sich in den Reaktionen, die das vorliegende Interviewmaterial bei mir sowie in der Grounded-TheoryArbeitsgruppe (vgl. Kapitel 1.2.2) ausgelöst hat. So musste ich beim Transkribieren einiger Interviewpassagen längere, teilweise mehrtägige Pausen einlegen, weil mich das Material emotional sehr belastet hat. Dies war z.B. stark beim Transkribieren der Interviewpassagen zu Schwangerschaftsabbrüchen im Interview mit Gynäkologin 6 der Fall. Meine emotionalen Reaktionen umfassten Entsetzen und Abscheu über die distanzierte medizinische Betrachtungsweise bzw. Sprache (z.B. in Bezug auf den Ausdruck „Operationsprodukte“ als Begriff für die durch eine Abtreibung entfernten Föten), aber auch Traurigkeit und Betroffenheit beim Nachlesen der medizinischen Vorgangsweisen bei Abtreibungen (speziell der in Bezug auf die Maßnahmen, die ergriffen werden, damit das Kind beim in späteren Schwangerschaftswochen vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch den Geburtsvorgang nicht überlebt, also den sogenannten Fetozid). Innerhalb der Online-Grounded-Theory-Arbeitsgruppe kam es vor, dass es Teilnehmerinnen nach der Arbeit an meinem Material nicht gut ging, da sie sich von dem Gehörten und Diskutierten belastet fühlten. Dies war zum Beispiel während und nach einer Kodiersitzung der Fall, zu der ich die Schilderung über die Konsequenzen einer fehlgeschlagenen Fruchtwasserpunktion durch den Gynäkologen 5 als Arbeitsmaterial in die Gruppe gegeben hatte. Die Fruchtwasserpunktion ist eine Untersuchung, die schwangere Frauen durchführen lassen können, um bestimmte Fehlbildungen beim werdenden Kind auszuschließen. Statistisch führt diese Untersuchung in einem Prozent der Fälle zu einer Fehlgeburt. In der Interviewsequenz hat Gynäkologe 5 u.a. ausführlich beschrieben, welche juristischen
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und emotionalen Konsequenzen sich hieraus für ihn, die betroffene Frau und ihre Familie ergeben. Diese Beispiele der emotionalen Betroffenheit während der Interviewtranskription und -analyse werfen ein deutliches Licht auf die professionelle Distanz, oder die Professionalität, der Gynäkolog*innen. Denn während uns als Laien der Umgang mit diesem Wissen emotional belastete, haben die Interviewpartner*innen recht frei darüber gesprochen. Es ist ein Teil ihrer beruflichen Normalität. Diese Professionalität wird bereits im Studium als Ort der professionellen Ausbildung erworben. Gynäkologin 6 etwa, deren Interview ich als besonders belastend zu transkribieren erlebt habe, arbeitete zum Zeitpunkt des Interviews erst seit wenigen Monaten als Assistenzärztin im Krankenhaus. Zusätzlich wird auch die praktische Berufstätigkeit sicher weiter zur Verfestigung dieser professionellen Normalität beitragen. 2.1.2 Arbeitstätigkeiten in der Gynäkologie Auch die tagtäglichen Arbeitstätigkeiten der Gynäkolog*innen stellen eine Kontextbedingung dar. Denn die auszuführenden Arbeitstätigkeiten beeinflussen nicht nur, welche Emotionen erlebt werden, sondern auch, wie mit ihnen umgegangen werden kann. Dabei teilt sich die gynäkologische Arbeit grundsätzlich in einen geburtshilflichen und einen gynäkologischen Teil. Die Geburtshilfe konzentriert sich dabei auf Belange rund um die Schwangerschaft und Geburt, während die Gynäkologie sich mit Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane befasst. Im Rahmen ihrer Facharztausbildung lernen Gynäkolog*innen beide Teile ihres Fachgebiets kennen. In der späteren klinischen Tätigkeit konzentrieren sie sich häufig auf einen von beiden, da die beiden Bereiche in der Regel in verschiedenen Abteilungen organisiert sind. In der Niederlassung spielen sowohl geburtshilfliche als auch gynäkologische Aspekte eine Rolle, auch wenn einige Gynäkolog*innen Schwerpunkte in einem der Bereiche setzen (z.B. durch eine Spezialisierung auf die Behandlung von an Krebs erkrankten Frauen). Betrachtet man die Arbeitstätigkeiten der Gynäkolog*innen über die Spezialisierung und die Organisationsform (vgl. Kapitel 2.1.3) hinweg, so lassen sich die Arbeitstätigkeiten in vier Bereiche gliedern. Der größte Teil der gynäkologischen Arbeitstätigkeiten dreht sich um das Behandeln von Patientinnen, gefolgt von verschiedensten Formen von Schreibarbeiten. Kleinere Bereiche an Arbeitstätigkeiten, die nicht alle Gynäkolog*innen betreffen, sind Führungstätigkeiten und sonstige Arbeitstätigkeiten. Die Zusammenstellung der Arbeitstätigkeiten und Gruppierung in vier Bereiche entstammt der empirischen Analyse.
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Das Behandeln von Patientinnen macht den größten Teil der gynäkologischen Arbeit aus. Dazu gehört, mit der Patientin zu sprechen, sie zu untersuchen, zu behandeln oder zu operieren. Somit werden unter diesem Begriff alle Tätigkeiten zusammengefasst, die in der direkten Interaktion mit der Patientin (z.B. sprechen, untersuchen, behandeln) oder an der Patientin (z.B. operieren bei Vollnarkose) stattfinden. Neben den eigentlichen medizinisch-handwerklichen Tätigkeiten des Operierens, Behandelns und Untersuchens spielen verschiedene Formen des Sprechens mit der Patientin eine große Rolle. Das Sprechen mit der Patientin lässt sich hinsichtlich verschiedener Aspekte unterteilen. Patientinnen müssen über unterschiedliche Themen informiert und aufgeklärt werden, zum Beispiel über einen anstehenden operativen Eingriff und seine Risiken. Patientinnen müssen beraten werden, zum Beispiel über die Wirkung verschiedener Verhütungsmethoden. Zum Teil ist es auch notwendig, Patientinnen zu überzeugen. Überzeugungsarbeit muss beispielsweise geleistet werden, wenn eine Patientin einen Eingriff ablehnt, von dessen Notwendigkeit d*ie Gynäkolog*in hingegen überzeugt ist. Diese verschiedenen Aspekte des Sprechens mit den Patientinnen sind dabei lediglich idealtypisch voneinander zu trennen. Im konkreten Gespräch zwischen Gynäkolog*in und Patientin manifestieren sich häufig mehrere Aspekte. Während bei den gerade benannten Aspekten der medizinisch-informative Anteil im Vordergrund steht, dient das Sprechen mit der Patientin auch dem persönlichen Austausch über allgemeine Themen. Dennoch ist er nicht nur Geplauder ohne Selbstzweck, sondern erfüllt mitunter auch bestimmte, nachfolgend gelistete Funktionen: • das Aufrechterhalten einer Vertrauensbeziehung, indem Interesse an den per-
sönlichen Lebensumständen der Patientin signalisiert wird, • das Ablenken von unangenehmen oder tabubeladenen Untersuchungen (wenn z.B. während einer Darmuntersuchung nach den letzten Urlaubserlebnissen gefragt wird), • das In-Erfahrung-Bringen von medizinisch relevanten Umständen, die im Privaten liegen (z.B. gynäkologische Risikosituationen durch den Beruf, etwa bei Sexarbeiterinnen; oder Hinweise auf mögliche psychosomatische Ursachen von gynäkologischen Beschwerden). Insgesamt erfolgen die verschiedenen Tätigkeiten des Behandelns der Patientin (sprechen, untersuchen, behandeln, operieren) zum Teil gleichzeitig, zum Teil in wechselnden, aufeinander folgenden und aneinander anschließenden Phasen. Die mit dem Behandeln der Patientinnen verbundenen Arbeitstätigkeiten lassen sich
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weiterhin weniger mit den verschiedenen Organisationsformen (Niederlassung als Einzelpraxis oder als Gemeinschaftspraxis sowie Klinik) oder den Fachbereichen (Gynäkologie und Geburtshilfe) in Verbindung bringen. Vielmehr kann man die Beteiligung der verschiedenen Organisations- und Fachkontexte anhand von bestimmten Behandlungsverläufen nachzeichnen. So ist an der langfristigen Betreuung von an Krebs erkrankten (onkologischen) Patientinnen sowohl der oder die betreuende niedergelassene Gynäkologe oder Gynäkologin beteiligt, als auch die Gynäkolog*innen in der Klinik, welche operative Eingriffe oder andere Therapien durchführen. Die Begleitung der Schwangerschaft einer Frau findet primär durch d*en niedergelassene*n Gynäkolog*en statt. Bei besonderen Untersuchungen, wie der Fruchtwasserpunktion, oder auftretenden Schwierigkeiten, wird jedoch häufig auf die in der Klinik tätigen Gynäkolog*innen verwiesen. Diese begleiten ebenfalls in der Regel16 die (natürliche oder durch Eingriffe herbeigeführte) Geburt. Die Nachsorge übernimmt wiederum d*ie niedergelassene Gynäkolog*in. Schwangerschaftsabbrüche sind ein Bereich, der je nach medizinischem Verfahren (medikamentös, operativ oder als eingeleitete Geburt) von geburtshilflichen oder gynäkologischen Gynäkolog*innen in der Klinik durchgeführt wird. Diese Beispiele für Behandlungsverläufe weisen darüber hinaus darauf hin, dass mit dem Behandeln der Patientinnen verbundene Arbeitstätigkeiten dem Ziel nach Krankheiten vorsorgend (präventiv), Krankheiten heilend (kurativ), oder aber die Symptome und Begleiterscheinungen von Krankheiten mindernd (palliativ) wirken können. Der zweite umfangreiche Bereich an Arbeitstätigkeiten in der Gynäkologie umfasst Schreibarbeiten. Der Begriff subsumiert verschiedenste Tätigkeiten des schriftlichen Fixierens von Informationen, die zwei Zwecken dienen. Dies ist erstens die Sicherung der über die Patientin gewonnenen Erkenntnisse. Dies geschieht in der Regel in der Patientenakte. Sie wird meist rein anhand der medizinischen Informationen geführt, aber einige (niedergelassene) Gynäkolog*innen integrieren eine Spalte, in der sie private Informationen über ihre Patientinnen, zum Beispiel in Bezug auf den Studienfortschritt oder die partnerschaftliche Situation, notieren. Der zweite Zweck des sogenannten „Schriftkrams“ ist die Kommunikation mit anderen Ärzt*innen und weiteren Akteuren wie zum Beispiel den Krankenkassen. Kommunikation mit anderen Ärzt*innen meint dabei nicht nur die Kommunikation über Organisationsgrenzen hinweg, also zum Beispiel zwischen Klinikgynäkolog*in und behandelnde*m niedergelassene*n Gynäkolog*en in der Form eines Überweisungsscheins oder eines Entlassungs16 Wenn Gynäkolog*innen Geburten begleiten, so in der Regel die in den Kliniken tätigen im Unterschied zu niedergelassenen. Geburten an sich können auch in ausschließlicher Hebammenbetreuung, etwa im Geburtshaus oder als Hausgeburt, stattfinden.
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briefs, sondern auch zwischen den Gynäkolog*innen einer Organisation. Diese haben über die Patientenakte die Möglichkeit, personenunabhängig alles Wichtige über eine Patientin zu erfahren. Somit sichert die Dokumentation der gewonnenen Erkenntnisse und der daraus abgeleiteten Behandlungsschritte die personenunabhängige Behandlung der Patientin. Mit Blick auf die räumliche Organisation des „Schriftkrams“ lassen sich verschiedene Lösungen ausmachen. Die niedergelassenen Gynäkolog*innen erledigen ihre Schreibarbeiten entweder gleich an ihrem Schreibtisch in ihrem Sprechzimmer, oder aber erledigen sie von zu Hause aus. Bei den in der Klinik tätigen Gynäkolog*innen entscheidet die Hierarchiestufe darüber, ob die Gynäkolog*innen über einen festen Arbeitsplatz verfügen oder nicht. In der vorliegenden Untersuchung haben die höheren Hierarchiestufen, also Oberärzte und Chefarzt, jeweils eigene Büros mit eigenen Arbeitsplätzen. Der Chefarzt verfügt sogar über eine Sekretärin, die ihn bei Schreibarbeiten unterstützt. Die Assistenzärztinnen sowie Fachärzt*innen ohne besondere hierarchische Auszeichnung müssen sich mehrere Dienstzimmer teilen und nutzen somit jeweils den Arbeitsplatz, der frei ist. Das Verhältnis zwischen diesen beiden größten Tätigkeitsbereichen (Behandeln von Patientinnen und den Schreibarbeiten) wird von den befragten Gynäkolog*innen unterschiedlich eingeschätzt. Dabei hängt es von der wahrgenommenen Gestaltbarkeit ab, ob das Verhältnis zwischen Arbeit an den Patientinnen und Schreibarbeiten als eher positiv oder eher negativ empfunden wird. Für die niedergelassenen Gynäkolog*innen erscheint es als ein notwendiges Übel, aber die Verteilung dieser Arbeit über die Woche (zum Beispiel jeden Abend eine Stunde oder alles im Block am Samstag) und die räumliche Ausgestaltung (im Büro oder von zu Hause aus) liegen in ihrem Gestaltungsspielraum. Über einen Gestaltungsspielraum verfügt innerhalb der Klinik auch der Chefarzt, welcher seinen Anteil an Schreibarbeiten mit 30 Prozent gegenüber 70 Prozent Arbeit an den Patientinnen angibt. Er räumt ein, dass dies für seine Position das Mindestmaß an Büroarbeiten sei. Aber er verfügt über die Gestaltungsfreiheit, die für ihn wichtigen 70 Prozent Arbeitstätigkeit beim Behandeln von Patientinnen aufrecht zu erhalten. Demgegenüber gibt eine Assistenzärztin der gleichen Klinik das Verhältnis mit 60 Prozent Patientinnen behandeln gegenüber 40 Prozent Schreibarbeiten an. Dass sie mehr Schreibarbeiten hat als der hierarchisch höhergestellte Chefarzt, mutet zunächst kontraintuitiv an, wenn man davon ausgeht, dass eine höhere hierarchische Position mit einem Weniger an operativer Tätigkeit einhergeht. Allerdings kommt genau hier der fehlende Gestaltungsspielraum zum Tragen. Die Assistenzärzt*innen bekommen ihre Arbeitsaufgaben von den höheren Hierarchiestufen zugewiesen. Sie übernehmen, gerade zu
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Beginn ihrer Assistenzzeit, viele vorbereitende Aufgaben wie die Aufnahme von Patientinnen oder die Aufklärung über anstehende Eingriffe. Mit diesen Tätigkeiten ist vermutlich auch mehr Dokumentationsaufwand verbunden. Der fehlende Gestaltungsspielraum bei der Übernahme von Arbeitstätigkeiten mag dann zu einer Unzufriedenheit über den hohen Anteil an Schreibarbeiten beitragen: „wir müssen ja viel Papier auch bewältigen“ (G6, Assistenzärztin Klinik). Insgesamt zeigt sich der geringere, eher ungeliebte Status der Schreibarbeiten gegenüber dem Behandeln von Patientinnen an Formulierungen wie „Schriftkram“ (G10, niedergelassene Gynäkologin) oder „viele Gutachten und so’n Zeug“ (G4, niedergelassene Gynäkologin). Ein dritter Teilbereich an Arbeitstätigkeiten umfasst die Mitarbeiterführung. Von diesem Aufgabenbereich sind neben allen niedergelassenen Gynäkolog*innen die hierarchisch höher stehenden Gynäkolog*innen in der Klinik betroffen. Die damit verbundenen Aufgaben wurden im Rahmen der Interviews eher nebenbei erwähnt. Die niedergelassenen Gynäkolog*innen nehmen als Praxisinhabende Führungsaufgaben gegenüber den Arzthelfer*innen wahr. Beispielhaft erwähnt wurden arbeitsschutzorientierte Belehrungen, die durchgeführt werden müssen. Demgegenüber richten sich die Führungsaufgaben, von denen der Chefarzt der Klinik berichtet, auf das ärztlich-gynäkologische Team. Als Beispiel nennt er die Personalplanung und Aufgabenverteilung, also wer z.B. Operationen durchführt oder Sprechstunden betreut. Zuletzt lassen sich in einem vierten Bereich sonstige Arbeitstätigkeiten zusammenfassen, wie zum Beispiel die medizinischen Geräte im Krankenhaus zu warten und zu pflegen, oder in der Niederlassung mit Pharmareferent*innen zu sprechen, um sich über neue Medikamente zu informieren. Für die folgenden Kapitel spielen diese letzten beiden Bereiche an Arbeitstätigkeiten allerdings eine untergeordnete Rolle, da der Schwerpunkt auf dem Umgang mit Emotionen liegen wird, die durch den Kontakt mit Patientinnen, wie im Punkt ‚Behandeln von Patientinnen‘ ausgeführt, ausgelöst werden. 2.1.3 Organisationsformen gynäkologischer Arbeit Zur Bestimmung der Kontextbedingungen gynäkologischer Arbeit ist es weiterhin wichtig, die Organisationsform zu berücksichtigen, in der diese Arbeit erbracht wird. In der vorgelegten Untersuchung lassen sich zwei Organisationsformen unterscheiden. Dies ist erstens die Organisationsform ‚Klinik‘ und zweitens die Organisationsform ‚Niederlassung‘. Letztere findet sich im Sample in zwei Ausprägungen. Zum einen gibt es die Niederlassung eine*s einzelnen Gynäkolog*en in einer Einzelpraxis, zum anderen die Niederlassung mehrerer Gy-
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näkolog*innen in einer Gemeinschaftspraxis17. Die Interviewpartner*innen teilen sich so auf diese Formen auf: Darstellung 5: Verteilung der Interviewpartner*innen auf die Organisationsformen Organisationsform: Interviewpartner*in: Gynäkologin 1 (G1) Gynäkologin 2 (G2) Gynäkologe 3 (G3) Gynäkologin 4 (G4) Gynäkologe 5 (G5) Gynäkologin 618 (G6) Gynäkologe 7 (G7) Gynäkologin 8 (G8) Gynäkologe 9 (G9) Gynäkologin 10 (G10)
Niederlassung Einzelpraxis Gemeinschaftspraxis X X X X
Klinik
X X X X X X
Im Folgenden werden diese Organisationsformen (Einzelpraxis und Gemeinschaftspraxis als Varianten der Niederlassung sowie Klinik) anhand der Merkmale formale Beschäftigungsform, personelles Umfeld, Struktur und Dauer der Arbeitszeit sowie Arbeitspensum genauer charakterisiert. Es handelt sich dabei nicht um eine literaturbasierte Darstellung dieser Merkmale als Charakteristika der Organisation gynäkologischer Arbeit im Allgemeinen, sondern erneut um die empiriebasierte Darstellung der spezifischen Organisationsformen der gynäkologischen Arbeit der Interviewpartner*innen. Die Interviews mit in verschiedenen
17 Auf die Praxisgemeinschaft als einer weiteren Form des niedergelassenen Zusammenschlusses mehrerer Ärzte wird im Folgenden nicht eingegangen, weil diese nicht Teil meines Samples ist. Gleiches gilt für alle weiteren Spielarten der Grundformen ‚Klinik‘ und ‚Niederlassung‘. 18 Streng genommen sind Gynäkologin 6 und 8 noch keine Gynäkologinnen, da sie sich noch in der Ausbildung zur Fachärztin befinden. Ich verbleibe dennoch bei der Bezeichnung „Gynäkologe/ Gynäkologin“ für alle Interviewpartner*innen, zumal diese beiden durch das Durchführen der Ausbildung, welche sie berechtigt, den Titel „Fachärztin für Gynäkologie“ zu tragen, ihre Absicht bekunden, Gynäkologinnen zu werden.
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Organisationsformen tätigen Gynäkolog*innen haben gezeigt, dass sich die tägliche Arbeit und Arbeitsorganisation von niedergelassenen Gynäkolog*innen deutlich von der Arbeit der in Kliniken Beschäftigten unterscheidet. Die jeweiligen Ausprägungen der Merkmale, anhand derer die Organisationsformen im Folgenden charakterisiert werden, haben auch Einfluss auf den Umgang mit Emotionen und werden somit an dieser Stelle beschrieben, um an späterer Stelle auf diese Unterschiede zurückgreifen zu können. In Bezug auf die formale Beschäftigungsform verhält es sich so, dass alle niedergelassenen Gynäkolog*innen (also G1, G2, G3, G4 und G10) selbstständig tätig sind. Alle in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen (G5 bis G9) befinden sich in einem Anstellungsverhältnis. Dieses ist, je nach Position in der Hierarchie der Klinik, tarifgebunden (z.B. Assistenzärztinnen) oder außertariflich (z.B. Oberärzte). Somit erhalten die in einer Klinik tätigen Gynäkolog*innen in meinem Sample ein Gehalt, während die niedergelassenen Gynäkolog*innen als durchweg Selbständige ihre Einkünfte aus ihrer selbstständigen Tätigkeit heraus erzielen. Eine Besonderheit stellt hierbei die Gemeinschaftspraxis dar, in der die Gewinne der Praxis gemeinsam erwirtschaftet und anschließend gleichmäßig geteilt werden: „Wir sind ’ne Gemeinschaftspraxis, das heißt, wir wirtschaften gemeinsam alles in einen Topf und teilen’s durch zwei und Schluss. […]19 Weil Gemeinschaftspraxen sind ganz wenige, weil da muss man sich wirklich gut verstehen, sonst geht das immer wegen des Geldes irgendwann in die Brüche (sie lacht), nor.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Darüber hinaus kennzeichnet die Gemeinschaftspraxis, dass beide Gynäkolog*innen getrennte Patientinnenstämme haben, also Patientinnen, die jeweils ausschließlich (außer in Ausnahmefällen wie zum Beispiel Urlaubszeiten) von einem der beiden betreut werden. Außerdem haben beide eigenes Personal in dem Sinne, dass die Mitarbeiterinnen sich auf die Zuarbeit zu eine*r Gynäkolog*in aufteilen. Das personelle Umfeld im Sinne des Mitarbeiter*innen- und Kolleg*innenkreises, mit dem die Gynäkolog*innen täglich zu tun haben, wurde im Rahmen des Kurzfragebogens (Anhang A) erfasst. Es unterscheidet sich ebenfalls entlang der drei Organisationsformen Niederlassung als Einzelpraxis oder als Gemeinschaftspraxis sowie Klinik. Die befragten niedergelassenen Gynäko19 Diese Markierung (eckige Klammern mit drei Punkten darin) bezeichnet, dass im wiedergegebenen Zitat ein Stück des Interviewtranskripts ausgelassen wurden. Solche Kürzungen sollen die Nachvollziehbarkeit für die Lesenden erhöhen, ohne hierdurch den Sinn der zitierten Passage zu verfälschen.
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log*innen in einer Einzelpraxis benennen als personelles Umfeld, mit dem sie täglich zu tun haben, ausschließlich ihre Arzthelferinnen. Dabei soll der Begriff der Arzthelferin hier alle gelernten Kräfte umfassen, die in einer Niederlassung den Arzt bei seiner Tätigkeit unterstützen. Als Ausbildungsberufe umfasst dies seit 2006 das Berufsbild der medizinischen Fachangestellten sowie Krankenschwestern. In der ehemaligen DDR war die Ausbildung zur Krankenschwester nach Aussage von Gynäkologin 10 die Grundlage für die Arbeit in einer Arztpraxis. Einzelne Interviewpartner*innen beschäftigen auch Hebammen oder Kinderkrankenschwestern als Arzthelferinnen. Der Begriff der Sprechstundenhilfe ist ungelernten Mitarbeiter*innen vorbehalten. In meinem Sample beschäftigt nur ein Gynäkologe eine fachfremde Mitarbeiterin, die jedoch auch eine abgeschlossene Ausbildung in einem anderen Bereich vorweisen kann. Zusätzlich zu den Arzthelferinnen umschließt das personelle Umfeld in der Gemeinschaftspraxis einen ärztlichen Partner, der ebenfalls Gynäkologe ist. Die Zahl der Arzthelferinnen bzw. Mitarbeiterinnen liegt in den untersuchten Niederlassungen zwischen zwei und drei (Einzelpraxen) bzw. sechs (Gemeinschaftspraxis). Das personelle Umfeld stellt sich in der untersuchten Klinik deutlich komplexer dar. Den Kern bildet der ärztlich-gynäkologische Kolleg*innenkreis mit insgesamt neun Mitgliedern. Hierbei sind nach der formalen Qualifizierung vier Assistenzärzt*innen in Weiterbildung zum Facharzt bzw. zur Fachärztin für Gynäkologie. Die anderen fünf Gynäkolog*innen haben ihren Facharzttitel bereits erworben. Hierarchisch teilen sich die 9 Teammitglieder in einen Chefarzt, drei Oberärzte, einen Facharzt und vier Assistenzärztinnen auf. Aus diesem Team von neun Ärzt*innen habe ich fünf interviewt, wobei alle Hierarchiestufen von der Assistenzärztin bis zum Chefarzt vertreten sind. Neben diesem Kern gibt es einen weiten Kreis an Klinikmitarbeiter*innen, mit denen die Gynäkolog*innen täglich bzw. häufiger Kontakt haben. Dazu gehören primär (Kinder)Krankenpfleger*innen und Hebammen, aber unter anderen auch Radiolog*innen, Neonatolog*innen, Anästhesist*innen, Patholog*innen und viele mehr. Auffallend ist, dass mit Zunahme der direkt vor Ort befindlichen ärztlichen bzw. gynäkologischen Kolleg*innen die Bedeutung der nichtgynäkologischen, teilweise zuarbeitenden Mitarbeiter*innen abnimmt. Während alle niedergelassenen Gynäkolog*innen ihre Mitarbeiterinnenanzahl, Bezeichnung und zum Teil auch deren Arbeitszeitstruktur beschreiben, erwähnen demgegenüber zwei der fünf befragten Gynäkolog*innen aus der Klinik nichtgynäkologische Mitarbeiter überhaupt nicht. Hinsichtlich der Struktur und Dauer der Arbeitszeit fällt auf, dass die tägliche Arbeit der niedergelassenen Gynäkolog*innen grundsätzlich durch ihre Sprechzeiten bestimmt und strukturiert wird. Dabei beginnt das Behandeln von
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Patientinnen in der Regel vor dem offiziellen Sprechstundenbeginn und geht auch deutlich über das offizielle Ende der Sprechzeit hinaus. Innerhalb der Sprechzeitenblöcke finden sich nur teilweise Maßnahmen der Gynäkolog*innen, die Anliegen der Patientinnen thematisch zu strukturieren. So versucht eine Gynäkologin, alle schwangeren Patientinnen auf einen Tag in der Woche zu konzentrieren, und eine andere hat sich einen „Tumor-Tag“ eingerichtet, an dem sie ausschließlich an Krebs erkrankte Patientinnen betreut. Neben dem Behandeln von Patientinnen und damit ggf. verbundenen Hausbesuchen richtet sich ein zweiter größerer Arbeitsblock auf Posteingang und eigene Schreibarbeiten. Hier unterscheiden sich die Modelle der Bewältigung: während manche täglich noch eine oder mehrere Stunden daran arbeiten, nehmen andere sich einen der Wochenendtage für Schreibarbeiten. Und auch räumlich wird diese Arbeit zum Teil in der Praxis, zum Teil aber auch von zu Hause aus erledigt. Weitere, zusätzliche Arbeiten ergeben sich unter anderem aus eigenen Behörden- und Bankbesuchen, dem Vorsprechen von Pharma- oder anderen Referent*innen und Materialeinkäufen. Der genaue zeitliche Umfang der täglichen oder wöchentlichen Arbeit wurde in den Interviews nicht erfragt. Johnsen und Sattler (2005) geben jedoch für eine Untersuchung von niedergelassen Ärzt*innen an, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei Fachärzt*innen (16,3 % davon Gynäkolog*innen) bei 54,09 Stunden liegt. Sie ist damit leicht niedriger als die durchschnittliche Wochenarbeitszeit über alle Befragten (Hausärzt*innen, Fachärzt*innen, Psychotherapeut*innen) hinweg (55,98 Wochenstunden). Der große Anteil an Patientensprechstunden (32,22 Stunden) und Verwaltungsarbeit (8,18 Stunden), bezogen auf den Wochendurchschnitt aller befragten Ärzt*innen (Johnsen/ Sattler 2005: 6), deckt sich mit der Gewichtung der Arbeitsaufgaben bei den für die vorliegende Untersuchung interviewten niedergelassenen Gynäkolog*innen. Zu diesen Arbeitszeiten kommen noch Zeiten für Weiterbildungen hinzu, welche häufig an den Wochenenden besucht werden. Die Teilnahme an Weiterbildungen ist dabei nicht durchweg freiwillig, sondern in einem bestimmten zeitlichen Umfang verpflichtend für niedergelassene Gynäkolog*innen. Somit nehmen die zu einer Niederlassung gehörigen Arbeiten einen großen Teil der Woche ein und beschränken entsprechend die Freizeit. Mit Blick auf die Weiterbildungen fasst Gynäkologin 2 das so zusammen: „Und das ist nicht zu knapp, weil wir ja als Ärzte auch verpflichtet sind, gewisse Punkte zu erwirtschaften, Qualitätsfortbildungspunkte, […] weil es ihnen sonst an die Zulassung geht. Und, also ich bin schon, ich möchte mal sagen, ein Samstag im Monat mal grob gerechnet, äh, plane ich noch mal für Fortbildung, ja. So dass also so der so genannte Frei-
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zeitbereich also sich (..)20 weitestgehend dann auf den Sonntag beschränkt beziehungsweise auf die Sonnabende, die frei sind, wo nichts ansteht, ne.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Die Arbeit in der Klinik unterscheidet sich in der Strukturierung des Arbeitstages grundsätzlich von der der niedergelassenen Gynäkolog*innen. Während der Tagesablauf ersterer durch die Sprechzeiten strukturiert wird, sind das hauptsächliche Strukturierungselement der ‚Klinikgynäkolog*innen‘ die Besprechungen, welche den Arbeitstag beginnen und beenden21. Grafisch lässt sich die Struktur eines Arbeitstages in der Klinik so darstellen22: Darstellung 6: Die zeitliche Struktur des Arbeitstages in der Klinik
Verlassen der Klinik Ankunft
Besprechung
Stationsarbeit
Besprechung
oder Beginn 1. Dienst
vielfältige, bedingt planbare Aufgaben 7:15 Uhr
15:15 Uhr
20 In Interviewzitaten verweisen runde Klammern auf Pausen im Gesagten. (..) meint eine zweisekündige Pause, ab 3 Sekunden wird die Pausendauer als Zahl angegeben (z.B. (3)). 21 Dass der im Folgenden geschilderte Tagesablauf nicht nur für die Gynäkologie, sondern auch für andere meizinische Bereiche in Krankenhäusern typisch ist, zeigt zum Beispiel der bei Handrich, Koch-Falkenberg und Voß (2016: 80ff.) beschriebene Tätigkeitsablauf in Chriurgie und Innerer Medizin. 22 Die Darstellung basiert auf den Ergebnissen eines gemeinsamen offenen Kodierens mit der Skype-Grounded Theory Methodologie-Gruppe (vgl. Kapitel 1.2.2) und wurde stellvertretend für alle Klinikgynäkolog*innen anhand des Interviews mit Gynäkologin 6 entwickelt.
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Ein normaler Arbeitstag beginnt für die Klinikgynäkolog*innen um 7:15 Uhr mit einer Übergabe durch d*ie Gynäkolog*in, welche den ersten Dienst in der vergangenen Nacht versehen hat. Hierzu muss erläutert werden, dass es neben dem normalen, in Darstellung 6 skizzierten Arbeitstag noch zwei Arten von Diensten in dieser Klinik gibt. Der sogenannte ‚erste Dienst‘ wird von eine*m Gynäkolog*en abgedeckt, welche*r 24 Stunden in der Klinik anwesend bleibt. Der ‚zweite Dienst‘ findet durch eine*n erfahrene*n Facharzt oder Fachärztin statt, welche*r nicht in der Klinik anwesend ist. Auch als ‚Hintergrunddienst‘ bezeichnet ist er oder sie während der Dienstzeit zu Hause jederzeit verfügbar, um im Notfall in die Klinik zu kommen und den ersten Dienst zu unterstützen. An die Übergabe durch d*en Gynäkolog*en, welche*r den ersten Dienst in der vorhergehenden Nacht versehen hat, schließt sich eine Visite und eine abteilungsübergreifende Besprechung an, in der die für den Tag anstehenden Aufgaben verteilt werden. Hierauf folgt der längere Zeitblock der Stationsarbeit, in dem jede*r den individuellen Aufgaben nachgeht. Der Arbeitstag schließt gegen 15:15 Uhr nach einer erneuten Besprechung des Tagesgeschehens und einer Übergabe an d*ie Gynäkolog*in, welche den folgenden ersten Dienst versehen wird. Das Besondere an der zeitlichen Struktur der Arbeit in der Klinik ist, dass die morgendliche und nachmittägliche Besprechung einen festen Rahmen bilden, der sich jeden Tag wiederholt. Zwar findet auch der mittlere Block der Stationsarbeit jeden Tag statt, aber die hierin übernommenen Arbeitsaufgaben variieren. Sie werden morgens festgelegt und aufgeteilt, beinhalten aber auch vielfältige nichtplanbare Elemente. Die Besprechungen bilden somit nicht nur einen Rahmen, sondern sind auch ein Mittel, sich an den nicht-planbaren Teil des Arbeitstages mittels des geplanten, fixen Tagesordnungspunktes ‚Besprechung‘ heranzutasten und am Ende des Tages wieder herauszuleiten. Der Tag beginnt geordnet und endet geordnet. Die Bedeutung einer solchen Struktur wird im Interview mit Gynäkologin 6, welche als Berufsanfängerin erst wenige Monate als Assistenzärztin arbeitet, besonders deutlich. Neben diesem übergreifenden Tagesablauf gibt es für einzelne Gynäkolog*innen weitere strukturierende Elemente wie Sprechstunden oder Operationsarbeit, welche sich um die Behandlung der Patientinnen drehen. Doch auch in der Klinik nimmt die Schreibarbeit (zum Beispiel das Schreiben von Entlassungsbriefen für d*en niedergelassene*n Gynäkolog*en) einige Zeit ein. Weitere Aufgaben, wie zum Beispiel die Pflege und Wartung der technischen Geräte, kommen ebenfalls dazu und müssen nebenbei bewältigt werden. Die Dauer der Arbeitszeit ist für die tariflich eingruppierten Gynäkolog*innen (z.B. Assistenzärzt*innen) tarifvertraglich geregelt. Dabei umfasst die Arbeitszeit in der untersuchten Klinik im Normalfall neben der täglichen Arbeit
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von 7:15 bis 15:15 Uhr ca. 4 bis 5 (erste) Dienste im Monat. Bei den außertariflich eingruppierten Gynäkolog*innen (z.B. Oberärzte) entfallen zwar die ersten Dienste, dafür müssen sie regelmäßig im zweiten Dienst als Hintergrundbereitschaft zur Verfügung stehen. Außerdem verlassen die hierarchisch höher stehenden, außertariflichen Gynäkolog*innen die Klinik ihren Berichten nach in der Regel erst im Laufe des frühen Abends. Exakte Arbeitsstunden wurden auch für die in der Klinik tätigen Gynäkolog*innen nicht erhoben. Auch in Bezug auf das Arbeitspensum23 unterteilt sich die folgende Darstellung in niedergelassene und in der Klinik tätige Gynäkolog*innen. In der Niederlassung lässt sich das Arbeitspensum mit dem Patientinnenaufkommen gleichsetzen. Das Gesamtvolumen der Arbeit wird einerseits in dem oben bereits beschriebenen Umfang der Sprechstunden angegeben, andererseits aber auch in der Zahl der Patientinnenkontakte, zum Beispiel pro Tag oder im Quartal. Die Patientinnen sind der Auslöser für die Arbeit, welche d*ie Gynäkolog*in zu leisten hat. Und zwar einmal im direkten Patientinnenkontakt während der Sprechzeit, zum anderen aber auch durch die vor- oder nachgelagerte Schreibarbeit, um die Kommunikation mit anderen Instanzen (z.B. Kliniken) über diese Patientinnen zu gewährleisten. Das Patientinnenaufkommen lässt sich in einen geplanten und einen ungeplanten Arbeitsanteil unterteilen. Die Gynäkolog*innen versuchen durchaus, ihr Arbeitspensum zu regulieren, in dem sie bestimmte Regeln aufstellen und damit den Arbeitstag und das Arbeitspensum planen. Neben der Grundstruktur der Sprechzeitenblöcke über die Woche gehören dazu Regeln der Terminvergabe (z.B. wieviel Minuten pro Termin eingeplant werden und wie viele Patientinnen pro Sprechzeitblock), und Regeln, wann Patientinnen (auch) ohne Termin kommen können. Neben dem geplanten gibt es den ungeplanten Arbeitsanteil, welcher mehrere Ursachen hat. Zahlenmäßig am häufigsten entsteht ungeplantes Patientinnenaufkommen dadurch, dass Patientinnen mit akuten Beschwerden die Praxis aufsuchen und für sie ein Platz im geplanten zeitlichen Tagesablauf gefunden werden muss. Aber auch bewusste Entscheidungen der Gynäkolog*innen können im konkreten Tagesablauf zu ungeplantem Patientinnenaufkommen führen. Dies ist zum Beispiel bei Gynäkologin 1 der Fall. Sie hat sich bewusst dafür 23 Der Begriff ‚Arbeitspensum‘ wird hier im Sinne seiner Begriffsherkunft verwendet. Unter einem ‚Pensum‘ ist demnach eine „Aufgabe, Arbeit, die innerhalb einer bestimmten Zeit zu erledigen ist“ (Duden 2007: 778) zu verstehen. Explizit nicht gemeint ist die in der sich auf Taylor beziehenden Verwendung des Begriffs mitschwingende Konnotation, dass ein solches Pensum z.B. als Tagespensum wissenschaftlich zu ermitteln und vom Management bzw. Arbeitsbüro vorzuschreiben ist (vgl. Kieser 2014: 83ff., Taylor 1995 [1913]: 128ff.).
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entschieden, dass Frauen, die sie erneut zu einem Gespräch einbestellen muss (z.B. weil sich ein Verdacht auf eine schlimme Diagnose bestätigt hat), dann in die Sprechstunde kommen können, wann es ihnen passt. Die Entscheidung, diesen Frauen eine umständliche Terminvergabe und Wartezeiten zu ersparen, bedeutet für sie eine gewisse Unplanbarkeit im Tagesablauf. In gewisser Weise knüpft sich das Akzeptieren der Unplanbarkeit dieser Patientin an ein Merkmal der Patientin selbst: sie wird zu einer Gruppe zugeordnet (emotional belastete Patientin aufgrund medizinischer Diagnose), die deswegen vom gewohnten Schema abweichen darf. Ein weiteres Beispiel hierfür sind inhaftierte Patientinnen, die aufgrund ihres Status ‚Häftling‘ unter Bewachung in die Praxis gebracht werden und direkt, ohne Wartezeiten, in den Behandlungsraum gebracht werden müssen. Die niedergelassenen Gynäkolog*innen versuchen also, ihr Arbeitspensum zu planen, indem sie das Erscheinen der Patientinnen planen. Dennoch ist das Arbeitspensum, aufgrund von nicht-planbarem Patientinnenaufkommen, nie völlig vorherbestimmbar. Folglich dient die ausgewiesene Sprechzeit eher als Richtlinie für die Patientinnen und wird im tatsächlichen Tages- und Arbeitsablauf häufig überschritten. Selbst in den Praxen, die eine vergleichsweise niedrige Zahl an Patientinnenkontakten pro Quartal haben, gibt es nur sehr selten Leerlauf im Sinne eines leeren Wartezimmers. Und ein hohes Patientinnenaufkommen äußert sich in einem vollen Wartezimmer. Das volle Wartezimmer scheint ein Sinnbild für eine Art ‚Stau‘ an Patientinnen zu sein, der verstärkt wird, wenn viele ungeplante Elemente hinzukommen, die das ‚Leerarbeiten‘ des Wartezimmers verzögern. Dies führt für die Gynäkolog*innen zu anstrengenden Tagen: „Ja, wenn dann so Tage sind, wo man dann schon früh bevor man kommt schon drei unbestellte Patienten da sind und dann, da merkt man dann schon manchmal wenn sich so’n Stress bisschen aufbaut und man merkt dies wird ’nen Tag, der halt so, so ’nen bisschen in sich hat“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Die Anstrengung hängt dabei nicht nur mit dem Zeitumfang der Arbeit, sondern auch mit der Arbeitsintensität zusammen. Ein hohes Patientinnenaufkommen verkürzt die Zeitspanne und das Maß an Aufmerksamkeit, welche d*ie Gynäkolog*in der einzelnen Patientin widmen kann. Der so entstehende Zeitdruck, verbunden mit dem Gefühl, hinter den eigenen Ansprüchen an Aufmerksamkeit und Zuwendung zur einzelnen Patientin zurückzubleiben, ist belastend. Dies kann dazu führen, dass Gynäkolog*innen nach Wegen suchen, um den Zeitumfang und die Arbeitsintensität zu reduzieren, um der eigenen Belastbarkeit und der eigenen Work-Life-Balance Rechnung zu tragen. Allerdings greifen die zur Ver-
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fügung stehenden Maßnahmen nur mittel- bis langfristig. Entscheidet ein*e Gynäkolog*in zum Beispiel, weniger Termine pro Tag zu vergeben, lässt sich die Entscheidung erst für alle ab dem Zeitpunkt der Entscheidung vergebenen Termine realisieren. Damit führt die Maßnahme bei einem über Wochen bis Monate vollen Terminbuch entsprechend langsam zu einem niedrigeren Zeitumfang bzw. einer geringeren Arbeitsintensität. Auf der anderen Seite gibt es ebenso Gynäkolog*innen, die ein solches Bedürfnis nicht verspüren und deren Work-LifeBalance vom Zeitumfang her einen deutlich Schwerpunkt im Bereich ‚Arbeit‘ hat. Auch in der untersuchten Klinik wird das Arbeitspensum weitestgehend durch das Patientinnenaufkommen bestimmt, und lässt sich ebenfalls in planbares und unplanbares Arbeitsaufkommen unterscheiden. Als planbar wird zunächst einmal die Zuteilung zu den Aufgaben für den nächsten Tag wahrgenommen, welche der Chefarzt vornimmt und am Nachmittag für den nächsten Arbeitstag verschickt. So ist erkennbar, welchen Zuständigkeitsbereich (zum Beispiel für den Kreißsaal, eine Station oder eine Sprechstunde) ein*e Gynäkolog*in am nächsten Tag haben wird. Dieses zeitlich vorbereitende Element wird durch die oben in Darstellung 6 skizzierte feste Zeitstruktur aus den Tag einleitender und beschließender Besprechung unterstützt. Der dort markierte, große nicht-planbare Bereich enthält noch weitere fixe Elemente: so werden in der untersuchten Klinik täglich zwei mehrstündige Sprechstunden durchgeführt, eine fach- bzw. oberarztgeleitete zur Pränataldiagnostik bei Schwangeren und eine operationsvorbereitende Sprechstunde, welche häufig von Assistenzärzt*innen übernommen wird. Auch das am Vortag festgelegte Operationsprogramm erscheint als planbares Element. Dieses kann jedoch durch spontane Verschiebungen oder anstehende Notfalloperationen noch durcheinandergewirbelt werden, so dass es eine gewisse nicht-planbare Komponente enthält. Die zwei größten Quellen für nicht-planbares Arbeitsaufkommen stellen jedoch Zugänge durch die Notfallambulanz und der Kreißsaal dar – „weil die Geburtshilfe ist ’nen Überraschungsphänomen“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik). Das Ausmaß dieser Nicht-Planbarkeit, bedingt durch Verschiebungen im Operationsprogramm, Entbindungen im Kreißsaal und Zugängen durch die Notfallambulanz, ist deutlich höher als in der Niederlassung. Gynäkologe 7, der als Chefarzt eigentlich eine hohe Gestaltbarkeit der eigenen Aufgaben und der seiner Kolleg*innen wahrnehmen kann, formuliert dennoch: „Natürlich ist nicht ein Tag wie der andere [hm]. Das ist völlig klar und es ist ja immer eigentlich unberechenbar, was auf einen zu, zukommt [hm, hm], ne.“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
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Zu dem aus dem Patientinnenaufkommen resultierenden Arbeitsumfang gesellen sich weiterhin die oben bereits beschriebenen anderen Aufgaben wie Schreibarbeiten, administrative Aufgaben insbesondere im Zusammenhang mit der Chefarzttätigkeit, Informationsabende für Schwangere und technische Aufgaben wie die Wartung der Geräte. Diese haben teilweise eigene, relativ fixe Zeitfenster, teilweise laufen sie neben den anderen Aufgaben her, so dass „halt auch immer irgendwas zu tun [ist, Ergänzung KR], ne.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik). Für die Fachärzt*innen, insbesondere solche in den leitenden Funktionen der Oberärzt*innen oder des Chefarztes, resultiert hieraus ähnlich wie für die niedergelassenen Gynäkolog*innen eine deutliche Ausweitung ihrer Arbeitszeit über die in Darstellung 6 abgebildete Zeitschiene hinaus. Für die Assistenzärzt*innen hingegen ergibt sich eine solche Ausweitung der Arbeitszeit eher nicht, so dass hier funktions- bzw. tarifbedingte Unterschiede innerhalb der Klinik erkennbar sind. Zudem ist das Arbeitspensum zwar in der Klinik insgesamt ebenfalls hoch, durch die Einteilung in Zuständigkeiten und Dienste muss es aber nicht von eine*m einzelne*n Gynäkolog*en bewältigt werden, sondern kann (zum Beispiel durch die nachmittägliche Ablösung zum Dienst) an andere weitergegeben werden und erscheint so im Unterschied zur Niederlassung als fließender. Insgesamt bleibt anzumerken, dass sich kaum Hinweise auf externe Einflüsse auf das Arbeitspensum und das Patientinnenaufkommen finden, wie sie etwa durch Leitlinien des Managements oder Spezifika der krankenhausweiten Operationssaalzuteilung und -planung entstehen können. Somit lässt sich auch über Reduzierungsmöglichkeiten des Arbeitspensums (und etwaig vorhandene -wünsche), im Unterschied zur Niederlassung, keine Aussage treffen.
2.2 EMOTIONEN Im Folgenden wird sich Kapitel 2.2.1 zunächst mit dem Emotionsbegriff beschäftigen, indem verschiedene Emotionsdefinitionen und eine Klassifizierung von Emotionen vorgestellt werden. Im nächsten Schritt wende ich in Kapitel 2.2.2 meinen Blick von der Vielfalt emotionsbezogener Forschung hin zum konkreten empirischen Gegenstand der vorliegenden Arbeit und gebe einen Überblick über die in der vorliegenden Untersuchung relevanten Einzelemotionen. Ausgewählte Einzelemotionen, denen in der gynäkologischen Arbeit eine besondere Rolle zukommt, werden dann detailliert diskutiert. So soll anhand der vertieften Betrachtung von ausgewählten Einzelemotionen, nämlich Angst, Empa-
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thie und Mitleid, ein Eindruck der konkreten Gefühlswelt der Gynäkolog*innen vermittelt werden. 2.2.1 Zum Emotionsbegriff Was sind denn eigentlich Emotionen? Betrachtet man zunächst die Wortherkunft, so stammt der Begriff vom lateinischen „emotio“ ab, der aus dem Wortstamm „movere“ abgeleitet, auf ein bewegendes und ergreifendes Element von Emotionen verweist (Roth 2003: 285). Ein Blick in „Das Fremdwörterbuch“ des Duden (2007: 273) zeigt, dass die Emotion eine Gemütsbewegung, seelische Erregung oder auch ein Gefühlszustand sei. Betritt man nun die wissenschaftliche Diskussion zum Thema, stellt man fest, dass die Frage nach dem Wesen von Emotionen trotz ihrer vermeintlichen Einfachheit schwierig zu beantworten ist. Ashkanasy (2003: 11) beschreibt die Vielfalt an Definitionen und überlappenden Begriffen gar als „one of the most frustating issues confronting writers and readers in the emotion literature“. Zunächst einmal gibt es zahlreiche Arbeiten, welche den Begriff ‚Emotion‘ nicht näher spezifizieren (vgl. Steger 2001: 78). Wird er doch diskutiert, so sind die Vorstellungen, Konzepte und Theorien so unterschiedlich, dass eine einheitliche Klärung kaum möglich erscheint: bis heute gibt es keinen Konsens über die Definition des Begriffs ‚Emotion‘ (Izard 2010: 363). Dies mag u.a. damit zusammenhängen, dass sich diesem Thema eine Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen24, und zwar mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten und dementsprechend auch unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Gegenstand, widmen (Küpers/ Weibler 2008: 258). Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Emotionen im Arbeitskontext ist nicht neu, und hat spätestens seit Hochschild’s Studien (2006 [1983]) einen enormen Aufschwung erfahren. Dennoch, oder gerade wegen einem großen Interesse an dem Thema und mehreren dazu forschenden Disziplinen, fehlt es an Übersichtlichkeit in diesem Forschungsbereich. Ashkanasy (2003) hat aus diesem Grund eine Mehrebenensystematik vorgelegt, in der er die Forschungen zum Phänomen ‚Emotionen in Organisationen‘ entlang der fünf Ebenen intrapersonal, zwischen Personen, interpersonelle Interaktionen, Gruppen und organisationsweit ordnet. Folgt man dieser Ebeneneintei-
24 Eine Einführung in die Beschäftigung mit Emotionen in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie, BWL, Psychologie, Philosophie oder Geschichte findet sich z.B. in den in den Sammelbänden von Lewis und Haviland-Jones (2000) bzw. Lewis, Haviland-Jones und Barrett (2010) und Schützeichel (2006) versammelten Aufsätzen.
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lung, so bewegt sich die vorliegende Arbeit vor allem auf der intrapersonellen Ebene und der Ebene der interpersonellen Interaktionen. Definitionen von Emotionen Hinsichtlich der Definition von Emotionen interessieren sich zum Beispiel Psycholog*innen meist vor allem für die individuellen Funktionen und Folgen von Emotionen. Dementsprechend findet sich in einem gängigen Einführungswerk der Psychologie folgendes Verständnis: „Emotion als ein komplexes Muster körperlicher und mentaler Veränderungen, darunter physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Reaktionen im Verhalten als Antwort auf eine Situation, die als persönlich bedeutsam wahrgenommen wurde.“ (Zimbardo/ Gerrig 2008: 454, Hervorhebung im Original).
Komplexer ist eine Definition von Kleinginna und Kleinginna (1981), welche auf dem Versuch beruht, 92 ausgewählte publizierte Definitionen sowie neun skeptische Statements zu klassifizieren. Sie tragen damit der Einsicht Rechnung, dass eine innerdisziplinär einheitliche Definition zu jener Zeit nicht möglich erschien, und versuchen, möglichst viele der vorab identifizierten Kategorien zu integrieren: „Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neutral/hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goal-directed, and adaptive.” (Kleinginna/ Kleinginna 1981: 355, kursiv im Original)
Izard (2010) greift diese Idee ein Vierteljahrhundert später wieder auf. Er befragt 35 ausgewählte Wissenschaftler zu ihrem Emotionsverständnis und kommt nach Sichtung der Ergebnisse zu dem Schluss, dass sich die neurowissenschaftliche und psychologische Forschung auch bis dato auf keine einheitliche Definition geeinigt hat. Dennoch sind die von den Befragten gelieferten Definitionen nicht als unverbunden zu werten, sondern stehen in Beziehung zueinander und sind eher als Aspekte von Emotionen zu denken (Izard 2010: 367). Anstelle einer Definition versucht auch er eine zusammenfassende Beschreibung:
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„Emotion consists of neural circuits (that are at least partially dedicated), response systems, and a feeling state/process that motivates and organizes cognition and action. Emotion also provides information to the person experiencing it, and may include antecedent cognitive appraisals and ongoing cognition including an interpretation of its feeling state, expressions or social-communicative signals, and may motivate approach or avoidant behavior, exercise control/regulation of responses, and be social or relational in nature.“ (Izard 2010: 367)
Izard (2010: 368f.) sieht zwei Auswege aus dem „Definitionsdilemma“. Zum einen ruft er Forscher*innen dazu auf, den Begriff in (Arbeits)Definitionen jeweils zu spezifizieren. Zum anderen hält er die Untersuchung von spezifischen Emotionen wie Freude, Wut usw. für sinnvoll, da hier eine leichtere Ab- und Eingrenzung möglich sei. Jenseits der Psychologie kann man wohl grundsätzlich sagen: Gefühle sind „tägliche Begleiter unseres Denkens und Handelns“ (Brehm 2001: 205, Hervorhebungen im Original) und somit aus dem alltäglichen Leben nicht wegzudenken, auch wenn man sich dies manchmal wünschen mag (Roth 2003: 285). Einen großen Teil dieses Alltags verbringen die meisten Menschen in (Arbeits-)Organisationen, wodurch sich der Blick der mit ‚Arbeit‘ und ‚Organisation‘ befassten Disziplinen vor allem auf ‚Arbeitsemotionen‘ als in der Arbeits- und Organisationswelt relevante Phänomene verengt. Diese bestimmt Brehm (2001: 206, Hervorhebungen im Original) so: „Arbeitsemotionen sind danach als Gefühle anzusehen, die eng mit dem Erleben, Wahrnehmen und Bewerten von Arbeit verbunden sind. Sie stellen ein komplexes Gefüge subjektiver und objektiver Faktoren dar, das von neuronal/hormonalen Systemen vermittelt wird. Sie können - affektive arbeitsbezogene Erfahrungen, wie Gefühle der Erregung oder der Lust bzw. Unlust, bewirken, - kognitive Prozesse, wie emotional relevante Wahrnehmungseffekte, Bewertungen und Klassifikationsprozesse im Zusammenhang mit der Arbeit enthalten, - physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden Bedingungen in Gang setzen, - zu arbeitsbezogenem Verhalten führen, welches häufig expressiv, zielgerichtet und adaptiv ist.“
Auch sie wählt eine Definition, die mehrere Aspekte von Emotionen miteinander verbindet. Dabei bezieht sich der affektive Aspekt auf das subjektive Erleben eines Gefühls, während die kognitive Komponente Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse unter Einbezug des menschlichen Informationssystems und sub-
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jektiver Interpretationsprozesse thematisiert. Die physiologische Komponente bezieht durch das autonome Nervensystem gesteuerte körperliche Veränderungen mit ein, welche als Reaktion auf die emotionale Wahrnehmung und Bewertung von Arbeitssituationen entstehen können. Zu guter Letzt bezieht sich der Aspekt des emotionalen Arbeitsverhaltens auf emotionsbezogenes motorisches Verhalten in der Arbeitssituation, welches durch zahlreiche verbale und nonverbale Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht werden kann (Brehm 2001: 206f.). Klassifizierung von Emotionen Während Brehm (2001) in ihrem Artikel primär zwischen Lust (repräsentiert durch Stolz und Freude) sowie Unlust (thematisiert als Stress, Angst und Neid) als Arbeitsemotionen unterscheidet, stellen Zinck und Newen (2008) unter Berücksichtigung von solchen mehrere Facetten thematisierenden Definitionen von Emotionen wie den oben angeführten eine umfassendere, multifaktorielle entwicklungsorientierte Darstellung von Emotionen auf (vgl. Darstellung 7). Mit ihrem Modell versuchen sie unter anderem auch, die langanhaltende Streitfrage über das Wesen von Emotionen als angeborenes oder kulturell bestimmtes Phänomen zu lösen.25 Auf diesen Konflikt wird häufig als Widerstreit zwischen der positivistischen und konstruktivistischen Position verwiesen26. Zinck und Newen wählen eine entwicklungsorientierte Klassifikation, die sowohl angeborene als auch sozial konstruierte Emotionen einbezieht und unterscheidet. Dabei charakterisieren sie Emotionen anhand ihrer funktionalen Rollen und unterscheiden vier Stadien: Prä-Emotionen, Basisemotionen, primäre kognitive und sekundäre kognitive Emotionen. Prä-Emotionen sind angeborene, unfokussierte expressive Emotionen, die sich als Wohlbefinden (comfort) oder Unbehagen (distress) in expressivem interaktivem Verhalten äußern können.
25 Über das Wesen von Emotionen sowie auch die ursächlichen Faktoren für Emotionen gibt es eine Vielzahl aufeinander aufbauender, aber auch konkurrierender Theorien. Jenseits des im Folgenden vorgestellten ‚versöhnenden‘ Modells von Zinck und Newen geben z.B. Ashkanasy, Härtel und Zerbe (2000: 4ff.) einen kurzen Überblick über diese Entwicklung der Emotionstheorien. 26 Vgl. zu den Positionen, Emotionen seien primär physiologische bzw. kognitive Phänomene Roth 2003: 292ff., zu der Gegenüberstellung von positivistischer und konstruktivistischer Position für die Soziologie Flam 2002: 127ff. und schließlich Steger (2001: 79) für die Unterscheidung zwischen einer psychodynamischen und einer sozialkonstruktivistischen Position mit Bezug auf die Organisations- und Managementforschung.
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Darstellung 7: Entwicklungsorientierte Klassifikation von Emotionen
Quelle: Zinck/ Newen 2008: 18 und Newen/ Zinck 2008: 44
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Die Ebene der Basisemotionen umfasst im Kern Freude, Angst, Ärger und Traurigkeit (Newen/ Zinck 2008: 43, Zinck/ Newen 2008: 11). Basisemotionen können ohne Wahrnehmens-, Erkennens- und Evaluationsprozesse ablaufen, sie sind „short-term, highly stereotypical responses that only involve limited cognitive processing with focus on the actual situation“ (Zinck/ Newen 2008: 12). Durch die Umgehung kognitiver Prozesse können Basisemotionen schneller auftreten als andere Emotionen, allerdings sind sie weniger variabel im Ausdruck. Dies geht einher mit dem Befund, dass der Ausdruck von Basisemotionen individuell und kulturell kaum variiert. Sie entwickeln sich in den ersten Lebensmonaten von Kindern und sind Antworten auf spezifische Herausforderungen, die Neugeborene zu meistern haben. Demgegenüber beinhalten primäre kognitive Emotionen ein minimales Set an Erkennens- und Wahrnehmungsprozessen. Diese fließen in die Entstehung der Emotion sowie in das durch die Emotion ausgelöste Verhalten ein. Die primären kognitiven Emotionen sind als Erweiterungen der Basisemotionen zu verstehen und unterliegen im Unterschied zu ersteren kultureller, durch Sozialisationsprozesse vermittelter Variation (Zinck/ Newen 2008: 12f.). Letztlich sind sekundäre kognitive Emotionen an komplexe kognitive Elemente geknüpft, die Zinck und Newen als „mini-theories“ bezeichnen. Solche eine „mini-theory includes, as a necessary component, a concept of the self [...], as well as (i) a cognitive evaluation of a situation, (ii) beliefs about concrete social relations to individuals as well as about general social norms […], and (iii) expectations or hopes concerning the future given the situation.” (Zinck/ Newen 2008: 14)
In diese Kategorie fallen Gefühle wie Scham, Neid, Stolz oder Glück. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in ihren jeweiligen Gründen, Funktionen und Erscheinungen nicht nur kulturell stark variieren, sondern auch in Abhängigkeit von individuellen Erfahrungen unterschiedlich ausfallen (Zinck/ Newen 2008: 14f.). Abgrenzung gegenüber verwandten Begriffen Die eben dargestellte Klassifizierung bezieht sich auf Emotionen als kurzzeitige, intensive, schnell auftretende und auf ein bedeutendes internes oder externes Ereignis gerichtete Phänomene. Demgegenüber können emotionale Dispositionen und Stimmungen unterschieden werden (Zinck/ Newen 2008: 18). Unter emotionalen Dispositionen verstehen Zinck und Newen stabile affektive Charakterzüge, die länger andauern, ohne einen spezifischen Fokus auftreten und weniger intensiv erlebt werden. Stimmungen sind „rather diffuse affective episodes of low in-
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tensity and a relatively long duration“ (Zinck/ Newen 2008: 19). Während Briner (1999: 325f.) die Charakterisierung von Emotionen und Stimmungen (moods) teilt, unterscheidet er darüber hinaus noch ‚meta-moods‘ als „thoughts and feelings about moods or emotions“ (Briner 1999: 326) sowie ‚emotionally-laden judgements‘. Letztere enthalten Berichte von z.B. Arbeitnehmern, sich wertgeschätzt, anerkannt, nicht respektiert, ausgebeutet oder ähnliches zu fühlen. Briner (1999) hält solche emotional aufgeladenen Urteile für besonders wichtig für die Beschäftigung mit Arbeit und Organisationen, auch wenn sie keine eigentlichen Emotionen darstellen. Häufiger findet sich auch die Unterscheidung zwischen Gefühlen als rein innerliche, subjektive Erfahrung und Emotionen als ausgedrückten Zuständen, die in Interaktionen zum Tragen kommen und durch nationale, lokale und organisationale Bedingungen beeinflusst werden (siehe etwa Fineman 1996: 546). 2.2.2 Die Bedeutung einzelner Emotionen in der gynäkologischen Arbeit Nach der Betrachtung des Emotionsbegriffs und einer Klassifizierungsmöglichkeit von Einzelemotionen möchte ich mich nun dem Untersuchungsgegenstand, also den Emotionen in der gynäkologischen Arbeit, zuwenden. Auch wenn die Medizinsoziologie im Allgemeinen die Emotionalität von Medizinern weitestgehend ignoriert, gibt es doch ein paar Ausnahmen. Eine davon ist die Studie von Nettleton, Burrows und Watt (2008), in der die Autor*innen eine Übersicht über die Vielfalt der Emotionen, die (britische) Mediziner*innen in ihrer täglichen Arbeit erleben, erstellen. Sie betrachten thematisch die Emotionen, welche in den Beziehungen zu Patient*innen, bei Kritik durch Patient*innen, in Bezug auf die klinische Arbeit, in Bezug auf Veränderungen der medizinischen Ausbildung, in der Beziehung zu Kolleg*innen und in Bezug auf das Arbeitsleben allgemein auftreten. Im Unterschied zu diesem kontextbezogenen Zugriff auf Emotionen werde ich nachfolgend die Vielfalt der von Gynäkolog*innen erfahrenen Emotionen zunächst anhand der Einzelemotionen ordnen und dann exemplarische Einzelemotionen detailliert darstellen. Dabei ist die Bandbreite der Emotionen, die die Gynäkolog*innen nennen, groß. Als positive Emotionen werden Freude, Zufriedenheit und Sympathieempfinden genannt. Negative Emotionen sind Angst und Anspannung, Ärger, Betroffenheit, Ekel27, Enttäuschung, Ge-
27 Dabei ist der Ekel insofern ein besonderes Gefühl, als ich ihn durch meine Interviewfragen induziert habe – kein*e Interviewpartner*in hat von sich aus über Ekelgefühle gesprochen.
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nervt- und Misstrauisch sein, Traurigkeit, Unsicherheit, Voreingenommenheit und Wut. Die negativen Emotionen werden zum Teil nicht weiter ausdifferenziert, d.h. es wird etwa allgemein über ein ungutes Gefühl berichtet. Weiterhin werden Zustände thematisiert, die nicht direkt als Emotion bezeichnet werden können, aber mit bestimmten Emotionen einhergehen. Hierzu zählt zum Beispiel das Erleben von Stress, sich Sorgen machen, geschafft sein, aber auch Ruhe gegenüber der Patientin auszustrahlen. Auch Empathie und Mitleid kommt eine hohe Bedeutung zu. Die untersuchten Gynäkolog*innen geben zwar mehrheitlich an, dass die positiven Seiten des Berufs und damit auch die positiven Gefühle überwiegen. Gleichzeitig wurden in den Interviews überwiegend die negativen Ereignisse thematisiert und nehmen einen größeren Teil ein. Auch aus diesem Grund wird im Folgenden zunächst Angst als eine negativ erlebte Einzelemotion zunächst detailliert diskutiert. Es handelt sich hierbei um eine Emotion, die die Gynäkolog*innen besonders stark beschäftigt, wenn sie bei ihnen selbst auftritt. Im Sinne der Klassifizierung von Newen und Zinck (2008, sowie Zinck/ Newen 2008) handelt es sich um eine Basisemotion. Zum Zweiten habe ich die Emotionen Empathie und Mitgefühl für eine detaillierte Diskussion ausgewählt, welche innerhalb des empirischen Materials ebenfalls eine herausragende Rolle spielen. Diese beiden Gefühle eint, dass sie sowohl als positiv als auch als negativ wahrgenommen werden bzw. sich auswirken können. Angst Dieser Abschnitt wird sich zunächst mit der Begriffsbestimmung befassen, bevor die Rolle von Ängsten in der gynäkologischen Arbeit diskutiert wird. Denn vor der Analyse der Zitatstellen zum Thema ‚Angst‘ bestand die Notwendigkeit, den Begriff ‚Angst‘ zu definieren, weil in zahlreichen Zitatstellen nicht direkt von Angst gesprochen wird. Stattdessen wird dieses Gefühl indirekt beschrieben. Nach Hülshoff (2001: 58) kann man grundsätzlich zwischen Realängsten und Existenzängsten unterscheiden. Während erste sich auf zu erwartende Notsituationen wie Krankheit, Hunger oder Vereinsamung beziehen, hängen letztere mit der menschlichen Fähigkeit, die Zukunft zu antizipieren, zusammen und beziehen sich etwa auf den Tod, den Verlauf des weiteren Lebenswegs oder die gesellschaftliche Position. Grundsätzlich kommt Angst sowohl eine (nützliche) Warnfunktion vor Gefahren zu, aber auch eine potentiell lähmende Wirkung (ebd.: 77). Zur physischen und psychischen Wahrnehmung von Angst schreibt Hülshoff (2001: 76): „Angst ist mit dem Gefühl der Ohnmacht, der Hilf- und Ausweglosigkeit verbunden. Auf biologischer Ebene führt das zum Erstarren, subjektiv fühlen wir uns gelähmt, und Angst
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kann die Sicht auf vorhandene und notwendige Ressourcen versperren. Soziale Interaktion kann durch Angst erheblich behindert und verzerrt werden“.
Rainer Gross (2015: 11) bezeichnet Angst gar als die diskrete „Vorstufe der Erschöpfung und der allermeisten psychischen Erkrankungen“. Denn auch wenn Angstgefühle an und für sich Verteidigungsreaktionen wie Flucht, Vermeidung der Situation und Angriff auslösen (Zinck / Newen 2008: 15), so stehen uns diese Reaktionsformen am Arbeitsplatz selten zur tatsächlichen Verfügung. Die vorgelegte Untersuchung zeigt, dass die Quellen von Ängsten bzw. die Art der arbeitsbezogenen Ängste bei Gynäkolog*innen recht breit gestreut sind. Es lassen sich unterscheiden: (1) Angst vor Fehlern, (2) Angst vor Ansteckung und (3) Existenzangst. (1) Angst vor Fehlern. Dieser Angsttyp wurde am häufigsten benannt, und zwar primär als Angst vor eigenen fachlichen Fehlern, also zum Beispiel dem Stellen einer falschen Diagnose. Die Angst wird beispielsweise ausgelöst durch einen Tastbefund in der Brust einer Patientin: „vielleicht solche Gefühle wie ‚hoffentlich haste es das letzte Mal nicht übersehen‘, ne, also, äh, dass man das kritisch hinterfragt, nja, aber, ähm, das ist eben so.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Ein anderer Auslöser für die Angst, einen Fehler gemacht zu haben, ist ein Krankheitsbild, bei dem nicht feststellbar ist, ob es psychosomatisch oder an reale körperliche Ursachen gebunden ist. Dadurch sind die weiteren Behandlungsschritte nicht eindeutig festlegbar. In der Angst, etwas übersehen zu haben oder aktuell übersehen zu können schwingt einerseits die Unsicherheit der gynäkologischen Arbeit mit, nicht immer eindeutige Diagnosen stellen zu können. Dies verweist auf die Bedeutung von psychosomatischen Beschwerden in der Gynäkologie. Zum anderen wird aber auch die Verantwortung deutlich, die die Gynäkolog*innen für ihre Patientinnen haben und auch als solche empfinden. Der Umgang mit der Angst vor medizinischen Fehlern erfolgt auf einer kognitivfachlichen Ebene: es wird überlegt, was man nun für die Patientin tun kann. Dabei ist diese Angst eine, bei der z.B. Gynäkologe 3 und Gynäkologin 4 berichten, dass sie solche Geschehnisse durchaus mit nach Hause nehmen, sich lange darüber Gedanken machen und das eigene Tun kritisch hinterfragen. Während etwa Gynäkologin 2 diese Angst als zur Arbeit gehörend einstuft, erlebt Gynäkologe 3 das Mit-Nach-Hause-Nehmen von solchen Ereignissen durchaus als problematisch.
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Obige Beispiele bringen vor allem die Angst vor Fehlern als Angst, der Verantwortung gegenüber den Patientinnen nicht nachzukommen, zum Ausdruck. Darüber hinaus spielt mitunter auch die Angst vor rechtlichen Konsequenzen als Folge von Fehlern mit hinein. Gynäkologe 3 verdeutlicht dies anhand der Schilderung einer Situation, in der eine Patientin ohne Termin erscheint und scheibchenweise immer weitere Beschwerden ins Gespräch einfließen lässt: „Und ich kann natürlich auch nicht sagen, ‚da ist nichts‘, und wenn ich die Brust nicht abtaste, und die Frau hat dort ’nen Karzinom, dann sagt die, ‚ja ich war doch, aber der hat nicht mal die Brust angeschaut‘ [hm, hm]. Das heißt, ich muss am Ende gucken, und das, das wissen die Frauen auch. […] Und auf der anderen Seite ist die, das rechtliche Korsett so eng, dass man sich’s dann, dass ich’s mir nicht trauen möchte zu sagen, ich guck hier halt nicht.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Dieses Zitat bringt die von Hülshoff beschriebene Ohnmacht, welche mit Angst einhergeht, gut zum Ausdruck. Eine Untersuchung nicht durchzuführen, würde zu der Angst führen, einen Fehler zu machen, der rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte (wenn er von anderen entdeckt wird). Der Gynäkologe geht damit um, indem er die Untersuchung durchführt und somit diese Angst vermeidet. In der Konsequenz befindet er sich zwar rechtlich auf der sicheren Seite, verbleibt aber in der Ohnmachtssituation gegenüber der Patientin, nach ihren Spielregeln agieren zu müssen. Das Zusammenspiel von Angst und juristischen Konsequenzen zeigt auch Gynäkologe 5. Mit Blick auf die bereits erwähnte Möglichkeit, dass eine Fruchtwasseruntersuchung bei einer Schwangeren fehlschlägt und somit zu einem Schwangerschaftsabbruch führt, in dessen Folge er von juristischen Konsequenzen bedroht ist, beschreibt er zum Einen die Last, die gleiche Prozedur auch am nächsten Tag an der nächsten Patientin erneut durchführen zu müssen: „und auch der, der nächsten Frau nicht zeigen kann, ich bin eigentlich jetzt unsicher oder ich bin ängstlich. Weil, weil mir das wiederfahren ist. Das, das ist, beachtlich.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Er führt diese Last an späterer Stelle weiter aus: „Wenn se also etwas mit Ängstlichkeit machen oder mit bangem Gefühl, das ist viel schlechter als wenn man einfach sicher ist, und sagt ich kann das, hab ich oft gemacht, und wenn’s passiert, ne.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
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Hier beschreibt er nicht nur die Anstrengung, die eigenen Gefühle von Angst nicht zeigen zu dürfen (also: Emotionsarbeit zu betreiben), sondern auch, dass „Ängstlichkeit“ im Sinne eines geringeren Zutrauens in die eigenen ärztlichen Fähigkeiten sich ungünstig auf die Behandlung auswirken kann. Weiterhin gibt es auch die Angst, Fehler in der Interaktion mit den Patientinnen zu machen. So beschreibt Gynäkologin 4 ihre Unsicherheit im Umgang mit an Krebs erkrankten Patientinnen, wobei sie gleichzeitig über die Krankheit zu schweigen als ungenügenden Umgang einstuft. Der Angst begegnet sie, indem sie eine Weiterbildung besucht, in der der Umgang mit solchen Patientinnen durch „Profis“ vermittelt wird. Es gelingt ihr so, ihrer eigenen Unsicherheit zu begegnen, aber vor allem auch, subjektiv besser für ihre Patientinnen da sein zu können. (2) Angst vor Ansteckung. Diese Art der Angst wird nur einmal beschrieben, und zwar von dem Gynäkologen 3 in Bezug auf seinen ersten Kontakt mit einer HIV-infizierten Patientin. Eine Unaufmerksamkeit im Umgang mit den benutzten Instrumenten führte zu der Angst, sich infiziert haben zu können. Er begegnet dieser Angst, indem er Informationen über das Risiko einholt und in der Folge eine fachliche und emotionale Routine im Umgang mit diesen Patientinnen entwickeln kann, welche einhergeht mit Aufmerksamkeit im Sinne von Wachsamkeit im medizinischen Handeln. Diese Episode ist wahrscheinlich biografisch in die Anfangszeit des praktischen gynäkologischen Arbeitens einzuordnen, also: einem Neuling geschehen. Denn im Allgemeinen ist auffällig, dass die Gynäkolog*innen anführen, keine Angst, sondern Respekt vor Krankheiten zu besitzen. Im Unterschied zur Angst zeigt man, so vermute ich, Respekt, wenn man eine Gefahr und ihre möglichen Ausprägungen und Auswirkungen kennt und einschätzen zu können glaubt. (3) Existenzangst. Hiermit ist die Sicherheit der beruflichen Existenz gemeint, welche allerdings tatsächlich auch eine Existenzangst im Sinne Hülshoff’s darstellt. Hiervon berichtet ein Gynäkologe im Zusammenhang mit der Neugründung der Praxis und dem sich anschließenden Aufbau derselben. Ein nur langsam wachsender Patientinnenstamm paarte sich mit finanziellen Sorgen durch einen Kredit, was zu „Bauchschmerzen“ führte. Dies verweist darauf, dass sich die Situation von niedergelassenen Gynäkolog*innen als ‚Unternehmensführern‘ mit Personalverantwortung z.B. für die angestellten Arzthelfer*innen durchaus von der angestellter Gynäkolog*innen, etwa in Kliniken, unterscheidet, was mit verschiedenen Existenzängsten einhergehen kann. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass erfahrene Gynäkolog*innen in ihrer täglichen Arbeit mit den oben beschriebenen Existenzängsten (Angst vor Fehlern und Angst um die berufliche Existenz) umgehen müssen. Der einzige Fall einer
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beschriebenen Realangst (Angst vor Ansteckung) bezieht sich auf einen Erstkontakt mit der Krankheit Aids, so dass sich davon ausgehen lässt, dass hiermit maximal Berufsanfänger*innen zu kämpfen haben. Die Entwicklung von emotionaler Routine im Umgang mit z.B. einer solchen Realangst wird an späterer Stelle als Lernprozess über den Umgang mit Emotionen (vgl. Kapitel 3.2) beschrieben. Empathie und Mitleid In diesem Abschnitt wird die Bedeutung der Emotionen Empathie und Mitleid für die befragten Gynäkolog*innen dargestellt. Wie zu allen Einzelemotionen findet sich auch hier in der Literatur eine Vielzahl an Definitionen (Hodges/ Myers 2007). Heute wird Empathie (engl. empathy) häufig als sowohl affektive als auch kognitive Prozesse beinhaltend definiert. Nancy Eisenberg (2000: 677) folgend, verstehe ich unter Empathie „an affective response that stems from the apprehension or comprehension of another’s emotional state or condition, and that is identical or very similar to what the other person is feeling or would be expected to feel.“
Empathie bedeutet also, sich in andere Personen hineinzuversetzen und deren wahrgenommenen emotionalen Zustand nachzufühlen. Der englische Begriff ‚empathy‘ leitet sich in seiner Wortherkunft auch vom deutschen ‚Einfühlung‘ her (Hodges/ Myers 2007: 296). Um ein Beispiel zu geben: man reagiert empathisch, wenn man ebenfalls Verärgerung empfindet, nachdem man von einer anderen Person von einer diese verärgernde Episode erfährt. Da Empathie ein gewisses Maß an Differenzierung zwischen den eigenen und fremden Gefühlen voraussetzt (Hoffman 2010: 440), unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht von emotionaler Ansteckung (emotional contagion, dazu z.B. Hatfield/ Cacioppo/ Rapson 1994). Im Unterschied zur Empathie fühlt man Mitleid (engl. sympathy), wenn man in Anbetracht der wahrgenommenen emotionalen Lage einer anderen Person Kummer, Leid oder Sorge empfindet. Hier wird also die emotionale Lage des anderen nicht anhand desselben Gefühls nachempfunden (Eisenberg 2000: 678). Um dies an einem Beispiel zu veranschaulichen: wenn ich auf eine Person treffe, die meiner Wahrnehmung zufolge Angst hat, und dieses Angstgefühl nachempfinde, dann reagiere ich empathisch. Wenn ich dagegen ihre Angst wahrnehme, und sie mir in erster Linie Leid tut, dann ist dies Mitleid. Davon ab läge ein Fall der ebenfalls erwähnten emotionalen Ansteckung vor, wenn ich die Angst der Person übernehmen würde, also ebenfalls mit Angst vor dem Angstauslöser der Person reagieren würde. Aus diesem Beispiel schließt sich, dass man gleichzeitig
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Empathie und Mitleid empfinden kann. Ähnlich argumentiert Eisenberg: Mitleid geht primär aus Empathie hervor, kann aber auch zum Beispiel aus rein kognitiven Prozessen wie dem Perspektiven Beziehen hervorgehen (Eisenberg 2000: 678). Die Begriffe ‚Empathie‘ und ‚Mitleid‘ werden im alltäglichen Sprachgebrauch nicht zwangsläufig sprachlich sauber auseinander gehalten. Die Gynäkolog*innen haben meist von ‚Mitgefühl‘ gesprochen. In der Analyse der entsprechenden Zitatstellen erwies es sich als relativ schwierig, anhand der (teilweise kurzen) Ausführungen festzulegen, ob d*ie interviewte Gynäkolog*in sich in einer Passage auf Empathie, Mitleid oder emotionale Ansteckung bezieht. Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Charakteristika der beschriebenen Gefühle herausarbeiten, die ich im Folgenden darstelle. Zunächst einmal schreiben die interviewten Gynäkolog*innen dem Mitleid bzw. der Empathie unterschiedliche Relevanzen zu. Bei Gynäkologin 2 zum Beispiel erhält das Zeigen von Empathie und Mitgefühl den Status einer Berufsbedingung bzw. ist Teil ihres Berufsethos und insgesamt eine wichtige ärztliche, emotionale Kompetenz. Dementsprechend charakterisiert sie sich auch selbst als „sehr mitfühlend“. Demgegenüber stellt z.B. Gynäkologin 1 das Erleben von Mitgefühl als Ausnahmesituation dar: „es gibt halt immer so, wo sie vielleicht auch mal anfangen würden, am liebsten mit der Patientin mitzuweinen oder solche Sachen, aber ähm, ja, hm, das ist halt mal eine Patientin.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Eine weitere Facette der Relevanz von Mitleid und Empathie bringt Gynäkologe 3 ein, in dem er darauf verweist, dass das Zeigen von Empathie ein Prozess ist, der mal besser und mal schlechter gelingt. Als Einflussgrößen für das Gelingen benennt er dabei z.B. die eigene Tagesform, das Patientinnenaufkommen und die private Situation. Auffällig ist im Unterschied zu der obigen Begriffsdefinition von Empathie und Mitleid, dass die interviewten Gynäkolog*innen zwischen Empathie oder Mitgefühl fühlen und es zeigen unterscheiden. Beim Fühlen von Empathie oder Mitleid ist die Dauer des Gefühls eine interessante Eigenschaft, welche die obige Definition ebenfalls unberücksichtigt lässt. Gynäkologin 4 verweist z.B. explizit darauf, dass sie lediglich in der konkreten Situation mit der Patientin Mitleid empfindet und auch ausdrückt: „Muss ich halt dann ne noch hinterher noch stundenlang hier Tränen vergießen, so isses ja nu ne. Aber in dem Moment mein’ ich das auch ernst, und das ist auch in Ordnung, ne.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
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Das Zeigen von Empathie wiederum wird gestützt durch akustische, mimische und gestische Signale, mal deutlicher (jemanden umarmen), mal diffuser (Verständnis signalisieren). Während das ‚jemanden drücken‘, also umarmen, eine von Gynäkologin 4 geschilderte körperliche Empathiebekundung ist, greift diese sonst meist eher zu verbalen Empathiebekundungen, in dem sie ihre Anteilnahme explizit anspricht und thematisiert. In diesem Zusammenhang ist die Bandbreite an empathieauslösenden Situationen interessant: es gibt erstens Empathiebekundungen, die sich ausschließlich auf den gynäkologischen Arbeitskontext beziehen. Hier dient das Bekunden von Empathie dem Aufbau und Erhalt einer Vertrauensbeziehung zwischen Gynäkolog*in und Patientin sowie dem Knüpfen bzw. Aufrechterhalten eines (zukünftigen) Arbeitsbündnisses. Dieser Aspekt wird besonders deutlich bei der Schilderung des Umgangs mit jungen Frauen, die ihren ersten Frauenarztbesuch erleben. Zweitens gibt es Empathiebekundungen, die zwar auch im Rahmen der gynäkologischen Arbeit stattfinden und durch diese ausgelöst werden, aber weniger auf die Patientin und den Aufbau bzw. Erhalt der Arbeitsbeziehung gerichtet sind. Stattdessen bringen sie eine emotionale Reaktion de*s Gynäkolog*en zum Ausdruck, also das tatsächliche Zeigen von Mitgefühl. Beispiele für Situationen, in denen Mitleid empfunden und ausgedrückt wird, sind z.B. ein voraussichtlich tödlich verlaufendes Tumorleiden oder der (drohende) Verlust von nahen Angehörigen, wie eines Kindes oder des Ehemanns. Dabei geht speziell Gynäkologin 4 deutlich über die Anforderungen der gynäkologischen Arbeit hinaus: sie verknüpft den Verlust eines Kindes mit sozialer Isolation und betont gerade aus diesem Grund, dass sie es wichtig findet, Menschen, die einen solchen Schicksalsschlag erleiden, durch die Aussprache von Mitleid und die Gelegenheit zum Erzählen Erleichterung zu verschaffen. Diesen Aspekt des menschlichen Interesses bzw. der sozialen Fürsorge über die konkrete gynäkologische Arbeit hinaus werde ich in Kapitel 3.3 weiter herausarbeiten. Insgesamt sind alle Konsequenzen, die sich aus dem Fühlen und Zeigen von Mitgefühl und Empathie ergeben, auf die Patientinnen bzw. die Ärzt*inPatientin-Beziehung gerichtet. So soll Vertrauen in der Patientin aufgebaut werden und es soll signalisiert werden, dass d*ie Gynäkolog*in für die Patientin da ist – und zwar mitunter nicht nur auf einer medizinischen, sondern einer allgemein-menschlichen Ebene, die die Patientinnen wiederum den Gynäkolog*innen danken. Der eigentliche Unterschied zwischen Empathie und Mitleid zeigt sich, wenn man einbezieht, wie Gynäkologin 2 und 4 die Grenzen der Empathie beschreiben. Sie verdeutlichen, dass diese Begrenzung, die wichtige Trennung, genau zwischen Empathie und Mitleid verläuft. Während Empathie, wie oben geschil-
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dert, als wichtige ärztliche Kompetenz wahrgenommen wird (Gynäkologin 2) und das Zeigen von authentischer Anteilnahme legitim ist (Gynäkologin 4), stellen sie heraus, dass Empathie ausreichend ist, um für die Patientinnen da zu sein: „Also man kann schon Emotionen zeigen, man darf sie ne soo, denke ich, es darf einen ne sooo mitnehmen, dass man letztlich eigentlich selber mit dran kaputt geht. Das nützt ja auch keinem was, da wird der ja kein Deut gesünder der Patient, das ändert ja nichts.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Mitleid hingegen wird hier als dysfunktional eingeordnet, da es der Patientin nichts nützt, aber der Gynäkologin schadet. Denn ein Nicht-Gelingen der Trennung zwischen Empathie und Mitleid wird mit Burnout in Verbindung gebracht: „Also ich wehre mich auch dagegen, ich kann nicht mit jeder Patientin mitsterben. Oder mitleiden. Oder, ähm, wenn sie so veranlagt sind, denke ich auch, sind sie nicht gut beraten im Arztberuf, ne. Das führt dann bestimmt mehr oder, über kurz oder lang, wollte ich sagen, zur zur Erschöpfung, zur psychischen Erschöpfung.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Das Trennen zwischen dem Schicksal der Patientin und dem eigenen Leben sowie den damit verbundenen Gefühlen wird als zentrale Fähigkeit beschrieben, auf die ich in Kapitel 3.3 weiter eingehen werde. Diese Fähigkeit äußert sich in Strategien der Grenzziehung zwischen Gynäkolog*in und Patientin auf verschiedenen Ebenen, wie in Kapitel 4.1 dargestellt werden wird. Im positiven Sinne wird die Einhaltung der Grenzen der Empathie, also nicht mit jeder Patientin mitzuleiden, mit gelungener Selbstsorge in Verbindung gebracht. Aus dieser resultiert dann letztlich auch die Fähigkeit, fortgesetzt für ihre bzw. seine Patientinnen da sein zu können. Allerdings deutet das obige Zitat von Gynäkologin 2 bereits darauf hin, dass es Ausnahmen gibt: man „kann nicht mit jeder Patientin mitsterben“ – aber mit einigen tut man es wohl doch (wie auch Gynäkologin 4 explizit berichtet). Dies steht dann, möglicherweise auch in der medizinischen Ausbildung, im Gegensatz zu den in der Ausbildung vermittelten Inhalten. Overlander (1994: 115) berichtet anhand einer Analyse von Lehrbüchern für Krankenpfleger*innen, dass „Professionalität, wie sie heute angestrebt und in der Ausbildung vermittelt wird, […] die Fähigkeit zur Empathie [bedeutet]. In der Entwicklung zu diesem professionellen Vermögen, sich einfühlen zu können, wird vermehrt gefordert, sich von der Identifikation mit dem Leid abzugrenzen.“. Der Begriff des Mitleids wird zunehmend weniger verwendet und ist negativ besetzt. Overlanders Analy-
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se verweist somit auf die beruflich-sozialisatorische Eingebundenheit von Gefühlsempfindungen und Gefühlsdarstellungen und erweist sich als anschlussfähig an den z.B. von Köppen (2015) nachgezeichneten allgemeinen Diskurs im Management- und Unternehmensbereich zur Relevanz von Empathie.
2.3 GYNÄKOLOGISCHE ARBEIT ALS EMOTIONSARBEIT Führt man die in den vorhergehenden Kapiteln besprochenen Aspekte Arbeit, Organisationen und Emotionen zusammen, so gelangt man zu dem Forschungsgebiet der Emotionsarbeit. Das Konzept der Emotions- bzw. Gefühlsarbeit hat seit seiner Entwicklung Ende der 1970er Jahre einige Popularität erlangt, was sich auch in einer enormen Anzahl an Publikationen u.a. im Bereich der Soziologie, der Psychologie und der BWL zeigt. Nachfolgend wird es zunächst theoretisch-konzeptionell nachgezeichnet (Kapitel 2.3.1) und anschließend aufgezeigt, inwieweit Gynäkolog*innen Emotionsarbeit leisten bzw. sich die diskutierten Konzepte für die Analyse der gynäkologischen Arbeit als fruchtbar erweisen (Kapitel 2.3.2). 2.3.1 Emotionsarbeit: Konzepte und Weiterentwicklungen Fragt man nach den Wurzeln des Emotionsarbeits-Konzepts, so ist auf die späten 1970er Jahre zu verweisen. Dort entwickelten sowohl Arlie Russell Hochschild (2006 [1983]) als auch eine Forschungsgruppe um Anselm Strauss (Strauss et al. 1980) relativ zeitgleich Konzepte zur Arbeit an den eigenen und fremden Gefühlen, also der Emotionsarbeit. Der Hauptbezugspunkt der heutigen Diskussion ist Arlie Russell Hochschilds Konzept von Emotionsarbeit. Ihr wird zugeschrieben, den Begriff der Emotionsarbeit nachhaltig geprägt und in der Wissenschaftswelt bekannt gemacht zu haben (Rastetter 1999: 374). 1983 erschien ihr Buch ‚The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling‘28, in dem sie aus einer marxistischen Perspektive der These nachgeht, dass die menschlichen Gefühle neben ihrer sozialen Funktion zunehmend auch eine ökonomische Funktion erhalten. Hochschild argumentiert und kritisiert, dass die Signalfunktion der menschlichen Gefühle bei einer kommerziellen Gefühlsnutzung verloren geht. Dabei unterscheidet sie zwei Arten der Gefühlsbeeinflussung, die Menschen im
28 Das Buch erschien in deutscher Übersetzung 1990 und 2006 unter dem Titel „Das Gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle“. Alle Literaturnachweise beziehen sich im Folgenden auf die deutschsprachige Ausgabe von 2006.
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privaten und kommerziellen Bereich als Verbeugungen mit dem Herzen voreinander benutzen. Dies sind das Oberflächenhandeln (surface acting) und das Tiefenhandeln oder Innere Handeln (deep acting) (Hochschild 2006: 53ff.). Beim Oberflächenhandeln bieten wir eine äußere Darstellung eines Gefühls und stellen dieses vor allem durch die Körpersprache dar, so dass der menschliche Körper hier das entscheidende Werkzeug ist. Das Selbstempfinden ist dabei das eines ‚aufgesetzten‘ Gefühls. Im Gegensatz dazu wird beim Tiefenhandeln die Seele zum entscheidenden Werkzeug der Gefühlsdarstellung (Hochschild 2006: 55). Es lassen sich zwei Arten des Tiefenhandelns unterscheiden: einerseits kann direkt auf das darzustellende Gefühl zurückgegriffen werden, andererseits auf gelernte Bilder (Hochschild 2006: 56). Besonders zweiteres entspricht Hochschild zufolge der auch von Schauspielern benutzten Psychotechnik ‚Method Acting‘, bei der auf die Erinnerungswelt bzw. das Gefühlsgedächtnis zurückgegriffen wird. Gefühle erscheinen hier als Objekte. Es wird in der Vorstellung ein Bild einer Situation erzeugt, das als wirklich erscheint, ein ‚als ob‘, das keiner Realitätsprüfung unterzogen wird und so die Basis für das hervorzurufende Gefühl darstellt (Hochschild 2006: 60). Im Alltag läuft das Innere Handeln meist unbewusst ab, außer Gefühl und Situation passen nicht zueinander (Hochschild 2006: 61). In diesem Fall werden bewusste Anstrengungen unternommen, um beides miteinander in Einklang zu bringen. Abschließend kann man also sagen, dass man beim Inneren Handeln das Gefühl selbst verändert (verstärkt, abschwächt, erzeugt, unterdrückt), während man beim Oberflächenhandeln ‚nur‘ den Gefühlsausdruck manipuliert. Eine aktuelle Studie von Gabriel und Diefendorff (2015) legt nahe, dass Oberflächen- und Tiefenhandeln auch gleichzeitig angewendet werden können, um den beruflichen Emotionsmanagementanforderungen nachzukommen. Die Arbeit an den eigenen Gefühlen wird von der Frage, welche Gefühle im Alltag in welchen Situationen angemessen sind, beeinflusst. Diese Frage beantworten uns die Gefühlsnormen (englisch ‚display rules‘). Nach Hochschild ist Fühlen „eine Art Probehandeln, ein Skript oder eine moralische Haltung und gehört deshalb zu den mächtigsten Mitteln, die unseren Handlungen eine bestimmte Richtung geben.“ (Hochschild 2006: 73)
Diese Handlungsskripte bezeichnet sie als Gefühlsnormen und meint damit, wie man über die Wahrnehmung der Dauer, Intensität, des Zeitpunkts und der Stellung eines Gefühls Aufschluss darüber erhält, ob man sich noch innerhalb sozialer Normen befindet oder bereits außerhalb (Hochschild 2006: 73). Das soziale
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Leben wird durch alltägliches Gefühlsmanagement bestimmt, welches sich an sozialen Gefühlsnormen orientiert. Zusammenfassend besteht das private Gefühlssystem aus Gefühlsarbeit, Gefühlsnormen und interpersonellem Austausch. Gefühlsversuche oder das Vorspielen von Emotionen dienen als Gebrauchswerte dem sozialen Austausch (Hochschild 2006: 85). Insgesamt bestimmt Hochschild Gefühlsarbeit folgendermaßen: „Ich benutze den Begriff Gefühlsarbeit (emotional labor) im Sinne eines Managements der Gefühle, das darauf bedacht ist, einen öffentlich sichtbaren Körper- und Gesichtsausdruck herzustellen; Gefühlsarbeit wird gegen Lohn verkauft und besitzt daher Tauschwertcharakter. Der Ausdruck Gefühlsmanagement (emotion management) bezieht sich auf dieselben Handlungen der Gefühlsbeeinflussung wie im privaten Bereich, in dem ihnen ein Gebrauchswertcharakter zukommt.“ (Hochschild 2006: 30, Hervorhebungen im Original)
Diese Begriffsbestimmung lässt nicht nur Hochschilds marxistische Theoriebezüge deutlich werden, sondern weist über die Gefühlsbeeinflussung im privaten Bereich hinaus. Bereits im privaten Bereich ist der Austausch von ‚Verbeugungen mit dem Herzen‘ nicht immer gleich verteilt, in der Arbeitswelt ist er jedoch noch häufiger von Ungleichheit bestimmt. Hochschild stellt sich die Frage, was geschieht, wenn eine Gabe wie Gefühle zur Ware wird (Hochschild 2006: 94f.). Anhand einer empirischen Untersuchung von Stewardessen und Rechnungseintreibern der Fluggesellschaft ‚Delta Airlines‘ arbeitet sie heraus, dass bei der berufsbedingten gezielten Nutzung von Gefühlen im Kern drei Elemente des Gefühlslebens verändert werden (Hochschild 2006: 110): 29
(1) Die Gefühlsarbeit ist nicht mehr selbst-, sondern fremdbestimmt. (2) Die Gefühlsnormen werden veröffentlicht und nicht privat ausgehandelt. (3) Der soziale Austausch wird kanalisiert und standardisiert, so dass kaum Platz
für individuellen Entscheidungsspielraum verbleibt. Hochschild beschreibt detailliert, wie unterschiedlich die zu zeigenden und die beim Kunden hervorzurufenden Gefühle sowie die dazugehörige Ausbildung bei den Dienstleistenden der beiden Berufsbilder ausfallen. In Bezug auf den Zu29 Auch im privaten Bereich ist die Gefühlsbeeinflussung nicht völlig selbstbestimmt, sondern, wie aufgezeigt, durch die Gefühlsnormen reglementiert. Dennoch bleibt hier immer die Möglichkeit, die ‚Verbeugungen mit dem Herzen‘ zu umgehen oder zu verweigern (Hochschild 2006: 89ff.).
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sammenhang zwischen Beruf und Gefühlsarbeit stellt sie heraus, dass Berufe mit Emotionsarbeitsanforderungen drei Merkmale aufweisen: (1) Kundenkontakt, (2) das Hervorrufen eines Gefühlszustandes beim Kunden sowie (3) den Umstand, dass der Arbeitgeber die Kontrolle über das Gefühlsverhalten der Arbeitnehmer, also der Dienstleistenden ausübt (Hochschild 2006: 120). Sie diskutiert vor allem die negativen Folgen der Emotionsarbeit, welche sie als das „falsche Selbst“ (Hochschild 2006: 151) betitelt.30 Etwa zeitgleich mit Hochschild forschen auch Strauss, Fagerhaugh, Suczek und Wiener zu der Bedeutung von Emotionen in der Arbeit und analysieren in ihrem 1980 erschienenen Aufsatz „Gefühlsarbeit. Ein Beitrag zur Arbeits- und Berufssoziologie“ den Arbeitstypus ‚Gefühlsarbeit (sentimental work)‘. Ihr Ziel ist es dabei aus einer interaktionistischen Perspektive heraus, Gefühlsarbeit an sich zu erforschen und in Beziehung zu anderen Arbeitstypen zu setzen. Sie charakterisieren die Arbeit an Menschen insofern als besonders, als Menschen, anders als unbelebte Objekte, auf die an ihnen verrichtete Arbeit antworten. Somit definieren sie den Begriff Gefühlsarbeit „als Arbeit, die speziell unter Berücksichtigung der Antworten der bearbeiteten Person oder Personen geleistet wird und die im Dienst des Hauptarbeitsverlaufs erfolgt“ (Strauss u.a. 1980: 629, Hervorhebungen im Original),
wobei diese Arbeit auch zum Teil „an sich selbst oder an anderen Arbeitenden“ (ebd.) ausgeführt werden kann. Durch den Fokus auf den Arbeitsverlauf rücken intrapersonale Vorgänge, wie Hochschild sie verstärkt untersucht, in den Hintergrund (Overlander 1994: 34). Strauss u.a. betonen stärker die Bedeutung der Interaktion und die Rolle de*s Kund*en (hier: Patient*en) als Mitwirkende*m und interessieren sich dabei vor allem für Fragen nach den verschiedenen Arten von Gefühlsarbeit, nach den Bedingungen, unter denen sie auftauchen, wie und von wem Gefühlsaufgaben erledigt werden können, in welcher Verbindung Gefühlsaufgaben zu Nicht-Gefühlsaufgaben stehen und was die Konsequenzen einiger vollzogener, nicht vollzogener oder nicht erfolgreich vollzogener Gefühlsarbeit sein können (Strauss u.a. 1980: 630). Diese Fragen bearbeiten sie anhand von in Krankenhäusern erhobenen Feldbeobachtungsdaten, die sie mit der Grounded 30 Hochschild belässt es nicht bei der Analyse der Emotionsarbeit im Zusammenhang mit Dienstleistungstätigkeiten, sondern verortet ihre Analyse auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext. So stellt sie Zusammenhänge zwischen Emotionsarbeit und Klassenzugehörigkeit sowie Geschlecht dar und arbeitet heraus, welche Rolle die klassen- und geschlechtsspezifische Sozialisation für die spätere Wahrnehmung emotionsarbeitsintensiver Dienstleistungsberufe spielt (Hochschild 2006: 123ff.).
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Theory Methodologie analysieren. Sie unterscheiden verschiedene Typen von Gefühlsarbeit wie Trostarbeit, Fassungsarbeit, Identitätsarbeit und Berichtigungsarbeit, Biografiearbeit, Ablenkungsarbeit sowie Arbeit der Vertrautheitsherstellung. Das richtige Arbeitstempo kann ebenfalls als eine subtile Form der Gefühlsarbeit verstanden werden, um die Spannung zwischen den psychologischen Rhythmen der Patient*en und den Anforderungen der medizinischen Arbeit zu überbrücken. Die Autor*innen verweisen dabei auf bestimmte allgemeine Charakteristika von Gefühlsarbeit, wie dass diese häufig eher ad hoc als geplant vollzogen wird, und dass das Vorhandensein einer ‚Mitarbeiterideologie‘ hierfür eine Rolle spielt. Gefühlsarbeit wird dabei gleichzeitig und verschränkt mit Nichtgefühlsarbeiten in einer Arbeitsfrequenz erledigt (Strauss u.a. 1980, Dunkel 1988: 70). Gleichzeitig existiert eine gewisse Arbeitsteilung der Gefühlsarbeit (Strauss u.a. 1980: 641, siehe auch Dunkel 1988: 70), deren Zuschnitt durch verschiedene Faktoren wie z.B. die Rollenzuweisung, die herrschende Ideologie oder situationale Kontingenz bestimmt wird. Diese Arbeitsteilung kann sowohl unter den anwesenden Ärzt*en und Krankenpfleger*n, aber auch zwischen Krankenhauspersonal und Angehörigen aufgeteilt werden (1980: 641). Während das Krankenhauspersonal bei der Verrichtung seiner Aufgaben kommt und geht, leisten Angehörige vor, während und nach der medizinischen Arbeit Gefühlsarbeit, quasi als Hintergrundbereitschaft. Für das Krankenhauspersonal kann die Beziehung zwischen der Gefühlsarbeit und der instrumentellen medizinischen Arbeit verschiedene Formen annehmen: „Gefühlsarbeit ist manchmal im wahrsten Sinne des Wortes notwendig, um medizinische Verfahren durchführen zu können; manchmal wird Gefühlsarbeit aus ideologischen Gründen als wesentlicher Bestandteil der medizinischen Arbeit empfunden, manchmal erleichtert Gefühlsarbeit einfach die Arbeit des Personals und führt dahin, daß der Patient seinen Anteil an der medizinischen Arbeit bereitwilliger leistet.“ (Strauss u.a. 1980: 642)
Die Konsequenzen der Gefühlsarbeit variieren je nach Art der zu leistenden Gefühlsarbeit: so hat z.B. Fassungsarbeit einen unmittelbaren Einfluss auf die Interaktionsbeziehungen, Trostarbeit Einfluss auf die innere Ruhe und Stimmung de*s Patient*en, oder Identitätsarbeit einen weitreichenderen und tiefergehenden Einfluss. Allgemeiner gefasst ließe sich ein Großteil der medizinischen Arbeit ohne begleitende Gefühlsarbeit schwieriger, weniger effizient oder gar nicht ausführen. Unter ausgelassener oder in den Augen Beteiligter unzureichend ausgeführter Gefühlsarbeit leiden dann nicht nur die medizinische Hauptarbeitslinie, sondern auch Stimmungen, Identitäten und Interaktionen. Solche unzureichende
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Gefühlsarbeit kann nicht nur zu negativen Gefühlszuständen bei den Patient*en, sondern auch zu allgemeinen Klagen über die Entpersönlichung moderner Krankenversorgung führen. Während dies negativ auf die Gefühlsordnung und Arbeitsordnung einer Station wirken kann, trägt erfolgreiche Gefühlsarbeit anders herum zu einer positiven Arbeits- und Gefühlsordnung bei (Strauss u.a. 1980: 648). Zur theoretischen Unterscheidung von Gefühlsarbeit weisen Strauss u.a. (1980: 648) darauf hin, dass bestimmte, z.B. tröstende Gesten einen universalen Charakter aufweisen und somit erst dann als Gefühlsarbeit (im hier gemeinten beruflichen Sinne) verstanden werden können, wenn sie zum Erfolg des Hauptarbeitsverlaufs beitragen. Gefühlsarbeit kann, muss aber nicht ‚ideologisch‘, z.B. anhand organisationaler Regeln, vorgegeben sein. Schlussendlich weisen Strauss u.a. (1980: 649f.) darauf hin, dass die berufliche Sozialisation häufig verschiedene Formen der Gefühlsarbeit vermittelt und regen zu weiterer Forschung in diesem Bereich an. Die vorliegende Arbeit schließt, insbesondere in Kapitel 3, hieran an. Betrachtet man nun den heutigen Stand der Forschung zur Emotions- bzw. Gefühlsarbeit, so kann man festhalten, dass insbesondere das Konzept der Emotionsarbeit in der soziologischen, psychologischen und auch betriebswirtschaftlichen Forschung großen Anklang gefunden und zu zahlreicher weiterer Forschung geführt hat31. Dabei ist es heute im Wesentlichen mit Hochschilds Namen verknüpft, und wird meist ohne den ursprünglichen kritischen theoretischen Rahmen verwandt32. Insbesondere wächst der Forschungskorpus zu den spezifischen emotionalen Anforderungen in einzelnen Berufen. So gibt es Befunde zur Emotionsarbeit bei der Polizei (z.B. Branca 2009, Szymenderski 2012), bei Busfahrer*innen (etwa Scott/ Barnes/ Wagner 2012), in Call Centern (z.B. Dormann/ Zapf/ Isic 2002), im Außendienst von Versicherungsvertreter*n (z.B. Rastetter 2008, 2001), bei (insbesondere qualitativ) forschenden Wissenschaft-
31 Hochschilds Konzeption hat ebenso Kritik hervorgerufen, aus der sich zum Teil die nachfolgenden Weiterentwicklungen speisen (vgl. z.B. Rastetter 2008: 21ff. sowie 1999: 377f.). 32 Zunächst erschien es mir vielversprechend, die vorliegenden Studien zu Emotionsarbeit entsprechend ihrer theoretischen Basis zu sortieren. Davon habe ich Abstand genommen, da z.B. quasi jede Studie Hochschilds Arbeiten als Referenzpunkt wählt, ohne deren marxistische Fundierung fortzuführen (oder sich dagegen abzugrenzen). Somit ist davon auszugehen, dass das Konzept der Emotionsarbeit mittlerweile mehrheitlich selbstständig und losgelöst von sozialtheoretischen Bezügen genutzt wird.
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ler*innen (Dickson-Swift et al. 2009) und in vielen weiteren Bereichen33. Trotz der großen Bandbreite an Forschung zu Emotionsarbeit in den verschiedensten Dienstleistungsberufen findet sich bislang kaum etwas zur Emotionsarbeit in den Berufen des Gesundheitswesens (Büssing/ Glaser 1999a: 423, Mann 2005: 305, Ward/ McMurray 2011: 1584). Die wenigen vorhandenen Studien beschäftigen sich mit z.B. mit Empfangspersonal in medizinischen Einrichtungen (Ward/ McMurray 2011), Gesundheitsassistent*innen (Kessler/ Heron/ Dopson 2015), mit der Altenpflege (z.B. Dunkel 1988, Giesenbauer/ Glaser 2006), der Krankenpflege (z.B. Büssing/ Glaser 1999a, 1999b, Hayward/ Tuckey 2011, Overlander 1994, Strauss et al. 1980) oder Hospizarbeit (Cain 2017). Die Emotionsarbeit der Mediziner*innen und somit auch der Gynäkolog*innen ist bislang unzureichend erforscht. Doch bevor im nächsten Abschnitt ein Beitrag zum Schließen dieser Lücke präsentiert wird, werde ich einige theoretische Weiterentwicklungen des Emotionsarbeitskonzeptes vorstellen. Im deutschsprachigen Raum hat insbesondere Wolfgang Dunkel (1988) eine wichtige konzeptionelle Zuspitzung des Gefühlsarbeitskonzepts vorgelegt. Aufbauend auf Hochschild (2006 [1983]) und Strauss u.a. (1980) begreift er Gefühlsarbeit als einen Teil der fachlichen Qualifikation in personenbezogenen Dienstleistungsberufen, wobei Gefühlsarbeitsanteile „von der Arbeitskraft gemäß ihrer beruflich-fachlichen Aufgabenstellung geleistet werden müssen“ (Dunkel 1988: 67, Hervorhebungen im Original). Dabei unterscheiden sich einzelne Dienstleistungstätigkeiten hinsichtlich der Intensität der Kundenkontakte, der Intention der Gefühlsarbeit und der zentralen Typen, die Gefühlsarbeiter durch Selbstinszenierung darzustellen versuchen (Dunkel 1988: 79). Emotionalität wirkt also nicht ‚nur‘ als Störgröße, sondern ist ein wichtiger und konstitutiver Bestandteil aller Dienstleistungsinteraktionen. Um die emotionale Komponente von personenbezogenen Dienstleistungstätigkeiten analytisch greifbar zu machen sowie Konsequenzen für Arbeitskraft und Organisation aufzuzeigen, unterscheidet Dunkel die drei Dimensionen (1) Gefühl als Gegenstand , (2) Gefühl als Mittel und (3) Gefühl als Bedingung – Arbeit an den eigenen Gefühlen. Die erste Dimension, Gefühl als Gegenstand, verweist darauf, dass im Rahmen des Zwecks der Dienstleistungsinteraktion (z.B. dem Verkauf einer Ware) die Gefühlsbeeinflussung de*s Kund*en als Mittel zur Zielerreichung eingesetzt wird. Das Schwierige daran ist, dass die Gefühle eines Anderen niemals direkt bearbeitet werden können, da sie Herstellungsleistungen dieses Anderen sind. 33 Diesen Nennungen von Berufsgruppen und Autor*innen liegt keine systematische Recherche und somit keinesfalls ein Anspruch auf Vollständigkeit zu Grunde. Ziel ist es vielmehr, die Bandbreite der beforschten Berufsgruppen und auch die Vielzahl an Studien zu verdeutlichen.
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Der Impuls zu einer solchen gewünschten Herstellungsleistung erfolgt über die Inszenierung einer emotional relevanten Szene als Angebot an d*en Kund*en, welches zur gewünschten emotionalen Reaktion führen soll. Dies erfolgt mittels Selbstdarstellung als Inszenierung der eigenen Person im Sinne Goffmans (2010 [1959]), welche in ihrer Regelhaftigkeit als Ritual verstanden werden kann. Im Rahmen der Arbeit an den Gefühlen de*s Kund*en wird das emotional relevante Ritual instrumentalisiert: die Gefühle de*s Kund*en werden als Gegenstand bearbeitet. Das heißt, wir haben es einerseits mit einer Manipulation der Gefühle de*r Kund*in zu tun, bei der d*ie Gefühlsarbeiter*in aber gleichzeitig auf de*ren Kooperation angewiesen ist und d*ie Kund*in demzufolge die Manipulation nicht als solche empfinden soll. Da sich dieses Dilemma nicht lösen lässt, ist ein überlistendes Vorgehen notwendig, bei dem die Manipulation als aufrichtig erscheint. Zusammenfassend sind die Anforderungen an d*ie Gefühlsarbeiter*in, welche sich aus dieser ersten Dimension ergeben, also eine emotional relevante Selbstdarstellung, die indirekte, ‚listige‘, improvisierende Arbeit am Gegenstand, welche geprägt ist von dem Widerspruch von Manipulation und Kooperation, sowie die Verschränkung der sachlichen und emotionalen Dimension der Dienstleistungstätigkeit (Dunkel 1988: 70). Mit der zweiten Dimension, Gefühl als Mittel, betont Dunkel (1988: 70), dass die emotionale Interaktion (Arbeiten am Gefühl eines Gegenübers) einen Rückgriff auf die und Einsatz der eigenen Gefühle erfordert, welcher sich nicht im herkömmlichen Verständnis von Arbeit (kognitiv-rational und technischrationell) auflösen lässt, sondern nicht-formalisierbare und nicht-technisierbare lebendige Arbeitsaspekte wie Empathie, Improvisieren und Erfahrungswissen enthält. Diese Dimension unterstreicht also Gefühle als die Erfahrungsgrundlage, auf deren Basis das Arbeitshandeln gestaltet wird. Die dritte Dimension, Gefühl als Bedingung, hebt im Anschluss an Hochschild (2006 [1983]) hervor, dass „die passende emotionale Befindlichkeit des Gefühlsarbeiters […] Bedingung für eine angemessene Arbeit an den Gefühlen der Klienten“ (Dunkel 1988: 72, Hervorhebungen im Original) ist. Hierin scheint das Element der emotionalen Selbstkontrolle auf, welches nötig wird, wenn eigenes Gefühl und darzustellendes Ritual voneinander abweichen. Die Einhaltung der Gefühlsregeln, aber auch die Verarbeitung von emotionalen Belastungen, werden durch die reflexive Bezugnahme auf die eigenen Gefühle ermöglicht, welche aber gleichzeitig die von Hochschild erkannten Gefahren, wie z.B. die Unfähigkeit, authentische Gefühle zu erfahren, in sich birgt. Auch wenn Hochschild nur eine Dimension der Gefühlsarbeit berücksichtigt, beleuchtet sie mit ihrer Analyse aber die Verschleierung des Widerspruchs zwischen Manipulation und Kooperation. Denn mit dem „deep acting“ geschieht die Manipulation in der
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Person des Gefühlsarbeiters, welcher nicht dem Kunden, sondern sich selbst etwas vorspielt (Dunkel 1988: 73f.). Abhängig von der betrieblichen Kontrollebene, die die Gefühlsregeln festlegt, der Dauer und Intensität des Kundenbezugs und dem Grad der Autonomie in der Arbeitsgestaltung unterscheidet Dunkel (1988: 81) die drei Typen von Arbeitsorganisation ‚Standardisierung‘, ‚teamartige Kooperation‘ und ‚berufliches Selbstkonzept‘. Dem ersten Typ entspricht die Arbeitsorganisation bei Flugbegleiter*n und Rechnungseintreiber*n, wie von Hochschild (2006 [1983]) beschrieben. Dem zweiten Typ der ‚teamartigen Kooperation‘ entspricht die Arbeitsorganisation der Pflegenden in der Studie von Strauss u.a. (1980). Demgegenüber orientieren sich beim dritten Typ „weitgehend professionalisierte und damit in der Gestaltung ihres Arbeitshandelns relativ autonome Berufstätige“ (Dunkel 1988: 81) an ihrem beruflichen Selbstkonzept. Die hierbei notwendigerweise den Arbeitskräften zugestandene Autonomie in der Interaktionsgestaltung wird dann durch stärkere Ergebniskontrollen wie z.B. des Verkaufserfolgs wieder eingefangen (Dunkel 1988: 83). Ein jüngerer Vorschlag zur Klassifizierung von verschiedenen Emotionsarbeitsarten stammt von Vincent (2011). Er unterscheidet im Anschluss an Bolton (2005b) zwischen Emotionsarbeit, die organisationalen Regeln unterworfen und Teil der Arbeitsaufgabe ist, und solcher, die aus verschiedenen Gründen freiwillig gezeigt wird (vgl. Spalten in Darstellung 8). Erste bezeichnet Vincent als reguliert, während letztere autonom erfolgt. Weiterhin unterscheidet er, ob Dienstleistende die (regulierten oder autonomen) Emotionsregeln befolgen oder von ihnen abweichen und gelangt so zu der in Darstellung 8 reproduzierten Vierfeldertafel. Sein Vorschlag unterscheidet sich folglich von Dunkels Definition insofern, als bei Dunkel freiwillige Emotionsarbeit nicht als Emotionsarbeit definiert ist (vgl. oben), und somit Typ 1 und 3 in Vincents Klassifikation nach Dunkel keine Emotionsarbeit wären. In jüngerer Zeit kommt im deutschsprachigen Raum, insbesondere in der Soziologie, auch dem Konzept der Interaktionsarbeit (z.B. Böhle 2011, Böhle/ Glaser/ Büssing 2006, Böhle/ Stöger/ Weihrich 2015, Büssing/ Glaser 1999b: 167) eine hohe Bedeutung zu. Es handelt sich hierbei um ein integrierendes Konzept, welches Emotionsarbeit, Gefühlsarbeit, Kooperationsarbeit (als interaktive Arbeit) und subjektives Arbeitshandeln umschließt und zusammenführt (Böhle/ Stöger/ Weihrich 2015: 18ff., Dunkel 2013: 46). Im Folgenden verzichte ich auf die Verwendung des Konzepts der Interaktionsarbeit zugunsten der separaten Diskussion der Konzepte ‚Emotionsarbeit‘ und ‚Gefühlsarbeit‘, um der hohen Bedeutung dieser für meine Fragestellung angemessen Rechnung zu tragen.
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Non-conforming
Conforming
Darstellung 8: Eine Arbeitsprozess-Perspektive auf die ‚economy of feelings‘ Autonomous
Regulated
1. Voluntary emotional labour
2. Conforming emotional labour
Definition: Definition: Presentational and philantropic ac- Conformity to pecuniary and pretivities that maintain the wellbeing scriptive feeling rules. of social relationships within work while also developing or extending capital interests. Example: Providing clients enotional 'gifts' and professional service that strengthen the relationship or increase the transacting between the employer and the client (see Jenkins et al., 2010).
Example: The 'surface acting' and 'deep acting' required to reproduce the display rules demanded (Hochschild, 1983).
3. Resistant emotional misbehaviour
4. Alienated emotional misbehaviour
Definition: Presentational and philantropic activities undertaken to (re)establish the wellbeing of social relationships at work where these undermine or counteract capital interests.
Definition: Non-conformity to pecuniary and prescriptive feeling rules through withdrawing labour of the type demanded.
Example: From skilfully putting the customer 'in their place' (Taylor and Bain, 1999) to collective emotional sentiments that generate solidaristic opposition and counter-narrtives to capital (see Taylor and Bain, 2003).
Example: Employees' 'conscious or unconscious attempts to unburden and detoxify themselves by returning … unbearable toxic experiences back into the customer' (Stein, 2008: 1235).
Quelle: Eigene Darstellung nach Vincent 2011: 1375; in der Grafik angegebene Literaturquellen finden sich ebendort
Weiterhin finden sich in der psychologischen Forschung Bemühungen, den Blick auf Emotionen in der Arbeit in der Form zu schärfen, dass neben den durch Emotionsarbeit modifizierten Gefühlen auch natürlich vorhandene Gefüh-
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le (‚naturally felt emotions‘) mit einbezogen werden (z.B. Diefendorff et al. 2005) und auch unbewusstes, anstrengungsfreies Tiefenhandeln Berücksichtigung findet (etwa als ‚automatic emotion regulation‘ bei Zapf 2002). 2.3.2 Emotions- und Gefühlsarbeit bei Gynäkolog*innen Im Folgenden werde ich anhand eines kurzen und exemplarischen Abrisses die Bedeutung der präsentierten Konzepte in der Gynäkologie veranschaulichen und diesen Arbeitsbereich konzeptionell verorten. Auf eine längere, beispielintensivere Darstellung verzichte ich, um den Veranschaulichungen in den folgenden Kapiteln nicht vorzugreifen. Wendet man nun also die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu Emotions- und Gefühlsarbeit auf die Gynäkolog*innen an, so ergibt sich das folgende Bild: Mit Blick auf die von Dunkel (1988) unterschiedenen drei Typen der Arbeitsorganisation lässt sich die gynäkologische Arbeit dem dritten Typ des ‚beruflichen Selbstkonzepts‘ zuordnen. Denn Dunkel schreibt zu diesem Typ, dass sich „weitgehend professionalisierte und damit in der Gestaltung ihres Arbeitshandelns relativ autonome Berufstätige“ (Dunkel 1988: 81) an ihrem beruflichen Selbstkonzept orientieren. Die hierbei notwendigerweise den Arbeitskräften zugestandene Autonomie in der Interaktionsgestaltung wird dann durch stärkere Ergebniskontrollen wieder eingefangen (Dunkel 1988: 83). Im Fall der in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen wäre eine solche Ergebniskontrolle in den Fragebögen zu sehen, welche am Ende eines Aufenthalts von den Patientinnen ausgefüllt werden sollen und deren Ergebnisse durch das Klinikmanagement an den Bereich Geburtshilfe / Gynäkologie zurückgespiegelt werden. Gleichzeitig ist dies auch die einzige Form, in der sich die Dunkel’sche Definition widerspiegelt, dass Emotionsarbeit als Teil der beruflich-fachlichen Anforderungen geleistet werden müsse. Der in den folgenden Kapiteln aufzuzeigende Einfluss der beruflichen Sozialisation ist in der Gynäkologie als einem Teil der Medizin zwar sehr ausgeprägt, aber ob sich hieraus ein durchgängiges „Muss“ ergibt, möchte ich doch bezweifeln. Wie mit Hochschild (2006 [1983]) dargestellt, beruhen die emotionalen Arbeitsanforderungen auf den organisationalen oder beruflichen Gefühlsdarstellungsregeln (display rules). Dabei sind in der gynäkologischen Arbeit die organisationalen Gefühlsdarstellungsregeln eher schwach ausgeprägt. Bei den in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen findet sich eine zentrale Darstellungsregel, nämlich stets freundlich zu den Patientinnen zu sein. Dies war allerdings keine explizite Aufforderung, sondern wurde implizit durch die bereits erwähnten Bewertungsbögen als Anforderung vermittelt. Jene Bewertungsbögen sollen
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die Patientinnen am Ende ihres Klinikaufenthalts ausfüllen. Neben Fragen zur Freundlichkeit des Klinikpersonals soll auch das Verhältnis der Berufsgruppen untereinander eingeschätzt werden. Die Ergebnisse dieser Befragungen werden regelmäßig an die Abteilungen zurückgespiegelt und erzeugen so einen Druck, sich den Erwartungen des Klinikmanagements gemäß zu verhalten. Die niedergelassenen Gynäkolog*innen sind als Selbständige im Gegensatz dazu in keine Organisation eingebunden, die ihnen Regeln vorgibt. Sie können sogar eigene Regeln aufstellen. Dennoch unterliegen auch sie bestimmten emotionalen Ausdrucksregeln, die ihnen im Laufe ihrer beruflichen Sozialisation vermittelt werden und somit als berufliche Gefühlsdarstellungsregeln (Bolton 2005b, Zapf 2002: 241) bezeichnet werden können. Aufgrund der gering ausgeprägten organisationalen Gefühlsdarstellungsregeln und dem Umstand, dass der emotionale Zustand der Patient*innen nicht das Hauptergebnis der gynäkologischen Arbeit darstellt, erscheint das Konzept der Gefühlsarbeit (Strauss et al. 1980) besonders anschlussfähig. Denn ein Großteil der von den Gynäkolog*innen geleisteten Emotionsarbeit steht im Dienste des Hauptarbeitsverlaufs und wird also nebenher erledigt, um die eigentliche Arbeitsaufgabe erreichen zu können. Ein Beispiel hierfür ist, Ängste bei einer Gebärenden zu zerstreuen, damit die Geburt voranschreiten kann. Oder auch einer Patientin mitzuteilen, dass sie einen Tumor in ihrem Körper hat, und ihr gleichzeitig Mut zu machen und ihren Kampfgeist gegen diese Erkrankung zu wecken. Mitunter ist es auch notwendig, ärgerlich aufzutreten, wenn eine Patientin eine Erkrankung zum Beispiel nicht ernst genug nimmt und so zu ‚besserem‘ Verhalten angehalten werden soll. All diese Emotionen (Zuversicht oder Ärger) werden gezeigt, um die Emotionen und das Verhalten der Patientinnen zu verändern und dadurch die eigentliche Arbeitsaufgabe, das Behandeln bzw. letzten Endes die Gesundheit der Patientin sicherzustellen. Demgegenüber gibt es auch Situationen, wo ein bestimmter Emotionsausdruck durchaus im Dienste der allgemeinen Arbeitsabläufe steht, aber nur teilweise oder gar nicht der Emotionsarbeit bedarf. Dies ist der Fall, wenn Patientinnen etwas erwarten oder verlangen, was die Gynäkolog*innen nicht zu leisten bereit sind. Dazu gehört z.B. die Erwartung einer Patientin, auch mit einer harmlosen Erkrankung in der Nacht von einer Bereitschaftsgynäkologin behandelt zu werden. Diese verbirgt ihren Ärger darüber, wegen (aus ihrer Sicht) einer Bagatelle aus dem Bett geholt worden zu sein, absichtlich nicht vor der Patientin. Sie will damit erreichen, dass diese sich zukünftig anders verhält und die Regeln der Abteilung (berechtigtes/ unberechtigtes Anliegen außerhalb der regulären Dienstzeiten) einhält. Der Ärger ist folglich nicht gespielt, sondern tatsächlich empfunden, so dass sich im Sinne von Diefendorff et al. (2005) von einer natür-
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lich empfundenen Emotion gesprochen werden kann, die dann auch ausgedrückt wird. Dennoch sollen hier Gefühle und Verhalten der Patientin im Sinne der organisationalen Abläufe so verändert werden, dass diese sich zukünftig passend verhält. Somit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich im Sinne der Unterscheidung von Vincent (2011) neben ‚conforming emotional labour‘ auch ‚voluntary emotional labour‘ findet, da die Gynäkolog*innen mitunter über die organisationalen und professionellen Verhaltensregeln hinaus freiwillige Emotionsarbeit leisten. Aber auch die nicht-konforme Form des ‚resistant emotional misbehaviour‘ lässt sich finden, wenn man an die Beispiele gezielt eingesetzten Ärgers denkt.
3
Das Gleichgewicht von Medizinischer Fachlichkeit und Emotionen
Im vorhergehenden Kapitel wurde aufgezeigt, welche konkreten Bedingungen den Umgang mit Emotionen im Kontext der gynäkologischen Arbeit und Arbeitsorganisation rahmen. In einem nächsten Schritt soll nun dargelegt werden, wie sich der Umgang mit Emotionen in der Gynäkologie genau ausgestaltet. Im Sinne des Kodierparadigmas (vgl. Kap. 1.2.2, Darstellung 3) handelt es sich dabei um das Phänomen. Das Besondere an diesem Fall ist, dass es sich bei dem Phänomen um einen dreischrittigen Prozess handelt. Im Folgenden wird argumentiert, dass Gynäkolog*innen zunächst im Studium nahezu ausschließlich mit dem Erwerb fachlichen, medizinischen Wissens und medizinischer Kompetenzen beschäftigt sind (Kapitel 3.1). Erst im Rahmen der praktischen Arbeit als Arbeit an und mit lebenden Menschen wird der Umgang mit den sich daraus ergebenden eigenen Gefühlen und Gefühlen Anderer erforderlich (Kapitel 3.2). Aus diesen zwei Lernphasen heraus entwickeln sich Verhaltensweisen im Umgang mit eigenen und anderen Emotionen, die von den beiden Bereichen (der Medizin in Form von medizinischer Fachlichkeit und der Emotionen als durch die praktische Arbeitstätigkeit auftretenden Gefühlen) geprägt sind. Die Gynäkolog*innen prägen eine spezifische Haltung aus, die zwischen beiden Bereichen vermittelt und sie in ein Gleichgewicht bringt. Hinsichtlich dieses Gleichgewichts lassen sich eine sich distanziert einlassende Haltung und eine sich einlassende Haltung unterscheiden (Kapitel 3.3). Abschließend soll das Phänomen um die ursächlichen Bedingungen ergänzt werden, welche die Ausprägung der spezifischen Haltungen ebenfalls mitbeeinflussen (Kapitel 3.4).
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3.1 AUSGANGSPUNKT: DIE EMOTIONSNEUTRALE MEDIZIN Der Prozess, in Zuge dessen Gynäkolog*innen das Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen erlernen, beginnt im ersten Schritt mit dem Studium. Das Studium der Medizin dient dazu, medizinisches Wissen zu erwerben. Diese zunächst banal anmutende Aussage würde im Umkehrschluss bedeuten, dass das Studium der Medizin nicht dazu dient, den Umgang mit Emotionen zu erlernen. Letztere Aussage lässt sich sowohl bejahen als auch verneinen. Dafür, dass Emotionen im Studium nicht gelehrt werden, spricht, dass die Gynäkolog*innen im Studium zunächst auf Dozierende treffen, die fachliche Inhalte präsentieren und dabei keinerlei emotionale Bedeutungsebene dieser Inhalte zum Ausdruck bringen: „Also...im Prinzip, beim Studium haben Sie eigentlich, äh, völlig neutrale Personen vor sich gehabt. Die haben das einfach erzählt, und sie haben ja auch keinen direkten Kontakt zu den Patienten gehabt größten, zum größten Teil, so das ist das eine.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Dabei muss man im Blick behalten, dass der größte Teil der interviewten Gynäkolog*innen in den 1970er bzw. 80er Jahren in der damaligen DDR studiert hat. Der Lehrinhalt, in dem ein Bezug zu Emotionen im Berufsleben wahrgenommen wird, ist hier ein Psychologiekurs als Bestandteil des Studiums. Dieser beschränkt sich jedoch auf die Erläuterung und Medikation psychischer Krankheiten, und, immerhin, das Ansehen von Patientenkonsultationen anhand von Videos. Eine Vorbereitung auf das Führen von Sprechstunden wäre unüblich gewesen. Der Umgang mit den eigenen Emotionen wird gar nicht wahrnehmbar thematisiert: „die Ausbildung auf den, auf das seelische Gleichgewicht und auf diese Hygiene im seelischen Bereich, die haben wir überhaupt nicht erfahren“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Die Einschätzung Schmidbauers aus den späten 1970er Jahren, dass die „Auseinandersetzung mit den Wünschen und Ängsten, mit der gefühlshaften Seite der Arbeit mit Menschen, […] dem Zufall überlassen“ wird (Schmidbauer 1977: 8, Hervorhebung im Original), legt nahe, dass diese Situation nicht nur auf die Ärzt*innenausbildung in der ehemaligen DDR, sondern ebenso auf Westdeutschland zugetroffen hat. Spätere Generationen von Medizinstudierenden, im
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Sample Gynäkologin 6 und 8, haben eine größere Zahl und Vielfalt an Veranstaltungen gehabt: „Also wir hatten ganz viel Kurse auch mit wirklich so Gesprächsmodellen, dass wir Rollenspiele spielen mussten, mit Kamera und Selbstbeobachtung [hm] und (einatmen) also so ganz viel auch praktische Übungen und Schauspielern, die irgendwas vorge- also mitgespielt haben, den Patienten gespielt haben [hm]. Wo man, also wir hatten da relativ viel und auch theoretisch Unterricht und Vorlesungen und (einatmen) aber, (.) ich hatte immer den Eindruck, der der’s kann kann’s und der, der’s nicht kann, konnt’s auch danach nicht [hm].“ (G6, Assistenzärztin Klinik)
Dennoch führt diese größere Aufmerksamkeit auf psychologische Aspekte nicht dazu, dass diese Gynäkologinnen sich besser auf den praktischen Arbeitsalltag vorbereitet fühlen. Im obigen Zitat klingt dies im letzten Satz bereits an: aus Sicht von Gynäkologin 6 ist der Umgang mit Patientinnen (und den damit verbundenen Gefühlen) nicht lehrbar, oder zumindest nicht in den angebotenen Formen. Insgesamt herrscht somit unter den befragten Gynäkolog*innen Einigkeit darüber, dass der Nutzen der im Studium gebotenen Inhalte für den Umgang mit Emotionen gering ist. Dabei äußert zum Beispiel Gynäkologin 1 durchaus den Wunsch, besser durch das Studium vorbereitet worden zu sein, stuft dies aber gleichzeitig als unrealisierbar ein. Der Umgang mit Emotionen könne und müsse erst im Berufsleben erlernt werden. Diese Position findet sich nicht nur bei älteren Gynäkolog*innen, die ihren Umgang in dieser Form gelernt haben, sondern auch bei den jüngeren. Folglich stehen sich der Wunsch nach mehr Vorbereitung auf den Umgang mit eigenen Emotionen und den Emotionen anderer in der Berufspraxis und die Überzeugung, dass ein Studium dies nicht leisten könne, unvereinbar gegenüber. Und zwar sowohl bei denen, die den Umgang aufgrund mangelnder Angebote erst in der Praxis erlernen konnten und mussten, als auch bei den Gynäkolog*innen, denen ihr Studium vielfältigere Lernmöglichkeiten bereitgestellt hat. Somit kann gezeigt werden, dass der Umgang mit eigenen Emotionen nicht gelehrt wird, und das Angebot im Hinblick auf den Umgang mit Emotionen Anderer als kaum vorhanden bzw. nicht wirksam wahrgenommen wird. Dieser empirische Befund deckt sich mit Befunden zur medizinischen Ausbildung „which is said to create a professional rationality that eschews feelings, emotions and sentimentality“ (Nettleton/ Burrows/ Watt 2008: 19). Der Hintergrund dieser ‚professional rationality‘ liegt darin, dass Professionelle keine Gefühle für ihre Klienten bzw. in Bezug auf ihre Klienten haben sollen. Stattdessen sollen sie ihnen mit „affektiver Neutralität“ (Parsons 1951) begegnen. Im Einklang mit
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dieser Annahme der affektiven Neutralität werden die Mediziner*innen in bisherigen (medizin)soziologischen Analysen als nicht-fühlend dargestellt (Nettleton/ Burrows/ Watt 2008, Smith/ Kleinman 1989). Nettleton et al. (2008) unternehmen in jüngerer Zeit einen Versuch, diese Lücke zu schließen, indem sie zunächst eine Kartierung der emotionalen Aspekte von medizinischer Routinearbeit anhand bestimmter Situationen erstellen. Die oben formulierte These, dass Emotionen nicht im Studium gelehrt werden, kann man andererseits aber auch verneinen. So untersuchen z.B. Smith und Kleinman (1989) die Rolle und das Management von Emotionen im Rahmen der medizinischen Ausbildung. Sie zeigen auf, wie die Tabuisierung von Emotionen zur professionellen Sozialisation und damit zur Entwicklung einer kontrollierten Gefühlswelt beiträgt. Dies geschieht, obwohl das Management der eigenen Emotionen kein expliziter Teil des Lehrplans ist. Ähnliche Prozesse zeigen auch Analysen der im Rahmen des Studiums durchzuführenden Präparierung eines Leichnams bzw. Obduktion eine*r kürzlich Verstorbenen (Fox 1979: 56ff., Lief/ Fox 1963, Schwaiger/ Bollinger 1981). Lief und Fox (1963) bezeichnen die Entwicklung einer solchen kontrollierten Gefühlswelt, mittels welcher Patientinnen mit objektiver Neutralität betrachtet werden können, aber mit empathischer Zuwendung behandelt werden, als „detached concern“. Eine solche implizite Form der Sozialisation wird in der vorliegenden empirischen Studie nicht angesprochen oder reflektiert. Geht man davon aus, dass die in der Literatur beschriebene implizite Sozialisation sich in gleichem Maß auch in der deutschen Medizin finden lässt, so kann sie hier folglich nicht nachgezeichnet werden, weil sie den Interviewpartner*innen nicht bewusst bzw. sprachlich zugänglich ist. Doch auch wenn sie solchen Formen der „professionalization of emotion“, wie Smith und Kleinman (1989: 57) es nennen, ausgesetzt waren, ändert dies nicht den Befund, dass im Studium eine emotionsneutrale, fachlich-medizinische Sicht ausgeprägt wird. Denn was die Autor*innen beschreiben, ist ja gerade eine auf die Kontrolle der eigenen Gefühlswelt ausgerichtete Sozialisationsform in die Welt der Medizin hinein. So bleibt festzuhalten, dass die Sicht auf die eigenen Emotionen und jene Anderer durch das medizinische Studium geprägt wird, indem ein Primat des medizinischen, fachlichen Blicks auf die eigene Arbeit und Patient*innen ausgeprägt wird.
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3.2 DEN UMGANG MIT EMOTIONEN ERLERNEN ALS LERNEN DURCH ERFAHRUNG Mit dem Beginn ihrer praktischen Arbeitstätigkeit erlernen Gynäkolog*innen den Umgang mit Emotionen, die ihnen aufgrund ihrer Arbeit begegnen. Die praktische Arbeitstätigkeit beginnt schon während des Studiums z.B. in Form von Praktika, intensiviert sich aber deutlich nach dem Studium in der klinischen Ausbildung zu*r Fachärzt*in. Im Umgang mit lebenden und fühlenden Patientinnen werden Gynäkolog*innen mit Gefühlen konfrontiert, und hierfür sind sie dem eigenen Erleben nach unzulänglich gerüstet. Dies können eigene Gefühle sein wie etwa die in Kapitel 2.2.2 beschriebenen. Ebenso werden die Gynäkolog*innen mit den Gefühlen Anderer konfrontiert, etwa denen von Kolleg*innen, Patientinnen oder Angehörigen. Beide, eigene und andere Emotionen, sind nicht als abgegrenzte Blöcke anzusehen, sondern bedingen sich vielfach wechselseitig, wenn Gynäkolog*innen in Interaktionen mit anderen Personen eingebunden sind. Mit dieser Gefühlsvielfalt im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit umzugehen ist eine der großen Aufgaben, die es mit Beginn der praktischen gynäkologischen Tätigkeit zu bewältigen gilt. Gynäkologin 4 nutzt in diesem Zusammenhang den bildhaften Ausdruck der „Herzensbildung“. Das bisher erworbene medizinische Wissen und der rein medizinische, emotionsneutrale Blick auf Patientinnen werden um eine neue Perspektive ergänzt. Wie dieser Lernprozess aussieht, ist Gegenstand dieses Kapitels. Im Folgenden wird ausgeführt, warum diese Lernprozesse stattfinden, was genau Gynäkolog*innen mit Blick auf den Umgang mit Emotionen lernen, und mit Hilfe welcher Strategien und in welchen Lerngelegenheiten Gynäkolog*innen den Umgang mit berufsbedingten Emotionen erlernen. Anstoßpunkte, den Umgang mit Emotionen zu erlernen Zunächst wird ausgeführt, warum Gynäkolog*innen den Umgang mit Emotionen erlernen bzw. was genau zu Lernprozessen führt. Wie in Kapitel 3.1 beschrieben, findet das Erlernen des Umgangs mit den eigenen Emotionen und Emotionen Anderer gerade nicht im theoretischen Teil des Studiums statt, sondern ist ein wichtiger Bestandteil der praktischen Ausbildung. Diese beginnt bereits mit Praktika während des Studiums, intensiviert sich aber mit dem Beginn einer Ausbildung zu*m Facharzt in einem Krankenhaus. Die angehenden Fachärzt*innen beobachten, wie andere mit eigenen Emotionen und den Emotionen Anderer umgehen. Dabei steht das Beobachten des Umgangs mit Patientinnen und deren Emotionen im Vordergrund, wenn junge Ärzt*innen ihre erfahrenen
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Kollegen zu verschiedensten Gesprächen begleiten. Gynäkologe 7 beschreibt dies zurückblickend so: „Das ist eigentlich alles ähm erlernt durch äh (3) ältere Kollegen, wo man bei solchen Gesprächen dabei war [hm], ne, die man hat ja nicht so’n Gespräch als allererstes allein geführt [ja]. Ne, man hat aber solche Gespräche mit Patienten mit älteren Kollegen äh gemeinsam geführt beziehungsweise war als Zuhörer dabei. Und hat eigentlich äh diese Gesprächsführung ähm durch solche Situationen im Prinzip selber erlernt und hat so sein’ (.) eigenen Stil entwickelt [hm]. […] Aber eigentlich, äh abgelesen von den andern.“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Andere bei der Gesprächsführung mit Patientinnen, und damit auch beim interaktionalen Umgang mit den Emotionen der Patientinnen zu erleben, ist folglich ein Anstoßpunkt für einen eigenen Lernprozess. Weiter unten wird diese Art des Lernens von Vorbildern ausführlicher als Strategie der Nachahmung des beobachteten Verhaltens beschrieben werden. Ein zweiter Anstoß für einen Lernprozess rund um den Umgang mit Emotionen liegt in dem Ziel, die eigene Arbeit zu verbessern. Der Fokus liegt hierbei auf der Patientin: so soll zum Beispiel die Gesprächsführung allgemein oder der Umgang mit Patientinnen mit Blick auf bestimmte kritische Ereignisse (z.B. die Diagnose einer schweren Krankheit) verbessert werden. Mitunter paart sich dieses Ziel mit einem allgemeinen Interesse an emotionalen Themen bei den betreffenden Gynäkolog*innen. Sie versuchen dann, ihre Lernprozesse durch Reflexion bestimmter Situationen oder durch entsprechende Weiterbildungen zu gestalten: ,,Aber das, das [die zusätzliche, spätere Psychologieausbildung; KR]... also fand ich eigentlich (..) erstens fand ich das interessant und dann, dann das hilft einem auch in der eigenen, in der Arbeit.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Drittens machen die Gynäkolog*innen Stresserfahrungen, die mit negativen Emotionen verbunden sind und somit Lernprozesse anstoßen. Im Datenmaterial ließen sich dabei zwei Arten der Stresserfahrung unterschieden. Dies ist erstens eine insbesondere zu Beginn der praktischen beruflichen Tätigkeit auftauchende Stresserfahrung, die sich aus dem Überschreiten der eigenen Grenzen ergibt. Dabei kann es sowohl eine Patientin sein, die die Grenzen de*s Gynäkolog*en missachtet, als auch d*er Gynäkolog*e selbst. Letzteres beschreibt Gynäkologe 3:
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,,Dass ich jetzt für andere Dienstleistungen, da würd’ ich mich heute abgrenzen, das würd’ ich nicht mehr machen. Das waren aber so, so Grenzübertretungen, die man dann am Anfang, die ich am Anfang gemacht hab’.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Den Grad der Abgrenzung, den er erreicht hat und hier benennt, kann man als Ergebnis des (hier ausgesparten) Lernprozesses begreifen. Die zweite Art der Stresserfahrung, welche Lernprozesse nach sich zieht, ist eine eher chronische Erfahrung von Stress (im Unterschied zu den vorher beschriebenen, eher singulären Ereignissen, die direkt eine Veränderung auslösen). Diese beschränkt sich nicht auf Berufsanfänger*innen, wie Gynäkologin 1 aufzeigt: ,,Ja, das ist, ich hab’ jetzt noch so ’nen, aber auch auf Privatbasis noch mal so ’nen Kurs mentales Training mitgemacht was mir sehr viel bringt, einfach dass man mal wieder ’nen bissel zur Ruhe kommt, ne.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Dieses ‚zur Ruhe kommen‘ verknüpft sie im Weiteren damit, dass sie dann auch wieder besser für die Patientinnen da sein könne, und schlägt so in gewisser Weise den Bogen zurück zum vorhergehenden Punkt, dem Ziel der Verbesserung der eigenen Arbeit. Die eingesetzte Lernstrategie ist hier die Weiterbildung in Form eines privat finanzierten Kurses. Viertens wird der Auslöser für Lernprozesse insbesondere in befürchteten negativen körperlichen und psychischen Konsequenzen (vgl. auch weiter unten im Kapitel, negative Folgen bzw. Kapitel 5.1) gesehen, falls ein adäquater Umgang nicht erlernt werden würde. Befürchtet werden der Verlust des seelischen Gleichgewichts, chronischer Stress, bis hin zu Burnout, aber auch eher körperliche Symptome wie Magengeschwüre. Gynäkologe 3 betont zum Beispiel die möglichen körperlichen Folgen: ,,Also ich hab’, weil ich gemerkt hab’, dass mir das nicht gut tut, wenn ich dann, sag mal, die Freundlichkeit auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite Dinge über die man sich ärgert, irgendwo muss es dann raus. Und wenn man es Tage mit sich rumschleppt, oder das Magengeschwür wächst, das bringt ja nichts “ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Demgegenüber stehen die psychischen Gefahren bei Gynäkologin 2 im Vordergrund – wobei freilich auch eine Burnout-Erkrankung mit körperlichen Symptomen einhergeht.
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,,Also, das [sich Freiräume schaffen und sich abgrenzen, KR] sollte man unbedingt lernen, denn ich, ich denke, wenn das nicht gelingt, führt es zu ’nem Burnout, irgendwann.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Fünftens ist das Erlernen des Umgangs mit Emotionen auch der Ausdruck einer Sorge um sich selbst. Diese ergibt sich aus (grenzüberschreitenden) Stresserfahrungen und befürchteten negativen Folgen, wenn der Umgang mit Emotionen nicht gelernt wird. Die Sorge um sich selbst begründet hier einen Prozess der Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Befinden, und damit auch den eigenen Emotionen. Gynäkologin 6 bringt dies so auf den Punkt: „Aber man hat das halt im Studium so gehört, dass es das [Ärzte, die sich verausgaben, Ergänzung KR] gibt. Und ich hab’ mir eigentlich vorgenommen, von Anfang an zu sagen, okay, guck auf dich selber. Und wenn es zu viel ist, ist es zu viel. [hm].“ (G6, Assistenzärztin Klinik)
Den Umgang mit Emotionen erlernen: Was gelernt wird Im vorigen Abschnitt habe ich dargelegt, wodurch in der praktischen Ausbildung Lernprozesse mit Blick auf Emotionen angestoßen werden. Von zentralem Interesse ist nun, was genau Gynäkolog*innen lernen, wenn sie den Umgang mit Emotionen erlernen. Hierbei lassen sich nach meiner Analyse fünf Aspekte unterscheiden: (1) (2) (3) (4) (5)
Rolle von Emotionen im Ärzt*innen-Patientinnen-Kontakt Gespür für Patientinnentypen entwickeln Emotionen (nicht) zeigen Einordnung emotional bedeutsamer Arbeitssituationen Stressbewältigung oder -reduktion; Grenzziehung
Während die ersten beiden Punkte sich vor allem auf die in Interaktionen entstehenden Gefühle richten und es (auch) um die Wahrnehmung und Beeinflussung der Emotionen der Patientinnen geht, handelt es sich bei (4) und (5) deutlich stärker um Aspekte, die die eigene Gefühlswelt der Gynäkolog*innen und das Erlernen der Regulation dieser Gefühlswelt betreffen. Der dritte Punkt, Emotionen (nicht) zeigen, enthält Elemente von beidem. Die fünf Aspekte werden Folgenden dargestellt. Zunächst einmal erlernen Gynäkolog*innen in ihrer Berufspraxis die Bedeutung von Emotionen im Ärzt*innen-Patientinnen-Kontakt (1). Dies betrifft insbesondere den Bereich der Gesprächsführung mit Patientinnen im Allgemeinen,
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aber auch wie man Emotionen bewusst in spezifischen Kontexten berücksichtigt, etwa im Umgang mit onkologischen Fällen: ,,Also grade für die, wenn Sie viel (...) onkologische Patienten haben... Das ist einem nu ne in die Wiege gelegt, wie man mit denen umgeht. Das muss man einfach dann mit der Zeit wirklich mal bissl genauer... lernen und, und, und (..) bissl besser, das man bissl besser weiß, was kann man denen zumuten, wie, wie wollen die auch angesprochen werden möglicherweise.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Hier geht es um explizite Lernprozesse, die über das intuitive Handeln hinausgehen bzw. es reflektieren sollen. Lerninstanzen sind dementsprechend die eigene Reflexion, aber auch die Anleitung durch (erfahrene) Krankenpflegende, die Rückmeldung von Patientinnen oder die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen, etwa zu psychoonkologischen Themen. Der Fokus liegt bei diesem Aspekt des Umgang Erlernens, wie auch das obige Zitat verdeutlicht, auf dem gelungeneren Umgang für die Patientin und weniger darauf, schwierige Situationen für sich selbst angenehmer zu gestalten. Außerdem entwickeln die Gynäkolog*innen ein Gespür für die verschiedenen Patientinnentypen (2) und deren jeweilige Bedürfnisse. Auch dieses Bemühen, den verschiedenen Patientinnentypen gerecht zu werden, ist eher auf die Patientinnen gerichtet als auf den Umgang mit eigenen Emotionen. Dabei spielt das Gespür für unterschiedliche Patientinnen einmal eine Rolle, wenn es darum geht, die Basis des allgemeinen Umgangs miteinander auszuloten. Zum anderen geht es aber auch darum, ob und wie die Gynäkolog*innen bestimmte ihnen bekannte medizinische Umstände an die Patientin weitergeben: ,,da, sie, sie erlernen das im Laufe der Zeit. Sie entwickeln auch ’n Gespür, ’n Gefühl für die unterschiedlichen Patientinnentypen und, wem kann ich wann was zumuten zu sagen? und so weiter, das äh, das ist reine Empirie würde ich sagen“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Weiterhin lernen Gynäkolog*innen im Verlauf ihrer Berufspraxis, Emotionen zu zeigen bzw. nicht zu zeigen (3). An verschiedenen Stellen wird betont, wie wichtig Emotionen für die gynäkologische Arbeit sind. Gynäkologin 1 bringt dies so auf den Punkt: ,,Und bei der praktischen Ausbildung, wie gesagt, ich ich kann mir nicht vorstellen, dass man in dem, in diesem Beruf arbeiten kann ohne Emotionen zu zeigen, ne.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
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Die mit dem Zeigen von Emotionen verbundenen Lernprozesse weisen dabei zwei Richtungen auf. Für die einen Gynäkolog*innen steht eher im Vordergrund, dass sie erlernen, die Emotionen auszudrücken, die sie empfinden, auch wenn es negative Emotionen sind. So gilt beispielsweise das Zeigen von Missfallen in vielen sozialen Situationen als unangebracht. Mit dieser Regel zu brechen und eigene Gefühle authentisch zum Ausdruck zu bringen, scheint aber für einige Gynäkolog*innen eine wichtige Funktion zu erfüllen: ,,Ich bin auch so erzogen worden eigentlich, da nicht gegenzureden, was ich aber abgelegt habe. Also ich hab’, weil ich gemerkt hab’, dass mir das nicht gut tut, [...] Dinge über die man sich ärgert, irgendwo muss es dann raus. [...] dass ich dann auch, mir selber, in der Erfahrung gemerkt hab’, es tut dir gut, das sofort zu, äh, klären. Das hab’ ich dann erfahren.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Die eigenen Emotionen authentisch gegenüber Patientinnen zum Ausdruck zu bringen, ist ein Lernprozess, der von niedergelassenen Gynäkolog*innen zur Sprache gebracht wird. Für die in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen scheint eine andere Richtung des Zeigens von Emotionen eine größere Rolle zu spielen: sie müssen erlernen, bestimmte Emotionen nicht zu zeigen, um den Gefühlsregeln (Hochschild 2006 [1983], vgl. Kap. 2.3.2) der Klinik zu entsprechen. Dies hängt mit den Bewertungsbögen zusammen, die am Ende eines Klinikaufenthalts an die Patientinnen ausgeteilt werden. Die Patientinnen sind angehalten, u.a. die Freundlichkeit des Personals zu beurteilen. Die Ergebnisse dieser Befragung werden in der untersuchten Klinik regelmäßig an die Beschäftigten zurückgespielt und sorgen so als Kontrollinstrument (vgl. allgemein zu managerialer Kontrolle von Emotionen Fineman 1996: 557f.) dafür, dass diese sich überwiegend, entsprechend der Gefühlsnorm, freundlich verhalten. Wenn Gynäkolog*innen also erlernen, ihre Gefühle (nicht) zu zeigen, tun sie dies einerseits mit Blick auf die Patientinnen (und das Wohl der Klinik), andererseits aber auch mit Blick auf sich selbst, wenn es darum geht, die eigenen Gefühle authentisch zum Ausdruck zu bringen. Authentizität bedeutet in diesem Fall, dass durchaus auch Gefühle zum Ausdruck gebracht werden, die nicht den sozialen Regeln für den Austausch zwischen Ärzt*in und Patientin entsprechen. Die nächsten beiden Aspekte beziehen sich nun darauf, was mit Blick auf den Umgang mit eigenen Gefühlen von den Gynäkolog*innen gelernt wird. Hierzu gehört, für sich selbst emotional bedeutsame Arbeitssituationen einordnen zu können (4). Es muss die Fähigkeit erworben werden, einschätzen zu können, ob die eigene Wahrnehmung einer Situation oder der eigene Umgang mit einer Situation als normal eingestuft werden kann. Es geht also darum, ob die ei-
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genen Gefühle in einer bedeutenden Situation angemessen sind oder nicht, aber auch darum, ob das zugehörige Handeln als adäquat im Sinne eine*s Gynäkolog*en eingestuft werden kann. So bezeichnet ein niedergelassener Gynäkologe es als „wohltuend“, zu erfahren, dass jede*r Gynäkolog*in irgendwann in seinem oder ihrem Berufsleben ein wachsendes Karzinom übersehen wird. Aus der Angst vor einem individuellen Fehler kann so ein allgemeines Berufsrisiko werden, das nach wie vor nicht schön ist, d*en Gynäkolog*en aber nicht allein da stehen lässt mit einem Fehler, sondern ihn in einer Gruppe von Ärzt*en positioniert, denen das passieren kann oder wird: ,,Sie wissen ja auch nicht, was auf sie zukommt, bevor sie das machen. […] Ich hab einen älteren Kollegen […] kennengelernt, der gesagt hat, es kann sein, du machst hier vierzig Jahre lang Zellabstriche und machst auch, und gibst du Mühe, und eine Frau kommt hier und hat ihr Zervixkarzinom trotzdem, ihren Muttermundskrebs, obwohl du das dort gemacht hast [hm]. Sagt er. Das ist mir so gegangen, das wird dir so gehen, sowas ist natürlich sehr wohltuend, weil man dann einfach mal ’ne menschliche Regung irgendwo trifft.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Außerdem lernen die Gynäkolog*innen mit Blick auf die eigenen Gefühle, sich selbst abzugrenzen und mit Emotionen, die Stress hervorrufen, umzugehen (5). Das Abstecken der eigenen Grenzen, welches sich zum Teil aus Grenzüberschreitungen in der Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin entwickelt, spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Erlernen der eigenen Grenzen durch die Überschreitung ebendieser schildert Gynäkologe 3: ,,Also ich hab’s, diese, diese Methoden, dass man sich abgrenzen muss, dass man nicht mit jedem Patienten mit weint. [...] Und das hat dann eigentlich so die Erfahrung gebracht, als man so’n paar Grenzübertretungen ich gemacht hab’ damals, auch im Assistentenbereich, hab ich ’ner Frau noch ’nen Rollstuhl noch von [Ort Z] hierhergefahren und der einen Frau, der hat’s das Meerschwein. [...] Hab’ ich das Meerschwein abgeholt, woanders hingeschafft. [...] Dass ich jetzt für andere Dienstleistungen, da würd’ ich mich heute abgrenzen, das würd’ ich nicht mehr machen. Das waren aber so, so Grenzübertretungen, die man dann am Anfang, die ich am Anfang gemacht hab’.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Das Erkennen und Anerkennen der eigenen Grenzen dient dazu, den mit bestimmten Situationen und Emotionen verbundenen Stress zu reduzieren und/ oder zu bewältigen. Dafür finden die Gynäkolog*innen verschiedene Wege und nehmen zum Teil auch unterstützende Weiterbildungen, z.B. zur Stressbewälti-
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gung, in Anspruch. Für Gynäkologin 10 ist es beispielsweise wichtig, Behandlungsentscheidungen und deren Kommunikation so zu gestalten, dass sie damit direkt für sich selbst zufrieden ist und folglich nicht zu Hause weiter darüber nachdenken muss, was für sie belastend werden könnte: „Manches sind aber auch, manche Sachen nimmt man schon auch mit ins Bett. Wo man dann auch denkt, ‚na,' (auflachen), nachts aufweckt, auch wieder an irgend’ne Situation dann denkt. Also, das ist schon nicht zu unterschätzen. Ich mein’, auch damit lernt man natürlich umzugehen. Und das war am Anfang der Ausbildung, kurz nach der Ausbildung sicherlich noch, noch schlimmer. Jetzt versuche ich schon, für mich schon die Entscheidung so zu treffen, dass ich dann auch möglichst im Nachhinein sage, das war jetzt richtig, ne. Oder eben solche Situationen, wo man dann sich selber ständig hinterfragt, möglichst eben zu umgehen. Weil dann, muss irgendwo dann für sich auch den Abschluss finden. Weil, irgendwann muss man sich ja auch selber dann schützen.“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
In diesem Zitat bringt sie folglich zum Ausdruck, wie wichtig es für sie ist, belastende Emotionen (hier Selbstzweifel) und daraus resultierenden Stress zu reduzieren. Dies geschieht durch eine Form der Grenzziehung: die Entscheidung direkt an Ort und Stelle so zu treffen, dass sie nicht mehr zu Hause, im Privaten hinterfragt werden muss. Dies verweist bereits auf die in Kapitel 4.1 beschriebenen Strategien der Grenzziehung, welche ein Ergebnis des Erlernens des Umgangs mit Emotionen darstellen. Weiterhin deutet Gynäkologin 10 in obigem Zitat aber auch an, dass jede*r für sich selbst erlernen muss, wie man „den Abschluss finden“ kann. Das und wie dies gelingt, bezeichnet Gynäkologe 5 gar als private Angelegenheit: „Und (.) ansonsten ist es (.) naja, reine private Angelegenheit, ne. Ob man gut einschläft oder nicht, oder ob man davon träumt oder nicht, das sind Dinge, die, das muss jeder, oder kann das nur mit sich selbst abmachen.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Strategien, den Umgang mit Emotionen zu erlernen Nachdem wir nun betrachtet haben, was Gynäkolog*innen lernen, wenn sie den Umgang mit Emotionen erlernen, und warum sie genau diese Aspekte erlernen (müssen), stellt sich als nächstes die Frage, wie sie die oben dargestellten Aspekte erlernen. Hierbei lassen sich vier Lernstrategien unterscheiden. Dies sind Lernen durch Nachahmung, Lernen durch Austausch mit Anderen, eigenes Ausprobieren und Lernen in Weiterbildungen. Die vier Lernstrategien treten oftmals auch in Kombination auf.
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Das Lernen durch Nachahmung, insbesondere zu Beginn der praktischen Berufsausbildung, ist die wohl am häufigsten erwähnte Art, wie Gynäkolog*innen den Umgang mit Emotionen erlernen. Sie orientieren sich dabei an ärztlichen Vorbildern, also meist hierarchisch höher gestellten Gynäkolog*innen, aber auch an Hebammen oder Krankenpflegenden. Dabei kann das nachahmende Lernen unbeabsichtigt von Seiten des ‚Vorbildes‘ erfolgen, aber auch bewusst in der Situation angelegt werden, wie von Gynäkologe 7 geschildert: ,,Das ist eigentlich alles ähm erlernt durch äh (3) ältere Kollegen, wo man bei solchen Gesprächen dabei war [hm], ne, die man hat ja nicht so’n Gespräch als allererstes allein geführt [ja]. Ne, man hat aber solche Gespräche mit Patienten mit älteren Kollegen äh gemeinsam geführt beziehungsweise war als Zuhörer dabei. Und hat eigentlich äh diese Gesprächsführung ähm durch solche Situationen im Prinzip selber erlernt und hat so sein’ (.) eigenen Stil entwickelt [hm]. Muss man einfach so sagen. Aber eigentlich, äh abgelesen von den andern.“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Er stellt hier dar, wie ältere Kollegen die ‚Neulinge‘ an das Führen von schwierigen Patientinnengesprächen heranführen, in dem sie zunächst nur beobachtend teilnehmen. Dies erfolgt vermutlich mit dem expliziten Ziel, Wissen an berufsjahresjunge Gynäkolog*innen weiterzugeben. Dass das Lernen durch Nachahmung von Vorbildern auch genau in die andere Richtung ausschlagen kann, berichtet Gynäkologe 9. Die Praxis der Gesprächsführung älterer Kollegen führt in seinem Fall gerade dazu, es anders machen zu wollen: „Denn bei unserer Vorgeneration äh war ja immer noch die Situation so, dass man den Leuten die Diagnose Krebs überhaupt nicht gesagt hat [m-hm]. Sondern man hat gesagt äh ja Sie sind krank, wir haben jetzt den Tumor operiert und das ist aber damit alles erledigt, und das ist alles gut und tschüss [hm]. […] und äh das hab’ ich in meiner Ausbildung oft erfahren, dass man den Leuten eigentlich nicht die Wahrheit gesagt hat [hm]. […] Äh, das fand’ ich ’ne sehr schlimme Situation. Und natürlich auch katastrophal für den Patienten eigentlich [hm, hm]. Und das hat sich aber bei uns schon in der Ausbildung geändert, nämlich dort wurde auch was ich vorhin schon mal sagte, dieser dieser positive Wille letztlich auch geweckt, in dem man eben dem Patienten genau sagt ‚Passen se auf, das und das ist.‘ [...]“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Gynäkologe 9 lehnt die in seiner Anfangszeit noch verbreitete Praxis ab, den Patientinnen Informationen über ihre Krankheit vorzuenthalten. Unterstützt wird er dabei durch das (zu seiner Zeit als Neuheit) im Studium vermittelte (Lehr)Wissen im Bereich medizinischer Psychologie darüber, dass eine transpa-
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rente Vermittlung der Diagnose an die Patientin eine positive Sicht auf die Erkrankung, die Heilungschancen bzw. die Möglichkeiten des Lebens mit einer Erkrankung begünstigen soll. Durch die Abgrenzung von der in der Vorgeneration verbreiteten Praxis lernt er seinen eigenen Umgang gerade dadurch, dass er das vorgelebte Verhalten nicht nachahmt. Neben dem nachahmenden Lernen erlernen Gynäkolog*innen den Umgang mit eigenen Emotionen und Emotionen Anderer auch durch den Austausch mit ihren Kolleg*innen im Gespräch. Während das vorab beschriebene nachahmende Lernen eher auf einer körperlich-beobachtenden Ebene im Tun stattfindet, geht es beim Lernen durch Austausch um die verbale Weitergabe eigener Erfahrungen. Hier spielt primär das Lernen von den ‚alten Hasen‘, also erfahrenen Gynäkolog*innen, eine Rolle. Diese können auch hier eine Vorbildfunktion einnehmen: ,,Und dann haben se natürlich immer mal einzelne Personen mit denen se auch mal drüber sprechen. Grad mein alter Chef, der hat immer gesagt, in der Medizin kann man nicht arbeiten ohne Herzensbildung.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Das Zitat von Gynäkologin 1 veranschaulicht, wie prägend solch ein verbaler Austausch mit Vorbildern für die Einstellung der Gynäkolog*innen sein kann. In diesem Fall wurde damit früh in der Berufslaufbahn, und anhaltend bis heute, die hohe Bedeutung von Emotionen für die gynäkologische Arbeit fixiert. Während die meisten Gynäkolog*innen an dieser Stelle das Lernen von erfahrenen Kolleg*innen thematisieren, betont Gynäkologe 9 das Lernen als gegenseitigen Prozess. Während die Stärke der älteren Gynäkolog*innen ohne Zweifel im großen Schatz an Erfahrungswissen liege, seien es eben die jüngeren Kolleg*innen, die eine umfassendere Ausbildung zum Umgang mit Emotionen in ihrem Studium erhielten. Somit könne man auch von diesen etwas lernen. Eine weitere wichtige Quelle für Lernprozesse liegt im eigenen Ausprobieren. Hierbei ist weniger relevant, woher die Ideen für ausprobierte Praktiken stammen. Stattdessen steht im Vordergrund, dass das eigene Handeln reflektiert wird. Dabei kann es sich ebenso um die ersten praktischen Berufserfahrungen handeln, wie um in der späteren Berufslaufbahn auftauchende Fehler oder Fehlentscheidungen. Gynäkologe 3 schildert, wie er aus einer (aus seiner Sicht) falschen Entscheidung, Patientinnen auch in Abwesenheit von Dritten zu behandeln, lernt und diese Praktik verändert. Der Grund für die Veränderung, also die Entscheidung, Patientinnen in seiner Praxis nur noch im Beisein Dritter zu behandeln, liegt im Gefühl der Schutzlosigkeit begründet. Er probiert eine andere
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Praktik aus, um das Gefühl der Schutzlosigkeit zu vermeiden, d.h. seine eigenen Gefühle zu regulieren: ,,aber als Mann, ich muss mal sagen, habe ich mir das eigentlich zum Grundsatz gemacht, dass ich eigentlich immer jemand mit drinne habe, und ich habe am Anfang, habe ich das so gemacht, dass ich, wenn der Dienst da sehr lang ging, dass die Schwester, dass ich bei der letzten Patientin, wenn sie noch ’n Problemchen hatte, dass ich gesagt hab’, ich untersuche erst, sie können dann gehen, ich rede mit der Patientin noch. Das hab ich ’n paar Mal gemacht, dann ging die Tür zu, es war dunkel schon draußen, es war mir äußerst unangenehm. Ich hab’ mich wie, äh, schutzlos gefühlt. Ich dachte, das machste nicht wieder. Da war nichts. […] War mir unangenehm. Wollte ich nicht. Möchte ich nicht haben.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Abschließend wird auch in Weiterbildungen der Umgang mit eigenen Emotionen und denen Anderer erlernt. Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Balintgruppen (zum Konzept der Balint-Gruppe vgl. z.B. Rosin 1989), welche in neueren Weiterbildungsordnungen für alle Gynäkolog*innen in der Facharztausbildung verpflichtend sind (Haselbacher 2013, z.B. für Sachsen: Sächsische Landesärztekammer 2016: 13). Aber auch ältere Gynäkolog*innen erwähnen Balintgruppen oder andere Weiterbildungen, etwa im psychoonkologischen Bereich, als hilfreiche Instanzen um sowohl den Umgang mit eigenen Emotionen und Emotionen Anderer zu erlernen als auch ihre Handlungsweisen gegenüber Patientinnen im Sinne der Patientin zu verbessern. Dass beide Aspekte, der Umgang mit den eigenen Gefühlen und der Umgang mit Gefühlen Anderer, vielfach in der konkreten Situation untrennbar ineinanderfließen, veranschaulicht Gynäkologin 2 im folgenden Zitat: ,,dann befass ich mich also auch sehr intensiv mit onkologischen Problemen, […], also viele Krebspatientinnen in meiner Betreuung, und ähm, da fahr’ ich jedes Jahr zu einer psychoonkologischen Fortbildung auch. […] also auch im Sinne von, ja, wie soll ich denn das sagen, im Sinne von Selbstspiegelung. Ja, also dass wir uns sehr, sehr viel über solche Probleme, Emotionen im Arzt-Patientenkontakt, wie bringe ich es bei, und so. Auch sehr offen. […] Ähm, selbst im Rollenspiel versuchen zu erlernen, solche, solche Techniken, mit den Patienten umzugehen, ne. […] Wo wir uns dann auch, dass ist eben auch der Anspruch, dass man Strategien entwickelt, äh, ja, wie kann ich auf die Dauer damit umgehen, um nicht selber irgendwie Schaden zu nehmen, ne.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Die vierte Lernstrategie, das Lernen in Weiterbildungen, unterscheidet sich insofern von den vorhergehenden, als dass die anderen Lernstrategien der Nachah-
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mung, des Austauschs mit Anderen und des eigenen Ausprobierens intendierte oder nichtintendierte Elemente von Weiterbildungen sein können. Hervorzuheben ist, dass keine der Lernstrategien Nachahmung, Austausch mit Anderen, eigenes Ausprobieren oder Weiterbildungen in den Interviews dominiert. Stattdessen ist das Erlernen des Umgangs mit Emotionen in der Regel durch eine Kombination dieser vier Strategien geprägt. Außerdem fällt auf, dass die Gynäkolog*innen den Umgang mit Emotionen größtenteils individuell und auf freiwilliger Basis erlernen. Standardisierte Programme, welche für alle Mediziner*innen, Gynäkolog*innen, oder niedergelassenen Ärzt*innen Pflicht wären, spielen eine untergeordnete Rolle, da sie lediglich in Form der in der Weiterbildungsordnung fixierten Balintgruppen als Teil eines psychologischen Ausbildungsmoduls auftauchen. Dieses hat allerdings noch keine der von mir befragten Gynäkologinnen in der Fachärzt*innenausbildung zum Zeitpunkt des Interviews besucht. Wendet man den Blick von den konkreten Lernstrategien ab und richtet ihn auf die Lernintensität im Zeitverlauf der praktischen gynäkologischen Arbeit, so fällt auf, dass das Lernen zum Anfang der praktischen Berufslaufbahn besonders intensiv erfolgt, und zwar im Sinne einer Sozialisation in den Beruf hinein und "on the job" (Conradi 1983: 65ff., von Rosenstiel/ Molt/ Rüttinger 2005: 405). Im späteren Karriereverlauf treten hingegen selbst gesuchte freiwillige Weiterbildungsangebote in den Vordergrund. Allerdings werden letztere nur von den niedergelassenen Gynäkolog*innen angesprochen, aber von keinem der berufsjahreälteren Gynäkologen in der untersuchten Klinik. Die Strategien des Lernens beeinflussende Faktoren Zu den Faktoren, die beeinflussen, dass die Gynäkolog*innen genau die vier oben dargestellten Lernstrategien nutzen, gehört der bereits in Kapitel 3.1 beschriebene Umstand, dass der Umgang mit den eigenen Emotionen und denen anderer im Studium gerade nicht erlernt wird. Darüber hinaus erschwert auch die Tabuisierung von Problemen im Kreise der Ärzt*innen Lernprozesse. Zahlreiche Themen, die ‚weiche‘ Aspekte wie Emotionen oder psychische Belastungen betreffen, werden nicht offen angesprochen und sind gar mit einem Tabu belegt. Dies trifft für niedergelassene Gynäkolog*innen untereinander ebenso zu wie für Kolleg*innen im Team einer (hierarchisch strukturierten) Klinik. Kritische Emotionen zu zeigen oder zu besprechen wird schnell als Schwäche ausgelegt, welche sowohl im niedergelassenen wie klinischen Bereich negative Konsequenzen für den beruflichen Erfolg haben kann. Gynäkologe 3 spricht diese Aspekte am deutlichsten an:
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,,Sie wissen ja auch nicht, was auf sie zukommt, bevor sie das machen [hm]. Und die älteren Kollegen, die werden se selten finden, dass da jemand die Karten auf den Tisch legt. […] Aber ansonsten werden sie solche, solche Offenbarungen, oder dass einer sagt, ich hatte, mit Mitte 40 wollte ich alles hinschmeißen, oder wollte die Praxis schon aufgegeben oder so, einfach mal so, das sagt ihnen niemand. Das wird keiner, so ’ne Breitseite gibt niemand. Es sei denn, dann im ganz engsten Kreis “
und an anderer Stelle: ,,Deshalb ist man auch, hat man auch, wenn man dann selber mal ’n bissl ’n Tief hat, hat man’s schwer, das zu werten. Wo steh ich denn? Ist das normal, oder oder ist das jetzt immer so, oder, oder das ist schwierig. Also das ist, so ’ne Befindlichkeiten, sind eigentlich tabu. Zumal man ja auch Einzelkämpfer ist “ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Folglich fördert ein solches Klima der Tabuisierung von Problemen, dass Gynäkolog*innen eher durch eigenes Ausprobieren lernen oder Lernerfahrungen in Weiterbildungen (weitab vom heimischen Kolleg*innenkreis) suchen. Weiterhin beeinflusst die Dauer der Berufstätigkeit der Gynäkolog*innen, wie weit diese bereits auf dem Weg des Erlernens des Umgangs mit Emotionen gegangen sind: sind sie noch ‚Neulinge‘ oder bereits ‚alte Hasen‘ auf diesem Gebiet? Dabei lernen die ‚Neulinge‘ bestimmte Aspekte des Umgangs mit Emotionen in verschiedenen Etappen. Der Unterschied zwischen primär theorievermittelndem Studium und dem Beginn der praktischen gynäkologischen Tätigkeit wurde in dieser Arbeit bereits erläutert. Gynäkologin 10 verweist in diesem Zusammenhang darüber hinaus auch auf institutionalisierte Lernphasen innerhalb der praktischen Ausbildungszeit: „Ich denk schon, dass es in der Facharztausbildung schon, also in der Ausbildung bis zum Facharzt, schon ’ne große Rolle spielt. Die Gesprächsführung. Und dass man’s auch in der Zeit eigentlich ganz gut erlernen kann, weil man viele solche Gespräche tagtäglich dann führt [hm]. Ähm, was man auch erst lernt, und vielleicht auch erst lernt, wenn man Facharzt ist, ähm, wie man dann bestimmte Diagnosen eben mit dem Patienten bespricht. Oder was man jetzt für Therapie vorschlagen würde [hm]. Das hört man eigentlich mehr so in der Ausbildung erst, wie die älteren Kollegen das macht, da ist man eigentlich dabei, bei solchen Gesprächen. Man kann natürlich sich auch vieles abhören, schon abgucken, aber ist natürlich immer ’n Unterschied, wenn man dann selber das Gespräch führt. Dann, ja, denke ich, ist es schon noch mal was anderes. Und das lernt man vielleicht dann erst so’n bisschen danach, ne.“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
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In der Ausbildung zu*r Fachärzt*in wird zunächst also die allgemeine Gesprächsführung mit Patientinnen eingeübt, wie sie etwa in Aufnahmegesprächen zu Beginn eines Klinikaufenthalts stattfindet. Später, als Fachärzt*in, tritt das Führen ‚schwierigerer‘ Gespräche hinzu. Am Ende dieser Lernprozesse entwickeln die Gynäkolog*innen eine gewisse Routine im Führen von Patientinnengesprächen aller Arten. Das heißt nicht, dass Gespräche über z.B. eine nicht weiter therapierbare Erkrankung dann angenehm sind, aber die Gynäkolog*innen wissen damit für sich umzugehen. Der gerade beschriebene Entwicklungsprozess vom ‚Neuling‘ zum ‚alten Hasen‘ wird nicht nur von den beruflichen, sondern auch von privaten Lebenserfahrungen beeinflusst. Eigene Reifungsprozesse, die auch mit Schicksalsschlägen in der eigenen Familie zusammenhängen können, prägen und verändern durchaus auch den Blick auf die Schicksale der Patientinnen. Die Gynäkolog*innen, die solche privaten Ereignisse im Interview zur Sprache bringen, begreifen die daraus gewonnene Erfahrung auch als Stärke. Beispielsweise führen eigene Erfahrungen mit sterbenden Familienmitgliedern zu einem leichteren Mitfühlen oder Hineinfühlen in die Situation von Patientinnen und ihren Angehörigen und können ein Gefühl dafür geben, was diese gerade brauchen könnten. Oder die eigene biografische Erfahrung mit Kindern mit Behinderungen ermöglicht eine größere Offenheit und Toleranz für verschiedenste Entscheidungen von Eltern, ein (wahrscheinlich) mit einer Behinderung geborenes Kind auszutragen oder abzutreiben. Mit Blick auf die Dauer der Berufstätigkeit und die eigenen biografischen Erfahrungen als relevante beeinflussende Faktoren für den Umgang mit Emotionen wird deutlich, dass es sich beim Erlernen dieses Umgangs um einen Prozess handelt. Dabei liegt die intensivste Lernphase wie beschrieben am Beginn der praktischen gynäkologischen Tätigkeit, also in der Ausbildung zu*m Facharzt sowie am Beginn der Tätigkeit als Fachärzt*in. Dieser Lernprozess verstärkt sich erneut, wenn Gynäkolog*innen in die niedergelassene Tätigkeit wechseln und in diesem Zusammenhang mit neuen Anforderungen und veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert sind. Im Durchlaufen dieser Phasen entwickelt jede*r Gynäkolog*in für sich eine bestimmte Haltung, wie er oder sie mit eigenen Emotionen und den Emotionen Anderer umgeht. Diese werden im nächsten Kapitel 3.3 ausführlich dargestellt. Sie sind das Ergebnis des bis zum Zeitpunkt des Interviews durchlaufenen Lernprozesses, welchen zwei Gynäkologen auch sehr treffend als „Erfahrungslernen“ bezeichnen.
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Was daraus folgt, dass Gynäkolog*innen den Umgang mit Emotionen erlernen Bevor ich auf diese Haltungen eingehe, sollen kurz die Konsequenzen stichpunktartig umrissen werden, welche sich aus dem Erlernen des Umgangs mit Emotionen ergeben und im Detail Gegenstand des Kapitels 5 sein werden. Dies sind: • Das Erlernen des Umgangs mit Emotionen ermöglicht das Gesundbleiben in
diesem Beruf bzw. das Nicht-Krankwerden. • Dazu gehört insbesondere das Erlernen bestimmter Techniken wie den in Ka-
pitel 4.1 dargestellten Grenzziehungsstrategien. Durch sie wird eine positive Veränderung des eigenen emotionalen Zustandes erreicht, welche eine Voraussetzung dafür ist, dauerhaft gesund den Anforderungen der Arbeit nachgehen zu können. • Mit Blick auf das Ärzt*in-Patientinnen-Verhältnis ermöglicht das Erlernen des Umgangs mit Emotionen erst die Berufsausübung, und damit auch, dass man für die Patientinnen da sein kann. Was würde geschehen, wenn Gynäkolog*innen den Umgang mit den für ihren Beruf typischen Emotionen nicht erlernen? Die Antwort liegt in der Negativfolie zu den soeben benannten Konsequenzen. Die Gynäkolog*innen befürchten körperliche und seelische, krankhafte bzw. krankmachende Konsequenzen. Sie sprechen von Magengeschwüren, psychischer Erschöpfung, gar Burnout, also insgesamt: der Sorge selbst Schaden zu nehmen. Die im letzten Spiegelstrich getätigte Aussage, dass das Erlernen des Umgangs mit Emotionen die Berufsausübung überhaupt erst ermöglicht, erweist sich bei näherer Betrachtung als ambivalent. Einerseits wird damit thematisiert, dass ein*e Ärzt*in ohne Gefühle kein*e gute Ärzt*in sei. Andererseits weist zum Beispiel Gynäkologin 4 darauf hin, dass Gynäkolog*innen ohne Grenzziehung, also ohne Begrenzungen des Mit-Fühlens, keine guten Ärzt*e sein könnten - oder wenigstens nicht lange: ,,Also man kann schon Emotionen zeigen, man darf sie ne soo, denke ich, es darf einen ne sooo mitnehmen, dass man letztlich eigentlich selber mit dran kaputt geht. Das nützt ja auch keinem was, da wird der ja kein Deut gesünder der Patient, das ändert ja nichts.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Dieses Spannungsfeld zwischen der Bedeutung von Emotionen für die gynäkologische Arbeit auf der einen Seite, und der Gefahr, die von einem misslingen-
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den Umgang mit Emotionen ausgehen kann, wird immer wieder deutlich34. Die Unsicherheit, die damit einhergehen kann, formuliert Gynäkologe 9 aus: „Man weiß natürlich jetzt selber nicht, ist das so in Ordnung wie man damit umgeht [hm], ne.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Die ausführliche Diskussion dieses Spannungsfeldes findet sich ebenfalls in Kapitel 5. Darstellung 9: Umgang mit Emotionen erlernen als Erfahrungslernen
Zum Lernen führt: Beobachtung Anderer in der praktischen Ausbildung Das Ziel, die eigene Arbeit zu verbessern Stresserfahrungen, insbesondere Grenzüberschreitungen antizipierte negative körperliche u. psychische Konsequenzen bei Nicht-Lernen Sorge um sich selbst
Umgang mit Emotionen erlernen als Erfahrungslernen
Gelernt wird: 1. Rolle von Emotionen im Ärzt*inPatientinnenKontakt 2. Gespür für Patientinnentypen entwickeln 3. Emotionen (nicht) zeigen 4. emotional bedeutsame Arbeitssituationen einordnen 5. Stressbewältigung/ reduktion; Grenzziehung
Beeinflussende Faktoren: Vernachlässigung von Psychologie im Medizinstudium der 1970/80er Jahre Umgang erlernen wird erschwert durch Tabuisierung von Problemen Dauer der Berufstätigkeit (Neuling – Erfahrene) eigene Lebenserfahrungen prägen Umgang mit emotionalen Situationen
Folgen des Lernens: Gesund bleiben Positive Veränderung des eigenen emotionalen Zustands durch verschiedene Techniken ermöglicht Berufsausübung und für Patientinnen da zu sein
Lernstrategien: Nachahmung Austausch mit Anderen Ausprobieren Nutzung von Weiterbildungen
34 Der Fokus liegt dabei interessanterweise auf den potentiell gefährdenden Folgen für die Gynäkolog*innen und weniger bei den Patientinnen.
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Eine grafische Darstellung der hier in diesem (langen und kompakten) Kapitel ausgeführten Inhalte findet sich in Darstellung 9. Dabei repräsentieren die einzelnen Kästen die im Vorhergehenden durch Zwischenüberschriften untergliederten Abschnitte, die Spiegelstriche in den Kästen die dort präsentierten Inhalte. Nachfolgend wenden wir uns nun den Haltungen zu, welche als temporäres Ergebnis des gerade geschilderten Lernprozesses gelten können.
3.3 ZWEI AUSPRÄGUNGEN DER BALANCE ZWISCHEN MEDIZIN UND EMOTION Vor dem Hintergrund des medizinischen Studiums, welches angehenden Mediziner*innen im Kern eine emotionsneutrale, rein fachliche Sicht auf Patientinnen vermittelt (Kapitel 3.1), und des erst anschließend im Rahmen der praktischen Ausbildung eingeübten Umgangs mit Patientinnen als lebenden und fühlenden Interaktionspartnerinnen (Kapitel 3.2), lohnt es genauer in den Blick zu nehmen, wie Gynäkolog*innen tatsächlich mit ihren Patientinnen, deren Gefühlen und ihren eigenen Gefühlen umgehen. Und zwar insbesondere, da beide Bereiche zum Teil widersprüchliche Anforderungen stellen und miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Zu erwarten wäre, erstens aufgrund der empirisch ermittelten primären Prägung durch das emotionsneutrale Medizinstudium und zweitens aufgrund der in der Literatur verbreiteten Annahmen zur objektiven Distanziertheit professionellen Handelns (für die Medizin z.B. Fox 2006, Haas/ Shaffir 1982, Kadushin 1962, Nettleton/ Burrows/ Watt 2008, Smith/ Kleinman 1989), eine Haltung des Sich-Distanziert-Einlassens. Somit ist es naheliegend, diese Haltung zum Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen und Analysen zu nehmen (Kapitel 3.3.1). Es wird aber auch gezeigt werden, dass Gynäkolog*innen sich vielfach auf eigene Gefühle und Gefühle Anderer einlassen (Kapitel 3.3.2). Abschließend wird diskutiert, inwiefern die ausgeprägten Haltungen personen- oder situationsspezifisch sind (Kapitel 3.3.3). 3.3.1 Sich distanziert einlassen Mit Blick auf die Krankenpflege stellt z.B. Overlander (1994: 115) fest, dass notwendigerweise „aufgrund der dauernden Nähe zum Patienten die innere Balance zwischen einem intensiven „Mitleiden“ durch ein Klima der Identifikation mit dem Kranken und einer professionellen Distanz, bei der trotzdem Bedürfnisse des Kranken erfaßt werden, immer erneut herzustellen“ ist. Die Haltung des Sich-Distanziert-Einlassens ist die in der Literatur verbreitete Lösung für dieses
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Problem der Balance von Nähe und Distanz. Ähnliche Überlegungen spiegeln sich im Konzept des ‚detached concern‘, welches auf Lief und Fox (1963) zurückgeht und in jüngerer Zeit von Fox (2006) wieder aufgegriffen wird. Gemeint ist eine Form der objektiven Distanziertheit, welche sich mit der gesellschaftlichen Erwartung, wie Ärzt*innen zu sein haben, deckt. Haas und Shaffir (1982: 192) schreiben hierzu: „Doctors are assumed to be persons who can transcend the pressures, emotional and otherwise, of life-and-death situations and act competently and coolly, yet they must do so in the face of the most provocative human feelings“. Fox (2006: 957f.) benennt Gründe für die (Funktionalität der) Haltung des ‚detached concern‘. Erstens müssen Ärzt*innen direkt im Anschluss z.B. an eine Todesnachricht andere Patienten weiterbehandeln und können somit nicht dem ‚Luxus‘ zu trauern nachgeben. Zweitens müssen sie objektiv (also unemotional) bleiben, um andere Patienten richtig behandeln zu können und drittens sollen Ärzt*innen den Tod bekämpfen, so dass jede*r sterbende Patient eine Identitätsbedrohung für sie und die Medizin als Ganzes darstellt. In der vorliegenden Analyse wird von Sich-Distanziert-Einlassen gesprochen, wenn sich Gynäkolog*innen auf die Patientinnen und ihre Emotionen und emotionalen Bedürfnisse zwar einlassen, dabei aber nicht selbst stark emotional involviert sind. Damit ist gemeint, dass Gynäkolog*innen durchaus Emotionen zeigen können, und sich auch auf bestimmte emotionsintensive arbeitsalltägliche Situationen einlassen, aber diese Situationen oder Gefühle nicht zu nah an sich selbst heranlassen. Begründet wird diese am empirischen Material herausgearbeitete Haltung damit, dass man selbst „kaputt geht“, wenn man die z.B. mit einer Totgeburt oder einer schweren palliativen Erkrankung verbundenen Gefühle zu nahe an sich heranlässt: „Also man kann schon Emotionen zeigen, man darf sie ne soo, denke ich, es darf einen ne sooo mitnehmen, dass man letztlich eigentlich selber mit dran kaputt geht.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Neben dieser auf die eigene Gesundheit gerichteten Begründung spielt beim Sich-Distanziert-Einlassen zusätzlich eine Rolle, dass man auch für die nächste zu behandelnde Patientin offen genug sein möchte und sich somit nicht lange mit intensiven Emotionen zu einer Patientin oder Situation aufhalten kann: „dann hamm se auch wieder für den nächsten Patienten, sind se dann nicht offen genug. Sie müssen halt irgendwo abschließen, ne, sagen, "so, und das ist das jetzt" und jetzt der nächste.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
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Dabei sind Emotionen und der Umgang mit ihnen unzweifelhaft Bestandteile des gynäkologischen Berufs. Es gehört zwar zu den Aufgaben eine*s Gynäkolog*en, diese, wie eben beschrieben, zu sich selbst auf Abstand zu halten. Gleichzeitig sind die Gynäkolog*innen, die diese Haltung des Sich-Distanziert-Einlassens für sich nutzen (können), aber auch bereit, sich bis zu einem gewissen Grad auf ihre Patientinnen einzulassen. Als Gründe lassen sich mehrere Aspekte differenzieren: a) Sich einlassen für den Behandlungserfolg: Dieser Aspekt lässt sich gut an-
hand des Vorgehens von Gynäkologin 4 illustrieren. Als niedergelassene Gynäkologin kennt sie viele ihrer Patientinnen bereits seit langen Jahren, und meint folglich ihnen anzusehen, ob sie etwas bedrückt. Sie eröffnet das Gespräch mit einem Erzählangebot: „was issn heute, Sie sehen doch irgendwie..“. Dabei geht es zum einen darum, dass die Patientin sich angenommen fühlt und so das langwierige Vertrauensverhältnis aufrechterhalten wird. Zum anderen benennt sie aber insbesondere, eine „Riesen-Diagnostik“ vermeiden zu wollen, da gynäkologische Beschwerden auch einen psychosomatischen Anteil haben können. b) Sich einlassen als soziale Instanz: Dieser Aspekt findet sich ebenfalls bei Gynäkologin 4. Sie vergleicht ihre Position mit der, die in früheren Zeiten ein Pfarrer innehatte und sieht sich insofern als Ansprechperson für verschiedene Probleme des sozialen Lebens, auch über die eigentliche medizinische Tätigkeit hinaus. „Und ja, da hören wir uns wahrscheinlich auch vieles an was, was früher halt woanders geäußert worden wäre, ne. Und, man kann’s ansprechen, das muss man aber auch ein bissl merken, also es gibt auch Patienten, die wollen das auch nicht so sehr.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Auffallend ist, dass beide Aspekte des Sich-Einlassens auf die Patientin bzw. ihre Behandlung gerichtet sind, während die Notwendigkeit sich nicht zu sehr, also distanziert einzulassen, primär in der eigenen körperlichen und psychischen Gesundheit verortet wird. Gleichzeitig thematisieren die Gynäkolog*innen auch Grenzen des SichDistanziert-Einlassens. Das Sich-Distanziert-Einlassen funktioniert für Gynäkologin 1 zum Beispiel nicht, wenn ihr Patientinnen sympathisch sind und dann eine schwere, nicht heilbare Erkrankung erleiden. In solchen Fällen lässt sie sich, wie im nächsten Kapitel beschrieben werden wird, auf ihre Emotionen ein und nimmt deutlich emotional Anteil. Gynäkologin 1 übertritt die Grenzen des SichDistanziert-Einlassens also, um sich emotional einzulassen. Will man dies ver-
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meiden, muss man sich aktiv distanzieren, wenn das Einhalten dieser Haltung gefährdet wird. Sich distanzieren findet in dem Bewusstsein statt, dass eine Situation de*m Gynäkolog*en unangenehme Gefühle bereiten würde. Die Methoden, mittels derer man sich distanziert, sind unterschiedlich. Gynäkologe 7 etwa betrachtet einen operativen Schwangerschaftsabbruch, den er vornimmt, als rein medizinischen Eingriff, bei dem er nichts empfindet: „Da muss ich einfach sagen, da empfinde ich in dem Moment nichts. Dann schaltet, da schalte ich ab [hm]. Dann, das ist für mich ’n operativer Eingriff [hm, hm]. Da kann ich nicht drüber nachdenken, dass ich jetzt ein Kind töte, und äh äh mir jetzt Vorwürfe mach’. Das ist gesetzlich geregelt, die Frau hat das äh, hat alle Instanzen durchlaufen, Beratungsgespräch, und dies und jenes [hm].“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Der Schwangerschaftsabbruch an sich wird gerechtfertigt durch gesetzliche, medizinische und organisationale Begründungen. Gesetzlich ist zum Beispiel geregelt, dass eine Frau in Deutschland in festgelegten Fällen entscheiden kann, eine Schwangerschaft zu beenden, und welche Beratungsangebote sie in Anspruch nehmen muss. Den Gynäkolog*innen steht eine solche Beratung (ab von einer medizinischen) nicht zu. Medizinisch lässt sich der Abbruch rechtfertigen, weil Gynäkolog*innen dafür ausgebildet sind und so gute gesundheitliche Bedingungen für die Schwangere herstellen können. Dies wird ins Verhältnis zu illegalen Angeboten zur Abtreibung gesetzt. Und organisational kommt hinzu, dass die Entscheidung eine*s Gynäkolog*en, keine Abbrüche mehr durchzuführen, eine höhere Quote an Abbrüchen für die verbleibenden, durchführenden Gynäkolog*innen und somit eine höhere Belastung für diese nach sich zieht. Dieser, aus Argumenten auf verschiedenen Ebenen aufgebaute, Begründungszusammenhang erlaubt es dem Gynäkologen 7, seine Gefühle während eines solchen Eingriffs gewissermaßen abzuspalten oder auszuschalten. Dies gelingt ihm auch in der Interaktion mit der Patientin vor und nach dem Eingriff. Im Hochschild’schen Sinne setzt er die Strategie des Tiefenhandelns (vgl. Kap. 2.3.1) ein. Eine andere Methode um sich zu distanzieren wendet Gynäkologin 4 an. Sie bearbeitet nicht ihre Gefühle, sondern die emotionsauslösende Situation. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Wenn sie erfährt, dass eine ihrer Patientinnen eine*n andere*n Gynäkolog*en aufgesucht hat, reagiert sie mit Voreingenommenheit und Betroffenheit. Um diese Gefühle nicht aushalten zu müssen, trennt sie sich von diesen Patientinnen bzw. nimmt sie nicht wieder auf. Dieses Muster findet sich in verschiedenen Situationen, die für sie mit unangenehmen Gefühlen verbunden wären. Es wird später noch einmal im Rahmen der Grenzziehungsstrategie ‚direkt kommunizierter Dissens‘ (Kap. 4.1.1) aufgegriffen werden.
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Ob die Methode der Emotionsarbeit, wie das oben beschriebene Tiefenhandeln von Gynäkologe 7, oder die Vermeidung von emotionsauslösenden Situationen gewählt werden wie bei Gynäkologin 4, hängt mit den Möglichkeiten zusammen, welche das organisationale Setting bietet. So kann Gynäkologin 4 als niedergelassene und damit selbständige Ärztin frei entscheiden, welche Patientinnen sie behandelt. Demgegenüber unterliegt Gynäkologe 7 in obigem Beispiel Einflüssen der Organisation Krankenhaus. Neben der bereits diskutierten organisationalen Begründungsdimension für Schwangerschaftsabbrüche, nämlich anderen Teammitgliedern keine vermehrte, belastende Arbeit aufzubürden, kommt ein zweites Element hinzu: die organisationalen Darstellungsregeln (vgl. Kap. 2.3), welche ihn zu Freundlichkeit gegenüber allen Patientinnen anmahnen und somit Emotionsarbeit einfordern. Grenzfall: professionelle Distanz Ein Grenzfall des Sich-Distanziert-Einlassens ist die professionelle Distanz. Sie führt dazu, dass bestimmte Ereignisse oder Situationen neutral aufgenommen werden und keine Emotionen hervorrufen. Sie geht also noch einen Schritt weiter als Sich-Distanzieren. Beispiele für diese professionelle Distanz bietet Gynäkologe 9. Er beschreibt etwa, dass für ihn in der Interaktion mit Patientinnen das medizinische Problem derart im Vordergrund steht, dass für andere Aspekte (die Interviewfrage zielte auf das Nackt-Sein der Frauen) kein Platz bleibt: „Und da bleibt eigentlich keene keene offene Situation für irgendwelchen, wüsst’ ich jetzt nicht, ne. Sondern es geht um den Befund, und (2) da gibt’s eigentlich keenen Spielraum für irgendwelche anderen (.) wüsst’ ich nicht [hm], ne.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Seine eigenen Emotionen, ebenso übrigens wie die der Patientin, spielen in dieser Schilderung keine Rolle. Dass sie insbesondere auch für die Interaktion zwischen Gynäkolog*e und Patientin keine Rolle spielen sollen, bringt Gynäkologe 5 mit Blick auf ungepflegte Patientinnen pointiert auf den Punkt: „Also letztlich ist sie ja nicht gekommen, weil sie sich nicht gewaschen hat, sondern weil se also ’ne Krankheit hat. Und meine Aufgabe als Arzt ist es ja jetzt nicht zu beurteilen, dass mir diese, der Fall nicht passt, sondern die Krankheit zu analysieren, rauszukriegen, was se hat.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
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Aus diesem Grund unterdrückt er etwaige Gefühle des Ekels. Eine ähnliche professionelle Distanz taucht auf, wenn es im Rahmen der Pränatalmedizin um Schwangerschaftsabbrüche geht. Hier will Gynäkologe 9 bewusst kein Urteil über die Entscheidung der Frauen oder Familien treffen, und die Fälle auch nicht auf sich selbst beziehen. Gleichzeitig bringt er aber die dafür notwendige Anstrengung zum Ausdruck, diese professionelle Distanz immer wieder herzustellen, indem er bewusst „Stop“ zu sich selbst sagt. Würde dieses Stoppen der eigenen Gedanken fehlen, wären wir direkt im Bereich des Sich-Einlassens. 3.3.2 Sich einlassen Neben der Haltung des Sich-Distanziert-Einlassens gibt es verschiedene Formen, mittels derer sich Gynäkolog*innen einlassen. Dabei ist gemeint, dass sich Gynäkolog*innen auf die Patientin und ihre Emotionen (oder andere Interaktionspartner*innen in der Arbeit) und/ oder die eigenen Emotionen einlassen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, sich für die sonstigen Bedürfnisse einer Patientin oder anderen Person zu öffnen, sondern es muss ein Bezug zu Emotionen erkennbar sein. Dieser kann entweder explizit genannt werden, oder muss von der Interpretierenden erkennbar sein. Aufgrund der am Beginn des Kapitels formulierten Überlegungen zum Primat des Sich-Distanziert-Einlassens ist die hohe Zahl an Thematisierungen von Sich-Einlassen in den Interviews auffallend. Behält man jedoch im Blick, dass die durchgeführten Interviews Emotionen und den Umgang mit diesen zum Gegenstand haben, verwundert dies weniger. Man kann also davon ausgehen, dass die inhaltlichen Ausprägungen aufschlussreicher sind als die quantitativen Verteilungen. Inhaltlich lassen sich vier Formen des Sich-Einlassens unterscheiden: (a) (b) (c) (d)
Sich emotional einlassen Sich für sich selbst reflektierend einlassen Sich einlassen müssen Sich außerhalb der Arbeit fachlich-medizinisch einlassen
Diese vier Formen lassen sich jedoch nicht trennscharf gegeneinander abgrenzen. Vielmehr stellen sie unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb des SichEinlassens dar, wie Gynäkolog*innen sich auf eigene und Gefühle Anderer einlassen. Einzelne Situationen können folglich auch durchaus mehrere der vier Formen enthalten. Dennoch ist eine analytische Unterscheidung sinnvoll, um möglichst viel über das Sich-Einlassen als Ganzes zu erfahren.
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(a) Sich emotional einlassen Diese Form ist nur scheinbar überflüssig: obwohl vorab die emotionale Komponente als ein grundsätzlicher Bestandteil definiert wurde, um im Sinne dieser Arbeit von Sich-Einlassen zu sprechen, kommt hier noch eine zweite Bedingung hinzu, welche das Sich-Einlassen spezifiziert. Sich emotional einzulassen meint, dass eigene Gefühle oder Gefühle Anderer in der Zitatstelle expliziert werden, was beinhaltet, dass sie de*r Interviewpartner*in bewusst sind. Hier steht also im Fokus, sich auf eine Emotion, z.B. Angst bei der Patientin oder bei de*r Gynäkolog*in, einzulassen. Im Gegensatz dazu kann man allgemein von Sich-Einlassen oder einer der anderen vier Unterformen sprechen, wenn die Emotion eine Komponente einer Situation unter anderen ist, also keine Zentralität in der Beschreibung erfährt. Das Sich-Emotional-Einlassen konzentriert sich nicht auf bestimmte diskrete Emotionen. Benannt werden als Emotionen seitens der Gynäkolog*innen vor allem Ärger, Angst und sich vor etwas grauen, Aufregung, Betroffenheit, Empathie, Freude und Traurigkeit. Auch Stimmungen wie ein ungutes Gefühl oder ein ruhigeres Gefühl haben, werden benannt. Ebenso ist die Bandbreite an Situationen, die zu einem Sich-Emotional-Einlassen führen, groß. Allerdings lassen sich die Situationen mit bestimmten spezifischen Emotionen verknüpfen. Im Mittelpunkt stehen Situationen, die mit Patientinnen zu tun haben. Häufig sind dies Schicksalsschläge, wenn etwa Patientinnen schwere Karzinomerkrankungen erleiden, oder im Rahmen der palliativen Medizin das Ende medizinischer Behandlungsmöglichkeiten erreicht ist. Auch Totgeburten und plötzlicher Kindstod zählen dazu. Diese Situationen lösen Betroffenheit, Empathie und Traurigkeit aus. Aber auch Angst und sich vor etwas grauen, wenn es darum geht, diese schlechten Nachrichten den Patientinnen zu übermitteln. Ein ‚ruhigeres Gefühl‘ entsteht hier dann, wenn d*er Gynäkolog*e trotz der schlimmen Nachricht noch etwas Linderndes beisteuern kann, zum Beispiel im Falle der Tot- oder Fehlgeburt die Frauen auf die Möglichkeit verweisen kann, sich von dem Kind zu verabschieden. Empathie im Sinne des Mit-Freuens entsteht ebenso bei positiv besetzten Situationen wie der erfolgreichen Geburt eines Kindes. Empathie im Sinne eines Mit-Trauerns besteht zum Beispiel bei Schwangerschaftsabbrüchen, insbesondere im Angesicht des totgeborenen Kindes. Ärger wiederum ist eine Emotion, die durch das Verhalten einzelner Patientinnen ausgelöst wird, und entweder in der Interaktion mit der nächsten Patientin reguliert wird, oder mitunter zu Hause, also außerhalb der Arbeitssituation, noch nachwirkt. Aufregung spielt etwa dann eine Rolle, wenn Gynäkolog*innen ihnen bekannte Patientinnen operieren, oder solchen denen sie empfohlen wurden. Hier wirkt auch das Gefühl
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der Verantwortung für ein gelungenes Ergebnis noch einmal stärker, als dies im Allgemeinen ohnehin der Fall ist. Insgesamt auffallend ist, dass die oben benannten Gefühle und Situationen des Sich-Emotional-Einlassens primär um die eigenen Gefühle der Gynäkolog*innen kreisen. Lediglich Gynäkologin 1 und Gynäkologin 2 berücksichtigen explizit die (von ihnen antizipierten) Bedürfnisse, auch emotionaler Natur, ihrer Patientinnen. Gynäkologin 1 führt zum Beispiel aus, dass das von ihr besuchte Mentale Training Ruhe und Gelassenheit bringen soll, um sich besser auf die Patientinnen einzulassen. Oder dass sie Patientinnen, denen sie einen schlechten Befund überbringen muss, dann in die Praxis kommen lässt, wenn es ihnen passt. Hier stellt sie also ihre Gestaltungsmacht über den Ablauf und die Dichte der Sprechstunde zurück, um den Bedürfnissen der Patientinnen entgegenzukommen. Dies ist besonders eindrucksvoll vor dem Hintergrund, dass es sie belastet, wenn sie bei Zeitdruck (z.B. aufgrund vieler wartender Patientinnen) weniger Zeit für einzelne Patientinnen aufbringen kann. Weiterhin kommt hier die bereits oben skizzierte Unterscheidung von Gynäkologin 1 zum Tragen: man lässt sich eher emotional auf Patientinnen ein, die man schon länger kennt (und die dann ggf. an einer potentiell tödlichen Krankheit erkranken). Sie stellt das in den Gegensatz zu Situationen, in denen sie eine Patientin nur zur Operation einweist, und davon ausgeht, dass die Krankheit damit beendet ist. Hier unterscheidet sich also eine lange, nicht heilbare Verlaufskurve von einer singulären, behandelbaren Erkrankung. Zum anderen stellt sie die Unterscheidung heraus, dass sie sich mehr auf Patientinnen emotional einlässt, die ihr ähnlicher sind/ zu denen sie einen besseren Draht spinnt, als auf solche, die ihr „wesensfremd“ sind. In den jeweils erstgenannten Fällen fällt ihr der Umgang schwerer als in den letztgenannten, auf welche sie sich distanziert einlassen kann. Die letztere Überlegung findet sich auch bei Gynäkologin 2 und 10: Schicksale von Patientinnen, die ihnen sympathischer sind, berühren sie mehr. Sich-Emotional-Einlassen kann sowohl mit Oberflächen- als auch mit Tiefenhandeln verbunden sein. Oberflächenhandeln (surface acting) wird zum Beispiel als notwendig empfunden, wenn man sich aufgrund des Vorwurfs eines Fehlers bei einer Behandlung nachfolgend erneut in die Situation begeben muss, die gleiche Behandlung bei einer anderen Patientin durchzuführen, und dabei nicht zeigen darf, dass man verunsichert oder ängstlich ist. Es tritt ebenso auf, wenn ein*e Gynäkolog*in einen Schwangerschaftsabbruch als unverständlich empfindet, die damit verbundene Verärgerung aber nicht zeigt. Tiefenhandeln (deep acting) wiederrum spielt häufig dann eine Rolle, wenn Patientinnen als beruhigungs- oder trostbedürftig eingestuft werden:
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„Ähm, äh, da kann man ruhig betroffen sein [hmm]. Also das tut der sogar besser sicherlich, als wenn man da mit den Händen in den Hosentaschen den Gleichgültigen spielt, ne.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Die Strategie, die hier eingesetzt wird, um die eigenen Gefühle der Situation anzupassen (so dies nicht automatisch der Fall ist), arbeitet damit, sich in die Frau und ihre Situation hineinzuversetzen. Nichtsdestotrotz entstehen Gefühle auch im Umgang mit anderen, etwa den Kolleg*innen oder anderen beteiligten Berufsgruppen. Hierzu zählen Ärger über diese ebenso wie im gemeinsamen Gespräch Trost zu finden. Aufgrund ihrer Marginalität gegenüber dem Sich-Emotional-Einlassen, das mit Patientinnen verknüpft ist, wurden diese hier hintangestellt. (b) Sich für sich selbst reflektierend einlassen ‚Sich für sich selbst reflektierend einlassen‘ hat einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt, auch wenn hier ebenso eigene Emotionen und/ oder die Emotionen Anderer in den reflektierten Situationen eine Rolle spielen. Im Unterschied zum Sich-Emotional-Einlassen wird aber eine stärker kognitive Komponente beschrieben. Verschiedene, unterschiedliche Ereignisse, wie z.B. die Untersuchung und Beratung von Schwangeren im Rahmen der Pränatalmedizin, vermeintliche Irritationen innerhalb der Ärzt*in-Patientin-Interaktion oder auch (mögliche) eigene Fehler, führen dazu, dass d*ie Gynäkolog*in das eigene Fühlen, Denken und Handeln hinterfragt. Insbesondere ersteres, die Beratung und Untersuchung von Schwangeren im Rahmen der Pränatalmedizin, ruft Emotionen und Reflexionsprozesse hervor. Dies hängt mit dem Wesen dieses medizinischen Bereichs zusammen: das ungeborene Kind auf mögliche, mitunter schwerste Erkrankungen zu untersuchen, führt im Falle einer positiven Diagnose dazu, dass Entscheidungen über Fortführung oder Abbruch der Schwangerschaft getroffen werden müssen. Diese stellen zwangsläufig moralische und potentiell hochemotionale Situationen dar. Nimmt man hinzu, dass die interviewten Gynäkolog*innen durchweg nicht gerne Schwangerschaftsabbrüche durchführen, liegt nahe, dass diese Situationen auch in ihnen Emotionen und Reflektionen auslösen. Doch sollen an dieser Stelle die reflektierenden Anteile dieser Situation in den Vordergrund gestellt werden. Diese finden sich zum Beispiel bei dem Gynäkologen 9. Im Anschluss an seine Untersuchungen stellt er sich durchaus auch die Frage „Was würdeste selber tun?“. Er reflektiert hier die eigene Empathie mit der Frau bzw. Familie in dem Sinne, dass er über das Verhältnis zwischen betroffener Familie, medizinischen
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Möglichkeiten und gesellschaftlichen Vorgaben, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen (Familien)Biografie, nachdenkt. Weiterhin beschäftigt ihn der Wunsch, durch technische Mittel möglichst exakte Diagnosen stellen zu können, aus zwei Gründen: erstens, um den betroffenen Schwangeren und dazugehörigen Familien Katastrophen zu ersparen, und zweitens, um selbst ruhigen Gewissens sein zu können, die richtige Diagnose gestellt zu haben. Die reflektierende Auseinandersetzung begründet er so: „Das sind aber immer wieder och, ist immer wieder auch unser Fach. Was mit diesen Dingen zu tun hat. Und ja, wir müssen uns eben diesen Dingen auch stellen, ne [hm]. Da kann man nicht einfach weggehen und ausreißen, sondern, oder jemandem andern das übergeben, sondern das ist eben so, und dann muss man sich damit auseinandersetzen.“ (G9, Gynäkologe Klinik)
Gleichzeitig wurde oben bereits ausgeführt, dass es für ihn nicht in seinen Bereich fällt, ein Urteil über die Entscheidungen der Familien und Schwangeren zu treffen, und diese Haltung als professionelle Distanz markiert. (c) Sich einlassen müssen Die beiden vorhergehenden Facetten des Sich-Einlassens (‚Sich emotional einlassen‘ und ‚sich für sich selbst reflektierend einlassen‘) beinhalten beide ein Element der Freiwilligkeit seitens der Gynäkolog*innen. Demgegenüber enthält das Sich-Einlassen-Müssen ein Element des Zwangs. Dabei sind teilweise die Patientinnen die wahrgenommenen Auslöser dieses Zwangs, teilweise die Darstellungsregeln der Organisation, wobei erste häufiger angeführt werden. Die niedergelassene Gynäkologin 1 stellt heraus, dass man „schon (..) mit bestimmten Gefühlen auf bestimmte Beschwerden reagieren“ muss und Emotionen zeigen muss, weil Berufe, die direkten Patientinnenkontakt beinhalten, dies nun einmal erfordern. Hier steht zunächst im Vordergrund, bestimmte Emotionen gegenüber den Patientinnen zu zeigen, so dass im Grunde ein Oberflächenhandeln (vgl. Kap. 2.3.1) ausreichend sein könnte. Dies wiederlegt sie, wenn sie weiterhin ausführt: „Ne, ich denke auch nicht, dass ’nen Patient ihnen das abnimmt, wenn se das bloß spielen“. Somit verweist sie deutlich darauf, dass der Umgang mit Patientinnen entweder den Ausdruck natürlich empfundener Emotionen (‚naturally felt emotions‘, Diefendorff et al. 2005 bzw. ‚automatische Emotionsregulation‘, Zapf et al. 2009: 22) beinhaltet, oder aber, wenn dies nicht automatisch gelingt, ein Tiefenhandeln im Sinne Hochschilds (vgl. Kap. 2.3.1) erfordert. Während Gynäkologin 1 also die Darstellungsseite in den Vordergrund rückt, thematisiert Gynäkologe 7 eher die eigenen Gefühlsanteile jenseits der
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Darstellung in der Interaktion. Diese Darstellung und die damit verbundenen Zwänge (etwas zu müssen) spielen zwar auch eine Rolle, etwa wenn man einer Schwangeren, die ihr Kind verliert, psychologischen Beistand anbietet. Allerdings erscheint hier eher für ihn problematisch, dass er durch das SichEinlassen-Müssen auch unangenehme Gefühle an sich selbst heranlassen und sich selbst darauf einlassen muss: „Man muss natürlich die Trauer, äh mit der Patientin auch im, im gewissen Maße teilen. Beziehungsweise, es geht an einem ja auch nicht spurlos vorbei [hm]. Es ist immer ’ne, ’ne schlimme Situation, auch wenn man das schon hundertmal erlebt hat. Sagen mal so, in in seinem Berufsleben. Äh, aber das ist eigentlich ’ne Sache, wo man nicht äh so abstumpft, dass einen das nicht angeht.“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Deutlicher kommt die damit für den Gynäkologen verbundene Problematik zum Vorschein, wenn er über palliativ betreute Patientinnen spricht, die sich ausschließlich an ihn wenden wollen, weil sie ihn schon lange kennen: „Ähm, (3) auf diese Patienten muss man also wirklich intensiv eingehen und das lässt einen auch nicht los. [hm] Weil die wissen, wenn, man weiß auch, die die warten auf einen direkt. Der Chef, oder der Doktor *EigenerName* ist im Urlaub, und ‚Wann kommt er denn wieder‘. […] Ähm, und das sind Dinge, die einem, die gehen auch, sagen wir mal so, 15 Uhr 30 ist da auch nicht Schluss damit [hm], ne. Man macht sich auch zu Hause und außerhalb der Klinik Gedanken, morgen haste das Gespräch. Und wie machste denn weiter mit der Therapie, und was wirste denen denn sagen“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Gynäkologe 7 verdeutlicht hier, dass er solche Erlebnisse und, so kann man annehmen, die damit verknüpften Emotionen, auch über das Ende des Arbeitstages hinaus mit sich herumträgt. Gleichzeitig bringt diese Zitatstelle ein gewisses Gefühl der Ohnmacht zum Ausdruck, sich diesen Situationen nicht wiedersetzen zu können, eben: sich auf sie einlassen zu müssen, auch mit den damit verbundenen unangenehmen Gefühlen. Hierin wird noch einmal ein zentraler Unterschied zwischen Gynäkologin 1 und Gynäkologe 7 deutlich. Während das SichEinlassen-Müssen für Gynäkologin 1 eine Berufsanforderung darstellt, unterstreicht sie gleichzeitig ein hohes Maß an sich einlassen wollen. Sie lässt sich auf eigene Emotionen und jene Anderer ein, obwohl sie weiß, dass sie dies nicht zu sehr tun sollte. Bei dem Gynäkologen 7 ist die Situation gerade anders herum: er will sich nicht einlassen, und tut dies nur, weil und wo er es (vermeintlich) muss. Beide eint also, dass sie darum kämpfen, sich nicht zu sehr einzulassen – allerdings aus entgegengesetzten Motiven, quasi unter umgekehrten Vorzeichen.
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Während obige Beispiele das Sich-Einlassen-Müssen beschreiben, welches von den Patientinnen bzw. der Interaktion mit ihnen ausgelöst wird, soll nun noch ein Blick auf die organisationalen Darstellungsregeln der Klinik als Quelle des Müssens geworfen werden. Die bereits diskutierte Regel innerhalb der Klinik, allen Patientinnen freundlich begegnen zu müssen („Der Patient […] ist der König“, G7), erfordert immer wieder Oberflächenhandeln von den Beschäftigten und übt so ebenfalls den Zwang aus, sich auf die Patientinnen und ihre Emotionen einlassen zu müssen. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass die Darstellungsregel durch die Feedback-Bögen der Patientinnen mit einem Kontrollinstrument hinterlegt ist: „Und dann kommt ’ne monatliche Auswertung, und ähm nach diesen Patientenbögen, die von den Patienten ausgefüllt werden, [hm] und danach wird man bewertet. Und, daraus hab’ ich gelernt, ich, mir fällt es auch nicht schwer, immer freundlich zu den Patienten zu sein. Ja [hm]. Ich kann das auch. Und mein’ das auch meistens ehrlich [hm]. Muss man einfach sagen. Natürlich gibt’s auch mal die Patientin, die einem zu Deutsch einfach auf’n Geist geht. Weil se jeden Tag das Gleiche sagt, und so weiter und so fort. Da musste auch dein Gesicht bewahren und immer wieder auf se eingehen [hm, hm]. Auch wenn du se eigentlich zum Teufel jagen würdest, [hm] ne. Am liebsten. Ja.“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Dieses kontrollierend wirkende Evaluationsinstrument hat den Umgang der Gynäkolog*innen mit den Patientinnen verändert („daraus hab’ ich gelernt“). Und so tritt eben an die Seite des automatischen Sich-Einlassens im Sinne von natürlich empfundenen Emotionen (Diefendorff et al. 2005) die Notwendigkeit, mitunter Oberflächenhandeln zu betreiben. Die dabei unterdrückten Gefühle scheinen im obigen Zitat noch durch („se eigentlich zum Teufel jagen würdest“). (d) Sich außerhalb der Arbeit fachlich-medizinisch einlassen Diese Art sich einzulassen fällt etwas aus der eingangs gesetzten Definition, dass sich einzulassen eine klare, benannte oder zumindest erkennbare emotionale Komponente beinhalten müsse, heraus. Stattdessen steht hier eher eine gedankliche Beschäftigung mit bestimmten arbeitsbezogenen Ereignissen im Vordergrund, welche sich auf fachliche, also medizinische, Aspekte, konzentriert. Das Besondere daran ist jedoch, und deswegen erscheint es mir wichtig, diesen Aspekt hier nicht außen vor zu lassen, dass beim Sich-Fachlich-medizinischEinlassen in der Regel die Grenzen zwischen Arbeit und Leben überschritten werden. Das heißt, diese Form des Sich-Einlassens findet nicht nur während der
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Arbeitszeit, sondern insbesondere auch am Abend und in der heimischen Umgebung statt. Dabei kann diese Form des heimischen Durchdenkens eines Falles als angenehm bzw. mindestens nicht zu problematisieren wahrgenommen werden, wie etwa von einer niedergelassenen Gynäkologin berichtet: „Aber wenn ich dann eben zur Ruhe komm’ abends, (.) was weiß ich, vorm Fernseher sitze oder ’n Glas Wein trinke, dann kann das, oder kommt es schon vor, und dass ich das noch mal revue passieren lasse und. Aber nicht so, dass ich jetzt sage, dass ärgert mich jetzt ganz sehr oder es, es belastet mich jetzt ganz sehr. Ich empfind’ es eher, ja, als angenehm, wenn ich für mich dann auch sagen kann, ob, das war in Ordnung so, wie wir’s jetzt gemacht haben, und, ähm, das Leid der Patientin, das gerät dann schon zu Haus’ auch in den Hintergrund, das stimmt. Aber, der die Problematik an sich, die erlebe ich dann zu Hause schon noch mal, hm [hm hm]. […] Aber ähm einfach noch mal über die Situation nachdenken (2) Haben wir jetzt alles gemacht, was notwendig war [hm] oder nicht, sollten wir lieber noch was anderes machen oder nicht. Und wenn ich dann sagen kann, ‚nee, das ist schon so okay‘. Oder vielleicht manchmal auch noch, noch mal ’n Buch zur Hand nehmen und noch mal lesen, wie ist es da empfohlen, haben wir das so gemacht oder nicht. Das empfinde ich eher als erleichternd dann eigentlich sogar [hm].“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
Sie kann aber auch als etwas Unangenehmes, Unerwünschtes wahrgenommen werden, zum Beispiel von dem Gynäkologen 7: „Man wacht auch nachts mal auf und sagt, ‚Mensch, (.) was hat die Frau‘, und wenn’s jetzt um irgend’ne Komplikation oder um unklare Sachen geht. Also ich kann da nicht abschalten [hm], ne. Das ist für mich schwierig. Das ist nicht immer gut, äh aber ich kann nicht einfach sagen: ‚so, jetzt hab’ ich Feierabend‘.“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Hier wird also deutlich, dass das gleiche Geschehen, zu Hause noch einmal über am Arbeitstag Erlebtes nachzudenken, völlig unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Als Begründung dafür, dass zu Hause darüber nachgedacht wird, lassen sich verschiedene Punkte identifizieren. Zunächst einmal hängt dies mit der Verantwortung zusammen, die ein*e Gynäkolog*in für ihre Patientinnen trägt. Diese Verantwortung für die Genesung der Patientin oder zumindest eine bestmögliche Verlaufskurve erlischt eben gerade nicht mit dem Ende des Arbeitstages. Sie tritt deutlicher zu Tage, wenn Patientinnen schwerwiegende Erkrankungen erleiden, riskante Operationen an ihnen vorgenommen werden oder eher mit Komplikationen zu rechnen ist; also: mit insgesamt schwerwiegenderen
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Konsequenzen zu rechnen ist. Neben der Verantwortung spielt auch der Zeitdruck während des Arbeitstages35 eine Rolle, der gerade verhindert, dass während der Arbeitszeit, man könnte auch sagen während der Beschäftigung mit der nächsten Patientin, über die vorhergehende weiter nachgedacht werden kann. Trotz des Zeitdrucks findet das Sich-Medizinisch-Einlassen (auf einen anderen Fall) mitunter aber auch während des Arbeitstages statt: „Se haben denn mal wieder ’ne Minute wo sie denken "Mensch, hhhm, die gibt’s auch noch", und, ne, „was kann man noch machen“, „was kann man nicht machen“ und, ne? Das hamm se schon, aber das sind halt dann Minutengedanken, ne, aber das wird nicht aufhören.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Die Formulierung „Minutengedanken“ verdeutlicht vor dem Hintergrund des Zeitdrucks im medizinischen Alltag sehr schön, welche Rolle der Reflektion über einzelne Fälle zukommen kann und zeigt auch noch einmal, dass der Raum für ein mußevolles Nachdenken, wie bei Gynäkologin 10, dann zwangsläufig außerhalb der Arbeit liegen muss. Ein dritter wichtiger Punkt für das SichMedizinisch-Einlassen liegt in der Relevanz des durchdachten Falls. Die Relevanz kann, wie bereits im ersten Punkt beschrieben, mit der Schwere des Falls und damit mit dem wahrgenommenen Verantwortungsgefühl zusammenhängen. Sie kann sich aber auch in einer persönlichen Relevanz, zum Beispiel der Sympathie für eine bestimmte Patientin oder gar einer persönlichen Verbindung begründen. Die Konsequenzen dieses (primär) außerhalb der Arbeitssituation stattfindenden Nachdenkens über einzelne Patientinnen liegen, wie eingangs bereits erwähnt, in der Aufweichung der Grenzen zwischen Arbeit und Leben. Diese ist aus Sicht einer auf den Schutz von Arbeitenden blickenden Arbeitssoziologie an sich sicher schon bemerkenswert. In diesem Zusammenhang scheint aber auch die Unterscheidung zwischen den Fällen G10 und G7 noch einmal bedeutsam. Diese unterscheiden sich nicht nur mit Blick darauf, dass Gynäkologin 10 mit dem zu Hause Durchdenken angenehme Gefühle verbindet, während Gynäkologe 7 damit negative Gefühle verbindet (an einer anderen als der oben zitierten Stelle spricht er von der damit verbundenen Nervosität). Sie unterscheiden sich auch insofern, als dass Gynäkologin 10 das Sich-Fachlich-medizinisch-Einlassen im heimischen Kontext explizit als eine Ressource auffasst, während das gleiche Tun für den Gynäkologen 7 als eine Belastung erscheint. Die genauen Gründe für diese Differenz lassen sich an dieser Stelle nicht herleiten. Augenfällig ist, 35 Die Hintergründe eines steigenden Zeitdrucks in der medizinischen, insbesondere klinischen, Arbeit entfalten Handrich, Koch-Falkenberg und Voß (2016: 97ff.).
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dass Gynäkologin 10 generell das Sich-Einlassen in den verschiedenen Formen begrüßt, während Gynäkologe 7 besonders häufig davon spricht, sich einlassen zu müssen (vgl. Punkt c oben). Möglicherweise liegt der Schlüssel also in der wahrgenommenen Gestaltbarkeit der eigenen Haltung zwischen Sich-Einlassen und Sich-Distanziert-Einlassen. Dafür spricht auch, dass Gynäkologin 4, die sich durchgehend distanziert einlässt, für sich selbst eine derart strikte Trennung zwischen Privatem und Beruflichem vornimmt, dass sich bei ihr keine Zeichen eines Sich-Fachlich-medizinisch-Einlassens im Privaten finden lassen (vgl. zu Strategien der Trennung zwischen Arbeit und Leben auch Kapitel 4.1). 3.3.3 Von Sich-Distanziert-Einlassen bis Sich-Einlassen: Ausdruck der Person oder der Situation? Abschließend kann man darüber nachdenken, ob es so etwas wie eine grundsätzliche Haltung gibt, die jede*r Gynäkolog*e ausprägt, und sich folglich entweder eher einlässt oder eher distanziert einlässt. Dies wäre eine personenspezifische Haltung. Alternativ könnte die Haltung über verschiedene Situationen variieren. Zu beiden Aspekten sollen nun Überlegungen angestellt werden. Für einige der untersuchten Gynäkolog*innen ist es durchaus passend, von einer personenbezogenen Haltung zu sprechen. So finden sich bei der niedergelassenen Gynäkologin 10 nur Zitatstellen, die belegen, dass sie sich in den verschiedenen, oben beschriebenen Formen auf ihre Patientinnen und damit verbundene Gefühle einlässt. Grundsätzlich trifft dies auch für den in der klinischen Geburtshilfe tätigen Gynäkologen 5 zu, bei dem sich lediglich in einer Zitatstelle eine Form der professionellen Distanz hervorhebt. Prototypisch für die Haltung des Sich-Distanziert-Einlassens steht die niedergelassene Gynäkologin 4. Allerdings ist es auch gerade Gynäkologin 4, die deutlich auf das situative Moment verweist: Wenn sie ein Ereignis im Zusammenhang mit einer Patientin unangenehm berührt (und die damit verbundenen Gefühle müssen als SichEinlassen bezeichnet werden), dann reagiert sie darauf, indem sie diese Patientin vor eine Wahl stellt. Die Wahl beinhaltet, entweder ihr Verhalten (das der Patientin) zu verändern, oder aber die Gynäkologin trennt sich von ihr. Das heißt, sie überträgt innerhalb dieser machtschiefen Beziehung zugunsten der Gynäkologin die Anpassungs- bzw. Veränderungsaufgabe an die Patientin, statt sich mit ihren eigenen Emotionen auseinanderzusetzen. Zusammengefasst lässt sich Gynäkologin 4 insgesamt distanziert ein, außer in Situationen, die ihr unangenehme Gefühle bereiten, und die sie durch das Herbeiführen einer von zwei Entscheidungsmöglichkeiten eliminiert. Im Fall der Gynäkologin 4 kommt eine große Entschiedenheit in ihrem Verhalten zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu kann sich
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situative Varianz auch als von einer starken Ambivalenz geprägt ausdrücken. Hierfür steht der in einer Klinik in leitender Position tätige Gynäkologe 7. Als „Last“ erlebt, versucht er grundsätzlich, Emotionen in der täglichen Arbeit nicht an sich herankommen zu lassen. Aus diesem Grund gibt er sich distanziert bzw. lässt sich distanziert ein. Es gibt aber Situationen, in denen er sich auf die Gefühle seiner Patientinnen einlassen muss (ohne dass in allen Fällen deutlich wird, warum er meint, sich einlassen zu müssen) und dies eben eher mit Unbehagen und dem Gefühl des Zwangs tut. Insgesamt zeigt sich also, dass es Gynäkolog*innen gibt, die sehr konstant eine bestimmte Haltung aufweisen, aber auch solche, deren Haltung über verschiedene Situationen variiert. Allgemein gilt jedoch (mit kleineren, oben benannten Ausnahmen), dass die Einnahme einer Haltung, sei sie Sich-distanziertEinlassend oder Einlassend, eher im Sinne der Aufgabenerfüllung und für das eigene Selbst als im Sinne der Patientinnen geschieht. Die in diesem Kapitel vorgenommene Charakterisierung des Phänomens ‚Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen‘ lässt sich anhand der obigen Haltungen beschreiben, aber nicht erklären. Auch die Untergliederung des Phänomens in die drei Schritte Emotionsneutrale Medizin (Kap. 3.1), Umgang mit Emotionen erlernen als Lernen durch Erfahrung (Kap. 3.2) und die Ausprägung einer Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen (dieses Kapitel) erklärt nicht die Varianz in den eingenommenen Haltungen. Die Dreischrittigkeit des Phänomens soll an dieser Stelle noch einmal grafisch in Erinnerung gerufen werden (Darstellung 10).
Darstellung 10: Das in Kapitel 3 entwickelte Phänomen des Kodierparadigmas
Emotionsneutrale Medizin (akad. Ausbildung)
Umgang mit Patientinnen (prakt. Ausbildung)
Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen: individuelles Gleichgewicht (tägl. Arbeitspraxis)
Im nächsten Schritt wenden wir uns den ursächlichen Bedingungen zu, welche zum Phänomen führen (Kapitel 3.4). Diese lassen sich als Widerspruchspaare formulieren, welche von den Gynäkolog*innen bearbeitet werden müssen. Es
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soll aufgezeigt werden, inwieweit die je spezifische Bearbeitung dieser Widerspruchspaare dazu beiträgt zu erklären, dass Gynäkolog*innen ein je spezifisches Gleichgewicht (sei es situations- oder personenbezogen) ausprägen.
3.4 DIE NOTWENDIGKEIT ZU BALANCIEREN: WIDERSPRÜCHE IN DER GYNÄKOLOGISCHEN ARBEIT Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Ursachen, die zum Ausbalancieren von Medizin und Emotion als dem oben beschriebenen Kernphänomen führen. Der Begriff der Ursachen wird im Sinne der ursächlichen Bedingungen bei Strauss und Corbin (1996: 75) verwendet, welche darunter „Ereignisse, Vorfälle, Geschehnisse, die zum Auftreten oder der Entwicklung eines Phänomens führen“ verstehen. Diese ursächlichen Bedingungen, die die Notwendigkeit zum Ausbalancieren begründen, lassen sich in der vorliegenden Arbeit als Widersprüche innerhalb der gynäkologischen Arbeitstätigkeit, mit denen sich die Gynäkolog*innen konfrontiert sehen, fassen. Im Folgenden werden drei aus dem Datenmaterial entwickelte Widerspruchspaare beleuchtet, welche einen Bezug zum emotionalen Erleben der Gynäkolog*innen aufweisen. Dies ist erstens (Kapitel 3.4.1) der Widerspruch zwischen der im Studium erlernten Haltung des emotionsneutralen, sachlichen Mediziner*s und der Patientin, die de*m Gynäkolog*en in der Interaktion als fühlender Mensch begegnet. Der zweite Widerspruch (Kapitel 3.4.2) entsteht dadurch, dass Emotionen einerseits als wichtig erlebt werden und andererseits belastend sein können. Das dritte Widerspruchspaar (Kapitel 3.4.3) bringt diese Janusköpfigkeit der Emotionen noch einmal mit Blick auf die erlebten Verantwortungsverhältnisse auf den Punkt. Während die Gynäkolog*innen sich einerseits für ihre Patientinnen verantwortlich fühlen und, mitunter möglichst umfassend, für sie da sein wollen, müssen sie andererseits diese Fürsorge zugunsten der Selbstsorge begrenzen. 3.4.1 Die emotionsneutrale Medizin trifft auf die Patientin als Mensch Dieses Kapitel wird veranschaulichen, wie die ‚emotionsneutrale Medizin‘ einen Gegenpol zur ‚Patientin als Mensch‘ einnimmt, und welcher Widerspruch sich daraus für Gynäkolog*innen ergibt. Dieser zu entfaltende Widerspruch verschärft sich dadurch, dass Patientinnen gemäß der emotionsneutralen, medizinischen Haltung alle gleich sein und gleich behandelt werden sollen. Die prakti-
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sche gynäkologische Arbeit zeigt hingegen, dass für d*ie Gynäkolog*in durchaus nicht alle Patientinnen gleich sind. Bisherige (medizin)soziologische Analysen haben Mediziner als vergleichsweise nicht-fühlend dargestellt, was sich mit auch mit der medizinischen Ausbildung deckt „which is said to create a professional rationality that eschews feelings, emotions and sentimentality“ (Nettleton/ Burrows/ Watt 2008: 19). Das Studium als Vermittlungsort einer weitestgehend emotionsneutralen Medizin war bereits Gegenstand des Kapitels 3.1. Es lässt sich rekapitulieren, dass im Studium primär fachliche Inhalte in neutraler Weise vermittelt werden. Für die älteren Gynäkolog*innen beinhaltete das Studium lediglich in geringem Umfang psychologische Aspekte. Jüngere Gynäkolog*innen haben zwar mehr und andere Kurse als Bestandteil ihres Studiums besucht, schätzen den praktischen Nutzen für sich selbst aber ebenfalls als gering ein. Es besteht (teilweise bedauerte) Einigkeit darüber, dass der Umgang mit Emotionen erst in der Praxis gelernt werden kann. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Sicht auf die eigenen Emotionen und die Anderer durch das medizinische Studium geprägt wird, in dem ein Primat des medizinischen, fachlichen Blicks auf die eigene Arbeit und Patient*innen ausgeprägt wird. Neben diesen bereits beschriebenen Befunden ist ein weiterer Aspekt der emotionsneutralen medizinischen Haltung der neutrale Patientinnenstatus. Patientinnen sind Personen, denen neutral begegnet werden soll (affektive Neutralität, Parsons 1951). Dahinter verbirgt sich der Anspruch, jeder Patientin gleich gegenüberzutreten und sie höflich und korrekt zu behandeln: „Doctors are supposed to treat all patients alike (that is, well) regardless of personal attributes“ (Smith/ Kleinman 1989: 56). Ein Gynäkologe formuliert diesen Anspruch für sich sogar so aus: „ich versuche aber eigentlich mal die Situation immer neu zu beleuchten am Tag, wo ich sag’, es hat jeder mal ’nen Tag wo ich sag’ mal nicht so gut drauf ist oder trag’ dann auch nicht nach wenn jetzt jemand mir was vorgehalten hat oder so. Da, ich will also den Kontakt jedes Mal neu, neu aufbauen und versuche eigentlich dann die, die Frauen so zu akzeptieren, wie se sind.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Der neutrale Patientinnenstatus garantiert eine Art ‚Basisbehandlung‘, die jeder Patientin zusteht. Dieser Anspruch wird unabhängig von der eigenen emotionalen und physischen Lage aufrechterhalten. Auch wenn man sich über eine vorhergehende Patientin geärgert hat, oder sich vor der aktuellen Patientin ekelt, sollen diese Gefühle nicht die Behandlung beeinflussen. Gleiches gilt für den eigenen körperlichen Zustand, denn auch Müdigkeit nach einem langen Arbeitstag
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soll nicht dazu führen, dass die letzten Patientinnen weniger gut behandelt werden als die ersten. Um dies zu erreichen, müssen die Gynäkolog*innen Emotionsarbeit leisten, indem sie zum Beispiel jedes Mal wieder aktiv versuchen, die Patientinnen neutral zu sehen und irritierende Patientinnenhandlungen nicht zu bewerten. Eine Strategie der Arbeit an den eigenen Gefühlen, welche nicht im Unsichtbaren stattfindet, schildert eine Gynäkologin mit Blick auf den Ärger über eine vorhergehende Patientin: „Ich entschuldige mich bei der Patientin, dass ich ein bisschen ärgerlich bin, dass es aber mit ihr nichts zu tun hat. Und dass ich versuche, mich auf sie jetzt zu konzentrieren und dann eigentlich (...) bei der Arbeit fährt man eigentlich wieder runter.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Die Neutralität wird dabei zum Teil auch durch die ärztliche Arbeitsteilung gestützt. So betont ein Gynäkologe mit Blick auf eine juristische Auseinandersetzung zwischen ihm und einer Patientin: „Und letztlich erfährt nur der niedergelassene Arzt nach der Entlassung der Patientin, weil die wieder hingeht, und ’n Brief geschrieben wird, dass da f- folgendes sich ereignet hat, ja [hm]. Aber dann ist es schon passiert. Das heißt, den interessiert das schon nicht mehr [hmm]. Der war’s nicht [hmm], der hat ja keine Schuld, (unverständlich) [ja], und ist der Patientin gegenüber völlig unvoreingenommen36. Das ist wieder ’n gutes (.), ’ne gute Geschichte, ne.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Der neutrale Patientinnenstatus wird auch unabhängig von der Sympathie aufrechterhalten. Die Interviewten trennen hier zwischen der ‚Frau als Patientin‘ und der ‚Frau als Persönlichkeit‘. Auch wenn alle medizinisch korrekt behandelt werden, begegnet man lediglich den sympathischen Patientinnen mit einigen privaten Worten oder einer gewissen Liebenswürdigkeit. Allerdings deutet sich hierin bereits an, dass auf eine andere Art dann eben doch nicht alle Patientinnen gleich sind. So sind manche Patientinnen den Gynäkolog*innen wesensgleicher, so dass man einen ‚besseren Draht spinnen‘ (G1, niedergelassene Gynäkologin) kann. Dies schlägt sich nicht nur im Umgang miteinander während der Behandlung nieder, sondern beeinflusst auch die Art und gar das Ausmaß der medizinischen Behandlung. An Patientinnen, deren Schicksal mehr bewegt als das Anderer, denkt z.B. die Gynäkologin 1 im Laufe des Tages immer wieder in ‚Minutengedanken‘, die neben Gefühlen der Trauer auch das Grübeln über weitere Behandlungsmöglichkeiten umfassen. Auch das Verhalten der Patientinnen hat hier 36 Hervorhebungen durch die Autorin.
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einen Einfluss. So berichtet der niedergelassene Gynäkologe 3 von Patientinnen, bei denen er aufgrund ihres Verhaltens bereits zu Beginn der Interaktion in einer ‚Grundspannung‘ ist. Diese Anspannung wird zwar von dem steten Versuch begleitet, jede Patientin stets aufs Neue neutral zu betrachten und zu behandeln, gelingt aber nicht immer. Letztlich wird die Unterschiedlichkeit der Patientinnen auch zu einem Merkmal, welches die Gynäkolog*innen dazu bewegt, medizinische Erkenntnisse über diese Patientin fallbezogen verschieden zu vermitteln: „Ich werde es individuell entscheiden, so wie die Patientin auf mich zukommt, so wie die Patientin das versteht. Ne, und wird’ auch mal ’ner Patientin vielleicht auch mal nicht sagen dass se Krebs hat.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Dieses Zitat erhellt zwei weitere Aspekte, welche eng mit der Ungleichheit der Patientinnen verknüpft sind. Zum einen springt das hierarchische Verhältnis zwischen Gynäkolog*in und Patientin in den Blick. Denn es ist in letzter Instanz d*ie Gynäkolog*in, welche entscheidet, dass eine Patientin anders ist als andere und einer anderen Behandlung (sowohl im interaktionalen als auch im medizinischen Wortsinn) bedarf. Zum anderen zeigt sich hier auch ein Verständnis von gynäkologischer, medizinischer Arbeit als Kunstform, die des Emotionstalents bedarf, denn es bedarf eines Gespürs de*s Gynäkolog*en für die verschiedenen Patientinnentypen, um daraus die (Be)Handlungskonsequenzen abzuleiten. Letzten Endes schlägt sich die Unterschiedlichkeit der Patientinnen auch in den Umgangsstrategien der Gynäkolog*innen mit emotionalen Situationen nieder: „Es ist ja jeder Fall wieder anders, also Sie, man kann’s ja nicht verallgemeinern, ne. Es ist immer ’ne ganz besondere Situation, die unter Umständen fast schon den Charakter der Einmaligkeit trägt, ne [hmm]. Und da kann man wirklich nur sagen, so ähnlich mag das mal, und das wär mir auch passiert, also.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Die Unterschiedlichkeit wird hier auch als Begründung dafür herangezogen, dass dieser Umgang nicht im Studium erlernbar ist, sondern individuell erworben werden muss. Die aus der emotionsneutralen, sachlich-medizinischen Haltung heraus angestrebte Gleichheit aller Patientinnen findet also in der Praxis an verschiedenen Stellen ihre Grenzen und wird teilweise aufgeweicht. Am deutlichsten tritt dies im Gegenpol zur emotionsneutralen Medizin, der Patientin als Mensch, zu Tage. Die Patientin als fühlender Mensch. Im Gegensatz zu der im Studium vermittelten emotionsneutralen, sachlich-rationalen Haltung de*s Mediziner*s ist
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der praktische Arbeitsalltag der Gynäkolog*innen geprägt durch den Kontakt mit fühlenden Menschen. Dabei wünschen sich einerseits die Patientinnen mehr als einen rein medizinischen Austausch, andererseits ist dies aber auch ein Anspruch der Gynäkolog*innen an sich selbst und ihre eigene Arbeit. Dabei kann es zum einen so sein, dass sich der Bedarf nach ‚mehr als Patientin sein‘ aus der medizinischen Arbeit ergibt, wenn z.B. ein medizinischer Befund die Patientin bestürzt und sie des Trostes bedarf. Zum anderen gibt es aber auch Patientinnen, die ein generelles Gesprächsbedürfnis über ihr Leben und ihre Gefühle mitbringen: „Ähm, ich bin sogar der Meinung, viele Patientinnen kommen zu mir, die meinetwegen auch ’n gewisses Alter erreicht haben, vielleicht auch schon operiert worden sind, totaloperiert, wie man so schön im Volksmund sagt, die eigentlich gar keinen Grund mehr hätten, jetzt alle halben Jahre hier zu erscheinen, aber die kommen eben zu mir, um sich mit mir och auszutauschen über bestimmte, hm, Lebenssituationen. […] Also, dann sage ich nicht, "wissen Sie, das interessiert mich jetzt nicht", oder "dafür habe ich keine Zeit", sondern ich denke, dass das in meiner Sprechstunde ’nen riesengroßen Platz einnimmt. Ne? Dieses sich austauschen über Empfindlichkeiten, über Gefühle, über Schmerz, Freude, was alles im Leben (klopft auf Tisch) eben so ’ne Rolle spielen kann, ne?“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Die Gynäkolog*innen geben diesen Bedürfnissen nach (auch emotionalem) Austausch zum Beispiel im Rahmen ihrer Sprechzeiten einen Ort und einen (zeitlichen) Raum. Insgesamt übernehmen die Gynäkolog*innen hier eine deutlich weitergehende Rolle als die de*s emotionsneutralen Mediziner*s, denn sie ordnen sich in den Bereich sozial verantwortlicher Berufe ein: „mit wem wollen sie reden, viele gehen nicht mehr in die Kirche, der Pfarrer fällt weg als Ansprechperson und so ’nen richtigen Ersatz gibt’s nicht. Und ja, da hören wir uns wahrscheinlich auch vieles an was, was früher halt woanders geäußert worden wäre, ne.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Die soziale Verantwortung zeigt Gynäkologin 4 auch anhand von gesellschaftlich tabubeladenen Schicksalsschlägen, wie zum Beispiel dem plötzlichen Kindstod, auf. Hier drohe gesellschaftliche Isolation, die sie durch das Besprechen des Geschehenen mit der Patientin zumindest zum Teil abfangen will. Grundsätzlich ergibt sich die Möglichkeit, die Patientin als ganzheitliches, fühlendes Wesen zu erfassen, besonders bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen, welche häufig sehr langandauernde Ärzt*in-PatientinnenBeziehungen aufbauen und mitunter sogar mehrere Frauen bzw. Generationen
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einer Familie behandeln. Dadurch wird d*ie Gynäkolog*in zu einer Vertrauensperson. Auffallend ist insgesamt, dass die Patientin nicht durchgehend als fühlender Mensch wahrgenommen wird bzw. auftreten darf. Begrenzungen manifestieren sich an verschiedenen Stellen. Erstens ist stets d*ie Gynäkolog*in der Impulsgeber, um lebensweltliche und/oder emotionale Dinge anzusprechen. Die Gynäkolog*innen schaffen zwar einen Raum für diese Dinge, dieser Raum unterliegt zweitens aber wiederum Beschränkungen, zum Beispiel zeitlicher Art (die nächsten Patientinnen warten). Drittens ist auch das Sich-Einlassen und Zulassen von Emotionen und Privatem seitens de*r Gynäkolog*in auf verschiedene Arten begrenzt. Es liegt jeweils in der Einzelfallentscheidung de*s Gynäkolog*en, ob man nach Persönlichem, Nicht-Medizinischem fragt. Er oder sie kann die eigene Empathie und Anteilnahme auf den Interaktionszeitraum beschränken, und kann in der Interaktion zu einer rein medizinischen Behandlung wechseln (vgl. Kap. 4.1.1). Weiterhin ist interessant, dass Gynäkologin 4 explizit berichtet, eine weinende Patientin „auch mal [zu] drücken“. Während der Trost oder die allgemeine Allteilnahme sonst verbal ausgedrückt wird, überwindet sie hier auch den körperlichen Abstand zwischen sich und der Patientin. Das geschieht zwar bei der medizinischen Behandlung auch, bedeutet aber, dass man die Patientin auf mehreren Ebenen (eben z.B. verbal oder körperlich) als Mensch wahrnehmen und anerkennen kann. Als Gegenpol zur emotionsneutralen Medizin führt das Wahrnehmen der Patientin als Mensch auf Seiten der Patientin dazu, dass diese sich mehr angenommen fühlen kann. Auf Seiten de*r Gynäkolog*in ist die Patientin so mehr als ein ‚Fall‘. Mitunter ist die ganzheitliche Betrachtung der Patientin aber auch wieder medizinisch bedingt, etwa, wenn eine überflüssige „Riesen-Diagnostik“ (Gynäkologin 4) vermieden werden soll, wo gegebenenfalls ‚nur‘ psychosomatische Beschwerden vorliegen, die durch ein Gespräch geklärt bzw. bewusst gemacht werden können. Im Unterschied zur emotionsneutralen, sachlich-rationalen Sicht führt die ‚ganzheitliche‘ Perspektive auf die Patientin als einer fühlenden Frau dazu, dass Emotionen relevant für die gynäkologische Arbeit werden. Für die Gynäkolog*innen entsteht aus diesem Widerspruch zwischen beiden Polen die Notwendigkeit, sich im Rahmen ihrer täglichen Arbeit dazu zu positionieren. Sie tun dies, indem sie sich entweder einlassen oder distanziert einlassen.
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3.4.2 Emotionen sind wichtig, aber auch belastend Wie gerade ausgeführt, steht in der praktischen gynäkologischen Arbeit die im Studium vermittelte emotionsneutrale Haltung einer ganzheitlicheren Sichtweise auf die Patientin als fühlendem Menschen gegenüber. Hierdurch rücken Emotionen stärker in den Fokus. Dabei werden Emotionen von den Gynäkolog*innen zweischneidig wahrgenommen. Einerseits werden Emotionen als wichtig in der gynäkologischen Arbeit erachtet, und andererseits können Emotionen (zu) belastend sein. Beide Seiten, die im Widerspruch zueinander stehen, werden im Folgenden beleuchtet. Emotionen sind wichtig. Die Bedeutung von Emotionen wird insbesondere von den niedergelassenen Gynäkolog*innen (G1, G2, G3, G4, und G10) hervorgehoben. Sie findet sich aber auch bei den in der Klinik tätigen Gynäkolog*innen. Wiederholt wird betont, dass der Umgang mit Emotionen ein Teil der gynäkologischen Arbeit und somit des Berufs ist. Exemplarisch führt Gynäkologin 1 dies so aus: „ich kann mir nicht vorstellen, dass man in dem, in diesem Beruf arbeiten kann ohne Emotionen zu zeigen, ne. […] Grad mein alter Chef, der hat immer gesagt, in der Medizin kann man nicht arbeiten ohne Herzensbildung. Das war immer sein Lieblingsspruch, ne? So, und ich denke, das ist einfach was, was, was man haben muss, hat oder nicht hat. Ne. Und dann gibt es sicherlich noch Berufe, was weiß ich, als Pathologe, wo das halt vielleicht keene Rolle spielt, ne. Weil se keinen direkten Patientenkontakt haben. An dem Moment, wo se den haben, bleibt ihnen nichts anderes übrig. Ne, ich denke auch nicht, dass ’nen Patient ihnen das abnimmt, wenn se das bloß spielen.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
Interessant ist die hier erwähnte „Herzensbildung“, welche begrifflich darauf hinweist, dass der Umgang mit und das Zeigen von Emotionen gebildet, also erlernt werden kann. Demgegenüber (und so in unbemerkter Opposition zu dem „alten Chef“) vertritt Gynäkologin 1, ebenso wie eine Reihe der anderen interviewten Gynäkolog*innen, die Ansicht, dass es sich bei der Fähigkeit mit Emotionen (und Menschen) umzugehen eher um eine grundlegende Charaktereigenschaft handelt: „Das ist meine Art, oder sie ist es nicht. Das hat man in die Wiege gelegt gekriegt, oder nicht, ja […] aber das sind Eigenschaften, Situationen, die kann man nicht lernen. Das ist sicherlich auch Erziehung, das sind Eltern gewesen, was haben die ihren Kindern beige-
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bracht, und das denke ich ist da ’n ganz wesentlicher Anteil.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Die eigene Art, wie man mit Emotionen umgeht und in Interaktionen auftritt, ist folglich in der überwiegenden Wahrnehmung der Gynäkolog*innen angeboren oder in der vorberuflichen Sozialisation erworben worden. Die Möglichkeit, dass man sein Herz im Beruf (aus)bildet, wird demgegenüber in Abrede gestellt bzw. mit Blick auf die Befunde in Kapitel 3.2 unterschätzt. Doch zurück zur Bedeutung von Emotionen in der gynäkologischen Arbeit. Dabei lassen sich zwei Aspekte trennen: einerseits ist das Zeigen und Teilen von Emotionen für die Gynäkolog*innen ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit, andererseits wird ihm für die Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin eine hohe Bedeutung beigemessen. Dass ihnen das Zeigen und Teilen von Emotionen wichtig sind, bringen zum Beispiel Gynäkologin 2 und 10 zum Ausdruck, indem sie beide unabhängig voneinander angeben, „sehr emotionsgeladene Menschen“ zu sein. Diese eigene Emotionalität ist für sie eine Ressource, die sie auch in ihrer täglichen Arbeit einbringen und ausleben können und dementsprechend in die Gestaltung der Ärztin-Patientinnen-Interaktion einbringen: „aber die kommen eben zu mir, um sich mit mir och auszutauschen über bestimmte, hm, Lebenssituationen. […] wo se sich einfach mal unterhalten wollen, und so was lasse ich generell zu. Also, dann sage ich nicht, "wissen Sie, das interessiert mich jetzt nicht", oder "dafür habe ich keine Zeit", sondern ich denke, dass das in meiner Sprechstunde ’nen riesengroßen Platz einnimmt. Ne? Dieses sich austauschen über Empfindlichkeiten, über Gefühle, über Schmerz, Freude, was alles im Leben (Klopfen auf Tisch) eben so ’ne Rolle spielen kann, ne?“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Praktisch manifestiert sich die Relevanz von Emotionen also darin, dass die Gynäkolog*innen den Emotionen einen Platz in den Ärzt*in-PatientinnenInteraktionen einräumen und emotionale sowie persönliche Aspekte mit den Patientinnen besprechen. Dies umfasst neben den Emotionen der Patientinnen (wie im obigen Zitat) durchaus auch die der Gynäkologin bzw. des Teams: „Ja, also wir haben einen, bei uns, wir haben schon plötzlichen Kindstod gehabt unter Patienten, was also furchtbar ist, da haben wir genau mit geheult wie die Frau selber und auch bei manchen, also was so schwerwiegende Karzinomerkrankungen auch zum Teil noch bei jungen Leuten. Das, das, denk’ ich, das kann man auch nicht einfach so abtun und da find’ ich das auch völlig okay. Das können die Leute auch ruhig wissen, das ist find’ ich auch legitim, ne.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
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Die beiden letzten Zitate betreffen bereits nicht mehr nur die Bedeutung von Emotionen für die Gynäkolog*innen, sondern beziehen bereits die Wichtigkeit von Emotionen in der Beziehung zwischen Gynäkolog*in und Patientin mit ein. Durch das Zeigen und Teilen von Emotionen wird eine zwischenmenschliche Ebene aufgebaut, die über die reine Behandlung der Patientinnen hinausgeht und daran mitwirkt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Dabei ist das Bearbeiten von spezifischen Emotionen der Patientinnen mitunter auch wichtig, um eine Untersuchung oder Behandlung durchführen bzw. fortführen zu können. Insbesondere ist es verbreitet, während unangenehmer Arbeitsschritte, wie zum Beispiel der vaginalen Untersuchung der Patientin, über völlig andere Themen wie berufliches Vorankommen, Urlaubserlebnisse oder die Orchideen im Wartezimmer zu sprechen. Dies dient der Ablenkung der Patientin, in dem an ihren Gefühlen gearbeitet wird, und fordert in der Regel keine hohe emotionale Involviertheit de*r Gynäkolog*in. Während hier das Sprechen über Alltägliches als Ablenkung genutzt wird, kann auch das Sprechen mit dem Ziel der Aufklärung der Patientin diese Funktion übernehmen. Gynäkologin 8 verdeutlicht dies mit Blick auf Ängste von Frauen vor einer bevorstehenden Geburt: „Also ich mein’, wenn wenn ’ne Frau aufgeregt kommt, und und noch überhaupt gar kein’ Idee hat, was jetzt auf sie zukommt [hm], dann müssen wir ihr natürlich entgegenkommen. In dem wir ihr umso mehr natürlich erzählen, was jetzt alles passieren wird [hm], was jetzt passieren kann. Da haben wir halt die Gelegenheit, da jede Frau wenn se aufgenommen wird, noch mal ’n Ultraschall bekommt, dass man in dem Gespräch, Ultraschall dauert ja auch immer so seine Zeit, dass man da mit der Frau spricht, wie so ’ne Geburt abläuft.“ (G8, Assistenzärztin Klinik)
Das primäre Ziel ist hier, der Frau die Angst zu nehmen, um die Geburt erfolgreich begleiten zu können, denn Angst „ist unser natürlicher Feind in der Geburtshilfe“ (Gynäkologin 8). Insgesamt lässt sich also festhalten, dass Emotionen eine hohe Bedeutung in der gynäkologischen Arbeit zukommt. Diese Bedeutung prägt das berufliche Selbstbild und entspringt durchaus auch dem Bedürfnis einiger Gynäkolog*innen, Emotionen zu teilen und zu zeigen. Die Wichtigkeit von Emotionen manifestiert sich somit auch im Umgang mit den Patientinnen. Dabei finden sich auch Aussagen, die die Legitimität dieses Selbstbildes bzw. Emotionen einbeziehenden Handelns begründen sollen. Diese stützen sich auf die Figur eines negativen Bildes de*r Gynäkolog*in (z.B. nur rein schematisch zu arbeiten, Patientinnen „stumpfsinnig“ zu behandeln), welches vermieden werden soll. Demgegenüber ist die Arbeit an den Emotionen der Patientinnen, um eine Untersu-
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chung oder Behandlung durch- bzw. fortzuführen, nicht gesondert legitimationsbedürftig. Es lässt sich also feststellen, dass Emotionen zwar einerseits als wichtiges, zu berücksichtigendes Element im Arbeitsalltag und besonders im Interaktionsalltag angesehen werden. Andererseits können die emotionalen Anteile der Arbeit aber auch belastend sein. Das eine als relevanten Bestandteil der gynäkologischen Arbeit zu betrachten, zieht das andere nach sich und begründet so den Widerspruch zwischen der Wichtigkeit von Emotionen und ihrem Belastungspotential. Emotionen sind belastend. Die Wichtigkeit von Emotionen heben Gynäkolog*innen sowohl für sich selbst als auch für die Interaktion mit der Patientin hervor. Demgegenüber stehen bei der Wahrnehmung von Emotionen als etwas Belastendem die eigenen Gefühle de*s Gynäkolog*en im Vordergrund. Es werden verschiedene, emotional belastende Situationen ausführlich geschildert, wohingegen eine emotionale Belastung der Patientin zwar mitunter auch benannt, aber kaum einmal detailliert ausgeführt wird. Dabei sind die konkreten Situationen, welche emotional belastend sind oder sein können, unterschiedliche. Sie lassen sich allerdings entlang der drei Stichworte Sympathie, Verantwortung und Ohnmacht systematisieren. Sympathie. Gefühle können insbesondere zur Belastung werden, wenn die emotionale Verbindung zu einer Patientin hoch ist und gleichzeitig zum Beispiel eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt oder ein operativer Eingriff durchgeführt werden muss. Insbesondere bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen spielt hier die häufig langandauernde, über Jahre gewachsene Beziehung zwischen Gynäkolog*in und Patientin eine Rolle und sorgt dafür, dass die Gynäkolog*innen vermehrten Anteil am Schicksal ihrer Patientinnen nehmen. Darüber hinaus behandeln Gynäkolog*innen oftmals auch gute Bekannte, Freund*e oder Verwandte. Die damit einhergehende gefühlsmäßige Bindung wirkt belastend, wie das Beispiel der Gynäkologin 4 illustriert: „und die hab’ ich so, aus meiner, als ich so Assistenzarzt war, da haben wir uns, also da waren wir so ’ne Truppe gewesen immer gemeinsam gearbeitet und uns wirklich gut verstanden. Und die hatte ich dann als Patientin […] und ja alles schön und dann hat die ’n Brustkrebs gekriegt und ist dann über die Jahre bei mir in Behandlung gewesen und dann isse eben irgendwann dran gestorben. Deutlich jünger als ich, also das, das kann ich auch ne einfach so dann abhaken, also das ist mir schon gewaltig nahe gegangen und da bin ich auch auf die Beerdigung gegangen“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Verantwortung. Neben der Sympathie ist auch das Gefühl der Verantwortung für die Gesundheit einer Patientin etwas, das durch die damit verbundenen Emotio-
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nen belastend wirken kann. In der Geburtshilfe umschließt diese Verantwortlichkeit auch das geborene Kind. Gynäkologe 5 beschreibt Fälle, in denen „Kinder mit ’nem schlechteren Zustand auf die Welt kommen. Kaiserschnitt. Wo man sich das überlegt hat, ’nen bissl zu spät gemacht, oder oder oder. Wo Sie natürlich dann Tage, Wochen mit der Entwicklung des Kindes als Arzt äh, mit ’nem schlechten Gewissen leben. Hier hätte ich vielleicht, wenn ich eher, das und jenes verhindern können, und ähm, das sind Situationen, die uns keiner bezahlt. Oder, auch nur versteht.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Der emotionale Zustand, also das schlechte Gewissen, entspringt hier einem möglicherweise falschen oder zu späten Handeln und ist also eng mit der Verantwortung des Gynäkologen gegenüber der Patientin und dem Kind verknüpft. Gerade emotional belastende Situationen, die sich aus dem Verantwortungsgefühl de*s Arzt*es speisen, werden auch oft über das Ende der Arbeitszeit hinaus mit sich herumgetragen. Dies trifft auf (mögliche) eigene Fehler ebenso zu wie auf die Sorge, ob sich aus dem eigenen geburtshilflichen oder operativen Handeln Komplikationen ergeben könnten. Ein Zitat von dem Gynäkologen 9 soll Letzteres veranschaulichen: „Weil, es geht immer darum, wer hat am Ende die Frau operiert [hm], oder wer hatte die Hauptverantwortung für die Frau und die lässt ma dann, selbst wenn man keinen Dienst hat, nicht einfach auf den Andern da runterprasseln, sondern selbst da denkt man noch mit und überlegt und macht und äh ja. Dass eben möglichst alles gut geht, ne. Das ist klar. [hm] Oder eben dann am Ende das Beste rauskommt.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Die Formulierung „selbst wenn man keinen Dienst hat“ verweist in diesem Zusammenhang auf eine Besonderheit der leitenden Gynäkolog*innen in der Klinik. Sie absolvieren ihren Dienst in der Regel als Hintergrunddienst, in dem sie zwischen zwei Arbeitstagen im Bedarfsfall zu Hause zu erreichen und binnen weniger Minuten in der Klinik sein müssen (vgl. Kapitel 2.1.3). Folglich ist die Trennung zwischen Arbeit und Privatem hier eh schon erschwert und wird durch die obige Ausführung über die „Hauptverantwortung für die Frau“ noch weiter aufgeweicht. Ohnmacht. Mit Emotionen verbundene Arbeitssituationen wirken weiterhin besonders dann belastend, wenn sie mit einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Situation einhergehen, das heißt nicht selbstgewählt sind oder als nicht veränderbar wahrgenommen werden. Diese Ohnmacht zeigt sich zum Beispiel, wenn ein Gynäkologe unter Zustimmung der Patientin eine Fruchtwasserpunkti-
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on durchführt. Statistisch schlägt diese in 1% der Fälle fehl und führt in der Folge zu einer Fehlgeburt. Der Gynäkologe 5 wurde in der Folge mit Vorwürfen konfrontiert, einen Fehler begangen zu haben, und verklagt. Diese Vorwürfe, die zunächst durch Anwält*e in schriftlicher Form an den Gynäkologen herangebracht werden, wirken verletzend und führen zu Verunsicherung. Diese Aspekte (Verunsicherung und gefühlte Verletzung) addieren sich zu dem Mitfühlen mit dem Leid der Frau und wirken in der Folge weiter verunsichernd, wenn der Gynäkologe die gleiche medizinische Prozedur (Fruchtwasserpunktion) erneut bei einer anderen Patientin durchführen muss: „Und das seelische Problem des Arztes, dass er also unglücklich ist und äh, oder angegriffen wird, oder gar juristische Konsequenzen das nach sich zieht. Und, und er ja aber trotzdem am nächsten Tag oder bei dem nächsten Fall wieder eigentlich seinen Mann stehen muss [ja, ja] und auch der, der nächsten Frau nicht zeigen kann, ich bin eigentlich jetzt unsicher oder ich bin ängstlich. Weil, weil mir das wiederfahren ist. Das, das ist, beachtlich.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Neben der emotionalen Belastung spielt hier auch eine Rolle, dass es als günstiger für den Verlauf einer Behandlung wahrgenommen wird, wenn d*er Gynäkolog*e eine medizinische Handlung mit einem Gefühl der Sicherheit durchführt, als Gefühlen des Zweifels und der Unsicherheit. Ohnmacht spielt auch in der bereits in Kapitel 3.3.2 (Abschnitt „sich einlassen müssen“) wiedergegebenen Sequenz des Gynäkologen 7 über den Umgang mit palliativ betreuten Patientinnen eine Rolle: „Ähm, (3) auf diese Patienten muss man also wirklich intensiv eingehen und das lässt einen auch nicht los. [hm] Weil die wissen, wenn, man weiß auch, die die warten auf einen direkt. Der Chef, oder der Doktor *EigenerName* ist im Urlaub, und ‚Wann kommt er denn wieder‘. […] Ähm, und das sind Dinge, die einem, die gehen auch, sagen wir mal so, 15 Uhr 30 ist da auch nicht Schluss damit [hm], ne. Man macht sich auch zu Hause und außerhalb der Klinik Gedanken“ (G7, leitender Gynäkologe Klinik)
Er beschreibt sich im weiteren Verlauf als jemanden, der „immer viel äh, äh Last mit sich rumträgt“ und gleichzeitig aber, insbesondere aufgrund seiner hierarchisch hohen Position, keine Wege sieht, diese (auch emotionale) Last zu reduzieren. Im obigen Zitat führt Gynäkologe 7 fortlaufend aus, dass eigentlich auch andere Kolleg*innen an seiner Stelle die Betreuung dieser Patientinnen übernehmen könnten, die Patientinnen aber eben „auf einen direkt“ warten. Hier zeigt sich, dass Patientinnen sich nicht immer so verhalten, wie Gynäko-
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log*innen sich dies wünschen. Darin liegt sicher eine wichtige Quelle der Ohnmacht an dieser Stelle, und diese findet sich auch in anderen Situationen. Die Gynäkologin 4 empfindet zum Beispiel Situationen als besonders emotional belastend, in denen sie einer Patientin einen medizinischen Rat erteilt, diese den aber nicht befolgt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Patientin eine empfohlene operative Behandlung eines Karzinoms verweigert. Im Unterschied zum Gynäkologen 7 hat Gynäkologin 4 allerdings einen Weg gefunden, einer Ohnmachtssituation zu entgehen und belastende Gefühle zu vermeiden, indem sie das Ärztin-Patientinnen-Verhältnis in solch einem Fall beendet. Ohnmacht als eine Quelle emotional belastender Situationen wird auch in der Literatur thematisiert. Johnsen und Sattler (2005: 22f) etwa charakterisieren die Arbeit niedergelassener Ärzt*e als ‚high demand – low influence‘, also geprägt von hohen Anforderungen und geringem Einfluss. Für die Ärzt*in-Patient*in-Beziehung bedeutet dies37: „Aus dem korrekten Umgang mit den Krankheiten und Leiden sowie der Verantwortung für die Genesung des Patienten erwachsen hohe Anforderungen an den einzelnen Arzt. Demgegenüber steht jedoch einerseits das Wissen, häufig nur geringe Einflussmöglichkeiten gegenüber dem Patienten zu haben und andererseits das Risiko, trotz sorgfältiger Diagnosen fehlerhafte Entscheidungen bei der Behandlung zu treffen.“ (Johnsen/ Sattler 2005: 23)
Zusammenfassend sind es also insbesondere Aspekte der Sympathie für Patientinnen, der erhöhten wahrgenommenen Verantwortung und von Gefühlen der Ohnmacht in Arbeitssituationen, die dazu führen, dass Emotionen in der gynäkologischen Arbeit auch als belastend eingestuft werden. Der so entfaltete Widerspruch zwischen der Wichtigkeit von Emotionen in der Berufsausübung einerseits und dem Potential der Belastung durch Emotionen andererseits setzt sich im nächsten Kapitel fort.
37 Johnsen und Sattler (2005) beziehen dies weiterhin auf das Verhältnis zu anderen Akteuren. Sie führen aus, dass Ärzt*e über wenige individuelle Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten gegenüber anderen Mediziner*n, Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen verfügen, während von diesen zeitgleich erhöhte Anforderungen an sie herangetragen werden.
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3.4.3 Gynäkolog*innen zwischen Selbstsorge und der Sorge für Andere Den Gynäkolog*innen ist es wichtig, für ihre Patientinnen da zu sein, sich ihnen gegenüber verantwortlich zu verhalten und so im Rahmen ihrer Möglichkeiten für sie zu sorgen (Sorge für Andere). Gleichzeitig ist es aber notwendig, die Fürsorge für die Patientinnen zugunsten der Sorge für sich selbst zu begrenzen, um nicht selbst psychisch oder physisch zu erkranken. Es handelt sich also um eine Reformulierung des bereits im vorhergehenden Kapitel entfalteten Widerspruchs. Hier steht nun die Widersprüchlichkeit der Sorge für sich im Gegensatz zur Sorge für die Patientin und muss in Balance gehalten werden38. Dabei bedingt die Erstere auch die Letztere: erst die gelingende Selbstsorge ermöglicht den Gynäkolog*innen, langfristig für ihre Patientinnen da zu sein. Selbstsorge, oder die Sorge um sich selbst, kann ganz allgemein als „schützender Umgang mit sich selbst angesichts externer Herausforderungen“ (Flick 2013: 27) verstanden werden. Das empirische Material zeigt drei Quellen auf, aus denen heraus der schützende Umgang mit sich selbst resultiert und als bedeutsam wahrgenommen wird. Diese Quellen sind (1) eigene biografische, berufsexterne Erfahrungen, (2) im Beruf gemachte Erfahrungen und (3) Warnungen im Studium. (1) Eine Quelle, aus der heraus die Bedeutung von Selbstsorge im eigenen Leben erwächst, sind berufsexterne biografische Erfahrungen wie Krankheiten und Todesfälle im näheren Umfeld oder eigene, schwerer wiegende Erkrankungen. In der Auseinandersetzung mit solchen biografischen Ereignissen entsteht eine Sensibilität für den schützenden Umgang mit sich selbst, wie Gynäkologin 8 exemplarisch verdeutlicht: „Und ähm bin halt aus dieser Sache gestärkt hervorgegangen und weiß aber halt auch inzwischen, dass der menschliche Körper in jeglicher Hinsicht nur gewisse Ressourcen hat. [hm] Und dass man damit aufpassen muss. Und ähm bin daher natürlich sensibilisiert, was
38 Hier ergeben sich Parallelen zu dem in Kapitel 2.2.2 (Unterabschnitt zu Mitleid und Empathie) bereits formulierten Begriffspaar Mitleid-Empathie. Denn während Empathie legitim und aber auch ausreichend ist, um für die Patientinnen da zu sein, wird Mitleid als überflüssig wahrgenommen. Gleichzeitig gebietet das Konzept der Selbstsorge den Gynäkolog*innen, lediglich in Ausnahmefällen mit ihren Patientinnen mitzuleiden – also über die empathische Anteilnahme hinaus tatsächliches Mitgefühl zu empfinden bzw. sich selbst zu erlauben.
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so was betrifft. Da auch eben auf mich selber ’n bisschen aufzupassen [ja].“ (G8, Assistenzärztin Klinik)
Strategien, mit denen die Selbstsorge realisiert wird, sind Strategien der inneren und äußeren Grenzziehung (vgl. Kapitel 4.1) sowie die Delegation im Sinne einer Arbeitsteilung im Kolleg*innenteam von Aufgaben, die als ‚Zuviel‘ eingestuft werden. (2) Neben den außerberuflichen biografischen Erfahrungen spielen auch Erfahrungen, die im Berufsleben gemacht werden, eine Rolle, um einen stärker schützenden Umgang mit sich selbst auszuprägen. Während die im Beruf gemachte Erfahrung als Quelle benannt werden kann, lassen sich hierbei zwei Modi des Lernens aus diesen Erfahrungen unterscheiden. Der erste Modus beinhaltet das Lernen aus beruflichen Erfahrungen in Form von Selbstlernprozessen. Dieses lässt sich exemplarisch anhand des niedergelassenen Gynäkologen 3 illustrieren. Er beschreibt die Sorge um sich selbst als etwas, was er auf Basis vergangener Grenzübertretungen (sowohl im Arzt-Patientin-Verhältnis als auch der eigenen Leistungsfähigkeit) erlernen musste. Dies geschah durch eigene Versuche und Selbstbeobachtung (Selbstlernprozesse). ‚Sorge um sich‘ bedeutet in seinem Fall, dass er sich abgrenzt, seine Rolle als Arzt klar definiert und damit auch gegen überbordende Patientinnenanforderungen verteidigt. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die geschlechtliche Konstellation (Gynäkologe – Patientin) dar. Strategien hierfür sind die Trennung zwischen Arbeit und Leben (vgl. Kapitel 4.1.2), aber auch, den Grad der eigenen Belastbarkeit zu kennen und zu respektieren. Aus letzterem resultiert, sich selbst ausreichend Erholung zu gönnen und entsprechende organisatorische Anpassungen vorzunehmen (Begrenzung des Patientinnenstamms). Diese Anpassungen muss er dann als niedergelassener Arzt auch ökonomisch tragen: „das Pensum, was man leistet, das hat jeder, hat auch ’n anderes Leistungsvermögen. Und wenn man das chronisch übertritt, dann geht es einem nicht gut [ja]. Und wenn man das für sich auslotet, und sagt okay, mit den Abstrichen und mit den Öffnungszeiten und logischerweise dann auch mit dem Geld kannst du leben, dann ist es doch okay [hm].“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Der zweite Modus umfasst das Erlernen von Selbstsorge mit Hilfe von Weiterbildungen. So stellt etwa Gynäkologin 2 die Selbstsorge vor allem in den Kontext einer psychoonkologischen Weiterbildung, die sie regelmäßig besucht. Somit ist der Besuch dieser Weiterbildung, sowie die darin integrierte Supervision und der Austausch mit anderen Gynäkolog*innen, ein wichtiger Teil ihrer Be-
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mühungen für sich selbst zu sorgen. Im Rahmen dieser Weiterbildung hat sie die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit (vgl. Kapitel 4.1.2: ‚’ne Klappe zumachen‘) erlernt, aber auch, wie wichtig es ist, sich selbst etwas Gutes zu tun (Strategien). Ziel ist es, auf Dauer keinen Schaden zu nehmen: „das ist eben auch der Anspruch, dass man Strategien entwickelt, äh, ja, wie kann ich auf die Dauer damit umgehen, um nicht selber irgendwie Schaden zu nehmen, ne. Und, grade diese Fortbildung von der ich Ihnen da erzählt habe ist da sehr, sehr gut geeignet.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Unabhängig vom Modus des Erlernens der Selbstsorge steht in beiden Fällen das Erlernen einer Trennung zwischen Arbeit und Freizeit im Mittelpunkt. Weiterhin geht es auch hier, wie schon bei den außerberuflichen biografischen Erfahrungen, darum, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu erkennen und zu respektieren. Bei einer fehlenden biografischen Vorprägung führt die im Kapitel 3.1 beschriebene Emotionsneutralität der Medizin und damit auch der medizinischen Ausbildung dazu, dass diese Fähigkeiten der Abgrenzung und der Selbstsorge erst im Berufsalltag erlernt werden (müssen). Dies expliziert Gynäkologe 3 mit Bezug auf sein Studium in der ehemaligen DDR: „das Studium, wie es damals gelaufen ist, war gut, aber diese, diese, diese Ausbildung, diese, die Ausbildung auf den, auf das seelische Gleichgewicht und auf diese Hygiene im seelischen Bereich, die haben wir überhaupt nicht erfahren.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
(3) Eine dritte Quelle für den schützenden Umgang mit sich selbst sind Warnungen von Anderen, dass man Schaden nehmen könne, wenn man nicht für sich selbst sorgt. Ein Zitat von Gynäkologin 6 illustriert dies: „also ich hab’ gar nicht wirklich viele schlechte Fälle von Ärzten erlebt, die, die jetzt irgendwie sich so verausgabt haben. Aber man hat das halt im Studium so gehört, dass es das gibt. Und ich hab’ mir eigentlich vorgenommen, von Anfang an zu sagen, okay, guck auf dich selber. Und wenn es zu viel ist, ist es zu viel.“ (G6, Assistenzärztin Klinik)
Im obigen Zitat sind diese Warnungen im Studium erfolgt, ob als Geraune unter Studierenden oder ‚offizielle‘ Warnung durch Lehrende, bleibt offen. Analytisch unterscheidet sich diese dritte Quelle von den beiden vorhergehenden, da sie nicht auf eigenen Erfahrungen der Gynäkolog*innen beruht. Stattdessen liegt sie in der Warnung vor mangelnder Selbstsorge begründet und kann so sozusagen
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einen vorsorgenden Schutz vor einem ausbeutenden Umgang mit sich selbst bieten. Gegenüber den diskutierten Quellen für einen schützenden Umgang mit sich selbst gibt es auch Gynäkolog*innen, für die das Thema der Selbstsorge augenscheinlich keine Rolle spielt. Es lässt sich vermuten, dass es sich hierbei um Gynäkolog*innen handelt, deren Fähigkeit zur Selbstsorge nicht durch berufliche oder sonstige biografische Ereignisse auf die Probe gestellt wurde bzw. die passende Strategien der Selbstsorge derart verinnerlicht haben, dass sie nicht bewusst sich selbst schützend handeln müssen. Die niedergelassene Gynäkologin 4 betont beispielsweise, dass eine positive Einstellung zur Arbeit und das Überwiegen positiver Emotionen im Berufsalltag in Kombination mit Hobbies und intakter Familie bei ihr dazu führen, dass sie „also ganz bestimmt kein Problem da mit irgendwelchen Emotionen“ hat. Für die eigenen Patientinnen da zu sein bedeutet dreierlei. Erstens geht es darum, empfänglich und offen für die Probleme der Patientinnen zu sein. Um dies zu gewährleisten, erlernt Gynäkologin 1 beispielsweise ‚mentales Training‘. Zweitens bedeutet für die Patientinnen da zu sein, dass man ihnen im Bedarfsfall emotionale Unterstützung anbietet und sich auch gegebenenfalls anteilnehmend zeigt. Auch hierfür werden Weiterbildungsangebote genutzt, zum Beispiel in Form von aufbauenden Psychologiekursen bei Gynäkologin 4. In ihrem Fall steht die Gesprächsführung mit an Krebs erkrankten Patientinnen im Vordergrund. Sie lernt, Unsicherheiten und Angst, das Falsche zu sagen, zu überwinden. In beiden Fällen werden also (privat gesuchte oder berufsbezogen angebotene) Weiterbildungen eingesetzt, um besser für die Patientinnen da sein zu können sowie ihren Bedürfnissen besser gerecht werden zu können. Drittens wird hervorgehoben, dass man auch dann (genauso) gut für seine Patientinnen da ist, wenn man sich selbst ein Stück weit abgrenzt und nicht über bestimmte Grenzen hinaus für die Patientin da ist bzw. sich distanziert auf sie einlässt (vgl. Kapitel 3.3.1). Zur Erinnerung: Beim distanzierten Einlassen geht es darum, zwar offen für die Anliegen der Patientin zu sein, aber diese nicht ganz nah an sich heran zu lassen. Begründet wird dies exemplarisch so: „weil wenn Sie alles ganz nah ran lassen, also dann ist das, wird das ’n ganz schwerer Beruf denk’ ich. Hm, ne. Und ich weiß auch ne, ob man die Leute damit besser behandelt, ich (..) kann man, kann ich schlecht einschätzen, aber ich denke nicht, ich glaub’ nicht, dass man den’ davon besser helfen kann.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Grundsätzlich geht es bei allen drei Aspekten darum, dass d*er Gynäkolog*e ruhig, erholt und wenig stressbelastet sein muss, um für die Patientinnen immer
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gleichermaßen ein offenes Ohr zu haben. Hier zeigt sich eine ambivalente Kreislaufdynamik: D*ie Gynäkolog*in ist mit offenem Ohr für ihre Patientinnen da, muss aber bestimmte Grenzen für sich selbst ziehen. Dies geschieht zum einen aus der oben beschriebenen Sorge um sich selbst – zum anderen aber auch, um daraus resultierend auch weiterhin für die Patientinnen da sein zu können. Insgesamt zeigt sich in diesem Kapitel 3.4, dass die Gynäkolog*innen in ihrer täglichen Arbeit verschiedenen Widersprüchen ausgesetzt sind. Die mit Blick auf den Umgang mit Emotionen relevanten Widersprüche lassen sich in drei Paare ordnen: der Widerspruch zwischen der emotionsneutralen Medizin und der Patientin als fühlendem Mensch, der Widerspruch zwischen der Wichtigkeit von Emotionen und ihrem Belastungspotential, und der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit für sich selbst zu sorgen und für andere zu sorgen. Diese Widerspruchspaare wirken als ursächliche Bedingungen auf das Phänomen, die Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen, ein (vgl. Darstellung 11). Gynäkolog*innen müssen eine Balance zwischen den jeweiligen Polen der Widerspruchspaare finden, die ihnen einen für sie angemessenen Umgang mit Emotionen erlaubt. Diese Balance (temporär) zu finden, trägt zu der Form der Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen bei, die sie ausprägen und die in Kapitel 3.3 als „sich distanziert einlassen“ und „sich einlassen“ beschrieben wurden. Darstellung 11: Das Kodierparadigma unter Hinzunahme der ursächlichen Bedingungen Drei Widerspruchspaare als ursächliche Bedingungen:
• Die emotionsneutrale Medizin trifft auf die Patientin als Mensch • Emotionen sind wichtig, aber auch belastend • Gynäkolog*innen zwischen Selbstsorge und Sorge für Andere
Emotionsneutrale Medizin
Umgang mit Patientinnen
(akad. Ausbildung)
(prakt. Ausbildung)
Kontext Gynäkologie (Kapitel 2):
• Gynäkologie als Teil der medizinischen Profession • Organisationsformen gynäkologischer Arbeit (z.B. Niederlassung, Klinik) • Gynäkologische Arbeitstätigkeiten • Bandbreite der erlebten Emotionen
Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen: individuelles Gleichgewicht
(tägl. Arbeitspraxis)
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Um diese Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen im Arbeitsalltag aufrechtzuerhalten, werden von den Gynäkolog*innen verschiedene Strategien eingesetzt. Diese sind – zusammen mit den Grenzen dieser Strategien – Gegenstand des folgenden Kapitels.
4
Das Gleichgewicht halten: Strategien als Balancierstäbe
Um medizinische Fachlichkeit und mit der gynäkologischen Arbeit verbundene Emotionen im Gleichgewicht zu halten, setzen Gynäkolog*innen bestimmte Strategien ein. Im Sinne der Metapher des ‚Balance‘ oder ‚Gleichgewicht Haltens‘ verwenden sie diese Strategien als Balancierstäbe. Der hier verwendete Strategiebegriff entstammt dem Verständnis von Handlungs- und interaktionalen Strategien, wie es sich innerhalb der Grounded Theory Methodologie bei Strauss und Corbin (1996) findet: „Obgleich nicht jede Handlung/Interaktion absichtlich ist, ist sie in einigen Fällen wohlüberlegt. Handlung/Interaktion kann auch ohne beabsichtigten Bezug auf das untersuchte Phänomen durchgeführt werden und dennoch Konsequenzen für dieses Phänomen besitzen.“ (Strauss/ Corbin 1996: 83)
Für den Umgang mit aus der Arbeit resultierenden Emotionen sind Strategien der Grenzziehung von zentraler Bedeutung (Kap. 4.1). Dabei lassen sich Strategien der Grenzziehung in der Interaktion (Kap. 4.1.1), der Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben (Kap. 4.1.2) sowie der Emotionsbegrenzung durch Delegation (Kap. 4.1.3) unterscheiden. Demgegenüber spielen Strategien der Herstellung von Nähe eine untergeordnete Rolle (Kap. 4.1.4). Neben den Strategien der Grenzziehung ist auch das Sich-Anderen-Mitteilen als Strategie des Umgangs mit Emotionen von hoher Bedeutung (Kap. 4.2). Die auf ein Phänomen gerichteten Strategien unterliegenden bestimmten relevanten strukturellen Vorbedingungen, die zum Beispiel kultureller, biographischer oder geografischer Natur sein können. Diese sogenannten intervenierenden Bedingungen (vgl. Kap. 1.2.2) beeinflussen und begrenzen die Anwendbarkeit von Strategien. So beeinflusst zum Beispiel die gesetzliche Regelung der ärztlichen Schweigepflicht, wem Gynäkolog*innen sich mitteilen können. Die intervenierenden Bedingun-
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gen, die auf die einzelnen Strategien einwirken, werden in den jeweiligen Unterkapiteln miterläutert. In der Auswahl der im Folgenden dargestellten und diskutierten Strategien habe ich mich neben der qualitativen Bedeutung dieser Strategien im empirischen Material daran orientiert, inwieweit sie einen Antwortbeitrag zu der eingangs formulierten Fragestellung liefern und einen relevanten Bezug auf das in Kapitel 3 entfaltete Phänomen aufweisen. Daraus resultierende Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Forschungsschwerpunkten werden anhand ausgewählter Studien am Ende des Kapitels diskutiert.
4.1 STRATEGIEN DER GRENZZIEHUNG UND HERSTELLUNG VON NÄHE In den folgenden Unterkapiteln 4.1.1 bis 4.1.3 werden zunächst verschiedene Strategien der Grenzziehung dargestellt. Ihnen kommt im Umgang mit arbeitsbezogenen Emotionen bei Gynäkolog*innen die umfassendste Bedeutung zu. Unter Grenzziehungen oder Begrenzungen wird im Rahmen dieser Arbeit das aktive Herstellen einer Unterteilung zwischen zwei als unterschiedlich konstruierten Bereichen verstanden. Beispielsweise kann eine solche Trennung zwischen Fall und Patient, den Bereichen Medizin und Emotion, oder auch Arbeit und Leben gezogen werden. Gegenüber den Strategien der Grenzziehung spielen die in Kapitel 4.1.4 dargestellten Strategien der Herstellung von Nähe eine deutlich untergeordnete Rolle. Dabei zeichnet sich die Herstellung von Nähe dadurch aus, dass (temporär oder allgemein) auf eine Trennung zwischen zwei Bereichen verzichtet wird, die zu anderen Zeitpunkten oder von anderen Gynäkolog*innen als getrennte Bereiche konstruiert werden. 4.1.1 Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion Zunächst sollen zwei Grenzziehungsstrategien beschrieben werden, die beide eine Grenze zwischen der medizinischen Fachlichkeit und emotionalen Anteilen im Umgang mit Patientinnen betreffen. Diese Strategien, der ‚Rückzug in die emotionsneutrale Medizin‘ und der ‚Direkt kommunizierte Dissens‘, haben gemeinsam, dass sie von den Gynäkolog*innen direkt in der Interaktion mit Patientinnen angewendet werden. Beide dienen einer Begrenzung von Emotionen, indem fachlich-medizinische Anteile in den Vordergrund gerückt werden.
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Rückzug in die emotionsneutrale Medizin Mit der Strategie des Rückzugs in die emotionsneutrale Medizin werden zwei Aspekte der Begrenzung von Emotionen innerhalb der Ärzt*in-PatientinnenInteraktion beschrieben: Diese Strategie schützt vor einem (subjektiven) Übermaß an eigenen Emotionen sowie den Emotionen Anderer. Zum einen dient die emotionsneutrale Medizin, also die im Studium vermittelte sachlich-rationale, Emotionen ausblendende und auf fachliche Aspekte konzentrierende Haltung (vgl. Kap. 3.1), als ‚Trutzburg‘. Statt eigene persönliche und emotionale Anteile vor sich selbst oder gar in der Interaktion zuzulassen, kann d*er Gynäkolog*e zur handwerklich-medizinischen Arbeit zurückkehren. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Im folgenden Zitat spricht Gynäkologe 5 über Gefühle des Ekels gegenüber unangenehmen, z.B. ungewaschenen Patientinnen: „Also letztlich ist sie ja nicht gekommen, weil sie sich nicht gewaschen hat, sondern weil se also ’ne Krankheit hat. Und meine Aufgabe als Arzt ist es ja jetzt nicht zu beurteilen, dass mir diese, der Fall nicht passt, sondern die Krankheit zu analysieren, rauszukriegen, was se hat. Und welchen Lösungsweg, wo, welche Behandlungsmöglichkeit das gibt.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Hier hilft ihm die im Studium erlernte emotionsneutrale Haltung dabei, „die Krankheit zu analysieren“, den „Fall“ zu betrachten (statt der Patientin) und so von dem unangenehmen Körper zu abstrahieren. Das eigene Gefühl des Ekels kann so, zumindest temporär, ausgeblendet werden. Somit wirkt die emotionsneutrale, rein medizinische Haltung hier wie ein Bollwerk gegen eigene Emotionen. Zum anderen können aber auch die potentiell starken Gefühle der Patientin, welche zum Teil gerade erst durch die medizinische Arbeit hervorgerufen werden (etwa durch den Befund, dass ein Karzinom bösartig sei), auf einer rein medizinischen Ebene thematisiert und bearbeitet werden. Diesen zweiten Aspekt bringt das nachfolgende Zitat anschaulich zur Geltung: „Und, ähm, dass ich dann versuche natürlich auch zu trösten, dass man sagt ‚Gucken Se mal, das ist zwar jetzt nicht schön, weiß Gott nicht, aber: wir haben, was weiß ich, beim Mammakarzinom39 Fünfjahresüberlebensraten von 80 %, und zwar alle Stadien gerechnet, und gucken Se mal, Sie haben ’nen kleinen Befund und wir werden das jetzt in Ordnung bringen (klatschen), werden Sie operieren, und dann gucken wir mal, wie da der nächste Befund ist, ob überhaupt ’ne Nachbehandlung erforderlich ist.‘ Also dass man eher ’n bisschen aufzeigt, wie könnte es denn weitergehen.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
39 Lat. Bezeichnung für einen Tumor in der Brust.
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Das eigentlich emotionale Anliegen, einer Patientin Trost zu spenden, wird hier also auf eine rein medizinische Weise angegangen, indem medizinische Informationen und Informationen zum weiteren Behandlungsablauf vermittelt werden. Der Trost wird, soweit erschließbar, ausschließlich über das Medium Sprache transportiert. Folglich steht bei dieser Strategie die Möglichkeit der Begrenzung emotionaler Aspekte mit Verweis auf die ‚eigentliche‘ Arbeitstätigkeit im Mittelpunkt. Es kann dabei, wie gerade ausgeführt, sowohl um eine Begrenzung eigener als auch der Gefühle Anderer gehen. Dieses Sich-Hinauswagen aus der rein medizinischen Tätigkeit zu einem umfassenderen Interesse an der Patientin, ebenso wie der Rückzug in die emotionsneutrale Medizin als Emotionsbegrenzungsstrategie sollen im Folgenden unter Zuhilfenahme der Darstellung 12 detaillierter erläutert werden. Die linke obere Ecke der Darstellung 12 zeigt die emotionsneutrale Medizin, auf welche die Gynäkolog*innen in ihrem Studium vorbereitet werden. Das heißt, die (medizinischen) Vorlesungsinhalte wurden sachlich vorgetragen, und auch die kurze Thematisierung von psychosomatischen Erkrankungen oder allgemeiner ‚Patient*enpsychologie‘ erfolgte auf eine sachliche, akademische, nüchterne Art (vgl. Kap. 3.1). Verantwortung zu übernehmen heißt im Kontext der emotionsneutralen Medizin, die richtigen medizinischen Schritte zur Gesundung der Patientin zu unternehmen. Dazu gehört für einige Gynäkolog*innen auch, ihren Patientinnen alle medizinisch relevanten Umstände mitzuteilen, die ihnen zum gegebenen Zeitpunkt über deren medizinischen Zustand bekannt sind. Für den Gynäkologen 3 zum Beispiel bedeutet ein solches Handeln, „wahrhaftig“ zu sein und sich authentisch gegenüber seinen Patientinnen zu verhalten. Der emotionsneutralen Medizin steht (in der rechten unteren Ecke der Darstellung 12) der eigene Anspruch an eine ganzheitlichere tägliche Arbeitspraxis gegenüber, die sich mit (antizipierten und/ oder kommunizierten) Ansprüchen der Patientinnen verknüpft. So möchten insbesondere die niedergelassenen Gynäkolog*innen die Patientinnen zum einen umfassender, also zum Beispiel auch als fühlende Menschen, wahrnehmen. Zum anderen möchten sie zum Teil auch eine soziale Verantwortung übernehmen, welche als vergleichbar zu bzw. als Ersatz für die Rolle von Geistlichen in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft angesehen wird. In der gynäkologischen Arbeit bedeutet dies, auch den nicht-medizinischen, lebensweltlichen Problemen und Sorgen der Patientinnen mit offenem Ohr zu begegnen. Tatsächlich erfahren die Gynäkolog*innen in oft langandauernden Ärzt*in-Patientinnen-Beziehungen viele intime und private Details aus dem Leben ihrer Patientinnen, teilweise behandeln sie ganze Familien bzw. die weiblichen Vertreterinnen.
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Darstellung 12: Die Strategie ‚Rückzug in die emotionsneutrale Medizin‘
Emotionsneutrale Medizin (medizinische Verantwortung)
Emotionen sind aber auch potentiell belastend
Emotionen sind wichtig (z.B. soziale Verantwortung)
Die Strategie Rückzug in die emotionsneutrale Medizin gibt den Gynäkolog*innen die Möglichkeit, das Angebot zu machen, sich mehr als nur rein medizinische, körperliche Belange anzuhören (also: sich entlang des unteren Pfeils aus der Trutzburg herauszuwagen). Wenn es ihnen aber (zeitlich oder psychisch) zu viel wird, können sie sich immer auf die Position der emotionsneutralen Medizin zurückziehen (obere Pfeilfolge in Darstellung 12). Damit wird hier erneut der in Kapitel 3.4.2 beschriebene Zusammenhang aufgegriffen, dass Emotionen zwar als für die gynäkologische Arbeit wichtig eingestuft werden, gleichzeitig aber auch für d*en Gynäkolog*en gefährlich werden können. Besonders, wenn die Grenzen der eigenen Empathie(möglichkeit) erreicht sind, ist die Strategie des Rückzugs in die emotionsneutrale Medizin hilfreich, um diese nicht überschreiten zu müssen und somit, dem Erleben der Interviewten nach, negativen gesundheitlichen Konsequenzen wie einem Burnout vorzubeugen. Die Strategie des Rückzugs in die ‚Trutzburg‘ der emotionsneutralen Medizin stellt folglich eine Schutzstrategie vor einem Zuviel an (seitens der Gynäkolog*innen) unerwünschten Emotionen dar. Eingesetzt wird sie entweder auf einer ausschließlich sprachlichen Ebene, wie das folgende Zitat illustriert:
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„ich muss ja dann sagen, "so, jetzt müssen wir aber mal unsere Untersuchung machen, jetzt muss es aber mal vorwärts gehen"“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Der Einsatz dieser Strategie kann aber auch auf der Handlungsebene unterstützt werden, etwa indem ein*e Gynäkolog*in vom Gesprächstisch aufsteht und zum gynäkologischen Untersuchungsstuhl wechselt. Dieses kann, wie z.B. bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen 2 und 3, noch durch die räumliche Struktur der Praxis unterstützt werden, indem der Wechsel vom Gesprächstisch zum Untersuchungsbereich mit einem Zimmerwechsel einhergeht. In der vorliegenden Untersuchung bildet der Umgang mit Emotionen seitens der Gynäkolog*innen den Untersuchungsgegenstand. Dennoch sei erwähnt, dass die Strategie des Rückzugs in die emotionsneutrale Medizin auch von den Patientinnen und anderen Interaktionspartner*innen genutzt werden kann. Gynäkologin 4 beschreibt dies mit Blick auf ihre Versuche, Patientinnen in ihrer Ganzheit in die Untersuchungssituation mit einzubeziehen. Einzelne Patientinnen reagieren darauf mit dem (impliziten oder expliziten) Hinweis, sich auf das Medizinische beschränken zu wollen. Abschließend fällt auf, dass die Strategie des Rückzugs in die emotionsneutrale Medizin wesentlich davon getragen wird, dass d*er Gynäkolog*e in der dyadischen Beziehung Gynäkolog*e-Patientin die mächtigere Position innehat. Es liegt im Wesentlichen bei ih*m, zwischen den beiden Gesprächs- bzw. Handlungslogiken des Eingehens auf Emotionen oder des Rückzugs in die emotionsneutrale Medizin zu wechseln bzw. die Zeitpunkte der Wechsel zu bestimmen. Die machtvollere Position de*r Gynäkolog*in spielt auch in der nächsten Strategie, dem direkt kommunizierten Dissens, eine wichtige Rolle. Direkt kommunizierter Dissens Die zweite Strategie der Emotionsbegrenzung in der Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin ist die Strategie des direkt kommunizierten Dissenses. Diese wird zunächst durch die nachfolgende Zitatstelle illustriert und dann anhand von Darstellung 13 verallgemeinert: „also ich hab’ durchaus mich auch schon von Patienten getrennt. Also wenn mir jemand sehr (3) dumm kommt, […] aber dann sag ich auch durchaus mal, dass mir das dann lieber wäre wenn sie nicht wiederkommt, weil ich das nicht tragen kann, die eine Entscheidung wo ich sage, Sie müssen zur OP, das geht nicht anders, und die lehnen’s dann immer wieder ab. […] aber dann bitte ich die auch einen anderen Arzt aufzusuchen, weil ich da immer, da da hab’ ich dann einfach im Grunde genommen ein besseres Gewissen, als dass
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ich mich da laufend damit belaste, dass ich weiß die kriegt jetzt ihr Karzinom und geht nicht.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Die Gynäkologin erlebt hier die Fortführung der Situation der Meinungsverschiedenheit mit der Patientin als potentiell belastend, was sich an den Formulierungen „weil ich das nicht tragen kann“ und „ein besseres Gewissen, als dass ich mich da laufend damit belaste“ zeigt. Die damit verknüpften Emotionen werden an dieser Stelle nicht genau benannt. Plausibel sind mit Blick auf das Gewissen Gefühle der Schuld oder der nicht einlösbaren Verantwortung (Hülshoff 2001: 193, 197, 210f.). Während das Beispiel negative Emotionen beinhaltet, ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass auch positive Emotionen als potentiell belastend wahrgenommen werden und den Einsatz dieser Strategie auslösen (vgl. zum Fortfolgenden Darstellung 13). Zentral ist, dass Emotionen als potentielle Belastung eingestuft und vermieden werden sollen. Im obigen Beispiel führen die nicht spezifizierten negativen Emotionen dazu, dass Gynäkologin 4 die für sich persönlich als grenzüberschreitend und potentiell emotional belastend wahrgenommene Situation der Patientin gegenüber offen anspricht. Diese direkt angesprochene Meinungs- bzw. Standpunktverschiedenheit kann verschiedene Auslöser haben. Während im obigen Zitat zum Beispiel eine fachliche Grenze der Gynäkologin überschritten wird, finden sich andere Interviewaussagen, bei denen es um das Überschreiten persönlicher Grenzen geht. So nimmt Gynäkologin 4 etwa Patientinnen nicht wieder auf, die sich einmal entschlossen hatten, eine*n andere*n Gynäkolog*en aufzusuchen, weil sie sich persönlich getroffen fühlen würde. Auch (fortdauernd) ungewaschene Patientinnen oder allgemein als anmaßend erlebtes Patientinnenverhalten können als grenzüberschreitend erlebt werden. Insgesamt handelt es sich beim direkt kommunizierten Dissens um eine bewusste, individuelle Regel zum Umgang mit Patientinnen, welche die Gynäkolog*innen einsetzen. Bewusst ist diese Regel insofern, als dass es einen Moment der Entscheidung gab, solche Grenzüberschreitungen direkt anzusprechen. Gynäkologin 2 verweist z.B. explizit darauf, dass sie dieses direkte Ansprechen von Situationen, die sie nicht mittragen will, erst im Berufsleben erlernt hat. Individuell ist diese Regel dahingehend, dass es sich um die einzelne Entscheidung de*s Gynäkolog*en handelt. Es gibt also keine allgemeine organisationale oder professionelle Regel hierfür. Der Einsatz dieser Strategie zielt darauf ab, dass die als potentiell belastend wahrgenommen Emotionen, die mit einem Nicht-Thematisieren des Dissenses einhergingen, vermieden werden (vgl. Darstellung 13, Emotionen nicht aufkommen lassen). Neben den im Eingangszitat angesprochenen nichtspezifizierten negativen Emotionen werden Voreingenommenheit, Betroffenheit,
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Ärger oder Ekel als Emotionen, die vermieden werden sollen, benannt. Desgleichen benannt wird der ebenfalls emotional gefärbte Verlust des Vertrauens in die Patientin. Es wird also deutlich, dass je nach Kontext eine Bandbreite an Gefühlen nicht aufkommen soll. Dabei wird die Strategie des direkt kommunizierten Dissenses in hohem Maße von der machtvolleren Position de*r Gynäkolog*in gegenüber den Patientinnen getragen. Diese ermöglicht es de*m Gynäkolog*en seine machtvollere Position durchzusetzen: entweder zeigt sich die Patientin nach dem Ansprechen der Standpunktverschiedenheit einsichtig und ändert ihr Verhalten (d.h., stimmt beispielsweise der medizinischen Behandlung zu), oder aber d*er Gynäkolog*e bricht die Arzt-Patientin-Beziehung ab. Die einzige (temporäre) Ausnahme von diesem Beziehungsabbruch liegt in der Notfallbehandlung als professioneller Regel: „Also das bedeutet, wenn sie im Notfall kommen würde, müsste, würde ich sie immer behandeln“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Darstellung 13: Die Strategie ‚Direkt kommunizierter Dissens‘
Emotionen als (potentielle) Belastung
Strategie: Direkt kommunizierter Dissens Bei Überschreiten von fachlichen oder persönlichen Grenzen Grenzsetzung als bewusste, individuelle Regel Strategiedurchsetzung
beruht
auf
asymmetrischer
Machtbeziehung
zwischen Gynäkolog*in und Patientin
Ziel: Emotionen nicht aufkommen lassen entweder durch Einsicht der Patientin oder Beziehungsabbruch
Mit Blick auf das Emotionsarbeitskonzept von Hochschild (vgl. Kap. 2.3.1) fallen zwei Aspekte ins Auge. Erstens beschreibt Hochschild, dass die von ihr untersuchten Stewardessen und Rechnungseintreiber Arbeit investieren müssen,
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um einen mimischen und gestischen Ausdruck herzustellen, der nicht der authentische Gefühlsausdruck ist. Demgegenüber führen insbesondere die niedergelassenen Gynäkolog*innen 2 und 3 aus, dass sie die Strategie des direkt kommunizierten Dissenses einsetzen, um ihre eigene Authentizität zu wahren und einen nicht-authentischen Ausdruck zu umgehen. Hierin liegt also ein Unterschied zu Hochschilds Befunden. Zweitens kann der Einsatz dieser Strategie dennoch durchaus mit Emotionsarbeit im Hochschild’schen Sinne verbunden sein. Denn das Ansprechen des Dissenses kann „mit guten Worten“ und „in aller Freundschaft“ erfolgen, aber manchmal muss man „auch mal … böse werden“ (Gynäkologin 4). Zumindest in Letzterem kommt die bewusste Anstrengung zur Herstellung eines „bösen“ Ausdrucks zum Vorschein, was sich mit der von Hochschild betonten Arbeitsleistung an den eigenen Gefühlen und/ oder Gefühlen Anderer deckt. Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion als emotional boundary management? In der jüngeren Emotionsforschung erweist sich in Bezug auf die beiden soeben präsentierten Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion insbesondere das von Hayward und Tuckey (2011) publizierte Konzept des emotional boundary management als relevant. Im Folgenden soll auf die Parallelen und Unterschiede zwischen beiden eingegangen werden. Hayward und Tuckey kommen zu dem Schluss, dass die von ihnen untersuchten Krankenschwestern in ihrem täglichen Umgang mit Patient*innen nicht nur die klassisch in der Psychologie diskutierten, z.B. von Gross (1998: 225f.) zusammengestellten Emotionsregulationsstrategien nutzen, sondern auch die emotionalen Grenzen zwischen sich und den Patient*innen bedarfsgerecht regulieren. Demnach kontrollieren Krankenschwestern den ‚emotional space‘ zwischen sich und den Patient*innen, und je nach kontextualen und individuellen Bedürfnissen ziehen sie ihre emotionalen Grenzen enger oder weiter. Ersteres geschieht, in dem eine emotionale Verbindung gezielt unterbunden wird, während bei weiter gezogenen emotionalen Grenzen eine emotionale Verbindung zu*m Patient*en gezielt aufgebaut wird. Die Autorinnen schreiben: „The manipulation of emotional boundaries encompasses both distancing and connecting mechanisms dependent upon whether nurses are driven to create an emotional space to protect emotional resources, or to invest their emotional selves in the developing relationship.“ (Hayward/ Tuckey 2011: 1518)
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Dabei verstehen Hayward und Tuckey das emotional boundary management als ein Meta-Konzept, da das Hochziehen oder Fallenlassen der emotionalen Grenzen unter Zuhilfenahme verschiedenster ‚klassischer‘ Regulationsstrategien (wie den z.B. bei Gross (1998) beschriebenen) erfolgt. Sie sehen das kompetente Management der emotionalen Grenzen als einen Mechanismus an, der es den Krankenschwestern erlaubt, emotionale Kontrolle in den Interaktionen zu erfahren. Als Teil der professionellen Identität stellt das Management emotionaler Grenzen somit eine Ressource für die Krankenschwestern dar (Hayward/ Tuckey 2011: 1514ff.). Die oben beschriebenen Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion, ‚Rückkehr zum Medizinischen‘ und ‚direkt kommunizierten Dissens‘, erweisen sich hier als anschlussfähig. Sie sind Teilstrategien eines Managements emotionaler Grenzen im Sinne Hayward und Tuckeys, die dazu dienen, die emotionale Distanz zwischen Gynäkolog*in und Patientin zu schaffen. Gleichzeitig enthalten sie auch das Potential, eine Form von emotionaler Nähe zu schaffen: möglicherweise erlaubt erst das Wissen um die ‚Trutzburg‘ der emotionsneutralen Medizin im Hintergrund, sich auf eigene Emotionen und Emotionen Anderer einzulassen. Und auch der direkt kommunizierte Dissens schafft eine emotionale Nähe in dem Sinne, dass er der Patientin direkt oder indirekt Einblick in die Gefühlswelt de*r Gynäkolog*in gewährt. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Strategien zur Emotionsbegrenzung in Abhängigkeit von Emotionen und Verhalten des Interaktionsgegenübers, z.B. der Patientin, beeinflusst werden, steht sowohl bei den hier beschriebenen Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion also auch bei Hayward und Tuckey (2011) die Gefühlslage der Gynäkolog*innen (und nicht jene der Patientinnen) im Zentrum der Regulationsbestrebungen. Doch während sich Hayward und Tuckey (2011) ausschließlich auf die Emotionsregulation in Interaktionen beschränken40, sollen hier auch die in den beiden nächsten Teilkapiteln beschriebenen Strategien der Grenzziehung zwischen Privatleben und Arbeitswelt sowie der Grenzziehung durch Arbeitsteilung zwischen den Gynäkolog*innen als emotionales Grenzziehungsmanagement gelesen werden, um die über die Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin hinausgehende Komplexität des arbeitsbezogenen emotionalen Grenzmanagements vollständiger zu entfalten.
40 Diese Feststellung trifft auf das von ihnen fokussierte Konzept des emotional boundary management zu. Generell umfassen die Emotionsregulationsstrategien, welche sie u.a. in Anlehnung an Gross (1998) kurz kategorisieren (vgl. Hayward/ Tuckey 2011: 1808f.), auch außerhalb der Interaktion gelegene Strategien.
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4.1.2 Strategien der (emotionalen) Trennung von Arbeit und Leben Neben der Emotionsbegrenzung direkt in der Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin, welche im Arbeitskontext stattfindet, kommt auch der Grenzziehung zwischen dem Arbeitsleben (Arbeit) und dem Privatleben (Leben) der Gynäkolog*innen eine hohe Bedeutung zu. Die zwischen Arbeit und Leben gezogene Grenze kann dabei in zwei Richtungen wirken: erstens als Begrenzung des Flusses von arbeitsbezogenen Emotionen in das Private hinein, und zweitens als Begrenzung von aus privaten Erlebnissen resultierenden Emotionen in das Arbeitsleben hinein. So ergeben sich zwei separate Strategien der Grenzziehung: ‚’ne Klappe zumachen‘ und ‚Die eigenen Gefühle aus der Arbeit heraushalten‘. Beide Benennungen entspringen In-Vivo-Kodierungen, also eigenen Formulierungen der Interviewpartner*innen. ’ne Klappe zumachen: Grenze zwischen Arbeit und Leben „’ne Klappe zumachen“, so bezeichnet die niedergelassene Gynäkologin 2 ihre Versuche, in der Arbeitssituation entstehende Emotionen nicht in den Bereich des Privatlebens eindringen zu lassen. Grundsätzlich ist also ein solches Eindringen, in der Literatur auch als Spillover bezeichnet, möglich. Mithilfe der Strategie eine Klappe zumachen soll jedoch das Eindringen von Arbeitsemotionen in den privaten Bereich verhindert werden, damit arbeitsbezogene Ereignisse und Emotionen nicht mit nach Hause genommen und dort bearbeitet werden müssen. Allgemein formuliert handelt es sich folglich um eine Distanzierungsstrategie von den Sorgen und Problemen der Patientinnen, welche bestimmte Emotionen bei den Gynäkolog*innen auslösen. Gynäkologin 2 hebt hervor, dass die Verwendung dieser Strategie keineswegs bedeutet, dass ihr ihre Arbeit nicht wichtig sei – im Gegenteil messen alle Interviewten ihrer Arbeit eine hohe Bedeutung bei. Die Distanzierung von den arbeitsbezogenen Ereignissen und Emotionen geschieht in einem aktiven, mentalen Prozess, der im Laufe des Berufslebens erlernt werden kann bzw. muss. Es scheint regelrecht, als würden belastende Erlebnisse (seien sie berichtet oder selbst erlebt) und die dazugehörigen Gefühle temporär abgespalten. Somit geht es bei dieser Strategie also primär nicht darum, das Erlebte und Gefühlte zu verarbeiten, sondern es beiseite zu schieben. Wenn die Klappe fällt, also die Grenze zwischen Arbeit und Leben gezogen wird, dann geschieht das mit einer unterschiedlichen Durchlässigkeit der Klappe. Der Grad der Durchlässigkeit zwischen den beiden Bereichen Arbeit und Leben lässt sich bipolar von starr/undurchlässig bis durchlässig/flexibel abbilden. Je nach Durch-
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lässigkeit ergeben sich verschiedene Konsequenzen, die ich im Folgenden anhand der beiden Polenden beschreiben werde. Auf der einen Seite gibt es die starre Klappe, die komplett zufällt und sich in dieser Ausprägung z.B. bei der niedergelassenen Gynäkologin 2 findet. Hier ist das Fallenlassen der Klappe beim Nachhause kommen Ausdruck einer Sorge um sich selbst und die eigene Entspannung und Erholung stehen im Vordergrund. Es entsteht der Eindruck, dass dies zur Sicherung der eigenen Identität nötig ist. Mit dem Klappe fallenlassen ist ein totaler Rollenwechsel von der Ärzt*in zur Privatperson verbunden, der sich u.a. im Ortswechsel (Praxis – zu Hause) und dem Wechseln der Kleidung vollzieht. Hier wird die Distanzierung von den Sorgen und Problemen der Patientinnen besonders deutlich, da gleichzeitig auch die Notwendigkeit, Empathie zu begrenzen, thematisiert wird. Die Arbeit steht dabei im Gegensatz zum Bereich des Lebens und der Familie: „aber auch dann zu sagen, ich hab’ mein Leben auch noch, und meine Familie, und jetzt muss es mal gut sein.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Auf der anderen Seite gibt es eine flexiblere Form der Abschirmung nach außen, etwa bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen 1 und 3. Diese betonen ebenfalls die Notwendigkeit der Abgrenzung, allerdings geben sie gleichzeitig an, dass sich eine komplette Abgrenzung der beiden Bereiche Arbeit und Leben nicht realisieren lässt. Sie lassen es zu, einige Patientinnen gedanklich „mit nach Hause [zu, Ergänzung KR] schleppen“ (G1, niedergelassene Gynäkologin) und über diese nachzugrübeln. Auffällig ist, dass hier die Notwendigkeit der Abschirmung und der Erholung weniger mit einer Sorge um sich selbst als mit dem Für-Patientinnen-Da-Sein-Können in Verbindung gebracht wird: „Denn, ne, sagen wir mal so, es sollte am Ende in der täglichen Arbeit daraus natürlich keine Depression am Ende erfolgen [hm]. Weil man ja dann selber nicht mehr äh weiterarbeiten kann eigentlich ne. Und das wäre sicherlich auch nicht günstig, ne, für so’n Beruf. […] aber äh man muss sich schon auch selbst schützen, sag’ ich mal, ne. Dass man nicht zu viel Emotionen dort mit nach Hause mit und nicht mehr zurecht kommt am Ende“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
In diesem, durch das obige Zitat illustrierten, Punkt zeigt sich ein Unterschied zur durch die Gynäkologin 2 repräsentierten Form der starren Grenzziehung. Hier scheint eher der Erhalt der eigenen Arbeitskraft als der Erhalt von außerberuflichen Identitätsanteilen im Fokus zu stehen. Die „Klappe“ fallen zu lassen bedeutet also am Polende der starren Grenzziehung, für Erholung zu sorgen,
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Entspannung zu finden, und einen Rollenwechsel (Ärzt*in-Privatperson) vorzunehmen, während am flexibleren Polende im Fokus steht, für die Patientinnen weiter da sein zu können. Einigkeit herrscht demgegenüber hinsichtlich der Gefahren des Misslingens. Misslingt es dauerhaft, die Klappe zuzumachen, werden also alle eigenen Sorgen und Emotionen sowie jene der Patient*innen mit nach Hause genommen, würde dies zu negativen gesundheitlichen Folgen führen. Die Gynäkolog*innen beschreiben dies als „kräftezehrend“ (G3, niedergelassener Gynäkologe) oder gar zu Burnout oder Depression führend. Diese wahrgenommene Gefahr negativer gesundheitlicher Folgen wirkt quasi als negativer Antrieb zum Umsetzen der Strategie: um z.B. einen Burnout zu vermeiden, muss die Klappe fallen gelassen werden. Darüber hinaus scheinen vor allem Anspannung, Anstrengung oder Stress in der Arbeit Gründe für den Einsatz der Strategie ’ne Klappe fallen lassen zu sein, wenn man z.B. aus dem von Gynäkologin 2 geäußerten Wunsch, Entspannung im Privaten zu finden, den Umkehrschluss zieht. Insgesamt fällt hier auf, dass die erschließbaren Gründe für den Einsatz der Strategie ’ne Klappe fallen lassen im Grunde Negativformulierungen der obigen Konsequenzen sind. Die Konsequenzen Erholung finden, (weiterhin) für Patientinnen da sein sowie Entspannung finden lassen sich reformulieren als Notwendigkeit der Erholung, als Notwendigkeit, für Patientinnen da zu sein und als Notwendigkeit der Entspannung. Hinsichtlich der unterstützenden Strategien, mittels derer Gynäkolog*innen die ‚Klappe fallen lassen‘, finden sich bei verschiedenen Gynäkolog*innen explizite Hinweise. Die Gynäkologin 2 beschreibt dies zum einen als mentalen Prozess, und gibt zum anderen konkrete Rituale des Alltags an. Besonders hebt sie die Bedeutung des täglichen Nach-Hause-Kommens mit kleinen Ritualen wie dem Wechseln der Kleidung hervor. Diejenigen Gynäkolog*innen, welche in eine eigene Familie eingebunden sind und insbesondere auch mit der Kinderbetreuung befasst sind, benennen dies als wichtige Quelle für das Abschalten von der Arbeit. Die familialen Anforderungen wie Spielen und Betreuen der Kinder oder mit ihnen Termine wahrnehmen lenken den Aufmerksamkeitsfokus auf eben diesen Bereich und weg von den emotionalen Erlebnissen des Arbeitstages. Aber auch besondere, nicht zwangsläufig tägliche Ereignisse unterstützen die Trennung von Arbeit und Privatleben. Hierzu gehören ausgeübte Hobbies ebenso wie kleinere und größere Auszeiten. Die Bedeutung von Auszeiten betont hier exemplarisch Gynäkologe 9: „Ein Mittel ist natürlich Urlaub, wo ma einfach dann rausgeht und sagt, jetzt muss es sein, die ander’n Kollegen sind auch noch da. Dort geht wirklich die Klappe auch mal runter
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[hm, hm], ne, das geht. Oder zwischendurch auch solche Dinge, dass man dass ich zu ’nem ähm Rockkonzert oder so was fahre [hm], äh wo ich mich mit relativ lauter äh Musik, ne, was für mich da wichtig ist, also so die Rockszene, ne also bissl härtere Musik damit einfach mal wieder runterhole [hm], ne. Das ist natürlich bloß kurzzeitig, aber das ist manchmal een Mittel, wo ich manchmal durchaus sage, ja, das das brauche ich jetzt einfach mal [hm], ne. Oder auch im Auto mit extrem lauter Musik oder solchen Dingen, äh kann man sich durchaus dort auch mal (2) eben abschalten [hm, hm], ne. Das kommt schon vor.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Auch die Wahl des Wohnortes kann zur Trennung zwischen den Bereichen Arbeit und Leben, sowie den dazugehörigen Emotionen, beitragen: „Also ich möchte nicht in Seh- und auch nicht in Hörweite der Klinik wohnen [hm]. Wenn man ständig Tatütata vorbeifahren hört und mehr oder minder aus’m Wohnzimmer auf die Notfallambulanz gucken kann, das wollte ich nie. Also ich brauch’ schon auch ’ne gewisse Distanz [hm].“ (G8, Assistenzärztin Klinik)
Im Falle der hier zitierten Gynäkologin 8 handelt es sich um eine bewusst getroffene Wohnortentscheidung zur Unterstützung der Distanz zwischen Arbeit und Leben. Doch auch eine zufällige oder unbewusste Wohnortwahl in Distanz zum Arbeitsort kann die gleiche, die Trennung unterstützende Funktion erlangen. Die skizzierten unterstützenden Strategien sind primär auf der individuellen Ebene angesiedelt. Demgegenüber gibt es auch Faktoren (intervenierende Bedingungen), die den (aktiven oder passiven) Einsatz der Strategie ’ne Klappe zumachen begrenzen. Hier sind insbesondere zwei zu nennen: die professionelle Verantwortung und der in der Klinik übliche Hintergrunddienst. Die professionelle Verantwortung entspringt dem medizinischen Anspruch an die Förderung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit der Patient*innen. Es ist die Aufgabe der Professionellen (hier: der Gynäkolog*innen), diese nach bestem Wissen und Möglichkeiten zu fördern. Dieser Anspruch drückt sich in einem Verantwortungsgefühl aus, welches mit dem Ende des Arbeitstages nicht enden muss. Einige Gynäkolog*innen berichten, dass sie über Patientinnen oder deren Krankheitsverläufe auch über die Arbeitszeit hinaus nachdenken, und dieses Nachdenken wird auch von Emotionen begleitet. Dabei kann das Motiv sein, dass man sichergehen möchte, an alle medizinisch notwendigen Handlungsoptionen gedacht zu haben, oder auch, dass laufende Prozesse und deren Entwicklung trotz der eigenen Abwesenheit vom Arbeitsplatz gedanklich weiter mitgedacht werden. Letzteres illustriert das folgende Zitat:
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„Äh ja, emotional, ich mein’ wir operieren viel. Und ähm da möge ja auch alles äh glatt laufen. Das heißt bei größeren Operationen nimmt man das natürlich auch öfters mit nach Hause. Wie wird’s werden, gibt’s irgendwelche Nachkomplikationen? Vieles ist zwar Routine, aber es kann natürlich auch immer mal irgendwas sein. Ne. Und genauso ist es natürlich dann im Bereich Geburtshilfe. Da ist es natürlich so, dass man auch äh auf Arbeit beziehungsweise auch im Dienst viel mit nach Hause nimmt. Weil hier noch viele Dinge geburtshilflich in der Schwebe sind. Und natürlich laufen müssen. Und zu Ende gebracht werden müssen [hm]. Und das natürlich in ’ner äh guten Qualität, für Mutter und Kind. Und da ist man teilweise schon sehr, wenn man Dienst hat, ähm ja nervös, weil irgendwelche ähm Dinge am laufen sind, die nicht optimal laufen. […] Und schon auch immer irgendwie mitdenkt, ne. Das ist sogar manchmal der Fall, wenn man keinen Dienst hat. Weil, es geht immer darum, wer hat am Ende die Frau operiert [hm], oder wer hatte die Hauptverantwortung für die Frau und die lässt ma dann, selbst wenn man keinen Dienst hat, nicht einfach auf den Andern da runterprasseln, sondern selbst da denkt man noch mit und überlegt und macht und äh ja. Dass eben möglichst alles gut geht, ne. Das ist klar. [hm] Oder eben dann am Ende das Beste rauskommt.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Gleichzeitig leitet dieses Zitat auch bereits zur zweiten, die Strategie ’ne Klappe zumachen begrenzenden Bedingung über, und zwar dem Hintergrunddienst. Dieser ist, wie in Kapitel 2.1.3 beschrieben, ein in Kliniken übliches Prinzip der Arbeitsorganisation, bei dem sich leitende Ärzt*innen außerhalb des regulären Arbeitstages zu Hause bereithalten und im Bedarfsfall zur Unterstützung des ersten Dienstes in die Klinik gerufen werden können. Positiv an diesem Organisationsprinzip ist, dass so nur eine*r (oder wenige) Gynäkolog*innen den Abend und die Nacht in der Klinik verbringen müssen und sich bereithalten müssen. Für die (emotionale) Trennung zwischen Arbeit und Leben erweist sich diese Organisationsform gynäkologischer Arbeit jedoch als Nachteil. Denn, wie Gynäkologe 9 dies oben beschreibt: wenn man sich zu Hause bereithält, behält man die noch laufenden Fälle gedanklich und emotional präsent. Einige Gynäkolog*innen beschreiben diese durch den Hintergrunddienst geöffnete Grenze zwischen Arbeit und Leben als nur für die Dienstzeit aufgeweicht, für andere hingegen löst sich die Trennung zwischen beiden Bereichen sowohl räumlich (Klinik – privater Wohnbereich) als auch sinnlich (Arbeit – Privatleben) somit grundsätzlich auf. In der Personengruppe der leitenden Gynäkolog*innen im Krankenhaus treffen beide beschriebenen intervenierenden Bedingungen aufeinander: diese teilen mit allen Gynäkolog*innen das Gefühl der Verantwortung für bestimmte Patient*innen und ihre Krankheitsverläufe, und sind gleichzeitig diejenigen, welche den Hintergrunddienst ausführen.
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Die eigenen Gefühle aus der Arbeit heraushalten Diese Strategie stellt den Gegenpart zu der Strategie ’ne Klappe zumachen dar, denn es handelt sich hier um den Versuch, die eigenen Emotionen aus der Arbeitssituation herauszuhalten. Folglich soll das Übergreifen privater bzw. als nicht der Arbeitssituation angemessen wahrgenommener Gefühle auf den Arbeitsbereich vermieden werden. Damit dies gelingt, müssen sich die Gynäkolog*innen zunächst einmal der Gefühle bewusst sein, die sie nicht in ihre Arbeit bzw. in die Ärzt*in-Patientin-Interaktion einfließen lassen wollen: „das ausschließliche Untersuchen von Frauen mit mit der Nacktheit und Inspektion des Geschlechtsorgans und der Brust und des Abtastens ist natürlich äh ’ne Sache, die man für sich klarstellen muss. Oder der man sich klar sein sollte. […] Dass ich […] mir der Gefühle oder des Umgangs bewusst bin. Bewusst sein ist vielleicht das richtige, richtige Ausdruck. Das heißt also, dass man versucht, zu trennen, die Arbeit von den Gefühlen. Natürlich geht das nicht immer, das ist klar.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Die Gefühle, welche in der Arbeitssituation nicht zum Tragen kommen sollen, reichen dabei von emotional positiv erlebten positiven Gefühlen wie Sympathie oder sexuellem Interesse41 bis zu, dem emotionalen Erleben nach, negativen Emotionen wie Antipathie oder eigener Trauer und umspannen folglich die gesamte Bandbreite an menschlichen Emotionen. Besonders augenfällig sind bei dieser Strategie zwei Aspekte, welche von den Gynäkolog*innen unterschiedlich gehandhabt werden und welche ich im Folgenden diskutieren möchte. Hierbei handelt es sich zum einen um die Striktheit der Trennung beider Bereiche und zum anderen, damit zusammenhängend, um den Umgang bzw. die Wahrnehmung von Grenzen der Trennbarkeit. Beginnen wir mit der Striktheit der Trennung zwischen Privatem und Beruflichem. Auf einer Dimension von hoher, strikter bis niedriger, durchlässiger Trennung lassen sich exemplarisch die Gynäkologinnen 4 und 2 einander gegenüberstellen. Dabei repräsentiert Gynäkologin 4 den Pol der strikt Trennenden, wie das folgende Zitat veranschaulicht: „Also ich lege mit Beginn der Sprechstunde immer die privaten Sachen ab. Meine Familie weiß, die dürfen mich hier nicht anrufen. Es sei denn sie sind gestorben oder so. Also es 41 Auch wenn Sexualität per se ein menschlicher Trieb ist, geht sie mit bestimmten Emotionen wie Freude und Glück einher (Hülshoff 2001: 125). Allerdings stellt die Sexualität hier einen Sonderfall dar, denn in den im Zitat beschriebenen gleichartigen Situationen könnten auch unangenehme Gefühle wie Schuld oder Scham empfunden werden, wenn das sexuelle Interesse als der Situation unangemessen empfunden wird.
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muss was ganz Schlimmes sein. Also es (..) geht nicht. […] Also ich versuch eigentlich die Sachen wirklich im Grunde genommen früh hier in den Schrank zu hängen und dann konzentrier’ ich mich wirklich auf meine Patienten.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Besonders die Formulierung „also es (..) geht nicht“, unterbrochen von einer zweisekündigen Pause, legt hier das Bild eines unüberwindbaren Grabens zwischen Arbeit und Privatleben sowie der zu den jeweiligen Bereichen gehörenden Gefühle nahe, der nicht überwunden werden darf. Möglicherweise benötigt Gynäkologin 4 eine derart strikte Grenze, weil ihre berufliche und ihre private Rolle sehr weit auseinander liegen. Diese Annahme wird gestützt durch die Formulierung „die Sachen […] in den Schrank zu hängen“, was den Wechsel der Rollen wie ein Kleidungsstück (und durch Kleidungstücke) nahe legt. Auch das obige Zitat des Gynäkologen 3 verweist allein durch den technisierten Ausdruck „Inspektion des Geschlechtsorgans“ auf eine fast gekünstelt wirkende Distanz. Sowohl bei dem Gynäkologen 3 als auch bei Gynäkologin 4 erscheint die grundsätzliche (Ab)Spaltung des Eigenen, Privaten vom beruflichen Tun als eine generelle (statt nur in bestimmten Situationen auftauchende) Arbeitsgrundlage. Ganz anders verhält es sich bei Gynäkologin 2, welche sich zunächst explizit als Nicht-Trennende ausweist: „Und zum Beispiel, [mein Elternteil, Ersetzung KR42] ist […] verstorben, […] und ähm, ich hab diesen Leidensweg praktisch [mehrere, Ersetzung KR] Jahre lang jeden Tag begleitet, und äh hatte natürlich da auch mal Hänger drin, wo ich todtraurig war, und warum soll man das nicht auch mal ’nem Patienten sagen? Also, "mir geht es heute schlecht." Oder: "Mir ist es zum Heulen, weil...", oder ähm, das können sie nicht mit jeder machen, das ist klar, weil es stimmt ja nicht immer die Chemie und man hat nicht die Veranlassung, jeder Patientin seine Befindlichkeiten zu teilen, aber ich hab’ durchaus Patienten, die ich langjährig kenne, die das genau wussten.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Bei genauerem Hinsehen findet sich hier jedoch eine Differenzierung zwischen sympathischeren und unsympathischeren Patientinnen („es stimmt ja nicht immer die Chemie“), wobei es primär die sympathischen Patientinnen sind, denen gegenüber eine Trennung zwischen privatem Befinden und beruflichem Auftreten nicht notwendig erscheint. Diese Beobachtung zur Rolle der Sympathie leitet über zum zweiten oben angesprochenen Punkt, den Grenzen der Trennbarkeit. Bereits im am beginn des Abschnitts aufgeführten Zitat verweist Gynäkologe 3 darauf, dass die Trennung zwischen eigenen Gefühlen und Beruflichem nicht 42 Die hier im Interview genannten konkreten Angaben wurden hier zum Zwecke der Anonymisierung durch mich entfremdend ersetzt.
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immer gelingt. Diese Grenzen der Trennbarkeit scheinen allgemein mit Sympathie bzw. Antipathie verbunden zu sein. So ist es bei dem Gynäkologen 3 gerade die Sympathie bzw. die sexuelle Attraktivität der Patientin, die die Trennbarkeit zwischen eigenem Gefühl und Beruflichem notwendig macht, aber auch die Trennung in Frage stellt: „aber ich will sagen, dass ich eigentlich, dass ich eigentlich die also meine Sexualität versuch’ auszublenden so weit das geht. Also nicht dass ich. Es gibt sicherlich äh, Frauen, die einem auch sym-, sympathisch sind, […] die du sicherlich gerne auch privat treffen würdest. Äh, aber das wird mir kurz auch bewusst, und das verdräng’ ich auch nicht, weil’s ja Unsinn ist, aber es ergibt sich ’ne Konsequenz eigentlich daraus nicht.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Gynäkologin 4 berichtet von der Herausforderung, Antipathie nicht zu zeigen: „und welche [Patientinnen, Einfügung KR], die ich so von der Persönlichkeit nu nicht unbedingt so sehr mag. Aber ich gebe mir Mühe es nicht rüberzubringen. Soweit es geht. Also ich würde das nie (...) artikulieren und eigentlich versuche ich auch mit der Körpersprache es möglichst eben nicht rüberzubringen. Ob das immer klappt, das müssen Sie die Anderen fragen. […] Aber, aber ich hoffe es weitestgehend, dass es geht“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Auch hier ist Antipathie der Grund, die tatsächlichen eigenen Gefühle nicht zu zeigen. Dabei fällt ihr die Kontrolle der Sprache offenbar leichter als die Kontrolle der eigenen Körpersprache. Besonders an der zuletzt präsentierten Zitatstelle wird zusätzlich deutlich, dass das Trennen zwischen beiden Bereichen mit Arbeit und Anstrengung verknüpft ist („ich gebe mir Mühe“). Auch der Gynäkologe 3 bringt die aktive Anstrengung, die eigene Sachlichkeit zu wahren, zum Ausdruck. Neben der aufgewendeten Kraft ist, wie bereits eingangs aufgezeigt, auch das Bewusstsein über die zu trennenden Gefühle notwendig. Offen bleibt grundsätzlich, woher die wahrgenommene Notwendigkeit stammt, die beschriebenen Gefühle nicht offenbar werden zu lassen. Es könnte sich sowohl um eine professionelle Regel, aber auch um gesellschaftliche Konventionen, die sich in eigenen Verhaltensmaßregeln (im Sinne von Darstellungsregeln, vgl. Kapitel 2.3.1) widerspiegeln, handeln. Ebenfalls ungeklärt bleibt, was denn geschehen würde, wenn die strikt Trennenden wie Gynäkologe 3 und Gynäkologin 4 auf eine solche Trennung der beiden Bereiche verzichten würden. Vermutet werden kann, dass sie ihr Handeln im weitesten Sinne als unprofessionell einstufen würden.
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Damit sind die Grenzen dieser Strategien bereits indirekt mitformuliert: die eigenen Gefühle aus der Arbeit heraushalten funktioniert dann nicht (mehr gut), wenn entweder Patientinnen besonders sympathisch oder anziehend sind (vgl. Beispiel des sexuellen Interesses), oder aber die im Privatleben erlebten Emotionen derart stark werden, dass sich die Grenze zwischen Privatleben und Beruf, zumindest temporär, nicht mehr aufrechterhalten lässt. Dies ist zum Beispiel bei herausragenden und emotional stark aufgeladenen privaten Ereignissen wie dem Tod einer nahestehenden Person oder massiven familiären Problemen der Fall. Begrenzende intervenierende Bedingungen im Sinne von relevanten strukturellen Vorbedingungen lassen sich folglich für diese Strategie nicht herausarbeiten. Man könnte lediglich, über das empirische Material hinausgehend, die allgemeine kulturell verankerte Trennung der Sphären Arbeit und Leben als eine die beiden Strategien der Grenzziehung zwischen diesen Bereichen ermöglichende Bedingung formulieren. 4.1.3 Emotionsvermeidung durch Delegation Die Emotionsvermeidung durch Delegation ist eine Form der Grenzziehungsstrategie, welche sich von den bisher diskutierten Grenzziehungsstrategien deutlich unterscheidet. Denn hierbei geht es um die Delegation von Emotionen hervorrufenden Interaktionen mit Patientinnen in dem Sinne, dass bestimmte Situationen von vornherein vermieden und anderen übertragen werden. Dies geschieht mit dem Ziel, die mit diesen Situationen verbundenen Emotionen zu vermeiden. Hier wird also eine Grenze gezogen zwischen Arbeitsaufgaben bzw. Interaktionen mit Patientinnen, die d*er Gynäkolog*e bereit ist zu übernehmen, und solchen, die er aufgrund der damit einhergehenden Gefühle ablehnt. Folglich handelt es sich nicht lediglich um eine weitere Strategie der Emotionsbegrenzung in der Interaktion, denn die Emotionsvermeidungsstrategie ist der eigentlichen Interaktion mit der Patientin vorgelagert. Eine emotional unerwünschte Interaktion findet gar nicht erst statt, oder aber sie findet in einer Form statt, die die Emotionen, welche vermieden werden sollen, ausschließt. Das empirische Material bietet hierfür zwei Beispiele, über die aber jeweils aus zweiter Hand, also vom Interviewpartner über andere Gynäkolog*innen, berichtet wird. Im ersten Fall werden emotionsbeladene Gespräche vermieden: „es gibt auch Praxen, öh, wo dann oder, oder Kliniken die Frauen oder die Patienten mit Befunden entlassen, die äh, schlecht sind, weil einfach der Überbringer sich nicht die Arbeit machen wollte, dieses Gespräch nun zu führen. "Das sagt Ihnen Ihr Arzt dann". "Das sagt Ihnen Ihr Arzt dann", also ja, so. Das heißt, dass das einfach delegiert wird, oder dass
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gesagt wird, ich weiß gar nicht was, gehen se zur Mammografie, die werden dann schon sagen, was es ist. [hm, hm] Also dass das völlig umgehe, ja das ist natürlich dann, das finde ich nicht gut.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Im zweiten Fall wird das mit einer Fruchtwasserpunktion verbundene Risiko einer juristischen Klage durch die Patientin bei Misslingen der Untersuchung (dies bedeutet in der Regel eine Fehlgeburt) und die damit verbundenen Gefühle vermieden, in dem der gesamte Arbeitsprozess ‚Fruchtwasserpunktion‘ abgegeben wird: „Und weil se ansprachen vorhin, niedergelassene Kollegen, die haben früher zum Teil auch diese Fruchtwasserpunktionen gemacht. Dann ist mal schiefgegangen, gleiches Theater. Die machen’s einfach nicht mehr [ah, okay]. Ne. Sagen dann, gut, hat sich für mich erledigt, schick’ ich jetzt da hoch43. So, ne. Bloß wir können nicht auch sagen, wir machen’s nicht mehr. Irgendeiner muss, ne. Aber das ist so ’ne, ’n entscheidendes Erlebnis im Leben [wenn der Fruchtwasserpunktion eine Fehlgeburt und dieser eine Klage folgt, Ergänzung KR], ne.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Auffallend ist, dass beide Szenen eine innerprofessionelle Emotionsvermeidung durch Delegation, also zwischen Gynäkolog*innen, beschreiben. Dies weist darauf hin, dass beide beschriebenen Aufgaben in der Wahrnehmung der Gynäkolog*innen unbestreitbar zu den Arbeitsaufgaben eine*s Gynäkolog*en gehören – und folglich auch der Umgang mit den dazugehörigen Gefühlen. Gleichzeitig fällt auf, dass über eine (emotionale) Arbeitsteilung zwischen Gynäkolog*innen und anderen beteiligten Berufsgruppen wie dem Pflegepersonal im Krankenhaus nicht gesprochen wird und somit hier auch über Formen und Ausmaß der Delegation von Aufgaben mit dem Ziel der Emotionsvermeidung zwischen Berufsgruppen keine Aussage getroffen werden kann. Dass die beiden obigen Begebenheiten aus zweiter Hand geschildert werden, weist darauf hin, dass diese Form der Emotionsvermeidung durch Delegation wenig innerprofessionelle Anerkennung erfährt. Dies könnte auf eine den Einsatz dieser Strategie erschwerende intervenierende Bedingung hindeuten, wenn man davon ausgeht, dass Gynäkolog*innen grundsätzlich an einem guten Ruf innerhalb der Gynäkolog*innenschaft interessiert sind. Darüber hinaus lässt sich aufgrund der Schilderungen aus zweiter Hand wenig über die individuellen und strukturellen Ursachen und Beweggründe der delegierenden Gynäkolog*innen sagen. Dafür findet sich hier ein deutlicher Hinweis auf eine innerprofessionelle Arbeitsteilung, die 43 „Da hoch“ bezieht sich wahrscheinlich auf die räumlich erhöhte Lage der Klinik in dem Ort.
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wie hier allerdings durchaus auch unfreiwillig geschehen kann. Und gleichzeitig wird deutlich, dass die Vermeidung von mit bestimmten Handlungen verbundenen negativen Emotionen einzelner Ärzt*e sich zu Lasten derjenigen niederschlägt, die diese Arbeit dann übernehmen (müssen). Allerdings ist durch den indirekten Bericht ebenfalls nicht erschließbar, ob es den delegierenden Gynäkolog*innen primär um eine Emotionsvermeidung geht, oder ob andere Erwägungen (z.B. im ersten Fall das vertrautere Verhältnis zwischen primär behandelnde*m Gynäkolog*en und der Patientin oder im zweiten Fall ökonomische Erwägungen) im Vordergrund stehen. Im letzteren Fall wäre die Vermeidung der negativen Emotionen sozusagen nur ein Nebenprodukt. Unabhängig davon steht die vermutete Vermeidung von negativen Emotionen in der Wahrnehmung der zitierten Gynäkologen im Vordergrund. 4.1.4 Strategien der Herstellung von Nähe Für die Gynäkolog*innen stehen, wie in den vorhergehenden Kapiteln aufgezeigt, Strategien der Grenzziehung zwischen verschiedenen Bereichen im Vordergrund, um sich den Umgang mit Emotionen zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Dennoch finden sich auch einzelne Hinweise auf Strategien, mit denen Nähe hergestellt werden soll in dem Sinne, dass durch den Einsatz jener Strategien die im Vorhergehenden aufgezeigten Grenzen überbrückt werden sollen. Folglich zeichnet sich die Herstellung von Nähe dadurch aus, dass (temporär oder allgemein) auf eine Grenzziehung zwischen zwei Bereichen verzichtet wird, die zu anderen Zeitpunkten oder von anderen Gynäkolog*innen als getrennte Bereiche konstruiert werden. Insgesamt spielen diese Strategien der Herstellung von Nähe jedoch eine deutlich untergeordnete Rolle und werden folglich auch kürzer behandelt. Herstellung von Nähe in der Interaktion Die Strategien der Herstellung von Nähe in der Interaktion bilden den analytischen Gegenpart zu den in Kapitel 4.1.1 dargestellten Strategien der Emotionsbegrenzung in der Interaktion. Dort lag mittels der Strategie Rückzug in die emotionsneutrale Medizin der Fokus darauf, wie Gynäkolog*innen zum einen Angebote machen können, z.B. in der Interaktion zwischen Ärzt*in und Patientin auch emotionale Inhalte zuzulassen, sich dann aber im Bedarfsfall wieder in die emotionsneutrale ‚Trutzburg‘ der Medizin zurückziehen zu können. Dabei können diese Angebote, die der Herstellung von (emotionaler) Nähe dienen, eine interaktionale Form oder eine sich individuell emotional annähernde Form annehmen. Mit einer interaktionalen Form der Herstellung von Nähe meine ich, dass
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Gynäkolog*innen ihrem Gegenüber ein (explizites oder implizites) Angebot machen, sich über ihr emotionales Befinden zu äußern und dieses in die Ärzt*inPatientinnen-Interaktion einfließen zu lassen. Ein Beispiel für ein solches explizites, interaktionales Angebot findet sich bei Gynäkologin 4: „bei vielen sieht man das, ob die Sorgen haben oder nicht. Sind die immer Baff, wenn ich sage, „was issn heute, Sie sehen doch irgendwie“(..) (tief Luft holen) „Woher wissen Sie denn das?“ Na, wenn das ist wenn man die lange genug kennt, sieht man das, wie die ’n Gang dann entlang gelaufen kommen, hm. […] Ich würde niemanden drängen, wenn jemand sagt ich will nicht drüber sprechen, ist das für mich auch erledigt, aber anbieten zumindest, das schon.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Im obigen Beispiel gibt Gynäkologin 4 an, dass sie das Angebot zum Ansprechen von allgemeinen, auch emotionalen Belangen macht, damit die Patientinnen sich „besser angenommen“ fühlen. Es geht ihr also darum, das ÄrztinPatientin-Verhältnis weiter auszugestalten. Gleichzeitig dient dieses interaktionale Angebot auch dazu, psychosomatische Ursachen für Beschwerden auszuschließen bzw. in die Diagnosestellung mit einzukalkulieren. Hier mischt sich also ein Herauswagen aus der emotionsneutralen Medizin zum Zweck der Herstellung von Nähe mit einem medizinisch-diagnostischen Anliegen. Im Unterschied zu der interaktionalen Form der Herstellung von Nähe steht bei der sich individuell annähernden Form ein innerer Prozess de*r Gynäkolog*in im Vordergrund. Dieser innere Prozess wird u.a. durch den Wunsch nach Verständnis für das Handeln zum Beispiel von Patientinnen motiviert und entspricht der bereits in Kapitel 2.2.2 beschriebenen Empathie. Es geht darum, sich in Personen, wie eine Patientin, hineinzuversetzen und sich in ihre Situation einzufühlen. Dabei werden die antizipierten Gefühle zwar nachvollzogen und erlebt, aber in dem Bewusstsein, dass es sich um eine Reaktion auf die Gefühle anderer handelt (Hoffman 2010: 440). Grundsätzlich kann man zwischen aktiven und passiven Versuchen des Einfühlens unterscheiden. Zwei Beispiele sollen diese Unterscheidung erläutern. „also ich hatte jetzt im letzten Dienst mal so ’nen Spätabort, oder induzierte medizinische Abruptio eigentlich, ähm, wo ’ne Frau abgetrieben hat, und man sich schon vorstellt, was wäre wenn ich in der Situation gewesen wäre. Die hatte halt ’nen Grund, ’ne medizinische Indikation [hm], und man versucht sich schon da so’n bisschen reinzuversetzen […] Aber so für den Moment, als ich das Kind dann weggetragen hab’, war schon so’n Stück weit, dass ich dachte ‚Hmm, irgendwo ist es‘, also es war schon irgendwie ’ne traurige Situation.“ (G6, Assistenzärztin Klinik)
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Im obigen Zitat schildert Gynäkologin 6, dass sie „versucht sich schon da so’n bisschen reinzuversetzen“. Durch das Verb „versuchen“ lässt sich dies als aktiver Versuch des Einfühlens einordnen. Passives Einfühlen bzw. passive Empathie entsteht hingegen ohne bewusste eigene Anstrengungen. Auch für diese Form findet sich bei Gynäkologin 6 ein Beispiel, wenn sie an anderer Stelle über die mit einer Abtreibung verbundenen Gefühle berichtet. Sie schildert zunächst negative Gefühle, wenn es für sie so aussieht, als ob es einer Patientin leicht falle, eine Schwangerschaft durch Abtreibung zu beenden. Im Laufe der Interaktion mit der Patientin können sich diese negativen Gefühle durch das Verhalten der Patientin in empathische wandeln: „Manchmal löst sich das auf in, hatte ich jetzt ein-, zweimal, dass ich dann doch mich ’n Stück weit reinversetzen kann. Es vielleicht nicht genau so machen würde, aber zumindest irgendwo nachempfinden kann [hm]. Wenn die Frauen sich dann doch öffnen und begründen und erzählen, ähm.“ (G6, Assistenzärztin Klinik)
Hier findet sich kein aktiver Versuch zur Empathie seitens der Gynäkologin, durch das Verhalten der Patientin (die ggf. nachvollziehbare Begründungen liefert) entwickelt sich aber dennoch ohne eigenes Zutun im Sinne eigener emotionaler Anstrengungen der Gynäkologin die Möglichkeit, sich in die Patientin einzufühlen („nachempfinden“). Herstellung von (emotionaler) Nähe zwischen Arbeit und (Privat)Leben Die Strategien der Herstellung einer emotionalen Nähe zwischen Arbeits- und Privatleben bilden das Gegenstück zu den in Kapitel 4.1.2 dargestellten Formen der Grenzziehung zwischen Beidem. Dort wurde mit ’ne Klappe zumachen zunächst die Grenze zwischen dem Arbeitsleben und dem Privatleben erläutert, bei der keine oder kaum Emotionen von ersterem in letzteres vordringen können. Im Unterschied zu dieser verbreiteten Grenzziehungsstrategie gibt es aber auch vereinzelt Personen oder Situationen, bei denen oder in denen eine Grenzziehung zwischen Arbeit und Privatem, sowohl auf der fachlichen als auch auf der emotionalen Ebene, nicht notwendig erscheint. Das folgende Zitat illustriert dies: „Ich empfind’ es eher, ja, als angenehm, wenn ich für mich dann auch sagen kann, ob, das war in Ordnung so, wie wir’s jetzt gemacht haben, und, ähm, das Leid der Patientin, das gerät dann schon zu Haus’ auch in den Hintergrund, das stimmt. Aber, der die Problematik an sich, die erlebe ich dann zu Hause schon noch mal, hm [hm hm]. Aber ich kann natürlich jetzt nicht jedes Leid jeder Patientin mit nach Hause nehmen. […] Aber ähm einfach
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noch mal über die Situation nachdenken (2) Haben wir jetzt alles gemacht, was notwendig war [hm] oder nicht, sollten wir lieber noch was anderes machen oder nicht. Und wenn ich dann sagen kann, ‚nee, das ist schon so okay‘. Oder vielleicht manchmal auch noch, noch mal ’n Buch zur Hand nehmen und noch mal lesen, wie ist es da empfohlen, haben wir das so gemacht oder nicht. Das empfinde ich eher als erleichternd dann eigentlich sogar [hm].“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
Hier ist es nicht nur so, dass eine Grenzziehung nicht notwendig zu sein scheint, sondern die Gynäkologin empfindet die Nicht-Trennung als angenehm und unproblematisch. Dies kann damit zusammenhängen, dass sie am Abend, außerhalb der Arbeitssituation, die Zeit findet, einzelne Fälle Revue passieren zu lassen und sich selbst des richtigen Handelns zu versichern. Diese Zeit fehlt aufgrund der engen zeitlichen Taktung der Sprechstunde in der Niederlassung während des Arbeitstages. Und auch die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit, oben beschrieben als die eigenen Gefühle aus der Arbeit heraushalten, wird mitunter situativ und bewusst außer Kraft gesetzt. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Gynäkolog*innen Patientinnen, die ihnen sympathisch sind, einen Einblick in emotional bedeutsame Erlebnisse aus ihrem Privatleben gewähren. Mit Bezug auf den Tod eines Elternteils veranschaulicht Gynäkologin 2 dies so: „und äh hatte natürlich da auch mal Hänger drin, wo ich todtraurig war, und warum soll man das nicht auch mal ’nem Patienten sagen? Also, "mir geht es heute schlecht." Oder: "Mir ist es zum Heulen, weil...", oder ähm, das können sie nicht mit jeder machen, das ist klar, weil es stimmt ja nicht immer die Chemie und man hat nicht die Veranlassung, jeder Patientin seine Befindlichkeiten zu teilen, aber ich hab’ durchaus Patienten, die ich langjährig kenne, die das genau wussten.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
In dieser Situation wird die Grenzziehung aus zweierlei Gründen aufgelöst: erstens handelt es sich um eine mit starken Emotionen („todtraurig“) einhergehende private Situation, und zweitens wird sie nur gegenüber ausgewählten Patientinnen überwunden. Dies verweist exemplarisch auf die allgemeine Besonderheit im Sinne einer seltenen Herausgehobenheit des Verzichts auf die Grenzziehung zwischen Privat- und Arbeitsleben. Abschließend muss noch ergänzt werden, dass es durchaus einen Bereich der im Privatleben stattfindenden Ereignisse gibt, der nicht als zu privat eingestuft wird und somit unproblematisch im Rahmen von ‚Small Talk‘ mit Patientinnen geteilt werden kann, wie zum Beispiel allgemeine Gespräche über Urlaubsreisen.
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Hier besteht weder ein besonderer Bedarf der Grenzziehung, noch ist folglich die (temporäre) Aufhebung dieser Grenze für die Gynäkolog*innen von Relevanz. Emotionsabnahme durch Übernahme von Arbeitsaufgaben Das Gegenstück zur oben erläuterten Strategie Emotionsvermeidung durch Delegation (Kap. 4.1.3), bei der es im Kern darum geht, bestimmte Arbeitsaufgaben und die damit verbundenen Emotionen zu vermeiden, ist eine vermehrte Übernahme bestimmter emotionsauslösender Arbeitsaufgaben. Während also die delegierenden Gynäkolog*innen eine Grenze ziehen, indem sie einzelne emotionsauslösende Arbeitsaufgaben nicht übernehmen und an andere verweisen, ziehen die übernehmenden Gynäkolog*innen gerade bestimmte emotionsauslösende Arbeitsaufgaben vermehrt an sich heran. So erzeugen sie für sich eine größere Nähe zu jenen Aufgaben, halten sie aber von anderen fern(er). Die Arbeitsaufgaben, welche delegiert bzw. übernommen werden, unterscheiden sich allerdings. Während oben als delegierte Aufgaben die Fruchtwasserpunktion und die Überbringung schlechter Nachrichten diskutiert wurden, findet sich die Übernahme von bestimmten Arbeitsaufgaben bei Schwangerschaftsabbrüchen. Diese Strategie wird von männlichen, in der Klinik tätigen Gynäkologen angewandt. Diese argumentieren, dass es für ihre Kolleginnen aufgrund ihres Geschlechts emotional belastender sei, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Um ihnen diese als belastend antizipierten Emotionen abzunehmen oder zu ersparen, übernehmen sie vermehrt die Arbeitsaufgabe ‚Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs‘. Gynäkologe 5 bezeichnet Schwangerschaftsabbrüche als grundlegenden Widerspruch im gynäkologischen Beruf (zu dem Ziel, Kinder auf die Welt zu bringen) und setzt diesen Widerspruch so zur Emotionsübernahme in Bezug: „Und nichtsdestotrotz bleibt es [der Schwangerschaftsabbruch, Ergänzung KR] ein schwieriges Problem. Weil wir dies’ Kind im Ultraschall sehen und eben schon sagen können, da sind schon die Augen angelegt und das sind Händchen, [ja] und das soll also in 10 Minuten weg sein, ne [hmm]. Und, obwohl es eben theoretisch gesund ist, ja. […] Aber nichtsdestotrotz ist das, ist das ’n Problem, ja. Was ’ne Rolle spielt. Und da meine ich eben, bei uns Männern unter Umständen etwas weniger als das bei ’ner Kollegin der Fall ist, die selbst Kinder hat [ja]. Die das also noch mal aus ’nem anderen Blickwinkel sieht. Die selbst mal vor der Situation vielleicht gestanden hat, was mach’ ich denn nun [hmm]. Ne. Das, das betrifft uns Männern ja sag’ ich mal etwas weniger, so dass es durchaus eben so ist, dass der, der männliche Teil das auch sagen wir wahrscheinlich zahlenmäßig häufiger macht. [hmm] Um die Kolleginnen zu entlasten.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
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Interessant ist, dass dies nicht nur die einzige Aufgabe ist, die gezielt übernommen wird um Emotionen bei anderen zu vermeiden, sondern gleichzeitig auch der einzige Bereich, in dem sich so etwas wie eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern herausarbeiten lässt. Abschließend möchte ich hervorheben, dass bis auf eine Ausnahme alle Strategien der Herstellung von Nähe bzw. des Aufhebens der gezogenen Grenzen zwischen Bereichen bewusst stattfinden. Eine Ausnahme stellt das passive Einfühlen in Patientinnen dar, welches als Teil des Herstellens von Nähe in der Ärzt*inPatientinnen-Interaktion beschrieben wurde. Diese Strategien müssen also, ebenso wie die Grenzziehungsstrategien, immer wieder eingesetzt werden, um mit den aus der Arbeit resultierenden emotionalen Herausforderungen umgehen zu können.
4.2 SICH ANDEREN MITTEILEN ALS STRATEGIE Im täglichen Balanceakt zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen spielt für die Gynäkolog*innen neben den oben beschriebenen Grenzziehungsstrategien weiterhin die Möglichkeit, sich anderen mitzuteilen, eine wichtige Rolle. Sie sprechen mit anderen über emotional Berührendes, um damit umzugehen. Die in Kapitel 2.2.2 aufgezeigte emotionale Bandbreite der gynäkologischen Arbeit, die durch Erlebnisse im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen ausgelöst wird, umfasst u.a. Ärger, Angst oder Freude. Diese Gefühle sind häufig mit den Patientinnen verbunden, können sich aber ebenso auf Kolleg*innen oder andere Mitarbeiter*innen beziehen. Spezifisch für den Beruf de*s Gynäkolog*en als einem helfenden Beruf sind die empathischen Gefühle gegenüber den Patientinnen, zum Beispiel Mit-Freude oder Mit-Leid. Aus solchen Erlebnissen, die eigene Gefühle in den Gynäkolog*innen auslösen oder ein Nachdenken über die emotionale Situation der Patientin („Was bedeutet dieser Befund für Frau X?“) führen zu einem Bedürfnis, mit anderen darüber zu sprechen oder sich auszutauschen. Diese ‚Anderen‘ sind in der Regel Menschen, die ebenfalls über einen medizinischen Hintergrund verfügen. An erster Stelle stehen hier andere Ärzt*e. „Ähm, ansonsten ist das eh günstiger, mit Kollegen zu besprechen. Weil die die Situation verstehen [hmm]. Also das ist im, im privaten Bereich weniger sinnvoll, ne. Das sind einfach andere Probleme, die der andere Beruf mit sich bringt als diese. [ja]. Das ist schon äh, das Problem, was se sicherlich auch ansprechen wollen, ist ja dass man sich was von der
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Seele spricht und einfach mal Verständnis auch hat, dass mal jemand sagt, Menschenskind, du bist ’n armer Kerl und scheiße, was passiert ist und, ja, so. D-das ist im Kollegenkreis möglich, ja.“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Allerdings kommt nicht jede*r Arzt dafür in Frage, sich über emotional Berührendes mitzuteilen. Wichtig ist, dass es eine gewisse Vertrautheit zwischen den Gesprächspartnern gibt. Ärztliche Gesprächspartner*innen sind somit auch gleichzeitig eine Art Freund*in oder es mindestens wert, dass man derart vertrauliche Informationen wie die eigene emotionale Berührtheit mit ihnen teilt. Wer genau hier ausgewählt wird, hängt mit dem Organisationskontext als beschränkender Einflussgröße zusammen und wird weiter unten ausgeführt. Wenn die Ehe- oder Lebenspartner*innen ebenfalls Ärzt*innen sind, teilen die Gynäkolog*innen sich ihnen auch durchaus zu Hause mit und suchen um Rat. Neben den Rollen de*s Freund*es oder Lebenspartner*s werden andere Ärzt*innen auch im Rahmen von Fortbildungen, zum Beispiel psychoonkologischer Art oder bei Balintgruppen als Mitteilungspartner*innen genutzt. Dafür muss die Fortbildung allerdings auch so gestaltet sein, dass sie ein Setting bietet, welches den vertrauensvollen Austausch über emotional Berührendes ermöglicht. Neben den anderen Gynäkolog*innen, oder allgemeiner Ärzt*innen, spielt auch nicht-ärztliches Personal am Arbeitsplatz zumindest bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen eine Rolle um sich mitzuteilen. Der Vorteil liegt hier darin, dass das Personal der Niederlassung (also die Arzthelfer*innen) die Patientinnen, um welche sich die Emotionen drehen, ebenfalls kennt. Demzufolge ist es naheliegend, dass der Schwerpunkt in den Gesprächen unterschiedlich ist: während die niedergelassenen Gynäkolog*innen sich mit ihrem Personal wahrscheinlich vor allem über die menschlichen Aspekte von emotional berührenden Geschehnissen mitteilen oder austauschen können, lässt sich im Gespräch mit anderen Ärzt*innen, insbesondere mit anderen Gynäkolog*innen, die fachlichmedizinische Seite einer berührenden Episode (z.B.: Angst oder Sorge: „Habe ich hier richtig gehandelt?“) erörtern. Das Ziel, welches die Gynäkolog*innen verfolgen, wenn sie sich anderen mitteilen, liegt darin die emotional berührende Begebenheit zu thematisieren, um diese und die damit verbundenen Gefühle dann beiseite legen zu können. Im Gespräch mit der Vertrauensperson werden die Erlebnisse und Gefühle mitgeteilt und reflektiert. Es geht darum, über die eigene Position oder das eigene Fühlen und Handeln zu sprechen, um es gegen die Meinung der Gesprächspartner*innen zu spiegeln. Hierin zeigt sich auch der Unterschied zu den in Kapitel 4.1 beschriebenen Grenzziehungsstrategien. Wenn man so will, ist das „Sich mitteilen“ eine Strategie der Positionierung. Im Gespräch, gerade wenn es mit anderen
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Ärzt*innen erfolgt, kann man reflektieren, inwieweit man sich innerhalb der Gruppe der Ärzt*innen ‚richtig‘ positioniert, oder inwiefern das eigene Handeln und Fühlen abweicht. Zum Teil wird so auch erst der Umgang mit emotional berührenden Gelegenheiten erlernt. Solche Lerngelegenheiten sind grundsätzlich in jedem Austausch angelegt, finden sich empirisch aber explizit zum Beispiel in einer Balintgruppe oder im Gespräch mit eine*m als Vorbild fungierenden Arzt. Im Rahmen dieser Lerngelegenheiten erfüllt das Sich-Mitteilen eine doppelte Funktion: zum einen wirkt es selbst als Strategie, mit emotional Berührendem umzugehen, zum anderen werden im Austausch mit Anderen Strategien erlernt, die das Sich-Mitteilen ergänzen bzw. ähnliche Effekte erzielen können. Das Gespräch mit eine*r anderen Ärzt*in bzw. eine*m anderen Gynäkolog*en kann auch von der Emotionen thematisierenden Ebene zurück auf eine medizinische Ebene wechseln („Diese arme Frau… was kann ich (im Sinne von Behandlung) noch für sie tun?“). Solche Überlegungen können hilfreich sein, um mit einer berührenden Situation abzuschließen, da sie von einer eher passiven Mit-Fühl-Ebene zurück auf eine aktive, handlungsorientierte Ebene führen – die der Medizin, für die die Gynäkolog*innen als Helfende ausgebildet sind (vgl. Kapitel 3). In jedem Fall ist das Ziel des Sich-Mitteilens, die Beschäftigung mit einer berührenden Situation gedanklich und emotional (zumindest für den Moment) abschließen zu können. Um diesen als positiv wahrgenommen Aspekt des Damit-Abschließens, indem man sich anderen mitteilt, genießen zu können, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein. Man kann erstens seine Gefühle nur mitteilen, wenn einem bewusst ist, dass es einen Mitteilungsbedarf gibt. Zweitens ist es die Aufgabe jede*s einzelnen Gynäkolog*en, für sich selbst die angemessenen Gesprächspartner*innen zu finden. Drittens soll die Möglichkeit, sich mitzuteilen, zeitnah bestehen. Dies wird von mehreren Interviewpartner*innen als wichtig hervorgehoben. Dementsprechend muss im Einklang mit dem zweiten Punkt Zeit und Raum für Mitteilungsmöglichkeiten gefunden werden. Der letzte Punkt leitet über zu zwei Barrieren (intervenierenden Bedingungen), die den Austausch oder das Sprechen mit Anderen erschweren können bzw. bei der Auswahl geeigneter Vertrauenspersonen eine Rolle spielen. Dies sind zum einen die Schweigepflicht und zum anderen der Organisationskontext. Bei der Schweigepflicht handelt es sich um eine gesetzliche Regelung, welche sich in §203 des Strafgesetzbuches findet. Sie verpflichtet Ärzt*e zur Wahrung von persönlichen und geschäftlichen Geheimnissen, über die sie im Rahmen ihrer Berufsausübung Kenntnis erhalten. Zusätzlich wird dieser Paragraph durch die jeweilige bundesländische Berufsordnung für Ärzt*e ergänzt. Die Sächsische Berufsordnung enthält folgenden Paragraph:
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„§9 Schweigepflicht (1) Der Arzt hat über das, was ihm in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist - auch über den Tod des Patienten hinaus - zu schweigen. Dazu gehören auch schriftliche Mitteilungen des Patienten, Aufzeichnungen über Patienten, Röntgenaufnahmen und sonstige Untersuchungsbefunde. (…) (3) Der Arzt hat seine Mitarbeiter und die Personen, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der ärztlichen Tätigkeit teilnehmen, über die gesetzliche Pflicht zur Verschwiegenheit zu belehren und dies schriftlich festzuhalten. (4) Wenn mehrere Ärzte gleichzeitig oder nacheinander denselben Patienten untersuchen oder behandeln, so sind sie untereinander von der Schweigepflicht insoweit befreit, als das Einverständnis des Patienten vorliegt oder anzunehmen ist.“ (Sächsische Landesärztekammer 2011)
Die gesetzlichen bzw. berufsständischen Regelungen begrenzen die Möglichkeiten, sich über emotional berührende Ereignisse auszutauschen, die im Zusammenhang mit Patientinnen stehen, deutlich. Eine Befreiung von der Schweigepflicht gegenüber Kolleg*innen ergibt sich nur in den in §9, Absatz 4 beschriebenen Fällen. Um sich dennoch über emotional berührende Ereignisse mitteilen zu können, einigen die Gynäkolog*innen sich mit sich selbst auf verschiedene Dehnungen der Schweigepflicht. Beispielsweise sprechen sie zu Hause allgemein über Fälle, die sie berühren, ohne personenbezogene Einzelheiten zu benennen. Oder sie tauschen sich mit anderen medizinisch Geschulten aus, die potentiell auch Zugang zu den gleichen Informationen haben. Dies trifft zum Beispiel auf Arzthelfer*innen oder Klinikkolleg*innen zu, die die Patientinnenakten ebenfalls lesen könn(t)en. Im Zusammenspiel zwischen Schweigepflicht und dem Kriterium der Vertrautheit de*r Gesprächspartner*in erfährt die Auswahl, selbst bei gedehnter Schweigepflicht, eine beträchtliche Eingrenzung. Der Wunsch, dass d*er Gesprächspartner die geschilderte Situation verstehen soll, grenzt den Auswahlkreis weiter ein und beschränkt ihn in den meisten Fällen auf als vertrauensvoll-freundschaftlich wahrgenommene, medizinisch geschulte Personen. Der Organisationskontext, in dem d*ie Gynäkolog*in tätig ist, stellt die zweite Barriere dar, wenn er oder sie sich anderen mitteilen möchte. Ich werde diesen Aspekt anhand der drei in Kapitel 2.1.3 vorgestellten Organisationsformen (Einzelpraxis, Gemeinschaftspraxis, Klinik) erläutern. Den niedergelassenen Gynäkolog*innen in der Einzelpraxis fehlt die direkt vorhandene Möglichkeit, sich anderen ärztlichen Kolleg*innen (als präferierten Gesprächspartner*innen) mitzuteilen bzw. sich mit solchen auszutauschen. Stattdessen su-
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chen sie Substitute. Hierfür lassen sich hinsichtlich des zeitnahen Gesprächs drei Quellen ausmachen. Dies ist erstens die Kontaktaufnahme zu anderen Gynäkolog*innen oder allgemein Kolleg*innen. Sie geschieht zum Beispiel, in dem ein andere*r niedergelassene*r Gynäkolog*e in seiner Praxis angerufen wird. Die Gynäkolog*innen vereinfachen sich diese Form, das Gespräch zu suchen, indem sie z.B. per Direktdurchwahl unter Umgehung der Anmeldung gleich im Sprechzimmer de*s Kolleg*en anrufen können. Als zweites Substitut fungiert das Gespräch mit dem eigenen Personal (Arzthelfer*innen oder Krankenpfleger*innen). Wie bereits ausgeführt, verbinden die Gynäkolog*innen hiermit als vorteilhaft, dass das Personal die Patientinnen, um die es geht, ebenfalls kennt und auch (potentiell) mit den medizinischen Details vertraut ist. Drittens nutzen die in Einzelpraxen niedergelassenen Gynäkolog*innen die Möglichkeit, sich zu Hause ihren (teilweise ebenfalls ärztlichen) Partner*innen mitzuteilen. Alle drei Formen des Sich-Mitteilens beinhalten streng genommen eine Dehnung der Schweigepflicht. Der Organisationskontext der Gemeinschaftspraxis bietet in Bezug auf die Möglichkeit, sich zeitnah jemandem mitzuteilen, einen deutlichen Vorteil. Durch die Verfügbarkeit eine*s weiteren Gynäkolog*en in räumlicher Nähe ist jemand da, mit dem man unkompliziert sprechen und sich ggf. eine Rückmeldung einholen kann. Die besondere Form der Gemeinschaftspraxis setzt eine gewisse Vertrautheit und eine gemeinsame Vertrauensbasis ohnehin voraus. Die in der Gemeinschaftspraxis tätige Gynäkologin G4 hebt diesen Vorteil sehr hervor: „Das ist sicher ein großer Gewinn und ich würde auch jeden jungen Kollegen immer zuraten so ’ne größere Praxis, also mit mindestens zwei oder mehr Kollegen, also ich, die Einzelpraxen die haben eben genau das Problem, die müssen dann irgendjemand anrufen.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Der zeitnahe Austausch ist im dritten Organisationskontext, der Klinik, ebenfalls gegeben. Das Arbeiten in einem Team mit anderen Gynäkolog*innen bietet diese Möglichkeit nahezu jederzeit (mit teilweiser Ausnahme der nächtlichen bzw. Wochenenddienste), unterliegt aber dennoch zwei Besonderheiten. Erstens tauscht man sich auch hier durchaus nicht mit jedem aus. Bei den neu ins Team gekommenen Assistenzärztinnen Gynäkologin 6 und Gynäkologin 8, die sich noch in der Ausbildung zur Fachärztin befinden, zeichnet sich ein Einfluss der Hierarchie innerhalb des Teams ab. Erste Ansprechpartnerin für beide ist hier die jeweils andere, ebenfalls in Ausbildung befindliche Kollegin. Die zweite Besonderheit liegt in einer Schließung des Teams gegenüber außenstehenden Ärzt*innen. Die (emotional berührenden) Geschehnisse innerhalb der Klinik werden als besonders erlebt, so dass auch das Sich-Darüber-Mitteilen, dem Kri-
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terium des Verständnisses für die Situation folgend, nur mit anderen Kolleg*innen aus dem Team erfolgen kann. Gynäkologe 5 bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt: „solche Dinge, die passieren inner Klinik und die müssen auch inner Klinik geklärt werden“ (G5, leitender Gynäkologe Klinik)
Insofern lässt sich zusammenfassen, dass die Schweigepflicht und der Organisationskontext als Grenzen der Strategie, sich über emotional Berührendes mitzuteilen, fungieren. Während die Schweigepflicht die Möglichkeiten des Austauschs über emotional Berührendes für alle Gynäkolog*innen gleichermaßen begrenzt, bringt der Organisationskontext je nach Ausprägung unterschiedliche Begrenzungen mit sich. Organisationskontext und Schweigepflicht wirken zusammen, wenn sich die in Einzelpraxen niedergelassenen Gynäkolog*innen Substitute für gynäkologisch geschulte, vertrauensvolle Gesprächspartner*innen suchen müssen. Abschließend möchte ich eine weitere, anders gelagerte Form, sich über emotional Berührendes mitzuteilen, kurz diskutieren. Die Gynäkolog*innen sprechen durchaus auch mit ihren Patientinnen über ihre eigenen Gefühle. Dies ist sicher die zeitnaheste Form, sich über eine emotionale Berührtheit mitzuteilen. Wenn Gynäkolog*innen ihre eigenen Gefühle gegenüber Patientinnen thematisieren, gehen sie dabei für einen Moment über ihre rein medizinische Rolle hinaus. Sie zeigen sich als Person, wenn sie beispielsweise ihren Ärger über eine vorhergehende Patientin oder ihre ganz akute Erschütterung über ein gerade entdecktes, Böses ankündigendes Karzinom ansprechen. Den eigenen Gefühlen wird kurz Platz eingeräumt, um danach wieder in die medizinische Rolle zurückwechseln zu können. Wenn sie sich mitteilen, können sie die eigenen Gefühle danach wieder an die Seite legen und sich auf die weitere Behandlung bzw. das weitere Gespräch mit ihrer Patientin konzentrieren. Zusammenfassend habe ich in diesem Kapitel 4 zwei verschiedene Strategieformen vorgestellt und diskutiert, die sich auf das Ausbalancieren von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen richten: Strategien der Grenzziehung (bzw. mit qualitativ geringerer Bedeutung Strategien der Herstellung von Nähe) und die Strategie, sich anderen mitzuteilen. Beide Strategieformen weisen über in der psychologischen Literatur diskutierte Strategien der Emotionsregulation, wie sie sich etwa bei Gross (1998) oder Hayward und Tuckey (2011: 1508f.) finden, hinaus. Jene unterscheiden mit Blick auf das emotionsregulierende Individuum zwischen vor und nach dem Entstehen von Emotionen ansetzenden individuellen
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Emotionsregulationsstrategien (‚antecendent-‘ oder ‚response-focused‘). Die hier vorgestellten Strategien unterscheiden sich in zwei Punkten. Dies ist erstens der Fokus auf soziale statt auf innerpsychische Prozesse. Anstelle des innerpsychischen Erlebens der Gynäkolog*innen stehen hier jene Strategien im Vordergrund, die in sozialer Form, also zum Beispiel in Interaktionen (wie in Kap. 4.1.1 oder 4.2) stattfinden oder durch eine spezifische soziale Ausgestaltung der Welt (wie sie z.B. bei der Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben (Kap. 4.1.2) oder der Delegation von Aufgaben (Kap. 4.1.3) sichtbar wird) möglich werden. Mitunter werden sie durch letztere nicht nur ermöglicht, sondern auch unmöglich – dieser Aspekt wurde hier insbesondere durch die Analyse der intervenierenden Bedingungen sichtbar. Dabei sind die hier diskutierten Strategien der Grenzziehung und des Sich-Mitteilens insofern über den psychologischen Emotionsregulationsstrategien anzusiedeln, als sie in ihren jeweiligen spezifischen Ausprägungsformen auf verschiedene, sowohl vor oder nach dem Entstehen von Emotionen ansetzende Regulationsstrategien zurückgreifen. Ein zweiter Punkt der Unterscheidung lässt sich am Gegenstandsbereich der Strategien anknüpfen. Während Gross (1998) oder auch Hayward und Tuckey (2011)44, ganz im Sinne des psychologischen Mainstreams, nach allgemeingültigen Strategien suchen, handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine gegenstandsbezogene für den Umgang mit Emotionen bei Gynäkolog*innen. Die Stärke der letzteren liegt darin, dass hier der Kontext als Einflussgröße stärker berücksichtigt werden kann, wie u.a. in Kapitel 2 anhand der Arbeits-, Organisations- und Professionsmerkmale dargestellt und so z.B. die Spezifika des Umgangs mit Emotionen in der Gynäkologie in verschiedenen Organisationsformen in den Vordergrund treten können. Dabei sollte man auch im Hinterkopf behalten, dass sich die hier präsentierten Strategien des Umgangs auf das in Kapitel 3.3 dargestellte Kernphänomen, nämlich das Ausbalancieren von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen, beziehen. Dieses wiederum resultiert aus der für die Gynäkologie als medizinischem Fachgebiet charakteristischen langen und intensiven Sozialisationsphase (vgl. Kap. 3.1 und 3.2). Vergleicht man diese Strategien nun mit anderen gegenstandsbezogenen Analysen für den Bereich der Medizin wie z.B. der von Smith und Kleinman (1989), so zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Smith und Kleinman (1989) beschreiben in ihrer Arbeit zu Medical Schools, also Ausbildungseinrichtungen für angehende Mediziner*innen, fünf Strategien, mit deren Hilfe die Stu44 Der Aufbau der ‚General discussion‘ im Artikel von Hayward und Tuckey (2011: 1518f.) zeigt an, dass diese zwar eine Untersuchung an Krankenpflegepersonal (‚nurses‘) durchführen, hieraus aber ohne viel Federlesens grundlegendere Mechanismen für alle Arbeitenden (‚workers‘) ableiten.
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dent*innen lernen, ihre Emotionen zu bewältigen, obwohl dieser Umgang nicht offizieller Teil des Lehrplans ist. Die Student*innen stellen sich erstens d*en Patient*en bzw. die zu erfüllende medizinische Prozedur als eine analytische Aufgabe vor. Zweitens betonen sie die angenehmen Gefühle, welche mit dem (Kennen)Lernen und dem Praktizieren ‚wirklicher‘ Medizin verbunden sind, um so unangenehme Gefühle auszublenden oder zu marginalisieren. Drittens fühlen sie sich empathisch in d*ie Patient*in ein, um mitunter eigene Gefühle auf diese zu übertragen, oder geben im Gegenteil heimlich den Patient*innen die Schuld, wenn sie sich unangemessen fühlen. Viertens gibt es die Möglichkeit, in der Ausbildung unangenehme, sensible Untersuchungen auszulassen und fünftens finden sich eine Reihe von Witzen und ein spezieller medizinischer Humor, welcher Emotionen scherzhaft aufnimmt oder unangenehme Situationen ins Lustige zieht. Ähnlichkeiten zu der vorliegenden Untersuchung finden sich mit Blick auf die erste Strategie. Sich eine*n Patient*en oder eine Prozedur als analytische Aufgabe vorzustellen, entspricht der in Kapitel 3.1 beschriebenen emotionsneutralen Medizin. Auch das als dritte Strategie beschriebene empathische Einfühlen findet sich in dieser Arbeit im Rahmen der Herstellung von Nähe in der Interaktion (Kap. 4.1.4). Die vierte Strategie, Untersuchungen auszulassen, entspricht der Delegation wie in Kapitel 4.1.3 dargestellt. Gleichzeitig finden sich auch wichtige Unterschiede. Der erste ist, dass sich die Strategien bei Smith und Kleinman (1989) auf die Sozialisationsphase und die ersten praktischen Erfahrungen beziehen. Folglich wundert es nicht, dass sich deren erste Strategie an den in Kapitel 3.1 beschriebenen ersten Sozialisationsschritt anknüpfen lässt, im Umgang mit der Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen im Alltag ausgebildeter Gynäkolog*innen aber keine qualitative Relevanz mehr erfährt. Ähnliches lässt sich auch für die zweite Strategie vermuten. Dass die fünfte Strategie, der spezielle medizinische Humor, keine erkennbare Strategie des Umgangs in meiner Untersuchung darstellt, hat meines Erachtens methodische Gründe, die in meiner Person als Interviewdurchführender liegen. Denn Smith und Kleinman (1989: 63f) schreiben, dass der spezielle medizinische Humor grundsätzlich nur unter sich, also nur in ausschließlicher Anwesenheit von Mediziner*n, genutzt wird – ein Merkmal, dass diesen Humor in der Interviewsituation mit mir als Nicht-Medizinerin verbietet. Insgesamt zeigt dieser Vergleich, dass auf ähnliche Gegenstände bezogene Analysen zwar wichtige Ansatzpunkte im Sinne der theoretischen Sensibilität, oder auch Vergleichspunkte liefern können, sich eine gegenstandsbereichsgleiche Analyse aber nicht zwangsläufig über berufsbiografische Stationen hinweg, also hier von der Ausbildungsauf die Berufsphase, übertragen lässt.
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Darstellung 14: Das Kodierparadigma unter Hinzunahme der Strategien und intervenierenden Bedingungen Drei Widerspruchspaare als ursächliche Bedingungen (Kap. 3.4):
• Die emotionsneutrale Medizin trifft auf die Patientin als Mensch • Emotionen sind wichtig, aber auch belastend • Gynäkolog*innen zwischen Selbstsorge und Sorge für Andere
Emotionsneutrale Medizin (Kap. 3.1)
Umgang mit Patientinnen (Kap. 3.2)
Intervenierende Bedingungen ermöglichen/ begrenzen die Strategien:
• Organisationsformen gynäkologischer Arbeit • Schweigepflicht als gesetzl. Regelung • Individuelle, organisationale und professionelle Gefühls(darstellungs)regeln • Professionsmerkmale
Kontext Gynäkologie (Kap. 2):
• Gynäkologie als Teil der medizinischen Profession • Organisationsformen gynäkologischer Arbeit (z.B. Niederlassung, Klinik) • Gynäkologische Arbeitstätigkeiten • Bandbreite der erlebten Emotionen
Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen: individuelles Gleichgewicht (Kap. 3.3)
Strategien der Gynäkolog*innen:
• Grenzziehungsstrategien: o Emotionsbegrenzung in der Interaktion o (emotionale) Trennung von Arbeit und Leben o Emotionsvermeidung durch Delegation • Strategien der Nähe • Sich anderen mitteilen
Abschließend findet sich der in den bisherigen Kapiteln präsentierte Zusammenhang zwischen Phänomen, Kontext und Strategien in grafischer Form in Darstellung 14 zusammengefasst. Dabei wurden die Zusammenhänge zwischen den einzelnen intervenierenden Bedingungen, wie im obigen Text aufgezeigt, aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht eingezeichnet. Einige dieser Bezüge sollen hier exemplarisch in Erinnerung gerufen werden. So wirkt die erste benannte intervenierende Bedingung, Organisationsformen gynäkologischer Arbeit, in der Form des Krankenhauses begrenzend auf die Strategie ‚(emotionale) Trennung von Arbeit und Leben‘, und zwar insbesondere wirkt der Hintergrunddienst als Form der Arbeitsorganisation hindernd auf die Abschirmung des (Privat)Lebens gegenüber der Arbeit (Teilstrategie ‚’ne Klappe zumachen‘). Die Schweigepflicht als gesetzliche Regelung wirkt begrenzend auf die Umsetzungsmöglich-
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keiten der Strategie ‚sich anderen mitteilen‘, und zwar insbesondere für niedergelassene Gynäkolog*innen (erneute Bedeutung der Organisationsform). Der Einfluss verschiedener Gefühls(darstellungs)regeln zeigt sich zum Beispiel als individuelle Regel im Bereich der Emotionsbegrenzung in der Interaktion als einer Grenzziehungsstrategie, wenn individuelle Regeln zum Herauswagen aus der Trutzburg Medizin gefunden werden oder Punkte, an denen ein Dissens zwischen Gynäkolog*in und Patientin direkt kommuniziert wird. An diesen beiden Teilstrategien lässt sich aber auch der Einfluss zweier Professionsmerkmale anknüpfen: erstens ist es die Machtasymmetrie zwischen Ärzt*in und Patientin, die die Emotionsbegrenzung in der Interaktion durchsetzbar macht und somit ermöglichend wirkt, und zweitens liegt es in der Verantwortung de*s Professionellen gegenüber seiner Patientin begründet, dass das ‚’ne Klappe zumachen‘ als Strategie der Trennung zwischen Arbeit und Leben, wie oben beschrieben, zum Teil erschwert bis unmöglich wird.
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Konsequenzen des Ausbalancierens für Gynäkolog*e und Patientin
Das vorhergehende Kapitel hat sich mit den Strategien befasst, welche Gynäkolog*innen einsetzen, um medizinische Fachlichkeit und mit der gynäkologischen Arbeit verbundene Emotionen im Gleichgewicht zu halten. Aus diesen Strategien ergeben sich im Zusammenspiel mit dem Phänomen, also dem Ausbalancieren von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen in den beiden Formen ‚sich distanziert einlassen‘ und ‚sich einlassen‘, spezifische Konsequenzen. Für Strauss und Corbin (1996: 75) sind Konsequenzen „Ergebnisse oder Resultate von Handlung und Interaktion“, wobei sie sich mit Letzteren auf die auf ein Phänomen gerichteten Strategien beziehen. Um diese Konsequenzen, welche durchaus auch unbeabsichtigt auftreten können (ebd.: 85), soll es nun im Folgenden gehen. Dabei möchte ich drei zentrale Konsequenzen ausführen. Erstens sind die vorab diskutierten Strategien darauf ausgerichtet, ein Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen aufrechtzuerhalten, zum Beispiel durch Grenzziehungsprozesse. Dieses Gleichgewicht zu erhalten geschieht als Gratwanderung im Wissen um zwei Bedrohungsszenarien, deren Eintreten ein Misslingen des Gleichgewichts darstellen würde. Folglich steht auch das gelingende Ausbalancieren unter dem Damoklesschwert eines Kippens in einen ungewünschten Zustand (Kap. 5.1). Trotz dieser potentiellen Gefahr erleben die Gynäkolog*innen ihren Balancezustand zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen zweitens als gelingend. Damit verknüpfen sich Empfindungen der Authentizität, der Kompetenz, der Ausgeglichenheit und des Gesund Bleibens (Kap. 5.2). Und drittens zeigt sich in dem bisher Beschriebenen die Machtasymmetrie zwischen Gynäkolog*in und Patientin: auch wenn auf die Gefühle und Bedürfnisse der Patientinnen eingegangen wird, so geschieht dies doch immer unter dem Primat der zu erhaltenden Balance de*s Gynäkolog*en (Kap. 5.3).
180 | Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
5.1 DAS GLEICHGEWICHT HALTEN ALS GRATWANDERUNG Die im dritten Kapitel formulierte Notwendigkeit, den Umgang mit arbeitsbezogenen Emotionen im Sinne eines Gleichgewichts aus medizinischer Fachlichkeit und Emotionen zu erlernen, und dieses Gleichgewicht mittels der im vierten Kapitel dargestellten Strategien aufrecht zu erhalten, ist ein Balanceakt und wird auch als Gratwanderung zwischen zwei Szenarien erlebt, die nicht wünschenswert sind: „Und das ist vielleicht diese Gratwanderung, die man macht in unser’m Beruf. Dass man nicht auf das eine verfällt, und dann so sag’ ich mal als empathieloser Holzklotz durch die, durch den Weg geht, aber auf der anderen Seite auch nicht sich selber und seine Familie und seinen persönlichen Werdegang und familiäre Planung und was auch immer nicht aus ’n Augen zu verlieren und hier. Weil man kann glaube ich in dem Beruf ganz gut äh bis hin zur Selbstaufgabe gehen. Indem man eben nur für seinen Beruf und für die Patienten lebt [hm, hm] und das ist wahrscheinlich so mit das Schwerste, dass man diesen Drahtseilakt da bewältigt.“ (G8, Assistenzärztin Klinik)
Die zwei Szenarien stellen Arten des Umgangs mit Emotionen dar, welche aus Sicht der Gynäkolog*innen mit negativen Konsequenzen einhergehen, und welche sie vermeiden wollen. Die erste wahrgenommene Gefahr liegt darin, sich zu sehr auf die arbeitsbezogenen eigenen Gefühle und Gefühle Anderer einzulassen („Selbstaufgabe“) und sich in der Konsequenz drohenden negativen gesundheitlichen Folgen auszusetzen. Die zweite Gefahr liegt darin, sich zu wenig auf arbeitsbezogene Emotionen einzulassen („empathieloser Holzklotz“) und in der Folge einen unemotionalen, rein schematischen Arbeits- und Umgangsstil auszuprägen. Beide Bedrohungsszenarien werden nachfolgend erläutert. 1. Bedrohungsszenario: Sich zu sehr einlassen. Im obigen Zitat benennt Gynäkologin 8 eine der zwei Gefahren des gynäkologischen Berufs als „Selbstaufgabe“, wenn man nur für die Patientinnen und die Arbeit da sei. Sie führt im Anschluss daran weiter aus: „Nicht zu viel von sich selber dann herzugeben [hm]. Ich mein’, zeitlich geben wir schon sehr viel her (auflachen). Aber ähm nicht zu viel von der eigenen Person in der Klinik letzten Endes zu belassen [ja, ja].“ (G8, Assistenzärztin Klinik)
Sich zu sehr auf die eigenen Emotionen und die Emotionen Anderer einzulassen, macht sicher einen Teil dieses „zu viel von sich selber hergeben“ aus. Dabei lädt
Konsequenzen des Ausbalancierens für Gynäkolog*e und Patientin | 181
der gynäkologische Beruf nach Ansicht der niedergelassenen Gynäkologin 2 dazu ein, zu viel von sich herzugeben, da es zu seinen Grundmerkmalen gehört, dass man sich die Probleme anderer Menschen anhöre. Aus Sicht der Gynäkolog*innen geht es deswegen vor allem darum, wie man mit dieser Berufseigenschaft umgeht. So darf man z.B. nicht so veranlagt sein, dass man mit jeder Patientin mitleidet oder mitstirbt (Gynäkologin 2) bzw. darf nicht „immer damit [mit schweren Fällen, KR] nur umgehen“ (Gynäkologin 4). Tut man dies doch, da sind sich die Gynäkolog*innen einig, besteht die Gefahr, negative gesundheitliche Folgen zu erleiden, insbesondere an Burnout zu erkranken. In der Wahrnehmung der Gynäkolog*innen ist also zum einen verankert, dass Burnout ein für den Beruf durchaus verbreitetes Krankheitsbild ist. Zum anderen liegen die oben angeführten Gründe in Veranlagung und zu intensiver Beschäftigung mit zu vielen „schweren Fällen“. Die Ursachenliste wird von Gynäkologin 4 um die Auffassung ergänzt, dass Burnout ein „hausgemachtes“ Phänomen sei, welches entsteht, wenn man nur die negativen Seiten des Berufs sieht und alles auf sich selbst projiziere. Gegenüber diesen Einschätzungen aus den Interviews zeichnet die wissenschaftliche Literatur zu Definition und Entstehungszusammenhängen von Burnout ein umfassenderes Bild. Dieser wird zunächst einmal „als ein Symptomkomplex mit körperlicher und emotionaler Erschöpfung beschrieben, bei dem es zum Verlust der körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit sowie Distanzierung von anderen Menschen und ihren Problemen (Depersonalisierung) kommt. Dabei leiden die Betroffenen insbesondere unter Symptomen wie Müdigkeit und Kraftlosigkeit.“ (Grosser 2014: 210f.)
Burnout wird diskutiert als ein Phänomen, welches sowohl durch individuelle als auch organisationale Entstehungsgründe oder Risikofaktoren begünstigt wird. In der obigen Aussage von Gynäkologin 2, dass es eine Grundeigenschaft des Berufes ist, sich die Probleme anderer Menschen anzuhören, kommen diese beiden Einflussgrößen zusammen. Denn Michaela Grosser (2014: 212f.) stellt heraus, dass gerade das professionelle Helfen in der wissenschaftlichen Literatur als Risikofaktor für die Entstehung von Burnout diskutiert wird. Im „Anhören der Probleme anderer Menschen“ kumulieren somit als persönliche Stressoren hohe Leistungserwartungen der Gynäkolog*innen an sich selbst und eine hohe Involviertheit in die Arbeit. Als Arbeits- und Organisationsstressoren benennt Grosser (2014: 213 unter Verweis auf Cordes/ Dougherty 1993) Rollenkonflikte, Rollenüberlastung, die Häufigkeit, Länge und Intensität zwischenpersönlicher Kontakte sowie hohe Erwartungen von Seiten des Unternehmens.
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Von den Gynäkolog*innen werden auch Strategien benannt, um einen Burnout von vornherein zu vermeiden. Hierzu gehört, dass man lernen muss abzuschalten und eine Grenze zu ziehen, denn „es muss auch mal gut sein“ (niedergelassene Gynäkologin 2). Gynäkologin 4 empfiehlt, Stress positiv zu sehen bzw. zu empfinden und einen vernünftigen Abstand zu lassen, die Dinge und Patientinnen nicht ganz nah an sich heranzulassen. Diese Forderungen passen zu den in Kapitel 4 herausgearbeiteten Strategien der Grenzziehung, welche wiederum von den zitierten Gynäkologinnen auch angewendet werden. Neben dem individuellen Umgang mit den beruflichen Anforderungen, welche die Interviewpartner*innen in den Vordergrund stellen, fokussiert Grosser (2014) vor allem auf die organisationalen Möglichkeiten der Unterstützung von Ärzt*en bei der Burnoutprävention. Sie stellt dabei innerbetriebliche Konflikte in den Mittelpunkt, welche sie als Hauptrisikofaktor auf der organisationalen Ebene ansieht. Als Präventionsmöglichkeiten bewertet sie die Mediation als eingeschränkt geeignet und das Modell der Konfliktlotsen als vorzuziehende Präventionsmethode. Hinweise auf solche kollektiven, von der Organisation gestützten Präventionsmaßnahmen finden sich jedoch in der hier vorgelegten Untersuchung nicht. Ohne Frage ist die Gefahr, an einer Krankheit wie Burnout zu erkranken, wenn man sich zu sehr emotional einlässt, an und für sich schon abschreckend. Doch über das Leiden an einer solchen Krankheit hinaus zieht ein erlebter (und behandelter) Burnout weitere Konsequenzen nach sich, die Gynäkologe 3 ausführt. Zunächst zahle die Versicherung bei einem solchen diagnostizierten Krankheitsbild nicht für die Praxisausfälle45. Dann gilt Burnout als nicht schick und macht Betroffene im Kolleg*innenkreis angreifbar. Die Gefahr des ‚ruchbar Werdens‘ der Erkrankung wird gar als rufschädigend erlebt, so dass letztlich nicht darüber geredet wird: „Das wird keiner, so ’ne Breitseite gibt niemand.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe). Zusammengefasst bedeuten diese Konsequenzen: „das heißt, Sie können sich nicht offenbaren irgendwo. [Stimmt] Das ist also schlimm.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
45 Dieser 2011 von dem Gynäkologen 3 getroffenen Aussage möchte ich an die Seite stellen, dass es zumindest in jüngerer Zeit durchaus möglich ist, als Ärzt*in eine sogenannte „Dread-Disease-Police“ abzuschließen, die gegen finanzielle Folgen von psychischen Erkrankungen, und somit auch Burnout, absichert (vgl. Grosser 2014: 211).
Konsequenzen des Ausbalancierens für Gynäkolog*e und Patientin | 183
Das hier von dem niedergelassenen Gynäkologen 3 gezeichnete Bild erweist sich als umso erstaunlicher, als Burnout unter Medizinberufen als durchaus verbreitet gilt. Diese Einschätzung meiner Interviewpartner*innen lässt sich auch anhand statistischer Zahlen bestätigen: rund 20% der Ärzt*innen sind von Burnout betroffen (Grosser 2014: 211 mit Bezug auf Berndt 2008). Denn gerade die medizinischen Berufe ziehen Personen an, die einen Wunsch oder ein Bedürfnis haben, anderen Menschen zu helfen (vgl. hierzu Grosser 2014: 212f., sowie ausführlich Schmidbauer 1977), und zwar auch durchaus über das individuell gesunde Maß hinaus. Somit lässt sich schlussendlich festhalten, dass die subjektiv von den Interviewpartner*innen wahrgenommene Gefahr, negative gesundheitliche Folgen zu erleben, sich durchaus mit statistischen Zahlen deckt und sich darüber hinaus auch in Ratgebern widerspiegelt, die Burnout vorbeugen sollen und sich gezielt an Ärzt*e wenden (z.B. Bergner 2006). Die Fähigkeit zu erwerben, Emotionen auszubalancieren (vgl. Kapitel 3 und 4), spielt dabei eine wichtige Rolle in der Prävention. 2. Bedrohungsszenario: Sich zu wenig einlassen. Die zweite Gefahr liegt darin, sich zu wenig auf arbeitsbezogene Emotionen einzulassen und in der Folge einen unemotionalen, rein schematischen Arbeits- und Umgangsstil auszuprägen, welcher einen im Wortlaut des am Kapiteleingang angeführten Zitats zu einem „empathielosen Holzklotz“ werden lässt. Dabei drückt sich dieses Sich-ZuWenig-Einlassen in der Interaktion mit Patientinnen dadurch aus, dass die betreffenden Gynäkolog*innen „stumpfsinnig ihrer Arbeit nachgehen, und ‚Schönen Guten Tag, steigen se hoch46, und auf Wiedersehen‘ “ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
die Worte sind, welche ihre Interaktion mit Patientinnen charakterisieren. Zu dieser Stumpfsinnigkeit gehört nicht nur, Emotionen im Gynäkolog*inPatientin-Kontakt keinen Platz zu lassen, sondern auf der anderen Seite auch, alle emotionalen Aspekte abzublocken und für sich selbst keine Emotionen zuzulassen. Beide Aspekte des ‚empathielosen Holzklotzes‘, der auf die Interaktion gerichtete und der auf das eigene emotionale Erleben gerichtete, haben spezifische Konsequenzen. Für die Gynäkolog*en-Patientin-Interaktion liegt die Konsequenz erstens in einer Verkürzung der Interaktionszeit, wie das obige Zitat (‚Schönen Guten Tag, steigen se hoch, und auf Wiedersehen‘) als Paraphrase der gesamten Interaktionskette zuspitzt: Zwischen Begrüßung und Verabschiedung 46 Diese Formulierung bezieht sich wahrscheinlich auf den eigentlichen Untersuchungsteil, welcher auf dem höher gelegenen gynäkologischen Untersuchungsstuhl stattfindet.
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muss nur der medizinisch-untersuchende Teil stattfinden. Ein solches Vorgehen ist durchaus mit ökonomischen Vorteilen verbunden, weil es weniger zeitintensiv ist als eine Vorgehensweise, bei welcher der Patientin zunächst an einem separaten Platz die Möglichkeit eines Gesprächs angeboten wird und somit neben der Untersuchungszeit zusätzlich Gesprächszeit einkalkuliert werden muss. Zweitens führt ein solches Vorgehen aber auch dazu, dass die Beziehung zwischen Gynäkolog*in und Patientin weniger vertrauensvoll ausgestaltet ist und sich eher auf rein medizinische Sachverhalte beschränkt. Dies wird durch eine organisatorische Besonderheit in den niedergelassenen Praxen unterstützt: während das Gespräch zwischen Gynäkolog*in und Patientin als Vier-Augen-Setting angelegt ist, ziehen viele Gynäkolog*innen aus praktischen und rechtlichen Gründen zur eigentlichen Untersuchung eine Arzthelferin hinzu. Gerade tabubeladene Themen lassen sich von Seiten der Patientin aber eher unter vier Augen ansprechen. Das folgende Zitat der niedergelassenen Gynäkologin G4 veranschaulicht beide, auf die Gynäkolog*in-Patientin-Interaktion gerichtete Konsequenzen pointiert: „Wir hatten früher, zu DDR-Zeiten, […] auch schon Sprechstunde gemacht und da war immer noch mindestens ein, eine Helferin mit im Raum und manchmal sogar zweie, da haben die Frauen gar keine Beschwerden gehabt. Überhaupt nichts, außer rein, ganz klar die organischen. Das, das sagen sie nicht, wenn jemand dabei ist. Also die wenigsten. Interviewerin: Ja, ja, das kann ich mir vorstellen. Hm, da muss es schon arg gravierend sein. G4: Da muss schon was ganz, ja genau so isses. Deshalb haben wir das von Anfang an auch so eingerichtet, dass es also immer so war, das wir immer ein Sprechzimmer ... und das wird uns auch von den Patienten, […] eigentlich immer sehr, sehr positiv honoriert. Dauert länger. Also sie haben damit eindeutig längere Sprechstundenzeiten, weil sie natürlich im Grunde genommen, wenn sie dann so was vorgeben, das nicht einfach abwürgen können. Dann müssen sie’s halt auch bereden und das dauert eben dann ’n bissl mehr, also schneller geht’s, wenn man die andere Möglichkeit wählt. Ne, so, aber, das so will ich auch nicht arbeiten. Das wär mir zu unbefriedigend.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Demgegenüber ist es schwieriger, die auf d*en Gynäkolog*en und sein emotionales Erleben gerichteten Konsequenzen zu qualifizieren. Am deutlichsten werden die Folgen eines solchen Verhaltens in der täglichen Arbeit von der niedergelassenen Gynäkologin 10 ausformuliert: „Also, das [gar nichts mehr an sicher heranzulassen, Ergänzung KR], das will ich eigentlich auch gar nicht. Ich will ja trotzdem, ich bin ja trotzdem ein Mensch, und ich will ja
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auch jetzt nicht wie’n Gegenstand hier sitzen, der nur irgendwie was macht, was sagt und dann ist Schluss“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
In ihrer Wahrnehmung würde sie Qualitäten eines Gegenstandes annehmen (und eines Menschen verlieren), wenn sie sich auf eine emotionslose Arbeitsweise einlassen würde. Eine ähnlich starke Zuspitzung findet sich zum Beispiel bei der niedergelassenen Gynäkologin 2, welche ausführt, dass sie gar daran zerbrechen würde und den Beruf der Gynäkologin nicht mehr ausführen könnte. Andere charakterisieren eine solche Arbeits- und Umgangsweise abgeschwächter als „zu unbefriedigend“ (G4, niedergelassene Gynäkologin). Gerade in dieser auf das eigene emotionale Erleben gerichteten Konsequenz wird noch einmal das Bedrohungspotential dieses zweiten Szenarios, sich zu wenig einzulassen, für die Gynäkolog*innen deutlich. Es wirkt derart stark, dass drastische Bilder („zerbrechen“, „wie’n Gegenstand sitzen“) gewählt werden, und auch die zeitlichen Ausdrucksformen der Ablehnung dieses Szenarios mitunter absolut ausfallen: „ich möchte nie zu denen gehören“ (G2, niedergelassene Gynäkologin, Hervorhebungen durch KR). Wie bereits am Eingang des Kapitels ausgeführt, geht es im täglichen gynäkologischen Umgang mit Emotionen auch darum, diese beiden Bedrohungsszenarien im Blick zu behalten und sein Gleichgewicht zwischen zu viel und zu wenig Emotionalität in der täglichen Arbeit mittels der in Kapitel 4 dargestellten Strategien aufrecht zu erhalten. Gelingt dies, so trägt es zu einem äußerst positiven Selbstbild der Gynäkolog*innen bei, wie das folgende Unterkapitel zeigen wird.
5.2 DAS GELINGEND ERLEBTE GLEICHGEWICHT VON MEDIZIN UND EMOTION Das als gelingend erlebte Gleichgewicht von Medizin und Emotion, also die in Kapitel 3.3 beschriebenen Formen des ‚Sich Einlassens‘ bzw. ‚Sich Distanziert Einlassens‘, wird von den Gynäkolog*innen mit positiven Eigenschaften verknüpft, die zu einem insgesamt positiven Bild von der eigenen (Arbeits)person führen. Hierzu gehört insbesondere die Wahrnehmung, sich emotional authentisch zu verhalten. Mit emotionaler Authentizität ist gemeint, dass die Gynäkolog*innen ihre eigenen Emotionen, deren Ausdruck und auch das Eingehen auf die Emotionen Anderer nicht als Arbeit (im Sinne von Emotionsarbeit) wahrnehmen, sondern als ihrem aktuellen Stimmungs- und Gefühlsbild entsprechend erleben. Das Erleben von emotionaler Authentizität wird in der gynäkologischen
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Arbeit ja wie dargestellt generell stärker durch professionelle Darstellungsregeln gesteuert als durch organisationale Darstellungsregeln. Hier trägt die in den Kapiteln 3.1 und 3.2 beschriebene, lang andauernde Sozialisationsphase durch Studium und anschließende praktische Ausbildung dazu bei, dass diese professionellen Darstellungsregeln derart verinnerlicht werden können, dass sie kaum noch als solche wahrgenommen werden. Und ‚sich einzulassen‘ oder ‚sich distanziert einzulassen‘ sind zwei legitime Formen des Umgangs mit den die Arbeit begleitenden und aus der Arbeit resultierenden Emotionen. Vor dem Hintergrund dieser verinnerlichten professionellen Darstellungsregeln und den damit verknüpften legitimen Formen des Umgangs mit Emotionen kann der Ausdruck eigener Emotionen als authentisch wahrgenommen werden: „Ich sag’ das jetzt vielleicht ein bisschen unbescheiden, ja, aber ich tu’ mir das auch nicht mehr an, äh Gefühle zu zeigen, die ich nicht empfinde. Und ich hab’s inzwischen auch gelernt, mal ’ner Patientin zu sagen: ‚Wissen Se was, das gefällt mir nicht.‘ Oder: ‚das macht mir Bauchschmerzen.‘ Oder: ‚Auf dieser Basis können wir nicht miteinander umgehen‘. Da gebe ich aber zu, auch das habe ich gelernt. Als, als junger Mensch, als als junge Ärztin, ist man/bist du(?47) natürlich immer nur bemüht, es allen Leuten recht zu machen und ja nicht (lachen) mal zu wiedersprechen und ähm, aber, ich möchte nicht sagen, dass ich mich verstelle. Nicht mehr. Mach’ ich nicht.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Die Gynäkologin 2 gibt hier an, keine Gefühle zu zeigen, die sie nicht empfindet. Dies schließt Emotionsarbeit nicht aus, etwa wenn die eigene Gefühlslage an die emotionale Situation angepasst wird, in der sie sich in der Interaktion mit der Patientin gerade befindet – diese Emotionsarbeit wird aber nicht mehr als solche wahrgenommen. Zusätzlich verweist sie darauf, dass sie auch gelernt habe, Widerspruch zu äußern und eigene emotionale Bedürfnisse gegenüber den Patientinnen anzusprechen. Hierbei betont sie einen Lernprozess, der auch über ihre Zeit als „junge Ärztin“ hinaus andauerte. Dies kann entweder auf die lange praktische Ausbildungsphase anspielen, in der besonders schwierige Ärzt*inPatientin-Gespräche auch erst nach Erhalt des Fachärzt*innentitels übernommen werden, oder aber darauf verweisen, dass auch mit der formal beendeten Ausbildungsphase der Prozess des Lernens des Umgangs mit Emotionen nicht abgeschlossen ist. Insgesamt stellt die emotionale Authentizität also ein Produkt der Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotion dar. Um diese Balance aufrecht zu erhalten, haben die Gynäkolog*innen neben den in Kapitel 4 beschrie47 An dieser Stelle ist der Wortlaut des auf Band aufgenommenen Interviews nicht eindeutig verständlich.
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benen Strategien verschiedene Möglichkeiten, den gelingenden Umgang über Formen der aktiven Kontextsteuerung aufrechtzuerhalten. Die Kontextsteuerung beinhaltet die Reflexion über die eigenen Arbeitsbedingungen (und die dadurch ausgelöste emotionale Befindlichkeit) ebenso wie Versuche, die organisationalen Arbeitsbedingungen im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu beeinflussen. Beide Aspekte veranschaulicht das folgende Zitat: „Und ich hab’ mir eigentlich vorgenommen, von Anfang an zu sagen, okay, guck auf dich selber. Und wenn es zu viel ist, ist es zu viel. [hm]. Was auch der Grund ist, weshalb ich hier bin. Es ist ’ne kleine Klinik mit ’nem netten Team, das war mir wichtig. Ähm, dass das Klima stimmt. Und ich glaub’, wenn das nicht stimmt, und man sich unwohl fühlt, dann sollte man es auch nicht zu lange treiben.“ (G6, Assistenzärztin Klinik)
Die angehende Gynäkologin G6 beschreibt hier zunächst eine grundsätzliche Achtsamkeit hinsichtlich ihres eigenen Befindens, welche sie erlernt hat. Sie reflektiert den Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und körperlich-seelischem Wohlergehen und wählt in der Konsequenz ein Arbeitsumfeld, welches aus einem „netten Team“ in einer kleinen Klinik besteht – vielleicht im Gegensatz zu z.B. dem konkurrenzgeprägten Klima an einem Universitätsklinikum. Die Assistenzärztin G6 versucht also durch die Wahl ihrer Arbeitsorganisation, den Kontext ihrer Arbeit und folglich auch die damit verbundenen Emotionen zu beeinflussen. Im Unterschied dazu versucht G3, ein niedergelassener Gynäkologe, innerhalb des von ihm gewählten organisationalen Settings einer Einzelniederlassung, durch kleinere organisatorische Veränderungen seine Arbeitsbelastung zu reduzieren und sich den Umgang mit den die Arbeit begleitenden Emotionen zu erleichtern: „Und wenn man das definiert für sich oder dass man sagt, ich will eigentlich will hierbleiben, und ich will das verbessern, will diese Abläufe optimieren, will das verbessern. Ich schreib’ Zettel, dass ich den Frauen noch mal was mitgeben kann, dass ich nicht alles erzählen muss, dass ich auch mal mich ’n bissl entlaste, und dann merke, es geht wieder. Und dass ich nach meiner Leistungsfähigkeit ohne andere zu, zu kopieren, das schaffen kann.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Trotz der unterschiedlichen Ansatzpunkte (Auswahl der Organisation bzw. Modifizierung der Arbeitsorganisation) eint beide eine Reflexion über die eigenen Kräfte. Diese ist zunächst auf das körperliche und psychische Wohlbefinden ausgerichtet, umschließt aber auch die Möglichkeiten des Umgangs mit eigenen Emotionen und denen Anderer. Letztlich geht es darum, die Grenzen des eigenen
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Arbeitsvermögens zu erkennen und zu respektieren, sowie sich in der Konsequenz (arbeits)organisatorisch entsprechend einzurichten. Dass hier im Vordergrund steht, wie Gynäkolog*innen das Potential zu Kontextsteuerung aktiv für sich nutzen um das Gleichgewicht zwischen Medizin und Emotion gelingend aufrechtzuerhalten, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Ungleichgewichte bzw. einen misslingenden Umgang gibt. Zunächst ganz allgemein verweist Gynäkologe 9 darauf, dass auch ein für sich selbst als gelingend erlebter Umgang eine gewisse Unsicherheit birgt: „Man weiß natürlich jetzt selber nicht, ist das so in Ordnung wie man damit umgeht [hm], ne.“ (G9, leitender Gynäkologe Klinik)
Dies führt zum einen dazu, dass die im vorhergehenden Kapitel 5.1 beschriebenen Bedrohungsszenarien stets präsent bleiben. Im empirischen Material manifestiert sich das an expliziten Eingeständnissen, bereits z.B. von Burnout betroffen und in Behandlung gewesen zu sein, oder nach eigenem Empfinden nah daran gewesen zu sein. Es finden sich im Interviewmaterial auch implizite Hinweise auf Krisen, die nicht ausformuliert werden. Ein Beispiel hierfür ist eine Auslassung und nachfolgende Umformulierung einer Aussage, die eine Verkürzung der täglichen Sprechstundenzeit beschreibt und ohne die explizite Begründung dennoch den Verdacht nahe legt, dass sich dahinter eine Überlastungssituation verbirgt. Zum anderen kann die Unsicherheit über das Gelingen des eigenen Umgangs mit der Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen in Verbindung mit einer misslingenden Kontextsteuerung auch zu „Ausstiegsgedanken“ (G3, niedergelassener Gynäkologe) führen – also dem temporären oder dauerhaften Wunsch, die Arbeit an und mit Patient*innen gegen eine weniger belastende Tätigkeit zum Beispiel in einer Krankenkasse oder bei einem Gesundheitsamt zu tauschen. Neben dem Erleben von emotionaler Authentizität als einem wichtigen positiven Element des als gelingend erlebten Gleichgewichts von Medizin und Emotion, und der Möglichkeit, dieses Gleichgewicht durch die in Kapitel 4 beschriebenen Strategien und eine aktive Kontextsteuerung selbst aufrechtzuerhalten, tragen auch zufriedene Patientinnen zu diesem positiven Selbstbild bei. Dies ist an dieser Stelle insbesondere dann von Bedeutung, wenn ein gelingendes Management der Gleichgewichts von Medizin und Emotion, sowohl der eigenen Emotionen wie denen der Patientinnen, zu dieser Zufriedenheit führt. Ist dies der Fall, können sich Gynäkolog*innen im Umgang mit ihren eigenen Emotionen und denen Anderer als kompetent erleben und erhalten quasi eine Spiegelung des
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gelingenden Gleichgewichts von außen. Die hohe Bedeutung zufriedener Patientinnen zeigt exemplarisch das folgende Zitat: „Ja, und das Schönste ist eigentlich zufriedene Patientinnen. Die kommt (lachen), sagt ich komm gerne her, das ist eigentlich, ja, das freut mich schon (schmunzeln) [hm, hm]. Gerne meine ich nicht so, hat gerne die Untersuchung, aber einfach so das, dass se keine Angst mehr hat vielleicht oder (.) ja dass se sich wohlfühlt, irgendwo auch aufgehoben fühlt. [hm, hm] (6) […] Nee ich denk’ schon, dass wichtig ist, dass das Vertrauensverhältnis stimmt. Und wenn ich merke, dass das stimmt, dann (2) ist es für mich eigentlich das Schönste. Weil wir, weil man da auch, ja, ganz anders miteinander umgehen kann. Und vielleicht sogar manchmal dadurch bestimmte Probleme auch leichter aufdecken kann.“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
Neben der Zufriedenheit ihrer Patientin(nen) spricht Gynäkologin 10 im obigen Zitat auch das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und ihren Patientinnen als wichtige Größe an. Das Vertrauensverhältnis zwischen beiden beruht sicher nicht nur auf fachlichem Wissen und der Gewissheit einer guten medizinischen Versorgung, sondern ebenfalls auf einer emotional-zwischenmenschlich gelungen ausgestalteten Beziehung. Dennoch handelt es sich hierbei um kein symmetrisches Vertrauensverhältnis bzw. um, grundlegender formuliert, keine symmetrische Beziehung zwischen Ärzt*in und Patientin. Dies führt der folgende Abschnitt mit Blick auf das für den oder die Gynäkolog*in gelingende Gleichgewicht von Medizin und Emotion aus.
5.3 DIE MACHTASYMMETRIE ZWISCHEN GYNÄKOLOG*IN UND PATIENTIN In der Interaktionsbeziehung zwischen Gynäkolog*in und Patientin hat d*ie Gynäkolog*in die machtvollere Position inne. Dieser Umstand wird in der vorliegenden empirischen Untersuchung zum Beispiel im folgenden Zitat illustriert: „Ich werde es individuell entscheiden, so wie die Patientin auf mich zukommt, so wie die Patientin das versteht. Ne, und wird’ auch mal ’ner Patientin vielleicht auch mal nicht sagen dass se Krebs hat. [Tatsächlich? Das gibt es?] Ne? Weil, weil ich halt der Meinung bin, dass das für die Patientin nicht mehr gut ist. So, ne, wird schon auch mal vorkommen.“ (G1, niedergelassene Gynäkologin)
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Gynäkologin 1 verweist hier auf den Informations- und Wissensvorsprung, den sie gegenüber ihren Patientinnen hat. Es liegt in ihrem Ermessen und entspricht damit einer machtvolleren Position, zu entscheiden, in welchem Umfang sie die ihr vorliegenden Informationen über den Gesundheitszustand einer Patientin mit dieser teilt. Dass das Verhältnis zwischen Professionelle*r (hier: Gynäkolog*in) und Klient*in (hier: Patientin) im Hinblick auf Machtaspekte nicht symmetrisch ist, ist in der Literatur zu Professionen hinreichend diskutiert und belegt (z.B. für die Medizin Light 2007). Im Folgenden möchte ich nun hervorheben, dass diese Machtasymmetrie nicht nur für die allgemeine Interaktionsbeziehung gilt, sondern sich auch im Umgang mit den Emotionen innerhalb dieser Interaktionsbeziehung niederschlägt. Auch wenn die Gynäkolog*innen innerhalb der Interaktion auf die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Patientinnen eingehen, so geschieht dies doch stets unter dem Primat der zu erhaltenden Balance von Medizin und Emotion auf Seiten der Gynäkolog*innen. Denn die machtvollere Position liegt, wie oben exemplarisch aufgezeigt, in der Regel bei de*r Gynäkolog*in. Diesen Zusammenhang zwischen dem gynäkologischen Umgang mit Emotionen innerhalb und außerhalb von Interaktionen sowie der Machtasymmetrie zwischen Gynäkolog*in und Patientin habe ich im vierten Kapitel bereits angerissen. Er soll hier nun anhand von zwei spezifischen, miteinander verbundenen Aspekten vertieft erläutert werden. Diese sind die mit Blick auf Emotionen begründete Entscheidung über Fortführung oder Beendigung der Ärzt*in-Patientin-Beziehung und damit verbundenen Grenzsetzungen, deren Umsetzbarkeit in besonderem Maße in der Machtasymmetrie gründet (vgl. allgemein zu den in Interaktionen vorgenommenen Grenzsetzungen Kapitel 4.1.1). Die Machtasymmetrie zwischen Ärzt*in und Patientin wird dann besonders deutlich, wenn die (niedergelassenen) Gynäkolog*innen Entweder-OderSituationen mit Blick auf die Fortführung oder Beendigung des Behandlungsverhältnisses mit einer bestimmten Patientin konstruieren: Entweder passen die Patientinnen ihr Verhalten an die Erwartungen de*s Gynäkolog*en an, oder d*er Gynäkolog*e beendet die Arzt-Patientin-Beziehung. Es sind verschiedene Verhaltensweisen von Patientinnen, die eine solche Entweder-Oder-Situation auslösen können. Ihnen allen gemein ist, dass sie in der Gynäkolog*in starke Emotionen auslösen, so dass d*ie Gynäkolog*in zum Umgang mit diesen bzw. zur Vermeidung dieser Emotionen eine Verhaltensanpassung der Patientin einfordert. Ein veranschaulichendes Beispiel hierfür liefert der niedergelassene Gynäkologe 3: „Und wenn jetzt jemand richtig plautzt, wo ich sage, "wissen se", also wo ich dann auch das Arzt-Patientenverhältnis als gestört bezeichne, und sage, ich bin eigentlich nicht ge-
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willt, Sie weiter zu behandeln. Also das bedeutet, wenn sie im Notfall kommen würde, müsste, würde ich sie immer behandeln, aber wo ich sagen würde, das müssen wir uns beiden nicht antun.“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
Ein weiteres Beispiel, in dem die bei der Gynäkologin ausgelösten Emotionen deutlicher benannt werden, findet sich bei Gynäkologin 4. Sie ärgert sich über eine Patientin, die den Arzthelferinnen nicht sagen will, warum sie kurzfristig einen dringenden Termin benötigt und in der Folge ruft die Gynäkologin sie am Ende ihres eigenen Arbeitstages zurück: „Und, die kam dann, nächsten Tag, hab ich ihr ’nen Termin.. muss (..) hm (..) Das hab ich se merken lassen. Da war ich dann wirklich mal, da sind wir nicht hier rein gegangen, da sind wir gleich in die Untersuchung gegangen und da (lachen) da hab’ ich mal den Bösen raushängen lassen. Ist aber superselten. Aber da hab’ ich mich wirklich geärgert, weil ich gedacht hab’, das find ich anmaßend. […] Aber von mir zu verlangen, dass ich am Abend, wo ich irgendwann nu auch mal heim will, die nu anrufen muss, da weil sie nur bloß mir sagen will, das is nu, also, da haben wir, das ist ’ne Diagnose die bei uns am Telefon 10mal am Tag mindestens (..) dafür hatt’ ich kein Verständnis. […] Das hab’ ich dann gleich gesagt. Und hab’ gesagt, wenn das wieder passiert, dann müssen Sie sich ’nen ander’n Doktor suchen, weil ich das ne jedes Mal mitmache. […] Also, ich, das merk’ ich mir zwar, also wenn die wiedermal mit so was käme, würd’ ich bestimmt sagen so also jetzt ist rote Karte, ne, also nochmal macht die das ne mit mir.“ (G4, niedergelassene Gynäkologin)
Beide Situationen zeichnen sich neben den erlebten, negativen Emotionen auf Seiten de*r Gynäkolog*in dadurch aus, dass diese eine Beendigung der Ärzt*inPatientin-Beziehung in den Raum stellt, falls die Patientinnen ihr als unangemessen empfundenes Verhalten nicht einstellen. Diese in Kapitel 4.1.1 bereits als ‚direkt kommunizierter Dissens‘ diskutierte Strategie der Grenzsetzung in der Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin wird überhaupt erst dadurch ermöglicht, dass d*er Gynäkolog*e seine Leistung glaubhaft verweigern kann. Er hat, zumindest im Falle der niedergelassenen Praxis, die Macht über Aufnahme oder Ablehnung einer Patientin zu entscheiden – außer, wie Gynäkologe 3 andeutet, im Falle eines Notfalls, wo er durch den hippokratischen Eid als professioneller Regel zur Hilfeleistung verpflichtet wäre. Die obigen Zitate stellen dabei durch die Infragestellung der Fortführung der Beziehung Extremfälle von Grenzsetzungsversuchen seitens der Gynäkolog*innen dar, denn eine stärkere Drohung als die des Beziehungsabbruchs scheint an dieser Stelle nicht denkbar.
192 | Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
Diese zeigen das Machtgefälle zwischen beiden Interaktionspartner*innen besonders deutlich. Dennoch bedeutet eine Machtasymmetrie nicht, dass die Patientinnen ohnmächtig dem Handeln der Gynälog*innen ausgeliefert wären: weniger Macht zu haben, heißt nicht, keine Macht zu haben. Sie können sowohl von Exit- als auch Voice-Optionen Gebrauch machen. Eine Exit-Option wäre, d*ie Gynäkolog*in von sich aus zu wechseln, wenn Patientinnen mit ihrem Verhalten, und sei es als emotionale Reaktion auf eigenes Verhalten, nicht einverstanden sind. Sie können ihrem Missfallen auch direkt oder indirekt Ausdruck verleihen (Voice-Option) und so versuchen, auf d*ie Gynäkolog*in einzuwirken. Ein Beispiel für die direkte Nutzung der Voice-Option findet sich bei dem niedergelassenen Gynäkologen 3: „Aber es gibt, es gibt Frauen, die hinterfragen alles oder sagen auch, dass sie sich andersweitig noch informiert haben und das nicht gemacht haben, also wo man, wo sich schwierig sehr gestaltet, da ist man natürlich gleich ’n bissl in Abwehrstellung auch“ (G3, niedergelassener Gynäkologe)
In diesem Zitat werden die das Handeln begleitenden Emotionen der Patientin nicht expliziert, allerdings wird deutlich, wie ein solches Verhalten auf diesen Gynäkologen wirkt („’n bissl in Abwehrstellung“). Ein Beispiel für eine indirekte Nutzung der Voice-Option liefert Gynäkologin 10, indem sie ihre Erfahrungen mit Dissens seitens der Patientinnen in der Niederlassung mit denen in der Klinik vergleicht und mit Blick auf Patientinnen im Klinikalltag feststellt: „Wobei sie sich da wahrscheinlich noch weniger trauen dann was zu sagen. Hinterher, wenn (.) wenn se einen praktisch zum ersten Mal sehen. Vielleicht eben auch noch ’ne Erkrankung haben, die se belastet und dann quasi solche fehlverstandenen Sachen sofort anzusprechen, ist denk’ ich eher seltener. Die haben dann zum Schluss halt ihren Bogen. Wo ausgefüllt werden kann, was ihnen gefallen hat, was ihnen nicht gefallen hat [hm]. Da sind auch schon teilweise solche Sachen sicherlich mit zur Sprache gekommen.“ (G10, niedergelassene Gynäkologin)
Trotz der hier aufgezeigten Optionen der Machtausübung seitens der Patientinnen überwiegt meines Erachtens in der Interaktion das Machtpotential de*r Gynäkolog*in, was eine Unterordnung der Patientin unter diese und ihre, auch mit Blick auf den eigenen Umgang mit arbeitsbezogenen Emotionen getroffenen Entscheidungen, wahrscheinlicher macht.
Konsequenzen des Ausbalancierens für Gynäkolog*e und Patientin | 193
Somit habe ich in diesem Kapitel 5 die Konsequenzen beschrieben, welche sich aus der Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen sowie den zu deren Aufrechterhaltung angewendeten Strategien empirisch nachzeichnen lassen. Hierbei wird die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht von medizinischer Fachlichkeit und Emotionalität aufrechtzuerhalten, erstens durch zwei Bedrohungsszenarien verschärft. Jene ergeben sich aus den negativen Folgen, die ein sich zu viel einlassen oder sich zu wenig einlassen haben kann. Zweitens erleben die Gynäkolog*innen das erfolgreiche Aufrechterhalten eines Gleichgewichtes als positiv und emotional befriedigend. Und drittens ist eine direkte Folge aus den zum Aufrechterhalten des Gleichgewichts eingesetzten Strategien, insbesondere den Strategien der Grenzziehung, dass die Gynäkolog*innen ihre machtvollere Position im Interaktionsgefüge Gynäkolog*e-Patientin nutzen, um eben jenes Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Dabei steht im Zweifel ihr eigenes Wohlergehen vor dem der Patientin. Setzt man nun diese Konsequenzen in Bezug zu Kontext, Phänomen, ursächlichen Bedingungen, Strategien und intervenierenden Bedingungen, welche bereits in den vorhergehenden Kapiteln diskutiert wurden, so ergibt sich die in Darstellung 15 präsentierte Gesamtgrafik für den empirischen Teil.
Umgang mit Patientinnen (Kap. 3.2)
• Organisationsformen gynäkologischer Arbeit • Schweigepflicht als gesetzl. Regelung • Individuelle, organisationale und professionelle Gefühls(darstellungs)regeln • Professionsmerkmale
Intervenierende Bedingungen (Kap. 4) ermöglichen/ begrenzen die Strategien:
Emotionsneutrale Medizin (Kap. 3.1)
• Die emotionsneutrale Medizin trifft auf die Patientin als Mensch • Emotionen sind wichtig, aber auch belastend • Gynäkolog*innen zwischen Selbstsorge und Sorge für Andere
Drei Widerspruchspaare als ursächliche Bedingungen (Kap. 3.4):
• Grenzziehungsstrategien: o Emotionsbegrenzung in der Interaktion o (emotionale) Trennung von Arbeit und Leben o Emotionsvermeidung durch Delegation • Strategien der Nähe • Sich anderen mitteilen
Strategien der Gynäkolog*innen (Kap. 4):
Balance zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen: individuelles Gleichgewicht (Kap. 3.3)
• Gynäkologie als Teil der medizinischen Profession • Organisationsformen gynäkologischer Arbeit (z.B. Niederlassung, Klinik) • Gynäkologische Arbeitstätigkeiten • Bandbreite der erlebten Emotionen
Kontext Gynäkologie (Kap. 2):
• Gleichgewicht muss im Anblick zweier Bedrohungsszenarien gehalten werden • Gelingender Umgang: Gynäkolog*innen erleben sich als kompetent, authentisch, ausgeglichen und gesundbleibend • Machtungleichgewicht im Ärzt*in-PatientinnenVerhältnis (Machtdurchsetzung Gynäkolog*in)
Konsequenzen des Ausbalancierens (Kap. 5):
194 | Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
Darstellung 15: Das Kodierparadigma unter Hinzunahme der Konsequenzen als Gesamtübersicht über die empirischen Ergebnisse
6
Schlussbetrachtung
Zum Abschluss dieser Arbeit werde ich zunächst den bisherigen Gang der Untersuchung und die empirischen Ergebnisse mit Blick auf die eingangs formulierte Fragestellung zusammenfassen (Kapitel 6.1). Danach werde ich diskutieren, welcher Beitrag hiermit zur organisationswissenschaftlichen Debatte um Emotionsmanagement geleistet wird (Kapitel 6.2). Die Diskussion der Begrenzungen dieser Arbeit folgt in Kapitel 6.3. Sodann schließt die Arbeit mit einem Ausblick (Kapitel 6.4), in dem ich besonders vielversprechende Ansatzpunkte für weitere Forschungen hervorhebe sowie praxisrelevante Implikationen benenne.
6.1 ZUSAMMENFASSUNG Der Ausgangspunkt dieser Arbeit liegt in der organisationswissenschaftlichen Debatte um Emotionsmanagement, welche derzeit von der Psychologie dominiert wird. Emotionsmanagement meint dort im engeren Sinne Emotionsarbeit, bei der Beschäftigte mittels Strategien wie dem Tiefen- und Oberflächenhandeln sensu Hochschild die emotionalen Darstellungsregeln ihrer Arbeitgeber*innen befolgen. Dabei wird auch untersucht, in welcher Intensität Emotionsarbeit gefordert ist und welche primär individuellen Konsequenzen sich hieraus (z.B. gesundheitlich) ergeben. Weiterhin werden ‚Emotionsregulation‘ bzw. ‚Coping‘ als Strategien des Emotionsmanagements ins Feld geführt. Diese individualpsychologischen Antworten erscheinen für ein organisationswissenschaftliches Phänomen unbefriedigend und zu kurz gegriffen (vgl. Kapitel 1.1). So lautet die Fragestellung dieser Arbeit: Zeichnet sich ein berufliches Emotionsmanagement nicht durch mehr als die oben beschriebenenen Aspekte aus? Insbesondere bemängele ich an der aktuellen Stoßrichtung der Forschung zu Emotionsmanagement, dass die überindividuellen Voraussetzungen für ein spe-
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zifisches Emotionsmanagement und die Folgen eines solchen unzureichend berücksichtigt werden. Ich bin überzeugt, dass eine arbeits- und organisationssoziologische Perspektive zu einem umfassenderen Verständnis von Emotionsmanagement, seinen sozialen Voraussetzungen und Folgen beitragen kann, indem neben dem handelnden Akteur auch die Ebene der Organisation(en), etwa als sozialisierende Instanz, sowie weitere, gesellschaftliche Einflüsse einbezogen werden. Um den Mehrwert einer solchen Perspektive zunächst exemplarisch zu entfalten, habe ich in dieser Arbeit die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung zu Voraussetzungen, Funktionsweise und Folgen des Emotionsmanagements bei Gynäkolog*innen dargestellt. Das gynäkologische Arbeitsgebiet stellt einen wertvollen Untersuchungsgegenstand für diese Thematik dar, weil es sich sowohl um ein sehr emotionsintensives als auch gleichzeitig mit gesellschaftlichen Tabus beladenes Arbeitsgebiet handelt. Weiterhin ist die Gynäkologie als ein Teilbereich der Medizin analytisch interessant, weil über die Spezifika eines Emotionsmanagements innerhalb der klassischen Professionen wie der Medizin bislang wenig bekannt ist. Methodologisch erfolgte die empirische Untersuchung mit der Grounded Theory Methodologie sensu Strauss und Corbin, wodurch ich eine symbolischinteraktionistische Position eingenommen habe. Deren Stärke liegt in der Fokussierung auf Handlungs- und Interaktionsprozesse auf der Mikro- und Mesoebene, von welchen aus auf allgemeine gesellschaftliche Logiken geschlossen wird. Die Herleitung der oben benannten Forschungslücke ist, gemeinsam mit den gerade angerissenen methodologischen Grundlagen und dem methodischen Vorgehen innerhalb dieser empirischen Arbeit, Bestandteil des ersten Kapitels. Die nachfolgenden Kapitel 2 bis 5 stellen die Ergebnisse der Untersuchung der Funktionsweise, Vorausetzungen und Folgen des Emotionsmanagements bei Gynäkolog*innen dar. Inhaltlich orientiert sich ihr Aufbau am in der Grounded Theory Methodologie nach Strauss und Corbin verankerten Kodierparadigma48, um der Logik des gynäkologischen Umgangs mit Emotionen gerecht zu werden. Nachfolgend will ich diese Ergebnisse jedoch entlang der drei Punkte Funktionsweise des gynäkologischen Emotionsmanagements, seine Voraussetzungen hierfür und Folgen eines solchen zusammenzufassen, um sie pointiert mit meiner Fragestellung in Verbindung zu setzen.
48 Obgleich jenes mit den Kategorien Kontext, Phänomen, ursächliche Bedingungen, Strategien, intervenierende Bedingungen und Konsequenzen an und für sich eine die empirische Analysearbeit leitende Heuristik darstellt, hat es sich hier auch zur Organisation und Präsentation der Forschungsergebnisse als hilfreich erwiesen.
Schlussbetrachtung | 197
Funktionsweise des gynäkologischen Emotionsmanagements Bezüglich der Funktionsweise des gynäkologischen Emotionsmanagements zeige ich, dass das Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen im Kern die Antwort auf die Frage gibt, wie Gynäkolog*innen der Umgang mit Emotionen gelingt (vgl. Kapitel 3.3). Dieses Gleichgewicht ist das Ergebnis eines professionellen Sozialisationsprozesses, in dem angehende Mediziner*innen zunächst im Studium eine emotionsneutrale Medizin kennenlernen (medizinische Fachlichkeit) und dann den Umgang mit Emotionen in der praktischen Ausbildung erfahren, welcher bereits durch das Primat der emotionsneutralen Medizin geprägt ist. Das so entstehende Gleichgewicht habe ich in der empirischen Analyse in zwei Ausprägungsformen unterschieden: Gynäkolog*innen können sich distanziert einlassen, oder sie lassen sich auf eigene Emotionen und die Anderer ein. Wenn sich Gynäkolog*innen auf die Emotionen und Bedürfnisse ihrer Patientinnen einlassen, dabei aber selbst nicht besonders emotional involviert sind, spreche ich von ‚sich distanziert einlassen‘. Gynäkolog*innen können also Emotionen zeigen, ohne sich jedoch selbst stark von diesen gezeigten Emotionen betroffen oder beeinträchtigt zu fühlen. Sich solcherart einzulassen wird von den Gynäkolog*innen als wichtig erachtet, um zum einen den Erfolg einer Behandlung sicherzustellen, indem die Vertrauensbeziehung aufrecht erhalten wird und zugleich eine unnötige Diagnostik, etwa im Falle psychosomatischer Beschwerden, vermieden werden kann. Zum anderen wird die eigene ärztliche Rolle auch als wichtige soziale Instanz wahrgenommen, in der ein*e Ärzt*in ähnlich wie ein Pfarrer eine Vertrauens- und Ansprechperson für allgemeine Belange des Lebens ist. Trotzdem ist die Distanz zur Patientin und ihren Gefühlen hier von hoher Bedeutung, um nicht selbst Schaden zu nehmen und auch weiterhin für alle Patientinnen da sein zu können. In der Literatur ist diese Form, sich distanziert einzulassen, unter Stichworten wie ‚detached concern‘ (z.B. Lief/ Fox 1963, Fox 2006, Lampert/ Unterrainer 2017) oder objektiver Distanziertheit dokumentiert. Diese Haltung deckt sich auch mit den gesellschaftlichen Erwartungen an Ärzt*innen. Die hier untersuchten Gynäkolog*innen, welche sich distanziert einlassen, berichten jedoch gleichzeitig von den Grenzen dieser Haltung. So gibt es bestimmte Situationen in ihrem Arbeitsalltag, in denen es ihnen nicht gelingt, eine objektive Distanziertheit zu Emotionen, Bedürfnissen oder allgemein dem Schicksal einer Patientin aufrecht zu erhalten. Sie lassen sich dann emotional ein, sofern sie dem nicht explizit Strategien entgegensetzen, um sich weiterhin zu distanzieren. Ein Grenzfall des Sich-Distanziert-Einlassens ist die professionelle Distanz. Mit diesem Begriff markiere ich eine Haltung, die unter Rückgriff auf die professionelle Ausbildung dazu führt, dass bestimmte Ereignisse erst gar
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nicht in den Möglichkeitsbereich geraten, Emotionen hervorzurufen, sondern durchweg neutral aufgenommen werden können ohne weiter hinterfragt zu werden. Hierzu gehört zum Beispiel für einige Gynäkolog*innen die intime körperliche Untersuchung von Frauen, welche als ausschließlich medizinische Prozedur gerahmt unhinterfragt als emotionsneutral, also etwa frei von Scham, Tabus oder sexuellen Vorstellungen, wahrgenommen wird. In der Literatur bislang kaum beachtet sind die Situationen, in denen Mediziner*innen wie Gynäkolog*innen sich einlassen, und zwar auf ihre eigenen Gefühle und/ oder die Anderer. Diese Ausprägungsform spielt aber in der vorliegenden Empirie eine wichtige Rolle. Dabei habe ich vier Formen des Sich Einlassens unterschieden: sich emotional einlassen, sich für sich selbst reflektierend einlassen, sich einlassen müssen und sich außerhalb der Arbeit fachlichmedizinisch einlassen. Jede Unterform beinhaltet eine emotionale Komponente, um als ‚sich einlassen‘ im Sinne dieser Arbeit eingeordnet zu werden. Dennoch unterscheide ich noch einmal sich emotional einlassen, um Situationen hervorzuheben, in denen für die Gynäkolog*innen Emotionen im Vordergrund stehen und ihnen auch als wichtiger Bestandteil der Situation bewusst sind. Sich emotional einzulassen geschieht in vielen verschiedenen Situationen und betrifft verschiedenste diskrete Emotionen. Allerdings sind es vor allem Situationen, die mit Patientinnen zu tun haben, welche ein hohes emotionales Einlassen hervorrufen können – wobei die beschriebenen Situationen meist um die eigenen Gefühle der Gynäkolog*innen kreisen statt um jene der Patientinnen. Das Sichemotional-Einlassen kann automatisch, also ohne explizites Zutun seitens der Gynäkolog*innen auftreten, aber auch mit Tiefen- oder Oberflächenhandeln verbunden sein. Auch bei dem sich für sich selbst reflektierend einlassen spielt eine emotionale Komponente eine wichtige Rolle, im Unterschied zur ersten Unterform steht hierbei aber die Reflektion über eine Situation und die damit verbundenen Emotionen im Vordergrund. Diese kognitive Komponente findet sich ebenfalls in einer Vielzahl verschiedener Situationen, wie zum Beispiel den Entscheidungszwängen von werdenden Eltern, ein Ungeborenes auszutragen oder die Schwangerschaft zu beenden, wenn eine pränatalmedizinische Untersuchung einen positiven Befunden erbracht hat, und der (innerlichen) Positionierung de*r Gynäkolog*in dazu. Im Unterschied zu diesen ersten beiden Unterformen, welche ein Element der Freiwilligkeit des Sich Einlassens beinhalten, enthält das Sich-Einlassen-Müssen ein Element des Zwangs. Dieser kann in der Wahrnehmung der Gynäkolog*innen aus den Anforderungen der Patientinnen oder den organisationalen Darstellungsregeln für bestimmte Situationen entspringen. Schließlich tritt die emotionale Komponente bei der vierten Unterform, dem sich außerhalb der Arbeit fachlich-medizinisch einlassen, am stärksten in den Hinter-
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grund. Trotzdem halte ich sie für relevant, da hier die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben überschritten werden und die Gynäkolog*innen sich außerhalb der Arbeit im Privaten vor allem kognitiv und fachlich-reflektierend, aber durchaus auch emotional getönt mit bestimmten Situationen des Arbeitsalltags (erneut) auseinandersetzen. Auffallend ist, dass diese Unterform für einige Gynäkolog*innen eine Freiwilligkeit beinhaltet und eher als angenehm empfunden wird, während andere sie eher als unangenehm und im Sinne eines ‚Müssens‘ interpretieren. Mit Blick auf die Konstanz des Gleichgewichts finden sich sowohl Gynäkolog*innen, die sich entweder einlassen oder sich distanziert einlassen und sich folglich einem Gleichgewichtszustand zuordnen lassen. Ebenso lassen sich aber auch Gynäkolog*innen finden, die situationsabhängig zwischen beiden Gleichgewichtszuständen wechseln, so dass sich hier keine eindeutigen Aussagen treffen lassen. Insgesamt gilt jedoch, dass die Einnahme einer Haltung (sich einlassen oder distanziert einlassen) in der Regel im Sinne der Aufgabenerfüllung und mit Blick auf das eigene Selbst de*r Gynäkolog*in erfolgt statt zum Beispiel mit Blick auf die Patientin. Unabhängig von der Ausprägungsform des Gleichgewichts nutzen Gynäkolog*innen Strategien, um dieses Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen aufrechtzuerhalten (vgl. Kapitel 4). Klassische Strategien der Emotionsarbeit wie das Oberflächen- und Tiefenhandeln werden zwar auch eingesetzt, andere Strategien erweisen sich jedoch als weitaus gewichtiger und erweitern das Repertoire bislang diskutierter Strategien des Emotionsmanagements deutlich. Im Einzelnen habe ich in dieser Arbeit die besonders relevanten Grenzziehungsstrategien in Strategien der Grenzziehung in der Interaktion (‚Rückzug in die emotionsneutrale Medizin‘ und ‚Direkt kommunizierter Dissens‘), der Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben (‚’ne Klappe zumachen‘ und ‚die eigenen Gefühle aus der Arbeit heraushalten‘) sowie der Grenzziehung durch Delegation unterschieden. Im Vergleich zu den Strategien der Grenzziehung spielen Strategien der Herstellung von Nähe (‚Herstellung von Nähe in der Interaktion‘, ‚Herstellung von (emotionaler) Nähe zwischen Arbeit und (Privat)Leben‘, sowie ‚Emotionsabnahme durch Übernahme von Arbeitsaufgaben‘) eine untergeordnete Rolle. Auch dem Austausch mit Anderen, insbesondere mit anderen Gynäkolog*innen oder anderem medizinischen Personal, kommt im gynäkologischen Emotionsmanagement eine große Rolle zu (sich anderen mitteilen). Diese Strategie wird besonders stark durch die ärztliche Schweigepflicht und den Organisationskontext, in welchem Gynäkolog*innen tätig sind, beeinflusst. Der Organisationskontext wirkt sich zudem über die in Kliniken übliche Form der Hintergrunddienste für hierarchisch höhergestellte Gynäkolog*innen
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beschränkend auf die Trennung von Arbeit und Leben (‚’ne Klappe zumachen‘) aus. Insgesamt weisen die hier diskutierten Strategien über die in der psychologischen Literatur zum Emotionsmanagement diskutierten Strategien (vgl. etwa Gross 1998 oder Hayward/ Tuckey 2011: 108f.) hinaus, da sie nicht auf innerpsychologischen, sondern sozialen Prozessen beruhen. Ich betone folglich die Interaktionsgebundenheit bzw. die Eingebundenheit von Strategien in die soziale Welt: spezifische Interaktionssettings oder Ausprägungen der sozialen Welt bringen spezifische Strategien des Umgangs mit Emotionen hervor. In diesem Sinne sind die vorgestellten Strategien nicht allgemeingültiger Natur, wie es die psychologischen Emotionsregulationsstrategien etwa anstreben, sondern an ihren jeweiligen zeitlichen, organisationalen und gesellschaftlichen Erscheinungskontext gebunden. Diese Überlegung leitet über zu den spezifischen Voraussetzungen für das gynäkologische Emotionsmanagement. Voraussetzungen des gynäkologischen Emotionsmanagements Als zentrale Voraussetzung für das gynäkologische Emotionsmanagement hat sich in dieser Studie der gynäkologische Sozialisationsprozess herauskristallisiert (vgl. Kapitel 3.1 und 3.2). Die Entwicklung eines Gleichgewichtes zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen ist der letzte Schritt eines dreischrittigen Sozialisationsprozesses. Den ersten Schritt bildet das Studium der Medizin, welches spätere Gynäkolog*innen absolvieren. Dieses Studium dient hauptsächlich dem Erwerb medizinischen Wissens und behandelt kaum eigene Emotionen, die Emotionen Anderer oder den Umgang mit beidem. Für Gynäkolog*innen, die in den 1970er bzw. 1980er Jahren studierten, erschöpft sich die im Studium vermittelte Relevanz von Emotionen im Erkennen und Behandeln psychischer Erkrankungen. Neuere Studienprogramme beinhalten zwar umfangreichere Veranstaltungsangebote, die den Ärzt*in-Patient*innen-Umgang auch interaktiv vermitteln sollen. Dennoch herrschen bei den interviewten jüngeren Gynäkolog*innen Zweifel an der Wirksamkeit dieser Veranstaltungen vor. Damit korrespondiert, dass über die Jahrgänge hinweg Interesse an einer stärkeren Vorbereitung auf den Umgang mit eigenen Emotionen und Emotionen Anderer geäußert wird, gleichzeitig jedoch als im Studium nicht realisierbar eingestuft wird. Das medizinische Studium vermittelt den angehenden Mediziner*innen folglich etwas, was ich hier als emotionsneutrale Medizin bezeichnet habe. Dies deckt sich mit den Befunden anderer Autor*innen (so z.B. Nettleton/ Burrows/ Watt 2008, Smith/ Kleinman 1989, klassisch: Parsons 1951). Problematisch ist in diesem Zusammenhang der vorschnelle Schluss, dass emotionsneutral auftretende Mediziner*innen nicht mit Emotionen umzugehen hätten, denn er führt dazu,
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dass die Emotionen von Mediziner*innen und ihr Umgang damit ein nicht weiter zu beachtendes und untersuchendes Thema darstellen und mündet in einer diesbezüglich kaum ausgeprägten Forschungslage. Den zweiten Schritt zu einem Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen bildet die praktische Arbeitstätigkeit der angehenden Gynäkolog*innen. Diese beginnt bereits während des Studiums in Form von Praktika und intensiviert sich mit dem Ende des Studiums und dem Beginn der Ausbildung zu*r Fachärzt*in für Gynäkologie. Zunächst fühlen sich die angehenden Gynäkolog*innen (im Rückblick) durch ihr Studium unzureichend auf den Umgang mit eigenen Gefühlen und denen Anderer vorbereitet. Sie erlernen ihn in der praktischen Tätigkeit in Form von Lernen durch Erfahrungen. Dabei lernen sie im Kontakt mit lebenden und fühlenden Patient*innen insbesondere die Rolle und Bedeutung von Emotionen im Ärzt*innen-Patientinnen-Kontakt kennen und entwickeln ein Gespür für die verschiedenen Typen von Patientinnen. Sie lernen weiterhin, ihre Emotionen je nach professionellen, organisationalen und eigenen Darstellungsregeln entweder zum Ausdruck zu bringen oder aber zu verbergen – Emotionsarbeit im engeren Sinn. Zudem lernen die Gynäkolog*innen mit Blick auf die eigene Gefühlswelt, emotional bedeutsame Arbeitssituationen einzuordnen sowie mittels Grenzziehungen Stress und mit ihm einhergehende Emotionen zu bewältigen oder zu reduzieren. Anstoßpunkte, um den Umgang mit Emotionen zu lernen, sind neben dem Beobachten von Kolleg*innen und anderem medizinischen Personal sowie als stressreich und/ oder grenzüberschreitend erlebten Erfahrungen das Ziel, die eigene Arbeit an und mit den Patientinnen zu verbessern. Außerdem wollen die angehenden Gynäkolog*innen den Umgang mit den Emotionen, mit denen sie in ihrer täglichen praktischen Arbeit konfrontiert sind, erlernen, um aus einer Sorge um sich selbst heraus negative körperliche und seelische Konsequenzen zu vermeiden, welche sie mit einem unzureichenden Lernprozess in Verbindung bringen. Das Lernen erfolgt durch Nachahmung von und/ oder den Austausch mit Anderen ebenso wie durch eigenes Ausprobieren und das Nutzen von entsprechenden Weiterbildungsangeboten. Es wird erschwert dadurch, dass Probleme im Umgang mit den eigenen Emotionen sowie denen Anderer mit Tabus belegt sind. In der Folge wird vieles durch eigenes Ausprobieren oder Weiterbildungen weitab vom Kolleg*innenkreis gelernt. Die (bewusste oder unbewusste) Auswahl der Lernstrategien verändert sich zudem im Verlauf der Berufstätigkeit. Gerade zu Beginn sind bestimmte Lernschritte institutionalisiert wie z.B. das ‚Mitlaufen‘ bei von erfahrenen Gynäkolog*innen geführten Ärzt*in-Patientinnen-Gesprächen, oder es werden zunächst Patientinnengespräche allgemeiner Art allein durchgeführt werden und schwierigere Gespräche erst zu späteren Zeitpunkten allein über-
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nommen. Auch die Organisationsform spielt hier eine Rolle: eine Einzelniederlassung etwa erlaubt es nicht mehr, andere Kolleg*innen in ihrem täglichen Umgang mit Emotionen zu beobachten, wodurch den anderen Strategien automatisch mehr Bedeutung zufällt. Und zu guter Letzt prägen auch die eigenen Lebenserfahrungen den Umgang mit berufsbedingten emotionalen Situationen. Für die Gynäkolog*innen ist es aus drei Gründen bedeutsam, in diesem zweiten Schritt den Umgang mit Emotionen zu erlernen. Er ermöglicht ihnen erstens, insbesondere in Anbetracht der beschriebenen Sorge vor negativen gesundheitlichen Folgen bei nicht ausreichendem Lernprozess, langfristig gesund zu bleiben. Zweitens werden auch die oben benannten Strategien zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts erlernt, durch die der eigene emotionale Zustand positiv beeinflusst werden kann. Und drittens führt das Erlernen des Umgangs mit Emotionen überhaupt erst dazu, dass die Ausübung des Berufs dauerhaft möglich ist und ermöglicht außerdem ein aus Sicht der Gynäkolog*innen gelungenes Verhältnis zu ihren Patientinnen (vgl. Kapitel 3.2). Neben dem Sozialisationsprozess, der zu einem Gleichgewicht von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen führt, sind die ursächlichen Bedingungen wichtig, denn sie beeinflussen die jeweilige Ausprägung eines solchen Gleichgewichts. Ich habe sie als drei Widerspruchspaare innerhalb der gynäkologischen Arbeitstätigkeit formuliert, die jede*r Gynäkolog*e für sich in einen zumindest temporären Einklang bringen muss (vgl. Kapitel 3.4). Das erste Widerspruchspaar stellt die im Studium vermittelte emotionsneutrale Medizin der Patientin als Mensch gegenüber. Der Widerspruch manifestiert sich darin, dass nach den professionellen Regeln alle Patientinnen auf die gleiche, emotionsneutrale Art und Weise betrachtet und behandelt werden sollten. Diesem Bild steht aber oftmals das Bild einer Patientin als Mensch gegenüber, welches mehr umfasst als ‚nur‘ Symptome und Diagnostik. Insbesondere bricht das erstere Bild bei Patientinnen, die den Gynäkolog*innen in besonderer Weise sympathisch sind, aber auch, weil Gynäkolog*innen zum Teil den Anspruch an sich selbst haben, mehr als nur eine ärztliche Rolle einzunehmen und in eine umfassendere Sozialbeziehung eintreten wollen. Letzteres wird mitunter ebenfalls von den Patientinnen selbst eingefordert. Gynäkolog*innen müssen zu und zwischen diesen beiden Bildern eine für sich akzeptable Position finden, und zwar unter Berücksichtigung des zweiten Widerspruchspaares: Emotionen sind einerseits wichtig (Bild der Patientin als Mensch), andererseits können sie aber auch belastend wirken. Dabei ist den Gynäkolog*innen das Zeigen und Teilen von Emotionen durchaus wichtig, und sie betrachten Emotionen als einen relevanten Bestandteil der Beziehung zwischen Ärzt*in und Patientin. Vielfach ist das Einbeziehen von Emotionen in die Interaktion Teil des beruflichen Selbstbildes. Dass Emotionen dabei
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gleichzeitig als potentiell belastend für d*ie Gynäkolog*in (kaum je für die Patientin) begriffen werden, begründet diesen zweiten, zu lösenden Widerspruch. Das Belastungspotential manifestiert sich gerade bei Patientinnen, denen Sympathie entgegengebracht wird und die z.B. an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden. Häufig wird ein damit verbundener Leidensweg über lange Zeit begleitet bzw. sind die Patientinnen den Gynäkolog*innen bereits seit längerer Zeit bekannt. Neben der Sympathie wirken sich auch die für Patientinnen empfundene Verantwortung sowie Gefühle der Ohnmacht belastend aus. Letztere treten dann besonders auf, wenn eine Arbeitssituation oder -tätigkeit nicht selbstgewählt ist bzw. als nicht veränderbar wahrgenommen wird, so dass die damit verbundenen Gefühle nicht vermieden werden können. Aus dem Widerspruch zwischen der Wichtigkeit von Emotionen und ihrer potentiell belastenden Wirkung erwächst der dritte Widerspruch zwischen einer Sorge für sich Selbst und der Sorge für Andere. Einerseits muss nämlich die Sorge für die Patientinnen zugunsten einer ausreichenden Sorge für sich Selbst begrenzt werden (und hier auch darauf geachtet werden, nicht zu sehr mit belastenden Emotionen umgehen zu müssen). Und gleichzeitig manifestiert sich die Sorge für Andere (hier: die Patientinnen) zum Beispiel in der Relevanz von Emotionen in der Ärzt*in-Patientin-Beziehung als Bestandteil der gynäkologischen Arbeit und des beruflichen Selbstbildes. So muss eine gelingende Balance zwischen beiden Sorgeformen gefunden werden, um weiterhin für die Patientinnen da sein zu können (Sorge für Andere), ohne dabei selbst physisch oder psychisch Schaden zu nehmen (Selbstsorge). Eine dritte Voraussetzung für das gynäkologische Emotionsmanagement stellt neben dem Sozialisationsprozess und den zu bearbeitenden Widerspruchspaaren der weitere Kontext im Sinne von Rahmenbedingungen dar, in dem das berufliche Emotionsmanagement stattfindet (vgl. Kapitel 2). Hier erweisen sich die Kontextbedingungen ‚Medizin als Profession‘, ‚Arbeitstätigkeiten‘ und ‚Organisationsform‘ sowie ‚Bandbreite der Emotionen‘ als empirisch relevant. Zunächst zählt die Gynäkologie als ein Teilgebiet der Medizin zu den klassischen Professionen. Es erweist sich, dass der Umgang mit Emotionen von verschiedenen, für Professionen typischen Merkmalen wie einer langen Ausbildungsphase oder der hohen Relevanz akademischen Wissens geprägt ist. Beides beeinflusst, wie oben beschrieben, den Sozialisationsprozess zu einem spezifischen Umgang mit Emotionen sowie die eingesetzten Strategien zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts von medizinischer Fachlichkeit (vgl. ausführlicher zur Bedeutung dieses Befundes Kapitel 6.2). Außerdem umfasst das Arbeitsgebiet der Gynäkologie spezifische Arbeitstätigkeiten, durch die sich die Gynäkologie von anderen medizinischen Teilgebieten ebenso wie von anderen, ein Emotionsmanagement erfordernden Berufen unterscheidet. Die Arbeitstätigkeiten habe ich in
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die Bereiche ‚Behandeln von Patientinnen‘, ‚Schreibarbeiten‘, ‚Führungstätigkeiten‘ und ‚sonstige Arbeitstätigkeiten‘ gegliedert und dargestellt. Diese Arbeitstätigkeiten sind eingebettet in die Zweiteilung der Gynäkologie in einen eigentlich gynäkologischen Teil, in dem Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane behandelt werden, und einen geburtshilflichen Teil, der sich mit der Betreuung und Entbindung von Schwangeren befasst. Beide Teilbereiche sind in der modernen westlichen Welt tabubeladen, und weisen zudem die für die Medizin allgemein typische Nähe zu Leben und Tod in hoher Intensität auf. Diese Intensität unterscheidet sich in ihrem Auftreten jedoch nach der Organisationsform gynäkologischer Arbeit, denn sie ist innerhalb von Niederlassungen geringer als in Kliniken. Ich unterscheide im Einklang mit dem empirischen Sample die Organisationsform ‚Klinik‘ von der Organisationsform ‚Niederlassung‘, wobei letztere sich in die beiden Unterformen ‚Einzelpraxis‘ und ‚Gemeinschaftspraxis‘ unterteilt. Die verschiedenen Organisationsformen gehen nicht nur mit unterschiedlichen Intensitäten in den Emotionen einher, die bestimmte Arbeitstätigkeiten begleiten, sondern unterscheiden sich weiterhin mit Blick auf die formale Beschäftigungsform, das personelle Umfeld, die Struktur und Dauer der Arbeitszeit sowie das zu bewältigende Arbeitspensum. Für alle vier Größen habe ich jeweils die verschiedenen Organisationsformen miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen. Zu guter Letzt zeichnet sich die Gynäkologie durch eine spezifische Bandbreite und Qualität an Emotionen aus. Dabei habe ich zunächst entlang der Literatur zu Emotionen den Begriff definiert, und schließe mich Brehms (2001: 206) Definition von Arbeitsemotionen sowie der entwicklungsorientierten Klassifizierung von Einzelemotionen nach Zinck und Newen (2008 bzw. Newen/ Zinck 2008) an. Die Bandbreite der im empirischen Material repräsentierten Emotionen ordne ich entlang des Klassifizierungsschemas von Zinck und Newen und führe dann das Auftreten und die Erscheinungsformen von den drei Einzelemotionen Angst, Empathie und Mitleid ausführlich aus, da diese für die Gynäkolog*innen besonders bedeutsam sind. Insgesamt lässt sich im Rahmen dieser Arbeit also der Einfluss der Kontextbedingungen ‚Medizin als Profession‘ und ‚Organisationsform‘ als bedeutsam für das Emotionsmanagement herausarbeiten, während zu den beiden anderen Punkten, den ‚Arbeitstätigkeiten‘ und der ‚Bandbreite und Qualität an Emotionen‘, weitere Forschung nötig ist, um zu eindeutigen Aussagen zu gelangen. Folgen des gynäkologischen Emotionsmanagements Aus dem Gleichgewicht von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen ergeben sich drei spezifische Folgen (vgl. Kapitel 5). Erstens werden das erlangte
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Gleichgewicht und die auf seine Aufrechterhaltung gerichteten Strategien immer von dem Bewusstsein um eine Gratwanderung zwischen zwei negativ besetzten Szenarien begleitet und vorangetrieben: nämlich zum einen dem Bedrohungsszenario, sich zu sehr auf eigene Emotionen und die Anderer einzulassen und in der Folge körperlich und oder psychisch zu erkranken. Und zum anderen ‚lauert‘ auf der anderen Seite des Grates die Bedrohung, sich zu wenig auf eigene Emotionen und die Anderer einzulassen, und dann in einen negativ wahrgenommen, roboterähnlichen Arbeitsstil zu verfallen, welcher eigene Gefühle und die Anderer negiert. Eine weitere Folge ist zweitens, dass die Gynäkolog*innen sich selbst als positiv, kompetent und authentisch wahrnehmen, wenn es ihnen gelingt, ein Gleichgewicht zu bewahren, welches keinem der beiden Bedrohungsszenarien anheim fällt. Durch die lange, auch emotionale, Sozialisationsphase der Gynäkolog*innen (vgl. Kapitel 3) verinnerlichen sie ihren Umgang mit Emotionen (sich einlassen oder sich distanziert einlassen) derart, dass er ihnen als authentisch erscheint und folglich ohne weitere Legitimationen unhinterfragt vollzogen werden kann. Das Gefühl der Kompetenz entspringt auch der aktiven Kontextsteuerung, also dem aktiven Nutzen von Gestaltungspotentialen der eigenen Arbeit, um diese in ihren Abläufen an eigene emotionale Bedürfnisse anzupassen. In der Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin manifestiert sich dieses positive Selbstbild eines gelingenden Umgangs mit Emotionen prototypisch in der zufriedenen Patientin. Während diese ersten beiden Folgen hauptsächlich auf das Erleben der Gynäkolog*innen gerichtet sind, arbeite ich drittens heraus, wie sich der Einfluss des gynäkologischen Emotionsmanagements auf die Patientinnen auswirkt, denn das Verhältnis zwischen Gynäkolog*in und Patientin weist eine emotionale Machtasymmetrie auf. Dabei ist die Beziehung zwischen Professionelle*r und Klient*in grundsätzlich machtasymmetrisch zugunsten de*r Professionellen. Dies wurde in der Professionsliteratur ausführlich diskutiert. Allerdings kann ich zeigen, dass sich dieses Machtungleichgewicht auch auf die emotionale Ausgestaltung der Beziehung bezieht (vgl. Kapitel 5.3). Gleichzeitig zeigt sich anhand dieser dritten Folge am deutlichsten der Mehrwert einer soziologisch orientierten organisationswissenschaftlichen Emotionsmanagementperspektive, da Machtaspekte in der bisherigen Forschung zum Umgang mit Emotionen als Folge von ebendiesem unterbelichtet bleiben.
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6.2 DISKUSSION DER ZENTRALEN ERGEBNISSE UND BEITRÄGE Wie ich in der Zusammenfassung aufgezeigt habe, lässt sich mit Blick auf die Funktionsweise, Voraussetzungen und Folgen von Emotionsmanagement mehr aussagen, als an Einflussfaktoren im Großteil der aktuellen Forschung berücksichtigt wird. Nachfolgend werde ich die Ergebnisse der hier vorgestellten empirischen Analyse zum Emotionsmanagement bei Gynäkolog*innen anhand von vier Punkten diskutieren, die mir für die weitere Erforschung des Emotionsmanagements besonders vielversprechend und anschlussfähig erscheinen. Sie verweisen nicht nur auf zentrale Ergebnisse meiner Forschung, sondern markieren gleichzeitig auch die Punkte, an denen ich zu der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion zum Emotionsmanagement in Organisationen mit neuen Einsichten beitragen kann. Diese sind: (1) Besonderheiten im Emotionsmanagement, die sich aus der Profession Medi-
zin ergeben (2) Strategien des Emotionsmanagements, welche über bisherige Befunde hinausreichen (3) Verstärkung der Machtperspektive durch Hinzunahme einer machttheoretischen Brille (4) Emotionsmanagement zwischen Gesundheitsgefährdung und Entwicklungspotential (1) Professionsbezogene Besonderheiten im Emotionsmanagement. In dem Artikel „Emotion and Organizing“, erschienen im „Handbook of Organization Studies“, bemängelt Fineman (2006: 678), dass der bis dato vorherrschende Fokus auf das Emotionsmanagement bei eher gering qualifizierter Dienstleistungsarbeit bislang den Blick darauf verstellt habe, dass auch Professionsmitglieder Emotionsarbeit ausüben. Da erstere Berufe in der Regel durch strikte organisationale Darstellungsregeln und hierarchische Kontrolle gekennzeichnet sind, lohnt ein Blick auf die Besonderheiten von professioneller Arbeit. Die vorliegende Arbeit kann am Beispiel der Gynäkologie als einem Untergebiet der klassischen Profession Medizin einen Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke erbringen. Dabei sehe ich die Besonderheiten eines professionellen Emotionsmanagements insbesondere im professionellen Sozialisationsprozess, in der Wirkung von professionellen Darstellungsregeln und in der Machtasymmetrie zwischen Professionelle*r und Klient*in.
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Die Besonderheit des professionellen Sozialisationsprozesses gegenüber angelernten oder in Ausbildungen vermittelten Berufen besteht zum einen in der Länge der Ausbildungsphase. In der Medizin folgt zum Beispiel auf ein mehrjähriges Studium eine ebenfalls mehrjährige Assistenzzeit, in der sich die Mediziner*innen in der Regel auf ihre Facharztprüfungen vorbereiten. Diese lange Ausbildungsphase führt zumindest für die Gynäkolog*innen dazu, dass sie zunächst eine emotionsneutrale Medizin kennenlernen und sich auf den Erwerb von Fachwissen konzentrieren. Im weiterhin geschützten Raum der Praxiskontakte in Praktika und der Assistenzzeit erlernen sie unter dem Primat der emotionsneutralen Medizin im Kontakt mit lebenden und fühlenden Patientinnen den Umgang mit den eigenen Emotionen und denen Anderer. Bestimmte, besonders schwierige emotionale Situationen werden den Gynäkolog*innen teilweise gar erst nach Abschluss der Assistenzzeit übertragen. Somit haben wir es hier mit einer mindestens zehn Jahre andauernden Ausbildungszeit zu tun, während der der Umgang mit Emotionen nach und nach in einem institutionell festgelegten Weg erlernt wird (vgl. Kapitel 3). Von einem solchen Weg lässt sich durchaus sprechen, auch wenn, wie ich in Kapitel 3.2 aufgezeigt habe, der konkrete Umgang mit Emotionen vielfach ein Selbstlernprozess ist: das institutionelle Setting, welches durchlaufen werden muss, setzt hier dennoch einen Rahmen. Neben der Länge der Ausbildungsphase stellt zum anderen das Durchlaufen verschiedener Organisationen im Sozialisationsprozess eine Besonderheit der professionellen Sozialisation dar. Neben der medizinischen Fakultät und verschiedenen Lehrkrankenhäusern, in denen Praktika absolviert werden, kommt dem Krankenhaus, in dem die Assistenzzeit absolviert wird, eine große Rolle zu. Es lässt sich annehmen, dass trotz des gemeinsamen medizinischen Hintergrundes jede dieser Organisationen eine spezifische Organisationskultur aufweist, die sich von den anderen unterscheidet und somit auch einen – kleineren oder größeren – Einfluss auf das Erlernen des Umgangs mit Emotionen hat. Dennoch findet der gesamte Sozialisationsprozess innerhalb der Profession Medizin statt und wird, wie oben bereits beschrieben, von dieser kulturell geprägt und angeleitet (vgl. Kapitel 3). Beide Aspekte, sowohl das Durchlaufen verschiedener Organisationen innerhalb des prägenden Sozialisationsprozesses für den gynäkologischen Umgang mit Emotionen, als auch das Durchlaufen dieser Organisationen unter der institutionell-kulturellen Rahmung durch die Profession Medizin, unterscheidet die Ausprägung eines professionellen Emotionsmanagements von der emotionsbezogenen Sozialisation in den bislang im Mittelpunkt der Analysen zu Emotionsmanagement stehenden Dienstleistungsberufen. Eine weitere Besonderheit im professionellen Emotionsmanagement liegt in der Natur der Darstellungsregeln begründet. Emotionsarbeit in den Dienstleis-
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tungsberufen zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass die Organisationen ihren Beschäftigten Regeln vorgeben, wie sie wann welche Emotionen zu zeigen haben. So wurden die Stewardessen in Hochschilds (2006 [1983]) klassischer Studie beispielsweise trainiert, immer Freundlichkeit und Geduldigkeit an den Tag zu legen. Es handelt sich hierbei um sogenannte organisationale Darstellungsregeln. Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass diese organisationalen Darstellungsregeln für die Gynäkolog*innen eine untergeordnete Rolle spielen. Die in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen nehmen lediglich den an die Patientinnen ausgeteilten Fragebogen zur Zufriedenheit als ein Mittel der Kontrolle ihres (auch) emotionalen Umgangs mit Patientinnen war. Daraus leiten sie die Regel ab, dass sich das Krankenhausmanagement einen zuvorkommenden, freundlichen Umgang mit Patientinnen wünscht, welcher die Patientinnen animiert, die Klinik erneut aufzusuchen oder weiterzuempfehlen (vgl. Kapitel 2.3.2). Für die niedergelassenen Gynäkolog*innen, welche im vorliegenden Sample auch selbst Praxisinhaber*innen sind, wären organisationale Regeln ohnehin gleichbedeutend mit selbstgesetzten Regeln: sie sind die oberste hierarchische Instanz in ihren Praxen und können die Regeln zum Umgang mit Patientinnen selbst setzen. Dies tun sie zum Teil auch und nutzen so ihren Gestaltungsspielraum als ‚eigene Chef*innen‘. Doch da dies nun eben selbstgesetzte Regeln sind, üben sie nicht so einen starken externen Kontrolleffekt aus, wie dies in der allgemeinen Literatur zur Emotionsarbeit und zu Darstellungsregeln kritisch diskutiert wird. Diese Dimension kommt erst wieder ins Spiel, wenn sich die Gynäkolog*innen von ihren Mitarbeiter*innen, also in der Regel den Arzthelfer*innen, einen bestimmten emotionalen Umgang mit den Patientinnen wünschen und somit Anderen organisationale Darstellungsregeln zum Emotionsmanagement vorgeben. Aber trotz der geringen Bedeutung organisationaler Darstellungsregeln ist das Emotionsmanagement der Gynäkolog*innen nicht beliebig. Es wird vielmehr durch Darstellungsregeln gesteuert, die sich im Anschluss an Bolton (2005b) als professionelle Darstellungsregeln bezeichnen lassen. Das Erlernen dieser professionellen Darstellungsregeln beginnt mit dem Studium. Die für Mediziner*innen bekannte affektive Neutralität bzw. wie hier bezeichnet die Verinnerlichung einer ‚emotionsneutralen Medizin‘, nach welcher allen Patientinnen eine fachlich interessierte, emotional unbeteiligte Haltung entgegengebracht wird, stehen prototypisch für eine solche professionelle Darstellungsregel. Ich habe jedoch in der vorliegenden Arbeit gezeigt, wie diese erste Regel durch weitere ergänzt wird, wenn im Rahmen des gynäkologischen Erlernens des Umgangs mit Emotionen ein spezifisches Gleichgewicht zwischen dem Zulassen von und Eingehen auf eigene Emotionen und jene Anderer sowie der emotions-
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neutralen Medizin gefunden wird. Das Erlernen dieser Regeln wird geprägt durch die in Kapitel 3.4 diskutierten drei Widerspruchspaare, welche Gynäkolog*innen (zumindest für den Moment) zugunsten eines Gleichgewichtszustandes von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen auflösen müssen. Es sind professionelle Darstellungsregeln, die (mit)steuern, ob und wann sich ein*e Gynäkolog*in auf Emotionen einlässt, sich distanziert einlässt oder professionelle Distanz an den Tag legt. Dabei werden die professionellen Darstellungsregeln zum praktischen Umsetzen der emotionsneutralen Medizin und dem Umgang mit eigenen Emotionen und jenen Anderer am intensivsten in der praktischen beruflichen Sozialisationsphase (Praktika und Assistenzzeit) erlernt. Dies geschieht, wie in Kapitel 3.2 beschrieben, durch verschiedene Strategien wie das Nachahmen anderer Gynäkolog*innen und den Austausch mit diesen und anderem medizinischen Personal. Die Regeln der Profession Medizin, und die Spezifika des Fachgebietes Gynäkologie, werden also in peer-Lernprozessen von anderen Professionsmitgliedern vermittelt. Dabei besteht neben dem Einfluss der Profession Medizin, welche ja auch die peers geformt hat von denen nun gelernt wird, sicher auch ein Einfluss durch die Kultur der jeweiligen gynäkologischen Abteilung und der jeweiligen Klinik, in der diese Lernprozesse stattfinden. Diese halte ich aber für deutlich schwächer als jenen der Profession, und schreibe der Abteilungskultur wiederum einen höheren Einfluss zu als der Organisation. Eine dritte Besonderheit im Emotionsmanagement, die sich aus den Spezifika einer Profession speist, liegt in der Machtasymmetrie zwischen Professionelle*r und Klient*in (vgl. Kapitel 5.3). Dabei ist die Machtasymmetrie zwischen Professionelle*r und Klientin in den Professionen, so auch in der Medizin, bekannt und in der Literatur umfassend diskutiert. In der vorliegenden Arbeit konnte ich zeigen, dass sich diese Machtasymmetrie allerdings auch auf das Zulassen von Emotionen in der Ärzt*in-Patientinnen-Interaktion und den spezifischen Umgang mit Emotionen auswirkt. Dabei hat d*ie Gynäkolog*in in der Regel die machtvollere Position inne und kann den Umgang mit Emotionen so beeinflussen, dass er dem Aufrechterhalten ihres Gleichgewichtszustands dient. Dennoch ist die Patientin nicht ohne Macht: sie kann exit-Optionen (z.B: Ärzt*innen- oder Klinikwechsel) oder voice-Optionen (z.B. direkte Ansprache de*r Ärzt*in oder indirekt über Fragebögen zur Zufriedenheit) wählen. Allerdings verändern diese Optionen nicht die grundsätzliche Machtverteilung im Umgang mit Emotionen. Besonders interessant ist dieser Befund, wenn man ihn mit den herkömmlichen Annahmen zur Kontrolle der Emotionsarbeit in Dienstleistungsberufen vergleicht. Dort wird in der Regel, im Einklang mit starken organisationalen Darstellungsregeln, von deutlichen Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten des Emotionsmanagements durch die Organisation ausgegangen. Das
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Machtverhältnis zwischen Angestellte*r und Kund*in wird also durch eine dritte, machtvolle Partei, nämlich die Organisation, reguliert. Welche*r Interaktionspartner dann in der Interaktion die machtvollere Position innehat, hängt davon ab, wer die organisationalen Darstellungsregeln eher zu seinem Vorteil nutzen kann. Dies ist ein Faktor, der jedoch im gynäkologischen Kontext kaum eine Rolle spielt. Insgesamt zeigen die drei hier als Besonderheiten eines professionellen Emotionsmanagements diskutierten Punkte (der professionelle Sozialisationsprozess, die Wirkung von professionellen Darstellungsregeln und die Machtasymmetrie zwischen Professionelle*r und Klient*in) auf, dass das Bild des Emotionsmanagements komplexer wird, wenn man den Blick über klassische Dienstleistungsberufe auch auf das Emotionsmanagement in Professionen richtet. (2) Strategien des Emotionsmanagements. Im Verlaufe dieser Arbeit habe ich mehrfach hervorgehoben, dass sich der Mainstream der Forschung zu Emotionsarbeit respektive -management heute in der Hand einer quantitativ orientierten psychologischen Organisationsforschung befindet. In diesem Rahmen gelten neben der automatischen Emotionsregulation die Strategien des Oberflächen- und Tiefenhandelns, wie sie Hochschild (2006 [1983]) eingeführt hat, als Hauptstrategien zum Emotionsmanagement. Darüber hinaus finden sich Strategien der Emotionsregulation, welche entweder vor oder nach dem Auftreten einer Emotion ansetzen und einen Fokus auf innerpsychische Vorgänge setzen. Demgegenüber existieren zwar Forschungen, die sehr detailliert und kontextbezogen spezifischere Strategien zum Umgang mit eigenen Emotionen und denen Anderer nachzeichnen (für den Bereich der Krankenpflege zum Beispiel klassisch Strauss et al. 1980), diese werden jedoch nicht weiter rezipiert und einbezogen. In der vorliegenden Arbeit haben sich jedoch verschiedene Strategien der Grenzziehung als zentral für das Emotionsmanagement erwiesen. Die Bedeutung von Grenzziehungsstrategien speist sich aus dem dreischrittigen Sozialisationsprozess angehender Gynäkolog*innen, welcher einen emotionsneutralen, legitimen Bereich schafft, von dem aus Gynäkolog*innen agieren können, wenn sie Emotionen zulassen, und in den sie sich bei Bedarf auch ohne Rechtfertigungszwänge wieder zurückziehen können. Dabei ist das Phänomen der Grenzziehung für den Umgang mit arbeitsbezogenen Emotionen nicht neu. Hayward und Tuckey (2011) arbeiten es in ihrer Studie über Krankenpflegepersonal bereits für Interaktionssituationen zwischen Pflegenden und Patient*innen heraus. In der vorliegenden Arbeit konnte ich jedoch aufzeigen, dass diese Grenzziehungsstrategien auch über die konkrete Interaktion hinaus zum Umgang mit Emotionen genutzt werden, und zwar insbesondere in Form von Grenzziehungen zwischen
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Arbeit und Leben sowie in der Grenzziehung der Arbeitsaufgaben, die zum Arbeitsbereich zugehörig gerechnet werden (vgl. Kapitel 4.1). Generell fokussiert sich die Emotionsarbeitsdebatte ausschließlich auf in Interaktionen auftretende Emotionen. Pointiert kann man sagen, dass das Konzept der Emotionsarbeit sensu Hochschild auf die Arbeit an den eigenen Gefühlen abzielt, und sich das Konzept der sentimental work sensu Strauss et al. auf die Beeinflussung der Gefühle des Interaktionsgegenübers gerichtet. Demgegenüber zeige ich aber, dass sich auch emotionale Anforderungen an die Gynäkolog*innen aus anderen Formen ihrer Arbeit (als der Interaktionsarbeit) ergeben. So spielt zum Beispiel die Angst vor Fehlern eine wichtige Rolle. Diese Angst, einen Fehler gemacht oder eine Fehlentscheidung getroffen zu haben, speist sich aus der handwerklich-medizinischen Arbeit, die die Gynäkolog*innen an ihren Patientinnen durchführen. Somit sehe ich einen Beitrag meiner Arbeit darin, den durch die Prominenz des Konzeptes der Emotionsarbeit auf eben diese Dimension von Emotionen in der täglichen Arbeit verengten Blick wieder zu öffnen, indem ich ein breites Spektrum emotionaler Herausforderungen in der gynäkologischen Arbeit, auch jenseits der Ärzt*in-Patientin-Interaktion, entfaltet habe. Dies steht im Einklang mit Hackers Hinweis darauf, dass es keine rein interaktive, sondern immer Mischformen interaktiver und ‚monologischer‘ Arbeit gibt sowie dass Emotionen auch Teil ebendieser monologischen Arbeitsanteile sind (Hacker 2006: 18ff.). (3) Verstärkung der Machtperspektive. Weiterhin zeige ich mit dieser Arbeit die Bedeutung von Machtaspekten für den Umgang mit Emotionen auf, welcher der Emotionsmanagementdebatte verloren gegangen ist. Bei Hochschild (2006 [1983]) findet sich ein klarer (neo)marxistischer Bezugspunkt, der in nachfolgenden Studien als theoretische Referenzfolie weitestgehend fallen gelassen wurde. Lediglich einige wenige arbeitsprozesstheoretisch fundierte Studien (z.B. Vincent 2011) führen diese Annahmen fort. Die Bedeutung einer asymmetrischen Machtverteilung für das gynäkologische Emotionsmanagement habe ich bereits an mehreren Stellen hervorgehoben (vgl. Kapitel 5.3 sowie in Punkt (1) in diesem Kapitel als Besonderheit eines professionellen Emotionsmanagements). Dabei legen meine Ergebnisse eine der bisherigen Forschung entgegenstehende Machtverteilung nahe, denn Autor*innen in einer marxistischen und/ oder arbeitsprozesstheoretischen Tradition fokussieren und kritisieren ein Machtungleichgewicht zwischen Arbeitsgebern respektive der Arbeitsorganisation und den Dienstleistenden. Demgegenüber liegt hier das hauptsächliche Machtgefälle zwischen de*r Professionelle*n und ihrer Klientin. Gleichzeitig unterwerfen sich die angehenden Gynäkolog*innen
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in ihrem Sozialisationsprozess aber auch einem besonderen, etablierten Emotionsregime – dem in der Profession Medizin und dem Fachgebiet der Gynäkologie gültigen (vgl. Kapitel 3). Dieser Prozess lässt sich mit der gewählten Methodologie, einer interaktionistischen Grounded Theory Methodologie, als Machtprozess nicht scharf fassen. Um aber den Machtaspekten, die dem gynäkologischen Kontext innewohnen, genauer auf die Spur zu kommen, möchte ich im Folgenden meine empirischen Befunde durch eine machttheoretische Brille betrachten. Hierfür kommen mehrere Organisationstheorien in Frage (vgl. Kapitel 6.4). Insbesondere Pierre Bourdieus Theorie der Praxis liefert mit ihrem Fokus auf Macht und Ungleichheit fruchtbare Anknüpfungspunkte, und hat deswegen auch in den letzten Jahren vermehrt Anwendung in die Organisationstheorie gefunden (vgl. grundlegend zur Übertragung der Theorie auf die Organisationswissenschaft Emirbayer/ Johnson 2008). Im Folgenden zeige ich exemplarisch anhand der Bourdieu’schen Theorie der Praxis auf, dass eine Verschränkung von machtheoretischen und Forschungen in Organisationen mit jenen zu Emotionsmanagement sinnvoll ist. Hierfür greife ich auf die Bourdieu’schen Konzepte des Habitus, der Praktiken und insbesondere dem der symbolischen Gewalt zurück, um das Balancieren zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen als Reproduktion symbolischer Gewalt beleuchten zu können. Mit dem Konzept des Habitus hebt Bourdieu hervor, dass Individuen keine rationalen Akteure sind, die ihre Handlungen völlig frei wählen können. Stattdessen ist alles, was wir tun, denken, mögen, essen usw. geprägt durch die Felder, in denen wir sozialisiert werden. So prägen wir einen bestimmten Habitus aus, der jeweils gut zu dem Feld passt, in dem wir uns bewegen. Der Habitus ist somit einerseits Ausdruck von sozialen Strukturen und erzeugt wiederum seinerseits einen Korridor möglicher Handlungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen. Dabei determiniert der Habitus das menschliche Handeln nicht völlig, lässt aber bestimmte Handlungen, Entscheidungen oder Verhaltensweisen wahrscheinlicher sein als andere. In der Regel ist uns der Einfluss der Felder, dir wir durchlaufen haben, weitestgehend unbewusst, und somit auch der Einfluss, den unser Habitus auf unser Handeln ausübt. Bourdieu schreibt dazu: „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ (Bourdieu 1993: 105)
Auch wenn der Habitus weitestgehend in der Primärsozialisation ausgeprägt wird, wird er in späteren Lebensphasen weiter ausgeformt und ist mindestens partiell veränderbar. Man kann diesen veränderbaren Habitusanteil auch als se-
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kundären Habitus bezeichnen (Lettke 1996: 48). Aufgrund der langjährigen, intensiven Sozialisationsphase angehender Gynäkolog*innen gehe ich davon aus, dass das Feld der Medizin einen starken Einfluss auf den sekundären Habitus der Gynäkolog*innen ausübt und sich insbesondere auf ihren Umgang mit Emotionen in der täglichen Arbeit auswirkt. Die in Kapitel 3.3 erläuterte Fähigkeit der Gynäkolog*innen zum Balancieren zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen lässt sich dann als Teil eines spezifischen (sekundären) gynäkologischen Habitus begreifen, welcher in dem beschriebenen dreischrittigen Sozialisationsprozess eingeübt wird. Die Bourdieu’sche Theorie der Praxis nimmt an, dass dem Habitus eines Akteurs Praktiken entspringen. Der Begriff steht in engem Zusammenhang mit dem der Strategie, welchen ich in seiner interaktionistischen Bedeutung im Kapitel 4 verwendet habe. Beide weisen insofern Ähnlichkeiten auf, als auch bei Bourdieu strategisches Handeln nicht absichtsvoll-bewusst erfolgen muss, sondern ebenso als unbewusstes, nicht-intendiertes Handeln entsprechend des praktischen Sinns der Akteure erfolgen kann. Die Praktiken und Strategien sind dabei untrennbar mit der sozialen Position der Akteure und den Spielregeln im jeweiligen Feld verbunden (Kumoll 2009: 225f.). Folglich ist anzunehmen, dass der spezifische Umgang mit Emotionen (das Gleichgewicht von medizinischer Fachlichkeit und Emotionen) als Bestandteil des gynäkologischen Habitus die Praktiken speist, mit welchen Gynäkolog*innen mit den eigenen Emotionen und denen ihrer Patientinnen umgehen. Diese sind, wie in Kapitel 4 beschrieben, vor allem Praktiken der Grenzziehung, Praktiken des Sich-Mitteilens und in deutlich geringerem Maß Praktiken der Herstellung von Nähe. Im nächsten Schritt möchte ich nun darlegen, wie die durch die Medizin geprägten Aspekte eines gynäkologischen Habitus und die daraus entspringenden Praktiken im Umgang mit eigenen Emotionen und Emotionen Anderer zusammenwirken, so dass sich symbolische Gewalt entfaltet. Hierfür werde ich zunächst den Begriff der symbolischen Gewalt genauer bestimmen. Gewalt, und in ihrer verstetigten Form Herrschaft, ist für Bourdieu „allen gesellschaftlichen Beziehungen strukturell immanent“ (Moebius/ Peter 2009: 28). Mit dem Begriff der symbolischen Gewalt richtet Bourdieu die Aufmerksamkeit auf eine sanfte Form der Gewalt, die im Unterschied zu körperlicher oder bewaffneter Gewalt zwar quasi gewaltlos ist, aber trotz der fehlenden körperlichen Ebene real ist. Moebius und Wetterer (2011: 2) bezeichnen sie als „das Ergebnis einer „magischen“ Verwandlung von objektiver gesellschaftlicher Macht in symbolische Macht49“. 49 Nach Moebius und Wetterer (2011: 1) verwendet Bourdieu die Begriffe „symbolische Macht“, „symbolische Gewalt“ und „symbolische Herrschaft“ synonym. Demgegenüber unterscheiden andere Autor*innen die drei Begriffe folgendermaßen: Symboli-
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Als symbolisch lässt sie sich bezeichnen, weil sie über die Sinnzuweisung in der sozialen Welt und der Positionen funktioniert. Bourdieu richtet so den Fokus auf die Mitwirkung der Beherrschten an der Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen (Bourdieu/ Wacquant 2006: 204), wobei es sich zwar um eine aktive Mittäterschaft handelt, die aber nicht zwangsläufig bewusst oder willentlich erfolgen muss. Vielmehr nimmt d*er Beherrschte in Bezug auf sich selbst den Standpunkt der Herrschenden ein, weil die herrschenden Kategorien und Deutungsschemata im Habitus verankert, also inkorporiert sind (Bourdieu 2012: 65f., Schmidt 2009: 233). Somit handelt es sich bei symbolischer Gewalt um „ein Gewaltverhältnis, das von Ausübenden wie Erleidenden zwar gemeinsam produziert, aber nicht als solches erkannt wird. Die Mitwirkung der Beherrschten manifestiert sich folglich als Gewalt, die diese sich selbst zufügen, ohne sie als solche zu empfinden.“ (Schmidt 2009: 233)
Weiterhin verweist Schmidt (2009: 233) auf die affektive Komponente von symbolischer Gewalt im Sinne der damit verbundenen Gefühle. Ausdruck findet symbolische Gewalt über Sprache, durch die Verankerung in Institutionen sowie in Gesten, Ritualen, Artefakten, Architekturen und Räumen. Die vorliegende Studie zeigt auf, wie das medizinische Feld in dem in den Kapiteln 3.1 bis 3.3 beschriebenen dreischrittigen Sozialisationsprozess Aspekte des sekundären Habitus der Gynäkolog*innen prägt. Dass sich Gynäkolog*innen im Rahmen ihrer akademischen und praktischen Ausbildung hin zu*r Fachärzt*in für Gynäkologie und Geburtshilfe dem Feld der Medizin unterwerfen, die dort vorhandenen Praktiken im Umgang mit eigenen Emotionen und jenen Anderer kennenlernen und übernehmen und letztlich ihren eigenen Umgang mit Emotionen als authentisch und gelingend erleben, lässt sich auch als Ausdruck der symbolischen Gewalt lesen, die das Feld der Medizin auf die Gynäkolog*innen ausübt. Die neu hinzukommenden Gynäkolog*innen lernen von Vorbildern, wie älteren Kolleg*innen, und prägen so Praktiken aus, deren Angemessenheit sie an den Maßstäben der herrschenden Akteure im Feld (z.B. der Koryphäen in der akademischen Ausbildung oder der Chefärzt*innen in der praktischen Ausbildung) messen. Folglich wenden sie die Kategorien der Herrschenden auf sich selbst an und verinnerlichen diese im Rahmen der Ausprägung eines sekundären, gynäkologischen Habitus. sche Macht sei das Potential, symbolische Gewalt auszuüben. Symbolische Gewalt manifestiert sich in Praktiken. Die Verstätigung von symbolischer Gewalt sei symbolische Herrschaft (vgl. zu dieser Position z.B. Schmidt 2009: 231, Schmidt/ Woltersdorff 2008: 8).
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Die Konsequenz dieses Vorgangs, nämlich dass die Gynäkolog*innen ihren Umgang mit den eigenen Emotionen und jenen Anderer als authentisch erleben, ist aus Bourdieu’scher Perspektive insbesondere mit Blick auf das Habituskonzept nicht verwunderlich. Aus einer neomarxistischen Brille wie der von Arlie Hochschild, die ja das Feld der Emotionsarbeit nachhaltig geprägt hat, ist diese Einschätzung hochgradig bedenklich. Sie würde vermutlich an dieser Stelle argumentieren, dass die Gynäkolog*innen sich von ihren eigenen Emotionen und vor allem der Signalfunktion, die Emotionen im menschlichen Leben einnehmen, entfremdet haben (Hochschild 2006 [1983]). Und während Hochschild’s Stewardessen bewusst ist, dass sie in ihrer täglichen Arbeit den Gefühlsregeln der Fluggesellschaft, also der Organisation, folgen, fehlt den Gynäkolog*innen ein solches Bewusstsein offensichtlich. Sie sehen nicht, oder es erscheint ihnen als natürlich, wie weit ihr Umgang mit Emotionen durch professionelle (Feld der Medizin) oder organisationale Gefühlsregeln beeinflusst ist50. Darüber hinaus lässt sich das Konzept der symbolischen Gewalt hier noch weiter anwenden: Neben dem Balancieren zwischen Emotion und medizinischer Fachlichkeit als Teil des sekundären gynäkologischen Habitus prägt symbolische Gewalt auch das Machtungleichgewicht zwischen Gynäkolog*innen und Patientinnen. Denn auch wenn die Gefühle der Patientin einen Platz in der Interaktion zwischen Gynäkolog*in und Patientin erhalten, ist es doch in aller Regel d*ie Gynäkolog*in, welche in der Interaktion Gefühle erlaubt, einfordert und auch wieder unterbindet. Diesen Zusammenhang möchte ich als doppelte Reproduktion von symbolischer Gewalt bezeichnen: die Gynäkolog*innen prägen einen spezifischen Habitus und Praktiken aus, die ihren Umgang mit eigenen Emotionen und denen Anderer weitestgehend bestimmen. Damit unterwerfen sie sich dem Feld der Medizin, und durch den Einsatz der Praktiken im alltäglichen Arbeiten reproduzieren sie die Unterscheidungskategorien zwischen emotionsneutraler Medizin und emotionaler Nähe stets aufs Neue. In einer zweiten Schleife nutzen sie hierbei auch ihre höhere Machtposition gegenüber den Patientinnen, welche ihnen erst erlaubt, ihre eigenen Praktiken mehr oder minder unhinterfragt auf die Patientinnen anzuwenden und ihnen damit einen bestimmten Umgang mit eigenen und fremden Emotionen, nämlich denen de*s Gynäkolog*en, aufzunötigen. Dabei kann man davon ausgehen, dass die Patientin an diesem ungleichen Machtverhältnis mitwirkt und auch zur Reproduktion der symbolischen Gewalt im Verhältnis zwischen Gynäkolog*in und Patientin beiträgt. Inwieweit dies der Fall ist, wie es sich genau vollzieht und wo und wann es möglicherweise 50 Allerdings hat Vincent (2011: 1384f.) aus der Perspektive einer arbeitsprozesstheoretischen Betrachtung von Emotionsarbeit bereits vorgeschlagen, das Konzept der symbolischen Gewalt anzuwenden, ohne dies jedoch an jener Stelle einzulösen.
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zu Brüchen kommt, lässt sich allerdings mit dem hier erhobenen empirischen Material nicht im Detail herausarbeiten. Nichtsdestotrotz sollte anhand dieser exemplarischen praxistheoretischen Ausdeutung der Nutzen einer Verschränkung von machttheoretischen Forschungen in Organisationen und jenen zu Emotionsmanagement deutlich werden. (4) Emotionsmanagement zwischen Gesundheitsgefährdung und Entwicklungspotential. Die Arbeit an und mit Gefühlen kann mit besonderen Belastungen verbunden sein (im Überblick z.B. Dormann et al. 2002, Rastetter 2012). Insbesondere der Zusammenhang zwischen emotionalen Arbeitsbelastungen und Burnout hat innerhalb der Emotionsarbeitsdebatte einige Aufmerksamkeit erregt, und Veränderungen in der modernen (medizinischen) Arbeitswelt können die emotionalen Arbeitsbelastungen noch erhöhen. Dormann, Zapf und Isic (2002: 212) kommen zu dem grundlegenden Schluss, dass „Aspekte der Emotionsarbeit bei der Analyse von Belastungen in Dienstleistungsberufen keinesfalls vernachlässigt werden [dürfen]“. Dabei haben die Forschungen zu den belastenden Faktoren von Emotionsarbeit bereits eine längere Tradition und es zeigt sich, dass Emotionsarbeit nicht prinzipiell belastend wirken muss. Einige Aspekte von Emotionsarbeit können sogar positive Auswirkungen auf die Ausführenden haben (z.B. Humphrey et al. 2015, Zapf/ Holz 2006, Zapf 2002). In Verbindung mit weiteren Belastungsfaktoren wirkt sich Emotionsarbeit jedoch negativ auf die Gesundheit der Emotionsarbeiter*innen aus. Rastetter (2012: 52) nennt als kritische additive Belastungsfaktoren insbesondere geringen Handlungsspielraum, hohe Kontrolle durch den Arbeitgeber und sonstige hinzukommende Belastungen wie Lärm oder Zeitdruck. Auch wenn Dienstleistende Gefühle vortäuschen, die ihren eigenen Überzeugungen widersprechen oder sich mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren lassen, erhöht sich der Belastungsgrad. Für dieses Phänomen haben Rafaeli und Sutton (1987) den Begriff ‚faking in bad faith‘ geprägt. Zu den gesundheitlichen Folgen zählen zum Beispiel verschiedene psychosomatische Beschwerden wie Ein- und Durchschlafstörungen, Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen (Dormann et al. 2002). Als eine der gravierendsten Folge von emotionalen Arbeitsbelastungen sticht Burnout heraus. Insbesondere die psychologische Forschung hat sich mit den Zusammenhängen von emotionalen Arbeitsbelastungen, z.B. durch die Arbeit an eigenen Gefühlen und Gefühlen Anderer, und den drei Dimensionen von Burnout befasst. Burnout ist gekennzeichnet durch emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und eine reduzierte Leistungsfähigkeit (Rastetter 2012: 53). Eindeutig belegt ist der Zusammenhang zwischen emotionaler Erschöpfung und Widersprüchen zwischen erlebten und gezeigten Gefühlen (emotionale Dissonanzen), wie sie im besonde-
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ren Maße bei der Emotionsarbeit auftreten können (z.B. Dormann et al. 2002). Mit Blick auf die anderen beiden Dimensionen des Burnouts, also Depersonalisation und reduzierte Leistungsfähigkeit, finden sich durchmischte Ergebnisse (z.B. Dormann et al. 2002, Rastetter 2012). Insgesamt überwiegt dabei die Einschätzung, dass Emotionsarbeit eher gesundheitsgefährdendes Potential mit sich bringt, als ein gesundheits- oder entwicklungsförderndes. Für den Bereich der Medizin finden sich kaum aktuelle Untersuchungen zu Emotionsarbeit und/ oder emotionalen Arbeitsbelastungen bei Ärzt*innen. Neben der bereits erwähnten Studie von Nettleton et al. (2008), die eine Übersicht über die Vielfalt der von (britischen) Medizinern in ihrer täglichen Arbeit erlebten Emotionen erstellt finden sich einzelne Studien, die sich mit spezifischen Belastungserkrankungen wie Burnout, auch unter partieller Berücksichtigung emotionsarbeitsbezogener Hypothesen, beschäftigen (z.B. Lee et al. 2010). Somit trägt die vorgelegte Studie auch dazu bei, mehr Licht auf die tägliche Arbeit mit Emotionen bei Mediziner*innen zu werfen. In Kapitel 2.3.2 habe ich die Emotionsarbeit bei Gynäkolog*innen dargelegt. Auffallend ist hier, dass die Gynäkolog*innen weniger das regelmäßig erforderliche Emotionsmanagement als belastend erleben, sondern vielmehr besondere, singuläre Ereignisse als belastend hervorheben. Hierzu zählen insbesondere (eigene) Fragen nach eigenen Fehlern, das Thema Schwangerschaftsabbrüche im Allgemeinen und schwere Erkrankungen von Patientinnen, zu denen eine engere emotionale Bindung besteht oder im Rahmen längerfristiger Behandlungszeiträume aufgebaut wurde. Die bei allen diesen Themen erforderliche Emotionsarbeit im Sinne der Arbeit an den eigenen Gefühlen muss nun, wie oben ausgeführt, nicht per se als belastend wahrgenommen werden, sondern wird es insbesondere in Kombination mit anderen Faktoren. Von den bei Rastetter (2012: 52) genannten spielt in der gynäkologischen Arbeit besonders der Zeitdruck eine große Rolle (vgl. zum Zeitdruck auch Kapitel 3.3). Dies trifft sowohl auf die niedergelassenen als auch auf die in der Klinik beschäftigten Gynäkolog*innen zu. Zeitdruck, der sich in wartenden Patientinnen und/ oder anderen zu erledigenden Aufgaben manifestiert, ist bei allen befragten Gynäkolog*innen vorhanden, eine Parallelität verschiedener Aufgaben findet sich eher in der Klinik. Häufig ist es so, dass nach einer emotional belastenden Situation schnell andere Aufgaben wahrgenommen werden müssen. Dies führt zu einer Ablenkung, während der ein intensives Gefühl unbemerkt abflauen kann. Diese durch den Zeitdruck bzw. die Arbeitsdichte ausgelöste Ablenkung wird allerdings weniger als Entlastung wahrgenommen, sondern es wird eher der Wunsch zum Ausdruck gebracht, mehr Zeit zu haben, um einzelne emotional bewegende Ereignisse verarbeiten zu können. Neben dem Zeitdruck wirkt auch die Ausdehnung der Arbeitszeit belas-
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tend. Eine Expansion der Arbeitszeit in weite Bereiche des Privatlebens hinein findet sich bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen ebenso wie bei den hierarchisch höher- und höchststehenden Gynäkologen in der Klinik (vgl. Kapitel 2.1.2). Die belastende Wirkung von Zeitdruck, Zeitdichte und Ausdehnung der Arbeitszeit in Kombination mit insbesondere singulären, emotionale belastenden Ereignissen mag das Bedingungsgefüge stellen, aus dem heraus das in Kapitel 5.1 dargestellte Bedrohungsszenario des Sich-Zuviel-Einlassens entsteht, welches nicht nur in der Literatur, sondern auch von den Gynäkolog*innen mit den oben benannten psychosomatischen Beschwerden und der Gefahr eines Burnout in Verbindung gebracht wird. Trotzdem beschreibe ich in der vorliegenden Arbeit mit dem spezifischen emotionsbezogenen Sozialisationsmodell auch, wie Gynäkolog*innen erlernen, mit den speziellen (auch) emotionalen Anforderungen ihrer täglichen Arbeit gelingend umzugehen (vgl. insbesondere auch Kapitel 5.2). Somit zeigt die vorliegende Arbeit mit Blick auf die gesundheitsbezogene Wirkung von Emotionsarbeit gemischte Ergebnisse für Gynäkolog*innen. Es gibt einerseits emotional belastende Ereignisse, die durch weitere Belastungsfaktoren wie insbesondere zeitliche Arbeitsbedingungen besonders belastend wirken können. Andererseits steht dem vielfach ein das Wohlbefinden förderndes Gefühl gegenüber, kompetent das Gleichgewicht zwischen medizinischer Fachlichkeit und Emotionen zu halten, um sowohl für die Patientinnen (bis zu einem gewissen Grad) da zu sein, als auch die eigene Gesundheit aufrecht zu erhalten. Erneut ist hier die Rolle der professionellen Sozialisation spannend, die einerseits Ansatzpunkte für das Erlernen dieses Gleichgewichts bietet, und anderseits das eigentliche Lernen in vielfach anstrengender Weise von den angehenden Gynäkolog*innen fordert.
6.3 DISKUSSION DER BEGRENZUNGEN DIESER ARBEIT Neben den Beiträgen, die die vorgelegte Studie insbesondere zu verschiedenen Strängen der organisationswissenschaftliche Debatte um Emotionen in der Arbeit zu leisten vermag, beinhaltet diese Arbeit auch einige Begrenzungen. Diese entspringen aus meiner Sicht in (1) methodischer Hinsicht dem Samplingprozess und der erhobenen Materialart. In (2) konzeptioneller Hinsicht liegen Begrenzungen in der geringen Aussagekraft der Arbeit hinsichtlich genderspezifischer Aspekte ebenso wie in der Festlegung des Ausmaßes von Emotionsarbeit.
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(1) Methodische Begrenzungen der Arbeit. Eine wichtige methodische Begrenzung dieser Arbeit liegt in der Ausgestaltung des Samplingprozesses. Wie in Kapitel 1.2.2 dargelegt, habe ich aus verschiedenen Gründen ein Sampling meiner Interviewpartner*innen vorgenommen, welches als systematisches Sampling zu bezeichnen ist51 und eher einer klassischen Stichprobenziehung anhand im Vorhinein als relevant vermuteter Faktoren gleichkommt. Zu diesen Faktoren gehört die unterschiedliche Organisationsform (Niederlassung – Klinik) ebenso wie der Einbezug beider Geschlechter oder verschiedener Lebensalters- und, in der Klinik, Hierarchiestufen. Das eigentliche theoretische Sampling, wie es die Grounded Theory Methodologie nahe legt, findet dann innerhalb des so erhobenen Materials statt. Somit sind die hier vorgelegten Ergebnisse sicherlich spezifisch für das deutsche Gesundheitssystem mit seinen speziellen Kontextbedingungen. Ob sich darüber hinaus eine regionale Spezifität daraus ergibt, dass alle Interviewpartner*innen in Sachsen tätig sind, müsste empirisch überprüft werden. Anhand der Vergleiche mit Quellen zur ärztlichen Sozialisation (etwa Schmidbauer 1977) vermute ich dieses jedoch nicht. Zu einigen theoretisch interessant erscheinenden Fällen, wie eine*r Gynäkolog*in, d*ie den Sozialisationsprozess aus Gründen einer (emotionalen) Überlastung abgebrochen hat bzw. eine patientinnenferne Tätigkeit ergriffen hat, habe ich trotz Nachfragen über die bisherigen Interviewpartner*innen keinen Zugang erhalten. Eine zweite methodische Begrenzung liegt in der Art des erhobenen Materials. Interviews weisen im Zusammenhang mit der von mir untersuchten Fragestellung verschiedene Nachteile auf, die sich mir erst im Verlauf der empirischen Analyse erschlossen haben. Dazu gehört erstens, dass es grundsätzlich und auch kulturell bedingt schwierig ist, über Emotionen zu sprechen. Gleichzeitig wird durch die Methode des Interviews als sprachlichem Medium primär auf kognitive Elemente zugegriffen. Dieser Punkt wird durch das grundlegende Setting des Interviews wahrscheinlich noch vertieft: eine Akademikerin interviewt andere Akademiker*innen… ich habe versucht, diesen Punkt in den Interviews dadurch abzuschwächen, dass ich häufiger gezielt nach Situationen gefragt habe, um so an die diese Situation charakterisierenden Spezifika und Emotionen heranzukommen und durch die Generierung von Erzählungen wissensorientierte Aufzählungen zu vermeiden. Mit dem Interview als sprachlichem Medium hängt 51 Darauf, dass dies problematisch sein könne, wurde ich allerdings bis dato ausschließlich von eingefleischten Grounded-Theory-Gegner*innen hingewiesen. Innerhalb der Grounded Theory Methodologie findet sich dafür nicht nur der Begriff des ‚systematischen Samplings‘, sondern auch der Hinweis, dass dies etwa für Qualifizierungsarbeiten und im Rahmen der Möglichkeiten zum Sampling durchaus legitim sei, sofern über die Konsequenzen dieses Samplings reflektiert wird (vgl. Kapitel 1.2.2).
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zweitens auch zusammen, dass nur über Themen gesprochen werden kann, die den Sprechenden so bewusst sind, dass sie verbalisiert werden können. Eine implizite Sozialisierung im Studium, wie sie von Smith und Kleinman (1989) beschrieben wird, bleibt so teilweise unzugänglich bzw. kann nur indirekt aus dem Interviewmaterial erschlossen werden. Es sei denn, ein*e Interviewpartner*in hat über diese Situation bereits reflektiert und sie so in eine sprachlich zugängliche Ebene überführt. Wichtig ist, dass diese Begrenzung eher Themen betrifft als latent in den Aussagen enthaltene Sinngehalte, die den Interviewten unbewusst sind. Letztere können über die (auch) für die Grounded Theory Methodologie typische kleinteilige Analyse des Interviewmaterials durchaus erschlossen werden. Eine weitere Begrenzung in der Datenerhebung zeigt sich drittens durch meine Nicht-Zugehörigkeit zur medizinischen Gruppe. Einerseits ist es dadurch möglich und wahrscheinlich, dass bestimmte Themen (un)bewusst im Interview ausgespart wurden. So zeigt sich in den hier geführten Interviews zum Beispiel an keiner Stelle der derbe, Patient*innen zum Teil herabwürdigende Humor, welcher Mediziner*innen nachgesagt wird. Smith und Kleinman (1989: 64) verweisen explizit darauf, dass jener Humor in der Regel nur angewendet wird, wenn Mediziner*innen unter sich sind. Auch habe ich im Rahmen einiger Interviews, speziell bei den niedergelassenen Gynäkolog*innen, nachgefragt, ob ich die Gelegenheit zur Beobachtung (als alternativer, zusätzlicher Datenquelle) erhalten könnte. Dies wurde in der Regel mit Verweis auf das dann gestörte Vertrauens- und Intimitätsverhältnis zwischen Patientin und Gynäkolog*in verneint, aber auch mit Blick auf meine Position als Außenseiterin: „[…] wissen se, wenn Sie jetzt Mediziner wären, wäre das sicherlich kein Problem, ja, aber, ich möchte da ja auch mit offenen Karten spielen. Ich möchte da ja nicht so tun, als ob. Das möchte ich nicht. Ich möchte meine Patienten da vielleicht auch nicht unbedingt antun.“ (G2, niedergelassene Gynäkologin)
Grundsätzlich bleibt fraglich, ob die vorgelegte Analyse mit Beobachtungsmaterial andere oder gar bessere Ergebnisse erzielt hätte. Eine sinnvolle Ergänzung zu der gewählten Datenerhebungsmethode würde ich aus heutiger Sicht eher in Gruppendiskussionen mit Mediziner*innen sehen. Diese würden die Möglichkeit bieten, die Ergebnisse mit Feldteilnehmer*innen zu diskutieren und gleichzeitig die Reichweite des Modells auszuloten, in dem nicht nur Gynäkolog*innen, sondern auch Ärzt*innen anderer Fachgebiete einbezogen werden könnten. (2) Konzeptionelle Begrenzungen der Arbeit. Eine konzeptionelle Begrenzung der vorliegenden Arbeit stellt die geringe Aussagekraft mit Blick auf genderspe-
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zifische Aspekte dar, welche ich hinsichtlich der Bedeutung von Sexualität in der Gynäkologie bereits in den Präkonzepten (vgl. Kapitel 1.3) diskutiert habe. Dem steht offensichtlich eine hohe Relevanz des Gender-Themas für die wissenschaftliche Gemeinschaft gegenüber: wenn ich die (vorläufigen) Ergebnisse dieser Arbeit vor wissenschaftlichem Publikum präsentiert habe, kam immer wieder eine Frage: „Und was ist mit dem Thema Gender? Hast du (Haben Sie) dazu auch etwas gefunden?“. Genauso regelmäßig wie diese Frage gestellt wurde, musste ich sie verneinen: Gender scheint hier tatsächlich keine nachzeichenbare (!) Rolle zu spielen. Durch diese Nachfragen mit einem schärferen Blick für Genderaspekte ausgestattet, habe ich in der weiteren Analyse darauf geachtet, ob und wo sich diese Thematik in meinem Interviewmaterial verbirgt. Zwar habe ich vereinzelte Hinweise gefunden (vgl. am deutlichsten im Abschnitt ‚Emotionsabnahme durch Übernahme von Arbeitsaufgaben‘ in Kapitel 4.1.4), aber insgesamt muss ich beharren: Gender spielt für die Beantwortung meiner Forschungsfrage in diesem Kontext keine explizite Rolle. Dies lässt sich mit zwei Gründen erklären. Der persönlich-methodische Grund, aus dem Gender in meinen Ergebnissen kaum eine Rolle spielt, liegt wie bereits ebendort diskutiert, in (m)einem (nicht vorhandenen) Präkonzept begründet (Kapitel 1.3). Doch auch ohne explizites Forschungsinteresse in dieser Richtung haben meine Interviewpartner*innen das Thema Gender kaum eingebracht, und es lässt sich auch nur in geringem Maß aus den latenten Sinngehalten erschließen. Das verweist womöglich darauf, dass es für sie keine bewusste Rolle mit Bezug auf den Gegenstand des Interviews gespielt hat. Dies spiegelt wider, was ich als den wissenschaftlich-gegenstandsspezifischen Grund für das fehlende Gender-Thema bezeichnen möchte: Das Selbstverständnis von Ärzt*innen folgt nach wie vor einer maskulinen Norm (Cain 2017, Rothe et al. 2016). Anhand der Analyse von Gruppendiskussionen mit (nach Geschlecht gruppierten) angehenden Ärzten und Ärztinnen konnten Rothe et al. (2016: Abs. 76) zeigen, dass das prototypische Bild eines Mediziners jemand ist, der total in seinem Beruf aufgeht, sich mit und über ihn identifiziert und auch zu entsprechender Selbstausbeutung bereit ist. Männliche wie weibliche angehende Ärzt*innen positionieren sich zu diesem durchaus faszinierenden Ideal, wobei es insbesondere für Frauen in der Medizin schwierig und konfliktbehaftet ist, es mit dem Wunsch nach einer Familie zu vereinbaren. Dieser Befund einer (impliziten) maskulinen Norm widerspricht auf den ersten Blick den zu Beginn dieser Arbeit bereits zitierten Ergebnissen von Sharon C. Bolton (2005a). Sie hat herausgearbeitet, dass für die von ihr untersuchten Krankenpflegerinnen die Pflegearbeit auf der gynäkologischen Station eine genuin weibliche Arbeit in einer weiblichen Welt darstellt (Bolton 2005a: 169). Auf den zweiten Blick lässt sich anführen, dass es für die von Bolton un-
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tersuchten gynäkologischen Krankenpflegerinnen ein Alleinstellungs- und Abgrenzungsmerkmal darstellte, als Frauen in einer „Frauendomäne“ zu arbeiten. Für die von Rothe et al. (2016) untersuchten Mediziner*innen gilt dies nicht, ihre Bezugsgröße ist eine maskuline Norm. Unklar bleibt zwar, ob die Gründe für diese geschlechtlichen Idealvorstellungen in den Berufsgruppen (Mediziner*innen und Krankenpflegerinnen), dem nationalen Kontext (Deutschland und Großbritannien) oder anderen Kontextbedingungen zu suchen sind. Allerdings, mit Blick auf meine eigenen Ergebnisse, schließe ich an die Ergebnisse von Rothe et al. (2016) die Überlegung an, dass die maskuline Norm in der Medizin, und damit auch in der (deutschen) Gynäkologie, derart stark wirkt, dass das eigene Geschlecht womöglich keine legitime Größe ist, um sich darauf in Erzählungen über das Umgehen mit Emotionen zu berufen. Eine zweite konzeptionelle Begrenzung liegt in der fehlenden Festlegung des Ausmaßes an zu leistender Emotionsarbeit. Dieser Punkt beinhaltet zwei Teilaspekte. Zum einen hat sich im Rahmen der Grounded Theory Analyse das dreischrittige Erlernen des Umgangs mit Emotionen als Herzstück des Emotionsmanagements herauskristallisiert. Dieser Fokus der Analyse hat meine Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum von der zu leistenden Emotionsarbeit in den bekannten Formen des Oberflächen- und Tiefenhandelns und deren Intensität abgelenkt, was sich im Aufbau der Arbeit auch darin zeigt, dass sie ‚lediglich‘ als Teil der Kontextbedingungen auftaucht (Kapitel 2.3.2). Zum anderen nehme ich dort eher punktuelle Beschreibungen der geleisteten Emotionsarbeit vor. Eine umfassende, detailreichere Beschreibung aller interaktionsbezogenen Techniken der Gefühlsarbeit, wie sie etwa Strauss et al. (1980) für Krankenpflegende liefern, hätte einer anderen Datenerhebungsform wie zum Beispiel der Beobachtung bedurft. Alternativ hätte ich die Strategien der Emotionsarbeit und das Ausmaß im Sinne der quantitativen Menge an zu leistender und geleisteter Emotionsarbeit auch quantitativ z.B. in Form eines ergänzenden Fragebogens erheben können. Dass ich weder das eine noch das andere erhoben habe, ändert nichts an der Gültigkeit des vorgestellten Modells. Allerdings kann ich so keine Aussagen über Zusammenhänge zwischen den klassischen Formen oder dem Ausmaß der Emotionsarbeit und dem hier vorgestellten Umgang mit Emotionen treffen.
6.4 AUSBLICK In Glaser und Strauss’ basalem Buch zur Grounded Theory Methodologie findet sich ein ebenso häufig angeführtes wie treffendes Zitat. Es lautet:
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„the published word is not the final one, but only a pause in the never-ending process of generating theory“ (Glaser/ Strauss 1967: 40)
Und so schreibe ich mit dem Ausblick die letzten Seiten dieses Buches, die mit Sicherheit nicht die letzten Worte zu der hier bearbeiteten Fragestellung sind. Die Frage nach Erkenntnissen über Emotionsmanagement, die über die primär diskutierten Strategien und Einflussfaktoren hinausgehen, hat zwar in den vorhergehenden Kapiteln eine Antwort gefunden. Doch gleichzeitig zeigen die Zusammenfassung, die Diskussion der Beiträge zur organisationswissenschaftlichen Debatte um Emotionsmanagement und die Diskussion der Begrenzungen dieser Arbeit Ansatzpunkte für weitere Forschungen auf. Drei, die mir besonders vielversprechend erscheinen, möchte ich nachfolgend hervorheben. Diese unterscheiden sich im Übrigen deutlich von denen in jüngerer Zeit zum Beispiel von Grandey und Gabriel (2015) angeregten Ansatzpunkten, um das festgefahrene Feld der Emotionsarbeit erneut zu beleben. Jene würden aus meiner Sicht nur einem „weiter so“ im Sinne der primären Beachtung (neuer) individueller Faktoren gleichkommen. Zunächst einmal hat die Diskussion der Beiträge aufgezeigt, dass das gynäkologische Emotionsmanagement sich aufgrund spezifischer Merkmale von Professionen, wie der langen, verschiedene Organisationen umfassenden Ausbildungsphase und der hohen Bedeutung akademischen Wissens, von klassischen Dienstleistungsberufen unterscheidet. Ich denke, dass ich meinen Beitrag mit Blick auf den dreischrittigen Sozialisationsprozess in dieser Hinsicht von der Gynäkologie auf den gesamten Bereich der Medizin ausdehnen kann, auch wenn sich fachgebietsspezifische Unterschiede in den Strategien oder ursächlichen Bedingungen finden lassen dürften. Was jedoch bislang fehlt, ist ein Vergleich dieser Befunde mit denen für andere Professionen wie die Rechtsberufe, Lehrberufe oder Sozialarbeit unter dem speziellen Blickwinkel eines Professionenvergleichs im Umgang mit Emotionen. Anhand bestehender Studien für jene Professionen, oder auch durch das Hinzuziehen von weiterem empirischem Material ließe sich so gar eine formale, also bereichsübergreifend gültige Theorie zum professionellen Emotionsmanagement ausarbeiten. Zum zweiten plädiere ich für eine erneute, intensivere Beschäftigung mit den dem Emotionsmanagement inhärenten Machtaspekten. Ich habe aufgezeigt, dass sich diese durchaus finden lassen, insbesondere in der klassischen Studie von Hochschild (2006 [1983]), aber auch in neueren arbeitsprozesstheoretisch fundierten Studien (z.B. Vincent 2011). Auch hier bringt es die Profession mit sich, dass die Vorzeichen der organisationalen Machtkonstellation andere sind als in jenen Studien. Ein gezielter Vergleich der Machtkonstellationen von Emotions-
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arbeit innerhalb der verschiedenen Professionen erscheint mir ebenso sinnvoll, wie diese Ergebnisse mit den vorliegenden Befunden zu einer traditionellen Machtteilung zwischen Arbeitgebern bzw. Management und Dienstleistenden im Bereich der Emotionsarbeit zu vergleichen. Neben der bereits erwähnten marxistischen oder arbeitsprozesstheoretischen Fundierung und der hier verwendeten Bourdieu’schen Brille der symbolischen Gewalt könnten auch andere Organisationstheorien wie die mikropolitischen Ansätze (z.B. Crozier/ Friedberg 1979, Küpper/ Ortmann 1992, Neuberger 1995, im Überblick z.B. Alt 2001) oder, mit Blick auf stark von Umweltakteuren abhängige Emotionsarbeiter*innen, die Ressourcenabhängigkeitstheorie (Pfeffer/ Salancik 1978, im Überblick z.B. Nienhüser 2004), zu einem umfassenden Bild beitragen. In den Bereich der mit dem Umgang mit Emotionen verbundenen Machtaspekte gehört weiterhin auch die (emotionale) Arbeitsteilung mit anderen Berufsgruppen, welche ich hier ebenfalls nicht systematisch erhoben habe52. Deutliche Hinweise auf die emotionale Arbeitsteilung zwischen Ärzt*innen und Krankenpflegenden, beschrieben aus der Sicht letzterer, finden sich zum Beispiel bei Overlander (1994: 121ff.). Sie geht auch auf die Machtunterschiede und die Hierarchie zwischen diesen beiden Gruppen ein (1994: 127ff.). Die für die vorliegende Arbeit interviewten Gynäkolog*innen sprechen eine emotionale Arbeitsteilung lediglich vereinzelt an, und auch nur mit Blick auf andere Gynäkolog*innen bzw. Ärzt*innen (vgl. Kapitel 4.1.3 und 4.1.4). Dies kann, wie in den Begrenzungen bereits andiskutiert, sowohl der Datenerhebungsform Interview als auch meinen Präkonzepten geschuldet sein. Und drittens habe ich in dieser Arbeit vor allem ausführliche Antworten auf die Frage nach der Funktionsweise von Emotionsmanagement jenseits der bekannten Strategien, nämlich dem Gleichgewicht von (medizinischer) Fachlichkeit und Emotionen sowie Grenzziehungsstrategien, und seinen sozialen Voraussetzungen, insbesondere einem umfassenden Sozialisationsprozess und den Besonderheiten der Profession Medizin, gefunden. Hinsichtlich der organisationswissenschaftlich bedeutsamen Folgen des Emotionsmanagements konnte ich die 52 Für den Hinweis auf diese Leerstelle der vorgelegten Untersuchung – die ich leider nicht füllen konnte - möchte ich insbesondere meinem zweitbetreuenden Doktorvater danken. Zwar habe ich als Reaktion auf diesen Hinweis während eines privaten Gynäkologinnenbesuchs 2014 ein Beobachtungsprotokoll zu einer Begebenheit erstellt, welche mit Blick auf die emotionale Arbeitsteilung zwischen Arzthelfer*innen und Gynäkolog*innen bedeutsam erschien. Da sich das Thema der zwischenberuflichen Arbeitsteilung jedoch in der Analyse zu weit vom Kernphänomen entfernt befand, habe ich es hier nicht weiter vertieft und auch das Beobachtungsprotokoll nicht in die weitere Analyse einbezogen.
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Machtasymmetrie zugunsten der Gynäkolog*innen als neuen Aspekt beisteuern. Ich denke, dass sich auch im Bereich der Folgen durchaus weitere relevante Faktoren herausarbeiten lassen müssten. Möglicherweise benötigt es hierfür andere Formen der Datenerhebung als das Interview mit den ‚Emotionsmanagern‘.Interviews mit den Interaktionspartner*innen wie den Patientinnen und Angehörigen wären eine Möglichkeit der Ergänzung. Eine zweite wäre das Hinzuziehen von Material aus anderen kulturellen Kontexten, um die Spezifika des deutschen Gesundheitswesens und eines räumlich-kulturell geprägten Umgangs mit Emotionen beleuchten zu können. Neben den Ansatzpunkten für weitere Forschung möchte ich zudem eine praxisrelevante Implikation hervorheben, die sich aus den hier vorgestellten empirischen Ergebnissen ergibt. Mit Blick auf Veränderungen in der modernen (medizinischen) Arbeitswelt erweisen sich insbesondere Veränderungen im Verhältnis von Management und Ärzteschaft in den Kliniken als relevant, die u.a. ein Resultat des steigenden ökonomischen Drucks im (deutschen) Gesundheitswesen sind. Neu eingeführte Managementinstrumente, die im Kampf um Patient*innen Vorteile bringen sollen, wie die diskutierten Bewertungsbögen können schnell zu einer Zunahme an emotionalen Arbeitsbelastungen führen, wenn dadurch explizit oder implizit neue organisationale Gefühlsdarstellungsregeln eingeführt werden. Folglich sollten auf der organisationalen Ebene z.B. Kliniken sehr vorsichtig und umsichtig in der Einführung und Durchsetzung neuer Managementinstrumente sein. Neben ökonomischen Erfolgsgrößen sollte auch der Einfluss auf (emotionale) Arbeitsbelastungen abgeschätzt werden. Auch wenn die beschriebenen, professionsbezogenen Lernprozesse einen grundsätzlich gelingenden Umgang mit emotionalen Arbeitsbelastungen skizzieren, so ist das Durchlaufen dieser Lernprozesse dennoch eine höchst anspruchsvolle und fordernde Aufgabe. Insbesondere Assistenzärzt*innen könnten zum Beginn ihrer praktischen Zeit durch die Organisation besser unterstützt werden, indem sie zum Beispiel direkt am Anfang ihrer praktischen Ausbildung mit dem Besuch der (in der Ausbildungsordnung vorgesehenen) Balintgruppen als einem emotional unterstützenden Weiterbildungselement beginnen. Dies ist aufgrund beschränkter Abteilungsbudgets für Weiterbildungen jedoch nicht in jeder Klinik möglich. Und auch wenn in der Gynäkologie das Emotionsmanagement im Wesentlichen ein professionsgesteuerter Prozess ist, stellt sich die Frage, welche Unterstützungsangebote generell den Umgang mit den als belastend erlebten, singulären emotionalen Ereignissen erleichtern könnten. Zur Reduzierung der Burnoutgefahr bei medizinischem Personal in Krankenhäusern, allerdings ohne expliziten Bezug auf emotionale Faktoren, schlägt z.B. Grosser (2014) verschiedene organisationsbezogene Maßnahmen vor. Deren Anwendbarkeit mit Blick
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auf emotionale Arbeitsbelastungen wäre zu prüfen, denn ein Beitrag der Gynäkolog*innen beschäftigenden Organisationen zur Erleichterung des (Erlernens des) Emotionsmanagements wäre sicher für alle Seiten gewinnbringend. Abschließend ist es so, dass die hier präsentierte Perspektivität stark durch den gewählten Kontext der Gynäkologie geprägt ist, so dass sich ein Großteil der erzielten Erkenntnis auf die Rahmenbedingungen und Funktionsweise eines Emotionsmanagements in Professionen bezieht. Gerade wegen diesen erzielten Erkenntnissen, aber auch um sie um andere Perspektiven zu ergänzen, möchte ich noch einmal betonen, dass sich ein organisationssoziologisch geprägter Blick auf das Emotionsmanagement auch mehr als 30 Jahre nach dem Erscheinen von Hochschilds „Das gekaufte Herz“ lohnt und insbesondere vor dem Hintergrund einer heutigen, psychologisch dominierten Forschungslandschaft zum Emotionsmanagement in Organisationen neue Einsichten liefern kann bzw. alte Einsichten im Kontext einer veränderten Arbeitswelt erneut in die Debatte zurückbringen kann. Die hier gewählte Methodologie der Grounded Theory eignet sich dabei aus meiner Sicht besonders gut, um einen altvertrauten Gegenstand wie die Emotionsarbeit aus einer neuen Perspektive zu betrachten und frische Einsichten zu generieren.
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Danksagung
Eine Doktorarbeit zu verfassen, heißt – zumindest in meinem Fall – sich auf einen langen Weg zu begeben. Zahlreiche Menschen haben mich dabei unterstützt und begleitet, und einigen davon möchte ich an dieser Stelle besonders danken. An erster Stelle danke ich meinen Interviewpartner*innen für ihre Bereitschaft und Geduld, all meine Fragen ausführlich zu beantworten und mir einen Einblick in ihre Arbeits- und Gefühlswelt zu gewähren. Ohne sie wäre diese Arbeit so nicht zustande gekommen! Meinem Doktorvater Rainhart Lang danke ich insbesondere für das unerschütterliche Vertrauen in meine Themenwahl und die Freiheit, dieses Thema auf meine Art bearbeiten zu dürfen. G. Günter Voß danke ich für die Übernahme der Zweitbegutachtung sowie eine Reihe von konstruktiv irritierenden und gerade dadurch gewinnbringenden Nachfragen und Kommentaren. In meiner Zeit an der TU Chemnitz und an der TU Berlin hatte ich immer wieder Gelegenheit, meine Arbeit zu diskutieren und so manchen Aspekt anders zu betrachten. Vor allem möchte ich mich für Impulse und Ratschläge bei Ronald Hartz, Irma Rybnikova und Matthias Rätzer sowie Arnold Windeler, Robert Jungmann, Dzifa Ametowobla, Jana Albrecht und dem Write Club-Team um Isabell Stamm und Grit Laudel bedanken. Eine weitere wichtige Reflexionsfläche und Anstoßpunkt für vielerlei NeuBedenken in der empirischen Arbeit entsprang der gemeinsamen Arbeit in der Online-Grounded-Theory-Gruppe: großen Dank dafür an Bessy Albrecht-Ross, Marion Grafe, Claudia Graf-Pohl, Susanne Leitner, Doris Pfeiffer, Lea PutzErath, Katrin Rohde und Nicole Weydmann! Und ich danke Benjamin Rego, der meine (Doktor)Arbeit vom ersten Tag an begleitet hat, die euphorischsten und niedergeschlagensten Arbeitsphasen mit mir geteilt und an mir ertragen hat, und, nicht zuletzt, nicht müde wurde, Ideen und Texte kritisch zu kommentieren.
Darstellungsverzeichnis
Darstellungen ohne Autor*innennachweis sind eigene Darstellungen und wurden von mir selbst erstellt. Darstellung 1: Darstellung 2: Darstellung 3: Darstellung 4: Darstellung 5: Darstellung 6: Darstellung 7: Darstellung 8: Darstellung 9: Darstellung 10: Darstellung 11: Darstellung 12: Darstellung 13: Darstellung 14: Darstellung 15:
Genealogie der Grounded Theory Methodologie | 21 Veranschaulichung des theoretischen Samplings anhand der Schlüsselkategorie "sich (distanziert) einlassen" | 23 Das Kodierparadigma | 28 Aufbau der Arbeit | 35 Verteilung der Interviewpartner*innen auf die Organisationsformen | 48 Die zeitliche Struktur des Arbeitstages in der Klinik | 52 Entwicklungsorientierte Klassifikation von Emotionen | 62 Eine Arbeitsprozess-Perspektive auf die ‚economy of feelings‘ | 82 Umgang mit Emotionen erlernen als Erfahrungslernen | 106 Das in Kapitel 3 entwickelte Phänomen des Kodierparadigmas | 122 Das Kodierparadigma unter Hinzunahme der ursächlichen Bedingungen | 140 Die Strategie ‚Rückzug in die emotionsneutrale Medizin‘ | 147 Die Strategie ‚Direkt kommunizierter Dissens‘ | 150 Das Kodierparadigma unter Hinzunahme der Strategien und intervenierenden Bedingungen | 176 Das Kodierparadigma unter Hinzunahme der Konsequenzen als Gesamtübersicht über die empirischen Ergebnisse | 194
Anhang
(A) Kurzfragebogen (B) Interviewleitfäden (C) Interviewvertrag
246 | Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
Anhang A: Kurzfragebogen
Basisdatenbogen Zunächst benötige ich einige persönliche Angaben: Geschlecht:
__ weiblich __ männlich
Familienstand:
__ ledig – Single __ ledig – in Partnerschaft lebend __ verheiratet __ geschieden __ verwitwet ____________________________
andere: Ihr Alter:
____ Jahre
Als nächstes bitte ich Sie um einige berufliche Auskünfte: Ihre Berufsbezeichnung: ____________________________________ Wo üben Sie Ihren Beruf aus? __ eigene Praxis __ Praxisgemeinschaft __ Klinik / Krankenhaus andere: ___________________________________ Bitte beschreiben Sie kurz Ihren engsten MitarbeiterInnen- / KollegInnenkreis, mit dem Sie täglich zusammenarbeiten (z.B. Zahl der MitarbeiterInnen/ KollegInnen, Ausbildung): _________________________________________________________________ _________________________________________________________________ _________________________________________________________________ _________________________________________________________________ Vielen Dank für diese Angaben. Sie unterliegen selbstverständlich ebenso der Vertraulichkeit und Anonymität wie die Interviewinhalte.
Anhang | 247
Anhang B: Interviewleitfäden Leitfaden für die Interviews mit Gynäkologin 1 bis Gynäkologe 9 Mögliche Leitfadenfragen: Block 1: Basisinformationen – Organisatorisches Umfeld • Wie sieht ein typischer Arbeitstag aus/ gibt es einen typischen, rhythmischen Wochenablauf? Block 2: Emotionen in der Arbeit • Welche Bedeutung kommt Emotionen in Ihrer täglichen Arbeit zu? • Können Sie Situationen beschreiben, die besonders stark emotional aufgeladen sind? (die Sie als emotional stark aufgeladen empfinden/ die der Patient…) • Welche positiven / negativen Gefühle treten auf? • Kommt es vor, dass Sie Emotionen zeigen müssen, ohne sie zu empfinden? Oder anders herum: Gefühle nicht zeigen können, die Sie empfinden? Block 3: Bewältigung von Emotionen • Was tun Sie, wenn Sie durch ein Ereignis in Ihrer Arbeit besonders (emotional) aufgewühlt sind? • Wenn Sie z.B. einem Patienten eine schlechte Nachricht überbringen müssen – bereiten Sie sich dann darauf vor? (wie?) Wie gehen Sie während des Gesprächs vor, was tun Sie hinterher? Wie geht es Ihnen vorher/ währenddessen / hinterher? • Mit welchen Gruppen / Personen teilen Sie emotionale Erlebnisse? Block 4: Profession / Sozialisation • Hat das Thema „Emotionen“ in Ihrer Ausbildung eine Rolle gespielt? Inwiefern? • In der Fortbildung? Inwiefern? • Hat sich Ihr Umgang mit emotionalen Erlebnissen / Emotionen im Laufe Ihres Berufslebens verändert? Ausstiegsfrage: • Welche Maßnahmen würden Ihnen den Umgang mit Emotionen in der täglichen Arbeit erleichtern? Alternativ: Was/ welche Veränderungen würden Sie Kollegen raten, die weniger gut als Sie mit den emotionalen Aspekten Ihrer Arbeit umgehen können? Dank & Bereitschaft zu Rückfragen?
248 | Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
Modifizierter Leitfaden für das Interview mit Gynäkologin 10 Leitfragen: Basisinformationen – Organisatorisches Umfeld • Wie ist es dazu gekommen, dass Sie Gynäkologin geworden sind? Spezialisierung? • Was macht den Beruf für Sie aus? • Wie sieht ein typischer Arbeitstag aus/ gibt es einen typischen Wochenablauf? Emotionen in der Arbeit • Was bedeutet so ein typischer Tages-/Wochenablauf für Ihe Stimmung? / wie geht es Ihnen dann? • Welche Bedeutung kommt Emotionen in Ihrer täglichen Arbeit zu? • Können Sie mir ein Erlebnis beschreiben, dass Sie in der letzten Zeit besonders berührt hat? (die Sie/ die Patientin als emotional (stark) aufgeladen empfinden? • Welche Gefühle traten auf /treten auf? (positiv/ negativ?) • Kommt es vor, dass Sie Emotionen zeigen müssen, ohne sie zu empfinden? Oder anders herum: Gefühle nicht zeigen können, die Sie empfinden? Bewältigung von Emotionen • Was tun Sie, wenn Sie durch ein Ereignis in Ihrer Arbeit besonders (emotional) aufgewühlt sind? • Gibt es Situationen in Ihrer Arbeit, auf die Sie sich besonders vorbereiten? Wie geht es Ihnen vorher/ währenddessen / hinterher? • Mit wem teilen Sie emotionale Erlebnisse? Profession / Sozialisation • Hat das Thema „Emotionen“ in Ihrer Ausbildung eine Rolle gespielt? Inwiefern? • In der Fortbildung? Inwiefern? • Hat sich Ihr Umgang mit emotionalen Erlebnissen / Emotionen im Laufe Ihres Berufslebens verändert? Ausstiegsfrage: • Was würde Ihnen den Umgang mit Emotionen in der täglichen Arbeit erleichtern? Alternativ: Was/ welche Veränderungen würden Sie Kollegen raten, die weniger gut als Sie mit den emotionalen Aspekten Ihrer Arbeit umgehen können? Dank & Bereitschaft zu Rückfragen?
Anhang | 249
Anhang C: Interviewvertrag o o
Ausfertigung für die Interviewerin Ausfertigung für den/ die Befragte(n)
Interviewvertrag/Datenschutzregelung 1. Die Teilnahme am Interview ist freiwillig. Es dient dem Zweck der Befragung zur Bedeutung von Emotionen in der täglichen Arbeit ausgewählter Berufsgruppen, hier: Fachärzte/innen Gynäkologie/ Frauenheilkunde (2011) 2. Für die Durchführung und wissenschaftliche Auswertung des Interviews ist
verantwortlich: Dipl. Sozialwiss. Kerstin Jungnick, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Organisation und Arbeitswissenschaft der TU Chemnitz Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Thüringer Weg 7 09126 Chemnitz, Sachsen
Telefon: + 49 (0)371 531 … Fax: + 49 (0)371 531 … Email: …@wirtschaft.tu-chemnitz.de 3. Die Verantwortliche trägt dafür Sorge, dass alle erhobenen Daten streng ver-
traulich behandelt werden und ausschließlich zum vereinbarten Zweck verwendet werden. 4. Die/der Befragte erklärt ihr/sein Einverständnis mit der Aufzeichnung (Ton)
und der wissenschaftlichen Auswertung des Interviews. Nach Ende der Aufzeichnung können auf ihren/seinen Wunsch einzelne Abschnitte des Gesprächs gelöscht werden.
250 | Medizinische Fachlichkeit und Emotionen
5. Zur Sicherung des Datenschutzes wird das Material entsprechend folgender
Datenschutzvereinbarungen behandelt: Ton-/Videoaufnahmen (a) Die Aufnahme wird vom Bearbeiter/-in bzw. Projektleiter/-in verschlossen aufbewahrt und nach Abschluss der Untersuchung, spätestens jedoch nach vier Jahren gelöscht. (b) Zugang zu den Aufnahmen haben ausschließlich Bearbeiter/-in bzw. Projektmitglieder. (c) Darüber hinaus kann die Aufnahme zu Lehrzwecken in Seminaren benutzt werden. (Alle Personen müssen dabei zur Einhaltung des Datenschutzes verpflichtet werden.) Auswertung und Archivierung (a) Zu Auswertungszwecken wird von der Aufnahme ein schriftliches Protokoll (Transkript) angefertigt. Namen und Ortsangaben der/ des Befragten werden im Protokoll – soweit erforderlich – unkenntlich gemacht. (b) In Veröffentlichungen muss sichergestellt werden, dass eine Identifikation der/ des Befragten nicht möglich ist.
6. Die Verwaltungsrechte (Copyright) des Interviews liegen bei der Interviewe-
rin. 7. Die/der Befragte kann ihre/seine Einverständniserklärung innerhalb von 14
Tagen ganz oder teilweise widerrufen. 8. Sondervereinbarungen werden protokolliert und der Vereinbarung beigefügt. 9. Eine unterschriebene Kopie dieses Vertrages erhält die /der Befragte.
Ort:___________________, den____,____,________
Interviewerin:___________________Befragte(r):____________________
Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
Sabine Hark, Paula-Irene Villa
Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6
Anna Henkel (Hg.)
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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
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Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9
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