Medizinethik in der DDR: Moralische und menschenrechtliche Fragen im Gesundheitswesen 3515111751, 9783515111751

Hippokrates oder Lenin – in welchem Verhältnis standen Medizin und Moral in der DDR? Die Autoren dieses Bandes blicken h

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Table of contents :
INHALT
MEDIZIN UND ETHIK IN DER DDR. ZUR EINFÜHRUNG
I. DDR-POLITIK, MEDIZIN UND MORAL KONTEXTE – STRUKTUREN – PRAXIS
„HIER LÄUFT BALD GAR NICHTS MEHR“. BSTU-QUELLEN ZUR ENTWICKLUNG DES GESUNDHEITSWESENS IN DER DDR
ÄRZTE ALS INOFFIZIELLE MITARBEITER DES MINISTERIUMS FÜR STAATSSICHERHEIT DER DDR
„WARUM HABT IHR SOLCHE ANGST, DASS WIR NICHT WIEDERKOMMEN?“
DER LANGE SCHATTEN DER GESCHICHTE. WEITERLEBEN NACH POLITISCHER HAFT IN DER DDR
II. MEDIZINETHISCHE PROBLEME IN DER DDR VOM BEGINN ZUM ENDE DES LEBENS
„ALLE KINDER SOLLEN WUNSCHKINDER SEIN.“
NUR EINE SPRITZE. DIE HEPATITIS-C-VIRUSINFEKTIONEN DURCH ANTI-D-IMMUNISIERUNG IN DER DDR
VERSUCHSFELD DDR. KLINISCHE PRÜFUNGEN WESTLICHER PHARMAFIRMEN HINTER DEM EISERNEN VORHANG
MORALISCHE FRAGEN VON STERBEN UND TOD. MEDIZINETHIK DER DDR IM DIENST DES MARXISMUS
III. MEDIZIN – GESCHICHTE – MORAL SCHLÜSSELPERSONEN UND IHR WIRKEN
GESCHICHTE UND ETHIK AUS SICHT VON GESUNDHEITSMINISTER LUDWIG MECKLINGER.
HERBERT UEBERMUTH: „WIR STEHEN ZUM ÄRZTLICHEN ETHOS.“
ARZT, AKADEMIEPRÄSIDENT, AUFSICHTSRAT. DER DDR-MEDIZINER HORST KLINKMANN IM DIENST DES STAATES
OTTO PROKOP UND DIE GERICHTSMEDIZIN IN DER DDR.
GESCHICHTE UND ETHIK DER DDR-MEDIZIN.
IV. SCHLÜSSELDOKUMENTE ZUR BIOPOLITIK IN DER DDR
GESETZ ÜBER DIE UNTERBRECHUNG DER SCHWANGERSCHAFT
VERORDNUNG ÜBER DIE DURCHFÜHRUNG VON ORGANTRANSPLANTATIONEN
GESETZ ÜBER DEN VERKEHR MIT ARZNEIMITTELN – ARZNEIMITTELGESETZ –
AUTORINNEN UND AUTOREN MIT ADRESSEN
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Medizinethik in der DDR: Moralische und menschenrechtliche Fragen im Gesundheitswesen
 3515111751, 9783515111751

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Andreas Frewer / Rainer Erices (Hg.) Medizinethik in der DDR

Geschichte und Philosophie der Medizin History and Philosophy of Medicine Herausgegeben von Professor Dr. Andreas Frewer, M.A. Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Universität Erlangen-Nürnberg, Glückstrasse 10, 91054 Erlangen Band 13

Andreas Frewer / Rainer Erices (Hg.)

Medizinethik in der DDR Moralische und menschenrechtliche Fragen im Gesundheitswesen

Franz Steiner Verlag

Herausgeber: Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A.   Professor am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin   der Universität Erlangen-Nürnberg. Promotion an der FU Berlin (1998),   European Master in Bioethics (2003), Habilitation für Geschichte,   Theorie und Ethik der Medizin in Hannover (2006).   Mitglied mehrerer Ethik-Gremien und internationaler Editorial Boards. Dr. med. Rainer Erices   Habilitand an der Universität Erlangen-Nürnberg   sowie Projektmitarbeiter am Institut für Geschichte   und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg (UKE).   Kindheit und Studium in Leipzig, Promotion (2003) und ärztliche Approbation   (2005); langjährige Forschung sowie Tätigkeit für den Mitteldeutschen Rundfunk.

Umschlagabbildung: Ambulanz Leipzig Eutritzsch (1980), Fotografie von Sieghard Liebe, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11175-1 (Print) ISBN 978-3-515-11178-2 (E-Book)

INHALT

Andreas Frewer, Rainer Erices Medizin und Ethik in der DDR Zur Einführung ...................................................................................................... 7 I. DDR-POLITIK, MEDIZIN UND MORAL KONTEXTE – STRUKTUREN – PRAXIS Rainer Erices, Antje Gumz „Hier läuft bald gar nichts mehr“ BStU-Quellen zur Entwicklung des Gesundheitswesens in der DDR ................. 15 Francesca Weil Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ......................................................... 29 Markus Wahl „Warum habt ihr solche Angst, daß wir nicht wiederkommen?“ Grenzübertritte der medizinischen Intelligenz in den 1970er Jahren .................. 59 Kornelia Beer Der lange Schatten der Geschichte Weiterleben nach politischer Haft in der DDR ................................................... 81 II. MEDIZINETHISCHE PROBLEME IN DER DDR VOM BEGINN BIS ZUM ENDE DES LEBENS Andrea Quitz „Alle Kinder sollen Wunschkinder sein“ Schwangerschaftsabbruch und Bioethik in der DDR ....................................... 101 Anne Mesecke Nur eine Spritze. Die Hepatitis-C-Virusinfektionen durch Anti-D-Immunisierung in der DDR ......................................................... 119

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Inhalt

Rainer Erices, Andreas Frewer, Antje Gumz Versuchsfeld DDR. Klinische Prüfungen westlicher Pharmafirmen hinter dem Eisernen Vorhang ................................. 129 Andrea Quitz Moralische Fragen von Sterben und Tod Medizinethik der DDR im Dienst des Marxismus ............................................. 145 III. MEDIZIN – GESCHICHTE – MORAL SCHLÜSSELPERSONEN UND IHR WIRKEN Rainer Erices Geschichte und Ethik aus Sicht von Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger Positionen zur Mitverantwortung von Ärzten bei NS-Medizinverbrechen ....... 165 Francesca Weil Herbert Uebermuth: „Wir stehen zum ärztlichen Ethos“ Ein Leipziger Mediziner in zwei Diktaturen ..................................................... 171 Rainer Erices, Antje Gumz, Andreas Frewer Arzt, Akademiepräsident, Aufsichtsrat Der DDR-Mediziner Horst Klinkmann im Dienst des Staates .......................... 185 Rainer Erices Otto Prokop und die Gerichtsmedizin in der DDR Das Wirken einer „unpolitischen Koryphäe“ an Grenzen ................................. 197 Andreas Frewer, Ulf Schmidt, Rainer Erices Geschichte und Ethik der DDR-Medizin. Nachwort ......................................... 205 IV. SCHLÜSSELDOKUMENTE ZUR BIOPOLITIK IN DER DDR Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft (09.03.72) ..................... 215 Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen (04.07.75) ... 217 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln/Arzneimittelgesetz (27.11.86) ..... 223 Autorinnen und Autoren mit Adressen .............................................................. 285

MEDIZIN UND ETHIK IN DER DDR. ZUR EINFÜHRUNG Andreas Frewer, Rainer Erices Hippokrates oder Lenin? – so fragte ein Vortrag im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesung an der Universität Erlangen-Nürnberg und problematisierte die Werte im Gesundheitswesen der DDR.1 Dabei wurde bildlich wie auch inhaltlich auf zwei wichtige Bände zur Medizingeschichte und Medizinethik in der DDR Bezug genommen: Zum einen auf das Buch „Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen“ von Kornelia Beer und Gregor Weißflog,2 zum anderen auf die Studie von Klaus-Dieter Müller „Zwischen Hippokrates und Lenin. Gespräche mit ost- und westdeutschen Ärzten über ihre Zeit in der SBZ und DDR“.3 Das erstgenannte Werk basierte auf einer umfangreichen empirischen Studie zu den Erfahrungen der Opfer sowie langfristigen gesundheitlichen Folgen und brachte eindrückliche Berichte von Betroffenen wie diesen: „R. B. wurde als 16-Jähriger verurteilt: Er hatte Lenin einen Bart angemalt. Man übergab ihn der Sowjetischen Militäradministration und sperrte den Jugendlichen mit seinen Kameraden in eine Keller-Zelle. Zwei erhielten schließlich 25 Jahre, er und ein weiterer Junge zehn Jahre Haft. B. kam nach Bautzen in das Zuchthaus ‚Gelbes Elend‘ und wurde im Jugendsaal untergebracht. 200-300 Häftlinge waren in einem Raum zusammengepfercht und schliefen auf 4 schmalen Pritschen – alle waren aufgrund von politischen Vergehen verurteilt worden.“

Die Folgen für Leib und Leben der Opfer waren – und sind bis heute – gravierend. Politisches Unrecht und die medizinischen Folgen für das individuelle Schicksal können ebenso wenig voneinander getrennt werden wie die allgemeine gesellschaftliche oder ökonomische Entwicklung und das DDR-Gesundheitswesen.5 Der zweitgenannte Band nutzte ebenfalls Methoden der oral history und dokumentierte fünf Jahre nach der Wende ein differenziertes Bild von Erfahrungen der Ärzteschaft in Ost und West. In welchem Ausmaß prägten ideologisch-politische Motive das Gesundheitswesen in der DDR? Waren Leitbilder von „Marxismus

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Beide Herausgeber des vorliegenden Bandes waren in dieser Vorlesungsreihe vertreten. Hier zitiert wird der Vortrag von Andreas Frewer, der in einer Aufzeichnung vom 12.01.2012 im Rahmen des Collegium Alexandrinum auch als Filmmitschnitt verfügbar ist, vgl. Videoportal der FAU unter www.video.uni-erlangen.de/clip/id/2049.html (15.01.2015). Beer/Weißflog (2011). Müller (1994). Frewer (2011), S. 9; vgl. Beer/Weißflog (2011). Im gleichen Jahr hat eine Ausstellung die „Medizin hinter Gittern“ am Beispiel des StasiHaftkrankenhauses in Berlin-Hohenschönhausen beleuchtet, vgl. Voigt/Erler (2011).

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Andreas Frewer, Rainer Erices

und Leninismus“ oder Idealbilder von „humanitärem Hippokratismus“ im Zeichen des bärtig-weisen Griechen und „seines“ Eids für die Medizin ausschlaggebend? Keinen Pfifferling wert, schrieb Lenin, seien Kommunisten, die dem Gegner den Kampf ansagen, obwohl sie unterliegen werden. Derartige Kommunisten seien gar Verbrecher.6 In solch einer Situation gelte es zu paktieren, zu lavieren, Kompromisse zu schließen. Dabei sollten die eigenen revolutionären Pfade nicht verlassen, doch die fernen Ziele angesichts aktuell bestehender ungünstiger Kräfteverhältnisse mit Hilfe der Gegner erreicht werden. Eine gelebte Koexistenz nach innen oder außen sei kein Verrat an revolutionären Ideen, vielmehr eine Fortsetzung des Klassenkampfes, nur mit anderen Mitteln. Diese Ideen Lenins zur politischen Dialektik lassen sich im Grunde auf die Situation im Gesundheitswesen der DDR gegen Ende ihrer Existenz übertragen. Auch wenn vielleicht heute viele Menschen glauben, dass die medizinische Fürsorge der DDR eine ihrer historischen Glanzleistungen darstellt, so stand das Gesundheitswesen in den 1980er Jahren tatsächlich vor dem Abgrund. Der Staat und besonders die Sicherheitsorgane waren angesichts des allumfassenden Mangels hilflos. Kompromisse wurden geschlossen, mit äußeren und inneren Feinden, damit das System überhaupt am Laufen blieb. Nach außen musste geschönt werden, damit der allgegenwärtige und gebetsmühlenartig verkündete Zweckoptimismus – jenes Fernziel einer besseren Gesellschaft – erhalten blieb. Dies spiegelt sich in besonderer Weise im Titelbild des vorliegenden Bandes: „Gesunde und lebensfrohe Menschen – unser humanistisches Ziel“ als Parole vor der medizinischen „Ambulanz Eutritzsch“ (Stadtteil im Norden von Leipzig), die in Bezug auf den baulichen Zustand symbolisch bereits eher den Verfall des DDR-Staates und die problematische Lage der Menschenrechte dokumentiert.7 Die pragmatische Auslegung der Theorien Lenins führte nachweislich nicht zum Erfolg; vielmehr entfernte sich jegliche Theorie von der gelebten Praxis.8 Zur letzten Gesundheitskonferenz der alten DDR noch im September 1989, als etwa die Montagsdemonstrationen in Leipzig bereits bis dahin schier unglaubliche Ausmaße erreicht hatten, und der Unmut insbesondere in der Ärzteschaft einem Höhepunkt zustrebte, verneinten leitende Mediziner eine Abkehr von geltenden Grundsätzen.9 Die Begründung lautete, es habe sich ja doch alles bewährt;10 dies war eine Ansicht fern von Realität oder Glaubwürdigkeit, und – vom Standpunkt des ärztlichen Auftrags betrachtet – eher geprägt von Verantwortungslosigkeit. 6 7

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Lenin (1920), S. 36. Siehe auch www.derfunke.at/html/pdf/revolutionstheorie/lenin_links radikalismus.pdf (15.01.2015). Fotografie, Leipzig Eutritzsch (Sieghard Liebe, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, 1980). Die auf dem Cover im unteren Bildabschnitt nicht vollständig sichtbaren Gitter (das komplette Bild findet sich auf S. 287) können ebenfalls als Metaphern für den Zustand des Gesundheitswesens wie auch der DDR insgesamt gesehen werden; vgl. auch Voigt/Erler (2011). Wir danken Sieghard Liebe für die Genehmigung zum Abdruck der Fotografie. Vgl. u.a. Beer/Weißflog (2011) und Erices/Gumz (2014). Zur schlechten Stimmung unter Ärzten BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 159. Ebd., Nr. III 715/74, „Karl Dietrich“.

Medizin und Ethik in der DDR. Zur Einführung

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Der erste Beitrag von Rainer Erices und Antje Gumz im vorliegenden Band schildert diesen deutlich sichtbaren Verfall des Gesundheitswesens und auch den moralischen Bankrott mancher Akteure in der Medizin und Ethik jener Zeit.11 Er nutzt dabei zahlreiche interne Berichte und BStU-Quellen zum realen Zustand. Um persönliche und moralische Verantwortung geht es im zweiten Beitrag von Francesca Weil: Viele Ärzte dienten der DDR-Staatssicherheit als Spitzel; manche von ihnen gingen den Geheimpakt aus Überzeugung ein, manche unter Druck.12 Untersucht wurde, inwieweit Ärzte sich als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR an der Bespitzelung ihrer Patienten beteiligten und sich damit auch berufsethischer Vergehen schuldig machten. Zwei weitere Aufsätze stecken den historischen Rahmen für die DDR-Politik und die Kontexte des Gesundheitswesens ab: Markus Wahl fragt mit einem Zitat im Titel seines Beitrags „Warum habt ihr solche Angst, daß wir nicht wiederkommen?“ nach den Ursachen und Hintergründen für die Grenzübertritte der „medizinischen Intelligenz“ in den 1970er Jahren. Kornelia Beer wiederum betrachtet in ihrem Aufsatz zum „langen Schatten“ der DDR-Geschichte die gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen beim Weiterleben nach politischer Haftphase in der DDR. Die menschenrechtlich aussagekräftigen Fallbeispiele wie das eingangs zitierte von ‚R.B.‘ werden hier in einem weiteren Rahmen kontextualisiert und analysiert. Der zweite Abschnitt des vorliegenden Buches nimmt einzelne medizinethische Problemfelder der DDR-Geschichte genauer in den Blick. Dabei werden moralische Aspekte am Beginn und Ende menschlichen Lebens detailliert erörtert. Andrea Quitz gibt zunächst einen Überblick über den Bereich Schwangerschaftsabbruch und Bioethik in der DDR mit dem idealistischen Zitat „Alle Kinder sollen Wunschkinder sein“, das in vielerlei Hinsicht ebenfalls an die harten Realitäten ostdeutscher Praxis prallte. Anne Mesecke bringt Licht in ein außerordentlich brisantes Gebiet bei der Betreuung von jungen Müttern in der DDR. Sie dokumentiert mit den iatrogenen Hepatitis-C-Virusinfektionen durch Anti-D-Immunisierung einen der großen Medizinskandale der DDR, der trotz des Filmes „Nur eine Spritze“13 immer noch viel zu wenig im Bewusstsein wie auch in der Erinnerungskultur der Gesellschaft bekannt ist. Ein weiteres hochproblematisches Feld in der DDR-Medizin war der Umgang mit westlichen Forschungsprojekten an Patienten in Ostdeutschland. Rainer Erices, Andreas Frewer und Antje Gumz erläutern klinische Prüfungen westlicher Pharmafirmen hinter dem Eisernen Vorhang und zeigen die moralischen Probleme bei dem wirtschaftlichen Interesse an Devisen und die mangelhafte Aufklärung von Betroffenen im Rahmen von Versuchsreihen in der DDR.14 Andrea Quitz wiederum beleuchtet in einem weiteren Beitrag die Medizinethik der DDR im Dienst des Marxismus am Beispiel der moralischen Fragen von Sterben und Tod. Die fachlichen und wissenschaftlichen Überzeugun11 12 13 14

Vgl. u.a. Ernst (1997), Süß (1999), Bruns (2012) und Erices/Gumz (2014). Vgl. generell Weil (2008). „Nur eine Spritze. Der größte Medizinskandal der DDR“. Film von Ariane Riecker und Anne Mesecke. Vgl. www.mdr.de/damals/anti_d100.html (15.01.2015). Zu weiteren aktuellen Studien siehe etwa Erices (2013), Erices (2014a) und (2014b) sowie Erices et al. (2014a) und (2014b) sowie Anonymus (1991) und Schade (2010).

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Andreas Frewer, Rainer Erices

gen der ostdeutschen Autoren zum Themenfeld Lebensende lassen sich häufig nicht trennen von den politischen Positionen des Staates.15 Der dritte Teil „Medizin – Geschichte – Moral: Schlüsselpersonen und ihr Wirken“ geht dann den strukturellen Fragen nochmals an einzelnen Beispielen der Wechselwirkung von Ethik und Staat nach. Ausgewählte Kasuistiken zu zentralen Persönlichkeiten für Medizin und Ethik beleuchten dabei Wertkonflikte und Haltungen im Einzelfall. Rainer Erices erörtert am Beispiel von Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger die Einstellungen und den Umgang in der DDR mit historischen und moralischen Fragen im Rückblick auf die Beteiligung von Ärzten bei NS-Medizinverbrechen. Francesca Weil behandelt mit Herbert Uebermuth einen Leipziger Mediziner, der in zwei repressiven Systemen gewirkt hat und mit seinem Ausspruch „Wir stehen zum ärztlichen Ethos“ die politischen Haltungen spiegelt. Rainer Erices, Antje Gumz und Andreas Frewer zeigen am Beispiel des DDR-Mediziners Horst Klinkmann, wie man als Arzt, Akademiepräsident und Aufsichtsrat im Dienst des Staates Karriere(n) machen konnte. Rainer Erices beleuchtet mit Otto Prokop den Sonderfall eines westlichen Wissenschaftlers in der DDR-Gerichtsmedizin. Das Wirken einer „unpolitischen Koryphäe“ wird dabei in doppelter Hinsicht an „Grenzkonflikten“ deutlich, war der Forensiker doch nicht nur an der Charité16 in politisch exponierter Stellung tätig, sondern unter anderem auch bei der Sektion von Mauertoten aktiv. Andreas Frewer, Ulf Schmidt und Rainer Erices beleuchten abschließend in ihrem Nachwort nochmals übergreifende historische und moralische Dimensionen der Medizinethik in der DDRGeschichte mit dem besonderen Schwerpunkt Aufarbeitung im letzten Vierteljahrhundert seit dem Mauerfall. Ausgewählte Beispiele zeigen den weiterhin bestehenden großen Bedarf an differenzierten Einzel- und Regionalstudien zu Entwicklung und Verantwortung für die Heilkunde in der DDR wie auch bestehende Probleme der historischen Bewertung. Kontinuitäten in Ämtern oder Funktionen bei prominenten Personen in Wissenschaft, Gesellschaft und speziell Medizinethik17 trotz mittlerweile klar dokumentierter ideologischer Ausrichtung und nachgewiesener langjähriger Tätigkeit als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zeigen die moralisch-politischen Probleme bei der langfristigen Bewältigung der DDR-Geschichte wie auch Desiderate für einen differenzierteren Diskurs zur Entwicklung von Medizinethik und Menschenrechten.18 Im Anhang finden sich schließlich ausgewählte Schlüsseldokumente zur Biopolitik in der DDR mit Texten zum Transplantationsrecht, zur Studiendurchführung bei der Forschung am Menschen und zum Thema Schwangerschaftsabbruch.

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Vgl. auch Kersten (2010), Baust (2010) und Quitz (2013). Zur Charité in Berlin vgl. u.a. Stein (1992a) und (1992b) sowie Herrn/Hottenrott (2010). Vgl. Luther (2010), Schubert-Lehnhardt (2010) und Tanneberger (2010) sowie übergreifend dazu insbesondere Quitz (2013). Zu historischen Kontexten der Medizin und Medizinethik vgl. auch Jütte (1997), Frewer (2000), Frewer/Neumann (2001), Schmidt/Frewer (2007), Frewer (2010), Frewer/Schmidt (2014) sowie Pasternack (2015).

Medizin und Ethik in der DDR. Zur Einführung

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Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren mit Kontaktadressen zum weiteren wissenschaftlichen Austausch rundet den Band ab. Allen Beitragenden möchten wir für ihre Artikel sowie die Arbeit und Geduld im Rahmen der intensiven Redaktion des vorliegenden Bandes herzlich danken. Diverse Mitarbeiter/-innen der konsultierten Archive, vor allem des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (BStU) unter Leitung von Roland Jahn, haben die Quellensichtung und Forschung sehr unterstützt. Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Mitarbeiter/-innen der Professur für Ethik in der Medizin – insbesondere Anja Koberg, M.A., Frauke Scheller M.A. und Kerstin Wagner, M.A. – konnten den umfangreichen Editionsprozess sehr engagiert betreuen. Für die bewährte Zusammenarbeit im Rahmen der Fachbuchreihe „Geschichte und Philosophie der Medizin“ danken wir Dr. Thomas Schaber, Katharina Stüdemann und Harald Schmitt vom Steiner Verlag.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BSTU, MFS, BV Neubrandenburg, ABT. XX , NR. III 715/74, „Karl Dietrich“.

LITERATUR Anonymus (1991): „Das ist russisches Roulett“. Schmutzige Geschäfte mit westlichen Pharmakonzernen brachten dem SED-Regime Millionen. Der Spiegel 6 (1991), S. 80–90. Baust, G. (2010): Ethische Problemsituationen in der Intensivmedizin der DDR und heute. In: Bettin/Gadebusch Bondio (2010), S. 116–126. Beer, K./Weißflog, G. (2011): Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen. Mit einem Geleitwort von A. Frewer und einem Vorwort von M. Pfüller. Medizin und Menschenrechte, Bd. 4. Göttingen. Bettin, H./Gadebusch Bondio, M. (Hg.) (2010): Medizinische Ethik in der DDR. Erfahrungswert oder Altlast? Lengerich u.a. Bruns, F. (2012): Krankheit, Konflikte und Versorgungsmängel: Patienten und ihre Eingaben im letzten Jahrzehnt der DDR. Medizinhistorisches Journal 47 (2012), S. 335–367. Erices, R. (2013): Arzneimitteltests in der DDR: Testen für den Westen. Deutsches Ärzteblatt 110, 27–28 (2013), S. A–1358/B–1191/C–1175. Erices, R. (2014a): Arzneimitteltests in der DDR: Testen für den Westen (II). Deutsches Ärzteblatt 111, 1–2 (2014), S. A–25/B–22/C–22. Erices, R. (2014b): DDR-Gesundheitswesen: Blut für Devisen. Deutsches Ärzteblatt 111, 4 (2014), S. A–112/B–96/C–92. Erices, R./Gumz, A. (2014): DDR-Gesundheitswesen: Die Versorgungslage war überaus kritisch. Deutsches Ärzteblatt 111, 9 (2014), S. A–348/B–302/C–289. Erices, R./Frewer, A./Gumz, A. (2014a): Testing Ground GDR: Western Pharmaceutical Firms conducting Clinical Trials Behind the Iron Curtain. Journal of Medical Ethics, doi 10.1136/medethics-2013-101925. Erices, R./Gumz, A./Frewer, A. (2014b): Westliche Humanexperimente in der DDR und die Deklaration von Helsinki. Neue Forschungsergebnisse zur Ethik. In: Jahrbuch Medizin-Ethik 27 (2014), S. 87–98.

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Andreas Frewer, Rainer Erices

Ernst, A.-S. (1997): „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945–1961. Münster. Frewer, A. (2000): Medizin und Moral in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Ethik“ unter Emil Abderhalden. Frankfurt/M., New York. Frewer, A. (2010): Human rights from the Nuremberg Doctors Trial to the Geneva Declaration. Persons and institutions in medical ethics and history. Medicine, Health Care and Philosophy 13 (2010), S. 259–268. Frewer, A. (2011): Persönliche Erfahrung und Geschichte. Geleitwort. In: Beer/Weißflog (2011), S. 9–11. Frewer, A./Neumann, J. N. (Hg.) (2001): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1900–1950. Frankfurt/M., New York. Frewer, A./Schmidt, U. (Hg.) (2014): Forschung als Herausforderung für Ethik und Menschenrechte. 50 Jahre Deklaration von Helsinki (1964–2014). Jahrbuch Medizin-Ethik 27 (2014). Köln. Herrn, R./Hottenrott, L. (2010): Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992). Zeitzeugen erinnern sich. Berlin. Jütte, R. (Hg.) (1997): Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Köln. Kersten, J. (2010): Medizinethische Theorie und Praxis in der DDR, dargestellt am Beispiel der Behandlung kritisch kranker Patienten mit wahrscheinlich infauster Prognose in Gesundheitseinrichtungen. Diss. phil. Frankfurt (Oder). Lenin, W. I. (1920): Detskaja bolezn’ levizny v kommunizme [Dt. Übersetzung: Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus]. Vgl. www.derfunke.at/html/pdf/revolutionstheorie/lenin_linksradikalismus.pdf (15.01.2015). Luther, E. (2010): Abriss zur Geschichte der medizinischen Ethik in der DDR. In: Bettin/Gadebusch Bondio (2010), S. 20–39. Müller, K.-D. (1994): Zwischen Hippokrates und Lenin. Gespräche mit ost- und westdeutschen Ärzten über ihre Zeit in der SBZ und DDR. Köln. Müller, K.-D. (1997): Die Ärzteschaft im staatlichen Gesundheitswesen der SBZ und der DDR 1945-1989. In: Jütte (1997), S. 243–273. Pasternack, P. (2015): Akademische Medizin in der DDR. 25 Jahre Aufarbeitung 1990–2014. Hochschulforschung Halle-Wittenberg. Leipzig. Quitz, A. (2013): Staat, Macht, Moral. Die medizinische Ethik in der DDR. Diss. phil. Erlangen. Schade, T. (2010): Versuchskaninchen im Osten. Experte: Kliniken und Krankenhäuser in der DDR waren in die Medikamententests einbezogen. In: www.freiepresse.de (05.10.2010). Schmidt, U./Frewer, A. (Hg.) (2007): History and Theory of Human Experimentation. The Declaration of Helsinki and Modern Medical Ethics. History and Philosophy of Medicine/ Geschichte und Philosophie der Medizin 2. Stuttgart. Schubert-Lehnhardt, V. (2010): Christlich-marxistischer Dialog – Rückblick auf Standpunkte zu medizinethischen Fragestellungen in der DDR. In: Bettin/Gadebusch Bondio (2010), S. 106– 115. Steger, F./Schochow, M. (2014): Disziplinierung durch Medizin. Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982. Halle (Saale). Stein, R. (Hg.) (1992a): Die Charité 1945–1992. Ein Mythos von innen. Berlin. Stein, R. (1992b): Staats-Organe und Parteitagsherz. In: Stein (1992a), S. 253–268. Süss, S. (1999): Politisch missbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin. Tanneberger, S. (2010): Ethik in der medizinischen Forschung der DDR. In: Bettin/Gadebusch Bondio (2010), S. 40–62. Voigt, T./Erler, P. (2011): Medizin hinter Gittern. Das Stasi-Haftkrankenhaus in Berlin-Hohenschönhausen. Berlin. Weil, F. (2008): Zielgruppe Ärzteschaft. Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Göttingen.

I. DDR-POLITIK, MEDIZIN UND MORAL KONTEXTE – STRUKTUREN – PRAXIS

„HIER LÄUFT BALD GAR NICHTS MEHR“. BSTU-QUELLEN ZUR ENTWICKLUNG DES GESUNDHEITSWESENS IN DER DDR Rainer Erices, Antje Gumz Viele Menschen sind auch heute noch davon überzeugt, dass das ostdeutsche Gesundheitswesen einer der Vorzüge der DDR war.1 Worauf sich diese Annahme stützt, bleibt unklar. Wie auch die gesamte DDR-Wirtschaft war das staatliche Gesundheitswesen2 Ende der 1980er Jahre kaum noch überlebensfähig.3 Dies belegen die Stasi-Akten zu den Bezirksärzten, den leitenden staatlichen Medizinern auf regionaler Ebene, deutlich.4 Bezirksärzte galten in der DDR als Schnittstelle zwischen dem Gesundheitsministerium in Ost-Berlin und den Gesundheitseinrichtungen vor Ort. Sie waren zuständig für die gesamte personelle, materielle und finanzielle Planung in den Bezirken und dazu weisungsbefugt für Krankenhäuser, Polikliniken, Kinderkrippen, Pflegeheime, Apotheken und das Blutspendewesen. Sie erteilten Approbationen an Ärzte, Zahnärzte und Apotheker und überwachten die Hygiene. Außerdem gehörte es zu ihren Pflichten, „gezielt“ auf die „sozialistische Bewusstseinsentwicklung“ besonders von leitenden Medizinern Einfluss zu nehmen. Bezirksärzte entschieden unter anderem mit, welche Bewerber für das Medizinstudium zugelassen werden sollten,5 welche Ärzte als so genannte Reisekader ins westliche Ausland reisen durften;6 sie beteiligten sich an der meist schwierigen Wohnungssuche für Mediziner7 und klärten Beschwerden von Klinikmitarbeitern.8 Nicht zuständig waren Bezirksärzte für Universitätsklinika, die dem Ministerium für Hochschulen und Forschung unterstanden sowie für Gesundheitseinrichtungen der Volkspolizei, der NVA und der Staatssicherheit.9 1 2

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Vgl. Friedrich-Naumann-Stiftung (2009) mit den Zusatzfragen zum Themenkreis DDR im Rahmen des „Deutschen Wertemonitors 2008“. Zur DDR-Geschichte insgesamt sowie zum Gesundheitswesen allgemein siehe etwa Müller (1994), Ernst (1997), Mecklinger (1998), Wolle (1998), Eckart/Jütte (2007), Jeske/Rohland (2007), Fulbrook (2011) und Weber (2012). Vgl. Schröder (2001), Spaar (2003) und Erices/Gumz (2013). Vgl. speziell Erices/Gumz (2012). BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd. 1. Ebd., Nr. 7243. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt XX, Nr. 2325. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 14826. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2740, S. 20–24.

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Rainer Erices, Antje Gumz

Für das Amt eines Bezirksarztes galt die Facharztanerkennung als erforderlich, darüber hinaus ein „2-jähriges postgraduales Studium für Leitungskader im Gesundheits- und Sozialwesen“, eine mindestens zweijährige Tätigkeit als leitender Arzt andernorts sowie ein „ausgeprägtes sozialistisches Bewusstsein“ mit „fundierten Kenntnissen des Marxismus-Leninismus“.10 Als staatliche Leiter hatten Bezirksärzte üblicherweise regelmäßige Kontakte zu Mitarbeitern der Staatssicherheit. Der Geheimdienst konnte über diese offiziellen Verbindungen einen Großteil seines „Informationsbedarfs“ decken. Es mag erstaunen, dass etliche Bezirksärzte zusätzlich als inoffizielle Mitarbeiter (IM) und damit als geheime Spitzel für die Stasi agierten.11 Trotz seines großen Umfangs erscheint der gegenwärtig erschlossene Aktenbestand zu den Bezirksärzten unbefriedigend. Aus den einstigen MfS-Bezirksverwaltungen Schwerin, Cottbus und Frankfurt/Oder liegen kaum Materialien vor; die Unterlagen aus den anderen Bezirken unterscheiden sich deutlich in Inhalt und Systematik. Vergleichsweise viele Akten liegen aus den beiden ehemaligen Bezirken Leipzig und Neubrandenburg vor. Insgesamt ergeben die Unterlagen dennoch ein gutes Bild zur Lage im Gesundheitswesen der 1980er Jahre. Zu finden sind Berichte und Informationen der Bezirksärzte, des Gesundheitsministeriums und der Staatssicherheit. Beispielsweise enthalten die Unterlagen Kontrollberichte aus verschiedenen Einrichtungen, Protokolle der regelmäßigen bezirksärztlichen Beratungen, Beschwerdebriefe aus der Bevölkerung, Investitionspläne, gesetzliche Bestimmungen sowie interne Einschätzungen. Spitzelberichte von Inoffiziellen Mitarbeitern machen einen relativ kleinen Teil aus. ANDAUERNDE ENGPÄSSE BEI MEDIKAMENTEN UND VERBRAUCHSMATERIALIEN Die Akten geben einen detaillierten Einblick über andauernde Versorgungsengpässe in den 1980er Jahren, permanent fehlten Medikamente und Verbrauchsmaterialien. „Mit Erschrecken“ nahm die Staatssicherheit beispielsweise 1982 zur Kenntnis, dass „die fundamentale Therapie der Angina pectoris ernsthaft gefährdet“ war.12 Ein Zwickauer Hersteller konnte nicht liefern. Im Bezirk Dresden konnten 1985 tausende Rezepte nicht eingelöst werden, es fehlten Ausweichpräparate, was „Unzufriedenheit bei Patienten und Ärzten“ auslöste. Im Bezirk Potsdam fiel gleichzeitig die gesamte Lieferung von Asthmaspray aus, „was zu mehreren Eingaben“ führte.13 Im Frühjahr 1988 berichtete der Leipziger Bezirksarzt, dass ein Viertel aller bestellten Pharmazeutika nicht an die Apotheken geliefert 10 11 12 13

BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2740, S. 28–29. Zum MfS in der Medizin generell u.a. Mielke/Kramer (2004) und Weil (2008). BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt XX, Nr. 2325, S. 195. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7157, Teil 1, S. 72.

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wurde. Ursache waren seiner Meinung nach Vertragsrückstände der Industrie.14 Das Problem blieb bis 1989 bestehen, in Leipzig mangelte es an wichtigen Hormonpräparaten, Blutverdünnern und Verbandsstoffen, die Liste über fehlende Medikamente ist zwei Seiten lang.15 Ähnlich problematisch war die Versorgungslage mit Verbrauchsmaterialien. Bei der Bezirksarzt-Beratung im März 1986, an der auch der Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger teilnahm, wurden die andauernden Engpässe bei der Versorgung mit Salben, Puder, Watte oder Zellstoff thematisiert.16 Eine Bestandsaufnahme aus dem Bezirk Magdeburg ergab 1988, dass drei Viertel der Verbandmittel zeitweise nicht geliefert werden konnten, es mangelte an sterilen Kompressen, elastischen Binden und Wundpflaster. Zellstoff und Mullkompressen mussten „aus Großbinden umkonfektioniert“ werden.17 Im Bezirk Neubrandenburg waren im gleichen Jahr Gummihandschuhe nur in „abartigen Größen vorhanden“.18 Nach der Entscheidung des Generaldirektors des Möbelkombinats Suhl, die Produktion von Mundspateln einzustellen, fehlten DDR-weit Spatel. 50 Millionen Stück mussten nun aus Kanada importiert werden, wofür die devisenklamme DDR offenbar 400.000 Valuta-Mark ausgab.19 Der Leipziger Bezirksarzt kritisierte die fehlende Versorgung mit Industrieglas. Ein Zulieferbetrieb in der sächsischen Großstadt war wegen drohender Einsturzgefahr von der Bauaufsicht gesperrt worden, daraufhin war die Versorgung der Apotheken eingestellt worden.20 Die Akten verdeutlichen, dass die oberste Staatsführung von den gravierenden Missständen im DDR-Gesundheitswesen wusste. Das Politbüro befasste sich durchaus auch mit Detailfragen der medizinischen Versorgung, so unter anderem mit der Qualitätssicherung „bei OP-Handschuhen bzw. bei Kondomen“. Der Gewerkschaftschef und gelernte Schlosser Harry Tisch plädierte für eine Wiederverwendung der Handschuhe, ein wenig erfolgreiches Ansinnen. In seinem Antwortschreiben an das Politbüro erwiderte Gesundheitsminister Mecklinger, dass sowohl eine maschinelle als auch manuelle Wiederaufbereitung gebrauchter OPHandschuhe an Technologie und fehlenden Arbeitskräften scheitere, und dass auch in der DDR Einmalgebrauchshandschuhe perspektivisch Standard sein sollten.21 Der Mangel „als generelle Erscheinung im staatlichen Gesundheitswesen“, wie es ein interner MfS-Bericht aus Leipzig ausdrückte,22 erstreckte sich zunehmend auch auf die Ausrüstung in den Kliniken. In Zwickau fehlten Operationsti14 15 16 17 18 19 20 21 22

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt XX, Nr. 252/01. Ebd., Nr. 190. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd 1. BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, Nr. 4379. BStU, MfS, HA XX, Nr. 41, S. 281. BStU, MfS, BV Suhl, Abt XX, Nr. 1007, S. 17; BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 159, S. 42. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 190. BStU, MfS, HA XX, Nr. 532, S. 42–43. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt XX 252/01, S. 124.

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sche, was „zu ernsten Auswirkungen auf Leben und Gesundheit von Patienten“ führen konnte.23 Für Hausarztbesuche fehlten Fahrzeuge, was beispielsweise 1986 in Halle dazu führte, dass nur halb so viele Hausbesuche gemacht werden konnten wie im Bezirksdurchschnitt.24 Ein Bericht aus Neubrandenburg aus dem Jahr 1987 zeigt, dass die verwendete Röntgentechnik „total überaltert“ war: „Hier läuft alles auf Verschleiß“. Mehrere Geräte mussten vom Amt für Atomsicherheit der DDR stillgelegt werden.25 In den Akten findet sich auch eine Beschwerde der Uniklinik Rostock von 1988. Die Diagnostik und Therapie von schwer herzkranken Patienten betrage bis zu zwei Jahre und länger. Die nötige Kardioangiographie-Ausrüstung sei über 30 Jahre alt, bisher seien „35 Patienten durch die lange Wartezeit verstorben“.26 KATASTROPHALER BAUZUSTAND Der bauliche Zustand der Krankenhäuser war vielerorts katastrophal. Eine Inspektion im Bezirkskrankenhaus Zwickau im Jahr 1983 ergab, dass ein Viertel aller Betten wegen Baumängel nicht belegt werden konnte.27 Der durchschnittliche Verschleißgrad der Krankenhäuser lag 1987 bei über 77 %. Zwei Jahre später bemerkt die zuständige MfS-Hauptabteilung XX, dass in der DDR 46 % der 500 Krankenhäuser baulich verschlissen seien.28 Besonders drastisch erscheinen die Meldungen aus dem Bezirk Leipzig. Schwere bauliche Schäden wurden von der Universitäts-Kinderklinik, am Fachkrankenhaus Altscherbitz, bei sieben Gebäuden des Kreiskrankenhauses Altenburg und bei einem Viertel aller Pflegeheime des Bezirkes gemeldet.29 Die einst renommierte Klinik für Plastische Gesichtschirurgie in Thallwitz drohte einzustürzen.30 Angestellte der Leipziger Uni-Kliniken mussten sich einem anderen Bericht zufolge wegen fehlender Aufenthaltsräume im Keller und in den Gängen umkleiden. Den Mitarbeitern der Patientenküche der Kinderklinik stand nur ein unbeheizter Bauwagen zur Verfügung, da „aus den Schleusen der Keller beständig Fäkalien austreten und in einer Schicht bis zu 10 cm den Kellerboden bedecken. Durch Hygieneorgane wurde die Schließung der Küche in Erwägung gezogen.“31 Die Kinderklinik sei „insgesamt in ihrer

23 24 25 26 27 28 29 30 31

BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2325, S. 173–174. BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 1241, S. 18–19. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“, Teil II, Bd. 1, S. 375. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7206, S. 142–144. Ebd., Nr. 7113, Bd. 2. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1007. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 190. Ebd., Nr. 252/01. Ebd., Nr. 252/01, S. 124.

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Funktionstüchtigkeit ernsthaft gefährdet.“32 Teilweise müssten überlebensfähige Frühgeborene sterben.33 Äußerst angespannt war auch die Lage bei so genannten Feierabend- und Pflegeheimen. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt konnte 1983 ein Drittel der Aufnahmeanträge nicht erfüllt werden. 40 % der Heimgebäude im Bezirk waren älter als 60 Jahre, ihr Standard nicht mehr zeitgemäß. So waren „3-6-Bettzimmer in Feierabendheimen und 5-16-Bettzimmer in Pflegeheimen“ die Regel. Staatlich gefordert waren jedoch 1-2-Bett- bzw. 4-Bettzimmer.34 DEVISEN-BESCHAFFUNG IM GESUNDHEITSWESEN Um auf dem Weltmarkt handlungsfähig zu bleiben, benötigte die DDR dringend konvertierbare Währung. Global gesehen war das eigene Geld, die DDR-Mark, wertlos. Bereits 1982 hatte Gesundheitsminister Mecklinger bekannt gegeben, dass Devisen nur noch im Ausnahmefall zur Verfügung stehen. Neue Verträge für den Import von Medizintechnik sollten mit dem Westen möglichst nicht mehr geschlossen werden, Altverträge wurden auf Rücktritt geprüft. Patienten sollen nicht mehr auf westliche Präparate eingestellt werden.35 1984 entschloss sich das Gesundheitsministerium zum Export von Blutplasma „auf der Grundlage eines devisengünstigen Angebotes“, obwohl den beteiligten Verantwortlichen klar war, dass Spenderblut bereits für den Eigenbedarf nicht ausreichte. Beispielsweise musste der Bezirk Suhl jährlich 400 Liter Plasma für den Export bereitstellen, rund 600 Spender waren dafür nötig.36 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurden eigens Studenten der örtlichen Technischen Hochschule angeheuert. Über die ExportAktion hatten die zuständigen Bezirksärzte zu schweigen. Das MfS befürchtete, dass es bei Bekanntwerden des Vorhabens „zu negativen Reaktionen“ in der Bevölkerung, besonders bei Angehörigen des Gesundheitswesens kommen würde.37 Die DDR versuchte zunehmend, auch über das Gesundheitswesen Devisen einzunehmen. Debattiert wurden medizinische Spezialbehandlungen, Aus- und Weiterbildungsangebote für Devisenzahlende oder auch „Expertenentsendungen“ ins Ausland gegen harte Währung.38 Ärzte wurden nach Libyen und Algerien geschickt.39 Fachärzte des westlichen Auslandes sollten ausgebildet werden. Die Nachfrage hierfür war 1984 jedoch gering. Dem Gesundheitsministerium lagen 25 bis 30 Anträge vor.40 Zusätzlich schloss die DDR mit der syrischen Armee einen 32 33 34 35 36 37 38 39 40

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 252/01, S. 134. Ebd., Nr. 252/01, S. 151. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2325, S. 199. BStU, MfS, HA XX, Nr. 8115; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2325. BStU, MfS, BV Suhl, AIM 1380/90 „Alfred Pasch“, Teil II, Bd. 1, S. 85. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2325, S. 242–243. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“, Teil I, Bd. 1, S. 116–118. Ebd., Teil II, Bd. 1. Ebd., Teil I, Bd. 1.

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Vertrag zur Ausbildung von Ärzten ab.41 Die verantwortlichen Bezirksärzte standen nun vor dem Problem, Wohnungen für die Familien zu beschaffen.42 Befürchtet wurde laut Akten, dass die Syrer „Schwachpunkte“ in „vielen gesellschaftlichen Bereichen“ erkennen könnten. Beispielsweise könnte „aus dem Wissen um die Problematik mit den Schadnagern […] jeder Partner ableiten, wie über diesen gefährlichen Weg Ansatzpunkte zur Beschädigung unserer Volkswirtschaft gesetzt werden könnten.“43 Geplant wurde auch, dass jährlich rund 2.000 Patienten aus dem nichtsozialistischen Ausland in der DDR behandelt werden. Die Kosten von ca. 6.000 Dollar sollten die Patienten selbst übernehmen. Der stellvertretende Bezirksarzt von Neubrandenburg entwickelte dazu ein eigenes Konzept, nach dem im Bezirkskrankenhaus neue Appartements „mit allem notwendigen Komfort (separate Nasszelle, Radio und Fernsehgerät usw.)“ eingerichtet werden sollten.44 Die vierte „tragende Säule“ der Devisenbeschaffung war die klinische Prüfung von Arzneimitteln und Technik. Jedoch sollte diese nur „im ausgewählten und geringen Umfang“ erfolgen, um zu verhindern, dass das Land „zum Versuchsfeld westdeutscher oder amerikanischer Arzneimittelkonzerne wird“.45 Tatsächlich aber liefen 1987 in der DDR 115 Arzneimittelstudien parallel.46 UNZUMUTBAR UND ÜBERBELASTET Über die Bezirksärzte war die Staatssicherheit umfassend über hygienische Zustände im Gesundheitswesen informiert. In den Akten finden sich Meldungen zu Lebensmittelvergiftungen47, massenhaft auftretenden Erkrankungen, zu unzumutbaren Zuständen in öffentlichen Schwimmhallen48 oder zur bestehenden Umweltverschmutzung. Ein Bericht von 1986 belegt, dass 45 % der DDR-Bevölkerung in Gebieten mit einer Schwefeldioxid-Überbelastung lebten. Die Stickoxidkonzentration in Großstädten sei stetig gestiegen. Die Wasserhygiene sei mangelhaft, „die Rohrbruchhäufigkeit in der DDR gehört zu den höchsten der Welt.“ Etwa ein Drittel der Bevölkerung erhalte „zeitweilig bakteriologisch nicht einwandfreies Trinkwasser.“ Fast ein Fünftel der Wasserproben zeigte Grenzwertüberschreitungen von Nitrat.49 Im Zusammenhang mit massenhaften Erkrankungen an Salmonellen-

41 42 43 44 45 46 47 48 49

BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“, Teil II, Bd. 1. Ebd. Ebd., S. 117–119. Ebd., S. 116–117. Ebd., S. 117. Erices (2013), S. A1358–1359. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, ZMA, Nr. 943. Ebd., Nr. 159. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“, Teil II, Bd. 1, S. 266–271.

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Enteritis konstatiert ein Bericht, dass von 80 Schlachthöfen der DDR 34 nur mit Ausnahmegenehmigung arbeiteten.50 Die Akten enthalten auch Beschwerden von Patienten, so genannte Eingaben. Beispielsweise beklagt sich eine Kindergärtnerin, der ein vergessener Tupfer 15 Tage nach Brustamputation entfernt werden musste, über Zustände im Bezirkskrankenhaus Dessau, die „unbedingt einer Veränderung bedürfen“: schmutzige Zimmer, fehlender Putz an den Wänden, Mäuse auf den Zimmern, unsauberes Geschirr, defekte Heizungen.51 Von beispielsweise 3.817 Eingaben im Jahr 1984 an das Gesundheitsministerium bezog sich die Hälfte auf das Verhalten von Ärzten und Schwestern. Daneben wurden auch strukturelle Probleme, etwa die jahrelangen Wartezeiten auf Operationen, genannt.52 MEDIZINETHISCH FRAGWÜRDIG Medizinethisch besonders fragwürdig erscheint der in den vorliegenden Akten beschriebene Umgang mit Patienten der Psychiatrie.53 Die MfS-Bezirksverwaltung Neubrandenburg forderte 1980 von ihrem Bezirksarzt, „alle psychisch gestörten Bürger des Bezirkes listenmäßig zu erfassen“. Der amtierende Bezirksarzt lehnte zunächst ab, ohne dafür einen Begründung zu nennen. Er forderte eine Genehmigung von übergeordneten Dienststellen des Gesundheitswesens. Gleichzeitig äußerte er, dass eine derartige listenmäßige Erfassung durchaus auf Kreisebene möglich sei. Die Stasi beharrte auf ihr Ansinnen. Handschriftlich findet sich in den Akten: „Der Bezirksarzt wurde beauftragt, die Forderungen des MfS umgehend zu realisieren.“ Daraufhin organisierten die Kreisärzte, dass „alle psychisch geschädigten Bürger“ stationär aufgenommen wurden oder eine „Fürsorgerin“ erhielten und so „unter ständiger Kontrolle“ standen.54 Der Grund für diese Maßnahme war ein politischer: Bundeskanzler Helmut Schmidt sollte auf Staatsbesuch in die DDR kommen. Abgesehen von dieser Aktion konnten sich die Befürworter der vom MfS geforderten generellen Meldepflicht für psychisch Kranke nicht durchsetzen. ÄRZTE FEHLTEN ÜBERALL Ein enormes Problem stellte für die Bezirksärzte der Ärztemangel dar. In Zwickau fehlten laut einem Bericht von 1984 Allgemeinmediziner, Internisten und HNOÄrzte, im Kreis Werdau fehlten Kinderärzte und Orthopäden.55 Besonders 50 51 52 53 54 55

BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1007. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd. 1, S. 28–30. Ebd., Bd. 2. Vgl. generell u.a. Süß (1998). BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, ZMA, Nr. 943, Bd. 2, S. 62–64. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd. 2.

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schlecht versorgt war die Kreisstadt Weißwasser – ein „unhaltbarer Zustand“. In einem Neubaugebiet mit 15.000 Einwohnern im Süden der Stadt gab es „keine Gesundheitseinrichtung für die ambulante Betreuung“.56 Von staatlicher Seite aus wurde der Ärztemangel vor allem mit Versagen der Planwirtschaft begründet. So monierte ein Bericht über den Bezirk Cottbus aus dem Jahr 1986, dass nicht einmal zwei Drittel der Absolventen wie geplant in den Bezirk vermittelt wurden. Auch würden zu wenige Abiturienten zum Studium zugelassen. In einigen Fällen stand nicht rechtzeitig Wohnraum zur Verfügung.57 Im Jahr 1987 wurde der Ärztemangel an der Universität Greifswald als ein „kaum zu lösendes Problem“ bezeichnet. Mehr als ein Fünftel aller Klinikbetten konnten deshalb nicht belegt werden.58 Im Bezirk Frankfurt/Oder wanderten innerhalb von drei Jahren 88 Mediziner nach Berlin ab. In der Kreisstadt Eberswalde kamen auf 14.000 Einwohner nur zwei Fachärzte.59 Gründe für den Ärztemangel gab es verschiedene. Den Akten zufolge konnten im Bezirk Leipzig zwischen 1981 und 1986 56 Ärzte wegen Wohnungsmangels nicht eingestellt werden, weitere 43 kündigten deswegen.60 Vom Kreis Ueckermünde zeichnete der stellvertretende Bezirksarzt ein drastisches Bild: „Hier läuft bald gar nichts mehr“. Die größten Probleme seien die abgeschnittene Lage, die „absolut schlechte“ Versorgung, das fehlende Westfernsehen und „in den Wald kann man auch nicht gehen, weil dort überall Armee ist.“61 Das entscheidende Problem für den Ärztemangel war allerdings die anhaltende Abwanderung der Mediziner in den Westen. Besorgt stellte die Staatssicherheit fest, dass die Zahl der Anträge auf Reisen „in dringenden Familienanträgen“ beispielsweise im Bezirk Halle zwischen 1985 und Anfang 1987 von 77 auf 400 angestiegen war: „Bei einem Bestätigungsgrad von 90%“ bis Ende 1987 werden so „ca. 25% aller Beschäftigten des Bereiches Medizin“ im Westen „gewesen sein, was eine verstärkte politisch-ideologische Arbeit unbedingt erforderlich macht.“62 Anfang 1988 gab es beispielsweise im Bezirk Erfurt 315 „Übersiedlungsersuchende“ im Gesundheitswesen, rund ein Drittel waren Ärzte.63 Dutzende kehrten von Westreisen nicht zurück.64 Ähnliche Entwicklungen gab es in allen Bezirken.65 Im Frühjahr 1989 analysierte das MfS: Vor allem 30- bis 45-jährige fachlich gute Ärzte, ein Viertel davon in Leitungsposition, würde die DDR „ungesetzlich“ verlassen.66 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd. 1, S. 100. Ebd., Bd. 1. BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 1068, S. 16. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd. 1. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 3456/92, „Hans-Georg“, Teil II, Bd. 2. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88, „Bruno Berghof“, Teil II, Bd. 1, S. 375–379. BStU, MfS ZAIG, Nr. 14891, S. 1–4. BStU, MfS, HA XX, Nr. 954. Ebd., Nr. 7157, Teil 1, S. 1–4. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 14891; BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 762, S. 7–8. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1007, S. 18.

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Als Motive für die Abwanderung benannte die Stasi die schlechte Ausstattung der Kliniken, fehlende Medikamente, Zweifel an der Perspektive, permanente physische und psychische Überforderung, lange Wartezeiten für Patienten, zu niedrige Gehälter, „persönliche Probleme, verbunden mit Vorstellungen einer Übernahme der westlichen Lebensweise“ wie „Forderung nach ‚angemessenem Wohnraum‘ in Form von Einfamilienhäusern“, „Reisefreiheit“, „materielle Konsumbedürfnisse“, „Entwicklungsmöglichkeiten unabhängig vom politischen Bekenntnis und dem gesellschaftlichen Engagement (Vorstellungen vom ‚Nur-ArztSein‘)“. Die Hilflosigkeit des Staates lässt sich dem Bericht einer Kommission des Gesundheitsministeriums ablesen: Die Abwanderungswelle von Ärzten sei verursacht durch die verstärkte „ideologische Diversion“, durch noch ungenügende weltanschauliche Kenntnisse oder eine „noch nicht ausreichende Attraktivität des realen Sozialismus“.67 Noch einmal analysierte die zuständige MfS-Hauptabteilung XX im Frühjahr 1989 das Ausreisegeschehen. Vor allem 30- bis 45-Jährige, ein Viertel davon in Leitungsposition, verließen „ungesetzlich“ die DDR.68 Der Umgang des Staates mit ausreisewilligen Ärzten unterschied sich offensichtlich grundsätzlich gegenüber „anderen Regimekritikern“. Die DDR war abhängig von den Medizinern, also wollte sie sie im Regelfall unter allen Umständen halten. So sollte sofort, nachdem Ärzte einen Ausreiseantrag gestellt hatten, „in differenzierter Weise und unter Berücksichtigung vorgebrachter Gründe politisch ideologisch Einfluss“ genommen werden, um eine „Abstandnahme von der Antragstellung zu erreichen“. Dabei sollte versucht werden, eventuell bestehende persönliche Probleme zu lösen und „Bedingungen, die für die Antragstellung eine begünstigende oder motivierende Rolle spielen“ zu beseitigen. Den Ärzten sollte „möglichst lange“ offen gehalten werden, ihren Antrag zurückzunehmen.69 In einem internen Schreiben von 1988 begründete die Staatssicherheit das besondere Vorgehen bei Ärzten: „Aufgrund einer hohen öffentlichkeitswirksamen Ausstrahlung und dringend benötigter Ärzte/Zahnärzte“ seien bei vorgesehenen Übersiedlungen „hohe Maßstäbe anzulegen“.70 Eine Akte aus dem Bezirk Potsdam zeigt, wie eine Ärztin von einer Ausreise in den Westen abgehalten werden sollte: Ihrem Sohn sollten Abitur- und Studienplatz bewilligt werden.71 Abgesehen von solchen Einzelbeispielen hielt die DDR jedoch weiter an ihrer Zulassungspolitik zum Medizinstudium fest. Der Anteil von „Arbeiter- und Bauernkindern“ wurde beispielsweise an der Karl-Marx-Universität Leipzig zwischen 1985 und 1987 stets über 40 % gehalten.72

67 68 69 70 71 72

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 762, S. 10. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1007. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Nr. L-327, S. 4–5. BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XX, Nr. 954, S. 4–5. BStU, MfS, BVfS Potsdam, Abt. XX, ZMA GW, Nr. 520, Bd. 1. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 252/01.

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BEZIRKSÄRZTE ALS SPITZEL DER STAATSSICHERHEIT Mindestens 13 Bezirksärzte oder deren Stellvertreter waren in den 1980er Jahren als inoffizielle Mitarbeiter der Stasi verpflichtet. Das MfS führte geheime Spitzel in Ost-Berlin, Leipzig, Dresden, Erfurt, Halle, Suhl, Magdeburg und Neubrandenburg.73 Anzumerken ist, dass möglicherweise weitere Bezirksärzte als Stasi-IMs agierten. Grund für diese Annahme ist, dass die BStU für mehrere Bezirke fast keine Akten zu Bezirksärzten finden konnte, was den Schluss nahe legt, dass die Akten einst unsystematisch geführt wurden, noch nicht aufgearbeitet oder vernichtet wurden. Was sich das MfS von Bezirksärzten als IM erhoffte, zeigt ein Bericht einer Aussprache mit einem stellvertretenden Bezirksarzt in Leipzig: 1. Umbesetzung von Ärzten, 2. „operativ notwendige“ Krankschreibungen, 3. „im Bedarfsfall IM behandeln zu lassen, die geschlechtskrank bzw. schwanger sind“, wenn notwendig, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, 4. „an Westmedikamente heranzukommen“, 5. „Blankorezepte zu organisieren“. Der Bericht enthält auch die Antwort des Leipziger Mediziners auf diese Anforderungen: Die genannten Aufgaben habe er bereits für das MfS durchgeführt.74 Bedeutsam ist, dass sich die Grenze zwischen einer offiziellen, das heißt im Rahmen der staatlichen Stellung als Bezirksarzt, und einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS anhand der Akten inhaltlich teilweise kaum ausmachen lässt. Ein gutes Beispiel bietet der einstige Bezirksarzt von Karl-Marx-Stadt. Für eine Reise in die ČSSR erhielt der Obermedizinalrat Harald Winkler auf Anfrage für seine „ständige zuverlässige Unterstützung bei der Durchsetzung sicherheitspolitischer Erfordernisse“ 1.000 Kronen überreicht75 (entsprach 333 Ost-Mark; der Geldumtausch für das Ausland war in der DDR limitiert und richtete sich nach Anzahl der Reisetage). Als der Bezirksarzt über sein Gehalt klagte, lenkte das MfS ein und prüfte, ob eine monatliche Zusatzvergütung von 4-500 Mark „unsererseits“ möglich ist. Das würde auch die Tätigkeit Winklers als Gynäkologe in der Poliklinik honorieren, „wo er Ehefrauen von Mitarbeitern frauenärztlich behandelt“.76 Eine vergleichbare Abmachung existierte zwischen dem MfS und Winklers Stellvertreter, Hans-Götz Wohlfart. Der Hautarzt bezog den Akten nach für eine vom Rat des Bezirkes genehmigte Sprechstunde für Stasi-Mitarbeiter ein

73

74 75 76

Vgl. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“; BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. III 715/74 „Karl Dietrich“; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX, Nr. VIII 1725/80 „Merseburg“; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Nr. XV 3945/74 „Joachim Heinrich“; BStU, MfS, BV Suhl, AIM 1380/90 „Alfred Pasch“; BStU, MfS, BV Berlin, AIM 4786/89 „Otto Treuburg“; BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 3456/ 92 „Hans-Georg“; BStU, MfS, BV Erfurt, Nr. IX 714//66 „Robert Iswall“; BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, Nr. 162/91 „Doktor“/„Rosenbaum“; BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM 101/91 „Gerald“. BStU, MfS, BV Leipzig, AGMS, Nr. 1459/86 „Wolfgang“, S. 10–11. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2275, S. 6. Ebd., Nr. 2325, S. 193.

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monatliches Zusatzgehalt von 300 Mark vom MfS.77 Darüber hinaus nannte Winkler den Akten zufolge dem MfS „kompetente Mitarbeiter“, die von der Staatssicherheit erteilte „operativ interessierende Fragen“ lösen könnten. Winkler empfahl demnach vier Kollegen, die Krankenunterlagen beschaffen könnten. Er war einverstanden, dass diese Ärzte für ihre Dienste ein Zusatzgehalt vom MfS erhielten.78 Insofern bedurfte es für „heikle“ Angelegenheiten keiner IM-Mitarbeit. SPÄTES UMDENKEN Gegen Ende der DDR war das Gesundheitswesen angesichts der fortschreitenden Mangelwirtschaft kaum noch zu retten. Ein deutliches Indiz dafür war die Forderung des Gesundheitsministers im Januar 1989, nach „völlig neuen Denk- und Verhaltensweisen beim Einsatz materieller und finanzieller Fonds“ Die Ökonomie sei „keine Antithese zum Humanismus“, sozialer Fortschritt sei „nur über das ökonomische Ergebnis zu sichern“.79 In einem Bericht vom April 1989 fasste die Stasi „Ursachen zur Versorgungssituation im Gesundheitswesen“ zusammen: Die materiell-technische und personelle Versorgung sei unzureichend, die Pharmaindustrie „veraltet“, das „Informationssystem bei Störungen/Havarien“ wirkungslos, in Wissenschaft, Forschung und Technik habe die DDR „gegenüber führenden kap. Ländern wie BRD ca. 10 Jahre Rückstand“. DDR-Produkte seien „kaum einsetzbar“, „wir sind teilweise völlig abhängig vom NSW“. Hinzu kam ein Sparzwang von 300 Millionen Mark für das Jahr 1989.80 Das Stimmungsbild vor der DDR-Gesundheitskonferenz im September war entsprechend negativ. Die Staatssicherheit konstatierte eine „pessimistische Grundhaltung“ im Gesundheitswesen. Der Grundtenor sei gekennzeichnet durch „äußerst kritische Fragestellungen“, „Desinteresse“ an der Konferenz“, „Resignation“ und „Flucht aus dem Gesundheitswesen“. Teilweise werde „schon ‚offen‘ über einen ‚Pflegenotstand‘“ gesprochen. „Der Glaube, dass die ‚Partei‘ verändernd wirkt“, werde zunehmend in Frage gestellt.81 ZUSAMMENFASSUNG Zusammengefasst ergeben die Aktenbestände ein erschreckendes Bild vom Zustand des Gesundheitswesens in der DDR in den 1980er Jahren. Wie üblich wurde darüber in der Öffentlichkeit kaum berichtet. So mag es nicht unbedingt verwun77 78 79 80 81

BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2634, S. 31. Ebd., Nr. 2325, S. 192. BStU, MfS, HA XX, Nr. 8115, S. 12–13. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 159, S. 40–42. Ebd., S. 9–11.

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Rainer Erices, Antje Gumz

dern, dass sich bei vielen einstigen DDR-Bürgern die Erinnerung an eine funktionierende – ja verglichen mit der heutigen – sogar bessere Gesundheitsfürsorge hält. Ein Leipziger Arzt äußerte 1988 in einer Stadtbezirksversammlung: „Die Erwartungshaltung unserer Patienten ist durch die Presse der DDR sehr hoch. Aber das stimmt mit der Realität im Gesundheitswesen nicht überein und wir können diese Erwartungen oft nicht erfüllen.“82

Noch im September 1989 äußerte der stellvertretende Bezirksarzt Neubrandenburgs, dass „es keine neue Gesundheitspolitik in der DDR geben wird, da sich unsere bisherige, bei allen Problemen, bewährt hat.“83 Die Akten belegen eindrucksvoll, dass die staatlichen Leitungsebenen und der Sicherheitsapparat der DDR über die erheblichen Missstände im Gesundheitswesen eigentlich viel besser informiert waren. ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU, MfS, BV Berlin, AIM 4786/89 „Otto Treuburg“. BStU, MfS, BV Erfurt, Nr. IX 714//66 „Robert Iswall“. BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XX, Nr. 954. BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX, Nr. VIII 1725/80 „Merseburg“. BStU, MfS, BV Halle, AKG, Nr. 1241. BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Nr. XV 3945/74 „Joachim Heinrich“. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2275. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2325. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2634. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 2740. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Nr. L-327. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 190. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 252/01. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, Nr. 762. BStU, MfS, BV Leipzig, AGMS, Nr. 1459/86 „Wolfgang“. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 3456/92 „Hans-Georg“. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 3456/92, „Hans-Georg“, Teil II, Bd. 2. BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, Nr. 162/91 „Doktor“/„Rosenbaum“. BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, Nr. 4379. BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM 101/91 „Gerald“. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 159. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. III 715/74 „Karl Dietrich“. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, ZMA, Nr. 943. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“, Teil I. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM 505/88 „Bruno Berghof“, Teil II. BStU, MfS, BVfS Potsdam, Abt. XX, ZMA GW, Nr. 520, Bd. 1. BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 1068. BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 1007. BStU, MfS, BV Suhl, AIM 1380/90 „Alfred Pasch“. 82 83

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt XX, Nr. 252/01, S. 113. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt XX , III 715/74 „Karl Dietrich“ Teil II Bd. 1, S. 200.

„Hier läuft bald gar nichts mehr“

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BStU, MfS, HA XX, Nr. 41. BStU, MfS, HA XX, Nr. 532. BStU, MfS, HA XX, Nr. 954. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd 1. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7113, Bd. 2. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7157, Teil 1. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7206. BStU, MfS, HA XX, Nr. 7243. BStU, MfS, HA XX, Nr. 8115. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 14826. BStU, MfS, ZAIG, Nr. 14891.

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ÄRZTE ALS INOFFIZIELLE MITARBEITER DES MINISTERIUMS FÜR STAATSSICHERHEIT DER DDR1 Francesca Weil EINLEITUNG Der inoffizielle Mitarbeiter (IM) „Dieter Speer“, ein Allgemeinmediziner und leitender Arzt, beklagte sich 1977 bei dem für ihn zuständigen Führungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über die Arbeitsbedingungen in seiner Poliklinik mit folgenden Worten: „Ein sehr einschneidendes Problem ist, daß die Türen der Sprechzimmer der Ärzte nur einfach sind und dazu noch nicht einmal gepolstert. Da die Warteräume direkt vor den Türen liegen, besteht die Gefahr, daß die Patienten vor der Tür das Gespräch des Patienten mit dem Arzt verfolgen können. Ich wurde schon mehrfach durch Bekannte darauf hingewiesen, daß man das Gespräch verfolgen konnte. Es gibt auch bereits Patienten, die nur noch flüsternd mit dem Arzt reden. Es ist doch aber so, daß gerade bei nervlichen Sachen auch Probleme der Intimsphäre angesprochen werden. Wie schnell ist dann so etwas im Wohngebiet herum und so besteht der Verdacht, daß der Arzt die Schweigepflicht verletzt hat. [...] Es geht den Ärzten um das vertrauensvolle Patientengespräch. Das ist hier nicht gewährleistet.“2

Im Zusammenhang mit seiner IM-Tätigkeit erscheinen die hier gegenüber dem Führungsoffizier geäußerten Bedenken des Arztes mehr als befremdlich, zählte er doch zu den IM-Ärzten, die ihre ärztliche Schweigepflicht gegenüber dem MfS 1

2

Unter „IM“ versteht man Personen, die mit der Staatssicherheit eine Vereinbarung getroffen hatten, konspirativ für sie zu arbeiten. Zu ihren Aufgaben zählten das Sammeln von Informationen, die Unterstützung bei der „Feindbekämpfung“, die Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen und logistische Hilfestellungen. Wenn die IM auch nur als „bloße Erfüllungsgehilfen der tatsächlichen Machtträger“ des SED-Regimes wirkten, so waren sie dennoch für das Funktionieren des politischen Systems und für den Machterhalt der Partei unverzichtbar. Nicht umsonst bezeichnete der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, die IM als „Hauptwaffe der Staatssicherheit“, denn sie stellten die eigentliche „geheime Verbindung zwischen der Staatssicherheit und der Gesellschaft“ dar. Das MfS verfügte über ein Netz inoffizieller Mitarbeiter mit beträchtlichem Umfang, „das anfangs bei 10.000, teils auf geringen Niveau, und zuletzt bei 174.000 IM lag. Demnach war jeder hundertste DDR-Einwohner allein im Jahre 1989 als IM erfasst. Mit dieser ‚Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind‘ war eine ‚totale flächendeckende Überwachungsarbeit‘ möglich.“ Wenn man außerdem bedenkt, dass jährlich etwa 10 % dieses Netzes ausgetauscht worden sind, waren während der 40-jährigen Geschichte des MfS etwa 600.000 Menschen einmal als IM erfasst gewesen. Vgl. Müller-Enbergs (1996), S. 7 und S. 11–12, Gieseke (2001), S. 110 sowie MüllerEnbergs (2000), S. 165–166. BStU, BV Dresden, AIM 981/81, Akte II/1, Bl. 21.

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mehrfach gebrochen haben. So informierte er die Staatssicherheit beispielsweise 1977 über die Äußerungen eines Ehepaars, das sich bei ihm in Behandlung befand: „In der letzten Zeit treten beide, besonders aber die Frau, während der Sprechstunde unmöglich auf. Sie erzählte z.B. von einem Übersiedlungsantrag in die BRD. Sie schimpft über alles, macht alles schlecht bei uns […]. Sie ist in ihren Äußerungen sehr primitiv. […] Natürlich muss ich nach Sorgen und Nöten fragen, die eventuell privat auftreten, da bestimmte Symptome einer Krankheit damit zusammenhängen können. Aber wenn sie dann anfängt ‚ihr Herz auszuschütten‘, dann hat das nichts mit der Behandlung zu tun. Sie erzählte z.B. auch, dass ihr Mann in der FDJ und in der Partei hohe Funktionen hatte, er soll sogar Kreisleitungsmitglied gewesen sein. Man müsse hier aber nur arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten und könne sich dann doch nichts leisten. Drüben brauche man nicht so zu schuften und habe wenigstens ein gutes Leben. Ich frage mich nur, wie so ein Gesinnungswandel bei einem ‚bewußten‘ Genossen im Kreis passieren kann, dafür muß es doch Ursachen geben? Die Frau ist an der Galle operiert worden und war krankgeschrieben. Die letzte Behandlung war vor ca. vier Wochen. Neuerdings fängt sie auch an davon zu sprechen, daß der Gesundungsprozeß ja gar nicht vor sich gehen kann, bei den Problemen und dem Ärger auf den Behörden.“3

Warum maß dieser Arzt sein Schweigegebot mit zweierlei Maß? Daran schließt sich die Frage an, weshalb sich Ärzte überhaupt auf eine Spitzeltätigkeit für das MfS eingelassen haben. Um darauf eine Antwort zu finden, sollen im Folgenden die spezifischen Merkmale der konspirativen Zusammenarbeit von Ärzten mit der Staatssicherheit und ihre Ursachen dargestellt werden.4 DAS INTERESSE DER STAATSSICHERHEIT AN DER ÄRZTESCHAFT Zu Beginn der 1970er Jahre offenbarten Mediziner „im Denken und Handeln“ angeblich noch immer „Übereinstimmung mit den Argumenten des Gegners“, was eine MfS-Komplexanalyse von sog. operativen Vorgängen nicht anpassungsbereiter sowie ausreisewilliger und deshalb unter Beobachtung stehender Ärzte

3 4

Vgl. BStU, BV Dresden, AIM 981/81, Akte II/1, Bl. 17. Den hier vorgestellten Ergebnissen liegt eine vom Deutschen Ärzteblatt und dem HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. geförderte, empirische Untersuchung zur inoffiziellen Kooperation von Ärzten aller Fachgruppen mit dem MfS zugrunde. Ziel dieser Analyse war es zum einen, Besonderheiten der konspirativen Zusammenarbeit von Ärzten mit dem Staatssicherheitsdienst zu ermitteln. Zum anderen wurde mit der Untersuchung der Versuch unternommen, zu einer differenzierten Sicht auf die IM-Tätigkeit von Medizinern zu gelangen. Dabei rückten Motivationen, Tätigkeitsbereiche, Aufgabenfelder, Kategorien von inoffiziellen Mitarbeitern unter den Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen sowie Quantität und Qualität ihrer abgefassten Berichte und deren Folgen bzw. Konsequenzen für Kollegen, Patienten ebenso wie für Verwandte und Bekannte in Ost- und Westdeutschland in den Mittelpunkt der Studie. Die Bearbeiterin analysierte hierfür 493 IM-Akten (von 453 IM und 40 IM-Kandidaten/Vorläufen) und wertete 21 von ihr geführte Interviews mit ehemaligen inoffiziellen Mitarbeitern und einem Verweigerer aus. Vgl. Weil (2008).

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und Ärztinnen nachzuweisen versuchte.5 Diverse Forschungsarbeiten der Potsdamer MfS-Hochschule zur „medizinischen Intelligenz“ verdeutlichten in diesem Zusammenhang wiederholt die politische Abstinenz eines verstaatlichten Berufsstandes, der seine ethischen Maßstäbe nicht von den Auffassungen der Partei ableite und eine verbreitete Unlust zeige, sich fachfremdem Funktionären unterzuordnen.6 Das offenbare „die Zählebigkeit bürgerlicher politischer, ideologischer, ökonomischer, kultureller und moralisch-ethischer Auffassungen, Gewohnheiten und Vorstellungen“ und nicht zuletzt „hochgespielte Humanitätsgedanken“.7 Die Verfasser der Studien räumten aber auch ein, dass die schwierigen Arbeitsbedingungen der Ärzte in den Polikliniken und ihre Überlastung infolge unbesetzter Planstellen in den Krankenhäusern vielfach begünstigende Bedingungen für „feindlich-negative Einflüsse“ darstellten.8 Die große Mehrheit der Mediziner blieb trotz der Nichtakzeptanz ihres besonderen Status und der zunehmend komplizierteren Arbeitsbedingungen in der DDR. Andererseits flohen viele Tausende Ärzte mit ihren Familien bzw. reisten in die Bundesrepublik aus.9 Daraus schlussfolgerte das MfS, dass der „Gegner unter den Bedingungen der verschärften Klassenauseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Imperialismus“ seine Bestrebungen besonders im Bereich Gesundheitswesen verstärke, „ideologische Zersetzungsarbeit“ leiste und andere „feindliche Aktivitäten“ wie beispielsweise „Kontaktpolitik“ entwickle.10 Dabei würden „die Versuche der Abwerbung und Ausschleusung von Angehörigen der medizinischen Intelligenz einen Schwerpunkt der Feindangriffe“ darstellen. Derartige Attacken machten nach Ansicht der Staatssicherheit in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ca. 70 % aller „feindlichen Angriffe gegen diesen Bereich“ aus, wodurch „zeitweise erhebliche ideelle und materielle Schäden für die sozialistische Entwicklung [des] Gesundheitswesens“ entstanden seien. Damit habe diese Tendenz „eine bedeutende Gesellschaftsgefährlichkeit“ erreicht.11 Bei der inoffiziellen Überwachung der Ärzteschaft ging es dem MfS deshalb vor allem um die Aufdeckung und vorbeugende Bekämpfung von „Delikten des staatsfeindlichen Menschenhandels und des illegalen Verlassens der DDR von Angehörigen der medizinischen Intelligenz“ sowie um die Aufklärung von Ursachen, Motiven und begünstigenden Bedingungen für diese, zu Straftaten erklärten Handlungen. Damit verband sich das Ansinnen, mit Hilfe von IM die zahlreichen „Republikflucht“- bzw. ausreisewilligen, politisch kritischen sowie illoyalen und oppositionellen Mediziner langfristig zu beobachten, unter Kontrolle zu halten und ggf. deren Absichten und Pläne zu verhindern.12 5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. BStU, JHS, MF VVS 160-304/74, Schröder/Seidel (1974), Bl. 12. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 24 und 41. Vgl. ebd., MF VVS 001-1220/85, Strempel (1985), Bl. 9. Vgl. ebd., HA XX 7137, Bl. 26; vgl. Ernst (1997), S. 258. Vgl. BStU, JHS, MF VVS 160-304/74, Schröder/Seidel (1974), Bl. 8 und 58. Vgl. ebd., Bl. 8. Vgl. Schröder/Seidel (1974), Bl. 57.

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ZUR ANWERBUNG VON ÄRZTEN ALS IM Da die „medizinische Intelligenz“ nach Überzeugung der MfS-Führung „eine Reihe von Besonderheiten in ihrem allgemeinen und gesellschaftlichen Verhalten“ aufwies, sollten die zu werbenden IM unbedingt „der Zielgruppe des Gegners“, d.h. der Ärzteschaft selbst angehören.13 Nur mit inoffiziellen Mitarbeitern aus der jeweiligen „Zielgruppe“ sei auch tatsächlich eine „wirksame Bekämpfung der feindlichen Absichten“ möglich. Die Neuwerbung von IM zur „Verbesserung der inoffiziellen Absicherung der medizinischen Intelligenz“ erhielt seit Beginn der 1970er Jahre höchste Priorität und war schließlich fester Bestandteil der Jahresarbeitspläne von MfS-Kreisdienststellen und -Bezirksverwaltungen.14 Mit Blick auf das tradierte Standesbewusstsein der Ärzte hielt man die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS in den 1970er Jahren an, bei der Auswahl potenzieller IM für die Berufsgruppe zutreffende Kriterien zu beachten: Der innerhalb der Ärzteschaft zum Einsatz kommende IM sollte über einen Hochschulabschluss verfügen, ein interessantes Hobby verfolgen, in seiner Ausdrucksweise gewandt sein, „bürgerliche Umgangsformen“ pflegen und möglichst als politisch indifferent, d.h. höchstens als Mitläufer, nicht jedoch als „aktiver Genosse“, bekannt sein. Zudem waren ein gesichertes Einkommen, ein Auto und eine gut eingerichtete Wohnung wesentlich für die Auswahl.15 In den 1980er Jahren traten die bis dahin vorherrschenden Anforderungen an einen IM-Arzt mit dem typischen Charakter eines bildungsbürgerlichen Intellektuellen allerdings hinter politisch-ideologischen Ansprüchen zurück. Die Staatssicherheit hielt im letzten Jahrzehnt ihrer Existenz vor allem eine loyale bis positive politisch-ideologische Grundeinstellung der IM-Kandidaten gegenüber der DDR und deren daraus zu erwartende Erziehungs- und Schulungsfähigkeit für das entscheidende Selektionsmerkmal.16 All diese grundsätzlichen Auswahlkriterien galten zwar theoretisch als Vorlage für konkrete Anforderungsbilder der zu werbenden inoffiziellen Mitarbeiter, in der Praxis konnte eine Selektion anhand dieser Eigenschaften jedoch nicht durchgehalten werden. In den meisten Fällen blieben die Anforderungsbilder – wie generell üblich17 – eher allgemein gehalten oder wurden exakt auf die insgeheim bereits vorhandenen IM-Ärzte zugeschnitten. In den ersten Kontaktgesprächen mit den ausgewählten IM-Kandidaten stellten die Offiziere der Staatssicherheit die angestrebte konspirative Tätigkeit prinzipiell als honorablen Beitrag zur Sicherung des Friedens, zum Aufbau des Sozialis13 14

15 16 17

Vgl. ebd., BV Leipzig, AIM 1383/84, Akte I/1, Bl. 12. Vgl. ebd., AIM 6204/92, Akte I/1; Bl. 12; vgl. ebd., AIM 653/85, Akte I/1, Bl. 40. In regelmäßig angefertigten Lageeinschätzungen zu den Jahresarbeitsplänen der Abt. XX der Bezirksverwaltungen wurden Ist- und Sollstand der IM-Werbung im Gesundheitswesen verglichen und entsprechend der „Sicherheitserfordernisse“ ausgewertet. Vgl. ebd., BV Dresden, Abt. XX 9744, Bl. 1–3. Vgl. ebd., JHS, MF VVS 160-304/74, Schröder/Seidel (1974), Bl. 31. Vgl. ebd., MF VVS 001-1220/85, Strempel (1985), Bl. 14–17. Vgl. Gieseke (2001), S. 120.

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mus in der DDR und zur Stärkung des Staates dar. Die weitaus häufigste, daraus abgeleitete Strategie zur Anwerbung von Ärzten war der Versuch hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter, die Abwerbung und Ausschleusung von hoch qualifizierten und fachkompetenten Medizinern aus der DDR als Verlust für das sozialistische Gesundheitswesen sowie als berufsethisches Vergehen gegenüber den Patienten darzustellen, was es mit allen Mitteln zu verhindern galt.18 Einer Reihe von Ärzten leuchtete dieses Argument aufgrund der grundsätzlichen Probleme im Gesundheitswesen und damit einhergegangener persönlicher Erfahrungen auch durchaus ein. Der größte Teil der geworbenen IM-Ärzte konnte deshalb mittels dieser Strategie für die Spitzeltätigkeit gewonnen werden. Teilweise wurde die Werbestrategie entsprechend der medizinischen Fachrichtungen der IM-Kandidaten modifiziert bzw. konkretisiert. So schnitt beispielsweise der zuständige Stasioffizier das 1976 erfolgte Werbegespräch mit dem zukünftigen IM „Günter Ludwig“, einem leitenden Arzt in einer sportmedizinischen Beratungsstelle, auf die Spezifik sportmedizinischer Einrichtungen, auf „Sicherheitsfragen“ im Zusammenhang mit internationalen Sportveranstaltungen und auf die Dopingproblematik zu. Während des ersten Kontaktes sei deshalb „einleitend über die gewachsene Bedeutung des Sports und insbesondere der Sportmedizin in der DDR“ gesprochen worden. Im Anschluss habe der operative Mitarbeiter „das gestiegene Sicherheitsbedürfnis in diesem Bereich und die daraus resultierende Einflussnahme des MfS auf Fragen der Ordnung und Sicherheit und auf die personelle Absicherung insbesondere der Reisekader und Geheimnisträger“ erläutert.19 Manche Ärzte wurden auch durch ihr Berufsethos zur inoffiziellen Arbeit veranlasst.20 Im Rahmen einer Einschätzung des IM „Günther“ stellte beispielsweise der zuständige hauptamtliche MfS-Mitarbeiter fest, dass dessen „politischoperative Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit“ in erster Linie aus dem gewissenhaften Handeln als Arzt abgeleitet worden sei.21 Die kurz darauf folgende Werbung habe schließlich auf der positiven Grundhaltung des Chirurgen und seiner humanistischen Einstellung, Haltung und Tätigkeit als Mediziner aufgebaut werden können.22 Auch der zukünftige IM „Braun“ konnte 1980 auf diese Art und Weise geworben werden. In den Gesprächen sei es schließlich durch die „praxisverbundenen Darlegungen“ des Führungsoffiziers gelungen, den an einem Krankenhaus tätigen Gynäkologen für eine überzeugte Zusammenarbeit mit dem MfS zu gewinnen. Man habe an seine Grundeinstellung als Arzt appellieren und ihn dafür einnehmen können, auch über den Rahmen seiner ärztlichen Tätigkeit hinaus, „Menschen zu helfen“.23

18 19 20 21 22 23

Vgl. BStU, ZA, AIM 2973/80, Akte I/1, Bl. 17; vgl. ebd., BV Leipzig, AIM 2250/92, Akte I/1, Bl. 167. Vgl. ebd., BV Dresden, AIM 3213/90, Akte I/1, Bl. 67. Vgl. MÜLLER-ENBERGS (2002), S. 156–157. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 5453/92, Akte I/1, Bl. 121. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 5453/92, Akte I/1, Bl. 122. Vgl. BStU, BV Gera, X 527/80, Akte I/1, Bl. 45–47.

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Die Mehrheit der ermittelten IM-Ärzte ging ohne langes Zögern die Verpflichtung zur inoffiziellen Tätigkeit ein; nur ein geringerer Teil schwankte vorerst. Abgesehen von einer Ausnahme wurden alle 453 IM-Ärzte mündlich, per Handschlag oder schriftlich zur Zusammenarbeit verpflichtet oder allmählich und mit Kenntnis des Zwecks, der Aufgaben und der Modalitäten in die Kooperation eingebunden. Sie wussten demnach – abgesehen von ihrer Bezeichnung als „IM“ – um den Pakt mit dem MfS und um dessen konspirativen Charakter. ZUM AUSBAU DES IM-NETZES UNTER ÄRZTEN Mit der Platzierung einzelner inoffizieller Mitarbeiter unter Medizinern begann das MfS bereits in den 1950er Jahren. Seit Anfang der 70er Jahre baute es sukzessive ein IM-Netz innerhalb der Ärzteschaft auf. Z.B. gab die Berliner Hauptabteilung (HA) XX für das Jahr 1974 ein „inoffizielles Netz“ von insgesamt mehr als 2.000 IM unter den Beschäftigten im Gesundheitswesen an. Darunter seien 852 Ärzte gewesen.24 Territoriale Schwerpunkte gebe es insbesondere in Bezirken mit hoher Bevölkerungsdichte sowie mit medizinischen Ausbildungseinrichtungen, wie z.B. Berlin, Halle und Leipzig. Daneben existierten Schwerpunktbereiche in den Kreisen und Städten, die laut MfS-Expertise von medizinischen Einrichtungen wie Kurhäusern, Sanatorien und Forschungsstellen geprägt waren, oder in Bezirken, in denen sich medizinische Fakultäten an Universitäten, Medizinische Akademien, medizinische Fachschulen, Bäder- und Rehabilitationszentren konzentrierten.25 Der IM-Anteil unter Ärzten nahm schließlich ungefähr 3 bis 5 % ein26 und lag damit eindeutig höher als der in der Gesamtbevölkerung. Das darf allerdings nicht als besondere ideologische Anfälligkeit des Ärztestandes gedeutet werden, sondern bestätigt vielmehr, dass die Partei- und Staatsführung diese bildungsbürgerlich geprägte Berufsgruppe mit tradiertem Standesbewusstsein aus den bereits genannten Gründen besonders kritisch observieren lassen wollte. Dem MfS ist es gelungen, in allen Ärztefachgruppen und unter den Zahnärzten inoffizielle Mitarbeiter zu gewinnen bzw. einzusetzen. Zahlenmäßig konnten besonders viele Internisten, Chirurgen, Allgemeinmediziner, Psychiater, Zahnund Sportärzte als IM ausgemacht werden. Der IM-Anteil schien allerdings weitgehend der jeweiligen Größenordnung der Fachrichtungen bzw. deren Anteilen an der gesamten Ärzteschaft entsprochen zu haben. Mit zwei Ausnahmen: Die Fachgruppen der Psychiater und Sportärzte waren besonders hoch mit IM-Ärzten infiltriert. Psychiater standen stärker als andere Ärzte im Fokus der Staatssicherheit, weil sie neben ihren Kollegen auch „gerichtlich untergebrachte“ bzw. politisch relevante Patienten beobachten sollten. Das geht nicht nur aus den entsprechenden 24 25 26

Vgl. ebd., HA XX 11663, Bl. 95. Vgl. ebd., Bl. 93. Vgl. Süß (1999), S. 273.

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Berichtsinhalten, sondern teilweise auch aus den Aufgabenstellungen in den jeweiligen IM-Akten hervor.27 Hinzu kam, dass Psychiater und Psychologen bei „Republikfluchtversuchen“ und bei der „politischen Untergrundtätigkeit“ gegenüber ihren Kollegen aus anderen Fachgebieten überrepräsentiert waren 28 und deshalb nach Ansicht des MfS unter besondere Beobachtung gestellt werden mussten. Bei den Sportmedizinern ging es der Staatsicherheit in erster Linie um Berichte über DDR-Leistungssportler und Reisen zu Sportveranstaltungen in das sog. „nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ (NSW)29 und damit auch um die Bespitzelung von Sportlern und Sportfunktionären anderer Staaten. Darüber hinaus sollten durch IM unter Sportmedizinern alle Angelegenheiten in Zusammenhang mit Doping, dessen Kontrolle und die damit einhergehenden „Erfolge und Misserfolge“ überwacht werden. IM „Hans-Georg Meier“ gab beispielsweise bei einem Treffen mit seinem Führungsoffizier zu Protokoll, dass während einer Junioreneuropameisterschaft 1975 eine Sportlerin der DDR auf anabole Steroide positiv getestet und daraufhin disqualifiziert worden sei. Aus diesem Vorkommnis ergab sich nach Ansicht des IM für die Sportführung der DDR, die kommenden Olympischen Spiele „in dieser Hinsicht vollkommen abzusichern“, d.h. den Trainern und Ärzten der betreffenden Verbände die strikte Anweisung zu erteilen, rechtzeitig mit den Spritzen und Tabletten aufzuhören.30 Der Sportmediziner, IM „Klaus Müller“, berichtete 1979 wiederum von einer internationalen Sportveranstaltung in der DDR, auf der bei Dopinguntersuchungen sieben positive Befunde festgestellt worden seien. Offiziell habe man allerdings bekannt gegeben, dass alle untersuchten Sportler negativ getestet worden seien.31 Nicht zuletzt ging es dem MfS im Zusammenhang mit Doping auch um Informationen über damit einhergehende „Forschungsversuche“. IM „Hans-Georg Meier“ schilderte dem für ihn zuständigen MfS-Mitarbeiter 1984 ein sog. „Schwimmexperiment mit Epitestosteron“. Der IM erhielt daraufhin den Auftrag, weitere Informationen zu Epitestosteron bzw. zur „unerlaubten und unkontrollierten Anwendung von ETestosteron“ zu ermitteln.32 Diese inoffiziellen Mitarbeiter sollten aber ebenfalls – wie andere IM auch – Kaderanalysen, Personeneinschätzungen und Situationsberichte anfertigen, um den jeweiligen sportmedizinischen Bereich zu kontrollieren und die dort ansässigen Mitarbeiter unter dem Aspekt „Wer ist wer?“ einzuordnen und zu beurteilen.33

27 28 29 30 31 32 33

Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 1598/92, Akte I/1, Bl. 134; vgl. ebd., AIM 2251/92, Akte I/1, Bl. 7. Vgl. Süß (1999), S. 243. Vgl. BStU, BV Karl-Marx-Stadt, AIM 2306/88, Akte I/1, Bl. 154. Vgl. ebd., BV Leipzig, AIM 715/86, Akte II/1, Bl. 30. Vgl. ebd., AIM 5368/92, Akte II/1, Bl. 19. Vgl. BStU, AIM 715/86, Akte II/1, Bl. 184. Vgl. ebd., AIM 1448/77, Akte I, Bl. 73.

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Die 493 untersuchten Fälle von IM-Ärzten bzw. IM-Vorläufen34 deckten darüber hinaus das ganze Tätigkeitsspektrum von Medizinern ab. Seit den 1970er Jahren gab es kein Krankenhaus, keine Poliklinik und keine Ambulanz mehr, in der nicht mindestens ein IM platziert war. Lediglich in den 1950er Jahren war der Anteil von IM an den Universitäten und Universitätskliniken besonders hoch, da den medizinischen Fakultäten in diesem Zeitraum außerordentlich große staatssicherheitsdienstliche Aufmerksamkeit galt. Zwei Drittel der 29 ermittelten IM, die zwischen 1951 und 1959 geworben wurden, studierten zu diesem Zeitpunkt Medizin oder waren an den Universitäten und ihren Kliniken in Lehre, Forschung und mit der Behandlung von Patienten beschäftigt. Sie mussten in erster Linie über die Situation an den Hochschuleinrichtungen berichten.35 Hier hatten sich nach der Entnazifizierung, d.h. seit Beginn der 1950er Jahre Angehörige der sog. bildungsbürgerlichen Generation von Ärzten wieder etabliert, die kaum den Vorstellungen von Partei- und Staatsführung entsprachen und deshalb nach deren Ansicht besonderer Kontrolle bedurften. Man befürchtete, dass diese Altersgruppe die von ihnen in Theorie und Praxis auszubildenden Medizinstudenten mit ihrem tradierten Standesbewusstsein, ihren Berufsansprüchen und ihrem kritischen Blick auf die Entwicklung in der DDR beeinflussen konnte. Aus dieser „Gefahr“ heraus galt es für die Staatssicherheit, ebenfalls Medizinstudenten zu beobachten, einmal mehr aber auch, weil die medizinischen Fakultäten in diesem Zeitraum wegen „negativen Auftretens von Studenten, Provokationen bei Veranstaltungen [...], Feindtätigkeit wie Hetzschriften ablegen und Zerstörung

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Bei den sog. Vorläufen handelte es sich nicht um inoffizielle Mitarbeiter einer bestimmten Kategorie, sondern um Fälle eines sog. Vorgangstyps bzw. um „zur Werbung als IM vorbereitete Personen“. Den Werbungen aller IM gingen „Vorläufe“ voraus, während derer sie von den hauptamtlichen Mitarbeitern als kontaktierte IM-Kandidaten geführt und in der zentralen MfS-Registratur als solche angemeldet wurden. Gelang die Werbung, registrierten die Führungsoffiziere die IM-Kandidaten zu inoffiziellen Mitarbeitern einer bestimmten Kategorie um. Die hauptamtlichen Mitarbeiter erzielten jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen heraus nicht bei allen „Vorläufen“ Verpflichtungserfolge. Zu den eigentlichen Werbegesprächen kam es in diesen Fällen nicht. Bei einem Teil dieser „Kandidaten“ sahen die Stasioffiziere keine Perspektive (mehr) für eine Zusammenarbeit. Der andere Teil der „Vorläufe“ lehnte die „Offerte“ des MfS vor der Verpflichtung oder während des Werbegesprächs ab. Die Behörde des BStU macht bei der Herausgabe von IM-Vorlauf-Akten Unterschiede. Paragraph 6/(4)/2 des StUG definiert, dass es sich bei inoffiziellen Mitarbeitern um Personen handele, „die sich zur Lieferung von Informationen an den Staatssicherheitsdienst bereiterklärt haben“. Diese Begriffsbestimmung schließt auch bestimmte IM-Kandidaten ein. Das von der Autorin analysierte Sample an 40 IM-Vorläufen umfasst demnach Ärzte, die eine Mitarbeit nicht von Vornherein ausgeschlossen haben, sondern während der sog. Vorbereitungsphase (vorerst) Bereitschaft für weitere Treffen und zur Zusammenarbeit signalisierten und/oder Fragen der MfS-Mitarbeiter zu Personen bereitwillig und mehr oder weniger ausführlich beantworteten. Vgl. Müller-Enbergs (1996), S. 240 und Müller-Enbergs (2000), S. 171. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 197/88, Akte I, Bl. 97.

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von Wandzeitungen einen politisch-operativen Schwerpunkt“ für das MfS bildeten.36 Seit Beginn der 1950er Jahre wurden inoffizielle Mitarbeiter jedoch nicht nur aufgrund der komplizierten Situation an medizinischen Fakultäten der Universitäten geworben, sondern auch wegen der Flucht zahlreicher gut ausgebildeter medizinischer Fachkräfte nach Westdeutschland. In den folgenden Jahrzehnten standen ausgewählte Tätigkeitsfelder von Ärzten nicht mehr im Mittelpunkt des MfSInteresses. Der Prozentsatz an IM-Ärzten kam seither der Anzahl und Größe von medizinischen Einrichtungen gleich. Diese Verteilung entsprach den Intentionen der Staatssicherheit, das Gesundheitswesen mit einem alle dort beschäftigten Personen erfassenden IM-Netz zu durchsetzen und sich in den jeweiligen medizinischen Einrichtungen immer stärker auf die „operativen Schwerpunkte“, d.h. auf die „Republikflucht“- sowie ausreisewilligen und politisch (scheinbar) illoyalen Ärzte zu konzentrieren. Im Laufe der Jahre ging das MfS bei der „Gestaltung des IM-Netzes“ mitunter auch zu langfristigen Planungen über. Fast alle der 14 im Rahmen der Untersuchung ermittelten minderjährig Geworbenen gerieten deshalb in den Fokus der Staatssicherheit, weil sie Ambitionen hegten, ein Medizinstudium aufzunehmen. Neben der Bespitzelung von Mitschülern ging es dem MfS perspektivisch gesehen vor allem um die langfristige Entwicklung von „qualifizierten“ und bereits „erfahrenen“ inoffiziellen Mitarbeitern unter Medizinstudenten, aber vor allem unter Ärzten. Unter diesen Schülern erwies sich IM „Ulrike“ als besonders eifrig bei der konspirativen Lösung ihrer Aufgaben. Sie berichtete immerhin elf Jahre über Personen, Stimmungen und Reisen. Die spätere Gynäkologin war laut Akte 1978 als minderjährige EOS-Schülerin geworben worden.37 In der ersten Phase ihrer inoffiziellen Tätigkeit gab sie u.a. Informationen zu Studienabsichten ihrer Mitschüler, deren konfessionelle Bindungen und Meinungen über die Stasi an das MfS weiter. Unter anderem erzählte sie ausführlich über die „kritikwürdige ideologische Haltung und Einstellung“ eines Mitschülers. Der betreffende Schüler sei auf einen eventuellen Dienst beim Wachregiment des MfS angesprochen worden. Nach dem Gespräch im Wehrkreiskommando habe er öffentlich zum Ausdruck gebracht, kein Interesse an diesem Dienst zu haben, weil er nicht zu denen gehören wolle, die noch jahrelang danach andere Leute „bespitzeln“ müssen. Außerdem diskutiere er oft „negativ“ und finde im Prinzip alles in der DDR „mies“. Das betreffe z.B. Versorgungsprobleme, aber auch die Medien, welche nicht die Wahrheit verbreiten würden.38 Kurz darauf teilte „Ulrike“ laut Akte dem MfS in einer handschriftlich verfassten Information mit, dass der Mitschüler gemeinsam

36 37 38

Vgl. BStU, ZA, AIM 12175/70, Akte I/1, Bl. 59. Vgl. ebd., BV Leipzig, AIM 1642/92, Akte I/1, Bl. 12. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 1642/92, Akte I/1, Bl. 47.

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mit seiner Freundin, die „kirchlich stark gebunden“ sei, an einem kirchlichen Treffen, einer Rüste, teilgenommen habe.39 Während ihrer Schulzeit habe man „Ulrike“ zudem langfristig auf ihren zukünftigen Einsatz in studentischen Kreisen vorbereitet,40 hielt der Führungsoffizier in der Akte fest. Sie sei allerdings bereits im Schulalter in der Lage gewesen, Personen „objektiv“ einzuschätzen, zu bestimmten Sachverhalten „abzuschöpfen“ bzw. persönliche Kontakte herzustellen. Bei den „operativen Einsätzen“ habe sich die inoffizielle Mitarbeiterin stets einsatzbereit gezeigt und Reaktionsvermögen wie Mut bewiesen. Die IM habe ihr Abitur an der Erweiterten Oberschule mit dem Prädikat „Auszeichnung“ abgeschlossen, anschließend im örtlichen Krankenhaus ein praktisches Jahr absolviert und sei Kandidat der SED geworden.41 Unter den zahlreichen Informationen aus der darauf folgenden Studienzeit befand sich auch ein mündlicher Bericht der IM von 1985, in dem sie über die Bedingungen in einem Kreiskrankenhaus Auskunft erteilte. Sie übte dort als Studentin im 6. Studienjahr bereits die Funktion der Stationsärztin aus. In diesem Bericht kritisierte sie u.a. die mangelhafte Unterstützung durch andere Fachkräfte. Sie könne sich zwar bei allen Ratschläge holen, werde jedoch, wenn sie nicht von sich aus und unaufgefordert Fragen stelle, kaum beachtet. Ausgerechnet den einzigen Kollegen, der ihr regelmäßig half, denunzierte sie bei der Staatssicherheit. Mit diesem Arzt habe sie auch über politisch-ideologische Sachverhalte sprechen können, schrieb sie in ihrem Bericht. Dabei habe der Kollege betont, „dass es für einen Arzt überhaupt nicht gut sei, wenn er zu ‚rot‘ sei, er habe dies selbst stets gespürt und sich auf dieses Verhalten eingestellt“.42 Ihren Spitzelaufträgen kam sie bis in das Jahr 1989 hinein zur Zufriedenheit ihres Auftraggebers nach. Bei zwei Dritteln der minderjährig Geworbenen endete die inoffizielle Tätigkeit jedoch unmittelbar nach der Volljährigkeit, d.h. kurz nach dem Schulabschluss oder spätestens mit Beendigung des Medizinstudiums. Demnach erlitten die MfS-Offiziere bei der langfristigen Erziehung sehr jung verpflichteter IM mehr Niederlagen als sie Erfolge erzielen konnten. Anders sah das unter den 59 ermittelten, ebenfalls noch im jugendlichen Alter geworbenen Medizinstudenten aus. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen ging ihrer Spitzeltätigkeit über die Studienzeit hinaus, d.h. auch als etablierte Ärzte, nach. Damit verbuchte das MfS innerhalb dieser Zielgruppe durchaus zahlreiche dauerhafte Erfolge.

39 40 41 42

Vgl. ebd., Bl. 58. Vgl. ebd., Bl. 109–110. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Akte II/2, Bl. 11.

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MOTIVE FÜR DIE IM-TÄTIGKEIT43 Bei der übergroßen Mehrheit der IM-Ärzte gaben die Führungsoffiziere an, die Mediziner auf „Grundlage der politischen Überzeugung“ geworben zu haben. Eine Reihe dieser 356 IM-Ärzte stand dem Sozialismus als Idee, der DDR als dessen „realem Gesellschaftssystem“ und darüber hinaus einer konspirativen Tätigkeit für die Staatssicherheit „im Interesse der Sache“ tatsächlich aufgeschlossen gegenüber. Das verdeutlichen nicht nur die großen Anteile von IM in Schlüsselpositionen44 und an SED-Mitgliedern, sondern auch die in den Akten abgehefteten, ausführlichen IM-Beurteilungen zusammen mit den angefügten Lebensläufen. Für zahlreiche IM-Ärzte traf aber auch zu, dass zum Motiv „politische Überzeugung“ nichtideologische Beweggründe wie persönliche oder berufliche Interessen, aber auch Angst und Unsicherheit hinzukommen konnten. In vielen dieser Fälle schürten die Stasioffiziere zusätzlich bewusst Angst oder bedrohten die zu Werbenden subtil. Die Interviewaussagen der 21 ehemaligen IM-Ärzte bestätigen, dass es sich in der Regel um eine Gemengelage an Beweggründen handelte, welche die Anwerbung durch das MfS ermöglichten bzw. begünstigten. Prinzipielle Unterschiede zwischen den Aktenvermerken zur Motivlage und den Interviewaussagen traten bei der Hälfte der gesprächsbereiten Ärzte auf, in deren Akten „politische Überzeugung“ als Grund für die Zusammenarbeit angegeben war. Diese Mediziner widersprachen dem in den Auskunftsberichten der Akten festgehaltenen Motiv und gaben eher unpolitische Gründe, mehrfach Angst, aber auch Berufs- und Karrierewünsche sowie „Abenteuerlust“ an. Die andere Hälfte der „aus politischer Überzeugung“ tätigen Ärzte folgte den Angaben der ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiter. Diese Mediziner waren teilweise tatsächlich davon überzeugt, das MfS unterstützen zu müssen, konkretisierten allerdings Art, Absicht oder Hintergrund ihrer „Hilfeleistungen“. Einige von ihnen fühlten sich eingebunden in staatliche oder militärische Strukturen, die Kontakte mit dem MfS unvermeidbar erscheinen ließen. Andere hielten das MfS für ein „Schutzorgan“, das man 43

44

In den sog. Auskunftsberichten der IM-Akten dokumentierten die Führungsoffiziere kurz und knapp die von ihnen bis zum Werbegespräch und während dessen ermittelten Gründe der IM für die Zusammenarbeit. Bei diesen eher formalisierten Motiven unterschied das MfS prinzipiell nur drei Kategorien: „politische Überzeugung“ (oder „Einsicht in die Notwendigkeit“), „Wiedergutmachung“ und „persönliche Interessen“. Welche Gründe darüber hinaus in den entsprechenden Aktenprotokollen angegeben wurden, lag im Ermessen der zuständigen Stasioffiziere, an den unmittelbaren Gegebenheiten während der Werbung und mitunter an den Anlässen für die ersten Kontakte. Für die Aufnahme der inoffiziellen Tätigkeit war, nach Auffassung der zuständigen MfS-Mitarbeiter, bei ca. 72 % der ermittelten IM-Ärzte „politische Überzeugung“ das ausschlaggebende Motiv. Bei knapp 11 % der Fälle gaben sie „Wiedergutmachung“ und bei etwas mehr als 7 % „persönliche Interessen“ (Vorteilsnahme) an. (Die Motive von 10 % der untersuchten Fälle konnten nicht ermittelt werden.) Bei Ärzten in sog. Schlüsselpositionen handelte es sich um Mediziner in hohen Leitungsfunktionen, z.B. um Ärztliche Direktoren oder Chefärzte, aber auch um Funktionsärzte wie Bezirks- und Kreisärzte.

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glaubte, im Dienste der SED-Politik oder des eigenen Krankenhauses unterstützen zu müssen. Die meisten dieser ehemaligen IM gaben aber ebenfalls zu, zusätzlich von Angst, Hilflosigkeit, aber zumindest von Unsicherheit geleitet worden zu sein.45 Außerdem gab es im jeweils unmittelbaren Arbeitsbereich angesiedelte Beweggründe, die zu sog. „Alltagsdenunziationen“ führten.46 Ein derartiges Verhalten belegen nicht nur die detaillierten und teilweise diffamierenden Berichte über Kollegen, sondern auch die Interviewaussagen eines Arztes. Der ehemalige inoffizielle Mitarbeiter „Hans“, ein Anästhesist, gab im Gespräch zu, bei der „Qualität“ von Personenberichten mitunter nach Sympathie oder Antipathie für die Betroffenen „ausgewählt“ zu haben. So habe er beispielsweise einen Kollegen und eine Kollegin einschätzen sollen, die Reisen ins „nichtsozialistische Ausland“ geplant hatten. Mit dem Kollegen habe er unmittelbar und vor allem gut zusammengearbeitet. Laut Interview kannte der ehemalige IM dessen politische Einstellung, weshalb er den Bericht ein bisschen „positiv gefärbt“ habe. Allerdings räumte „Hans“ an dieser Stelle ein, dass er dem Kollegen aber auch keine „sozialistischen Ideale“ hätte „andichten“ können. Andere Ansichten des Berufsgenossen seien wiederum von ihm abgeschwächt worden. Die Kollegin dagegen habe er absolut nicht leiden können und deshalb in seinen Informationen an das MfS keinerlei Rücksicht auf sie genommen. Der Kollege sei schließlich ins Ausland gereist, die Kollegin nicht.47 Das vom Staatssicherheitsdienst als „Wiedergutmachung“ bezeichnete Motiv für inoffizielle Mitarbeit basierte eindeutig auf der Nötigung anvisierter IM-Kandidaten und/oder auf (anschließend getroffenen) Vereinbarungen zwischen ihnen und den Stasioffizieren. Die 53 hier ermittelten Ärzte wurden von offiziellen MfSMitarbeitern bedroht bzw. unter Druck gesetzt und/oder durch Angebote gefügig gemacht. Ließen sich genötigte Ärzte auf einen Pakt mit der Staatssicherheit ein, konnte ihnen der Verlust der Approbation, Disziplinarmaßnahmen, Verurteilung, Haft überhaupt, aber auch eine lange Haftstrafe erspart bleiben. Auch in diesen Fällen decken sich die in den Gesprächen mit den ehemaligen IM-Ärzten gemachten Angaben weitgehend mit den Darstellungen der Führungsoffiziere in den Akten. Allerdings hoben die interviewten Ärzte zum einen den nötigenden Aspekt der Anwerbung stärker hervor und brachten zum anderen deutlich häufiger Gefühle wie Angst, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht zum Ausdruck, welche in den MfS-Unterlagen zwar mitunter verbrämt, aber nicht in diesem Ausmaß zu finden waren. Darüber hinaus gab es eine kleine Gruppe von Medizinern, die sich in schier aussichtslosen Situationen – z.B. in Haft – befanden und nur deshalb auf die Offerten des MfS eingingen. Auch wenn sie die Methode des MfS als Erpressung empfunden haben sollten, trifft das nicht ganz den Kern ihres Handelns. Eigent45 46 47

Vgl. Weil (2008), S. 232. Vgl. Gieseke (2003), S. 233–234. Vgl. Interview der Autorin mit „Hans“ vom 07.07.2005, S. 6–8.

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lich ließen auch sie sich auf eine wechselseitige Abmachung mit der Staatssicherheit ein. Beispielsweise war IM „Sabine“ 1975 „wegen staatsfeindlicher Hetze inhaftiert“ worden und sollte eine Strafe von zwei Jahren und acht Monaten verbüßen. Parallel dazu – so die Allgemeinmedizinerin im Interview – habe ihr geschiedener Mann das Sorgerecht für den Sohn beantragt und es in einem Folgeprozess auch tatsächlich erhalten. Ihr sei lediglich mitgeteilt worden, dass es nicht mit ihrer „Straftat“ zusammenhängen würde, sondern mit dem Fakt, dass sie „objektiv nicht in der Lage [sei], das Sorgerecht auszuüben“. „Sabines“ Mutter habe dann bei einem Sprechertermin48 gesagt, sie solle einfach alles tun, um das Sorgerecht in einem Berufungsprozess wiederzubekommen. Ihr damaliger Anwalt rechnete ihr dafür nur Chancen aus, wenn sie innerhalb der Berufungsfrist aus der Haft entlassen würde. Sie sollte deshalb – so sein Ratschlag – alle Angebote annehmen, die ihr das MfS unterbreiten würde. Man habe ihm schon vorab signalisiert, „dass es da Möglichkeiten gebe und alles andere müsste sich hinterher finden“.49 Für „Sabine“ sei es eigentlich kein Problem gewesen, noch bis zum Ende ihrer Strafzeit „einzusitzen“. Das hätte sie nach eigenen Worten „seelisch durchgehalten“. Schlimm seien aber die Sprechertermine mit ihrer Mutter gewesen, weil die ganze Familie furchtbar darunter gelitten habe. Zudem hätte sie den Verlust ihres Kindes keinesfalls ertragen. Dann sei das MfS mit dem Angebot auf sie zugetreten, sie unter einer Voraussetzung zu entlassen: Sie müsse Einsicht zeigen und beweisen, dass sie sich verändert habe. Ihre Haltung könne sie unter Beweis stellen, indem sie sich zu Gesprächen über eventuelle Missstände im Gesundheitswesen bereitfinde. Nur dann dürfe sie sowohl im Beruf weiterarbeiten als auch ihr Kind behalten. Daraufhin habe die Ärztin eine Bereitschaftserklärung unterschrieben und sich damit einverstanden erklärt, mit dem MfS ohne zeitliche Begrenzung zusammenzuarbeiten.50 Laut Akte warb das MfS IM „Sabine“ 1975 während der Haft auf „Basis der Wiedergutmachung und Überzeugung“.51 Der Führungsoffizier erläuterte ähnlich ausführlich die Fakten der Anwerbung, ohne auf andere Motive wie z.B. die Gefühle der Medizinerin einzugehen. Deren Empfindungen dokumentierte er allerdings im Protokoll zum ersten Treffen, welches zehn Tage nach der Werbung in „Freiheit“ stattfand. Er beschrieb vor allem ihre „überschäumende Freude“ über die vorzeitige Haftentlassung. Dem Stasioffizier ging es mit dieser eher ungewöhnlichen Beschreibung offenbar vor allem darum, seinen durchschlagenden „Erfolg“ deutlich zu machen. Diesen konnte er auch anderweitig verbuchen: Bereits während dieses ersten Kontaktes gab „Sabine“ Informationen über Bekannte preis.52 48 49 50 51 52

Bei so genannten Sprecherterminen handelte es sich um Besuchstermine. Vgl. Interview der Autorin mit „Sabine“ vom 25.08.2004, S. 1–2. Vgl. ebd. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 1386/83, Akte I/1, BL. 20; vgl. ebd., Akte I/2, Bl. 19–20. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 1386/83 Bl. 40.

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Obwohl eine Reihe der 53 Mediziner tatsächlich glaubte, ihre (angebliche) Straftat wieder gutmachen zu müssen, wird andererseits deutlich, dass das von den Führungsoffizieren attestierte Motiv „Wiedergutmachung“ nicht auf alle derartig geworbenen IM-Ärzte zutrifft. Dieser Beweggrund dokumentiert in den meisten Fällen lediglich die Auffassungen der MfS-Offiziere. Der Anteil derer unter den 53 IM-Ärzten, die sich erpresst fühlten und aus Angst, aus persönlichen, aber auch beruflichen Gründen heraus keinen Ausweg aus ihrer Zwangslage entdeckten, ist recht hoch. Viele von ihnen hatten mit Sicherheit nicht das Bedürfnis, etwas wieder gutzumachen, sondern fühlten sich zur Kooperation mit der Stasi schlichtweg genötigt. Bei näherem Hinsehen ist außerdem zu erkennen, dass die Mehrzahl dieser 53 Ärzte nicht vordergründig geworben wurde, weil sie etwas „wieder gutzumachen hatten“ oder unter Druck besonders leicht zu werben waren. Gerade ihr Einsatz lohnte sich für das MfS. Viele von ihnen galten in ihrem Arbeitsumfeld als politisch illoyale Ärzte und waren nach Ansicht der Stasioffiziere deshalb in der Lage, eine große Nähe zu den „operativen Schwerpunkten“ der IM-Tätigkeit, d.h. zu „negativen Personenkreisen“ wie „Republikflucht“- oder Ausreisewilligen, aber auch zu sog. „Schleuserbanden“ auf- bzw. auszubauen. Mit Sicherheit waren Motive wie bestimmte persönliche Interessen bei zahlreichen IM-Ärzten stark ausgeprägt. Sie haben nicht in allen, aber in vielen Fällen materiellen oder beruflichen Nutzen aus ihrer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit gezogen. Der „Spitzenverdiener“ unter den hier untersuchten Ärzten war IM „Dr. Hans Walther“, leitender Arzt in einer Ambulanz, der innerhalb von 16 Jahren Spitzeltätigkeit mit 209 Prämien bzw. Geschenken zwischen 10 und 685 DDR-Mark und damit mit insgesamt 28.638 DDR-Mark bedacht wurde.53 Ihre stimulierende Wirkung verfehlten die Zuwendungen häufig nicht, da sie in jedem Fall eine engere Bindung und die „Effektivierung“ der konspirativen Zusammenarbeit bewirkten.

53

Vgl. ebd., AIM 5113/92, Akte I/1, Bl. 25–73.

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BRISANZ DER PERSONENBERICHTE54 Die übergroße Mehrheit der IM-Ärzte war aufgrund der bereits beschriebenen Schwierigkeiten, welche die SED-Führung mit diesem bildungsbürgerlich geprägten Berufsstand hatte, auf die Bespitzelung ihrer Kollegen angesetzt. In der Regel enthielten die Berichte über Berufskollegen weitreichende Informationen, kombiniert aus politischen, beruflichen und persönlichen Angaben von unterschiedlichem Umfang, variierend zwischen oberflächlichem und detailreichem Charakter sowie zwischen ausschließlich berichtendem und beurteilendem Modus. Die Berichte unterscheiden sich nicht nur im Umfang, sondern auch und vor allem im Detail. Mancher IM bemühte sich um Angaben von (teilweise hinlänglich bekannten) Fakten zu Personen. Andere wiederum gingen nicht nur auf intimste Details ein, sondern „vervollständigten“ ihre Berichte durch Beurteilungen und moralische Bewertungen. IM „Sabine“, Fachärztin für Allgemeinmedizin in einer Poliklinik, lieferte beispielsweise 1979 folgendes Urteil über eine Kollegin ab: „Die [N. N.] schätze ich als fachlich gut ein, wobei ich einschränken muss, dass sie nicht gerade arbeitswütig ist. Ihrer Meinung nach habe sie vorher auf dem Lande sehr viel arbeiten müssen, so dass sie sich erlauben könne, nunmehr etwas zurückhaltender tätig zu sein. Oftmals hinterlässt sie den Eindruck, dass sie keine besondere Lust zur Arbeit hat. Fehler in der Arbeit macht sie aber nicht. Sie ist meines Erachtens sehr verwöhnt und egoistisch. [...] Bei den Patienten gilt sie als sehr unfreundlich. Gesellschaftliche Arbeit leistet sie nicht, das würde sie zu sehr ablenken. [...] Wie gesagt, aufgrund ihrer schlechten Arbeitseinstellung sind auch ihre Leistungen nicht besonders. Sie setzt sich nicht ein für ihren Beruf und ihre 54

Um mehr über die Qualität der gelieferten Auskünfte und Hinweise zu erfahren, wurden im Laufe der Aktenauswertung die schriftlichen Informationen als Personen-, Stimmungs-, Reise- und Sachberichte deklariert und unterschieden. Bei Personenberichten handelte es sich um Beurteilungen von Kollegen, Vorgesetzten, Patienten oder Bekannten sowie Verwandten. Sie umfassten konkrete Angaben zu Tätigkeit, Charakter, Interessen, zum Verhalten im „Kollektiv“, zur politischen Einstellung, zu eventuellen Kontakten ins westliche Ausland, zur finanziellen und Familiensituation. Bei Patienten kamen darüber hinaus noch Informationen zum Gesundheitszustand, zu Diagnosen, Therapien und ggf. zu sozialen Kompetenzen hinzu. Auskünfte über die Stimmung in den Krankenhäusern, den Polikliniken oder auf den jeweiligen Stationen, u.a. auch in Hinblick auf ausgewählte politische Ereignisse bzw. auf die gesamtgesellschaftliche Lage in der DDR, wurden als Stimmungsberichte erfasst. Wenn auch eine Reihe von ihnen mit wortwörtlicher Wiedergabe von Personenaussagen versehen sind, standen – wie in den Sachberichten auch – Angaben zu ausgewählten Personen nicht im Mittelpunkt. Sachberichte beinhalteten Informationen aus dem jeweiligen Arbeitsbereich, zu Problemen der medizinischen Versorgung, z.B. mit Medikamenten, Instrumenten, mit der Hygiene oder mit dem Personalstand. In Reiseberichten dokumentierten die IM hauptsächlich den Verlauf von Dienstreisen, u.a. zu internationalen Sportveranstaltungen bzw. Fachkongressen, von Privatreisen oder längerfristigen, in der Regel berufsbedingten Auslandsaufenthalten. Die überwiegende Mehrheit, d.h. 96 % der 418 IM-Ärzte, deren Berichte eingesehen werden konnten, berichteten über Personen. 78 % fertigten (zudem) Sachberichte an. 38 % der Ärzte lieferten dem MfS (darüber hinaus) Stimmungsberichte und 20 % (zusätzlich) Reiseberichte. 61, d.h. 15 %, der inoffiziellen Mitarbeiter waren längerfristig in „operative Vorgänge“ involviert und damit konkret auf bereits vom MfS erfasste Personen „angesetzt“.

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Francesca Weil Kranken – so wie es von einem Arzt erwartet wird. Auch mangelt es an Hilfsbereitschaft (Einspringen für eine kranke Kollegin o. ä.).“55

Neben Aussagen über Kollegen lieferten viele IM-Ärzte auch Informationen und Einschätzungen zu Verwandten und Bekannten. Zu den wenigen Unterlagen, anhand derer sich unmittelbare Konsequenzen einer Denunziation konkret nachvollziehen lassen, zählt die Akte des Psychiaters und IM „Karl Schönherr“. Durch seine Hinweise konnte nicht nur eine beabsichtigte Republikflucht vereitelt werden; die entsprechende Person wurde darüber hinaus verhaftet und verurteilt. Aus einer Beurteilung der Zusammenarbeit mit dem inoffiziellen Mitarbeiter durch den entsprechenden Führungsoffizier geht hervor, dass der IM 1983 eine Information an das MfS weitergeleitet hat, in der er über die Absicht einer Bekannten berichtete, die DDR über die ČSSR „ungesetzlich“ zu verlassen. Aufgrund dieses Hinweises wurde die Frau verhaftet und zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. IM „Karl Schönherr“ erhielt daraufhin als „Auszeichnung“ eine Prämie von 400 Mark.56 Das Ergebnis einer Analyse, nach dem gerade die inoffiziellen Mitarbeiter, die aus Überzeugung mit dem MfS zusammengearbeitet haben, großes Engagement bei der Informationsbeschaffung gezeigt hätten, die meisten der Übrigen eher weniger,57 kann an dieser Stelle nicht bestätigt werden. Das Gegenteil belegen neben anderen Akten beispielsweise die von IM „Dr. Munkwitz“, einem Allgemeinmediziner mit privater Praxis, und von IM „Peter“, einem Medizinstudenten und späteren Zahnarzt. Ersterer war 1971 in Haft unter Angabe des Motivs „Wiedergutmachung“ angeworben worden und füllte bis 1989 14 Aktenordner mit ausführlichen (handgeschriebenen) Berichten über zahllose Personen.58 Letzterer, in dessen Akte das Motiv „politische Überzeugung“ angegeben wurde, sagte im Interview, den Führungsoffizieren ganz bewusst nur Belanglosigkeiten oder allgemein Bekanntes berichtet zu haben.59 Diese Interviewaussage lässt sich anhand der Treffberichtsprotokolle tatsächlich weitgehend nachvollziehen.60 Außerdem umfasst die im Vergleich zu anderen kleine Berichtsakte nur wenige Seiten mit Informationen. Aus den geführten Gesprächen mit den ehemaligen IM geht hervor, dass sich viele der interviewten Ärzte (scheinbar) nicht mehr genau erinnern konnten, in welchem Ausmaß und über welche Personen sie berichtet hatten. In der Rückschau fielen ihnen nur Bruchstücke ihrer Hinweise ein. Andererseits entsannen sie sich aber sehr deutlich ihres generellen Berichtsverhaltens. Die meisten der befragten Ärzte beschrieben es genauso oder ähnlich, wie es seit der Zugänglichkeit 55 56 57 58 59 60

BStU, BV Leipzig, AIM 1386/83, Akte II/1, Bl. 203. Vgl. ebd., AIM 2262/92, Akte I, Bl. 264–265. Vgl. Kerz-Rühling/Plänkers (2004), S. 142. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 498/91, Akten I und II. In einem Aktenordner hefteten die Führungsoffiziere in der Regel bis zu 300 Blatt beschriebenes Papier ab. Vgl. Interview der Autorin mit „Peter“ vom 01.06.2004, S. 1 und 5. Vgl. BStU, BV Leipzig, AIM 149/89, Akte II.

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der Stasiakten von vielen ehemaligen IM dargestellt wurde und wird. Nicht wenige von ihnen behaupteten, nur Banalitäten oder öffentlich Bekanntes erzählt zu haben. Die meisten der IM-Ärzte konnten während ihrer Kooperation tatsächlich nur vermuten, aber niemals selbst beurteilen, ob sie anderen durch ihre Treffberichte tatsächlich geschadet hatten oder nicht. Die übergroße Mehrheit von ihnen hatte über die Folgen ihrer inoffiziellen Informationen keine Rückmeldungen von den Führungsoffizieren erhalten. Dennoch unterschätzten sie damals wie heute die möglichen Konsequenzen auch unverfänglich erscheinender Spitzelberichte. Die Staatssicherheit trat nicht an jeden der 493 als IM oder IM-Vorlauf registrierten Ärzte heran, um (ebenfalls) Hinweise über Patienten zu erhalten. Das geht eindeutig aus den Aktenvorgängen hervor. Verlangten die Führungsoffiziere jedoch Angaben zu Patienten, hielten die wenigsten darauf angesprochenen Ärzte trotz ihres Berufsethos von Anfang an dagegen oder entzogen sich dieser Forderung während des Verlaufs ihrer IM-Tätigkeit. Etwas mehr als ein Viertel der in der Untersuchung erfassten IM-Ärzte verletzte die ärztliche Schweigepflicht im Rahmen der gesetzlichen Regelungen der DDR.61 Die meisten dieser 116 Ärzte berichteten weitgehend uneingeschränkt über gesundheitliche Probleme, persönliche Belange und politische Einstellungen von Patienten. Von dem Drittel der 21 interviewten Mediziner, das laut Aktenvermerken das Schweigegebot eindeutig gebrochen hatte, äußerte sich allerdings nur einer zu dem damit verbundenen Ereignis. Alle anderen verneinten die Frage nach der gebrochenen Schweigepflicht.62 Viele dieser Berichte zeichnen sich dadurch aus, dass sie weitreichende Patientenanalysen enthalten. In ihnen wurden Zusammenhänge zwischen pathologischen Befunden einerseits und Lebensvorstellungen, -planungen wie -chancen der 61

62

Die ärztliche Schweigepflicht galt auch in der DDR und war ähnlich wie in der Bundesrepublik gesetzlich geregelt. Auch ihre Einschränkung (§ 225 StGB-DDR) kam ungefähr der Regelung gemäß § 138 StGB-BRD gleich; die Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 226 StGBDDR) entsprach weitgehend der vergleichbaren Regelung gemäß § 139 StGB-BRD. Bei „Anzeigeunterlassung des Vorhabens, der Vorbereitung und der Ausführung von Verbrechen vor deren Beendigung“ drohten Ärzten Freiheitsstrafen von bis zu fünf, in schweren Fällen von bis zu zehn Jahren. Die Anzeigepflicht durch den Arzt schloss in der DDR neben Gewaltverbrechen jedoch auch politische Delikte wie „staatsfeindlicher Menschenhandel“, schwere Fälle von „staatsfeindlicher Hetze“ und planmäßige Vorbereitung „ungesetzlicher Grenzübertritte“ ein. Die Planung dieser „Vergehen“ durch Patienten galt demnach auch als gesetzlicher Aufhebungsgrund der ärztlichen Schweigepflicht. Aufgrund dieser Bestimmungen konnten Mediziner in dramatische Gewissenskonflikte geraten, wenn ihnen Patienten von Flucht- oder politischen Widerstandsplänen berichteten. Zum einen ist aber wegen der kritischen Einstellung zahlreicher Ärzte zur Politik in der DDR kaum anzunehmen, dass jeder von ihnen diese Anforderung in Hinblick auf politische Delikte auch tatsächlich erfüllte. Zum anderen rechtfertigte diese Klausel nicht die Verletzung der Schweigepflicht im Rahmen einer IM-Tätigkeit. Bei der „inoffiziellen“ Weiterleitung von Informationen über Patienten wurde in jedem Fall das in der DDR geltende Recht konspirativ unterlaufen, zumal wenn es sich um Informationen über Diagnose, Therapie, Persönlichkeitsstruktur, soziale oder andere persönliche Probleme handelte. Vgl. Süß (1999), S. 259–260. Vgl. Weil (2008), S. 244–247.

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Betroffenen andererseits konkret dargestellt. Häufig verbanden die Mediziner diese Angaben mit den jeweiligen ärztlichen Empfehlungen für die Gesundheit und ggf. für das soziale Umfeld. Der Sportarzt, IM „Ullrich“, gab in seinen Berichten ebenfalls Details über die Gesundheit, aber auch über ganz persönliche Lebensumstände seiner Patienten preis, wie ein Beispiel aus dem Jahr 1983 verdeutlicht: „Die ehemalige [Sportlerin des Sportclubs], die z. Z. [...] direkt studiert, weilte [dieses Jahr] mehrfach in der [Beratungsstelle], um sich untersuchen zu lassen. Aus den Untersuchungen geht eindeutig hervor, dass der Verdacht einer Schwangerschaft bei der [N.N.] nicht gegeben ist.“63

Eine ebenso intime Information über eine Sportlerin gab IM „Helmut Dombrowski“, ebenfalls als Sportarzt tätig, 1975 an den zuständigen MfS-Mitarbeiter weiter: „Wie mir bekannt ist, gibt es zwischen der [N.N.] und ihren Eltern einige Differenzen, [was] mit ihrem Freund zusammenhängen [muss]. Weiterhin ist mir noch bekannt, dass die [N.N.] z. Z. schwanger ist, aber das Kind nicht haben möchte.“64

Die meisten Patientenberichte sind außerdem mit zumindest kurzen Bemerkungen über die politischen Auffassungen der behandelten Personen durchsetzt. IM „Helmut Dombrowski“, der zu jenen inoffiziellen Mitarbeitern zählte, die dem Staatssicherheitsdienst zahlreiche Patienteninformationen zukommen ließen, ergänzte seine Krankenberichte fast durchgängig mit Hinweisen von politischem Charakter. 1976 erzählte er, dass er eine Patientin wegen Kehlkopfreizungen mit Sprachstörungen ärztlich behandelt habe. An einem Tag habe die Gelegenheit bestanden, ein längeres Gespräch zu führen. Sie seien u.a. auf die Affäre Biermann zu sprechen gekommen, wobei „die Entscheidung der Ausbürgerung“ von der Patientin nicht gebilligt worden sei. Sie habe sinngemäß geäußert, „dass es sich die DDR doch leisten könne, auch einen solchen Mann zu verkraften“. Außerdem habe Biermann, ihrer Auffassung nach, in vielem Recht.65 In einigen Patientenberichten fanden auch persönliche Verhältnisse und gesundheitliche Aspekte Erwähnung, die nicht nur an der ethischen Berufsauffassung dieser Ärzte zweifeln lassen. Sie sind wegen der Schilderung der konkreten Umstände, der damit verbundenen moralischen Abwertung der jeweiligen Patienten und der geschmacklosen Wortwahl einmal mehr Ausdruck eines inhumanen Menschenbildes. So gab beispielsweise IM „Irina“, Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ausgesprochen intime Angaben über ihre Patienten an die Staatssicherheit weiter. In einem ihrer Berichte aus dem Jahr 1982 heißt es beispielsweise: „Am [...] kam die [N.N.] in die Ambulanz für Haut- und Geschlechtskrankheiten [...] und wurde untersucht. Sie war an einer […] erkrankt. Als Partner gibt sie den [...], Köln, an, mit

63 64 65

BStU, BV Karl-Marx-Stadt, XIV 853/67, Akte II/2, Bl. 527. Ebd., AIM 2471/89, Akte II/1, Bl. 26. Vgl. Bl. 192–193.

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dem sie seit 6 Jahren ein intimes Verhältnis hat. [...] Sie ist eine sog. ‚Edelnutte‘, sehr attraktiv, tizianrotes Haar, große Ohrringe, trägt extravagante Kleidung, so z.B. zur Untersuchung ein weißes Strickkleid, goldene Schuhe und goldener Gürtel.“66

Die der Personalakte von „Irina“ beigefügten Berichtsordner mit 470 Seiten geben Auskunft über Hunderte von ihr behandelte, zumeist geschlechtskranke Patienten.67 Diese IM-Akte enthält mit Abstand die meisten Angaben zu Patienten unter den 493 analysierten Akten. Unter ihnen befand sich auch, wie das MfS festhielt, eine Reihe von „operativ relevanten Personen“.68 Dafür bekam IM „Irina“, die zudem eine Ambulanz leitete, regelmäßig finanzielle Zuwendungen vom MfS. Bereits im Werbungsgespräch von 1982 war vereinbart worden, dass die inoffizielle Mitarbeiterin monatlich 200 Mark „Zusatzgehalt“ vom MfS erhält. Die Ärztin habe sich darüber sehr gefreut und bereitwillig die erste Quittung mit ihrem Decknamen unterschrieben,69 hielt ihr Führungsoffizier fest und fügte kurz darauf in einer Beurteilung hinzu: „Der IM ist materiell interessiert und stellt für unser Organ eine wichtige Schlüsselposition dar.“70 AUSWIRKUNGEN DER IM-BERICHTE AUF DIE SCHWIERIGKEITEN IM GESUNDHEITSWESEN Aufgrund der in den Sachberichten angesprochenen Schwierigkeiten in den medizinischen Einrichtungen und der Art ihrer Formulierung ist davon auszugehen, dass ein Großteil der IM-Ärzte tatsächlich dem Glauben erlag, ihre Kritik an eine einflussreiche und auch weitreichend Einfluss nehmende Institution weitergeleitet zu haben. Sie erhofften vielleicht weniger prinzipielle Veränderungen, aber (ersatzweise) partielle, konkrete Hilfe. Einige Ärzte nutzten die persönlichen Beziehungen zum MfS deshalb ganz bewusst und fordernd, um ihre jeweilige Einrichtung mit dringend notwendiger Medizintechnik bzw. unbedingt erforderlichen Instrumenten versorgen zu können.71 Wie aus einigen wenigen IM-Akten hervorgeht, gelang es MfS-Mitarbeitern vereinzelt, dringende Probleme auf ausdrücklichen Wunsch von IM-Ärzten zu lösen. So beschäftigte sich beispielweise IM „Gerd“, Internist und Oberarzt, in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit Forschungsaufgaben zur Verbesserung der Implantation von Herzschrittmachern. Dafür benötigte er ca. 50 bis 100 Stück eines dänischen Instruments, auf welches man bis zur Entwicklung eines geeigneten Materials in der DDR angewiesen war. Der Internist wandte sich deshalb schriftlich an das Büro für „Medizintechnik-Erzeugnisse-Import“ beim Ministe66 67 68 69 70 71

BStU, BV Karl-Marx-Stadt, XIV 279/82, Bl. 31. Vgl. ebd., Akte II. Vgl. ebd., Bl. 13. Vgl. ebd., Akte I/1, Bl. 55. Ebd., Bl. 60. Vgl. ebd., XIV 651/77, Akte I/1, Bl. 143 und 156–157., vgl. ebd, AIM 817/79, Akte II/1, Bl. 236.

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rium für Gesundheitswesen. Parallel dazu bat sein Führungsoffizier Mitarbeiter der Berliner MfS-Zentrale, entsprechend ihren Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, damit das Ministerium für Gesundheitswesen bzw. die Importabteilung diesem Antrag entspreche. Dem Stasioffizier ging es dabei aber nicht vorrangig um einen erfolgreichen Abschluss des Forschungsvorhabens, sondern in erster Linie um die weitere Festigung der bestehenden Kontakte zu IM „Gerd“.72 In diesem Fall scheint die Einflussnahme des hauptamtlichen MfS-Mitarbeiters tatsächlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen zu haben. Während einer wenige Wochen später stattgefundenen Aussprache zwischen ihm und „Gerd“ wurden dem Internisten „mit vielen Grüßen des Leiters der Bezirksverwaltung“ zehn aus dem westlichen Ausland beschaffte Glühlampen für medizinische Geräte übergeben. Der IM-Arzt bedankte sich daraufhin nicht nur für die Glühbirnen, sondern auch für die oben genannten dänischen Instrumente. Es seien ihm zwar nur sechs Stück übergeben worden, er habe sie aber bereits in zwei Fällen anwenden können. Aufgrund dieses Erfolges und der gelungenen engeren Bindung „Gerds“ an das MfS fasste der Führungsoffizier weitere derartige Unterstützungen ins Auge.73 Die Staatssicherheit konnte jedoch nicht jedem Wunsch der IM-Ärzte nachkommen und erst recht nicht auf die sich verschlechternde Gesamtentwicklung in den einzelnen Einrichtungen und im Gesundheitswesen maßgeblichen Einfluss nehmen. Ein Teil der IM-Ärzte, die sich Veränderungen durch das MfS erhofft hatten, war enttäuscht und schließlich nicht mehr zur inoffiziellen Zusammenarbeit bereit.74 Mit den Stimmungsberichten verfuhr die Staatssicherheit ähnlich wie mit den Sachberichten. IM-Informationen wurden in den jeweiligen Dienststellen zu Analysen zusammengefasst und sowohl den übergeordneten Einheiten als auch den zuständigen SED-Leitungen zur Kenntnis gegeben.75 Diese „Auswertungen“ machen deutlich, dass die MfS-Mitarbeiter den tatsächlichen Ursachen für die zunehmend kritischen Stimmen gegenüber den Verhältnissen im Gesundheitswesen nicht auf den Grund gehen wollten oder konnten. Dagegen verwiesen sie einerseits auf die verbesserungsbedürftige politisch-ideologische Arbeit in den medizinischen Einrichtungen und andererseits auf die zu verstärkende staatliche Einflussnahme und Kontrolle, z.B. durch Kreis- und Bezirksärzte.76 In den auf Grundlage von IM-Berichten erstellten „Lageeinschätzungen zu den Jahresarbeitsplänen“ leiteten die MfS-Diensteinheiten darüber hinaus „weiterführende und neue Sicherheitserfordernisse“ ab. Dazu zählten auch Maßnahmen zur Effektivierung der sog. „inoffiziellen Basis“. Wurde der IM-Bestand vor Ort quantitativ als „für die Lösung der anstehenden Aufgaben ausreichend“ einge72 73 74 75

76

Vgl. BStU, BV Karl-Marx-Stadt, XIV 651/77, Akte I/1, Bl. 143. Vgl. ebd., Bl. 156–157. Vgl. Weil (2008), S. 162–163. Vgl. BStU, BV Magdeburg, KD Staßfurt 15416, Bericht des Leiters der Kreisdienststelle (KD) Staßfurt vom 21.11.1983 „Stimmungen und Meinungen im Bereich Gesundheitswesen“, Bl. 1–5. Vgl. ebd., HA XX 527, Bl. 102.

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schätzt, gelangten die Leiter der MfS-Dienststellen in den meisten Fällen zu der Schlussfolgerung, dass es an der „notwendigen Qualität“ mangele. In der Konsequenz sollten durch den „noch wirksameren Einsatz“ von vorhandenen IM in Schlüsselpositionen und durch „geeignete offizielle Kontakte“ aufgetretene Mängel und ihre Folgen für die Stimmung unter dem medizinischen Personal abgestellt werden.77 Diese „Lageeinschätzungen“ sind somit nicht nur Ausdruck ideologischer Verbohrtheit, sondern sie spiegeln ebenso das Unvermögen der Staatssicherheit wider, die grundlegenden Probleme im Gesundheitswesen zu benennen und Lösungsansätze anzubieten. Auch die Flucht- und Ausreisewilligkeit von Ärzten wurde dadurch nicht gebremst, sondern eher bestärkt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich unter den IM-Ärzten, die angesichts der Schwierigkeiten mehr oder minder hilflos ihre Stasiberichte formulierten und von dieser Instanz Unterstützung erhofften, viele Mediziner in leitenden Positionen, d.h. auch Kreis- und Bezirksärzte, befanden. Eigentlich war vorgesehen, dass ihr Einsatz als IM in Schlüsselposition die direkte Beseitigung von Mängeln und Missständen einschloss. Wie aus den Sach- und Stimmungsberichten hervorgeht, konnte diese Absicht vielerorts nicht in Taten umgesetzt werden. Die Kreis- und Bezirksärzte waren aufgrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gesamtsituation kaum oder überhaupt nicht dazu in der Lage und mit dem an sie gestellten Anspruch zwangsläufig überfordert. Letztendlich musste es in den meisten Gesprächen zwischen IM-Ärzten in Schlüsselpositionen und ihren Führungsoffizieren beim bloßen Austausch von Informationen und beim Hin- und Herschieben von Verantwortung bleiben. PROBLEME DES MFS MIT DEM IM-BESTAND INNERHALB DER ÄRZTESCHAFT Der Anteil von 19 % „hochwertigen“ inoffiziellen Mitarbeitern unter den IMÄrzten erscheint im Vergleich zum Anteil von IMV und IMB78 am gesamten IM77 78

Vgl. BStU, BV Dresden, Abt. XX 9744, Bl. 2–3. Das MfS teilte die inoffiziellen Mitarbeiter entsprechend ihren Aufgaben, ihrer Einsatzschwerpunkte und der Brisanz bzw. Wertigkeit ihrer Aufträge in unterschiedliche Kategorien ein, wobei deren Differenzierung im Laufe der Jahre zunahm. Insbesondere seit den 1970er Jahren forcierte das MfS die Gewinnung „hochwertiger“ IM-Kategorien innerhalb von Einrichtungen des Gesundheitswesens, da sich „hohe Anforderungen an den schwerpunktmäßigen Einsatz der vorhandenen IM“ und „an die Schaffung notwendiger neuer Quellen nach durchdachten Anforderungsbildern“ stellen würden. Bereits „erprobte und entwicklungsfähige“ IM sollten ausgewählt und vorbereitet werden, damit sie schließlich an der „unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen“ mitarbeiten konnten. Diesen Typus bezeichnete die Staatssicherheit in ihrem Sprachgebrauch 1968 bis 1979 als IMV. Seit 1980 galt für die Kategorien IMV die Bezeichnung IMB; sie waren sog. „inoffizielle Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen“. Dabei wurde einmal mehr betont, dass sie „direkt“ an den „feindlich tätigen Personen“ arbeiten sollten. Sie mussten de-

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Bestand in der DDR (1988: 3 %)79 sehr hoch. Dieser Bedarf resultierte vor allem aus dem auffällig starken und unvermindert anhaltenden Flucht- bzw. Ausreisewillen von Ärzten. Aus MfS-Sicht war der zu beobachtende Kreis an verdächtigen Personen deshalb in dieser Berufsgruppe besonders groß und der Einsatz zahlreicher IMV bzw. IMB, die „Feindverbindungen“ besaßen oder „im Verdacht der Feindtätigkeit stehende Personen bearbeiten“ sollten, seit den 1970er Jahren dringend erforderlich. In den 1980er Jahren gewann der Einsatz von IMB auch angesichts der Zunahme von oppositionellen Aktivitäten an Bedeutung.80 So gelang es beispielsweise mithilfe einer 1983 als IMB „Linda Matthes“ geworbenen Allgemeinmedizinerin, „die Arbeit in negativen kirchlichen Einrichtungen [...] zu organisieren“. Sie lieferte Berichte über eine Evangelische Akademie, über evangelische Hauskreise, ein kirchliches Forschungsheim, die eigenständige kirchliche Friedensund Umweltbewegung und nicht zuletzt über „reaktionäre kirchliche Kreise der BRD mit starken Verbindungen in die DDR“.81 In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kamen Informationen über zentrale kirchliche Veranstaltungen und über den „Arbeitskreis christlicher Mediziner in sozialer Verantwortung“ hinzu.82 Die geforderte intensivere Werbung von „hochwertigen“ IM unter Ärzten gelang in den 1970er Jahren durchaus, konnte aber in den 1980er Jahren nicht in diesem Ausmaß fortgeführt werden. Das spricht zum einen dafür, dass unter den ermittelten IM-Ärzten im Laufe der Jahre immer weniger ausgemacht werden konnten, die Kontakte zu den zu beobachtenden Personen oder Personengruppen pflegten und darüber hinaus auch bereit waren, über diese freiwillig zu berichten. Zum anderen wog im Vergleich der Anteil von Ärzten schwer, die als IM in sog. Schlüsselpositionen geworben wurden und die aufgrund ihrer beruflichen Stellung und damit verbundenen Staatsnähe nur in seltenen Fällen über derartige Kontaktund Informationsmöglichkeiten verfügten. Die Expansion des MfS erfolgte demnach nicht ziellos, sondern richtete sich seit den 1960er, aber vor allem seit den 1970er Jahren besonders auf Ärzte in Schlüsselpositionen.83 Viele von ihnen galten laut Einschätzungen durch die Führungsoffiziere als „staatsbewusste“ bzw. weitgehend politisch loyale Ärzte. Mitunter hatten sie diesen Ruf auch innerhalb der Ärzteschaft, weil ihre beruflich hoch angesiedelten Funktionen in der Regel „Staatsnähe“ und ggf. auch die Mitgliedschaft in der SED voraussetzten. Gegebenenfalls als „hochwertige“ IM geführt, lieferten sie nicht nur umfangreiche Informationen, sondern verfügten –

79 80 81 82 83

ren Vertrauen erlangen, Beweise sammeln und zur „Bekämpfung und Zurückdrängung subversiver Aktivitäten“ beitragen. Vgl. BStU, JHS, MF VVS 001-329/77, Kramp/Claussner (1977), Bl. 24 sowie Müller-Enbergs (1996), S. 76–78. Vgl. ebd., S. 79. Von 1985 bis 1988 erhöhte sich ihre Anzahl um 6 % auf rund 3.900; ihr Anteil betrug zuletzt 3 % des IM-Bestandes. Vgl. ebd. Vgl. BStU, BV Magdeburg, VII 1076/83, Akte I/1, Bl. 191. Vgl. ebd., Bl. 273. Vgl. Süß (1999), S. 243.

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zumindest theoretisch – über Möglichkeiten der unmittelbaren und raschen Einflussnahme auf „negative Personenkreise“, wie beispielsweise auf ausreisewillige Ärzte. Der Anteil an SED-Mitgliedern unter den IM-Ärzten entsprach mit 35 %84 ungefähr dem am gesamten IM-Bestand. Laut den Anforderungskriterien sollten inoffizielle Mitarbeiter unter Ärzten jedoch möglichst nicht der SED angehören. Für diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität musste es demzufolge Ursachen gegeben haben. Zum einen griff die Staatssicherheit offenbar dann auf „aktive Genossen“ zurück, wenn sie keine (hauptamtlichen) Parteifunktionen innehatten, weitgehend über Personen in ihrem (beruflichen) Umfeld berichten konnten und kein parteiloser Arzt für die inoffizielle Mitarbeit im anvisierten Schwerpunktbereich geworben werden konnte. „Staatsbewusste“ DDR-Bürger ließen sich zudem generell einfacher werben. Auch unter MfS-Zuträgern innerhalb der Ärzteschaft zeigen sich demnach die erheblichen Überschneidungen bei der Zusammensetzung des IM-Netzes mit der systemloyalen Trägerschaft des Staatsozialismus.85 Zum anderen musste das MfS bei der verstärkt geforderten IM-Werbung unter Ärzten in Leitungsfunktionen oder sog. Schlüsselpositionen in Kauf nehmen, dass diese in vielen Fällen der SED angehörten. Die Anzahl parteiloser Ärzte unter Medizinern in leitender Stellung und in Schlüsselpositionen war offenbar so gering, dass das MfS auch in diesen Fällen häufiger als erwünscht auf „Genossen“ angewiesen war. Die Führungsoffiziere steckten spätestens seit Mitte der 1970er Jahre in einem Dilemma, was die Anforderungen an die zu werbenden IM unter Ärzten anging. Einerseits sollten sie Wert auf inoffizielle Mitarbeiter in sog. Schlüsselpositionen legen, um nicht nur über gut informierte, sondern auch über einflussreiche Mediziner verfügen zu können. Andererseits mahnte die MfS-Führung den hohen Anteil an Parteimitgliedern unter den inoffiziellen Mitarbeitern immer wieder an, da die Zugehörigkeit zur SED den Zugang von IM zu kritischen Informationen und zu „politisch-negativen“ Personen bzw. zu „politisch-operativen Schwerpunkten“ maßgeblich einschränkte. Dessen waren sich die jeweiligen Führungsoffiziere bewusst. Allerdings konnte in dieser Hinsicht bis 1989 keine einschneidende Veränderung erreicht werden, zumal bei der Werbung von IM unter Ärzten im letzten Jahrzehnt des Bestehens der DDR das Auswahlkriterium „loyale oder positive politische Grundeinstellung zur DDR“ Priorität erhielt. Ein weiterer „Nachteil“ für die inoffizielle Kooperation des MfS mit IM unter Medizinern bestand in der durchweg anhaltenden hohen Fluktuationsrate. 132, d.h. knapp 27 %, der hier untersuchten IM-Ärzte entschlossen sich im Laufe der Zeit zum endgültigen Abbruch ihrer informellen Beziehungen zum MfS. Die Zahl an IM-Ärzten, welche die konspirative Mitarbeit von sich aus beendeten, ist offenbar wesentlich höher als die in anderen Berufsgruppen bzw. in anderen Berei-

84 85

Vgl. Weil (2008), S. 46–47. Vgl. Gieseke (2001), S. 121.

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chen.86 Anhand der Aktenanalyse und der Interviewergebnisse wird neben einem Spektrum an Abbruchsmöglichkeiten deutlich, dass in der Regel ein Bündel an vielfältigen Motiven zur Beendigung der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS führte. Republikflucht, Ausreiseantragstellung, Dekonspiration, aber vor allem die klare Aussage, nicht mehr mit dem MfS zusammenarbeiten zu wollen, zogen jeweils das unmittelbare Ende der Spitzeltätigkeit nach sich. Alle anderen Beweggründe nahmen die Führungsoffiziere zur Kenntnis und versuchten dennoch, die betreffenden IM so lange wie möglich zu halten, indem sie diese von der Bedeutung der MfS-Arbeit (wieder) zu überzeugen oder politisch-ideologisch zu „erziehen“ versuchten. Erst wenn ihnen nach mehreren Monaten oder auch Jahren immer noch kein durchschlagender Erfolg beschieden war, veranlassten sie die Schließung der Akten. Einige wenige Ärzte entzogen sich der Spitzeltätigkeit mit dem Verweis auf ihre ärztliche Schweigepflicht. So verhielt es sich beispielsweise mit einem Allgemeinmediziner, der als IM-Kandidat geführt wurde und deshalb noch keinen Decknamen gewählt hatte. In einer Aussprache mit dem Arzt seien 1962 „Fragen zur Feindtätigkeit“ besprochen worden, woraufhin er erklärt habe, sich nicht vorstellen zu können, dass es Menschen gebe, die sich „mit derartigen Sachen“ beschäftigen würden. Trotzdem habe er in dem Gespräch seine Bereitschaft erklärt, das MfS zu unterstützen, soweit es in seinen Kräften stehe, und zögernd eine Schweigeverpflichtung unterschrieben.87 Während des folgenden Treffens habe der Mediziner zum Ausdruck gebracht, „dass er das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, wenn er seine Patienten in irgendeiner Weise ausnutzen sollte, um bestimmte Dinge in Erfahrung zu bringen“. Ihm sei daraufhin erläutert worden, es komme dem MfS nicht darauf an, Patienten auszunutzen oder gegen sein Gewissen zu handeln, sondern das erklärte Ziel sei es, „die Feindtätigkeit im Keime zu bekämpfen“. Der Arzt habe sich letztendlich bereit erklärt, Angaben über allgemeine Fragen des Gesundheitswesens zu machen.88 Während der nächsten Unterredung mit dem in einem Landambulatorium tätigen Mediziner habe sich der IM-Kandidat jedoch sinngemäß so geäußert: „Ich kann heute früh meine Sprechstunde nicht eher beginnen, bevor ich mich mit Ihnen ausgesprochen habe. Ursachen dafür sind die bei mir stark aufgetretenen inneren Konflikte. Sie wissen doch, ich bin kirchlich gebunden. Die Gespräche mit Ihnen kann ich ebenfalls mit meiner ärztlichen Schweigepflicht nicht mehr vereinbaren. Wenn ich ehrlich sein will, dann muss ich Ihnen sagen, ich habe mich übernommen. Ich bitte Sie deshalb, für längere Zeit keine festen Termine zwecks Aussprachen mit mir zu vereinbaren. Die Gewissheit möchte ich mir heute verschaffen. Wenn Sie etwas Dringendes haben, dann können Sie jederzeit bei mir anrufen. Eins bitte ich Sie noch, mich dann nicht wieder vom Gegenteil zu überzeugen und auf mich einzureden.“89

86 87 88 89

Eine niedrigere Zahl von Abbrechern, nämlich 5 %, konstatierte Giselher Spitzer für den Sportbereich. Vgl. Spitzer (2005), S. 315. Vgl. BStU, BV Karl-Marx-Stadt, AIM 524/65, Bl. 27–28. Vgl. ebd., Bl. 29. Ebd., Bl. 34.

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Im zwei Jahre später verfassten MfS-Abschlussbericht steht, dass der IM-Vorlauf zur Ablage gebracht worden sei, da der Kandidat kein Interesse an einer Zusammenarbeit zeige. Des Weiteren gebe es Anzeichen für „Unehrlichkeit“, mit dem Kandidaten sei offenbar von Vornherein nicht richtig gearbeitet worden.90 Den IM-Ärzten, die sich der Zusammenarbeit mit dem MfS bewusst, sukzessive oder abrupt entzogen haben, ist sicherlich ein gewisser Respekt zu zollen. Wussten doch die meisten von ihnen zum Zeitpunkt ihrer Abkehr von der konspirativen Tätigkeit für das MfS nicht, welche Konsequenzen dieses Handeln möglicherweise nach sich zog.91 Die Spitzeltätigkeit von „Aussteigern“ sollte jedoch nicht nur an deren Mut zum Abbruch der inoffiziellen Zusammenarbeit, sondern – wie bei allen anderen IM auch – in erster Linie anhand der Qualität, Quantität und ggf. der Auswirkungen ihrer Berichte beurteilt werden. Lediglich zwei der 453 IM-Ärzte ließen sich zwar werben und unterzeichneten Verpflichtungserklärungen, gaben aber keine einzige Information an das MfS weiter. Die als IM geführten Ärzte mit den Decknamen „Professor“92 und „Hermann“ haben nachweislich keinerlei Berichte an die Stasi geliefert. IM „Hermann“ hatte das MfS 1972 während seiner U-Haft geworben, in der er sich infolge von Vorbereitungen zur „Republikflucht“ mit seiner Familie befand.93 Bereits kurz nach der Haftentlassung durch einen Amnestiebeschluss94 gelang es dem zuständigen Stasimitarbeiter trotz mehrmaliger Versuche nicht, eine Verbindung zu dem Allgemeinmediziner herzustellen. Stattdessen habe der Arzt, der bis zu seiner Inhaftierung eine Leitungsfunktion inne gehabt hatte, beim Rat des Kreises einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt. Nach diesem „provokanten Auftreten gegenüber staatlichen Organen“ habe die Kreisdienststelle keine Kontakte mehr zu ihm geknüpft, um zu vermeiden, „ihm noch Arbeitsweisen, konspirative Wohnungen u. a. zur Kenntnis zu geben“.95

90 91

92 93 94 95

Vgl. BStU, BV Karl-Marx-Stadt, AIM 524/65, Bl. 63. Die eindeutige Entscheidung, ihre Zusammenarbeit mit dem MfS zu beenden, blieb für ehemalige inoffizielle Mitarbeiter (weitgehend) folgenlos, was auch andere Untersuchungen belegen. Vgl. Spitzer (2005), S. 315. Die einzige nachweisbare Ausnahme unter den 493 ermittelten IM-Ärzten stellt IM „Anton“ dar. Das MfS unterstützte nach der Ankündigung des IM, nicht mehr mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten zu wollen, die Löschung seines Reisekaderstatus. Vgl. ebd., BV Magdeburg, AIM 955/87, Bl. 334–335. Vgl. BStU, BV Suhl, AIM 1012/63, Akte I/1, Bl. 51–52. Vgl. ebd., BV Karl-Marx-Stadt, AIM 1480/73, Bl. 166. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 99.

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FOLGEN UND KONSEQUENZEN DER IM-TÄTIGKEIT VON ÄRZTEN NACH 1989/90 34 und damit 7 % der 493 ermittelten IM-Ärzte begingen bis 1989 „Republikflucht“ oder reisten aus der DDR in die Bundesrepublik aus. So sammelte beispielsweise der später in die Bundesrepublik übergesiedelte IM „Sulky“, ein ehemaliger Sport- und Bezirksarzt, seit 1963 aus „politischer Überzeugung“ und wegen „persönlicher Vorteilserwägungen“ für das MfS massenhaft Informationen und füllte bis 1976 mit seinen zahlreichen Berichten sechs umfängliche Aktenordner.96 Auch IM „Bernd Schneider“, ein Hautarzt, hatte immerhin elf Jahre „ehrlich mit unserem Organ“ zusammengearbeitet, bevor er der DDR 1989 den Rücken kehrte.97 IM „Bernd Müller“, ein Chirurg, gab vor seiner 1985 gelungenen „Republikflucht“ 14 Jahre lang vorwiegend Informationen über Personen preis.98 Sie konnten – wie andere ehemalige IM-Ärzte nach 1989/90 auch – in den alten Bundesländern (mitunter lukrative) Anstellungen finden. Sie leb(t)en und praktizier(t)en dort nicht nur unbehelligt, sondern engagier(t)en sich mitunter auch gesellschaftspolitisch.99 Ihre teilweise skrupellose Berichterstattung für das MfS war nach der Friedlichen Revolution nie Gegenstand von IM-Überprüfungen, da es im Öffentlichen Dienst der alten Bundesländer keine Regelüberprüfungen gab. Nur in Einzelfällen konnte ihre Stasitätigkeit durch Ermittlungen von Denunziationsopfern oder durch Forschungsarbeiten aufgedeckt werden. Aber auch viele ehemalige IM unter Ärzten in den neuen Bundesländern mussten und müssen sich nicht öffentlich mit diesem Teil ihrer persönlichen Vergangenheit auseinandersetzen. Fast die Hälfte der 21 interviewten, vom MfS als IM registrierten Ärzte wurde nach 1989/90 nicht direkt mit ihrer Vergangenheit als IM konfrontiert. Dass sie als inoffizielle Mitarbeiter vom MfS erfasst worden sind und dass es zu ihren Vorgängen archivierte Akten gibt, war und ist nach wie vor in vielen Fällen im Arbeitsbereich und in Einzelfällen sogar im persönlichen Umfeld unbekannt. IM-Akten, deren Inhalte und reale Konsequenzen für andere Personen spielten schließlich nach dem Ausscheiden aus dem Öffentlichen Dienst und einer folgenden Niederlassung in der eigenen Praxis oder bei der Aufnahme von Tätigkeiten in Privatkliniken keine Rolle (mehr). Allerdings bedauerten drei der 21 befragten Ärzte, sich infolge ihrer ehemaligen Tätigkeit für das MfS nicht mehr (berufs-)politisch engagieren zu können. Andere als ehemalige IM registrierte Ärzte zogen diese Konsequenzen nicht. Das 96 97 98 99

Vgl. BStU, BV Frankfurt/Oder, AIM 1602/77, Akte I/2, Bl. 148; vgl. ebd., Akte II. Vgl. ebd., BV Leipzig, AIM 3591/92, Bl. 3. Vgl. ebd., BV Karl-Marx-Stadt, AIM 3988/85, Akte II. IM „Sulky“ lehrte beispielsweise von 1984 bis zu seiner Emeritierung 1997 am Sportinstitut einer Universität. Seit 1984 war er Verbandsarzt des Deutschen Bodybuilding- und Kraftsportverbandes und seit 1993 Präsident desselben. Er ist Mitglied der CDU und arbeitet in der Fachkommission Sport der CDU-Landtagsfraktion NRW sowie in der Senioren-Union der CDU mit. Vgl. Dirks (2006), S. 306.

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belegen zum einen die IM-Akten von acht der 33 Mediziner, die sich 1990 als Abgeordnete in die letzte DDR-Volkskammer wählen ließen. Nach heutigem Kenntnisstand hatte die Staatssicherheit acht der in die 10. DDR-Volkskammer gewählten Ärzte als IM oder IM-Vorlauf registriert; 1990 wurden jedoch nur sechs von ihnen als IM überführt.100 Zum anderen konnte es als IM erfassten Ärzten in den 1990er Jahren gelingen, durch die Übernahme ausgewählter Ämter jahrelang gesundheitspolitische Entscheidungen mit zu treffen bzw. umzusetzen, ohne dass jemals ihre vom MfS vorgenommene Erfassung und daraus abzuleitende Konsequenzen öffentlich diskutiert worden sind.101 FAZIT Aus ihrem gesellschaftlichen Legitimierungszwang heraus maß die SED-Führung dem Gesundheitswesen der DDR und damit der Tätigkeit von Ärzten einen überaus großen politischen Stellenwert bei. Mit der Entwicklung eines verstaatlichten Gesundheitswesens ging auch der Versuch der Parteiführung einher, die Mediziner ihrem Herrschaftsanspruch weitgehend unterzuordnen.102 Dennoch stand ein großer Teil dieser bildungsbürgerlich geprägten Berufsgruppe mit tradiertem Standesbewusstsein den Anforderungen der SED an eine „sozialistische Ärzteschaft“103 überaus kritisch und sogar ablehnend gegenüber. Die deutliche Mehrheit der Mediziner gehörte weder der SED an noch ließ sie sich auf Spitzeltätigkeiten für das MfS ein. Darüber hinaus verließen viele, mitunter hoch qualifizierte Ärzte das Land oder trugen sich mit dem Gedanken, zu flüchten oder Ausreiseanträge zu stellen. Die Partei- und Staatsführung betrachtete deshalb das Gesundheitswesen als höchst sensiblen Bereich und die Ärzteschaft als Berufsgruppe mit 100 101 102 103

Ausführlich dazu Weil (2006), S. 853–864. Vgl. BStU, BV Magdeburg, AIM 991/89; vgl. ebd., BV Suhl, AIM 931/94. Vgl. Müller (1997), S. 243. In den 1970er Jahren definierten Partei- und Staatsführung den „sozialistischen Arzt“ als eine Persönlichkeit von hohem Rang und großer gesellschaftlicher Bedeutung, welche sich durch humanistische Gesinnung, hohes Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein, ständige Einsatzbereitschaft sowie vorbildliche sozialistische Lebensweise auszeichne. Ärztlicher Tätigkeit in der DDR liege „eine Einheit von marxistisch-leninistischer Grundhaltung, humanitärer Gesinnung, Anwendung exakter Wissenschaft und sozialistischer Leitungstätigkeit“ zugrunde. Die Realität sah jedoch anders aus. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) registrierte Mitte der 1970er Jahre zwar „progressive Haltungen“ unter jüngeren Ärzten, aber auch immer noch den „ernst zu nehmenden Einfluss“ der konservativen, „negativen“ älteren Ärzteschaft. Dieser „Differenzierungsprozess“ halte auch künftig hin an. Seit Beginn der 1960er Jahre hatte demnach eine neue, in der DDR sozialisierte Generation von Ärzten ihren Berufsweg zu beschreiten angefangen. Dennoch führten die „Akademikerfeindlichkeit“ der SED und der zunehmende Abbau von Privilegien (z. B. durch Gehaltsnivellierungen) einerseits sowie die vermehrte politisierte Zusammensetzung des Berufsstandes andererseits keineswegs zu einer einheitlichen „sozialistischen Ärzteschaft“. Vgl. Hansen/Vetterlein (1973), S. 13–14.; vgl. BStU, HA XX 5764, Bl. 193, vgl. Müller (1997), S. 260–261.

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besonderen Eigenschaften dauerhaft mit Argusaugen.104 Mithilfe von in allen Bereichen des Gesundheitswesens platzierten IM sollten vor allem die zahlreichen „Republikflucht“- bzw. ausreisewilligen, politisch kritischen sowie illoyalen und oppositionellen Mediziner langfristig beobachtet und unter Kontrolle gehalten werden. Der IM-Anteil unter den Beschäftigten des Gesundheitswesens lag schließlich bei 1 bis 2 %; unter den Ärzten betrug er ca. 3 bis 5 %.105 Damit war der Prozentsatz unter Ärzten höher als der Anteil in der Gesamtbevölkerung, was allerdings aus den mehrfach genannten Gründen nicht auf eine besondere ideologische Anfälligkeit des Ärztestandes zurückzuführen ist. Auf den ersten Blick scheinen sich die Motive der IM-Ärzte, die sie zur Zusammenarbeit mit dem MfS bewogen haben, kaum von denen anderer inoffizieller Mitarbeiter zu unterscheiden. Dabei sollte man jedoch nicht übersehen, dass es sich bei den Medizinern um eine besondere Berufsgruppe handelte. So war es in der DDR überaus schwierig, einen Studienplatz für Humanmedizin zu erhalten. Diesen und die spätere Laufbahn innerhalb eines karrieredominierten Berufsstandes sichern zu wollen, konnte für viele der IM-Ärzte ein hinreichendes Motiv dargestellt haben, das bei der Entscheidung für die IM-Tätigkeit nicht unbedingt vordergründig, aber unterschwellig und dauerhaft mitschwang. Diese Absicht beeinflusste aber nicht nur die Bereitschaft zur IM-Tätigkeit, sondern vor allem die „Qualität“ der Berichte, insbesondere die über Kollegen und Vorgesetzte. Die Akten vermitteln durchaus den Eindruck, dass sich zahlreiche IM-Ärzte in ihrem Berichtsverhalten von diesen Besonderheiten ihres Berufsstandes – wenn auch nicht offenkundig – leiten ließen. Die Führungsoffiziere konnten demnach bei Ärzten auf das ausgeprägte Konkurrenzverhalten untereinander und die damit verbundenen Auseinandersetzungen innerhalb der scheinbar festgefügten Hierarchiegefüge in den medizinischen Einrichtungen bauen. Andererseits stellte sich, was die Informationen über Kollegen anging, als Vorteil für das MfS heraus, dass diese Berufsgruppe ein ausgeprägtes Standesbewusstsein besaß. Gerade Ärzte verkehrten auch privat vor allem untereinander, kannten demzufolge viele Berufskollegen und wussten viel voneinander. Das Tätigkeitsspektrum von Ärzten bot dem MfS jedoch noch weitere beachtliche „Vorteile“. Ohnehin erhielt die Ärzteschaft aufgrund ihrer Profession wie kaum eine andere Berufsgruppe tiefe Einblicke in das Privatleben vieler DDR-Bürger.106 Hinzu kam, dass zu ihren Patienten auch spezielle Berufs- oder Personengruppen wie Funktionäre, Leistungssportler, Armee- oder Polizeiangehörige, Angestellte des Strafvollzuges, aber auch Strafgefangene zählten. Darüber hinaus lernten zahlreiche Ärzte ihre Patienten auch als unmittelbare Kollegen näher kennen. Das traf vor allem auf Mediziner in den Betrieben, in der NVA, bei der Polizei und in den Sportclubs zu. IMÄrzte waren demnach theoretisch in der Lage, über große Teile der Bevölkerung Informationen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu gewinnen und viel104 Vgl. ebd., S. 257–258. 105 Vgl. Süß (1999), S. 273. 106 Ähnliches mag auch für Pfarrer zutreffen, allerdings nicht in diesem Umfang.

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schichtige Hinweise an das MfS zu liefern. Viele Berichte belegen, dass das MfS durchaus einen sehr großen Nutzen aus dem Zugriff der Ärzte auf äußerst brisante Unterlagen, aus deren Erfahrungen im tagtäglichen Umgang mit vielen Menschen, der dabei ggf. erworbenen Menschkenntnis und aus ihrer diagnostischen Wahrnehmung ziehen konnte. All diese Merkmale schlugen sich in der „Qualität“ der Informationen nieder. Beim Lesen der zahllosen Berichte entsteht der Eindruck, dass das MfS alle nur denkbar wichtigen, aber auch irrelevanten und trivialen Informationen zum gesamten Personal im Gesundheitswesen erhielt. Die Mehrzahl der Hinweise diente sicherlich nicht unmittelbar zum Zeitpunkt des Erhalts den Interessen und Absichten der Stasioffiziere. Sie dokumentierten die Angaben dennoch bis ins kleinste Detail. So konnten sie jederzeit und bei „Bedarf“ darauf zurückgreifen. Viele IM-Ärzte stellten – aufgefordert oder aus eigenem Antrieb heraus – „politisch-operative Schwerpunkte“, d.h. „Republikflucht“- und ausreisewillige, aber auch kritische und politisch desinteressierte Ärzte in den Mittelpunkt ihrer Berichte. Die Brisanz der Informationen gerade zu diesen Personenkreisen und die ggf. zu erwartenden Folgen und Konsequenzen für die Betroffenen waren den IM mit Sicherheit häufig bewusst. Obwohl die Spitzeltätigkeit von IM-Ärzten häufiger den Kollegen als den Patienten galt, stellte der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht als Verletzung einer wichtigen Verbindlichkeit des ärztlichen Berufsstandes einen durchaus schwerwiegenden Befund dar. Von Einzelfällen, in denen als inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes verpflichtete Ärzte ihr Schweigegebot gebrochen haben,107 kann nach neuestem Kenntnisstand nicht mehr die Rede sein. Viele ihrer Berichte zeichnet die Besonderheit aus, dass sie weitreichende Patientenanalysen enthalten. Aus diesen komplexen Beschreibungen konnten MfS-Mitarbeiter wirkungsvolle Anknüpfungspunkte filtern, die es im Bedarfsfall ermöglichten, auf die jeweiligen Personen maßgeblichen Einfluss zu nehmen. Zudem saßen einige Mediziner aufgrund des Prestiges ihres Berufsstandes, des damit verbundenen Standesbewusstseins, infolge ihrer Machtpositionen im Hierarchiegefüge und ihres mehr oder minder hohen Bekanntheitsgrades über die Grenzen der DDR hinaus dem Glauben auf, das Maß ihrer Zusammenarbeit mit dem MfS für sich selbst festlegen zu können. Sie gingen davon aus, den Charakter scheinbar unumgänglicher Verbindungen zum MfS weitgehend mitbestimmen oder deutlich prägen zu können. Das musste sich jedoch zwangsläufig als Trugschluss erweisen. Nach 1989/90 konnten sich ehemalige IM-Ärzte aufgrund der privilegierten Stellung ihres Berufsstandes, die sich daraus ergab, dass die Bevölkerung jederzeit auf medizinische Versorgung angewiesen ist und nicht auf ausgebildete Ärzte verzichten kann, den Konsequenzen ihres politischen Handelns in der Vergangenheit entziehen. Sie mussten sich nicht in allen Fällen wie vergleichsweise Lehrer oder Angestellte in staatlichen Institutionen ihrer ehemaligen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit stellen und ggf. berufliche Konsequenzen ziehen.

107 Vgl. Ernst (1997), S. 338.

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Francesca Weil

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN IM-Akten aus dem Archiv des BStU. Interviewtexte der Autorin.

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„WARUM HABT IHR SOLCHE ANGST, DASS WIR NICHT WIEDERKOMMEN?“1 ‚GRENZÜBERTRITTE‘ DER MEDIZINISCHEN INTELLIGENZ IN DEN 1970ER JAHREN2 Markus Wahl „Das alles sind nach Meinung inoffizieller wie auch offizieller Quellen Fakten, die zur Unzufriedenheit und Unlust des Personals führen und auch nicht ausschließen, daß es auch deswegen zu Fällen wie ungesetzliches Verlassen der DDR aus dem medizinischen Personal kommt“.3

Diese Einschätzung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in einer Analyse über die ideologische Situation unter den Beschäftigten des Gesundheitswesens in Berlin im Oktober 1973 zeigt, dass erstens die Situation in den Gesundheitseinrichtungen der Hauptstadt der DDR trotz Vorbildstatus4 problematisch war. Zweitens reagierten die betreffenden Angestellten darauf nicht nur mit Kritik, sondern immer häufiger mit der Entscheidung, die DDR zu verlassen. Es ist davon auszugehen, dass die medizinische Intelligenz der wichtigste „Kunde“ war der von Westdeutschland aus operierenden „kriminellen Menschenhändlerbanden“, wie sie das MfS bezeichnete.5 Die folgende Analyse soll zunächst exemplarisch anhand von Akten die Ausgangslage im Bezirk Karl-Marx-Stadt6 und Berlin aufzeigen. Als Reaktion auf die sich als neue Fluchtmethode etablierende Ausschleusung der medizinischen Intelligenz nach Westdeutschland und die sich dar1

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SAPMO-BArch, DY/41/361: In einem Lehrgang im Oktober/November 1963 äußerte sich ein Arzt gegenüber SED-Funktionären im Hinblick auf die ‚fundamentierten‘ Reisebeschränkungen in einer oft vorzufindenden zynischen Art: „Warum habt ihr solche Angst, daß wir nicht wiederkommen? Wir haben mit über 99 Prozent die Kandidaten der Nationalen Front gewählt und haben damit unser Vertrauen zum Staat zum Ausdruck gebracht.“ Die vorliegenden Ergebnisse entstammen der Masterarbeit, die unter dem Titel „‚It would be better, if some doctors were sent to work in the coalmines‘. The SED and the medical Intelligentsia between 1961 and 1981“ an der University of Canterbury (Neuseeland) unter der Betreuung von Dr. Heather Wolffram und Dr. Evgeny Pavlov im Jahre 2013 abgeschlossen wurde. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 172. 26. Oktober 1973: Analyse der politisch-operativen Lage im Bereich des Gesundheitswesens der Hauptstadt der DDR, Berlin. Den besonderen Status von Ost-Berlin hinsichtlich der Gesundheitspolitik in Abgrenzung zu Westdeutschland beleuchtete schon Melanie Arndt in ihrer Studie für das erste Jahrzehnt der DDR. Arndt (2009), S. 14–20. Vgl. BStU, MfS, HA XX/ AKG, 6029, Bl. 131–132. 3. März 1977: Jahresanalyse der HA und der Linie XX für das Jahr 1976; Detjen (2005), S. 270. Karl-Marx-Stadt hieß zuvor wie auch nach 1990 Chemnitz und liegt in Sachsen.

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aus ergebenden Probleme, entwickelte auch die SED eine Reihe von Gegenmaßnahmen, welche zusammen mit der Erläuterung einiger Statistiken die angestellte These untermauern. Nachdem die Fluchtbewegung und deren Bedeutung für die DDR hervorgehoben wird, soll anschließend die Frage erörtert werden, welche Gründe eine Rolle spielten, dass Ärzte als die Hauptkunden von westlichen ‚Fluchthelferorganisationen‘ bezeichnet werden können. AUSGANGSLAGE Nachdem Erich Honecker im Mai 1971 Walter Ulbricht abgelöst hatte, verfolgte die SED unter der neuen Führung einen Richtungswechsel, welcher zur XI. Parteikonferenz im Jahre 1976 nachträglich als Strategie der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ proklamiert wurde.7 Das Ziel dieser Politik war es, eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen der ostdeutschen Bevölkerung auf kurzfristige Sicht zu erreichen und sie im Gegenzug mehr als zuvor vom ‚Aufbau und der Richtigkeit des Sozialismus‘ sowie der ‚Führungsrolle der SED‘ zu überzeugen.8 Mit Maßnahmen wie beispielsweise der Anhebung der Rente, der Erweiterung der finanziellen Unterstützung für arbeitende Mütter und junge Ehen als auch der Reduzierung der Mietpreise für die begehrten Neubauwohnungen vor dem Hintergrund eines umfangreichen Wohnungsbauprogramms in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre,9 wird der Grundzug des sozialpolitischen Programms von Honecker deutlich, welches zu einer realen Steigerung der Lebensbedingungen führte.10 Speziell im Gesundheitswesen sollten durch die Renovierung oder den Neubau medizinischer Einrichtungen und durch eine bessere medizinische Ausrüstung sowohl die Wartezeiten für Patienten verkürzt als auch die vorhandenen Ressourcen effizienter genutzt werden.11 Die wichtigste sozialpolitische Maßnahme für das Gesundheitswesen in den 70er Jahren wurde am 25. September 1973 beschlossen: Die Anzahl der Ärzte und Spezialisten sollte erhöht werden, um somit eine generelle Proportion von einem Arzt je 500 bis 520 Einwohner in allen Bezirken zu erreichen. Für die medizinische Intelligenz wurden neue Auszeichnungen geschaffen. Ärzten wurde ein jährlicher Zuschlag auf Grundlage der

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Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei, Beschluss des IX. Parteitages (1976), S. 41, Kopstein (1997), S. 73–74 und 81 sowie Spaar (2002), S. 7. Vgl. Torpey (1999), S. 65, Pollack (1998), S. 118 und Augustine (2011), S. 640. Vgl. Direktive des IX. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1976–1980 (1976), S. 188 sowie Kopstein (1997), S. 81 und 181–186. Vgl. Spaar (2002), S. 10. Vgl. Direktive des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik 1971 bis 1975 (1974), S. 252.

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vollbrachten Arbeitsjahre gewährt, kulturelle und soziale Angebote wurden erweitert und finanziert.12 Trotz dieser sozialpolitischen Maßnahmen waren die Angestellten des Gesundheitswesens, wie im Eingangszitat angedeutet, mit vielfältigen Problemen konfrontiert, die hier kurz angerissen werden sollen. Ziel vorliegender Arbeit ist es, die Fluchtbewegung der medizinischen Intelligenz in einen angemessenen Kontext zu setzen. Der Vergleich zwischen Berlin und Karl-Marx-Stadt wurde bewusst gewählt, um sowohl Unterschiede zu verdeutlichen wie auch Gemeinsamkeiten als Bestimmungsstücke der allgemeinen Umstände hervorzuheben. Der Blick auf das Verhältnis von Einwohnerzahl und ärztlicher Versorgung gibt einen Einblick in die regionalen Unterschiede bei der medizinischen Versorgung. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt musste ein Mediziner 800 Menschen betreuen, dagegen kam in Berlin ein Arzt auf 200 bis 250 Bürger.13 Damit befand sich KarlMarx-Stadt auf dem letzten Platz in der DDR bei der medizinischen Versorgung. Die Ärzte mussten dabei nicht nur durchschnittlich mehr Patienten behandeln, sondern aufgrund des generellen Arbeitskräftemangels auch zusätzliche Aufgaben übernehmen. So mussten sie „Bettwäsche, Röntgenbilder u.a. Arbeitsmaterialien besorgen“, aber auch „umfangreiche Schreibarbeiten erledigen oder sich um Malerarbeiten, Gebäudeinstandhaltung, Gartenarbeiten u.a.m. kümmern“.14 Das wiederum führte zu einer weiteren Reduzierung der Zeit für den Patienten; eine Abwärtsspirale, welche folglich teilweise schlechte sanitäre Zustände in den einzelnen Krankenhäusern hervorrief, sodass beispielsweise „Bettwäsche bis zu 8 Wochen nicht gewechselt wird“.15 Die Gründe für diese Lage sind vielfältig und können nur im Groben an dieser Stelle angerissen werden. Erstens hatte das Gesundheitswesen der DDR mit einer stetig wachsenden Fluktuation innerhalb, aber auch in andere Bereiche, vor allem in den Industriesektor, zu kämpfen. Die Einkommen lagen bei einer vergleichbaren Anstellung in der Industrie höher. Speziell bei Krankenschwestern spielte das unbeliebte und als unterbezahlt angesehene Dreischichtsystem der Krankenhäuser eine entscheidende Rolle.16 Zweitens bestand speziell für Karl-Marx-Stadt eine prekäre Wohnsituation. Laut einem MfS-Bericht musste ein Arzt für eine Weile in einem Toilettenfoyer 12

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Vgl. Gemeinsamer Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED, des Ministerrates der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB über weitere Massnahmen zur Durchführung des sozialpolitischen Programms des VIII. Parteitages der SED, 25. September 1973 (1977), S. 404–406. Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2667, Bl. 32. 24. Mai 1974: Entsprechend Ihres Auftrages übersende ich Ihnen eine Information über die Lage im Gesundheitswesen von Karl-Marx-Stadt; an 1. Sekretär der SED Stadt-Leitung. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 166. 26. Oktober 1973. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2565, Bl. 33. 18. August 1971: Bericht über einige Erscheinungen im Gesundheitswesen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. Siehe hierfür BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 139: „So arbeiten z.B. in der unmittelbaren Produktion des VEB Carl Zeiss Jena mehr Operationsschwestern als im Bezirkskrankenhaus Gera tätig sind“. November 1974: Analyse zur politisch-operativen Lage im Bereich des Gesundheitswesens der DDR.

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leben, was das Dilemma der SED beispielhaft verdeutlicht. Aufgrund des Wohnungsmangels konnten ausgebildete Arbeitskräfte nicht einfach in die benötigten Bezirke dirigiert werden.17 Fulbrook (2009) hebt hervor, dass generell jegliche Verbesserungen in den 1970er Jahren „kontinuierlich von den Problemen hinsichtlich der Bereitstellung von ausreichendem Wohnraum behindert“ wurden und somit ebenso für das Gesundheitswesen eine beständige Komplikation darstellten.18 „Unser Staat braucht sich nicht zu wundern, wenn die Arbeitskräfte aus dem Gesundheitswesen weglaufen“, äußerte sich ein Arzt, was zum dritten Problemfeld überleitet.19 Ärzte kritisierten, dass sich ihr Einkommen seit 1959 nicht verändert hätte, was zu Missverhältnissen führte. So verdiente beispielsweise „[e]in ungelernter Kranautofahrer […] 1.200 Mark monatlich und ein Arzt mit Fachausbildung zwischen 900 bis 1.100 Mark Brutto im Monat“.20 Dahinter steckte der Versuch der DDR, eine Art egalitäre Gesellschaft zu formen, was jedoch in der Praxis nie gelang und vor allem bei der auf ihren Status und Anerkennung bedachten medizinischen Intelligenz auf Gegenwehr stoßen musste.21 In dieser Zwangslage wurde Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger 1977 aktiv: „Es geht in einigen Bereichen um die Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit der Krankenhäuser“.22 Daraufhin wurde das Bruttoeinkommen für Krankenschwestern um 150 Mark und für Ärzte um bis zu 200 Mark erhöht. Dies galt jedoch nur für bestimmte medizinische Bereiche wie beispielsweise die Chirurgie, Urologie oder Intensivstation. Innere, Pädiatrie und Dermatologie blieben davon ausgeschlossen.23 „Da sollen wir für die 30 M bei diesen Abzügen wohl auch noch ‚Danke sagen?‘“, war eine typische Reaktion des medizinischen Personals.24 Ein MfSBericht zitiert einen Arzt mit der zynischen Bemerkung, dass aufgrund dieser Maßnahme, seine in den Westen geflüchteten Kollegen „nun wohl wieder zurück kommen“ werden.25 Ein anderer Arzt meinte: „Meiner Schwester in München kann ich jetzt schreiben, daß ich nicht komme, mein Ausharren hat sich ge17

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Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2235, Bl. 16. 3. November 1976: Einschätzung der poltisch-operativen Lage im Sicherungsbereich Medizin im Bezirk Karl-Marx-Stadt; siehe auch Allinson (1977), S. 262. „Continually hampered by problems with adequate provision of housing“. Fulbrook (2009), S. 18. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2565, Bl. 38. 21. Mai 1974: Information zu Problemen und Diskussionen im Bereich des Gesundheitswesens – Zuarbeit zur Analyse über das Gesundheitswesen. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2565, Bl. 39. Ebd.; BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 169. 26. Oktober 1973. BStU, MfS, HA XX, 527, Bl. 204. 19. September 1977: Bericht über ein Gespräch mit dem Minister für Gesundheitswesen, Genossen Prof. Mecklinger, am 15.09.1977, von 16.00 bis 18.20 Uhr. Vgl. Spaar (2002), S. 42; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2325, Bl. 20–22. 5. April 1978: Information über Reaktionen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens zum 15. Nachtrag zum Rahmenkollektivvertrag für die Beschäftigten des staatlichen Gesundheitswesens. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2325, Bl. 21. 5. April 1978. Ebd.

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lohnt“.26 Diese Zitate zeigen, dass die Erwartungen der Mitarbeiter des Gesundheitswesens nicht erfüllt wurden, da vor allem die Differenz zum Einkommen im Industriesektor als immer noch zu hoch angesehen wurde. Als weiteres wichtiges Problem stellte sich die Limitierung dieser Maßnahme auf bestimmte medizinische Bereiche heraus, was im Endeffekt zu einer Ausweitung der Fluktuation führte, anstatt diese zu begrenzen. Als vierter Grund der problematischen Lage im Gesundheitswesen soll hier die bauliche Substanz und die Einrichtung der Krankenhäuser selbst angeführt werden. Wie das MfS feststellte, entsprachen nur die wenigen neu errichteten Kliniken modernen medizinischen Anforderungen. Für die Sanierung älterer Krankenhäuser fehlten die finanziellen Mittel.27 Ärzte und Schwestern waren den Akten zufolge mit unvollendeten Renovierungen oder andauernden Verzögerungen in der Instandsetzung konfrontiert. Ein Beispiel eines Krankenhauses in Berlin soll hier angeführt werden, welches im November 1972 einen Sturmschaden erlitt. Gemäß einem Bericht war dieser Schaden im Oktober 1973 noch immer nicht repariert, was weitere Schäden der Bausubstanz an zuvor renovierten Räumen verursachte.28 In einem Krankenhaus in Karl-Marx-Stadt war die Situation im November 1976 laut einem MfS-Bericht besonders dramatisch. Demnach war der Fahrstuhl seit geraumer Zeit nicht funktionstüchtig, was Krankenträger notwendig machte. Doch das Versprechen der lokalen Behörden, Rekruten als Unterstützung einzusetzen, sei nicht erfüllt worden, meldete ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) des MfS. Ärzte und Krankenschwestern seien genötigt, ihre Patienten zu den verschiedenen Bereichen des Krankenhauses selber zu tragen.29 Des Weiteren, so der Bericht, war das Heizungssystem noch aus dem Jahr 1912 und machte seit etlichen Monaten Schwierigkeiten.30 Wie der IM berichtete, war eine weitere Notreparatur mit einem geschätzten Aufwand von 100.000 Mark unbedingt notwendig, da bei einem Ausfall das Krankenhaus stillgelegt werden müsste. Doch nach Angaben der lokalen Behörden war auch für das folgende Jahr kein Geld dafür eingeplant.31 Darin wird ein weiteres Problem sichtbar. Die DDR verteilte ihre begrenzten finanziellen und materiellen Ressourcen hauptsächlich auf neue Projekte, wie das Prestigeobjekt Charité.32 Auch Allinson (2009) weist in seiner 26 27 28 29 30

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Ebd. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 169. 26. Oktober 1973. Ebd.; siehe auch Allinson (1977), S. 264: „roof repairs were a general concern, and waiting times up to two years were not unusual“. Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 493 Bd. 2, Bl. 320. 24. November 1976: Bericht über die Situation im Klinikum […]. Vgl. ebd., Bl. 321; siehe auch BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 491, Bd. 1, Bl. 134. 24. Mai 1974: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2667, Bl. 32. 21. Mai 1974: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2565, Bl. 38. 28. April 1975: Bericht über durchgeführte Überprüfungen im Bereich Gesundheitswesens des Bezirkes Karl-Marx-Stadt. Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 493, Bd. 2, Bl. 321. 24. November 1976. Janssen zeigt in ihrer Studie in diesem Zusammenhang am Beispiel der Errichtung eines neuen Krankenhauses in Halle, dass die finanziellen Mittel seit der Entscheidung im Jahr 1975 von dem verantwortlichen Ministerien bis zu 80 Prozent für den Bau der Charité verwendet wurden, zum Nachteil aller anderen Bauvorhaben. Janssen (2012), S. 703–712.

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Studie darauf hin, dass dadurch „effektiv mehr Probleme für die Zukunft durch Verzögerung von Reparatur und Wartung angehäuft“ wurden.33 Ein großes Problem für die Krankenhäuser stellte die Limitierung der Benzinkontingente in der DDR in den siebziger Jahren dar.34 Grund dafür waren die den Welthandel bestimmenden Öl- und Rohstoffkrisen.35 Dies führte beispielsweise in Karl-Marx-Stadt zu der prekären Lage, dass im November 1976 das Treibstoff-Kontingent erschöpft war und alle Fahrzeuge des Krankenhauses bis Anfang 1977 stillgelegt sowie der Benutzung von Privatfahrzeugen im Notfall zur schnellen Blut- und Medikamentenbeschaffung nur mit Bedenken zugestimmt wurde.36 Als letzter und fünfter Grund für die Lage im Gesundheitswesen soll kurz die generelle Versorgung mit Medikamenten und medizinischer Technik beleuchtet werden. Auch hier werden die Probleme der DDR-Planwirtschaft deutlich. Um Geld einzusparen, hatte eine Firma eine neue, ‚billigere‘ Maschine zur Herstellung von Operationshandschuhen angeschafft. Das Gerät entpuppte sich als Fehlschlag, die Handschuhe waren für ihren Verwendungszweck nicht zu gebrauchen. Aus diesem Grund mussten unverzüglich Operationshandschuhe aus dem Westen importiert werden, um Lieferrückstände abzufedern.37 Für die pharmazeutische Versorgung wurde laut MfS-Analyse allein bis Juli ein Gesamtlieferrückstand von über 2,7 Millionen Mark für das laufende Jahr 1973 erreicht. Probleme und Engpässe in der Produktionskette seien dafür ausschlaggebend gewesen. In einem Beispiel, so ein MfS-Bericht, habe eine pharmazeutische Firma eine medizinische Salbe produziert, ein anderer Betrieb habe es jedoch versäumt, die nötigen Tuben zur Abfüllung bereitzustellen, wodurch dieses Produkt weder verteilt noch verkauft werden konnte.38 Auch die Herstellung von Brillen veranschaulicht exemplarisch die komplexen Probleme. Trotz eines bestehenden Mangels an Brillen, hatte die SED entschieden, nun auch die Kosten für Gleitsichtbrillen durch die Sozial- und Gesundheitsversicherung vollständig übernehmen zu lassen. Die in der Folge steigende Nachfrage konnte nicht befriedigt werden. Wie das MfS feststellte, lag das an dem zuständigen Betrieb, der inkorrekt vermessene Linsen für spezielle Rahmen geliefert hatte, und auch an der sich in der Zwischenzeit verän-

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„Effectively stored up more problems for the future by delaying repairs and maintenance“. Allinson (1977), S. 264. Vgl. Kopstein (1997), S. 13. Kopstein zeigt in seiner Arbeit deutlich die Auswirkungen der zwei Ölkrisen auf die Importund Exportbilanzen der DDR in den 1970er Jahren auf, in denen sich das Missverhältnis dementsprechend exponentiell vergrößerte. Ebd., S. 84–85. Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 493, Bd. 2, Bl. 321. 24. November 1976. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 142. November 1974. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 31. Oktober 1973: Materialzusammenstellung zu politisch-operativen Problemen in Objekten des Gesundheitswesen im Sicherungsbereich der HA XX sowie Hinweise zur allgemeinen Situation im Gesundheitswesen; siehe auch Weil (2012), S. 402: Weil zeigt die problematische Situation für eine pharmazeutische Firma in Leipzig auf und erläutert an diesem Beispiel die Auswirkungen und widersprüchlichen Entwicklungen der Planwirtschaft hinsichtlich der Herstellung von Medikamenten.

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derten Mode, auf die zu spät reagiert worden war.39 In der Folge zweifelte sogar das MfS an der Richtigkeit einiger der neuen sozialpolitischen Maßnahmen des Staates. Aufgrund weiterer Probleme und Verzögerungen in der Realisierung, so ein Bericht, würden die Wirtschaftspläne der SED zu einem ökonomischen Schaden von über 200 Millionen Mark pro Jahr führen.40 Viele der genannten Probleme im Gesundheitswesen scheinen den ambitionierten und fordernden, aber von der Alltagsrealität entfernten Plänen der Führungselite geschuldet.41 Die Mangelsituation hatte Einfluss auf die ‚politischideologische‘ Einstellung der medizinischen Intelligenz gegenüber dem Staat. Wie das MfS in seiner generellen Einschätzung vom November 1974 festhielt, verharrten die Ärzte in einer für die SED problematischen Position. Vor allem habe der angestrebte Generationswechsel innerhalb der Ärzteschaft nicht stattgefunden, was speziell auf den zu großen ‚negativen‘ Einfluss von älteren, ‚bürgerlich‘ eingestellten Kollegen auf die jungen Ärzte geschoben wurde.42 Weiterhin wurde kritisiert, dass vor allem Personen in Leitungspositionen eher nach ihren Fähigkeiten als aufgrund ihres ideologischen Bewusstseins ausgewählt worden seien. Damit sei die Durchsetzung der ‚Führungsrolle der SED‘ und die politische Arbeit in vielen medizinischen Bereichen auf ein Minimum reduziert worden.43 An den Universitäten bestand dem MfS zufolge das Problem, dass die neuen Medizinstudenten unzureichend vom Sozialismus überzeugt waren. Die Dozenten würden eher die Mängel des sozialistischen Gesundheitswesens als dessen Vorteile gegenüber dem Kapitalismus aufzeigen.44 Die genannten Missstände spielten eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung der Ärzte, die DDR zu verlassen. Sie nutzten dafür häufig westliche Fluchthelferorganisationen. Marion Detjen (2005), die sich dem gesamten Komplex der „Fluchthelfer“ und „Organisationen“ nach der Errichtung der Mauer im Jahre 1961 gewidmet hat, zeigt, dass vor allem direkt nach der Schließung der Grenze die Zahl der Menschen, welche den Ostdeutschen beim Verlassen der DDR geholfen haben, ihren Höhepunkt erreichte.45 Zugleich begann die Professionalisierung der „Fluchthilfe“ spätestens im Jahr 1962, wobei es sich zumeist um Studentengruppen und anfangs „zum Teil unentgeltlich arbeitende Idealisten“ handelte.46 Während zu Beginn diese Gruppen von der Bundesregierung toleriert und teilweise unterstützt wurden, änderte sich die Haltung im Verlauf der innerdeutschen Annährungsversuche unter Bundeskanzler Willy Brandt. Die zunehmend kommerziellen und professionellen ‚Fluchthelferorganisationen‘ verlo39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 143. November 1974 Ebd., S. 144. Vgl. Caldwell (2008): „Eigentlich war der Plan weder Norm noch Wirklichkeit und wurde doch als Gesetz verabschiedet“. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 133. November 1974. Ebd., Bl. 134–136. Ebd., Bl. 136. Laut Detjen war die Fluchthilfe in den Tagen und Monaten nach dem Mauerbau oft spontan und freiwillig. Detjen (2005), S. 84–94. Ebd., S. 254.

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ren ihre anfängliche ‚offizielle‘ Unterstützung.47 Zunächst wurden die finanziellen Mittel teilweise durch die Veröffentlichung der Geschichten und Bilder der Flüchtlinge bezogen, allerdings, wie Detjen (2005) herausstellte, mussten die Organisationen feststellen, dass auch das MfS auf dem gleichen Weg an Informationen über ihre Identitäten und Methoden gelangte. Dementsprechend entwickelten sie sich zu einem ‚silent business‘ und finanzierten sich, indem sie ihre ‚Dienstleistungen‘ ihren Flüchtlingen in Rechnung stellten.48 GEGENMASSNAHMEN Um dieser neuen Form der Flucht, dem Ausschleusen der medizinischen Intelligenz mit Hilfe von westlichen ‚Fluchthelferorganisationen‘ nach Westdeutschland, entgegenzuwirken, führte die DDR im Jahre 1968 die Paragraphen 105 und 213 in die überarbeitete Fassung des Strafgesetzbuches ein. Damit war das „ungesetzliche Verlassen“ wie auch die Vorbereitung oder der Versuch und der „staatsfeindliche Menschenhandel“ unter Strafe gestellt.49 Trotzdem nahm die Zahl der ‚illegalen Republikfluchten‘ in dieser Zeit zu, da das ‚Transitabkom47 48

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Schon Mitte der 1960er Jahre wurde gemäß Detjen die finanzielle Unterstützung der westdeutschen Regierung gestoppt. Ebd., S. 252. Am Anfang hätten die Beträge für eine Flucht zwischen ungefähr 3.000 und 5.000 DM gelegen, stiegen jedoch am Ende der 60er Jahre auf 10.000 bis 15.000 DM. Auf diesem Level verblieben sie mit einigen Ausnahmen auch während der 70er Jahre. Ebd., S. 157–158. Vgl. Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968; § 105: Staatsfeindlicher Menschenhandel. Wer es 1. mit dem Ziel, die Deutsche Demokratische Republik zu schädigen; 2. in Zusammenhang mit Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen, oder, mit Wirtschaftsunternehmen oder deren Vertretern unternimmt, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in außerhalb ihres Staatsgebietes liegende Gebiete oder Staaten abzuwerben, zu verschleppen, auszuschleusen oder deren Rückkehr zu verhindern, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft. § 213. Ungesetzlicher Grenzübertritt. (1) Wer widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eindringt oder sich darin widerrechtlich aufhält, die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise, Reisewege und Fristen oder den Aufenthalt nicht einhält oder wer durch falsche Angaben für sich oder einen anderen eine Genehmigung zum Betreten oder Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik erschleicht oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder in dieses nicht zurückkehrt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder öffentlichem Tadel bestraft. (2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführen dazu geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird; 2. die Tat durch Mißbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertrittsdokumenten, durch Anwendung falscher derartiger Dokumente oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 3. die Tat von einer Gruppe begangen wird; 4. der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist. (3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.

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men‘, welches den Verkehr zwischen Westdeutschland und West-Berlin auf bestimmten Routen durch die DDR vereinfachte, und der ‚Grundlagenvertrag‘ 1973 zwischen der DDR und der Bundesrepublik unterzeichnet wurden.50 Die Reaktion der SED, hier vor allem im Fall der medizinischen Intelligenz, bestand in der Ausweitung von Ahndungen und ideologischen Kampagnen. Gemäß einem internen Dokument, welches eine Aussprache zwischen dem MfS und dem Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger von Mitte 1972 beinhaltet, sollte auf die ‚Republikflucht‘ eines Arztes mit „der Aberkennung der Approbation, der Promotion und des Facharztes“ reagiert werden.51 Ein Beispiel für die beginnende ideologische Offensive stellt eine öffentliche Versammlung im Krankenhaus Friedrichshain in Berlin am 6. September 1973 dar. Das Krankenhaus galt neben dem Krankenhaus Berlin-Buch als ‚operativer Schwerpunkt‘ für das MfS und die SED.52 Der Verlauf der Versammlung wurde von den staatlichen Organen zusammen mit dem MfS bis ins Detail geplant.53 Insgesamt 110 ausgesuchte Mitarbeiter des Gesundheitssektors aus verschiedenen Berliner Kliniken wurden eingeladen. Genau festgelegt wurde vorab, wer als Redner auftreten durfte, welche Inhalte die Beiträge haben sollten, und auch ob und wer das Wort in Eigeninitiative oder auf Nachfrage ergreifen durfte.54 Die Sprecher waren entweder inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS oder angebliche „Opfer“ von „Menschenhändlerbanden“ und sollten neben der Schilderung ihrer Erlebnisse und des kriminellen Charakters dieser Organisationen auch ihrer „rückhaltlosen Offenbarung zur Unterstützung der Tätigkeit des MfS“ Ausdruck verleihen.55 Am 6. September 1973 wurde die Versammlung von Gesundheitsminister Mecklinger eröffnet, welcher die zentrale Bedeutung der Arbeit aller Mitarbeiter des Gesundheitswesens der DDR hervorhob.56 Danach sprach der Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin über, so heißt es im MfS-Bericht, „[d]as zielgerichtete Vorgehen der Menschenhändlerorganisatio-

50 51 52

53

54 55 56

Vgl. Detjen (2005), S. 267–269 sowie Spaar (2002), S. 8. Siehe auch Abbildung 1. BStU, MfS, HA XX, 527, Bl. 258. 7. September 1972: Vermerk über eine Aussprache mit Prof. Dr. Mecklinger am 14.08.1972. Eine interessante Parallele ergibt sich mit der Studie von Melanie Arndt, die auch schon für die Jahre 1948 bis 1961 diese beiden Krankenhäuser als problematisch für die SED und als Schwerpunkt der „Republikflucht“ beschreibt. Arndt (2009), S. 175. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 326–334. 22. August 1973: Konzeption zur Durchführung einer öffentlichen Versammlung im Städtischen Krankenhaus Berlin-Friedrichshain; BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 308–310. 4. September 1973: Festlegungsprotokoll einer Beratung beim Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik am 04.09.1973. Thema: Inhaltliche und organisatorische Vorbereitung eines Forums des Ministers für Gesundheitswesen zu aktuellen Fragen der Gesundheitspolitik im Zusammenhang mit den gegnerischen Angriffen auf die Gesundheitspolitik von Partei und Regierung. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 329–334. 22. August 1973. Ebd., Bl. 329 und Bl. 333–334. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 293. 11. September 1973: Information über eine am 6. September 1973 mit ausgewähltem Personenkreis im Städtischen Krankenhaus BerlinFriedrichshain durchgeführte Versammlung.

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nen zur Abwerbung und Ausschleusung von Ärzten des Krankenhauses“.57 Seine Rede beinhaltete die „angewandten skrupellosen Methoden (Versprechungen, Täuschung, Überrumpelung, Erzeugen von Unruhe und Unsicherheit, Verwicklung in strafbare Handlungen, Angstpsychose, Drohung, Erpressung usw.)“

als auch deren „eigennützige verbrecherische Ziele und Motive“.58 Wie geplant folgten die Ansprachen von verschiedenen Ärzten, welche die Argumente des Generalstaatsanwaltes bestätigten.59 Dabei habe, so ein MfS-Bericht, die Verlesung eines Briefes von einem ehemaligen Doktor aus der DDR, der seine Entscheidung, in den Westen zu fliehen, bereute, „eine nachhaltige emotionelle Wirkung“ gehabt.60 Zum Abschluss der Versammlung wurde die Notwendigkeit betont, „das Vertrauen zu den Sicherheitsorganen zu stärken und sie zu unterstützen“,61 sowie „die Möglichkeit der Gewährung von Straffreiheit bei vorliegender Bereitschaft zur Wiedergutmachung und umfassenden, wahrheitsgemäßen Aussagen“62 hervorgehoben. In diesem Zusammenhang ergriff Mecklinger noch einmal das Wort. Er „appellierte an die Ehre und ethische Verpflichtung des Arztes, was u.a. auch bedeutete, sich nicht in die Hände derartiger verbrecherischer, krimineller, arbeitsscheuer Elemente, Rauschgiftsüchtiger und Rauschgifthändler zu begeben und sich nicht würdelos mit ihnen auf eine Stufe zu stellen“.63

Den Akten zufolge versprach Mecklinger den Anwesenden, eine kontinuierliche Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erwirken, was im Kontext der zuvor angesprochenen sozialpolitischen Maßnahmen zum 25. September 1973 für das Gesundheitswesen betrachtet werden muss. In der Auswertung des MfS war, ablesbar an der Reaktion der medizinischen Intelligenz, die Versammlung ein Erfolg für die SED gewesen.64 Doch zeigt sich auch, dass eine große Anzahl von Medizinern eher skeptisch gegenüber den Argumenten blieb. Angezweifelt wurde vor allem die angeführte Tatsache, „daß sich Ärzte von einem 18jährigen [Schleuser, M.W.] ‚einkaufen‘ lassen“. In einem Bericht heißt es, es „müsse bei den Ärzten eine Bereitschaft vorhanden gewesen sein sonst wären sie nicht auf die Angebote […] eingegangen“.65 Verwirrung hatte demnach zudem ein Arzt gestiftet, welcher nach einem offenbar gescheiterten Fluchtversuch auf der Versamm57 58 59 60 61 62 63 64

65

Ebd., Bl. 295. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 295. 11. September 1973. Vgl. ebd., Bl. 295–299. Ebd., Bl. 295. Ebd., Bl. 299. Information: BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 317. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 300. 11. September 1973. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl. 303. 13. September 1973: Probleme und negative Erscheinungen aus dem Krankenhaus Friedrichshain und anderen medizinischen Einrichtungen in Auswertung der am 6. September 1973 durchgeführten öffentlichen Versammlung im Krankenhaus Friedrichshain über Angriffe westdeutscher und Westberliner Menschenhändlerorganisationen gegen das GW. Ebd., Bl. 305 und Bl. 306.

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lung gesprochen hatte, wobei nicht klar war, ob er von selbst gewillt war, mit dem MfS zusammenzuarbeiten, oder ob er gefangen genommen worden sei, woraus sich zwangsläufig die Frage ergab, wieso er immer noch als Arzt angestellt war.66 Detjen (2005) zeigte, dass das MfS für den fast gleichzeitig ablaufenden Schauprozess von ‚Menschenhändlern‘ im Oktober und November 1973 akribisch umfassendes Beweismaterial der ‚kriminellen‘ Aktivitäten der ‚Menschenhändlerbanden‘ sammelte. Dafür wurden gezielt schon inhaftierte und bewusst falsch informierte Schleuser, ‚Opfer‘ und Zeugen benutzt, um eine internationale Verurteilung dieser Organisationen und die Strafverfolgung dieser in Westdeutschland zu erreichen.67 Ziel von MfS und SED war es, „Fluchthelfer“ in möglichst schlechtem Licht darzustellen und ihre Arbeit als „unehrenhaft“ zu brandmarken. Dabei verurteilten sie auch jene Ärzte, welche diese Methode benutzt haben, um die DDR zu verlassen. Die Tatsache, dass auch Drogenabhängige als „Schleuser“ tätig waren, nutzte die DDR bei ihrer Propaganda gezielt aus. Wie Detjen (2005) erläutert, nutzten einige ‚Fluchthelferorganisationen‘ die sogenannte ‚Opfertour‘, wobei eine Person aus Westdeutschland in die DDR reiste, seine Reisepapiere und Pass dem schleusungswilligen ‚Kunden‘ übergab und danach in der DDR verblieb, wo er in der Folge meist inhaftiert wurde.68 Die Personen, die sich dafür bereit erklärten, waren „meist wohnungs- und arbeitslose junge Männer in akuter Geldnot“, und ihre Verwicklung in das Drogen-Milieu kann zumindest nicht ausgeschlossen werden.69 Da die ‚Fluchthilfe‘ immer mehr kommerziell als politisch motiviert war und damit auch ins kriminelle Milieu rutschte, veranlassten die staatlichen Behörden Westdeutschlands diese strafrechtlich zu verfolgen, was nicht zuletzt zu dem generellen Bedeutungsverlust am Ende der 1970er Jahre beitrug.70

66 67 68

69 70

Vgl. ebd., Bl. 304. Vgl. 13. September 1973: BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 2, Bl.317–319 und 325. Detjen weist darauf hin, dass die ‚Fluchthelferorganisationen‘ sich selbst rechtlich durch eine von dem ‚Opfer‘ unterzeichnete Einwilligungserklärung absicherten, welches diesen über den Ablauf im Voraus informiert hätte. Detjen (2005), S. 262. Ebd. Vgl. ebd., S. 281–283.

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STATISTIK Um aufzuzeigen, dass die medizinische Intelligenz das wichtigste Klientel der ‚Fluchthelfer‘ bildete, soll zunächst die gesamte Fluchtbewegung aus der DDR in den Westen dargestellt werden. Wie Abbildung 1 zu entnehmen ist, bewegte sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge von 1972 bis 1976 zwischen 5.000 und 6.500 pro Jahr.71

Abb. 1: Erfolgreiche Flucht aus der DDR, aufgeschlüsselt in Sperrbrecher und Schleusungen zwischen 1972 und 1979. Quelle: DETJEN (2005), S. 440–441, Tabelle 2.

Nach 1976 nahm die Zahl der Menschen, die in den Westen flohen, auf 4.000 ab und verringerte sich stetig in den Folgejahren.72 Diese generelle Entwicklung kann durch die kontinuierliche Annäherung der beiden deutschen Staaten erklärt werden, was Erleichterungen in den Reisebeschränkungen mit sich brachte, und dabei auch die Flucht über die Transitrouten zwischen West-Berlin und Westdeutschland vereinfachte.73 Darüber hinaus begann sich nach 1964 die Flucht in westliche Länder über andere sozialistische Staaten während des Urlaubes als eine der Hauptmethoden herauszukristallisieren, da deren Grenzen nicht in dem Maße gesichert waren, wie die der DDR. Als Fluchtweg wurden auch Flughäfen in sozialistischen Ländern mithilfe von falschen Pässen genutzt, die ebenfalls in den meisten Fällen von der ‚Fluchthilfe‘ organisiert wurden.74 Hervorzuheben ist, dass die DDR den ‚tödlichen Charakter‘ des ‚Todesstreifens‘ der innerdeutschen Grenze ständig erhöhte, was nach dem Höhepunkt im Jahr 1973 zu einer signifi71 72 73 74

Vgl. ebd., S. 440–441, Tabelle 2. Ebd. Vgl. ebd., S. 267–274; BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 112. November 1974. Vgl. Detjen (2005), S. 261 und 274.

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kanten Abnahme der sogenannten ‚Sperrbrecher‘ von über 1.000 auf unter 500 pro Jahr führte.75 Dies und die Fähigkeit des MfS die Methoden der Flüchtlinge immer besser aufzudecken, führte zum Rückgang der ‚illegalen Republikfluchten‘ während dieses Jahrzehntes. In der Folge verlagerte sich die Fluchtmethode darauf, während der ‚bewilligten‘ Westreise in der BRD zu verbleiben. Im Lichte der zunehmenden Möglichkeiten, in den Westen zu reisen, musste dies als ein ‚ungefährlicherer Weg‘ der Flucht erscheinen.76 Der Grenzübertritt mittels ‚Schleusung‘ machte bis in die Mitte der siebziger Jahre einen Anteil von ungefähr 5 % der Gesamtzahl der Fluchten aus.

Abb. 2: Erfolgreiche und erfolglose [inkl. geplante und versuchte] Flucht von Ärzten und des mittleren medizinischen Personals nach Westdeutschland im Vergleich von 1972 zu 1979. [Quellen: BStU, MfS HA XX 11663, Bl. 43; BStU, MfS HA XX 2100, Bl. 31; BStU, MfS HA XX 2102, Bl. 6–7, 11, 71–72, 82, 128–129, 162–164. In der Anzahl der Ärzte sind auch Zahnärzte enthalten; Leere Felder in der Tabelle weisen darauf hin, dass keine Daten dafür gefunden werden konnten; die Zahlen von 1979 sind nicht sicher, da das entsprechende Dokument kein Datum aufweist und nur die Anzahl der Fluchten von Januar bis August ausweist. Jedoch im Hinblick auf die Struktur der Akte scheint es die Analyse der Fluchten für das Jahr 1979 zu sein; BStU, MfS HA XX 2102, Bl. 162–164.]

Wie die MfS-Analysen zum ‚illegalen Verlassen‘ von Ärzten betonten, stellte die Hauptmethode der medizinischen Intelligenz, um die Grenze zu überschreiten, die

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Vgl. ebd., S. 269. Vgl. ebd., S. 284 und 323.

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Verwendung der Hilfe von ‚Fluchthelferorganisationen‘ dar.77 Es kann davon ausgegangen werden, dass von erfolgreichen Grenzübertritten mindestens zwei Drittel durch ‚Schleusung‘ erfolgten. Die Statistik der DDR-Staatssicherheit für das Jahr 1978 nennt 58 Ärzte, die aus der DDR flüchteten. Vier davon übertraten die Grenze selbst, zehn kamen von Westreisen nicht zurück, bei drei Fällen blieb die Methode unbekannt und 41 Ärzte nutzten die Hilfe von ‚Fluchthelferorganisationen‘; was einen Anteil von 70 % repräsentiert.78 Ein Vergleich mit dem gesamten personellen Verlust der DDR zeigt, dass in den Jahren von 1974 bis 1976 zwischen 1,5 und 2,0 % der gesamten Anzahl an Fluchten von der medizinischen Intelligenz ausging. Zwischen 15 und 25 %, im Jahr 1978 sogar 35 %, davon waren ‚Schleusungen‘. Die Abbildung 2 zeigt, dass Ärzte im medizinischen Bereich den ‚Schwerpunkt‘ für das ‚illegale Verlassen‘ der DDR ausmachten und im Vergleich mit dem mittleren medizinischen Personal eine geringere Quote aufwiesen, bei dem Versuch entdeckt zu werden. In der Betrachtung des gesamten Jahrzehnts wird deutlich, dass mit Ausnahme von 1979 auch die Fluchtbewegung der Ärzte einen kontinuierlichen Rückgang erfuhr.

140 Ärzte/ medizinische Wissenschaftler

120 100 80

Mittleres medizinisches Personal

60

Bildung

40 Kultur

20 0 1975

1976

Erfolgreich

1975

1976

Staatsapparat

Verhindert

Abb. 3: Die Gesamtzahl an erfolgreichen und verhinderten Fluchten aus den verschiedenen Sicherheitsbereichen der HA XX des MfS in den Jahren 1975 und 1976. Quelle: BStU, MfS HA XX, AKG 6029, Bl. 131.

77

78

Vgl. BStU, MfS, HA XX, 2100, Bl. 8. 5. September 1973: Einschätzung zu Problemen des staatsfeindlichen Menschenhandels im Bereich der medizinischen Intelligenz; BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 109. November 1974; BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 128 und Bl. 130. 11. April 1979: Einschätzung zur politisch-operativen Situation und zur Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit im Sicherungsbereich Medizin. Auch im Jahr 1979 führten 74 % der Ärzte, welche die DDR verlassen haben, ihre Flucht mit Hilfe von „Fluchthelferorganisationen“ aus. Laut der Analyse des MfS waren sie sich von den 41 Ärzten, welche die Schleusungsmethode nutzten, bei 23 sicher und hatten für 18 ‚konkrete‘ Hinweise. BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 87. 23. Januar 1979: Ungesetzliches Verlassen der DDR durch Personen aus dem medizinischen Bereich im Jahre 1978.

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DIE ZWANGSLAGE Eine Analyse der Hauptabteilung XX (HA XX) des MfS von 1977 verdeutlicht die Zwangslage der SED. Für das Jahr 1976 resümierte sie: „Wie in den Vorjahren bilden Angehörige der medizinischen Intelligenz die politisch-operativ bedeutsamste Gruppe der ausgeschleusten Personen und Schleusungskandidaten“.79 Die Abbildung 3 zeigt, „dass der Sicherungsbereich Medizin weiterhin den deliktsspezifischen Schwerpunkt im Verantwortungsbereich der Linie XX darstellt, zumal der Anteil versuchter und gelungener ungesetzlicher Grenzübertritte von Personen aus dem Sicherungsbereich Medizin nach wie vor zu hoch ist und 76 % aller Delikte des gesamten Verantwortungsbereiches der Linie XX ausmacht“.80

Als zusätzliches Problem für die DDR erwiesen sich die Altersstruktur der geflüchteten Ärzte und deren oftmals leitende Position. Im Jahr 1976 beispielsweise war die Mehrheit der geflohenen Mediziner zwischen 31 und 45 Jahre alt.81 Die meisten Ärzte flohen demnach, nachdem sie ihre Facharztausbildung abgeschlossen hatten. Das DDR-Gesundheitsministerium rief eine Kommission ins Leben, welche die Konsequenzen der Ärzteflucht für die Wirtschaft analysieren sollte. Laut deren Zahlen belief sich der materielle Schaden für die DDR beim Verlust eines Arztes, nur in Bezug auf seine Ausbildung, auf ungefähr 150.000 Mark und für eine Schwester auf 30.000 Mark.82 Das war allerdings nur ein Aspekt des geschätzten Verlustes. „Wesentlich höher ist der nicht exakt messbare, wohl aber schätzbare materielle Schaden durch Ausfall eines Arztes in gesundheitspolitischer und volkswirtschaftlicher Hinsicht [nicht gemeint ist der politisch-ideologische und moralische Schaden!]“,

führt der Bericht weiter aus.83 Durch den jährlichen Wegfall von ungefähr 2.000 Arbeitsstunden und die geschätzten weiteren 25 Jahre der Berufsausübung, bei einem durchschnittlichen Alter der geflüchteten Ärzte von 34 Jahren, entstünde der DDR ein Schaden von einer Millionen Mark je Arzt.84 Neben dem kritischen Faktum, dass diese Analyse der Kommission als Grundlage zur Verurteilung von zwei beschuldigten ‚Schleusern‘ diente, zeigt es auch die erheblichen Folgen für das Gesundheitswesen.

79 80 81

82

83 84

BStU, MfS, HA XX, AKG, 6029, Bl. 107. 3. März 1977. Ebd., Bl. 132. 3. März 1977. Vgl. ebd., Bl. 85. 1. September 1975: Information über die im 1. Halbjahr 1975 erfolgten gelungenen und verhinderten ungesetzlichen Grenzübertritte durch Mitarbeiter des Gesundheitswesens sowie des Bereichs Medizin des Hoch- und Fachschulwesens der DDR: BStU, MfS, HA XX, 2100, Bl. 82. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 2100, Bl. 89: Auszug aus dem Gutachten einer Kommission leitender Mitarbeiter des Min. f. Gesundheitswesens über Folgen und Auswirkungen der organisierten Ausschleusung von Ärzten, Zahnärzten und Krankenschwestern durch die Beschuldigten […] und […]. BStU, MfS, HA XX, 2100, Bl. 89. Ebd.

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ERKLÄRUNGSVERSUCHE Der Hauptgrund für die zunehmende Fluchtbewegung der Ärzte waren die sich verschlechternden Lebens- und Arbeitsbedingungen für die medizinische Intelligenz im Verlauf der siebziger Jahre. Ärzte brachten kaum Verständnis für die betonte Demarkationspolitik von Honecker innerhalb des Prozesses der Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten auf.85 Für eine Versammlung zur politisch-ideologischen Weiterbildung hinsichtlich des ratifizierten ‚Grundlagenvertrages‘ zog das MfS 1974 zum Beispiel in Karl-Marx-Stadt folgendes Resümee: „Kennzeichnend für die anwesenden Ärzte war, dass der größte Teil der Ärzte den Eindruck hinterließ, als würde geschlafen. Zur Diskussion meldete sich keiner. Die Versammlung musste abgebrochen werden“.86 Ein MfS-Bericht über die Berliner Krankenhäuser im Jahre 1973 verdeutlicht, dass „[d]as Verhältnis DDRBRD […] insgesamt in seiner Vielfalt im Gesundheitswesen eine große Rolle“ spielte.87 Die bestehenden Verbindungen von zwei Dritteln der medizinischen Intelligenz des Bezirks Karl-Marx-Stadt in den Westen waren problematisch für die SED.88 Ärzte verglichen ihre Lebenslage vermehrt mit westdeutschen Lebensund Arbeitsstandards. In diesem Zusammenhang kam das MfS zum Schluss, dass die Motive und Probleme vor allem „Vorbehalte gegenüber unserer sozialistischen Entwicklung und Bejahung der westlichen Lebensweise“, „Tendenzen der Gleichgültigkeit gegenüber Mängel und Unzulänglichkeiten im Arbeitsbereich“, „politisches Desinteresse, mangelnde gesellschaftliche Aktivitäten, eine nicht befriedigende politisch-ideologische Erziehungsarbeit durch Leiter von Kollektiven“ als auch eine „Zunahme bürgerlicher Denk- und Verhaltensweisen bei Angehörigen der medizinischen Intelligenz, wie verstärktes Konsumdenken, [...] kritische ideologische Äußerungen zu Entwicklungsproblemen unserer Gesellschaft mit Zweifel am ‚Wahrheitsgehalt‘ von Informationen unserer Publikationsorgane“ seien.89 Den Berichten der Staatssicherheit zufolge, äußerten sich Ärzte immer wieder über den höheren medizinischen Entwicklungsstand in der Bundesrepublik, welche ihnen zufolge zehn bis 20 Jahre der DDR voraus wäre.90 Ein Arzt, der nach Westdeutschland gehen wollte, wurde mit den Worten zitiert, dass „[e]r […] ‚gut und gerne auf die in der DDR geschaffenen Werte verzichten‘“ könne.91 85 86 87 88

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91

Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 162. 26. Oktober 1973. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2565, Bl. 43. 21. Mai 1974. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 162. 26. Oktober 1973. Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2432, Bl. 2. 24. April 1978: Informationsbedarf des Leiters der BV gemäß GVS 653/77. Politisch-operative Lage im Gesundheitswesen und unter der medizinischen Intelligenz. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2432, Bl. 108. 4. Oktober 1978: Informationsbedarf des Leiters der BV gemäß GVS 653/77. Politisch-operative Lage im Gesundheitswesen und unter der medizinischen Intelligenz. Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2667, Bl. 26. 24. Mai 1974; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2235, Bl. 16. 3. November 1976; BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 95. 23. Januar 1979. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2432, Bl. 95. 2. Oktober 1975: Analyse der politischoperativen Lage im Sicherungsbereich Medizin.

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Die verstärkte Orientierung der Ärzte Richtung Westen zeigt, dass es der SED misslang, einen großen Teil der medizinischen Intelligenz für sich zu gewinnen. Deutlich wird auch das große Potenzial für Auseinandersetzungen, welches überlastete, frustrierte und desillusionierte Ärzte zum ‚vote with their feet‘ veranlasste. Die zurückbleibenden Mitglieder der medizinischen Intelligenz tendierten oft dazu, ihr Verständnis für die Entscheidung ihrer Kollegen zur Flucht zu äußern und nicht, wie es die SED von ihnen abverlangte, dies als ‚illegale Republikflucht‘ zu verurteilen. Zum weiteren Ärger der SED wurde dieser Schritt ebenso eher als ein ‚Orts-‘ oder ‚Arbeitsplatzwechsel‘ beschrieben, denn als ‚Bruch der Verpflichtung eines Doktors gegenüber ihren oder seinen Patienten‘.92 Das Scheitern der ideologischen Offensiven der SED wird ferner in der Analyse der so genannten ‚Übersiedlungsanträge‘ in den Westen offensichtlich. Im Jahre 1976 stellten 1.700 DDR-Bürger aus dem Sicherheitsbereich der MfS-Hauptabteilung XX einen Übersiedlungsantrag. Darunter allein 700 aus dem Bereich der Medizin.93 Die DDR war weit davon entfernt, ihrer medizinischen oder technischen Elite die legale Ausreise zu erlauben, allein schon aufgrund ihrer wichtigen Rolle und dem Problem der daraus resultierenden ökonomischen Schäden.94 Dieser Umstand kann durchaus als Zwang der Ärzte gedeutet werden, bei Fluchtabsichten auf ‚Fluchthelfer‘ zurückzugreifen. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im Jahre 1975 führte unter anderem zu einer breiten internationalen Anerkennung der DDR. Damit ergaben sich jedoch auch neue Problemfelder. So standen stärkere internationale Kontakte wie humanitäre Verpflichtungen durchaus im Widerspruch zur praktizierten politischen Realität.95 Die Reisen von West- nach Ostdeutschland und demzufolge auch Kontakte unter Ärzten und medizinischen Organisationen, aber auch zu ‚Fluchthelferorganisationen‘ nahmen zu.96 Ein MfSBericht von 1976 äußerte sich dazu kritisch: „Nach wie vor und in zunehmenden Maße stellen die Leipziger Messen Höhepunkte der feindlichen Kontaktpolitik dar, wobei die umfangreiche und gezielte Adressensammlung, die Ausgabe von sogenannten Ärztepackungen mit Pharmaka an DDR-Ärzte mit der Bitte der illegalen Testung der Medikamente und gezielte individuelle Gespräche des immer mehr aus Medizinern bestehenden Personals der Konzernstände mit speziell eingeladenen medizinischen Wissenschaftlern der DDR hervorzuheben sind.“97

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Vgl. BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 165. 26. Oktober 1973; BStU, MfS, BV KarlMarx-Stadt, XX, 2667, Bl. 26. 24. Mai 1974; BStU, MfS, HA XX/AKG, 6029, Bl. 51. 2. Februar 1976: Jahresanalyse der Hauptabteilung und der Linie XX für das Jahr 1975. Zum Vergleich: Kirche 200; Post 140 und Kultur 90. BStU, MfS, HA XX, AKG, 6029, Bl. 134–135. 3. März 1977. Für das Jahr 1974 beispielsweise wurden laut Detjen eine Gesamtzahl von 7.928 Anträgen zur Übersiedlung stattgegeben. Jedoch, wie der MfS Bericht zeigt, durften in demselben Jahr nur 62 Ärzte die DDR legal verlassen. Detjen (2005), S. 275–276 und S. 440–441, Tabelle 2; BStU, MfS, HA XX, 2100, Bl. 44–45. Vgl. Spaar (2002), S. 12–13. Ebd., S. 13. BStU, MfS, HA XX, AKG, 6029, Bl. 50. 2. Februar 1976.

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Auch in einer anderen Akte kritisierte das MfS, dass westliche Pharmakonzerne Medikamente zur ‚illegalen Testung‘, mit der Bitte die Ergebnisse an die Konzerne zurückzusenden, verteilte.98 Auch das Problem der Ausgabe von umfangreichen Broschüren, Literatur und Einladungen zu Konferenzen in den Westen, wobei die Bezahlung des Fluges, der Unterkunft etc. durch den jeweiligen Pharmakonzern in Aussicht gestellt wurde, war der SED ein Dorn im Auge.99 Die DDR sah darin eine Bedrohung, wie der MfS-Bericht von 1979 konstatiert, da die Konzerne bewusst den Kontakt zu „solche[n] Personenkreise[n] im Sicherungsbereich Medizin“ suchen würden, „von deren Wissen, Ansehen oder Einfluss sie sich ökonomische Vorteile erhoffen“ und ihnen nicht zuletzt deswegen Stellen in der Bundesrepublik anböten.100 Zusätzlich hätten sich die Konzerne zum Ziel gesetzt, durch die Verteilung von Medikamenten „ihren Einfluß auf den Absatzmarkt der DDR zu erweitern“ zum Nachteil der pharmazeutischen Erzeugnisse aus der DDR und anderen sozialistischen Ländern.101 Die Auswirkungen dieser während der Leipziger Messe etablierten Netzwerke zeigten sich nicht zuletzt daran, dass es zum Unmut der SED, „eine Reihe von Beispielen [gab], wo leitende Funktionäre eine VS-Verpflichtung102 ablehn[t]en, weil sie ihre Westkontakte nicht abbrechen woll[t]en“.103 Vor allem im Hinblick auf das Problem, dass medizinische Wissenschaftler oder Ärzte aus der DDR ihre Ergebnisse und Geheimnisse ihrer medizinischen Forschung ihren ‚Westkollegen‘ preisgeben könnten, reagierte die SED sensibel auf jede ‚Verletzung‘, da aus ihrer Sicht dies nur ein Rückschlag im Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Sozialismus darstellen konnte.104 Die zunehmenden Kontakte zwischen Ärzten beider Seiten führten zu weiteren Problemen für den Staat. Wie Detjen (2002) in ihrer Arbeit aufzeigt, war es vor allem Kay Mierendorff,105 der kontinuierlich in den Berichten des MfS als 98 99 100 101 102

Vgl. BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 119. November 1974. Ebd., Bl. 117–119; BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 101–102. 23. Januar 1979. BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 98. 23. Januar 1979. Ebd., Bl. 100. Eine VS-Verpflichtung bedeutete, dass die betreffende Person ein Träger von Staatsgeheimnissen ist und alle seine Kontakte in den Westen abbrechen musste. 103 BStU, MfS, HA XX, 7203, Bd. 1, Bl. 162. 26. Oktober 1973. 104 Siehe hierzu, zum Beispiel BStU, MfS, BV Dresden, AKG, PI 62/80, Bl. 1–2. 10. April 1980: Information über den Verdacht der Offenbarung laufender Forschungsergebnisse durch Prof. […] Medizinische Akademie Dresden, gegenüber BRD-Wissenschaftlern. 105 Die Organisation um die Brüder Kay und Oliver Mierendorff wurde zu Beginn der 70er Jahre etabliert und konzentrierte ihre ‚Fluchthilfe‘ auf die Ausnutzung der Transitrouten zwischen West-Berlin und Westdeutschland. Oliver Mierendorff wurde jedoch vom MfS gefangengenommen und eingesperrt, wobei es dem MfS gelang, beiden falsche Informationen zuzuspielen, was in gegenseitigem Misstrauen resultierte. Aufgrund der Bedrohung einer MfSInfiltration zog Kay Mierendorff im Jahr 1978 in ein Dorf in Bayern, da der dort herrschende Dialekt es möglich machen würde, MfS-Mitglieder zu erkennen. Im Februar 1982 erhielt Kay Mierendorff jedoch eine Briefbombe vom MfS, die er mit Verletzungen überlebte. Kay soll vermutet haben, dass sein Bruder Oliver involviert sein könnte, um Rache zu nehmen. Bis zum Ende der DDR war es beiden Brüdern Kay und Oliver Mierendorff nicht bewusst, wie viel Erfolg das MfS hatte, sie gegenseitig gegeneinander aufzuwiegeln. Siehe hierzu: Detjen (2005), S. 259, 272–273, 276–277, 325 und 329.

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der „Kopf“ einer der wichtigsten ‚Menschenhändlerbanden‘ für die medizinische Intelligenz auftauchte und die Leipziger Messen dazu verwendete, Kontakte zu Ärzten zu knüpfen, welche die DDR verlassen wollten.106 Das MfS erkannte, dass einige der sogenannten ‚Menschenhändlerbanden‘ sich regelrecht auf Ärzte und Zahnärzte als ‚Kunden‘ spezialisierten, da sie als verlässliche Auftraggeber im Hinblick auf ihr voraussichtlich hohes Einkommen in der Bundesrepublik galten.107 Ebenso weist Detjen auf diese Interrelation als auch die gezielte Verwendung der sogenannten ‚Rückverbindungen‘ hin, um potenzielle Kunden zu finden.108 Erfolgreich geschleuste Ärzte gaben ihren ‚Fluchthelfern‘ Hinweise und Kontaktdaten von Verwandten, ehemaligen Studenten, Kollegen und Freunden, von denen sie wussten, dass diese auch die DDR verlassen wollten. Das MfS war sich dessen sehr wohl bewusst und betonte in den Berichten die ‚Notwendigkeit einer raschen Aufklärung des Freundes- und Kollegenkreises‘ sobald eine Schleusung eines Arztes stattgefunden hatte, um weitere ‚illegale Fluchten‘ zu verhindern.109 Der Geheimdienst stellte fest, „daß sich ständig ein Teil der ausgeschleusten Ärzte aus Feindschaft zur DDR in Menschenhändlerbanden integrierte“, um diese bei der Suche nach neuen Kunden zu unterstützen.110 Laut dem MfS etablierten einige ehemalige DDR-Ärzte in der Bundesrepublik Gruppen mit dem Ziel, mehr Ärzten die Flucht aus der DDR zu ermöglichen.111 Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass geflüchtete Ärzte den MfS-Berichten zufolge oftmals mit großzügigen Krediten als ‚Startkapital‘ und meist unverzüglich mit Angeboten von Arbeitsplätzen ausgestattet wurden.112 Dies könnte eine teilweise Zusammenarbeit der westlichen medizinischen Organisationen, wie vor allem des Hartmannbundes mit seiner Stiftung „Ärzte helfen Ärzten“, mit den ‚Fluchthelfern‘ aufzeigen. FAZIT Wenn jemand gewillt war, der DDR den Rücken zuzukehren, zwang der Mauerbau den potenziellen Flüchtling neue, meist riskantere, Wege zu finden, um die innerdeutsche Grenze zu überschreiten. Hier kamen die sich etablierenden ‚Fluchthelferorganisationen‘ ins Spiel, welche ebenso von Ärzten verwendet wurden. Die Ärzteschaft zeigte hier auf der einen Seite ihre ideologische Gesinnung, vor allem missbilligte sie zu großen Teilen die sozialistische Ideologie als auch 106 107 108 109 110 111

Ebd., S. 276. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 90–91. 23. Januar 1979. Vgl. Detjen (2005), S. 275. Vgl. BStU, MfS, HA XX, 2102, Bl. 92. 23. Januar 1979. Ebd., Bl. 91. Zum Beispiel sei hier der „Chemnitzer Kreis“ genannt, der sich aus ehemaligen Ärzten aus Karl-Marx-Stadt zusammensetzte. Ebd., Bl. 92. 112 Sie würden Angebote wie einen Kredit von 25.000 DM und die Bereitstellung von Räumen erhalten haben, um als ‚niedergelassener Arzt‘ arbeiten zu können. BStU, MfS, HA XX, 11663, Bl. 114. November 1974.

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die führende Rolle der SED. Viele Ärzte erhofften sich im Westen bessere Karriereaussichten, Freiheiten, Möglichkeiten in der medizinischen Forschung und nicht zuletzt ein besseres Einkommen. Die Entscheidung zum Verlassen der DDR basierte auch auf persönlichen und individuellen Umständen113 wie auch auf den, als problematisch angesehenen, Arbeits- und Lebensbedingungen in der DDR. In diesem Licht war die Verwendung der ‚Fluchthelferorganisationen‘ als Hauptmethode der medizinischen Intelligenz, die Grenze zu übertreten, offensichtlich in einer Vielzahl und einem komplexen Zusammenspiel von generellen und individuellen Motiven zu finden. Erstens war die medizinische Intelligenz eine der wenigen Gruppen in der Gesellschaft, welche die Summen von ca. 10.000 bis 15.000 DM (per Kredit, in Erwartung des hohen Einkommens in Westdeutschland, durch West-Verwandtschaft) aufbringen konnten, was die ‚Fluchthelferorganisationen‘ für ihre Dienste verlangten.114 Zweitens, nicht zuletzt diesem Umstand geschuldet, spezialisierten sich die ‚Fluchthelferorganisationen‘ eben auf diese hohen Einkommensgruppen und suchten potenzielle Kunden, indem sie westdeutsche Verwandte, die Leipziger Messen und ‚Rückverbindungen‘ dafür verwendeten, um Ärzte zu finden, die gewillt waren, die DDR zu verlassen.115 Drittens gibt es einige Hinweise darauf, dass westliche medizinische Organisationen mit den ‚Fluchthelfern‘ zusammenarbeiteten, um Ärzten zu helfen, welche zum Beispiel ein Angebot für eine neue Anstellung im Westen angenommen hatten und in den Westen fliehen wollten. Um diesen letzten Punkt umfassend auszuarbeiten und ein vollständiges Bild über die mögliche ‚Abwerbung‘ der ostdeutschen medizinischen Intelligenz zu zeichnen, fehlen Archivmaterialien aus dem westlichen Teil Deutschlands. Vor allem Akten des Bundesnachrichtendienstes und medizinischer Organisationen könnten hierbei eine interessante Perspektive liefern.116 Nichtsdestotrotz ist es offensichtlich, dass die SED sich sehr bewusst über die Problematik des weiteren Verlustes aus den Reihen der medizinischen Intelligenz war, und daher „wurde die ‚Ärzte-Flucht‘ mit großer Sorge gesehen und stand immer wieder im Mittelpunkt ihrer Klagen gegenüber der Bundesrepublik, vor allem in den Sitzungen der Transitkommission“.117 In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass die ideologischen Offensiven und Kampagnen der SED nicht den gewünschten Effekt hatten: Weder konnte die Ärzteschaft davon abgehalten werden, den Dienst von „Menschenhändlerbanden“ für ihre Flucht in Anspruch zu 113 Siehe hierfür zum Beispiel den Fall eines Arztes in Karl-Marx-Stadt, der ohne ersichtliche Gründe, ungeachtet seiner ideologischen Äußerungen, aus seiner leitenden Position in einem Krankenhaus verdrängt wurde und sich am Ende entschied, die DDR zu verlassen und einen Übersiedlungsantrag zu stellen, was trotz des problematischen Arbeitskräftemangels im Gesundheitsbereich von Karl-Marx-Stadt von lokalen Funktionären „freudig begrüßt“ wurde. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 492, Bd. 1, Bl. 1–19 und Bl. 61–66. 114 Vgl. Detjen (2005), S. 257–258. 115 Ebd., S. 275. 116 Anfragen beim Hartmannbund und der Stiftung „Ärzte helfen Ärzten“ nach Unterlagen über diesen Zeitraum blieb leider erfolglos. Auch das BND-Archiv teilte mit, keine relevanten Akten zu diesem Thema zu besitzen. Diese Absagen sind zu bedauern, da es eine umfassende Aufarbeitung dieses Abschnittes der deutsch-deutschen Geschichte verwehrt. 117 Detjen (2005), S. 276.

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nehmen, noch war ein genereller bzw. ausschlaggebender Rückgang an Fluchtversuchen zu verzeichnen. Dies beweist den weiteren Zerfall der Beziehung zwischen Staat und medizinischer Intelligenz sowie den stetig wachsenden Antagonismus zwischen den Ansprüchen der DDR und den alltäglichen Erfahrungen der Ärzte am Ende der 70er Jahre. ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU, MfS, HA XX, 527. BStU, MfS, HA XX, 2100. BStU, MfS, HA XX, 2102. BStU, MfS, HA XX, 7203, Band 1 und 2. BStU, MfS, HA XX, 11663. BStU, MfS, HA XX/ AKG, 6029. BStU, MfS, BV Dresden, AKG, PI 62/80. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2235. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2325. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2432. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2565. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, XX, 2667. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 491, Band 1. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 492, Band 1. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, 493, Band 2. SAPMO-BArch, DY/41/361.

PUBLIZIERTE QUELLEN Direktive des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik 1971 bis 1975 (1974). In: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seine Sekretariats. Band XIII, Berlin, S. 177–332. Direktive des IX. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1976–1980, Beschluß des IX. Parteitages vom 22. Mai 1976 (1980). In: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seine Sekretariats. Band XVI, Berlin, S. 111–253. Gemeinsamer Beschluß des Politbüros des Zentralkomitees der SED, des Ministerrates der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB über weitere Maßnahmen zur Durchführung des sozialpolitischen Programms des VIII. Parteitages der SED, 25. September 1973 (1977). In: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, Band XIV, Berlin, S. 403– 411. Programm der Sozialistischen Einheitspartei, Beschluß des IX. Parteitages vom 22. Mai 1976 (1980). In: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seine Sekretariats. Band XVI, Berlin, S. 30–81. Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968, http://www.verfassungen.de/de/ddr/strafgesetzbuch68.htm (18.11.2013).

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DER LANGE SCHATTEN DER GESCHICHTE. WEITERLEBEN NACH POLITISCHER HAFT IN DER DDR Kornelia Beer Der Artikel stellt den Ertrag einer biografischen Untersuchung von Personen dar, die in der ehemaligen DDR aus politischen Gründen inhaftiert waren. Dazu kommen Angaben aus einer statistischen Untersuchung von Belastungssituationen. Um zu verstehen, wie es zur Inhaftierung kam, ist die jeweilige Vorgeschichte von Bedeutung. Sie ermöglicht es, die Inhaftierung in einer biografischen Linie zu sehen und in der Folge zu zeigen, mit welchen Lebenserfahrungen diese verschränkt ist. Das gemeinsame, von der „Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur“ finanzierte Projekt der Universität Leipzig und der Politischen Memoriale Mecklenburg Vorpommern, sollte die Folgen der politischen Haft für die Betroffenen erforschen; es wurde 2011 in dem Band „Weiterleben nach politischer Haft in der DDR“ in der Reihe „Medizin und Menschenrechte“ veröffentlicht.1 Die beiden folgenden Fallgeschichten2 wurden ausgewählt, weil sie unter anderem zeigen, was es ausmacht, wenn Psychologen und Medizinern der Zugang zu den Erfahrungen der Betroffenen fehlt. Dirk Beier – so sein Pseudonym – wurde 1952 in einer Großstadt in der DDR geboren; er wuchs dort bei seinen Eltern und mit einer jüngeren Schwester auf. Zum familiären Hintergrund hier nur wenige Notizen: Sein Vater war Kommunist und während des Nationalsozialismus neun Jahre in Konzentrationslagern inhaftiert; er flüchtete 1945 auf einem Todesmarsch in die Freiheit. Schon bald nach dem Zusammenschluss der KPD und SPD zur SED trat der Vater 1947 aus dieser Partei aus, weil er den stalinistischen Moskauer Kurs nicht mitgehen wollte. Dirk Beier leistete schon während seiner Schulzeit – wenn auch nicht in so großem Stil wie sein Vater – immer wieder Widerstand gegen Fremdbestimmung. Als beispielsweise die Lehrerkonferenz beschloss, ihn als sehr guten Handballer doch nicht wie geplant auf die Sportschule gehen zu lassen, quittierte er das als 14-Jähriger mit Schulverweigerung. Als 16-Jähriger klebte er 1968 im Zusammenhang mit dem Prager Frühling mit befreundeten Studenten Plakate, auf denen zu sehen war, wie sowjetische Panzer über die Prager Wenzelsbrücke rollten. Daraufhin 1

2

Vgl. Beer/Weißflog (2011). Zu gesundheitlichen, psychischen und psychosozialen Folgen von Repression und politischer Haft in der DDR und Ostmitteleuropa siehe ferner auch Freyberger et al. (2003), Graffius/Hennig (2004), Maercker/Schützwohl (1997), Morawe (2004), Plänkers et al. (2005), Priebe et al. (1996), Seidler/Froese (2006), Spitzer et al. (2007) und Trobisch-Lütge (2004). Vgl. Beer/Weißflog (2011), S. 142–148 und 161–168. In diesem Band sind acht weitere Lebenserzählungen politisch Inhaftierter zusammengefasst.

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wurde er festgenommen, an die Staatssicherheit übergeben sowie drei Tage und Nächte lang, auch unter Schlägen, „verhört“. 1970 wurde Dirk Beier zur Musterung bestellt. Er hatte nicht den Mut, den Dienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) zu verweigern (was Haft bedeutet hätte) und auch nicht, sich für die so genannten Bausoldaten zu melden. Sein „kleiner“ Widerstand sah so aus, dass er einfach nicht zur Musterung erschien. Er wurde daraufhin zwangsweise der Musterung zugeführt und damit bestraft, dass er erst als 26-Jähriger einberufen wurde. Bei der NVA wurde er nach einem halben Jahr ausgemustert, weil er wiederholt umfiel – er sagt, er habe diese körperliche Reaktion durch das Üben von Autogenem Training herbeiführen können. Zur Zeit seiner vorzeitigen Entlassung im Herbst 1978 waren Kommunalwahlen. Dort ging er nicht hin, wobei man wissen muss, dass dies in der DDR nicht ohne Konsequenzen hingenommen wurde. Für ihn war die Folge, dass er nicht an seinen alten Arbeitsplatz zurückgehen konnte; er wurde gezwungen, den Betrieb zu wechseln. Dirk Beier schrieb „bittere, also ganz schöne bittere, gallebittere“ Gedichte über die NVA und die DDR, sympathisierte mit Wolf Biermann und anderen politischen Liedermachern und Schriftstellern, las Bücher von Autoren, die in der DDR verboten waren und gab diese weiter; er töpferte Bierkrüge mit Emblemen der westdeutschen Bundesliga-Fußballmannschaften und verkaufte sie. Und er hatte zwei alte, nicht gebrauchsfähige Waffen aus dem Besitz seines inzwischen verstorbenen Vaters. Das waren die offiziellen Gründe, warum eines Nachts im Herbst 1983 vier zivile Polizisten in seine Wohnung eindrangen, ihn aus dem Schlaf rissen und verhafteten. Er wurde der Staatssicherheit übergeben und kam in Untersuchungshaft. Auf seinen Widerspruch hin wurde er nach zwei Monaten freigelassen, allerdings nur mit vorläufigem Ausweis; er durfte also bis zum Prozess den Wohnort nicht verlassen. Nach der Freilassung hatte er sich sofort auf der Arbeitsstelle zu melden, und da begann für ihn der Leidensweg erst richtig: Man ließ ihn ein Vierteljahr lang außerhalb des Betriebsgeländes kehren. Danach konnte er wieder in die Produktion zurück, allerdings durfte er auch dort nur noch untergeordnete Arbeiten verrichten, wurde ständig gemaßregelt und wegen Kleinigkeiten heftig kritisiert. Insgesamt war diese Situation für ihn zutiefst demütigend und mit der Angst verbunden, doch noch in Strafhaft zu kommen. Dieser Art Schikanen war er insgesamt zehn Jahre ausgesetzt, bis weit nach der Wende, denn personell änderte sich an der Betriebsleitung auch nach 1989 kaum etwas. Es sprach sich außerdem im Betrieb herum, dass er in Haft gewesen war, aber nicht, dass dies politische Gründe hatte. Er selbst konnte und durfte mit niemandem darüber sprechen. Zu der Schwere des Urteils und den Schikanen im Betrieb kam auch noch die tragische Erfahrung in seiner Ehe: Am Tag der Urteilsverkündung unternahm er drei Suizidversuche: Letztlich wurde er von Polizisten mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden und auf die Intensivstation gebracht. Im Krankenhaus lernte er seine zweite Ehefrau kennen. Sie brachte eine fünfjährige Tochter mit in die Ehe, und die beiden bekamen zusammen zwei weitere Kinder. Die Ehe gestaltete sich wegen psychischer Probleme und Alkoholmissbrauch der

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Frau schwierig. Im Frühjahr 1991, also nach der politischen Wende, nahm sie sich das Leben. Aus den Akten erfuhr Dirk Beier, dass seine Frau seit 1983 inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit gewesen war und ihn bis 1989 intensiv ausspioniert hatte. Hier sah er zudem auch, dass seine jüngere Schwester von der Stasi als Spitzel angeworben worden war. Dirk Beier engagierte sich als allein erziehender Vater für seine Kinder. Mit der Auflösung des Kombinates verlor er 1993 seinen Arbeitsplatz. Aufgrund von Albträumen und Ängsten begab er sich in psychotherapeutische Behandlung. Er litt zudem unter starken Rückenschmerzen, die Ausdruck seiner starken psychischen Anspannung und Belastung waren. Zum Zeitpunkt des Interviews im Jahr 2007 war er schon lange Empfänger von Arbeitslosengeld II und erzählte unter Tränen, wie kränkend es für ihn sei, vom Lehrlingsgeld seines Sohnes leben zu müssen. Dirk Beier bekam nach der politischen Wende in der Bundesrepublik weder Opferrente noch wurde ihm Minderung der Erwerbsfähigkeit oder eine berufliche Rehabilitation gewährt. Die Begründung dafür lautete: Es sei nicht nachzuweisen, dass sein beruflicher Werdegang durch die politische Verfolgung beeinträchtigt worden sei. Vier Monate nach unserem Gespräch starb Dirk Beier mit 54 Jahren in seinem Bett – die Diagnose: Herzversagen. In der zweiten Lebensgeschichte führen die Hafterfahrungen zu schweren psychischen Belastungen und zur Erwerbsunfähigkeit: Regina Damm3 wurde 1953 in einem thüringischen Dorf geboren; sie wuchs bei ihren Eltern und zusammen mit zwei Geschwistern auf. Mit 14 begann sie eine Lehre zur Textilfacharbeiterin, als 16-Jährige bekam sie eine Tochter. Mit 17 lernte sie ihre große Liebe kennen. Der neue Freund plante seine Flucht aus der DDR, Regina Damm wollte mit ihm gehen. Die Tochter sollte bei der Großmutter bleiben, Regina Damm wollte sie später nachholen. Über die Konsequenzen dieses Schrittes zur Flucht war sich die damals 17-Jährige noch nicht im Klaren. Sie dachte, dass sie als Minderjährige schlimmstenfalls in einen Jugendwerkhof kommen könnte. Auf der Flucht wurde sie im Wald an der Grenze verhaftet, danach verhört und mit einem Gefangenentransport, dem so genannten Grotewohl-Express,4 schließlich nach Karl-Marx-Stadt in die Untersuchungshaft der Staatssicherheit gebracht. Sie wurde immer wieder nächtelang bei Scheinwerferlicht verhört und erlitt dabei Todesängste, weil alle um sie herum bewaffnet waren. Die andauernden Verhöre führten zu einem Nervenzusammenbruch; sie kam in Einzelhaft und wurde schließlich zu zehn Monaten Haft verurteilt. Dazu wurde sie in das berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck überführt, das zu diesem Zeitpunkt völlig überfüllt war: 1.600 Gefangene, obwohl es lediglich für 200 ausgelegt war. Jeweils 20 Frauen wurden in 24 m² großen Zellen untergebracht. Die meisten von ihnen waren aufgrund krimineller Delikte inhaftiert; es gab zwischen den Häftlingen 3 4

Auch hierbei handelt es sich um ein Pseudonym. Der in der DDR „Grotewohl-Express“ genannte Gefangenentransport war ein Gefangenensammeltransportwaggon der Deutschen Reichsbahn. In ihm wurden in 18 Zellen von 1 m x 1,34 m und einem Isolationsverwahrraum bis zu 90 Gefangene zwischen den Haftanstalten transportiert.

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Gewalt, u.a. sexuelle Misshandlungen. Regina Damm erlitt wiederholt Nervenzusammenbrüche, unternahm Suizidversuche und wurde mit Medikamenten ruhiggestellt. Sie glaubte den Aussagen der „Verhörer“, dass sich ihr Freund und die Familie von ihr abgewandt hätten und verlor immer mehr den Glauben an sich selbst; sie fühlte sich nicht einmal mehr wert, ihr eigenes Kind groß zu ziehen. 1971 verließ Regina Damm die Haftanstalt als gebrochene Person, psychisch schwer belastet. Sie kam zurück in die elterliche Wohnung; ihre Tochter war abgeholt worden und lebte bei den Eltern des Kindsvaters. Regina Damm bekam ihr Kind nicht mehr zu Gesicht. Der Makel, im Gefängnis gewesen zu sein, haftete an ihr; sie erfuhr überall Ausgrenzung, zog sich immer mehr zurück und hatte jegliches Vertrauen in sich und andere Menschen verloren. Nach der Entlassung des Freundes aus der Haft heirateten die beiden und bekamen zwei weitere Kinder. Regina Damm litt an Depressionen und Albträumen, die sie aber nicht mit der Haft in Verbindung brachte. Mit ihrem Mann sprach sie nie über das Erlebte. Vier Jahre später trennte er sich von ihr. Seit 1975 ist sie wegen zahlreicher psychosomatischer Beschwerden, vor allem Schmerzen, Ohnmachtsanfällen und Magenbeschwerden in Behandlung. An der Arbeitsstelle blieben ihr permanente Kontrollen und Schikanen nicht erspart; sie nahm an keinerlei Veranstaltungen des Betriebes teil, weil sie davon ausging, dass sie als Vorbestrafte nicht das Recht dazu habe. Sie bemühte sich darum, nicht aufzufallen, auch, damit ihre Kinder in der Schule keine Schwierigkeiten bekommen. Ihnen gegenüber erwähnte sie ihre Vergangenheit nicht – aus Schutz für die Kinder und aus Scham. Im Zuge der politischen Wende beteiligte sich Regina Damm wieder am gesellschaftlichen Leben, nahm an Montagsgebeten und Demonstrationen teil, verlor in der Menge der Vielen allmählich die Angst, wieder verhaftet zu werden und erhoffte sich aus den Kämpfen für Freiheit auch Gerechtigkeit für sich und die Bestrafung der Täter. 1990 fühlte sie sich stark genug, ihre Tochter zu suchen. Fünf Jahre später kam es zu einer ersten Begegnung, aber eine Mutter-Tochter-Beziehung ließ sich nicht mehr herstellen. Bis 1995 brachte sie noch die Energie auf, für Gerechtigkeit zu kämpfen, bis ihre Hoffnung darauf verschwand, denn Mitte der 90er Jahre wurde aus ihrem Betrieb ein Großteil der Belegschaft entlassen, wohingegen ehemalige Parteifunktionäre Posten und gute Renten erhielten. Aufgrund ihrer tiefen Verletzungen hatte sie sich einen radikalen Umgang mit den Tätern gewünscht. Regina Damm nahm mehr und mehr Psychopharmaka, bis sie davon abhängig wurde. Schließlich wurde sie im Jahr 2000 in die Psychiatrie eingeliefert. Auf einen Medikamentenentzug folgte eine zwölfwöchige Psychotherapie; seitdem ist sie immer wieder in psychologischer Behandlung. Noch immer steht sie unter großer innerer Spannung, leidet unter Albträumen, Magengeschwüren und ist auf Tabletten angewiesen; ihre Lebensqualität ist stark gemindert. 2006 wurde ihr ein posttraumatisches Belastungssyndrom als Haftfolgeschaden anerkannt, seitdem ist sie auf Dauer erwerbsunfähig und Rentnerin.

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Die gesundheitliche Belastung durch politische Haft wurde in unserer Untersuchung in einem eigenen Teilprojekt erhoben. In diesem ersten Teilprojekt erforschte Gregor Weißflog mit Hilfe von Fragebögen die gesundheitlichen Folgen der politischen Haft. Etwa 200.000 Menschen waren in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Die Grundlage für die Datenerhebung und Auswertung zur gesundheitlichen Situation der Betroffenen im Zusammenhang mit der Hafterfahrung bildete eine bereits vorhandene Befragung5: Es lagen 1.288 ausgefüllte Fragebögen bei der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Dresden aus dem Jahr 2003 vor. Daraufhin wurde ein zweiter Fragebogen entworfen, den 156 Betroffene bis zum Jahr 2008 zurücksandten. Alle Daten basieren auf der freiwilligen Selbstauskunft der Befragten. Forschungsleitend für die Erhebung der gesundheitlichen Situation der Betroffenen waren folgende Fragen: In welchem Ausmaß führt die politische Inhaftierung zu kurz- und langfristigen Gesundheitsstörungen bei den Betroffenen? Welche Störungen sind das? Welche Haftbedingungen sind mit welchen Folgen verknüpft? Welche Unterschiede hinsichtlich Erkrankungen und psychosozialen Belastungen bestehen zwischen politisch inhaftierten Menschen und der Allgemeinpopulation? Zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Haftanstalten gab es ganz spezifische Haftbedingungen, dennoch lassen sich allgemeine Aussagen zu den Belastungen finden: Die Haftbedingungen entwickelten sich von anfänglich überwiegend physischer Misshandlung bzw. Folter (in den Zeiten der Sowjetischen Besatzungszone und den Anfangsjahren der DDR) hin zu „subtileren“ psychischen Misshandlungsmethoden (vor allem in der „Ära Honecker“). Es gab extreme körperliche Ausbeutung und Misshandlung, wie Schläge, Schlafentzug, schmerzhafte Körperhaltungen (z.B. andauerndes Stehen) und widrige Arbeitsund Lebensbedingungen sowie psychische Misshandlung wie das Erzeugen von absoluter Unsicherheit und Desorientierung, Schüren von Misstrauen, Wechsel von Gefälligkeiten und Folter, Demütigungen und stellvertretendes Erleben.6 Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht über die Häufigkeit während der Haft erlebter Repressionen (Auswahl):

5 6

Siehe auch Müller, K.-D. (2004). Zu den Haftbedingungen siehe auch Finn (1981), Fricke (1988), Müller, J. (2004), Müller/Stephan (1998) und Wunschik (2003). Zum Kontext der Haftbedingungen, d.h. zur Repression und Justiz in der DDR, siehe ferner Fricke (1990), Bundesministerium der Justiz (1994), Behnke/Fuchs (1995), Werkentin (1997) sowie Raschka (1997), (1998), (2000), (2001) und Korzilius (2005).

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Hafterfahrung

ja

%

Todesdrohung

426

33

Misshandlung

940

73

Ausübung psychischen Drucks

817

63

Haftverschärfung

991

77

Bedrohung

594

46

Verweigerung von Hilfe

715

56

Abb. 1: Spezifische Hafterfahrungen. Datengrundlage: n=1.288

Eine Folge dieser Haftbedingungen waren unter anderem Schädigungen an Organen bzw. Organgruppen: 83 % der Befragten erlitten Schädigungen an Seele und Gemüt, d.h. sie litten vor allem an Depressionen (15,2 %), Angstzuständen (15,2 %), Albträumen und Schlafstörungen (8,9 %). Die Hälfte der Befragten erlitt eine Schädigung der Zähne, die zu 34 % auf Mangelernährung, schlechte Hygiene und mangelhafte zahnärztliche Versorgung zurückgeführt wurden. Knapp 20 % der ehemals Inhaftierten gaben an, auf Grund dessen früher als gewöhnlich Zähne verloren zu haben. 40 % der Betroffenen erlitten Schädigungen an den Gelenken, vor allem Funktionseinschränkungen und Schmerzen. Die Schädigungen der Wirbelsäule bei 37 % der Befragten wurden von 20 % mit schwerster körperlicher Arbeit und schlechten Haftbedingungen in Zusammenhang gebracht. 34 % der ehemals Inhaftierten erlitten eine Schädigung des Magens, die zu 26 % in Verbindung mit der Mangelernährung während der Inhaftierung gebracht wurde. Außerdem wurden Beeinträchtigungen folgender Bereiche genannt: Augen, Arme und Beine, Herz, Hals-Nasen-Ohren, Lunge, Stoffwechsel, Narben, Nieren, Haut und Leber. Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung leiden die in der DDR politisch Inhaftierten heute deutlich mehr unter psychosozialen Belastungen7 wie Ängstlichkeit und Depressivität:

7

Die Messung erfolgte mit der Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS). Die HADS ist ein Fragebogenverfahren zur Selbstbeurteilung von Angst und Depressivität. Sie ist besonders zur Erfassung dieser Dimension bei körperlich Kranken geeignet. Vgl. dazu Herrmann et al. (1995).

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Abb. 2: Vorhandensein von Ängsten und Depressionen8

Eine ähnliche Auskunft ergibt sich bei der Betrachtung der aktuellen Lebensqualität, gemessen an Problemen in verschiedenen Bereichen:9 Durchgängig in allen Bereichen ist die gesundheitliche Situation bei den ehemaligen politischen Häftlingen deutlich schlechter als in der Allgemeinbevölkerung.

8 9

Vgl. Beer/Weißflog (2011), S. 122. Für den Vergleich wurden Daten aus einer Repräsentativbefragung in Hinz/Schwarz (2001) herangezogen. Die Messung erfolgte mit der Skala EORTC-QLQ C30, einem validierten, modular aufgebauten Verfahren zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

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Abb. 3: Lebensqualität nach Hafterfahrungen10 (0 = nicht vorhanden, 100 = sehr stark ausgeprägt)

Die Einschätzung der aktuellen Lebensqualität11 aufgrund verschiedener Symptome ergibt ein noch klareres Bild. Die ehemaligen Häftlinge leiden deutlich mehr unter diesen Symptomen als die Allgemeinbevölkerung.

10 11

Vgl. Beer/Weißflog (2011), S. 125. Die Messung erfolgte ebenfalls mit der Skala EORTC-QLQ C30. Siehe auch Aaronson et al. (1996).

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Abb. 4: Spezifische Einschränkungen der Lebensqualität nach Hafterfahrung12

Im zweiten Teilprojekt wurden zehn biographisch-narrative Interviews13 erhoben für deren Analyse folgende Fragen forschungsleitend waren: Was haben die Betroffenen im Zusammenhang mit der Haft und Verfolgung erlebt? Wie ordnen sich Haft und Verfolgung in die Lebensgeschichte ein? Welche besonderen Belastungen müssen die Betroffenen bewältigen? Wie bewerten sie schließlich diese Belastungen in Bezug auf Gesellschaft und Politik und welche Ansprüche leiten sie daraus ab? Im engeren Sinne stand hier die Frage im Hintergrund, welchen Ausgleich sie für ihre „gesundheitlichen“ Belastungen erwarten. Die Beantwortung dieser Fragen verlangt als Untersuchungshaltung eine Betroffenenorientierung. Es geht einerseits um das Betroffensein von Haft und weiteren Repressionen und andererseits um das Betroffensein von den strukturell gegebenen Schwierigkeiten, diese Erfahrungen bzw. das Belastende zu bewältigen. In die strukturellen Dimensionen gehen die Lebenslage und die Lebensgeschichte in gesellschaftlicher Rahmung ein. „Der methodische Anspruch der Betroffenenorientierung ist es, neue Räume zu öffnen, in denen gesellschaftlich bisher nicht zugängliche, die Selbstintegration überfordernde Erlebnisse und Verhältnisse im interaktiven Dialog neu geordnet werden können. […] Das Konzept der Betroffenheit – in seiner aufdeckenden Funktion – impliziert das Bewusstsein des Niederschlags gesellschaftlicher Zwänge im Subjekt und umfasst so die gesellschaftlich politischen und kulturellen Dimensionen des individuellen Leidens.“14 12 13 14

Vgl. Beer/Weißflog (2011), S. 125. Vgl. Rosenthal/Fischer-Rosenthal (2000). Siehe ferner Fischer-Rosenthal (1996), FischerRosenthal/Rosenthal (1997) und Rosenthal (2005). Arnaud (2011), S. 68.

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Die Haltung der Betroffenenorientierung räumt im narrativen Verfahren den Betroffenen das Recht ein, ihre Erfahrungen selbstbestimmt und in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Bewertung zu äußern. Die Frage nach dem Umgang mit Belastungen im Zusammenhang mit Lebenslagen, lebensgeschichtlichem und sozialem Rahmen und gesellschaftlicher Bewertung wird von Lothar Böhnisch im Konzept der Lebensbewältigung erfasst.15 Dieses sozialpädagogische Konzept ist ein verstehender Ansatz. Er ermöglicht, belastende Erfahrungen und deren Äußerung als biografische Befindlichkeit zu erkennen, kontextuell zuzuordnen und das darauf bezogene Bewältigungsverhalten der Biografen/-innen zu verstehen. Belastungen sind in der Regel in eine kritische Lebenssituation eingebettet. Lebenssituationen werden dann als kritisch erlebt, wenn die bis dahin verfügbaren physisch-psychischen und sozialen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um in ein Gleichgewicht der persönlichen Befindlichkeit und des sozialen Verhaltens zu gelangen. Über die psycho-physische Automatik des Strebens nach Gleichgewicht in kritischen Lebenssituationen ist einiges aus der Stressforschung bekannt: Die Coping-Theorie geht davon aus, dass die Bewältigung von Stresszuständen so funktioniert, dass sich der Körper gegen eine Stresssituation, die für den Betroffenen unübersichtlich und deshalb rational nicht mehr kalkulierbar ist, zu wehren versucht und nach der Wiedererlangung eines Gleichgewichtszustandes um jeden Preis strebt. In diesem Verständnis kann ein solches Streben nach Gleichgewicht auch eine suizidale Haltung antreiben. Bewältigungskonstellationen können auch Krankheiten bis zum Tod mit hervorrufen. Sind Personen in kritischen Lebensumständen psychisch und sozial desintegriert oder isoliert, kann sich das psychosoziale Ungleichgewicht verstärken: Selbstwert, soziale Anerkennung und das Gefühl, etwas bewirken zu können – das magische Dreieck der Bewältigung – sind gefährdet oder gehen verloren. Es setzt ein psychosozialer Automatismus ein, um diesen Gleichgewichtszustand wieder zu erlangen. Diese Suche nach Gleichgewicht ist sozial gerichtet, aber auch gleichzeitig psychosomatisch angetrieben und ermöglicht, zumindest für eine gewisse Zeit lang handlungsfähig zu bleiben. Das kann auch um den Preis der Normabweichung oder gar des sozial destruktiven oder selbstdestruktiven Verhaltens sein. Nur so ist das manchmal Irrationale im Bewältigungsverhalten von Betroffenen zu erklären, das ihnen selbst nicht bewusst ist und sie mehr treibt, als sie es selbst beabsichtigen. In diesem Verhalten finden sich Botschaften, die entschlüsselt und zum Sprechen gebracht werden können. Das ist eine zentrale Aussage im Konzept der Bewältigungslagen von Böhnisch/Schröer. Eine Voraussetzung für eine Offenheit im Über-Sich-Sprechen-Können ist wiederum deren soziale Anerkennung und anerkennende gesellschaftliche Wahrnehmung.16 Die Entscheidung für ein narratives 15 16

Vgl. Böhnisch/Funk (2002), S. 9–11 und Böhnisch (2008), S. 33–34. Vgl. Böhnisch/Schröer (2012), S. 105–107. Das Konzept der Bewältigungslagen ist ein soziologisches Konzept, das auf sozialstaatlich gerahmte Gesellschaften zugeschnitten ist.

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Erhebungsverfahren gab nun also den Interviewpartnern/-innen die Möglichkeit, die Haft- und andere Verfolgungserfahrungen lebensgeschichtlich einzuordnen. In der Interpretation der Lebenserzählungen zeigte sich, dass die Haft in neun17 der zehn Fälle eine zentrale Lebenserfahrung ist. Gleichzeitig wird durch die biografische Einordnung deutlich, dass die Haft innerhalb der gesamten Lebensgeschichten eine Bedeutung in Zusammenhang mit anderen zentralen lebensgeschichtlichen Themen bekommt, die die gesundheitlichen Belastungen verstärken. Nicht wenige der in den Erzählungen enthaltenen, direkt und indirekt genannten Belastungsdimensionen stehen in Verbindung mit der Familiengeschichte: In einem Fall wird die Erzählung von der Haft in die Vertreibungsgeschichte der Familie und den damit verbundenen Verlust und die existenzielle Sorge eingebunden, die sich durch die Haft und deren Folgen zur Dauerbelastung manifestieren.18 Dirk Beier ordnet die eigene Verfolgungsgeschichte in die Verfolgungsgeschichte des Vaters ein, der neun Jahre – und davon einige Zeit als Funktionshäftling – in Konzentrationslagern inhaftiert war. Aus der Beziehung zum Vater mit seiner besonderen Geschichte ergeben sich für ihn über Jahrzehnte anhaltende Belastungen. In einem anderen Fall stellt die Interviewpartnerin einen Teil ihrer Belastungen in den Zusammenhang mit dem Tod des krebskranken Vaters während ihrer Haftzeit.19 In einer weiteren Lebenserzählung sind wesentliche Belastungen auf das Erleben der Verfolgung und Inhaftierung des eigenen Vaters als „Zeuge Jehovas“ zurückzuführen.20 Das heißt: Einige Belastungsdimensionen der Betroffenen werden durch die eigene Hafterfahrung erst ausgelöst, manifest oder aktualisiert. In ihrer Art und Intensität sind sie aber nur vor dem biografischen Hintergrund der bzw. des Einzelnen zu verstehen. Eine häufige direkt oder indirekt genannte Belastungsdimension stellen die Schuldgefühle gegenüber den Kernfamilien dar, die aufgrund dessen in schwierige Situationen gerieten: Z.B. mussten in einem Fall die Eltern und Geschwister des Inhaftierten über die deutsch-deutsche Grenze fliehen und verloren ihren landwirtschaftlichen Besitz sowie alles Hab und Gut. Eine Betroffene erzählte, dass aufgrund des Todes des Vaters während ihrer Haft, die Mutter allein für die kinderreiche Familie zu sorgen hatte. Regina Damm wurde im Zusammenhang mit der Inhaftierung die einjährige Tochter weggenommen, zu der sie nie wieder eine Beziehung aufbauen konnte. Dirk Beier hatte immer das Gefühl, aus seinem Leben nicht genug gemacht zu haben. Diese und andere Erfahrungen lösten bei den Betroffenen bis heute anhaltende Schuldgefühle aus.21 Andere Belastungsdimensionen stehen im Zusammenhang mit den Erfahrungen nach der Haft. Dazu gehört, wie im Fall von Dirk Beier, die demütigende Erfahrung jahrelanger Schikanen bis 17

18 19 20 21

Eine Ausnahme bildet der Fall eines Biografen, der aufgrund seiner Glaubensüberzeugung als Zeuge Jehovas die bewusste Entscheidung für die Wehrdienstverweigerung einschließlich der damit verbundenen Konsequenz der Inhaftierung traf. Er stellt die Haft als nicht zentral, sondern als Episode seines gelebten Glaubens dar. Beer/Weißflog (2011), S. 133–141, 208–223 und 254–255. Ebd., S. 149–155, S. 239–253, S. 256–257. Ebd., S. 177–183, S. 262–263. Ebd., S. 270.

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nach der politischen Wende, zunächst von Seiten der leitenden Funktionäre und davon ausgehend auch von Seiten der Mitarbeiter. Eine weitere, langfristig belastende Erfahrung von Betroffenen ist diejenige, dass aufgrund der Inhaftierung die angestrebte bzw. begonnene berufliche Entwicklung abgebrochen bzw. verhindert wurde. Das hat zur Folge, dass sie in ihrem Erwerbsleben auf einen angemessenen Qualifikationsstatus verzichten und damit niedrigere Einkommen in Kauf nehmen mussten und müssen. Ebenfalls langfristig belastend für Betroffene ist die Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Sie löst zum einen soziale Isolation, zum anderen existenzielle Sorge aufgrund der geringen Arbeitslosengeld II-Bezüge aus. Im Fall von Regina Damm führte die Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung zur Erwerbsunfähigkeit und damit Berentung. Eine andere belastende Erfahrung nach der Entlassung aus der Haft, von der mehrere Interviewpartner/-innen erzählen, ist die Angst vor (weiterer) Bespitzelung durch die Staatssicherheit und vor erneuten Repressalien.22 Als Belastungen, die unmittelbar mit der Haft zusammenhängen, wurden in den Interviews vor allem die oben bereits genannten gesundheitlichen und psychischen Folgen sowie Schamgefühle analysiert. Einige Belastungen stehen im Zusammenhang mit der Hafterfahrung, kommen aber erst nach der politischen Wende zum Tragen. Von allen Interviewpartnern/-innen wird das Erleben von Ungerechtigkeit in Bezug auf den Täter-Opfer-Status angesprochen. Die Mehrzahl der Interviewten empfindet diese Erfahrung als besonders schwerwiegend: Sie leiden darunter, dass Täter nie bestraft wurden. Dabei beziehen sie sich vor allem auf die fehlenden Konsequenzen für die SED- und Stasifunktionäre in Betrieben, die nach der Wende ihre Posten behielten und zum Teil Privilegien nutzen konnten, während die Opfer gemobbt oder mit Entlassung bedroht wurden bzw. ihren Arbeitsplatz verloren. Ebenso inkonsequent wurde die Bereinigung gesellschaftlicher Positionen erlebt, die von Tätern zum Teil bis heute eingenommen werden. Bei Regina Damm z.B. hat die Erfahrung, dass trotz allen Kampfes zur Zeit der politischen Wende und danach keine Gerechtigkeit im Sinne von Konsequenzen für die unmittelbaren Täter wie Bedienstete in der Haftanstalt sowie für die Funktionsträger in Staat, Partei und Betrieben, erreicht wurde, den bis heute anhaltenden völligen psychischen Zusammenbruch erst ausgelöst. In einem Fall wird noch eine andere Dimension der Belastung in Bezug auf den Status der Täter deutlich: Es ist die Enttäuschung über die Unaufrichtigkeit der Täter, die nicht bereit sind, moralische Verantwortung zu übernehmen. Eine weitere Dimension dieser Belastungen sind die Rentenzahlungen an damalige Funktionäre, während die Opfer häufig aufgrund ihrer gebrochenen oder verhinderten beruflichen Entwicklung finanziell benachteiligt sind und viele Jahre lang um eine symbolische materielle Anerkennung in Form der Opferrente kämpfen mussten. In diesem Zusammenhang wird von einigen Betroffenen die fehlende gesellschaftliche Anerkennung ihrer Opfererfahrungen als Belastung angesprochen. Dazu gehört auch die Enttäuschung über Politiker, die kein Interesse für die Opfer der ehemaligen DDR zeigen und nicht für deren Belange 22 Ebd., S. 271.

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eintreten sowie die Unwissenheit in der Bevölkerung und unter den Experten (wie Ärzten und Psychologen) über die Repressionen der DDR-Diktatur. Es ist fatal, wenn die Patienten/-innen, also die Opfer als psychologische Opfer, als Opfer ihrer individuellen Lebensgeschichte verstanden werden, denn real sind sie Opfer einer politischen Situation. Die Belastung durch den Bruch in der beruflichen Entwicklung wird durch die fehlende berufliche Rehabilitierung und die fehlende Unterstützung im Kampf um einen angemessenen Arbeitsplatz verstärkt und manifestiert.23 Am Ende dieses Konglomerats von Belastungserfahrungen steht die Frage, welche Ansprüche daraus entstehen, was den Betroffenen neue Handlungsspielräume geben würde und was sie als Ausgleich gerecht finden. Dazu reflektieren die Betroffenen ihre Belastungen im Verhältnis zu dem, was ihnen gesellschaftlich bisher zugestanden wurde und wird: Die Bewilligung der Opferrente empfinden fast alle Interviewten als erfreulichen materiellen Zuschuss und als „Schritt in die richtige Richtung“, der gerade bei denjenigen Betroffenen, die Arbeitslosengeld II oder aufgrund der gebrochenen beruflichen Qualifizierung sehr niedrige Einkommen oder Renten erhalten, zur Sicherung der Existenz beiträgt. Dennoch kritisieren sie, dass dies in keinem angemessenen Verhältnis zu den Renten der ehemaligen Stasimitarbeiter oder Entschädigungszahlungen an die NS-Opfer steht und vor allem für die älteren und bereits verstorbenen Opfer viel zu spät gekommen ist.24 Einigen Opfern, z.B. Dirk Beier, bleibt diese Unterstützung verwehrt, weil er das Kriterium der „Mindesthaftdauer“ von sechs Monaten nicht erfüllt. Regina Damm wiederum empfindet die Opferrente in einer spezifischen Weise auch als Kränkung; für sie wäre es gerechter, wenn die Täter direkt und nicht die Steuerzahler für einen Ausgleich sorgen würden.25 Als notwendiger Ausgleich wird auch der Wunsch nach gesellschaftlicher und politischer Anerkennung der Opfererfahrung deutlich. Bisher werden die Betroffenen mit ihren Belastungen und Erfahrungen in der Gesellschaft kaum wahrgenommen, ihre Situation wird erinnerungspolitisch wenig diskutiert. Das Fehlen des historisch-politischen Wissens in der Gesellschaft als Grundlage der Anerkennung der Erfahrungen führt für die Betroffenen zu bis heute anhaltenden Schwierigkeiten, über ihre Erfahrungen zu sprechen, aus Angst, damit nicht verstanden oder deswegen stigmatisiert zu werden.26 Vor allem wird dieses Wissen auch für die professionellen Helfer/-innen eingeklagt, denn ohne die politisch-historische Dimension von Gewalt lassen sich die individuellen Strategien der Vergangenheitsbewältigung von Betroffenen nicht verstehen und kann Hilfe nicht nachhaltig wirksam sein. Ein ebenfalls fehlender sozialpolitischer Ausgleich für die Hafterfahrungen betrifft die berufliche Rehabilitierung bzw. die Unterstützung bei der Arbeitssuche.27 Die behinderte oder abgebrochene berufliche Entwicklung bedeu23 24 25 26 27

Beer/Weißflog (2011), S. 271–272. Zur Opferentschädigung siehe auch Guckes (2008). Vgl. Beer/Weißflog (2011), S. 273. Siehe ferner auch Boll (2003). Vgl. Beer/Weißflog (2011), S. 274.

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tet für die meisten Betroffenen lebenslange Nachteile bei der Arbeitssuche, in Bezug auf den Status und das Einkommen vor allem nach der politischen Wende – sie bleiben benachteiligt und bleiben Opfer. Angemessen wäre eine besondere Förderung der Betroffenen in Bezug auf berufliche Qualifizierung und Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ein Anspruch, der von vielen Betroffenen formuliert wird und bisher überwiegend uneingelöst blieb, ist die Bestrafung der Täter. Aus der Traumaforschung ist bekannt, dass die rechtliche Aufarbeitung von Unrecht die individuelle Verarbeitung beeinflusst. Die Verurteilung einer Tat und die damit verbundene öffentliche Benennung von Unrecht leistet einen bedeutenden Beitrag für die Rehabilitierung der Opfer. Wenn es für das Leiden des Opfers keine anerkannte Ursache gibt, bleibt es damit allein, es kann die belastende Erfahrung kaum verarbeiten. Für das Opfer bleibt das Gefühl, selbst schuld an dem Leiden, nicht stark genug und damit „ungenügend“ oder „minderwertig“ zu sein.28 Über die Anklage der Täter wird in unserer Gesellschaft am wenigsten nachgedacht, der Verantwortungsdiskurs wird nicht geführt. Völkerrechtlich gilt das Zur-Verantwortung-Ziehen als die weitreichendste Dimension von Aufarbeitung (vgl. z.B. die Wahrheitskommissionen in Südafrika). Wenn Täter zur Verantwortung gezogen werden, ist die Tat bzw. aus der Sicht der Betroffenen das Erlebte als Gewalt benannt – vorher gilt es als Trauma und damit als persönliches Problem. Konkret heißt das, dass es möglich sein muss, die Belastungen in den Kontext zu stellen, aus dem sie kommen und sich nur so Anknüpfungspunkte finden lassen für selbstwirksame, Selbstwert und soziale Anerkennung vermittelnde, also kohärente, Erfahrungen.29 Juristisch ist eine Bestrafung der Täter nicht mehr möglich, aber die Forderung nach einem moralischen Ausgleich, nach einem Verantwortungsdiskurs, bleibt bestehen. Ein menschenwürdiger Umgang mit Opfern beinhaltet auch den Anspruch auf finanziellen Ausgleich für erlebtes Unrecht und gesundheitliche Belastungen. Unsere Untersuchung über einen notwendigen Ausgleich der Hafterfahrungen überschreiten aber notwendigerweise das Verfahren des Ausgleichs der Belastungen durch eine Geldzahlung wie die Opferrente. In diesem Sinne ist auch der institutionelle Rahmen für die medizinische Behandlung und versicherungsmäßige Befragung und Ausforschung der Betroffenen kritisch zu sehen. Das folgende Zitat von Dirk Beier drückt aus, wie diese Ausforschung als Übergriff und Ohnmacht erlebt wird: „Es ist ein ganz beschissenes Gefühl, ist wieder das Gefühl der Ohnmacht. Gegen die, die die Gesetze gemacht hab’n, kommst du gar nicht an. Das ist wieder ein Gefühl der Ohnmacht, so genau dasselbe. Das fängt schon wieder an: Ich sollte von der Krankenkasse aus zu einer Reha-Kur. Da muss ich mich ja wieder begutachten lassen von Ärzten. Das gibt mir wieder

28 29

Vgl. Kühner (2003), S. 102. Das sind die Kriterien des sozialpädagogischen verstehenden Ansatzes für (Lebens-)Bewältigung von Böhnisch (2008), S. 33–34.

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das Gefühl du bist wieder abhängig von Menschen, wieder abhängig von Leuten, die dir in den Hintern gucken.“30

Aus der Perspektive der Lebensbewältigung ist eine solche Abhängigkeit ein Zwangs- und damit Gewaltverhältnis, weil darin die Bewältigungslage durch Entwertung, Stigmatisierung, faktische Entmündigung, Verwehrung von Teilhabe und Optionsverlust eingeengt ist.31 Wie in anderen zeitgeschichtlichen Beispielen von Ausgleich und Gerechtigkeit32 geht es auch für die ehemals politisch Inhaftierten um die Übernahme von Verantwortung für zugefügtes Leid in Verfahren gerechter Aufarbeitung. Wenn niemand für das Leid aus Verfolgung, Haft und anderen Repressionen zur Verantwortung gezogen wird, sind die Chancen für die Betroffenen gemindert, Perspektiven der Lebensbewältigung zu entwickeln. In Politik und Gesellschaft braucht es andere Diskurse der Aufarbeitung, und die Betroffenen müssen die Chance erhalten, sich an diesen Diskursen zu beteiligen. Diese Notwendigkeit drückt Regina Damm in einer Passage ihrer Erzählung aus: „Ja, wissen Sie wie anstrengend die Therapie in Erlabrunn war? Weil ich nur am Erklären war. Ich hab’ für mich nicht selber irgendetwas Positives getan. Ich war nur am Erklären, um nicht falsch verstanden zu werden. Um jemandem, die aus dem Westen kam, klar zu machen, wie das war.“33

Es ist nicht zu überhören, wie weit die Verantwortung auch der Medizin gegenüber diesen Opfern reicht.

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30 31 32 33

Vgl. Beier (2007), unveröffentlichtes anonymisiertes Transkript, S. 274. Die Zitate sind für die bessere Lesbarkeit in einer flüssigen Sprache und ohne Transkriptionszeichen dargestellt. Vgl. Böhnisch/Schröer (2012), S. 105–107. Kühner (2003), S. 99–100. Vgl. Damm (2007), unveröffentlichtes anonymisiertes Transkript (2007), S. 273.

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II. MEDIZINETHISCHE PROBLEME IN DER DDR VOM BEGINN ZUM ENDE DES LEBENS

„ALLE KINDER SOLLEN WUNSCHKINDER SEIN.“1 SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH UND BIOETHIK IN DER DDR Andrea Quitz Die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Paragraph 218 des Strafgesetzbuches sorgte in der Bundesrepublik über mehrere Jahrzehnte für politische und ethische Debatten.2 Erst nach der deutschen Wiedervereinigung kam es 1995 zu der jetzt gültigen Gesetzesänderung, wonach der fristgerechte beratene Abbruch für alle Beteiligten nicht strafbar ist. Seitdem stehen vordergründig andere Themen im Mittelpunkt bioethischer Diskussionen, wobei Debatten zum Lebensbeginn von der Präimplantationsdiagnostik über den Status des Embryos oder Spätabbrüche weiter die Relevanz des Themenfeldes unterstreichen und damit auch eine differenzierte zeithistorische Bearbeitung nahe legen.3 Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über die diesbezügliche wechselseitige Beeinflussung von DDR und Bundesrepublik fehlt bislang. Auch gibt es noch keine Aufarbeitung der ethischen Legitimationskonzepte zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR. Im vorliegenden Beitrag sollen die Argumentationsmodelle zur Medizinethik am Lebensbeginn in der DDR dargestellt und historische Bezüge aufgezeigt werden. Während in der Bundesrepublik der Schutz des ungeborenen Lebens im Mittelpunkt der Diskussion stand, verfolgte man in der DDR staatspolitische Ziele im Sinne einer sozialistischen Kollektivethik.4 VORGESCHICHTE: DIE EINFÜHRUNG DER FRISTENLÖSUNG Das DDR-Gesetz zur Unterbrechung der Schwangerschaft von 1972 galt gemeinhin als ein Meilenstein in der Verwirklichung von Frauenrechten.5 Es beinhaltete das Recht der Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer Zeitspanne von zwölf Wochen, der so genannten Fristenlösung. Die ethische Brisanz der Legitimierung dieses Gesetzes war bis heute kein Thema wissenschaftlicher Betrachtungen. 1 2 3 4 5

Körner (1986), S. 143–144 sowie auch Henning (1984), S. 61. Jerouschek (1988) und Jütte (1993). Heyer/Dederer (2007), Maio (2007) und Wewetzer/Wernstedt (2008). Zu den Hintergründen siehe auch Quitz (2013). Körner (1986), Henning (1984) und Kraatz/Körner (1981).

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Während in der Bundesrepublik jahrelang um den Paragraphen 218 gerungen wurde und die politische Diskussion im Verlauf von langwierigen ethischen Debatten begleitet war,6 erfolgte in der DDR die eigentliche ethische Auseinandersetzung erst nach dem Beschluss des Gesetzes. In der Bundesrepublik gingen die Überlegungen der Befürworter einer Fristenlösung in Richtung eines Hilfsangebotes für Schwangere. Von den außerordentlich schwierigen Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus ausgehend, auf die der Passus über die Unantastbarkeit der menschlichen Würde im Grundgesetz zurückgeht, leitete man auch den Schutz ungeborenen Lebens vor willkürlichen Eingriffen ab. In der DDR ging es dagegen nicht um den unbedingten Schutz keimenden Lebens, sondern um das Kriterium der Gesamtentwicklung der mütterlichen Persönlichkeit.7 Margot von Renesse, Juristin und als SPD-Politikerin langjährige Vorsitzende der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, die zentrale Debatten um den Paragraphen 218 in der Bundesrepublik mitgestaltete, vertritt Positionen, die auch für heutige Debatten um Embryonenschutz und Präimplantationsdiagnostik eine wichtige Rolle spielen. Demnach beginnt menschliches Leben mit der Zeugung: „Denn von diesem Augenblick an setzt ein lebensgesteuerter Prozess ein, in dem sich ein eigenständiges Menschenkind mit von den Eltern unabhängiger Persönlichkeit entwickelt. Dabei ist es für den Gesetzgeber, der weltanschaulich neutral sein muss, nicht entscheidend, wie genau der Beginn einer eigenständigen Rechtsposition zu bestimmen ist. Jede Definition von menschlichem Leben, die später einsetzt als mit der Zeugung, steht in der Gefahr, willkürlich nach Sichtweise und Interessen Dritter bemessen und entsprechend willkürlich ausgeweitet zu werden. Der Staat ist zum Schutz und zur Förderung allen menschlichen Lebens, also auch des [Lebens] von frühen Embryonen, verpflichtet. Denn Menschenwürde und Lebensrecht sind nicht nur Grundrechte, sondern auch Ziele staatlichen Handelns.“ 8

Von weltanschaulicher Neutralität konnte in der DDR jedoch keine Rede sein, der eigene ideologische Wahrheitsanspruch galt als unanfechtbares Dogma.9 Die Auseinandersetzung mit der so genannten „bürgerlichen Ideologie“ geschah in der offiziellen Philosophie und Ethik lediglich mit dem Ziel ihrer Widerlegung. Damit folgte man einem vorgegebenen dichotomen Welt- und Feindbild. Dass ein derartig simples Gedankenkonstrukt eine differenzierte Auseinandersetzung nahezu ausschloss, kann an dieser Stelle nur angedeutet und unten weiter ausgeführt werden. Die besondere Konstellation zweier deutscher Staaten brachte es mit sich, dass sich die DDR trotz der Defizite bezüglich ihrer Ökonomie und Menschenrechte als „das bessere System“ verstand und dies auch zu beweisen versuchte.

6 7 8 9

Jütte (1993) sowie Jerouschek (1988) und Eser (1990). Eisfeldt (1980), S. 40. Fischer/Renesse (2001), S. 11. Siehe u.a. Kulturbund der Deutschen Demokratischen Republik (1978) und Morche (2006).

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ZUM MEDIZINETHISCHEN DISKURS IN DER DDR Die ethische Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch in der DDR, sofern sie denn stattfand und sich schriftlich niederschlug, kann drei Bereichen zugeordnet werden: Den offiziellen Part bestimmte die marxistisch-leninistische Philosophie und Ethik, die in den Instituten für Marxismus-Leninismus bzw. in den Akademien angesiedelt waren. Berlin, Halle und Leipzig waren in dieser Hinsicht führend. Darüber hinaus gab es eine Reihe von Ärzten, die sich ethischen Fragen widmeten, dabei jedoch das staatliche Dogma nicht wesentlich hinterfragten. Gemäß der Posttotalitarismus-These, dass sich eine gesellschaftliche Spaltung im Sinne einer „Parallelgesellschaft“10 vollzog, gab es ethische Bemühungen außerhalb des offiziellen Kanons, hauptsächlich in kirchlichen bzw. oppositionellen Kreisen. Als Beispiel wäre der Wittenberger Arbeitskreis „Wissenschaftsethik“ zu nennen.11 Allerdings sahen sich derartige Gruppen geheimdienstlichen Aktivitäten durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ausgesetzt, die in der Regel zu erheblichen beruflichen und persönlichen Nachteilen für die Aktivisten führten und es mit sich brachten, dass schriftliche Quellen kaum vorhanden sind. In den 1950er und 60er Jahren tritt die Ethik als Disziplin kaum in Erscheinung, die Marxisten widmeten sich ihren propagandistischen Aufgaben. Erst ab den 70ern und vermehrt in den 80ern ist eine Hinwendung zu ethischen Problemen sichtbar; die Ergebnisse offizieller Ethik sind jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, eher als trivial und wenig konkret zu charakterisieren.12 Eine grundlegende Idee marxistischer Ideologie ist die Unterordnung des Individuums unter die Belange des Kollektivs. Insofern spielen Individualrechte in der Ethik eine untergeordnete Rolle, was zwangsläufig mit der patientenorientierten Sicht in der Medizin kollidiert. Am Beispiel der Thematik Schwangerschaftsabbruch soll die ideologische Beeinflussung der medizinischen Ethik genauer dargestellt werden. HISTORISCHE HINTERGRÜNDE DER ABTREIBUNGSREGELUNG Die Orientierung der Geburtenregelung an gesellschaftlichen Bedürfnissen zeigt sich bereits in den Diskussionen um den Paragraphen 218 im ausgehenden 19. Jahrhundert. Hier wurde die Position, dass Fortpflanzung keine Privatangelegenheit, sondern Sache der Gesellschaft sei, als „sozialistisches Prinzip“ gebrandmarkt.13 In der Weimarer Republik war die Abtreibung ein weit verbreitetes 10

11 12 13

Vgl. hierzu Thompson (2002); er teilt – ausgehend von Linz/Stepan (1996) – einige kommunistische Systeme, darunter auch die DDR, in „early“ (50er/60er Jahre), „frozen“ (70er/80er Jahre) und „paralysed post-totalitarism“ (1988–89) ein. Die zweite Phase setzt nach Thompson etwa mit dem Prager Frühling 1968 ein. Für die DDR ist es jedoch sinnvoll, erst in der Honecker-Ära ab Mitte der 70er Jahre von der zweiten Phase zu sprechen, da sich bestimmte Merkmale erst unter seiner Regierung zeigten. Vgl. Herzberg (1996). Ebd. sowie Quitz (2013). Seidler (1993), S. 136.

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Phänomen und Befürchtungen bezüglich einer Stagnation der Geburtenraten und möglicher Deszendenz bestimmten die Debatte. Liberale und links orientierte Ärzte begannen sich für ein Recht auf Abtreibung öffentlich einzusetzen, hatten allerdings eine Außenseiterposition.14 Das erste Land, das den Schwangerschaftsabbruch legalisierte, war die Sowjetunion im Jahr 1917. 1920 schrieb sie das Recht auf kostenlose Abtreibung in Krankenhäusern fest.15 Das beflügelte deutsche Sexualreformer und Linke bezüglich ihrer Argumentation. Die deutsche KPD nutzte darauf aufbauend die Idee der Selbstbestimmung der Frau, um eine Legalisierung der Abtreibung zu begründen. Mit dieser konkreten Forderung wollte die KPD 1922 die proletarischen Frauen für die Sache des Klassenkampfes mobilisieren und okkupierte in den politischen Auseinandersetzungen das Thema für sich.16 Typisch für die Debatten der Weimarer Republik war, dass es weniger um die ethische Dimension der Abtreibung ging, sondern um Bestand und Stärke der Nation. Das Hauptargument von Sozialisten und Kommunisten war, dass der Paragraph 218, der die Abtreibung verbot, ein Klassenparagraph sei und vor allem den Armen schade.17 Für die spätere rechtliche Bewertung wurde eine Entscheidung des Reichsgerichts von 1927 relevant, bei der es um die medizinische Indikation einer Abtreibung ging und die im Rahmen einer Rechtsgüterabwägung das ungeborene Leben gegenüber dem Leben und der Gesundheit der Mutter als geringwertiger einstufte.18 Hierauf beruhte in weiten Teilen Deutschlands bis in die 1970er Jahre die Rechtsprechung bezüglich der Straffreiheit medizinisch indizierter Interruptionen. Das 1935 eingeführte „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verschaffte der medizinischen Indikation eine gesetzliche Grundlage. Das Strafmaß für nicht darunter fallende Abtreibungen wurde 1943 verschärft und sah als Rechtsgut die „deutsche Volkskraft“ als maßgeblich an. Typisch für die Zeit des Nationalsozialismus war nicht der Schutz ungeborenen Lebens, sondern Geburtenregelung und „Biopolitik“ gemäß eugenischer, rassischer und bevölkerungspolitischer Ziele.19 Das Kriegsende 1945 bildete hier eine Zäsur; prinzipiell galten die Regelungen von 1927. Auch angesichts von Massenvergewaltigungen entwickelten sich Rechtsprovisorien, die in einigen Ländern kriminologische, soziale und medizinische Indikationen vorsahen. 1950 kam es in der DDR zu einer gesetzlichen Anpassung an die inzwischen restriktivere sowjetische Variante. Das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ sah eine medizinische und eugenische Indikation vor, 1965 wurde die soziale Indikation hinzugefügt.20 Bezogen auf die Bundesrepublik zeigt Gante, wie sich die Güterabwägung im ärztlichen Denken ausweitete, zu einer moralischen Relativierung überging und ethische Aspekte dem Nützlichkeitsden14 15 16 17 18 19 20

Zur Debatte in der Weimarer Republik Dienel (1993), S. 154–168 sowie Frewer (2000). Dienel (1993), S. 163 und Schwartz (2008), S. 191. Stalin beschnitt dieses Recht 1936 jedoch wieder. Dienel (1993), S. 165–167. Ebd., S. 168. Gante (1993), S. 170. Ebd., S. 171–172. Vgl. Gundulis (2003), S. 116 und Schwartz (2008), S. 191.

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ken untergeordnet wurden, besonders in den 60er und 70er Jahren. Die Mehrheit der Ärzte jedoch stand der Abtreibung weiter ablehnend gegenüber.21 Ein Alternativentwurf, der eine Fristenlösung mit Beratungspflicht vorsah, wurde 1970 initiiert und 1971 bzw. 1973 als Gesetzesvorlage in den Bundestag eingebracht. 1971 kam es zu einer medienwirksamen Selbstbezichtigungskampagne in der Zeitschrift „Stern“, die das Thema Abtreibung und die Forderung nach einer Fristenlösung in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses rückte.22 Fortan bestimmte die Diskussion um die Modelle „Fristenlösung“ versus „Indikationslösung“ das Ringen um die Novellierung des Abtreibungsgesetzes in der Bundesrepublik. Die Argumentation der Befürworter der Fristenlösung ging dahin, kriminelle Abtreibungen, die das Leben der Frauen gefährden, zu verhindern und „abtreibungswilligen Schwangeren durch eine zeitlich begrenzte Rücknahme der Strafdrohung den Weg zur Beratung zu ebnen, um sie durch Aufklärung über soziale Hilfen zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu bewegen.“23 Diese Argumentation ging in eine völlig andere Richtung, als die Begründung der Regelung, die – sicher nicht unabhängig von der bundesdeutschen Debatte – 1972 in der DDR in Kraft trat. Allerdings gleichen sich einige Argumente wie das so genannte „Kurpfuscher“Argument, bei dem mit tödlichen Folgen oder gesundheitlichen Schäden illegaler Abtreibungen zum Teil auf Basis übertriebener Zahlen diskutiert wurde.24 Die bundesdeutsche Debatte führte erst 1976 zu einer Gesetzesänderung in Richtung einer Indikationslösung, war aber damit noch nicht beendet. Die innenpolitische Konstellation befand sich bis zum Ende der 80er Jahre in einer Pattsituation. In der DDR bewirkte die Einführung der Fristenlösung einen sprunghaften Anstieg der Abbruchszahlen,25 was den Gegnern dieser Regelung wiederum eine Argumentationsgrundlage bot. Als das Gesetz in der Volkskammer der DDR verabschiedet wurde, stimmten 14 Abgeordnete der CDU – und das war einmalig – gegen das Gesetz.26 Vorher galt das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau von 1950, welches Abtreibung unter medizinischer, sozialer, ethischer und eugenischer Indikation vorsah.27 Als vordergründige Argumentation galt im Rückgriff auf die Weimarer Tradition der Linken die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Frau. Die Präsentation als progressiver Staat im Hinblick auf die westdeutsche Konkurrenz bestimmte sehr wahrscheinlich den Zeitpunkt der Gesetzesnovelle in der DDR. Eine bundesdeutsche Neuregelung wurde erst nach der Wiedervereinigung 21 22 23 24 25 26 27

Vgl. Gante (1993), S. 180–184. „Wir haben abgetrieben. 374 deutsche Frauen halten den § 218 für überholt und erklären öffentlich: ‚Wir haben gegen ihn verstoßen‘“, Stern, 24. Jg., Heft 24 vom 06.06.1971. Gante (1993), S. 189. Vgl. ebd., S. 193. Zu DDR-Zeiten gibt Henning (1984) keine Zahlen an. In Henning et al. (1991) auf S. 356 gibt er für 1971 lediglich 18.713 registrierte Abbrüche an, 1972 waren es plötzlich 115.625. Vgl. Schwartz (2008), S. 185–187. Die Abstimmung fand am 9. März 1972 statt. Von 500 Abgeordneten stimmten 14 dagegen und acht enthielten sich der Stimme. Vgl. Rothe/Henning (1981), S. 58. Die Indikationen waren in Paragraph 11 festgelegt. Vgl. auch Schwartz (2008), S. 192.

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getroffen. In diesem Prozess stieß die bundesdeutsche Indikationslösung auf doppelten Widerstand: Einerseits widersetzte sich die ostdeutsche Regierung unter Lothar de Maizière, andererseits wollten SPD-Politiker den Einigungsvertrag bei Übernahme der Indikationslösung scheitern lassen, sodass ein Formelkompromiss zustande kam. Dieser verlangte vom Gesetzgeber eine Regelung zu schaffen, die den Schutz ungeborenen Lebens besser gewährleisten solle, als es bisher in beiden Teilen Deutschlands der Fall gewesen war. Der letzte Schritt zur Neuregelung nach der Wiedervereinigung ist das am 25. August 1995 verkündete „Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz“, welches am 1. Oktober 1995 und am 1. Januar 1996 in Kraft trat und die bis heute gültige Regelung einer Fristenlösung mit Beratungspflicht vorsieht.28 MEDIZINETHISCHE LEGITIMATIONSANSÄTZE IN DER DDR Kritische Stimmen in der DDR gegenüber der Fristenlösung sind insbesondere für christliche Kreise zu konstatieren.29 In die zensierte öffentliche Debatte gerieten jedoch lediglich die staatskonformen Legitimationskonzepte. DIE SOZIALE ERWÜNSCHTHEIT Einer der Hauptvertreter medizinischer Ethik in der DDR, der sich in den 80er Jahren, also lange nach Einführung des Gesetzes, dieser Thematik zuwandte, war der Biologe und damalige Marxist Uwe Körner, der in jener Zeit an der „Akademie für ärztliche Fortbildung in Berlin“ tätig war. Die Gesetzesnovelle begrüßte er und führte aus: „Eine Gesellschaftsordnung wie die unsere, die die gesellschaftlichen Verhältnisse bewußt und planmäßig gestaltet und deren höchster Zweck die frei und möglichst allseitige Entfaltung jedes einzelnen Gesellschaftsmitgliedes ist, muß auch angemessen das Problem unerwünschter Schwangerschaften lösen. Unser ‚Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972‘, im engen Zusammenhang mit einem ganzen Komplex begleitender sozialpolitischer Maßnahmen, entspricht dieser Forderung in einer den heutigen Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gemäßen, bestmöglichen Weise.“ 30

Die Gesellschaft steht mit ihren Erfordernissen im Vordergrund, moralische Prinzipien und Werte sind nicht universal, sondern entsprechend der marxistischen Ideologie klassenbezogen und werden von ihr bestimmt. Die Weltanschauung bestimmt den Wert wie auch die Betrachtung des Individuums und ist daher auch veränderlich. Körner unterschied für die theoretische Positionsbestimmung mehrere Ebenen: die weltanschauliche Ebene, die soziale und die biotisch-medizini28

29 30

Gundulis (2003), S. 116. Anmerkung: Das Gesetz, welches 11 Artikel enthält, trat im Oktober 1995 teilweise in Kraft, einzelne Artikel bzw. Teile davon (Art. 1, 5 und 9) erst im Folgejahr. Vgl. zur Abtreibungsdebatte in der CDU Wengst/Wentker (2010), S. 183–212. Körner (1986), S. 72.

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sche31 bezogen auf den embryonalen oder fetalen und bezogen auf den weiblichen Organismus. Die erste Ebene betrifft Positionen zum Wesen des Menschen und Wert des individuellen Lebens, zu den Persönlichkeitsrechten, zur weltanschaulichen und rechtlichen Einordnung des Ungeborenen bzw. seiner Entwicklungsstadien im Verhältnis zu „dem in personaler Autonomie existierenden Individuum“.32 Körner verwendet in diesem Zusammenhang keine Begriffe wie „werdende Mutter“, „Frau“ oder „Schwangere“. Ein persönliches Schicksal wird in hohem Maße bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert. Der Grund des Wunsches nach einem Schwangerschaftsabbruch wird bezeichnenderweise in die soziale Ebene verortet, die er als gesellschaftliche Erscheinungsformen der Integration eines Ungeborenen, soziale Lebensbedingungen usw. beschreibt. Demographische Bedingungen und Entwicklungen der Gesellschaft zählt der Autor auch dazu. Die biotisch-medizinische Ebene beschreibt nach Körner mögliche Komplikationen und Spätfolgen einer Abruptio oder der Verhütung für die Frau und medizinische Möglichkeiten in Therapie und Diagnostik für das werdende Leben.33 Körner charakterisierte den Schwangerschaftsabbruch als „eine spezifische Erscheinungsform bewußter und gesellschaftlich determinierter Handlungen des Menschen, denn es gibt in bestimmten sozialen Situationen wegen der zu erwartenden negativen sozialen Folgen ein starkes Bedürfnis, eine bestimmte Schwangerschaft abzubrechen.“34

Den Schwangerschaftsabbruch sah er als „sozial verursachtes Bedürfnis“, es existierten seit jeher gesellschaftliche Normen, die ihn regulieren. Dem mütterlichen Leben wurde in der Regelung zum Schwangerschaftsabbruch der Vorzug vor dem fetalen Leben gegeben.35 Das Gesetz der DDR entsprach nach Körner der vollen sozialen Gleichberechtigung der Frau, wogegen das Gesetz der Bundesrepublik, das den Abbruch im Sinne einer Notlagenindikation vorsah, als Zeichen fehlender Gleichberechtigung zu deuten sei.36 Die Möglichkeiten des Missbrauchs einer Fristenlösung diskutierte der Autor nicht. An anderer Stelle befassten sich Körner und Kollegen mit der bundesdeutschen Debatte Mitte der 70er Jahre. Auf die Argumente der Gegner der Fristenlösung nahmen sie kaum Bezug, sondern erkannten den „hauptsächlichen Beweggrund“ im „kommerziellen Interesse und vor allem die Sorge um die Wahrung der sozialen Vorrangstellung des ärztlichen Berufsstandes“.37 Die zentrale Frage im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch ist die nach dem Beginn menschlichen Lebens. Hierbei unterschied Körner drei Prinzipien des Herangehens, die er als biologische Betrachtung bezeichnete, als Festlegung eines „Besee31 32 33 34 35 36 37

„Biotisch“ ist ein in der DDR-Ethik verwendeter Begriff, der international nicht üblich war. Vgl. Körner (1986), S. 73. Ebd., S. 73. Ebd., S. 72. Ebd., S. 61. Ebd., S. 74. Körner et al. (1981b), S. 29.

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lungszeitpunkts“ und als marxistische Betrachtungsweise. Zu letzterer äußerte sich Körner ausführlich und betonte, dass der Mensch im historischen Materialismus nur als biopsychosoziale Einheit existiert, d.h. als „Einheit biotischer und gesellschaftlicher Determinanten und Lebensäußerungen.“38 Bei der Bestimmung des Beginns menschlichen Lebens spielten weniger biologische Fragen eine Rolle, sondern die soziale Wertung. Euphemistisch sprach er in diesem Zusammenhang von „Annahme“ oder „Nichtannahme“ eines Kindes, die es innerhalb der Frist zu entscheiden gilt. „Unabhängig von einem festen Zeitpunkt ist der Akt der sozialen Annahme das entscheidende Faktum der Wesenskonstituierung, der entscheidende Schritt der individuellen Menschwerdung und des Werdens zur Person.“39 So geriet der Schwangerschaftsabbruch bei Körner zu einem Akt der willensabhängigen Geburtenregulation. Diese Konsequenz erkannte Körner selbst und hielt dagegen, dass in der menschlichen Geschichte der Abbruch nach dem Beseelungsprinzip viel willkürlicher sei und rein naturalistisch verfahren wurde.40 Er konkretisierte seine Behauptung nicht und fügte noch hinzu, dass sich vordem aufgrund des Fehlens medizinischer Versorgung eine positive gesetzliche Regelung zum Abbruch erübrige.41 Auf den Punkt gebracht meinte er: „Das Leben des Ungeborenen ist also grundsätzlich bis unter die Geburt den Lebensinteressen bzw. dem Leben der betreffenden Frau untergeordnet.“42 Die eventuelle ethische Konfliktsituation, die das ärztliche Personal betrifft, thematisierte Körner in wenigen Sätzen. Er führte aus, dass manchmal „Probleme auf der Ebene der Einstellungen des medizinischen Personals zu den Patientinnen, die sich in der unglücklichen Situation der unerwünschten Schwangerschaft dem Eingriff des Schwangerschaftsabbruchs unterziehen“, entständen.43 Das sah er zudem als Problematik, die in Bezug auf die ärztliche Verantwortung und auf medizinische Entscheidungsverantwortung auftritt. Weitere Punkte sieht er in der Beratungsaufgabe des Arztes, in der psychischen Belastung der Frau und „Entscheidungsprobleme bei der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs, wenn z.B. in der Zeit nach dem dritten Schwangerschaftsmonat festgestellt worden ist, daß ein fehlgebildetes Kind zu erwarten ist.“44 Körner favorisierte den Schwangerschaftsabbruch im Falle einer Behinderung und empfiehlt dem Arzt eine entsprechende Beratung der Schwangeren: „Wenn der genetische Berater das mögliche Betroffensein eines werdenden Lebens durch eine Fehlbildung und die daraus folgende Behinderung feststellt, gibt er der Frau im gesellschaftlich gegebenen gesetzlichen und moralischen Entscheidungsraum Rat und Hilfe, das mögliche Kind anzunehmen oder sich auf einen neuen Versuch zur Erfüllung des Kinderwunsches zu orientieren bzw. auf eigene leibliche Kinder zu verzichten. Bei schwerer Schädigung mit eindeutigem Behinderungswert ist in der Regel klar, daß der Arzt so berät 38 39 40 41 42 43 44

Körner (1986), S. 82. Ebd., S. 84. Ebd. Ebd. Ebd., S. 88. Ebd., S. 141. Ebd.

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und die Frau sich für den Abbruch der Schwangerschaft entscheidet. Das Abwägen ist hier meist kein wirkliches Problem, trotzdem ist diese Situation für die Frau und ihre Familie belastend. Allerdings gibt es in seltenen Fällen persönliche Gründe dafür, ein voraussichtlich geschädigtes Kind als Wunschkind zur Welt zu bringen.“45

Im Falle leichterer Fehlbildungen und bei geringfügigen Fehlbildungsrisiken sah Körner eine Schwierigkeit in der Entscheidungsfindung aufgrund weltanschaulicher und moralischer Positionen, die hier unterschiedlich zum Tragen kämen: „Unsere Kinder sollen Wunschkinder sein; in diesen Wunsch ist eingeschlossen, es mögen gesunde Kinder sein. […] In der sozialistischen Gesellschaft besteht ein ungeteiltes gesellschaftliches Interesse daran, Fehlbildungen zu vermeiden und dazu alle Möglichkeiten der Vorsorge auszuschöpfen. Auch wenn es Familien geben kann, für die ein schwer behindertes Kind keine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität bedeutet, sollte das jedoch nicht dazu veranlassen, in der Beratung eventuell die mögliche Belastung zu bagatellisieren, um Eltern zur Annahme der Schwangerschaft mit dem fehlgebildeten Feten zu motivieren oder die Anwendung diagnostischer Methoden nicht konsequent zu betreiben. Auch bei mäßiger oder leichter Fehlbildung (wie beispielsweise bei überzähligem X-Chromosom) sollte man – stets eingeordnet in das Abwägen des Gesamtkomplexes der genannten Faktoren – eher zum Vermeiden der Geburt des fehlgebildeten Kindes tendieren.“46

In dieser Argumentationsweise spiegelt sich die ideologische Abneigung gegen die Kontingenz des Lebens oder der Lebensentstehung. Eine gewisse Parallele zu eugenischen Konzepten eines „gesunden Volkskörpers“ ist nicht von der Hand zu weisen und wurde bei Körner mit der Idee der sozialen Erwünschtheit verknüpft. Der Drang zu Reproduktion und Fertilität spielte in den ethischen Überlegungen auch eine Rolle; Körner bezeichnete die Elternschaft als „grundlegendes soziales Bedürfnis.“47 Problematisch ist seine Äußerung, die an Auffassungen zum Schwangerschaftsabbruch anschloss, wonach die soziale Erwünschtheit für die Fortsetzung einer Schwangerschaft ausschlaggebend sei: „Da unter den heutigen Bedingungen wirksamer Antikonzeption und der Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR die geborenen Kinder überwiegend Wunschkinder sind, ist die Anzahl der zur Adoption zur Verfügung stehenden Kinder relativ gering.“ 48

Als Ausweg aus ungewollter Kinderlosigkeit führte Körner die In-vitro-Fertilisation (IVF) an. Zur Betonung dieses medizinischen Eingriffs als sozialistische Errungenschaft meinte er: „In vielen Ländern wurden nach den ersten Erfolgen in Großbritannien ebenfalls Spezialeinrichtungen aufgebaut, in denen dieses Verfahren der Sterilitätsbehandlung erfolgreich angewendet werden kann und die auch erste Erfolgsmeldungen veröffentlichen konnten. Zu diesen Ländern gehört auch die DDR, die als erstes sozialistisches Land im Oktober und November 1984 aus der Berliner Universitätsfrauenklinik die Geburt von vier gesunden – ‚auf Umwegen‘, im Reagenzglas gezeugten – Kindern melden konnte.“49

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Körner (1986), S. 142. Ebd., S. 143–144. Ebd., S. 144. Ebd., S. 144–145. Körner (1986), S. 146.

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Körner sah dieses Verfahren als „ethisch unproblematisch“ an: „Sie ist eine Methode, die den Grundsätzen sozialistischer Moral und Ethik entspricht.“50 Er begründete dies damit, dass Rechte Dritter sowie der „biotische und soziale Status des Kindes“ nicht betroffen seien. Ebenso wenig bestehe eine spätere Notwendigkeit, das Kind über seinen Zeugungsmodus zu informieren, denn in der Regel werde auch sonst niemand über seinen Zeugungsort informiert. Er betonte das geringe Risiko des Eingriffs und von Missbildungen, wobei er sich auf Tierversuche beruft.51 Er meinte: „Im Gegenteil, diese Methode der Befruchtung enthält wahrscheinlich gegenüber der In-vivo-Befruchtung Möglichkeiten, das Mißbildungsrisiko für das Neugeborene zu verringern.“52 Körners Sicht auf werdendes Leben ließ kaum eine grundlegende Wertschätzung erkennen, es sei denn im Sinne von Nützlichkeitserwägungen, die als typisch für die ideologische Sichtweise angesehen werden können. Interessanterweise kollidierte diese Auffassung mit dem von Körner selbst vertretenen sozialistischen Humanismus, worauf seiner Meinung nach die Bewahrungspflicht des Arztes gegenüber menschlichem Leben aufbaut.53 Zudem vertrat die marxistische Ethik der DDR vor der Gesetzesnovelle selbst noch die Meinung, dass eine Abtreibung ohne „berechtigte“ Indikation gegen die Bewahrungspflicht verstoße.54 ABSOLUT UND BEDINGT GESCHÜTZTES LEBEN Dieses Dilemma versuchte der in Leipzig wirkende Gynäkologe Gert Henning durch eine Relativierung des Begriffs zu lösen. Er lehnte hierbei Nützlichkeitskriterien in Bezug auf die Bewahrung menschlichen Lebens ab und postulierte die absolute Bewahrungspflicht für menschliches Leben, von der er ausgehe, dass ihr bereits „in unserer Gesellschaft voll entsprochen“ werde, eine Prämisse, die man in der DDR nicht beweisen müsse.55 Eine absolute Bewahrungspflicht gegenüber sich entwickelndem Leben lehnte Henning jedoch ab, wobei er sich auf Körner berief und von bedingt geschütztem Leben sprach. Demnach sei absolut geschütztes (menschliches) Leben „das Leben des Menschen mit seinem zeitlichen Beginn der Geburt bis zu seinem Tode“, „jedes von der Mutter erwünschte embryonalfetal-menschliche Leben“, also eine erwünschte Schwangerschaft und „jedes unerwünschte embryonal-fetal-menschliche Leben (unerwünschte Schwangerschaft) nach der zwölften Schwangerschaftswoche, das nicht aufgrund einer mütterlichen oder ‚kindlichen‘ Indikation abgebrochen werden muß“. Als bedingt geschütztes (menschliches) Leben bezeichnet Henning „jedes unerwünscht embryonal-fetalmenschliche Leben (unerwünschte Schwangerschaft), das auf Antrag der Frau bis 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 147. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass seine Ehefrau im Bereich der Reproduktionsmedizin tätig war; siehe u.a. Körner/Körner (2010). Körner (1986), S. 147. Ebd. Körner et al. (1981b), S. 17–20. Luther/Thaler (1967), S. 39. Henning (1984), S. 177.

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zur zwölften Schwangerschaftswoche im Sinne der Gesetzgebung vom 9. März 1972 abgebrochen werden darf“, dann „jedes von der Mutter erwünschte embryonal-fetal-menschliche Leben (erwünschte Schwangerschaft), das aufgrund einer strengen mütterlichen Indikation unter der Voraussetzung des Einverständnisses der Mutter abgebrochen werden muß“ und „jedes erwünschte embryonal-fetalmenschliche Leben, das kurz vor oder unter der Geburt aufgrund einer geburtshilflichen Notsituation unterbrochen werden muß, um das Leben der Mutter zu retten.“56 Soll der Abbruch nach der zwölften Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, bedürfe es eines Antrages der Frau und der Zustimmung einer Fachärztekommission.57 Dem Argument, dass es sich beim Schwangerschaftsabbruch um die Tötung menschlichen Lebens handele, wird mit einer biologistischen Begründung widersprochen. Zwar vertrat Henning den Standpunkt, dass die Individualentwicklung des Menschen mit der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle beginne und der Eintritt der Schwangerschaft mit Abschluss der Nidation gleichzusetzen sei, doch verband er das nicht mit dem Beginn menschlichen Lebens.58 Durch die Unterscheidung in embryonal-menschliches bzw. fetal-menschliches Leben und menschliches Leben versuchte man sich in der DDR des Vorwurfs der Tötung zu entledigen. Anhand von Paragraph 4, der Anordnung über die ärztliche Leichenschau von 1978, welcher den Beginn des Lebens eines Menschen an Lungenatmung und Herzschlag oder – bei Fehlen dieser Zeichen – am Gewicht von 1000g festmachte, und damit bestimmte, ob ein Abortiertes oder Totgeborenes vorliegt, wurde nun für das werdende Kind menschliches Leben in Abrede gestellt: „Damit ist die Festlegung getroffen, von welchen [sic] Stadium der Entwicklung an der werdende Mensch zum Menschen zu erklären ist. Angesichts der gravierenden Bedeutung dieser Festlegung muß gegen jede Ignorierung, auch in sprachlicher Hinsicht, Stellung genommen werden.“59

Die Argumentation Hennings ist im Vergleich zu der von Körner deutlich realitätsbezogener. Zudem versuchte er, seine Aussagen statistisch zu untermauern.60 Die Herangehensweise knüpfte an linke Traditionen der Legalisierungsbefürworter der Weimarer Republik an. Ein Ausgangspunkt dieser Debatte war der Geburtenrückgang. Henning befasste sich ebenfalls mit der Geburten- und Bevölkerungsentwicklung der DDR und der Thematik des Schwangerschaftsabbruchs. In der Abtreibungsdebatte der Weimarer Republik ging es um die Bekämpfung des Geburtenrückgangs durch Steigerung der Geburtenziffer, Verhinderung von Erkrankungen, Wohnungsproblematik, wirtschaftliche Maßnahmen usw.61

56 57 58 59 60 61

Ebd., S. 178–179. Ebd., S. 180. Ebd., S. 154–156. Rothe/Henning (1981), S. 62. Kursive Passage im Original unterstrichen. Vgl. Henning (1984). Vgl. hierzu Dienel (1993), S. 154–155.

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Unter Verwendung statistischer Angaben versuchte Henning die Vorzüge des DDR-Gesundheitswesens gegenüber dem bundesdeutschen an einer geringeren Säuglings- und Müttersterblichkeit festzumachen.62 Die gesellschaftliche Bevölkerungsreproduktion sei allerdings in der DDR nicht gewährleistet. So bestehe das Bedürfnis der Gesellschaft in einer Erhöhung der Geburten, was am besten durch die Dreikinderfamilie realisierbar sei.63 Die Fortpflanzung selbst war nach Henning ein „humanistisches Anliegen, seine Art zu erhalten“, und er kennzeichnete die Erziehung von Kindern als einen wichtigen „Inhalt des menschlichen Lebens“ und als wesentlichen „Bestandteil vieler erfüllter und glücklicher Ehen und Partnerschaften.“64 Eine Anerkennung von Kontingenz ist auch in seinem Denken bezüglich der Geburtenregelung nicht auszumachen: „Die modernen Methoden der Geburtenregelung schließen den biotischen Zufall der Geburt von Kindern weitgehend aus. Jede Familie kann die Anzahl ihrer gewünschten Kinder sicher festlegen. Damit bestimmt das Bedürfnis der Familie weitgehend die Anzahl der geborenen Kinder. Die menschliche Reproduktion erhält einen neuen Charakter. Alle Kinder können als Wunschkinder geboren werden.“65

Henning entwickelte Ideen, wie die Erhöhung der Kinderzahl erreicht werden könne. Da er die hohe Arbeitsbelastung der Frau als Hemmnis erkannte, plädierte er für mehr Gleichberechtigung und Einbeziehung der Väter in die Erledigung häuslicher Pflichten.66 Allerdings begründete er die offensichtliche Ungleichheit, die er statistisch belegte, nicht mit einer ethischen Argumentation, sondern zweckrational, damit die Frau ihrer Funktionen als „Werktätige und Hauptträgerin der menschlichen Reproduktion voll gerecht“ werden könne.67 Ein weiterer Vorschlag war die politisch-ideologische und weltanschaulich-ethische Erziehung, um die Einsicht zu fördern, mehrere Kinder zu zeugen.68 Sozialpolitische Maßnahmen schlug er ebenfalls vor, beispielsweise die Vergabe größerer Wohnungen, damit die Geburt mehrerer Kinder realisiert werden könne. Henning erkannte dabei die Schwierigkeiten, die bei der staatlichen Wohnungsvergabe bestehen.69 Ein wichtiges Argument für den legalen Schwangerschaftsabbruch war bei Henning die Verhinderung illegaler Abbrüche. Henning gestand den Frauen die Entscheidung über einen Abbruch zu, der unter bestimmten Umständen mit Einschränkungen verbunden sei: „Voraussetzung für die Durchführung einer Schwangerschaftsunterbrechung sind die freie Entscheidung und der erklärte Wille der Frau. Eine Interruptio ist nach dem Gesetz unzulässig, wenn eine Schwangerschaft länger als zwölf Wochen besteht, wenn vor weniger als sechs Monaten bereits eine Interruptio durchgeführt wurde oder wenn die Frau an einer 62 63 64 65 66 67 68 69

Henning (1984), S. 50–52. Ebd., S. 56–57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 61. Ebd., S. 65–66. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 92.

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Krankheit leidet, die in Folge einer Schwangerschaftsunterbrechung ‚zu schweren gesundheitsgefährdenden oder lebensbedrohenden Komplikationen führen kann‘. Nach Vollendung der zwölften Schwangerschaftswoche darf die Unterbrechung auf Antrag der Frau nur noch durchgeführt werden, ‚wenn zu erwarten ist, daß die Fortdauer der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet, oder wenn andere schwerwiegende Umstände vorliegen‘.“70

Zusammengefasst diente Henning zufolge die gesetzliche Regelung der Gleichberechtigung, der Persönlichkeitsentwicklung und der Gesunderhaltung der Frau, wobei der Abbruch die letzte und nur korrektive Methode darstellt. Der Abbruch sei die Voraussetzung zur Geburt von Wunschkindern. Die sozialpolitischen Maßnahmen dienten dazu, dass gesunde Kinder von gesunden Müttern geboren wurden.71 Im Mittelpunkt der Geburtenregelung jedoch sollte die Kontrazeption als prophylaktische Methode stehen.72 In der bewussten Familienplanung sah Henning die Verwirklichung der Menschenwürde in der sozialistischen Gesellschaft.73 Kraatz und Körner problematisierten in ihrer Publikation von 1981 den moralischen Konflikt des Schwangerschaftsabbruchs, womit die Qualität der ethischen Diskussion einen Grad der Differenzierung erreichte, der untypisch für die offizielle Ethik ist und auch von Körner in seinem späteren Buch „Vom Sinn und Wert menschlichen Lebens“ nicht mehr erreicht wurde.74 Die Autoren erkannten die ethische Problematik der Unterscheidung zwischen embryonalem und personalem menschlichen Leben und beschreiten den Weg einer Güterabwägung zwischen zwei ethischen Werten, wobei zwischen zwei Übeln entschieden werden müsse: zwischen einer Lebensvernichtung und den Folgen einer ungewollt ausgetragenen Schwangerschaft. Die Frage, wann menschliches Leben beginne, wurde von ihnen als Frage und Problematik in diesem Beitrag offen gelassen.75 Der Band „Grenzsituationen ärztlichen Handelns“ kann aufgrund seiner Differenziertheit, bescheidenen Meinungspluralität, sprachlichen und kognitiven Qualität trotz aller ideologischen Einschränkungen als eine gewisse Kultivierung der offiziellen medizinischen Ethik der DDR betrachtet werden. Die staatliche Politik wurde jedoch auch hier nicht in Frage gestellt. Dies wurde auch nicht vom Lehrstuhlinhaber für Ethik in der Medizin an der Universität Halle-Wittenberg, Ernst Luther, erreicht. Luther verkörperte in seiner Person noch stärker die Kluft zwischen humanistischer Rhetorik des DDR-Systems und den Grundproblemen von staatlicher Anpassung wie auch ideologischer Gleichschaltung im Sinne des Sozialismus. Er trat in großem Maß als Herausgeber medizinethischer Schriften hervor. Während er vor 1972 noch die Bewahrungspflicht gegenüber ungeborenem Leben propagierte, unterstützte er 1986 die Fristenlösung.76

70 71 72 73 74 75 76

Henning (1984), S. 129–130. Ebd., S. 187–188. Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Kraatz/Körner (1981) und Körner (1986). Kraatz/Körner (1981). Vgl. Luther/Thaler (1967), S. 39. Im Gegensatz dazu Luther (1986), S. 134–138.

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Die zögerliche und mehrheitlich unausgereifte philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch erklärt sich aus der ideologischen Enge, die die weltanschauliche Sicht bot. Sie verharrte auch moraltheoretisch auf einem bestenfalls konventionellen Niveau, das ethische Konflikte nicht als solche diskutierte oder nicht als solche wahrnahm.77 Dass der Marxismus selbst nicht ausgeschöpft wurde, lag andererseits an der systematischen Kaderselektion, an der Selbstzensur und der Zensur, die innerhalb der Institutionen wie auch Verlage ausgeübt wurde. Die Kaderauswahl und -kontrolle zeigte sich insbesondere in den marxistisch-leninistischen Instituten, da sie zur Nomenklatur gehörten, somit einer direkten Parteikontrolle unterstellt waren und zudem massiv vom Ministerium für Staatssicherheit kontrolliert und unterwandert waren.78 Das brachte eine Ethik hervor, welche von einer ideologischen Intoleranz gekennzeichnet war, die Kreativität meist gar nicht erst aufkommen ließ. SCHLUSSÜBERLEGUNGEN Der Umstand, dass sich die Staatsethik der DDR den „gesellschaftlichen Erfordernissen“ anpasste, lässt sie im Lichte einer politischen Legitimationsethik erscheinen. Nicht nur sie selbst ließ sich vom Staat benutzen, auch ihre Argumentationsmuster sind weitestgehend utilitaristisch und zweckgerichtet. Gut ist, was dem sozialistischen Staat nützt. Wie grotesk wirkt in diesem Zusammenhang die Empfehlung des einstigen Hallenser Lehrstuhlinhabers für Ethik in der Medizin, der nach der Wende sogar noch – nominiert durch die PDS – Mitglied der Enquete-Kommission des 14. Bundestages wurde und von der berichtet wird: „Ernst Luther warf an der Arbeit der Enquete-Kommission ‚Recht und Ethik der modernen Medizin‘ grundlegende Fragen auf – man beachte bereits das Demokratieproblem: der Widerspruch zwischen der vom Parlament eingesetzten Kommission und der (entsprechend der platonischen Staatsvorstellung) eingesetzten Kommission des Bundeskanzlers. Er sah die Gefahr, daß die normative Kraft des Faktischen zu einer medizinischen Ethik der Anpassung führen könnte. Dagegen zu steuern, darin liegt die unverminderte Chance einer an dem humanistischen Menschenbild von Karl Marx orientierten Ethik-Position.“79

77

78 79

Vgl. Kohlberg (1995). Kohlberg entwickelte ein Stufensystem moralischer Entwicklung, welche er in drei Ebenen (präkonventionell, konventionell und postkonventionell) einteilte. Bezüglich des Kommunismus meint er: „Als die kommunistische Bewegung sich auf Dauer etablierte, verlor sie ihre Ausrichtung auf das Streben nach Glück und auf Gleichheit der Menschen und verhärtete sich zu einer Stufe-4-Moral, in der die Treue zur Partei zu einem absoluten Wert wurde“; vgl. ebd., S. 76. Vgl. Beer/Weißflog (2010), S. 199, Süß (2000), S. 177 und MfS-Akten zu GHI/GMS „Bethune“, IMS „Maria“, OPK „Ethik“. Scharrer (2002).

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NUR EINE SPRITZE.1 DIE HEPATITIS-C-VIRUSINFEKTIONEN DURCH ANTI-D-IMMUNISIERUNG IN DER DDR Anne Mesecke „Am Anfang ist es nur ein unheimlicher Verdacht. Am Ende steht fest: es ist der größte Medizinskandal in der Geschichte der DDR. Ein Skandal, ausgelöst durch wissenschaftlichen Ehrgeiz und fehlende Courage. Aber auch durch wirtschaftlichen Zwang und den Druck eines Systems, das mehr auf seinen Ruf als auf seine Bürger bedacht war.“ 2

EINLEITUNG 2007 erreichte das Schicksal der Contergan-Geschädigten im Rahmen einer WDR-Verfilmung ihrer Geschichte große öffentliche Aufmerksamkeit. Kaum bekannt ist dagegen bis heute, dass auch die DDR einen – gemessen an den Opferzahlen – überdies noch weitreichenderen Arzneimittelskandal aufweist: In den Jahren 1978/1979 wurden im Rahmen einer Routine-Immunisierung, der so genannten Anti-D-Prophylaxe, mehrere Tausend junge Mütter mit Hepatitis-CViren infiziert; circa 2.650 Betroffene davon sind namentlich erfasst. Die Opferzahl liegt damit gemessen an der Gesamtbevölkerung vergleichsweise höher als die der Contergan-Geschädigten 3 – dennoch ist die Geschichte der Anti-DGeschädigten relativ unbekannt und die Opfer kämpfen bis heute um die finanzielle Anerkennung ihrer Folgeerkrankungen bei den deutschen Versorgungsämtern. DIE SPRITZE Die sogenannte Anti-D-Prophylaxe mit einem Human-Immunglobulin, kurz HIGAnti-D, wird im DDR-Gesundheitswesen seit Anfang der 1970er Jahre an alle Mütter verabreicht, die eine Blutunverträglichkeit mit ihrem Kind aufweisen. In zwölf Prozent aller Schwangerschaften stimmt der Rhesusfaktor von Mutter und 1

2 3

2012 entstand für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur die 45-minütige Fernsehdokumentation „Nur eine Spritze. Der größte Medizinskandal der DDR“. Die Autorin dieses Artikels verantwortet Recherche und Buch für den Film. Filmauszug aus Riecker/Mesecke (2012). Vgl. Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer e.V. (2011).

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Kind nicht überein. Wird die Mutter durch die Unverträglichkeit des Blutes ihres Kindes sensibilisiert, übersteht das erste Kind das meist unbeschadet. Erst bei der nächsten Schwangerschaft werden Antikörper im Blut der Mutter aktiv und greifen das Ungeborene an. Das Anti-D-Serum bremst diese Immunreaktion, indem es die Bildung von Antikörpern verhindert. Die Anti-D-Prophylaxe rettet seit ihrem Einsatz in der DDR jährlich das Leben von ca. 20.000 Kindern.4 Dass die DDR dieses Serum selbst herstellen kann, verdankt sie der eigenen Entwicklung eines Produktionsverfahrens im Hallenser Bezirksinstitut für Blutspendewesen und Transfusionswesen, kurz BIBT Halle. Der Ausgangsstoff für die Herstellung des Arzneimittels ist menschliches Blutplasma mit einer erhöhten Menge spezieller Antikörper, das dem BIBT Halle durch die Blutspendeinstitute der DDR zugeliefert wird. Die an der Entwicklung dieses Verfahrens beteiligten Wissenschaftler, Wolfgang Schubert, der Leiter des BIBT Halle, und seine Stellvertreterin Viktoria Tesar, erhalten dafür 1976 auf Vorschlag des Gesundheitsministers Ludwig Mecklinger den Nationalpreis der DDR. Das Anti-D-Verfahren und die gesetzlich vorgeschriebene Behandlung aller betroffenen Frauen ist ein DDR-Prestigeprojekt zu einer Zeit, in der die Mehr-Kind-Familie staatlich propagiert wird und die Geburtenrate stetig steigt.5 DER AUSBRUCH 1979 „Ich erinnere mich, dass ich angerufen wurde, von einem unserer Hygieneinspektoren. Und dem war aufgefallen, dass bei den Ermittlungen, sprich bei dem Aufsuchen von Patienten oder in den Familien mit Infektionskrankheiten bei den Gelbsuchterkrankten häufiger Frauen dabei waren – oder zumindest auffällig mehr junge Frauen dabei waren –, die gerade entbunden hatten. [...] Meine innere Stimme hat mir schon gesagt, dass nachdem wir erfahren hatten, dass in der Infektionsklinik fünf, sechs, sieben Frauen mit der gleichen Anamnese, mit dem gleichen Geschick offensichtlich behandelt wurden, dass das eigentlich ein immenses Geschehen sein muss. Das ist ähnlich wie bei einem Erdbeben. Man erfährt erst von fünf oder zehn Betroffenen und dann plötzlich sind das ein- oder zweitausend.“6

Im Januar 1979 häufen sich im Staatlichen Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe der DDR, kurz SKISI, Berichte über Krankheitsfälle junger Frauen mit Hepatitis-Symptomen: Am 8. Januar meldet das Berliner Krankenhaus Prenzlauer Berg acht Fälle, am nächsten Tag kommt die Nachricht von weiteren fünf Fällen aus dem Bezirk Rostock. Die Zahl steigt auf 24 Krankheitsfälle am 12. Januar, eine Woche später sind 47 Kranke registriert. Trotz der Hepatitis-Symptome findet sich im Blut aller Frauen weder ein Nachweis von Hepatitis-A- noch von Hepatitis-B-Viren. Der Erreger wird eingeordnet in die Gruppe der Non-A-NonB-Hepatitisviren. Ein unbekannter Feind. Erst knapp ein Jahrzehnt später, Ende der Achtziger, wird das Hepatitis-C-Virus identifiziert und beschrieben. Doch im Jahr 1979 wissen die Mediziner kaum etwas über das Virus und dessen Übertra4 5 6

BArch, DQ1/13183. Vgl. Pötzsch (2012) und ferner Brandenburger (2011), Wiese (1991) und Wiese et al. (2000). Bezirkshygieneinspektorin Barbara Kirsch, Filmauszug aus Riecker/Mesecke (2012) .

Nur eine Spritze. Die Hepatitis-C-Virusinfektionen

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gungswege. Mit jeder weiteren Krankheitsmeldung steigt die Sorge vor einer unklaren Infektionswelle. Die infizierten Patientinnen können nur symptomatisch behandelt werden. Mitte Januar 1979 finden die Zuständigen im SKISI einen Anhaltspunkt. Beim Vergleich der Krankenakten der betroffenen Patientinnen fällt auf, dass alle Frauen kürzlich das Anti-D erhalten haben. Umgehend geht per Fernschreiben ein Rückruf an alle Bezirksinstitute für Blutspende- und Transfusionswesen. Über die Namen der Patientinnen lässt sich die genaue Herkunft der einzelnen Ampullen nachvollziehen. Alle stammen aus dem BIBT Halle. Die betroffenen Produktionschargen werden gesperrt. Für den 15. Januar setzt das SKISI im BIBT Halle eine Betriebskontrolle an.7 Dabei stoßen die Prüfer auf eine verdächtige Notiz in den Produktionsunterlagen des Instituts: Bereits im Frühjahr 1978 war eine Blutplasma-Spenderin des Ausgangsmaterials für das Impfserum mit Hepatitis-Symptomen erkrankt.8 Die Anordnungen des Transfusionsdienstes der DDR sind unmissverständlich: Auf keinen Fall darf das Plasma verwendet werden. Die Prüfung der Unterlagen ergibt, dass die betroffenen Chargen zunächst gesperrt wurden. Einige Wochen später jedoch arbeitete das BIBT Halle die gesperrten Chargen um, versah sie mit neuen Chargenbezeichnungen und lieferte sie in die Krankenhäuser.9 KRANKHEITSWELLE UND INFORMATIONSPOLITIK „Sieben Wochen nach Beginn der Infektion sind 475 Frauen erkrankt. Viele liegen seit Wochen auf der Infektionsstation. Niemand darf rein, niemand darf raus. Über das Ausmaß der Epidemie und ihre Ursache erfahren die Betroffenen nichts. Skandale im sozialistischen Gesundheitssystem – es gibt sie nicht und darf sie nicht geben.“10

Kurz nach der Betriebskontrolle im BIBT Halle, am 18. Januar 1979, beruft Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger eine Expertenkommission nach Berlin, die den Erkenntnisstand zur Infektionswelle vorstellen soll. Protokolle der Sitzungen dieser „Expertenkommission zur Klärung der Ursachen von Hepatitiserkrankungen nach Anwendung von Human-Immunglobulin-Anti-D“ sind ebenso überliefert wie die Weisungen des Gesundheitsministers an die Bezirksärzte. Ein vorderstes Ziel dabei ist eine streng geregelte Informationspolitik: „Keine Presseveröffentlichungen; alle Unterlagen sind ‚NfD‘ [Nur für den Dienstgebrauch] […] Die Aufklärung und Belehrung der Frauen soll psychologisch geschickt, politisch verantwortungsbewusst und sachgerecht erfolgen. [...] Beunruhigung der Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialwesens und der Bürger [soll vermieden werden].“11

7 8 9 10 11

BArch, DQ1/11705. Ebd. BArch, DQ1/11225. Filmauszug aus Riecker/Mesecke (2012). BStU, BV Halle, Abt. IV, Nr. 133.

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Der Ruf des sozialistischen Gesundheitswesens soll nicht beschädigt werden. Währenddessen steigen im Februar 1979 die Krankheitszahlen weiter: 19. Februar – 250 Fälle, 22. Februar – 475 Fälle. Die Inkubationszeit einer Hepatitis-C-Virusinfektion beträgt 50 Tage. In Woche sieben erreicht die „Epidemie“, wie sie in internen Dokumenten bezeichnet wird, neue Dimensionen. Anfang März 1978 rechnet das Gesundheitsministerium mit einem Nachlassen der Neuerkrankungen. Im Januar hatten die Kontrolleure alle betroffenen Anti-D-Chargen gesperrt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt muss die Zahl der Neuerkrankungen sinken. Doch es kommen neue Fälle hinzu. Eine zweite, unerklärliche Infektionswelle nimmt ihren Lauf, die Krankheitszahlen steigen weiter an. Die Quarantänestationen sind vielerorts überfüllt. Die Frauen, sind teilweise bis zu drei oder vier Monate auf Station. Isoliert von Kindern, Familie und Freunden, zu denen der direkte Kontakt aufgrund der Quarantänebestimmungen untersagt bleibt, bietet sich als Halt die Gemeinschaft mit den anderen Betroffenen. Unter den jungen Müttern in der Isolation wächst das Unverständnis über die fehlende Aufklärung. „Eine vorliegende Eingabe aus Hoyerswerda sagt aus, daß ein Kollege Hygieneinspektor die notwendige stationär-medizinische Betreuung damit begründete, daß eine Nichtbefolgung der Einweisung den Tod der Betroffenen in ca. 4 Wochen an Leberzirrhose zur Folge hätte. Desweiteren wird von den Bürgerinnen (kollektive Eingabe) ausgeführt, daß nach stationärer Aufnahme am Freitag, den 2.2.79, in das Bezirkskrankenhaus Hoyerswerda nur ein Aufnahmegespräch erfolgte und alle Maßnahmen zur weiteren diagnostischen Klärung erst am kommenden Montag einsetzten. Bemängelt werden weiterhin bewußt falsche oder unkonkrete Aussagen zur Ursache der Erkrankung.“12

Auf zwei Stationen in einem Klinikum in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) bilden sich Gruppen, die gemeinschaftlich Eingaben an das Gesundheitsministerium verfassen. Sie sorgen sich um ihre Sozialleistungen und fragen nach Entschädigung. Sie äußern ihre Ängste, dass sie vom Staat im Stich gelassen werden könnten: „Die Zeit, die wir von unseren Kindern und Familien getrennt sind, ist für uns unwiederbringlich verloren [...] Die gerade in den ersten Lebenswochen sehr enge Bindung zwischen Mutter und Kind, die für eine normale Entwicklung wichtig ist, wurde bei uns zerstört. Es ist beschämend, daß gerade im Jahr des Kindes der Trennung von Mutter und Kind so wenig Wert beigemessen wird.“13

Eine Antwort erhalten die Frauen trotz Nachfragen nach Aussagen der Zeitzeugen nicht. Die Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt schreibt in einem internen Bericht: „Unter den Frauen gibt es kritische Diskussionen [...] in denen an Hand dieser Impfschäden die sozialistische Gesundheitspolitik der DDR diffamiert und verleugnet wird. In Einzelfällen wird davon gesprochen, daß im „Jahr des Kindes“ über diese Vorkommnisse in der DDR ‚die UNO informiert werden müßte, um auf die Zustände in der DDR aufmerksam zu machen.‘ [...] Von den Ärzten wird nicht verstanden, daß es vom MfG [Ministerium für Gesundheitswesen] kaum Veröffentlichungen gibt und eine ihrer Meinung nach ‚übertriebene Geheim12 13

BArch, DQ1/11705. Eingabe „Patientenkollektiv Küchwald“, Privatarchiv.

Nur eine Spritze. Die Hepatitis-C-Virusinfektionen

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haltung‘ betrieben werde, die wirksame Gegenmaßnahmen erschweren. Der Bezirkshygienearzt [...] schätzte ein, daß die gesamte Problematik ‚immer mehr zu einem Politikum‘ werde.“14

KALKULIERTES RISIKO „Das lässt einen dann am System zweifeln. Dass das System nicht die Größe hat, zu sagen: Gut, es ist passiert. Jetzt haben wir einen Engpass, jetzt können wir das nicht machen. Das wäre die richtige Verfahrensweise und aus meiner Sicht auch die mit einer gewissen Größe gewesen. Aber diese Größe hat die DDR nicht gehabt. Es durfte kein Engpass entstehen, es durfte kein Mangel entstehen, es musste immer alles klappen und dann ist dabei einer über die Klinge gesprungen.“15

Die DDR macht den Werksleiter des BIBT für die Verseuchung verantwortlich. Wolfgang Schubert wird vom Dienst suspendiert. Der Strafprozess gegen ihn und den Technischen Leiter Hans-Ulrich Bogs Ende des Jahres 1979 findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Betroffene sind zur Verhandlung nicht geladen. Nach drei Tagen kommt das Gericht zu einem Urteil. Schubert erhält zwei Jahre Freiheitsstrafe und muss ein Bußgeld von zehntausend Mark zahlen. Er verliert seine Approbation als Arzt für drei Jahre. Bogs wird zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Heute zugängliche Prozessunterlagen und vor allem der Schriftverkehr zwischen Kontrollinstitut und Serumwerk lassen deutliche Zweifel aufkommen, dass die DDR die Hintergründe der Masseninfektion wirklich aufklären wollte. Die Schriftstücke enthüllen entscheidende Momente in der Entstehungsgeschichte der Masseninfektion: Als der Werkleiter der Serumproduktion, Wolfgang Schubert, von der möglichen Verseuchung der Blutplasma-Spende im Frühjahr 1978 erfuhr, sperrte er zunächst vorschriftsgemäß alle betroffenen Chargen und ließ die gesetzlich vorgeschriebenen Tests an den produzierten Seren durchführen. Als durch diese Verfahren die Verseuchung der Chargen festgestellt wurde, stand fest, dass sie auf keinen Fall ausgeliefert werden dürfen. Das Werk in Halle stand vor einem Problem. Das Institut stand als einziger Produzent in der DDR in der Pflicht, genügend Chargen für die gesetzlich vorgeschriebene Behandlung der betroffenen Mütter zu liefern. Seit der Einführung der Anti-D-Prophylaxe Mitte der Siebziger Jahre war die Geburtenrate in der DDR stetig angestiegen – und mit ihr auch die Forderung nach dem Präparat. Gleichzeitig mangelte es in der DDR an geeignetem Spender-Plasma. In seiner Not wandte sich der Werksleiter im Frühjahr 1978 an das Gesundheitsministerium und wies auf die unvermeidliche Produktionslücke hin, sollten die verseuchten Chargen aus dem Verkehr gezogen werden. Schubert bat um Unterstützung, die Produktion müsse unterbrochen oder durch Importe aus dem Westen abgefangen werden. Erst drei Wochen später erhielt er Antwort vom Direktor des SKISI, Friedrich Oberdoerster. Zwar sei der Einsatz der verseuchten Chargen verboten, die Planerfüllung dennoch Pflicht: 14 15

BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG Nr. 10891. Bezirkshygieneinspektorin Barbara Kirsch, Filmauszug aus Riecker/Mesecke (2012).

124

Anne Mesecke „Sie sind als Produzent [...] verantwortlich für die Lieferung einer ausreichenden Menge in der geforderten Qualität und auch dafür, daß es ohne Unterbrechung zur Verfügung steht. Sie meinen doch wohl nicht ernsthaft, daß im Falle, daß Sie dieser Verantwortung nicht nachkommen, die Rh-Prophylaxe in der DDR zeitweilig unterbrochen werden könnte. Einer derartigen Entscheidung kann unter keinen Umständen entsprochen werden. Das gleiche trifft auf den von Ihnen angedeuteten NSW-Import zu, wenn ein Präparat für einen Produzenten der DDR registriert ist.“16

Der Werksleiter entschied sich daraufhin, die verseuchten Anti-D-Seren umzuarbeiten. Er verdünnte die verseuchten Chargen und vertraute darauf, dass sein Herstellungsverfahren die Infektionsgefahr bannen würde. Der Briefwechsel macht deutlich, dass die verantwortlichen Behörden schon 1978 über die drohenden Engpässe bei der Anti-D-Lieferung informiert waren. Im Ergebnis des Strafprozesses jedoch wurde dem Werksleiter die alleinige Schuld an der Masseninfektion gegeben. Ein weiteres Schriftstück enthüllt die zweifelhafte Rolle des Kontrollinstituts noch deutlicher: Nach der ersten Betriebskontrolle im BIBT Halle im Januar 1979 stellten die Kontrolleure zwar die verseuchten Anti-D-Seren sicher, nicht jedoch das angefallene sogenannte Waschwasser: Bei der Herstellung jeder Charge blieb Flüssigkeit zurück, die – da das Ausgangsmaterial der Plasmaspender so rar war – für nachfolgende Chargenproduktionen wiederverwendet wurde. Dieses „Waschwasser“ war im Herstellungsverfahren ebenfalls mit dem durch Hepatitis-C-Viren verseuchten Plasma in Kontakt gekommen. Die Kontrolleure des SKISI sperrten jedoch nur die Chargen der Anti-D-Seren, nicht aber das später in der Produktion weiter eingesetzte „Waschwasser“, das auf diesem Weg andere Anti-D-Seren verunreinigte. Dies war der Grund für die zweite Infektionswelle, die nach dem Abklingen der ersten Krankheitsmeldungen im März 1979 unvermittelt begann. Der Direktor des SKISI, der im Verlauf der Masseninfektion die Expertenkommission zur Aufklärung leitete und auch im Prozess gegen den Werksleiter aussagte, unterzeichnete noch im Januar 1979 ein Sitzungsprotokoll, das ausdrücklich den Einsatz der „Waschwasserchargen“ erlaubt. Darin heißt es: „Es wird eingeschätzt, daß die Chargen [...] mit vertretbarem Risiko hinsichtlich der Gefahr einer Übertragung einer Hepatitis angewendet werden können, da diese Chargen kein Plasma der Spender [...] enthalten. Es ist anzunehmen, daß durch die Sterilisation der wiederholt verwendeten Austauschgele ggfs. vorhandenes Hepatitisvirus inaktiviert wird.“ 17

Dass das staatliche Kontrollinstitut die Gefahren einer Infektion als „vertretbares Risiko“ einschätzte, wurde weder im Rahmen der Untersuchungen der Masseninfektion noch im Verlaufe des Gerichtsverfahrens thematisiert. Ein ehemaliger Mitarbeiter am Institut für Impfstoffe Dessau erinnert sich: „Das könnte ich nicht unterschreiben so etwas. Das ist wirklich [...] wenn man so etwas sagt, dann hat [man] sich das Verfahren, das Fraktionierungsverfahren nicht genau angekuckt. Dann muss ich [...] das wirklich so unterstellen.“18 16 17 18

Schreiben SKISI an BIBT Halle vom 14. Juli 1978, BArch, DQ1/24140. Protokoll der Beratung der Expertenkommission vom 24. Januar 1979, BArch, DQ1/11705. Gerhard Richter, Filmauszug aus Riecker/Mesecke (2012).

Nur eine Spritze. Die Hepatitis-C-Virusinfektionen

125

Nachdem auch die weiteren verseuchten Chargen gesperrt wurden, bewilligte Gesundheitsminister Mecklinger so genannte „Interim-Importe Anti-D“. Dieses staatliche Einlenken hatte sich der Werksleiter des BIBT Halle ein Jahr zuvor noch vergeblich erhofft. STUDIEN NACH DER MASSENINFEKTION Die Erfassung aller erkrankten Frauen hatte für die medizinische Forschung in der DDR einen immensen Wert: Nach der Masseninfektion stand eine enorme Datenmenge von Hepatitis-Erkrankten zur Verfügung. Mit ihren regelmäßigen Blutuntersuchungen wurden die Frauen Objekt wissenschaftlicher Studien. Dabei bleibt bislang offen, ob die nachfolgend durchgeführten Untersuchungen wie etwa Leberbiopsien gegebenenfalls nur aus wissenschaftlichen Gründen und ohne adäquate Aufklärung durchgeführt wurden. 1980 untersuchte eine Arbeit an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit – eingestuft als „Geheime Verschlusssache“ – ebenfalls die Hepatitis-Epidemie 1978/79. Das Thema der Arbeit hieß: „Biologische Mittel und ihr subversiver bzw. militärischer Einsatz“. Die Arbeit untersuchte, inwiefern sich durch ärztliche Maßnahmen verursachte Erkrankungen als biologischer Kampfstoff einsetzen lassen. Das nüchterne Fazit der Arbeit lautete: „für den subversiven Einsatz geeignet“.19 FOLGEN Der DDR-Ministerrat schätzte noch 1979 ein, dass allein die Entschädigung der Opfer zwölf Millionen Mark kosten würde. Die Betroffenen wurden zunächst nach dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ (GüK) der DDR unterstützt. Heute berichten einige der infizierten Frauen, dass sie zu DDR-Zeiten vom Ausmaß und den Hintergründen der Infektionswelle nichts wussten. Erst mit dem Ende der DDR gründeten Betroffene Selbsthilfegruppen. Die Gesundheitsämter der Bundesrepublik verschickten, nach Sichtung der alten DDR-Patientenakten, Schreiben an die einst mit verseuchtem Prophylaxeserum behandelten Frauen. Offenbar erfuhren dadurch viele von ihnen erst Jahre später von den Umständen ihrer Erkrankung. Im Jahr 2000 setzten Selbsthilfegruppen mit dem Anti-D-Hilfegesetz die Anerkennung ihrer Krankheit als Impfschaden durch. Der Bundestag verabschiedete am 9. Juni 2000 das „Gesetz über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis C-Virus infizierte Personen“ (Anti-D-Hilfegesetz – 19

„Forschungsergebnisse zum Thema ‚Die biologischen Mittel […]‘ der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Erfüllung eines vom Leiter des Zentralen Medizinischen Dienstes gestellten Auftrags“. Vgl. BStU, MfS, JHS, Nr. 21907.

126

Anne Mesecke

AntiDHG). Demnach erhalten infizierte Frauen, ihre nach der Immunprophylaxe geborenen infizierten Kinder sowie andere infizierte Kontaktpersonen einen Anspruch auf Krankenbehandlung und finanzielle Hilfe. Die Rentenleistungen liegen zwischen 272 und 1.088 Euro monatlich.20 Bisher wurden 2.615 Schadensfälle anerkannt. Der Höhepunkt der Einmalzahlungen wurde im Jahr 2000 mit sieben Millionen Euro erreicht. Im Jahr 2011 beliefen sich die jährlichen Rentenzahlungen der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf knapp zwei Millionen Euro.21 Dennoch kämpfen viele Betroffene bis heute mit den Versorgungsämtern um die finanzielle Entschädigung ihrer Beschwerden, da chronisch verlaufende Folgeerkrankungen bei Hepatitis C-Virusinfektionen bislang kaum oder nur bedingt anerkannt werden. Wie viele Leben die Masseninfektion mit Hepatitis-CViren bis heute gefordert hat, ist nicht bekannt.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU BStU, BV Halle, Abt. IV, Nr. 133. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AKG Nr. 10891. BStU, MfS, JHS, Nr. 21907. Bundesarchiv BArch, DQ1/13183. BArch, DQ1/11705. BArch, DQ1/11225. BArch, DQ1/24140. Privatmaterial Zeitzeugen Eingabe „Patientenkollektiv Küchwald“.

FILM Riecker, A./Mesecke, A. (2012): Nur eine Spritze. Der größte Medizinskandal der DDR. Eine Produktion der Hoferichter & Jacobs GmbH in Koproduktion mit dem rbb, gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

20 21

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2000). Deutscher Bundestag (2012), siehe auch Deutscher Bundestag (1995).

Nur eine Spritze. Die Hepatitis-C-Virusinfektionen

127

LITERATUR Brandenburger, B. (2011): Frauen klagen an: Das wütende Virus. Neckenmarkt. Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer e.V. (2011): Kurzdarstellung des Conterganskandals, www.gruenenthal-opfer.de/Kurzdarstellung (21.11.2012). Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2000): Gesetz über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen (Anti-D-Hilfegesetz – AntiDHG), § 3 Finanzielle Hilfe, http://www.gesetze-im-internet.de/ antidhg/__3.html (21.11.2012). Deutscher Bundestag (1995): Drucksache 13/2732 vom 24.10.1995. Antwort auf Drucksache 13/1649 zu Hepatitis-C-Infektionen durch Anti-D-Impfprophylaxe in der früheren DDR, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/13/027/1302732.asc (21.11.2012). Deutscher Bundestag (2012): Drucksache 17/9277: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage […] Dokumentation des Anti-D-Hilfegesetzes und vorangegangener Gesetze“, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/092/1709277.pdf (21.11.2012). Pötzsch, O./Statistisches Bundesamt (Hg.) (2012): Geburten in Deutschland, www.destatis.de/DE/ Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsbewegung/BroschuereGeburten Deutschland0120007129004.pdf?__blob=publicationFile, S. 13 (21.06.2015). Wiese, M. (1991): NonA-nonB-Hepatitis. Virushepatitis C, Forschung und Praxis. Jena, Stuttgart. Wiese, M./Grüngreiff, K./Güthoff,W./Lafrenz,M./Oesen,U./Porst, H. (2000): Outcome in a hepatitis C (genotype 1b) single source outbreak in Germany – a 25-year multicenter study. Hepatology 43, 4 (2005), S. 590–598.

VERSUCHSFELD DDR. KLINISCHE PRÜFUNGEN WESTLICHER PHARMAFIRMEN HINTER DEM EISERNEN VORHANG Rainer Erices, Andreas Frewer, Antje Gumz EINLEITUNG Als das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Mai 2013 über angebliche Menschenversuche in der DDR berichtete, war die Öffentlichkeit wachgerüttelt.1 Zwar hatten Zeitungen oder Fernsehen wiederholt seit 1990 über die Medikamentenprüfungen westlicher Pharmaunternehmen in der DDR berichtet, doch diesmal entstand eine Welle der Empörung. Vorwürfe standen im Raum, die DDR hätte ihre Patienten gegen Devisen als Versuchskaninchen verkauft, Dopingmittel an Frühgeborenen getestet oder Schwerstkranken bei Studien mit Placeboeinsatz eine Therapie versagt. In die öffentliche Debatte schalteten sich Politiker ein und forderten Aufklärung. Mutmaßliche Testpersonen von einst meldeten sich zu Wort und verlangten Klarheit. Im Zuge der öffentlichen Diskussion wurde deutlich, dass die einstigen Geschehnisse im DDR-Gesundheitswesen noch immer nicht aufgearbeitet waren. Zuverlässige Daten über den Umfang der klinischen Studien, über deren Hintergründe und Ziele sowie über Fragen von Patientenaufklärung und -einverständnis fehlten und damit auch eine historische und ethische Bewertung. Unsere Untersuchungen geben erstmals einen systematischen Überblick über die klinischen Prüfungen westlicher Pharmahersteller in der DDR. Wir analysieren dazu einen Großteil der heute zur Verfügung stehenden Akten aus DDR-Beständen und untersuchen die Verträge zwischen den Pharmaherstellern, dem DDR-Außenhandel und den beteiligten Einrichtungen des DDR-Gesundheitswesens. Die zeitgeschichtlichen Ergebnisse werden dabei in den Kontext der medizinhistorischen Forschung zu Humanexperimenten eingebettet und aus ethischer Perspektive auf dem Stand der gegenwärtigen Erkenntnisse bewertet.2

1

2

Vgl. Kuhrt/Wensierski (2013) sowie ferner Erices (2014a). Der vorliegende Beitrag basiert auf Erices et al. (2014) und ergänzt u.a. die zentrale Tabelle auf S. 133–136 in Bezug auf die Diagnosen. Zur Geschichte und Ethik der Forschung am Menschen im 20. Jahrhundert siehe u.a. Roelcke/Maio (2004), Eckart (2006), Frewer/Schmidt (2007), Schmidt/Frewer (2007), Böhme et al. (2008), Frewer (2008), Pethes et al. (2008), Griesecke et al. (2009), Bettin (2010), Frewer (2011) und Frewer/Schmidt (2014).

130

Rainer Erices, Andreas Frewer, Antje Gumz

WESTLICHE MEDIKAMENTENSTUDIEN IN DER DDR (AB 1983) In der DDR wurde das Gesundheitswesen stets als einer der großen Vorzüge des Sozialismus gepriesen, doch wie die gesamte Wirtschaft des Landes stand es in den 1980er Jahren vor dem Ruin.3 Vor diesem Hintergrund war das Gesundheitswesen verpflichtet, zusätzliche Devisen für den Staat zu erwirtschaften. Im Rahmen des so genannten „immateriellen Exports“ (IME) wurden vom DDRGesundheitswesen Fachkräfte ausgebildet oder Ausländer gegen Devisen medizinisch betreut. Der Staat verkaufte zudem „sehr materielle Waren“ der Medizin wie Blut und Blutprodukte in den Westen. Außerdem konnten westliche Hersteller Arzneimittel und Medizintechnik in der DDR prüfen lassen. Diese klinischen Studien für den Westen sollten anfangs nur „im ausgewählten und geringen Umfang“ durchgeführt werden, damit „die DDR nicht zum Versuchsfeld westdeutscher oder amerikanischer Arzneimittelkonzerne wird“.4 Bereits ab den 1960er Jahren waren westliche Medikamente in der DDR getestet worden; ab 1983 wurden die Studien ausgeweitet, systematisch durchgeführt und zentral organisiert.5 Wir dokumentieren und untersuchen im vorliegenden Beitrag die Pharmastudien im Rahmen des immateriellen Exports ab 1983 bis zum Jahr 1990.6 Dafür werteten wir bis dato erschlossene Aktenbestände aus dem einstigen DDRGesundheitswesen aus, die heute im Bundesarchiv Berlin lagern. Aufschlüsse gaben vor allem die Unterlagen des Beratungsbüros für Arzneimittel (Import) im Gesundheitsministerium (BBA). Wir analysierten auch Bestände des Zentralen Gutachterausschusses (ZGA), der den jeweiligen Tests in der Regel vorab zustimmen musste, sowie Akten verschiedener Abteilungen des Ministeriums. Auch die Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) konnte eine Vielzahl von Akten bereitstellen. In ihnen befinden sich Informationen zur Überwachung der Pharmatests durch die DDR-Staatssicherheit, zu Abläufen, Verantwortlichen und Todesfällen. Insgesamt lagen uns weit mehr als 200 teils mehrbändige Akten vor. Sie ergeben ein gutes Bild der Anzahl der klinischen Tests, über die geprüften Medikamente und die beteiligten Patienten, Einrichtungen und deren Mitarbeiter sowie auch über Todesfälle. Die Pharmatests wurden von mehreren Institutionen organisiert: Zentraler Anlaufpunkt für die westlichen Firmen war das Beratungsbüro für Arzneimittel (BBA) im Gesundheitsministerium. Das BBA war in sämtliche organisatorische Abläufe und in die Vertragsgestaltung einbezogen. Die Verträge wurden außer von den Pharmafirmen und dem BBA auch von der DDR-Firma Berliner Import Export GmbH (BIEG) geschlossen. Die BIEG gehörte zum Geheimbereich der Kommerziellen Koordinierung (KoKo) des DDR-Außenhandels und war für die finanzielle Abwicklung zuständig.7 3 4 5 6 7

Erices (2013). Siehe auch den Beitrag von Erices und Gumz im vorliegenden Band. BArch, DQ 1/13175. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM, Nr. 505/88, II/1. Vgl. zu weiteren Studien insbesondere Erices (2013a), (2014a) und (2014b). BArch DQ 1/14477.

Versuchsfeld DDR

131

Gesetzliche Grundlage für die klinischen Prüfungen waren die Arzneimittelgesetze der DDR von 1964, später von 1986, sowie verschiedene Durchführungsrichtlinien.8 Darin war festgelegt, dass Medikamentenstudien der Phase I-III nur durchgeführt werden durften, wenn die Probanden über Ablauf, Wirkungen und Risiken aufgeklärt wurden und ihr Einverständnis erteilten. Innerhalb der Phasen I und II war dazu ein Protokoll mit Unterschriften von Arzt und Patient vorgeschrieben. Für eine Zustimmung der Studie war in der Regel zudem eine Empfehlung des Zentralen Gutachterausschusses für Arzneimittelverkehr (ZGA) nötig, die auf zwei Fachgutachten beruhte. Der ZGA fungierte als zentrale „Ethikkommission“.9 Vergleichbare Einrichtungen gab es an den Universitäten noch nicht. Die Bezahlung für die Studien wurde in Standardverträgen festgelegt. Die westlichen Auftraggeber überwiesen das Geld in Valuta auf ein Konto der BIEG. Die KoKo-Firma behielt rund die Hälfte der Einnahmen.10 Was mit diesen Geldern geschah, ließ sich anhand der Akten nicht nachvollziehen. Der andere Teil der Einnahmen wurde auf das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen und die Akademie der Wissenschaften aufgeteilt. Eine Verpflichtung zur Ausschüttung des Betrags auf die an der Studie beteiligten Einrichtungen gab es nicht. Um die Motivation der Prüfärzte zu steigern, wurden Prämien an einzelne Ärzte und „Klinikskollektive“ in DDR-Mark ausgezahlt.11 Die Patienten erhielten kein Geld für ihre Teilnahme. Einige westliche Firmen legten Wert auf eine Vertragsklausel bezüglich Aufklärung und Einverständniserklärung der Patienten, andere verzichteten darauf.12 TESTS, KLINIKEN UND PATIENTEN Wir fanden Nachweise für 220 durchgeführte klinische Prüfungen von Medikamenten und Medizinprodukten westlicher Firmen von 1983 bis 1990.13 Geprüft wurde die gesamte Bandbreite von Pharmazeutika, darunter Chemotherapeutika, Antidepressiva, Antiallergika, Heparin oder Insulin, aber auch Kontrastmittel oder Zahnpaste. Die teuersten Studien mit jeweils mehreren Hundert Patienten waren klinische Prüfungen von Herz-Kreislauf-Medikamenten. Hier ließ sich eine Anzahl von Todesfällen nachweisen, die nach Aktenlage vermutlich Folge der schweren Erkrankung waren. So war die Teilnahme an verschiedenen Doppel-

8

9 10 11 12 13

Sekretariat des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik (1976): Gesetzblatt Teil I, Nr. 17, Ausgabe vom 02. Juni 1976. Zwölfte Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz – Prüfung von Arzneimittel zur Anwendung in der Humanmedizin vom 17. Mai 1976. Vgl. auch den Text im Anhang des vorliegenden Bandes. BArch DQ 1/14477. Siehe auch Bettin (2010). BArch DQ 105/24, 2/3. BArch DQ 108/90, 1/2. BArch DQ 1/14477. BArch DQ 108/89.

132

Rainer Erices, Andreas Frewer, Antje Gumz

blindstudien an das Vorliegen einer Herzschädigung gemäß NYHA III-IV gebunden.14 Einige der klinischen Auftragsuntersuchungen gehörten zu – auch internationalen – multizentrischen Studien. Sechs Studien wurden im Rahmen von „follow ups“ erweitert. Neun Studien wurden abgebrochen. Die genauen Gründe waren in den analysierten Unterlagen nicht dokumentiert. Die Mehrzahl der klinischen Prüfungen betraf die Phasen II und III. 15 Ein Großteil der Studien wurde doppelblind, gegen Placebo oder andere Medikamente, auch aus der DDR, durchgeführt. Die Studien wurden an mindestens 94 Standorten durchgeführt. Ein offizielles Papier aus dem Gesundheitsministerium listet 185 verschiedene Kliniken und Institute auf.16 Besondere Bedeutung kam den medizinischen Fakultäten des Landes zu, hier vor allem der Humboldt-Universität Berlin (mindestens 55 klinische Prüfungen) und den Medizinischen Akademien von Dresden (45) und Magdeburg (35) sowie der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock (35). Keine Nachweise konnten wir bislang darüber finden, dass die Studien auch in besonderen Bereichen wie Kinderheimen, Armeeeinrichtungen oder Gefängnissen17 durchgeführt wurden. Unsicher bleibt die Gesamtzahl der an den Studien teilnehmenden Patienten. Nach vorliegender Aktenlage waren an den klinischen Prüfungen im untersuchten Zeitraum mehr als 14.000 Patienten aller Altersklassen beteiligt. Während der klinischen Studien starben – dies kann bereits zum Stand der gegenwärtigen Untersuchungen konstatiert werden – einige Probanden. Die meisten Patienten (22) starben im Verlauf einer Studie von Vinpocetin (Thiemann) an Apoplexie-Patienten.18 In den Akten ließen sich jedoch keine Hinweise darauf finden, dass die Todesfälle ursächlich mit der klinischen Prüfung in Verbindung standen. FIRMEN UND VALUTAEINNAHMEN Mindestens 68 westliche Firmen, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum, ließen in der untersuchten Zeit Medikamente in der DDR prüfen.19 Für 217 Studien konnte das vertraglich fixierte Honorar für die Prüfungen ermittelt werden. Das Gesamtvolumen für klinische Prüfungen westlicher Hersteller lag demnach zwischen 1983 und 1990 bei rund 16,5 Millionen DM. Die meisten Verträge mit der DDR schloss in dieser Zeit das Unternehmen Boehringer Mannheim (32) ab, gefolgt von Schering und Sandoz (jeweils 18). Die größten Einnahmen erzielte die DDR den Verträgen zufolge mit der Firma Hoechst (knapp 3 Millionen DM). Bei 37 klinischen Prüfungen nahmen jeweils mindestens 100 Patienten teil. 14 15 16 17 18 19

BArch DQ 108/95, 2/2. BArch DQ 1/14477. Ebd. Vgl. u.a. Indizien bei Meyer (2013) und in einer an der Professur für Ethik in der Medizin laufenden Dissertation von A. M. Lehner. Ferner siehe auch Wunschik (2014). BArch DQ 108/94, 1/2. Zu einer Übersicht der beteiligten Firmen siehe auch Erices et al. (2014).

133

Versuchsfeld DDR

Die nachstehende Übersicht zeigt die Angaben aus den Verträgen zu den zu testenden Substanzen, den beteiligten Firmen und den Krankheitsbildern sowie die geplanten Einnahmen an Fremdwährung für die DDR (die Anordnung erfolgt in alphabetischer Reihenfolge der Präparatnamen). Präparat (teilweise Angabe Freiname)

Firma

Vereinbarte Summe (in DM)

Diagnose

Patientenzahl

Acarbose

Bayer

240.000

Diabetes mellitus

140

afpred forte

Hefa-Frenon

90.000

Akuter Asthmaanfall

121

Anusol (Pramocain)

Gödecke

50.000

Hämorrhoiden

160

Beclomet

Orion

148.026

Schweres Asthma bronchiale

150

Bifluorid 12

Voco-Chemie

10.000

Kariesprophylaxe

300

Budesonid

Astra

75.000

Asthma-Prävention

450

Bunazosin ret.

Sandoz

351.000

Hypertonie

234

Cefpirom

Hoechst

150.000

Atemwegs-/ Harnwegsinfektionen

150

Claforan (Cefotaxim)

Hoechst

80.000

Bakterielle Meningitis

100

Enoxaparin (niedermolekulares Heparin)

Nattermann

100.000

Prophylaxe postoperative Beinvenenthrombose

200

Enprostil

Syntex

180.000

Duodenalulcera

100

134

Rainer Erices, Andreas Frewer, Antje Gumz

Eracin (Epirubicin)

Orion

180.000

Akuter respiratorischer Infekt

297

Gefäßprothesen Protegraft DV

Braun Melsungen

20.000

Gefäßchirurgie

100

Heparin

Sandoz

120.000

Thromboseprophylaxe in Abdominalchirurgie

300

HOE 760/2/ MN/202/DU

Hoechst

300.000

Duodenalulkus

100

HOE 760/2/ MN/202/GU

Hoechst

300.000

Magenulkus

100

Iloprost topisch

Schering

117.000

Ulcus cruris

144

Jatrox

Röhm Pharma

350.000

Chronisch-aktive Gastritis, Typ B

400

Ketac-Bond

Espe

95.000

Zahnfüllungen

160

Ketac Silver

Espe

25.000

Zahnfüllungen

100

Levoprotilin

Ciba Geigy

80.000

Depression

100

Madopar/ Pravidel

Sandoz

220.000

M. Parkinson

100

Magnesiocard

Verla-Pharm

100.000

Akuter Hörsturz

100

Methylprednisolon

Schering

137.350

Psoriasis, Neurodermitis

175

Mifepriston

Roussel Uclaf

60.000

Frühe Schwangerschaftsunterbrechung

100

135

Versuchsfeld DDR

Nalador (Sulproston)

Schering

40.000

Zervixdilatation, Abortinduktion bei Primigravidae

290

Niedermolekulares Heparin

Sandoz

120.000

Chronische Dialyse

100

Ofloxacin

Hoechst

144.000

Pneumonie/allgemeine Infektionen/ Harnwegsinfekte

180

Oftan Timolol

Star

55.000

Glaukom

110

Omnipaque (Iohexol)

Medica

190.000

Myelographie Röntgenkontrastmittel

400

Picumast

Boehringer Mannheim

20.000

Chronisch-entzündliche Erkrankungen

120

Picumast

Boehringer Mannheim

70.500

Chronisch-entzündliche Erkrankungen

150

Picumast

Boehringer Mannheim

347.000

Chronisch-entzündliche Erkrankungen

300

Pontuc

Sandoz

153.000

Hypertonie

170

Ramipril

Cassella

700.000

Hypertonie

480

Ramipril

Hoechst

482.500

Herzinsuffizienz NYHA III-IV

145

Ramipril

Hoechst

880.000

Hypertonie

480

Ridazolol

Cassella

340.000

Hypertonie

200

136

Rainer Erices, Andreas Frewer, Antje Gumz

Sandimmun (Ciclosporin)

Sandoz

150.000

Schwere chronische Psoriasis

100

Sandimmun (Ciclosporin)

Sandoz

180.000

Psoriasis

100

Sebon-Verfahren MKV

Schütz Dental

43.500

Zahnfüllungen

200

Sultamicillin

Pfizer

70.000

Infektionen, Haut, Weichteile Kinder

100

Tagagel (Cimetidin)

Smith KlineDome

117.000

Non-ulcerDyspepsie

180

Veratide

Röhm Pharma

49.000

Essentielle Hypertonie WHO I-II

140

Vinpocetin

Thiemann

142.400

Wirksamkeit hirnaktiver Substanzen bei Apoplexie-Patienten

121

Thiemann

400.000

(Alkoholbedingtes) Organisches Psychosyndrom

150

Blenda-med

22.000

Gingivitis

100

Vinpocetin

Zahnpaste

PATIENTENAUFKLÄRUNG UND ETHISCHE FRAGEN Die ausgewerteten Unterlagen ergeben den Eindruck, dass die DDR die klinischen Medikamentenprüfungen – so der aktuelle Forschungsstand in einem sich stark entwickelnden Feld – entsprechend den auch international üblichen Standards durchführten. Wir fanden bisher keinen Nachweis, dass Patienten systematisch und vorsätzlich bei den Prüfungen geschädigt wurden. Etlichen Unterlagen zufolge forderten die leitenden Gesundheitsbehörden wiederholt den Schutz der Pa-

Versuchsfeld DDR

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tienten.20 Jedoch blieb unklar – und das ist ein moralisch nicht unerheblicher Aspekt –, ob bzw. in welchem Ausmaß die Patienten tatsächlich wussten, dass sie an Pharmastudien teilnahmen, darunter auch an Prüfungen von international umstrittenen und nicht zugelassenen Medikamenten. Einige Verträge enthielten die Klausel, dass Informationen über die Medikamente beim Prüfarzt zu verbleiben hatten. Trotz intensiver Suche in den zentralen DDR-Aktenbeständen fanden wir keine Aufklärungsbögen oder schriftlichen Patienteneinverständnisse. Zwar konnten Patienten ihre Zustimmung auch mündlich äußern, doch auch dazu fanden wir keine Einzelnachweise; unterschriebene Aufklärungsbögen sind jedoch der Standard für Forschung am Menschen. Die Ergebnisse stehen im Kontrast zum Abschlussbericht einer Kommission, die bereits im Jahr 1991 in Berlin klinische Prüfungen westlicher Hersteller für die DDR-Hauptstadt untersucht hatte.21 Eine Pilotstudie anhand von Krankenakten an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Jahr 2013 zeigte, dass einige teilnehmende Patienten wussten, dass sie ein in der DDR noch nicht zugelassenes Antidepressivum eines westlichen Herstellers einnahmen.22 Jedoch wurden keine Unterlagen gefunden, die zeigen, wie die Patienten aufgeklärt wurden. Das überrascht insofern, da das verantwortliche OstBerliner BBA zumindest ab Januar 1988 für die westlichen Studien ein Protokoll des Aufklärungsgesprächs inklusive einer Einverständniserklärung „als Mindestanforderung“ vorschrieb.23 Im Rahmen der Jenaer Untersuchung wurden auch die betreffenden Studienunterlagen aus dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ausgewertet, jedoch konnten auch hier keine entsprechenden Hinweise gefunden werden, wie die Patientenaufklärung tatsächlich ablief. Die klinische Prüfung war von Ciba-Geigy initiiert worden. Der Rechtsnachfolger Novartis lehnte eine Zusammenarbeit mit der Forschergruppe der vorliegenden Arbeit im Rahmen der Jenaer Pilotstudie ab.24 Fraglich blieb, warum noch im Februar 1988 Verantwortliche im DDR-Gesundheitsministerium den für die einzelnen klinischen Prüfungen zuständigen Ärzten mangelnde Kenntnisse über die Arzneimittelgesetze und vor allem über notwendige Patientenaufklärung bescheinigten.25 Im November 1988 wurden Ärzte noch einmal angemahnt, „mehr als bisher“ auf eine „mündliche oder schriftliche Einverständniserklärung“ zu achten, „um damit auch politische Diskussionen“ der Patienten zu vermeiden.26 Dies zeigt eindeutig, dass die moralische Brisanz bereits in der Zeit der Durchführung der Humanversuche erkannt wurde. Zunehmend diskutierten die obersten Leitungsgremien über internationale 20 21 22

23 24 25 26

Vgl. BArch DQ 1/14477, 108/93, 1/2 und 1/14470. Anonymus (1991). Vgl. www.uniklinikum-jena.de/Startseite/Aktuelles_Presse/Presse/PM_Archiv/PM_Archiv+ 2013/Arzneimittelstudien+in+der+DDR_+Arbeitsgruppe+am+UKJ+legt+Verfahrensvor schlag+zur+%C3%9Cberpr%C3%BCfung+der+DDR_Studien+vor-pos-4-p-42544.html (04.04.2014). BArch DQ 1/14477. Erices (2014). BArch DQ 108/90, 1/2. BArch DQ 1/14477.

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Standards für klinische Prüfungen. Anfang 1989 kam das Gesundheitsministerium zu dem Schluss, dass eine Zulassung von internationalen FDA-Kontrolleuren im Land empfehlenswert sei, die GCP-Regeln27 sollten „jetzt zum Standard“ werden. Ein entscheidendes ethisches Problem bei den Medikamentenstudien in der DDR besteht darin, dass die Bevölkerung nicht über die Tests informiert wurde. Die Geschäftsabläufe blieben geheim. Die Menschen sollten vor allem nichts über die Dringlichkeit der Deviseneinnahmen wissen. Die eigentliche Vertragsgestaltung lief zwischen Ost und West nicht primär über Mediziner oder Pharmazeuten ab, sondern über den geheimen Außenhandel der DDR.28 Die DDR-Staatssicherheit war – im Gegensatz zur Bevölkerung bzw. den betroffenen Patienten – jederzeit über die klinischen Auftragsuntersuchungen informiert. Der Geheimdienst sammelte bereits seit den 1960er Jahren umfangreiches Material zu den Prüfungen. Das MfS hatte inoffizielle Mitarbeiter in allen Bereichen, die für die klinischen Prüfungen zuständig waren.29 Die MfS-Akten belegen dabei durchaus auch kritische Diskussionen unter den Prüfärzten. Gefragt wurde beispielsweise, ob die DDR ein „billiges Versuchsfeld für den Westen“ geworden sei.30 Da es keine öffentliche Diskussion über klinische Medikamentenprüfungen gab, wurden Patienten, die für eine Teilnahme an einer Studie durch die Prüfärzte ausgewählt wurden, in der Regel von den behandelnden Medizinern mit diesem Anliegen überrascht. Viel Zeit zum Überlegen, wenn es denn überhaupt ein umfassendes aufklärendes Gespräch vorab gab, blieb ihnen nicht. Grundsätzlich erscheint eine umfassende Wahlfreiheit der Kranken angesichts ihrer Abhängigkeit von Ärzten, darüber hinaus in einem diktatorischen Staat, wie die DDR es war, deutlich eingeschränkt. Hinzu kommt, dass die teilnehmenden Ärzte selbst, so berichten Zeitzeugen, in der Regel den Einsatz der zu prüfenden Mittel begrüßten. Die Medikamente waren neu, sie stammten aus dem „besseren Westen“, teilweise fehlten ohnehin vergleichbare eigene Produkte. Außerdem konnten die DDRPrüfärzte hoffen, mit ihrer Teilnahme Ko-Autoren von internationalen Publikationen zu werden, was ihnen teilweise auch den Weg zu Auslandsreisen ebnete. Diese Anreizsysteme zur Herstellung politischer Konformität sollten in ihrer Wirksamkeit keineswegs unterschätzt werden. Problematisch erscheint aus ethischer Perspektive zudem, dass sich in der DDR entsprechend der marxistischen Grundideen die Interessen Einzelner denen des Kollektivs unterzuordnen hatten.31 Insofern erscheint fraglich, ob man die individuellen Rechte und Anliegen der Patienten ausreichend berücksichtigte. In der DDR wurden wesentliche Entscheidungen aus ideologischen Gründen ge27 28 29

30 31

Mit „GCP“ werden die Regeln für „Good Clinical Practice“ bezeichnet, also die Standards für die adäquate Durchführung von Studien und Humanexperimenten. BArch DQ 105/24, 1/3. BStU, MfS, AIM, Nr. 8276/91. BStU, MfS, AIM, Nr. 12750/83. BStU, MfS, HA XX, Nr. 6899. BStU, MfS, HA XX, Nr. 47, 1/2. BStU, MfS, HA XX, Nr. 44, 1/3. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 2789. BStU, MfS, Sekr. Mittig, Nr. 156, 2/2, 238-239. BStU, MfS, BV Berlin, AGMS, Nr. 4314/91, 260–261. Quitz (2013).

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troffen.32 Ethische Grundsätze orientierten sich an den Erfordernissen des Staates, sie existierten, jedoch nur im Sinne einer sozialistischen Kollektivethik – eine Tatsache, die auch heute von führenden DDR-Ethikern nicht bestritten wird.33 Von Mitarbeitern, Ärzten oder Wissenschaftlern wurde grundsätzlich erwartet, dass sie ihre privaten Interessen denen des Staates unterordnen oder bestenfalls anpassen.34 Unabhängige Meinungen waren nicht erwünscht. In diesem Kontext scheinen klinische Prüfungen von nicht zugelassenen Medikamenten oder Placebo-kontrollierte Doppelblindstudien mit ihren entsprechenden Risiken am Menschen fragwürdig.35 Ebenfalls kritisch aus ethischer Perspektive ist die Devisenabhängigkeit der DDR zu sehen. Die staatliche Forderung an das Gesundheitswesen, so viele Valutamittel wie möglich zu beschaffen, kollidiert im Grunde mit dem Gedanken, primär alles zum Wohle der Patienten zu tun. Hinzu kommt die generelle Mangelsituation im Gesundheitssystem der DDR. Es fehlte an Arzneimitteln, Verbandsmaterialien, Ausrüstung. Ein Großteil der Einrichtungen hatte erheblichen Sanierungsbedarf.36 Die verantwortlichen Leiter waren gezwungen, den staatlichen Anweisungen zu folgen. Darüber hinaus erhielten sie und die teilnehmenden Prüfärzte Prämien für ihre Mitarbeit bei den klinischen Prüfungen, wenn auch nicht in Valuta. Wie fast jeder Bereich des öffentlichen Lebens war auch das Gesundheitswesen in der DDR zentral organisiert. Die verantwortlichen Machthaber entschieden, welche Informationen nach außen dringen durften. So gab es keine öffentliche Debatte über den drohenden wirtschaftlichen Bankrott des gesamten Landes oder Prioritätensetzungen bei der Ressourcenverteilung. Es war Teil der Staatspropaganda, das eigene Gesundheitswesen als einen der Vorzüge des Sozialismus anzupreisen.37 Dass umfassende Gesundheitsfürsorge für jeden Bürger Ende der 1980er Jahre kaum noch zugänglich oder möglich war, wurde nicht kommuniziert.38 In einem solchen diktatorischen und geheimdienstlich-manipulativen System, das grundsätzlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfälschte, erscheint es kaum denkbar, zu wissen, was real ist.39 Vor dem Hintergrund der massiven Manipulation und Kontrolle der öffentlichen Meinung war es nahezu unmöglich, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Dass es zu den klinischen Medikamentenprüfungen keine öffentliche Debatte gab, kam den auf Diskretion bedachten westlichen Pharmaherstellern entgegen. Zweifellos waren die klinischen Auftragsuntersuchungen nicht nur für die „devisenklamme“ DDR interessant. Die westlichen Pharmaproduzenten hatten die 32 33 34 35 36 37 38 39

Wolle (2013). Luther (2010). Schlich (2002). Kopelman (1986). Erices/Gumz (2014). Friedrich-Naumann-Stiftung (2008). Zusatzfragen zum Themenkreis DDR (2009), vgl. http://www.freiheit.org/files/62/DDRDiagramme.pdf (04.01.2014). Vgl. Freudenstein/Borgwardt (1992) und Erices/Gumz (2014). Sperlich (2006).

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Möglichkeit, kostengünstig neue Präparate prüfen zu lassen. Zwar war die Gesetzgebung für das Testen neuer Medikamente in der DDR im Wesentlichen analog zu der der Bundesrepublik und in einem Punkt sogar strenger: jede Prüfung musste ministeriell bestätigt sein; doch durch die große Abhängigkeit der DDR von Deviseneinnahmen konnten die Hersteller eine gewisse Willfährigkeit bei der Erfüllung der Prüfungsverträge erwarten. Außerdem erschlossen sich die westlichen Firmen neue Märkte in den Ostblockstaaten. Sie konnten auf eine Konkurrenz zwischen den Staaten bauen, denn auch die ČSSR oder Ungarn bemühten sich, lukrative devisenträchtige Verträge mit dem Westen abzuschließen.40 UNGERECHTFERTIGTE SKANDALISIERUNG UND WEITERER FORSCHUNGSBEDARF Die breite und oft auch pauschale mediale Skandalisierung der klinischen Medikamentenstudien in der DDR erscheint insgesamt jedoch ungerechtfertigt bzw. zumindest differenzierungsbedürftig. In den meisten Berichten wurden die Studien per se in die Nähe von „Verbrechen“ gerückt. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit von Medikamentenprüfungen fand kaum statt. Todesfälle im Rahmen der Studien wurden geschildert, meist fehlte jedoch der Hinweis darauf, dass es sich bei den Teilnehmern um schwerstkranke Patienten handelte, die eben auch an der Grundkrankheit und nicht an den Prüfpräparaten starben. Zudem gab es eine Reihe von fehlenden Grundkenntnissen bei einzelnen Berichten; Beschreibungen von Erythropoetin-Studien fehlte etwa der Hinweis, dass der Stoff eine essenzielle Rolle bei der körpereigenen Blutzellbildung spielt.41 Grundsätzlich erscheint in diesem Zusammenhang der Gebrauch des Begriffes „Menschenversuch“ problematisch. Dies stellt die klinischen Prüfungen in der DDR in die Nähe von Verbrechen der Nazis, unter denen Ärzte willkürlich unnötige, unwissenschaftliche und unmenschliche Untersuchungen gänzlich ohne jegliche Art von Einverständnis ihrer Opfer vornahmen, und bei denen der Tod der Probanden nicht nur akzeptiert, sondern manchmal sogar das Ziel war. Ein Vergleich dieser Verbrechen mit den klinischen Studien westlicher Firmen in der DDR ist unpassend, naiv und trivialisiert im Grunde schwerste Menschenrechtsverletzungen unter den Nazis.42 Die vielen medialen Berichte zeigen, dass die historische Aufarbeitung der jüngeren DDR-Medizingeschichte und ihre Bewertung noch in den Kinderschuhen steckt. Sicherlich wurde die Wahrnehmung der Problematik geschärft. Für eine umfassende Aufarbeitung der damaligen DDR-Devisengeschäfte sollten weitere regionale Einzelstudien, die auch die aufwändige Analyse von Krankenakten beinhaltet, angestoßen werden. Darüber hinaus sollten die damals beteilig40 41 42

MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 2789. BArch DQ 105/62. BArch DQ 108/96. Vgl. auch Grabar (2013). Vgl. u.a. Frewer et al. (1999), Roelcke/Maio (2004) und Eckart (2006).

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ten westlichen Pharmaunternehmen oder deren Rechtsnachfolger ihren Beitrag leisten.43 Bestenfalls sollten unabhängige Forscher Zugang zu den entsprechenden Unterlagen bekommen. Die gesamte Aufarbeitung der Qualität von Humanforschung – im Osten wie im Westen – kann nur profitieren von Transparenz und einer offenen Diskussion.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN Bundesarchiv (BArch), Berlin BArch, DQ 1/13175. BArch, DQ 1/14470. BArch, DQ 1/14477. BArch, DQ 105/24. BArch, DQ 105/62. BArch, DQ 108/89. BArch, DQ 108/90. BArch, DQ 108/93. BArch, DQ 108/94. BArch, DQ 108/95. BArch, DQ 108/96. BArch, DQ 131/75. Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin BStU, MfS, AIM, Nr. 8276/91. BStU, MfS, AIM, Nr. 12750/83. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 2789. BStU, MfS, BV Berlin, AGMS, Nr. 4314/91. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM, Nr. 505/88, II/1. BStU, MfS, HA XX, Nr. 44. BStU, MfS, HA XX, Nr. 47. BStU, MfS, HA XX, Nr. 6899. BStU, MfS, Sekr. Mittig, Nr. 156.

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43

Im Februar 2014 stellte das Unternehmen Roche, das auch Rechtsnachfolger der Firma Boehringer Mannheim ist, eigene Archiv-Recherchen vor. Abrufbar unter: www.roche.de/ medien/meldungen/Roche-stellt-Ergebnis-der-Archivarbeit-Klinische-Studien-in-der-DDRonline-3525.html (15.01.2015).

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MORALISCHE FRAGEN VON STERBEN UND TOD. MEDIZINETHIK DER DDR IM DIENST DES MARXISMUS Andrea Quitz Die DDR war ein weltanschaulich diktatorisch geprägter Staat, bei dem man für die Zeit seiner Existenz mehrere posttotalitäre Phasen1 festmachen kann. Das lässt sich am Beispiel der ideologischen Durchdringung und staatlichen Lenkung der Medizinethik zeigen. Ausgehend von einer kurzen Darstellung der marxistischen Ausgangspositionen sollen die Ausdifferenzierung der ideologischen Positionen und die Grenzen, die Staat und Weltanschauung setzten, thematisiert werden; dies wird gespiegelt im Bereich der Überlegungen zu Fragen des Umgangs mit dem Lebensende. Die medizinethische Reflexion der DDR über das Thema Sterben und Tod, wie überhaupt die Medizinethik, kann drei Gruppen zugeordnet werden: Die offizielle Ethik war in den philosophischen bzw. marxistisch-leninistischen Instituten der Universitäten oder Akademien angesiedelt und unterlag aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Nomenklatura einer starken Parteikontrolle. Eine zweite Gruppe bildeten Ärztinnen oder Ärzte, die sich mit dieser Thematik befassten, publizieren durften und weitgehend systemkonform waren. Die dritte Gruppe ist als heterogen anzusehen und stellte mit ihren Ansätzen eine „Parallelkultur“ zur offiziellen Sichtweise dar. Häufig agierten ihre Vertreter im Rahmen der Kirche und waren Repressionen ausgesetzt. Aufgrund der nicht vorhandenen Publikationsmöglichkeiten besteht im Nachhinein die Schwierigkeit der umfassenden historischen Rekonstruktion ihrer Ideen.2 Der Marxismus beinhaltet eine diesseitsbezogene Vorstellung, in der mit dem Ableben die Existenz des Individuums endet und die gesellschaftlichen Belange kaum Raum für das Thema Sterben und Tod bieten. So blieb dieses Thema in der DDR stets mit einer gewissen Brisanz behaftet und die Auseinandersetzung dürftig. Erst in den 1980er Jahren wird die Wahrnehmung differenzierter, nicht zuletzt 1

2

Vgl. hierzu Thompson (2002); dieser teilt – ausgehend von Linz/Stepan (1996) – einige kommunistische Systeme, darunter auch die DDR, in „early“ (50er/60er Jahre), „frozen“ (70er/80er Jahre) und „paralysed post-totalitarism“ (1988-89) ein. Die zweite Phase setzt nach Thompson etwa mit dem Prager Frühling 1968 ein. Linz, Stepan und Thompson analysieren nicht-demokratische Regime nach vier Merkmalen – Pluralismus, Ideologie, Mobilisation und Führung – und unterscheiden so vier nicht-demokratische Regimetypen: Totalitarismus, Posttotalitarismus, Autoritarismus und Sultanismus. Für die DDR ist es sinnvoll, erst in der Honecker-Ära ab Mitte der 1970er Jahre von der „Frozen“-Phase zu sprechen, da sich bestimmte Merkmale erst unter seiner Regierung zeigten. In der Medizinethik manifestierte sich diese Phase erst deutlich mit Beginn der 80er Jahre, die sich durch eine begrenzte Differenziertheit in den Publikationen zeigt. Vgl. zu weiteren Hintergründen insbesondere Quitz (2013) und (2015).

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durch bessere Möglichkeiten der Rezeption internationaler Literatur. Die Gruppe der Mediziner ist in dieser Hinsicht als führend hervorzuheben. Im real existierenden Sozialismus der DDR lag die Lebenserwartung unter der der BRD. 1985 belief sie sich für Männer auf 69,46 und für Frauen auf 75,42 Jahre. Diese Diskrepanz wurde öffentlich nicht diskutiert, vergleichbare Zahlen waren in Publikationen kaum zu finden. Warum Tod und Sterben in der DDR als schwieriges Feld oder gar als Tabuthemen galten, hatte ideologische Gründe. Erst mit den politischen Auflösungserscheinungen, insbesondere zum Ende der 1980er Jahre, ist eine verhaltene Infragestellung und zuletzt sogar Ignorierung ideologischer Prämissen auszumachen. Die ethische Grundfrage, die bezüglich der Ideologie zutage tritt, ist sonst stets die der Stellung des Individuums in der Gesellschaft: Hier steht das Wohl der Gesellschaft – um im marxistischen Jargon zu bleiben – „antagonistisch“ den Individualrechten gegenüber. Beim Thema Sterben und Tod wird diese Frage besonders stark berührt, und auch der Rückzug in den nur vage herausgearbeiteten marxistischen Humanismus vermag dieses Spannungsverhältnis nicht aufzuheben. DER TOD AUS DEM BLICKWINKEL DES MARXISMUS-LENINISMUS Im Marxismus verkörpert der Tod im Gegensatz zur christlichen Lehre eine völlige Rückkehr ins Nichts. Der Atheismus bedeutete nicht nur eine Ablehnung jeglicher Vorstellung von einem Gott, sondern auch die Verneinung eines Lebens nach dem Tod. Als Gottesersatz fungiert in der marxistischen Lehre das Kollektiv, was eine Erhebung des Menschen an Gottes Stelle implizierte.3 Demnach gab es auch kein Jenseits im christlichen Sinne, dennoch wird als pseudoreligiöses Element ein vermeintliches Paradies in Form eines verheißenen Kommunismus’ ins Diesseits verlegt. Lenin spricht hier von der „Schaffung eines Paradieses auf Erden“.4 Der Zeitpunkt der Realisierung des Kommunismus blieb jedoch unklar, sodass sich der Kommunist für eine Gesellschaftsordnung einsetzen sollte, die er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht selbst erleben würde. Auf diese Weise blieb das Problem der Sterblichkeit bestehen, sodass selbst den Marxisten klar sein musste, dass derartige Heilsversprechen nicht überzeugend sein konnten und dem „neuen Menschen“, der ihnen vorschwebte, einen starken Altruismus abverlangte. Die marxistischen Philosophen stellten eine Überwindung des Todes, realisiert durch medizinischen Fortschritt, in Aussicht.5 Während in der Religion der Tod als ein zentrales Ereignis wahrgenommen wird, erklärt die marxistische Philosophie ihn zu einer Randerscheinung menschlichen Daseins und einer geheimnisfreien Angelegenheit. Er bedeutet schlichtweg das endgültige Ende des Individuums, das zufällig eintritt und über das man nicht viele Worte verliert, geschweige denn, sich damit auseinandersetzt. Diese ideo3 4 5

Vgl. Maceina (1969), S. 94–130. Lenin (1931), S. 17. Vgl. Maceina (1969), S. 147–148.

Moralische Fragen von Sterben und Tod

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logischen Voraussetzungen muss man als Hintergrund kennen, wenn man die medizinethischen Auseinandersetzungen in der DDR zu dieser Thematik verstehen will. STERBEN UND TOD IM OFFIZIELLEN KONTEXT Staatlich eingebundene Ethiker, die sich mit Sterben und Tod auseinandersetzten und publikatorisch hauptsächlich in Erscheinung traten, waren Uwe Körner (Akademie für Ärztliche Fortbildung Berlin), die Internistin und Geisteswissenschaftlerin Susanne Hahn wie auch der Medizinhistoriker Achim Thom, die beide am Leipziger Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften beschäftigt waren, der in Halle tätige Anästhesist Günther Baust und der Thanatologe bzw. Facharzt für Allgemein- und Sozialmedizin Kay BlumenthalBarby. Letzterer lehrte am Institut für Sozialhygiene und Organisation des Gesundheitswesens „Maxim Zetkin“ in Berlin. Hinzu kommt eine Reihe von Medizinern, die meist im Rahmen eines Autorenkollektivs arbeiteten. Der Beitrag einzelner Autoren ist dadurch oft schwer zu identifizieren, da der entsprechende Verfasser nicht immer explizit genannt wird. Typisch für die marxistisch-leninistische Ethik insbesondere der 1960er und 70er Jahre ist die Realitätsferne, die vom deduzierenden Herangehen nicht zu hinterfragender Prämissen ausging. Erst in den 80er Jahren ist ein differenzierterer und realitätsbezogenerer Trend auszumachen, der sich bis zur Wende fortsetzte. Nicht zuletzt trugen die Publikationen empirisch ausgerichteter Mediziner und die im Wandel begriffene gesellschaftliche Wahrnehmung des Sozialismus zu dieser Entwicklung bei. Zum Ende der DDR spielte die nachlassende staatliche Ahndung ideologischen Abweichens ebenfalls eine Rolle. Körner befasste sich als einer der führenden Medizinethiker der DDR mit der Thematik Sterben. In seinem Buch „Vom Sinn und Wert menschlichen Lebens“ widmete er ihr ein Kapitel. Den Tod definierte Körner als „beschränkende Bedingung menschlichen Lebens“.6 Im Hinblick auf das Individuum stellte er fest, dass der Mensch in der Regel um die Begrenztheit seiner individuellen Existenz und den unvermeidlichen Tod wisse, während der Materialist mit „voller Bestimmtheit“ wisse, dass „er nur dieses eine Leben“ habe.7 Diese Aussage impliziert, dass es noch andere Anschauungen gibt, also auch nichtmaterialistische, die Körner an dieser Stelle nicht abwertete, er positionierte sich jedoch eindeutig für den Atheismus. Dass der Sozialismus prinzipiell nichts an der Endlichkeit menschlichen Lebens ändern konnte, stellt Körner im Hinblick auf die marxistische Lehre fest, die in der Hinsicht auch schon andere Vorstellungen hatte.8 Er setzte sich auch mit der Ansicht von Marx auseinander, dass sich die menschliche Lebensdauer in 6 7 8

Vgl. Körner (1986), S. 94. Ebd., S. 14. Ebd., S. 95.

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Zukunft exorbitant verlängern werde und bezog sich hierbei auf Literatur, die von 150 bis 200 Jahren ausgeht. Körner bezeichnete eine derartige Lebenserwartung als illusorisch. Solche Vorstellungen, meinte er, hätten dazu beigetragen, dass die Sterbeproblematik aus dem weltanschaulichen Problembewusstsein verdrängt wurde.9 Durch die Weltanschauung werde der Tod zwar zum Randproblem, nur betreffe das Sterben jedes Individuum. Hieraus ergab sich für Körner die Notwendigkeit der Herausarbeitung einer weltanschaulichen Position. Körner beschrieb den Tod als das Ende der materiellen Existenz und verwies auf Marx, demzufolge der Tod kein Unglück für den sei, der sterbe, sondern für den, der überlebe. Körner ging auf verschiedene philosophische, psychologische und soziologische Aspekte ein. Für die soziologische Auseinandersetzung empfahl er eine Position der Zurückhaltung. Die materialistische Positionierung hat in seinen Augen die Funktion, Ängste und Unsicherheiten zu reduzieren. Körner befasste sich mit der religiösen Jenseitsvorstellung über den Tod und will wissen, dass Ärzte übereinstimmend darüber berichten, dass leichtes wie schweres Sterben bei Gläubigen und Atheisten gleichermaßen vorkomme. Eine Quelle gibt er hierfür nicht an. Er räumt ein, dass ein Mensch, der ein Jenseitsempfinden habe, wahrscheinlich einen leichteren „Weggang“ habe und dass die Meinung, ein Materialist empfinde das Ende schwerer, noch weit verbreitet sei.10 Sein Ziel ist es nun, innerhalb der materialistischen Weltanschauung eine Position zu finden, die dazu in der Lage sei, „eine gewisse Festigkeit, relative Gelassenheit und angemessene Haltung“ zu vermitteln.11 Ausdruck einer „für die sozialistische Persönlichkeit charakteristischen solidarischen mitmenschlichen Haltung“ sah Körner in einer „Haltung der Bereitschaft zu menschlicher Hilfe und zum Beistand“.12 Scheinbar ist eine derartige Haltung im Sozialismus nichts Selbstverständliches, sodass sie thematisiert und zum Ideal erhoben werden musste. Körner stellte zwar die Frage, was nach dem Tod komme, ging darauf jedoch nicht weiter ein; stattdessen deutete er Leben und Tod dialektisch: „[…] in der Aufeinanderfolge der zeitlich begrenzt existierenden Individuen vollzieht sich die Existenz der Gattung, ist die Gattung relativ unsterblich.“13 Aus dem Zusammenhang zwischen Individuum und Gattung ist dann „über das Bewusstsein sinnvoller Lebensführung daraus ein Trost für das eigene Ende zu gewinnen“.14 Marx, der an den Anfang der Schöpfung den Menschen selbst stellte und einen transzendenten Schöpfer ablehnte, sah auch im individuellen Tod einen Sieg der Gattung, was Körner in seine Argumentation übernimmt.15 Die geistige Nähe zum Nationalsozialismus, in dem sich in Anlehnung an Nietzsche der Einzelne selbst für seine

9 10 11 12 13 14 15

Vgl. ebd., S. 97. Ebd., S. 99–105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Ebd., S. 109. Ebd. Ebd., S. 105.

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Gattung opfert, war Körner offenbar nicht aufgefallen.16 An dieser Stelle wird der Absolutheitsanspruch von Weltanschauungsdiktaturen, nicht nur den Menschen, sondern auch den Bereich der Transzendenz für sich zu vereinnahmen, deutlich, wie Zehnpfennig argumentiert.17 Bedeutsam ist für Körner das Hinterlassen von Spuren, wenn man sich in das Leben und die Entwicklung der Gesellschaft einbringt. Wichtiger als dies sei das gegenwärtige Gebrauchtwerden und Anerkanntsein, das „Maß der Nützlichkeit“ des Lebensweges. Der Kern aller Sinngebung und Sinnerfüllung sei die Gesellschaftlichkeit, das Gebrauchtwerden von anderen und das Nützlichsein für andere.18 Bei Körner wurde der Mensch nun selbst Mittel des utilitaristischen Kalküls, und er fand darin seine höchste Erfüllung. Wie wurde die Lebenserhaltung in Grenzsituationen gesehen? Hier ging die sozialistische Ethik von einer Bewahrungspflicht als grundlegende ärztliche Pflicht aus. Die Erhaltung menschlichen Lebens galt als erste ärztliche Pflicht, es zu fördern und vor Schaden zu bewahren. Dem Kranken sollte bis zur letzten Lebensstunde Hilfe geleistet werden, Leiden sollte mit jeglichen Mitteln gelindert werden und bei Nichtvorhandensein eines anderen Auswegs das Sterben ohne Verkürzung der Lebenszeit erleichtert werden.19 Körner postulierte hierbei eine Pflicht zur Lebensbewahrung, der ein Arzt unter Beachtung objektiver medizinischer Kriterien unbedingt entsprechen müsse. 20 Patientenwohl oder -wille waren in dieser Frage nachrangig. Körner begründete dies mit dem gesellschaftlichen Erfordernis und dass es eine gesellschaftliche Garantie des Lebensrechts gebe. Das Wohl des Kollektivs sei hierbei ausschlaggebend. Mit aufwändiger Wortakrobatik und doppelter Verneinung relativierte Körner diese Aussage jedoch wieder – ein Stilmittel, das bei ihm gelegentlich zu finden ist, möglicherweise um dem Zugriff der Zensur zu entgehen. 21 Seine abweichende Haltung von unbedingter Lebenserhaltung begründete Körner mit der humanistischen Idee, lehnte eine Lebenserhaltung mit dem Maßstab des technisch Möglichen ab und forderte eine Ausrichtung ärztlichen Handelns auf die Erhaltung der „biopsychosozialen“ Einheit menschlichen Lebens. 22 Körner stellte nach einem historischen Exkurs und bezugnehmend auf moderne Möglichkeiten der Lebenserhaltung die Frage nach der Qualität des zu erhaltenden Lebens und sah die Gefahr eines „verlängerten und zunehmend qualvollen Sterbeprozesses“, was ein Abwägen des ärztlichen Tuns erforderlich mache.23 16 17

18 19 20 21 22 23

Ebd. Vgl. ebd. Nach Zehnpfennig (2010) begeben sich die nationalsozialistische und die marxistische Theorie in Konkurrenz zum Christentum; sie spricht hier von pervertierter Transzendenzvorstellung, die stets eine Erlösungserwartung von außen mit sich bringt. Vgl. Körner (1986), S.110. Vgl. Körner et al. (1981b), S. 17. Körner (1986), S. 131, Körner et al. (1981b), S. 34–36. Körner (1986), S. 131. Diesen Einwand brachte Körner in früheren Abhandlungen noch nicht. Vgl. Körner et al. (1981b), S. 34–38. Vgl. Körner (1986), S. 132. Ebd., S. 135–136.

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Aktive oder passive Sterbehilfe lehnte Körner ab; er störte sich bereits an der Begrifflichkeit. Körner sprach von „Sterbebetreuung“ und verstand darunter angemessene Pflege, medizinische Versorgung sowie psychischen und sozialen Beistand.24 Allerdings sah Körner die Bewahrungspflicht nicht nur auf das Leben selbst bezogen, sondern erweiterte diese Pflicht um die soziale Komponente. Ganz im Sinne des Marxismus plädierte er für die Schaffung von Lebenssinn gebenden Existenzbedingungen.25 Dass die Bewahrungspflicht in der DDR ein dehnbarer Begriff war, zeigte sich an der wandelbaren Argumentation um den Schwangerschaftsabbruch vor und nach der Legalisierung desselben innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen durch die Volkskammer im März 1972.26 Zusammenfassend ging es im Kontext der marxistischen Ethik um die Lösung ethischer Fragen im Rahmen ideologischer Vorgaben. Durch diese Vorgaben geriet die Ethik an ihre Grenzen; sie vermochte es kaum, praktikable Lösungen zu bieten. Der Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum wurde zugunsten der Gesellschaft entschieden; daher gelang es der Nomenklatur nicht, auf dem Niveau ethischer Prinzipien zu argumentieren. Auf diese Weise blieb die Ethik in ihrer Qualität minderwertig und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Legitimationshilfe für das System geleistet zu haben. DIE PERSPEKTIVE DER DDR-MEDIZINER Hahn und Thom widmeten sich ebenfalls der Sterbeproblematik, allerdings mit einer stärkeren Realitätsbezogenheit, als sie bei den Ethikern der Fall ist, die gezielt versuchten, ethische Fragen mit der staatlichen Ideologie in Einklang zu bringen. Sie stellten fest, dass z. B. bezüglich der sozialen Wiedereingliederung geistig Geschädigter oder der Betreuung infaust Kranker Defizite beständen, die auf sozialen Begebenheiten und traditionell gewachsenen Einstellungen beruhten. Sozial wünschenswert, jedoch defizitär sei die Berufstätigkeit fast aller (davon betroffenen) arbeitsfähigen Menschen und die Eingliederung der Geschädigten in die anspruchsvoller gewordenen Produktionsprozesse.27 Die beiden Autoren lehnten eine auf den Nutzen eines Lebens ausgerichtete Betrachtung ab und werteten die Auseinandersetzung mit der Thematik in der Literatur als ein positives Zeichen. 28 Hahn und Thom bemerkten jedoch, dass empirische Untersuchungen über Einstellungen gegenüber Geschädigten und Kranken fehlten. Sie nahmen an, dass die sozialen Gegebenheiten und die Orientierung am Persönlichkeitsideal der so24 25 26

27 28

Ebd., S. 140. Körner et al. (1981b), S. 34. Vgl. hierzu den zweiten Beitrag im vorliegenden Band sowie Luther/Thaler (1967) und Kraatz/Körner (1981). Eine sehr allgemeine und unkritische Charakterisierung der Diskussion zur Bewahrungspflicht in der DDR findet sich bei Meyer (2010); siehe überdies auch Kersten (2010), Lammich/Koch (1991) sowie den Anhang des vorliegenden Bandes. Hahn/Thom (1983), S. 22–23. Ebd., S. 23. Sie beziehen sich hier auf das Buch von Geppert (1978).

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zialistischen Gesellschaft Barrieren für eine verständnisvolle Haltung hervorrufen können. Sie bezogen sich auf sozialistische Kriterien wie Bewusstheit, Aktivität, Kollektivität und Parteilichkeit, die als Maßstäbe kritisch (und somit benachteiligend) gegenüber jenen sind, bei denen genau diese Merkmale nur partiell oder alternativ ausgeprägt sind. Die Autoren sahen die Gefahr einer unzulässigen Abwertung.29 Daher plädierten sie für die Anwendung des Persönlichkeitsideals auf die Gesellschaft als Ganzes und deren Fortschritt.30 Der Wert des Lebens in der sozialistischen Gesellschaft sei ein positiv zu bestimmender Wert, „[…] weil dieses Leben auf jeder Stufe seiner Entwicklung Potenzen für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Prozeß in sich birgt […] und weil mit seiner Stellung im Wertsystem dieser Gesellschaft ihr Verhältnis zu den sie letztlich bildenden und tragenden Individuen unmittelbar verkörpert wird.“31

Das Persönlichkeitsideal bedeute, so leiteten Hahn und Thom ab, dass die Gesellschaft die Verpflichtung trage, günstige Bedingungen für die Ausbildung derartiger Merkmale zu schaffen. Als eine andere Betrachtungsebene sahen sie die individuelle Wertgebung.32 Die Abhandlung von Hahn und Thom wandte sich auch den vom Marxismus vertretenen Theoremen zu und erörterte sie. In Bezug auf den frühen marxistischen Unsterblichkeitsglauben meinten sie, dass es entgegen verschiedenartiger Wunschvorstellungen beim Kampf gegen den Tod immer um den „Kampf gegen den vorzeitigen Tod einzelner Individuen“ ging.33 Sie stellten fest, dass die materialistisch-dialektische Weltanschauung dem Leben prinzipiell einen positiven Wert beimesse, Leben und Tod als dialektische Gegebenheiten und Bestandteil der objektiven Realität aufgefasst würden und dass die marxistisch-leninistische Weltanschauung einen dem Leben oder dem Tod a priori innewohnenden oder von außen eingegebenen Sinn verneine. Zudem negierten sie die Existenz einer menschlichen Seele und eine Unsterblichkeit derselben.34 Die Deduktionen marxistischer Denker bezüglich einer möglichen Unsterblichkeit lehnten sie zwar ab, positionierten sich jedoch eindeutig im Rahmen des ideologischen Erfordernisses. Den Sinn des menschlichen Lebens sahen sie demgemäß im gesellschaftlichen „Tätigwerden der Menschen in Erfüllung der objektiven Gesetze der ständigen Höherentwicklung der Menschheit“ und so entbehrten auch Krankheit, Leid und Sterben „[…] jeglichen Sinns und haben auch nicht solche Funktionen, wie etwa Strafe, Mahnung der Umwelt zur Solidarität und Nächstenliebe, Mahnung über den Sinn des Lebens nachzudenken, individueller Rückzug aus der Gesellschaft, natürliche Selektion der Lebenstauglichen, Reduzierung der Weltbevölkerung, damit Ernährungs- und Lebensraum gesichert sind, wie

29 30 31 32 33 34

Ebd., S. 23–24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 26–31. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53–54.

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Andrea Quitz die Ideologen verschiedener Richtungen in imperialistischen Klassengesellschaften ihnen zuschreiben.“35

Die marxistische Weltanschauung sollte, so die Sicht in der marxistischen Philosophie, eine angstfreie Einstellung zu Sterben und Tod implizieren, allerdings widersprächen die Erfahrungen aus der Sterbebegleitung häufig dieser Hypothese, so Hahn und Thom.36 Sie sahen diese Angst als eine dem menschlichen Dasein allgemein zugehörige, da der eigene Tod eine Gefahr für die Selbstverwirklichung des Menschen in seinen sozialen Beziehungen mit sich bringe und der Tod die Möglichkeit entziehe, menschliche Werte zu realisieren. Die Angst vor dem eigenen Tod antizipiere das Gefühl des Verlustes der sozialen und biologischen Existenz und sei ein dem Dasein zugehöriger Affektzustand.37 Hahn und Thom boten eine für die DDR-Ethik ungewöhnlich differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und Tod. Sie nahmen eine Mittelstellung zwischen Nomenklatur- und Ärzteethik ein. In ihrer Auseinandersetzung mit der so genannten bürgerlichen Ideologie stellten sie verschiedene westliche Positionen dar, und zwar mit einer Betonung von Richtungen, die Sterbehilfe befürworten und somit der sozialistischen Meinung widersprachen. Allerdings nahmen sie Bezug auf die westliche Meinungsvielfalt und verneinten eine klare Zuordnung von „progressiv“ bzw. „nicht progressiv“.38 Diese Sicht ist deutlich differenzierter als jene, die in den marxistisch-leninistischen Instituten vertreten wurde. Das Maß der Dinge blieb dennoch das sozialistische Modell. Sie postulierten eine Pflicht zur Lebensbewahrung unabhängig von einer individuellen Wertvorstellung und ein Recht auf Therapieverweigerung. Therapeutische Maßnahmen sollten dem Patienten im Sterbeprozess prinzipiell eine Hilfe sein und durften im Falle einer Verlängerung eines qualvollen Sterbeprozesses auch ausgesetzt werden. Als Hilfe betrachteten sie gute Pflege und Vorbeugung belastender Komplikationen, Linderung von Beschwerden und menschliche Zuwendung. Eine Besonderheit des Sozialismus sahen sie in der psychosozial orientierten Betreuung. Sie sprachen sich für ein ethisches und juristisches Tötungsverbot in der Medizin aus.39 Ein ärztliches Autorenkollektiv unter der Leitung von Blumenthal-Barby setzte sich in dem 1987 erschienenen Buch „Betreuung Sterbender“ mit der klinischen Praxis und den Möglichkeiten der Sterbebegleitung auseinander. Ideologische Aspekte traten bei der klinikbezogenen Abhandlung weitgehend in den Hintergrund. Das Buch zeigte eine deutlich patientenorientierte Tendenz mit der Hervorhebung von Individualrechten. Die marxistische Orientierung wurde im Kausalverständnis der Haltung des Arztes bzw. des Patienten zum Sterben deutlich, wobei es hieß, dass dieses gesellschaftlich determiniert sei.40Als einführende 35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 64. Ebd., S. 135. Ebd., S. 143–144. Blumenthal-Barby (1987), S. 17.

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Beispiele für Sterbeereignisse fanden neben Marx und Lenin auch Goethe oder Tschaikowski Erwähnung.41 Die Änderung der Lebenserwartung wurde ausgiebig anhand von Statistik diskutiert, der Unterschied zwischen BRD und DDR anhand der Zahlen deutlich, jedoch nicht thematisiert.42 Man fragte konsequenzialistisch nach dem Ergebnis, was sich für das Gesundheitswesen ergäbe, würde einem Wunsch nach Tötung nachgegeben. Sterbehilfe wurde hier abgelehnt, da sie gegen die Bewahrungspflicht verstoße und zudem eine Zumutung für den Arzt sei.43 Damit geriet auch die Befindlichkeit des Arztes in den Fokus der Auseinandersetzung, der bei den Staatsethikern weitgehend fehlte. Alle aktiven lebensverkürzenden Maßnahmen wurden von der Autorengruppe als unzulässig erachtet.44 Das Buch griff in erster Linie auf DDR-Publikationen zurück. Allerdings finden sich auch westliche Autoren, wie Kübler-Ross45 oder Sporken,46 deren Ideen recht ausgewogen besprochen wurden, wobei sich die kritische Auseinandersetzung mit den genannten beiden Autoren nicht auf die gewohnten ideologischen Prämissen bezog. Bei ersterer wird lediglich die Schematisierung des Sterbeprozesses kritisch besprochen, während das Konzept selbst anerkannt und als Hilfe im Patientenumgang gewürdigt wurde.47 Das vierte Kapitel, das im Prinzip das Kernstück des Buches ausmacht, geht auf den Radiologen Roland Jacob zurück. Es befasste sich mit dem Umgang und der Gesprächsführung mit Sterbenden. So dekodiert Jacob Aussagen und bespricht Kommunikationsprobleme zwischen Pflegepersonal und Patient. Der Analyse des Gesprächs legte er eine Systematik zugrunde, die er Schwäbisch (1974)48 entnimmt, zudem stützte er sich auf Umfragen unter ostdeutschem Pflegepersonal und bezog die Phasen des Sterbens von Kübler-Ross mit ein, sodass sich praxisorientierte Handlungshilfen ergaben, die sich qualitativ von der restlichen Literatur deutlich abheben. Dem Verständnis der gesellschaftlichen Determiniertheit persönlichen Handelns setzte Jacob eine Aussage entgegen, die Ausnahmecharakter in den besprochenen Publikationen genießen dürfte. An einem Patientenbeispiel wurde demonstriert, dass der Patientenwille oder die Psyche einen deutlichen Einfluss auf die Überlebenszeit im Falle einer infausten Krankheit haben kann.49 Blumenthal-Barby glaubte in seinem Abschnitt über den Sterbeort einen internationalen Trend zu erkennen, indem er anmerkte, dass Funktionen der Familie an Institutionen delegiert würden.50 Dass dieser „Trend“ das Ergebnis staatlicher 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 9. Ebd., S. 21–29. Schon die Veröffentlichung dieser Zahlen, die einen Vergleich ermöglichte, darf als Ausnahmeerscheinung gewertet werden. Ebd., S. 17. Ebd., S. 40. Ebd., S. 91–98. Ebd., S. 91. Ebd., S. 98. Vgl. Schwäbisch (1974). Blumenthal-Barby (1987), S. 92. Ebd., S. 46.

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Einflussnahme ist, dem sich eine Familie in der DDR nur schwer entziehen konnte, fand bei ihm keine Erwähnung. An anderer Stelle wurde von Dietfried Jorke, Direktor der Klinik Innere Medizin in Jena, hervorgehoben, dass der Klärungsprozess um philosophisch-ethisch begründete Verhaltensweisen in Bezug auf die Möglichkeiten moderner Medizin „weltweit vorangekommen“ sei. Allerdings erwähnte er als Beispiele nur einige DDR-Publikationen, wie Körners „Grenzsituationen ärztlichen Handelns“ (1981) oder Luthers „Beiträge zur Ethik in der Medizin“ (1983).51 Hans Hinderer, Jurist und Professor an der MLU in Halle besprach in seinem Kapitel die rechtlichen Fragen in Bezug auf Sterben und Tod. Er bezeichnete das Recht als grundlegende Orientierung für generelle Entscheidungsprozesse und stellte die sozialistische Rechtsordnung als Bewährungsinstanz der individuellen persönlichen Sicherheit heraus. Dass im sozialistischen Staat eine deutliche Reduktion der Rechtsstaatlichkeit staatgefunden hatte und in der Realität Recht kaum eingeklagt wurde oder werden konnte, wird aus seiner Abhandlung nicht deutlich.52 In eine Phase, die Thompson als paralysierten posttotalitären Abschnitt bezeichnet, fällt die 1988 publizierte Abhandlung des Mediziners Günter Baust „Sterben und Tod“, die durch eine ausgiebige Nutzung westlicher Literatur ins Auge sticht und schon dadurch für eine relative Ausgewogenheit sorgt. Dieses Werk antizipierte die ideologischen Auflösungserscheinungen, indem verschiedene Theorien gleichwertig behandelt wurden, eine international ausgerichtete Wissenschaftsvorstellung umgesetzt wurde sowie Individualrechte offen eingefordert wurden anstatt sie dem Kollektivwohl unterzuordnen. Die einführende historische Darstellung bezog sich auf philosophische Positionen und zeigte keine offensichtlichen ideologischen Bezüge. Ein indirekter Hinweis auf eine Unsterblichkeitsvorstellung, die sich aus medizinischen Erfolgen bei der Organtransplantation, Reanimation und Intensivmedizin ableitete, formulierte Baust bewusst allgemein, die nach seiner Meinung bei immer mehr Menschen große Erwartungen auslösen: „Sie sind zu einem modernen Mythos unserer Zeit geworden, der den Tod als immer mehr aufschiebbar und eines Tages sogar als vermeidlich erscheinen läßt.“53 Die kurz besprochene DDR-Publikation zu diesem Thema stellte Baust in einen internationalen Kontext, ohne die sonst übliche dem Feindbild dienende Wertung abzugeben. Das Sterben verortete Baust zum Bewahrungsauftrag des Arztes; es galt als letzte Phase des Lebens, während der Tod durch die Medizin zu keinem verhinderbaren, jedoch einem beeinflussbaren Ereignis geworden ist.54 Interessanterweise operierte Baust aus medizinischer Sicht mit dem Vorhandensein einer „menschlichen Seele“, die er als Vitalfunktion bezeichnete und als

51 52 53 54

Ebd., S. 146. Ebd., S. 162–178. Baust (1988), S. 21–22. Ebd., S. 26–27.

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sechste psychosomatische Funktion diskutierte.55 Die Darstellung pathophysiologischer Vorgänge des Organversagens beim Sterbenden konzentrierte sich allein auf medizinische Aspekte mit einer für sozialistische Verhältnisse ungewöhnlichen sprachlichen Qualität und Vielfalt. Lebensverlängerung um jeden Preis sah Baust nicht als Ziel ärztlichen Handelns. Eine Entscheidungsfindung sollte neben fachlichen Kriterien und Erfahrungswerten durch Hinzuziehung „ethischer Normen“ im konkreten Fall getroffen werden.56 Er konkretisierte diesen Gedanken zwar nicht, begab sich jedoch auf die Ebene eines ethischen Diskurses, der in der meist auf biologische und ideologische Argumentation beschränkten DDR-Ethik Seltenheitswert genießt. In Bezug auf die Lebenserwartung bezog sich Baust nicht auf die DDR, sondern auf die Deutschen allgemein unter Verwendung einer westdeutschen Quelle.57 Als biologische Schranke des realistisch erreichbaren Alters nennt er 90 bis 100 Jahre, als möglicherweise erreichbares Höchstalter 130 Jahre. Er schloss, dass das Erreichen eines bestimmten Alters und somit Sterben und Tod genetisch bedingt seien.58 Baust setzte sich zudem – ungewöhnlich für die DDR-Ethik – mit Nahtoderfahrungen auseinander, die er als subjektives halluzinatorisches Erleben darstellte und medizinisch zu erklären versuchte.59 Seine Auseinandersetzung und Diskussion verschiedener Theorien über den Sterbeprozess stellten ebenfalls einen qualitativen Sprung gegenüber den monotheoretischen Redundanzen oder Deduktionen marxistischer Theoretiker dar. In Bezug auf die Reanimation, die er medizinisch detailliert erläuterte, hielt es Baust für medizinisch und ethisch nicht vertretbar, zeitliche Limitierungen festzusetzen. Eine Reanimation sollte dann abgebrochen werden, wenn eindeutige und sichere Zeichen des irreversiblen Hirntods eingetreten sind, bei irreversiblem Versagen lebenswichtiger Organe oder beim bereits im Sterbeprozess befindlichen inkurabel erkrankten Patienten.60 Sehr ausführlich widmete sich Baust dem Thema Organtransplantation, insbesondere der Verpflanzung des Herzens. Hierbei konzentrierte er sich ausschließlich auf die internationalen Entwicklungen und verschwieg, dass in der DDR erst 1986 die erste Herztransplantation durchgeführt wurde. Er bezog sich lediglich auf die Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen von 1975, deren juristische Klärung – sie thematisierte hauptsächlich die Nierentransplantation – er als positiv im Sinne einer weitreichenden Entscheidungsfreiheit des Arztes herausstellte.61 In Bezug auf Organtransplantation galt in der DDR die Widerspruchsregelung, wonach die Organentnahme zulässig war, sofern der Verstorbene keine andere Festlegung getroffen hatte. Wie dann dieser Wider-

55 56 57 58 59 60 61

Ebd., S. 30. Ebd., S. 37. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 54–57. Ebd., S. 86. Ebd., S. 117.

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spruch geltend gemacht werden sollte, war in der Gesetzgebung von 1975 nicht geregelt.62 Baust beschäftigte sich auch mit dem Patientenwillen in Bezug auf die Reanimation. Ein zu Lebenszeiten fixierter Patientenwille, nicht reanimiert zu werden, konnte seiner Meinung nach in lebensentscheidenden Situationen kaum Beachtung finden. Die schnelle Handlungspflicht des Arztes ließ keine Suche nach Willenserklärungen zu. Er räumte jedoch das Fehlen wissenschaftlicher Untersuchungen über die Willensänderung eines Patienten nach ungewollter Reanimation ein und sah sich hier im Einklang mit der in der staatlichen DDR-Ethik vertretenen Position.63 Die Ambivalenz dieser Situation erkannte er und verwies auf eine noch nicht abgeschlossene ethische Klärung.64 Für die Respektierung des Patientenwillens sah er im stationären Bereich wesentlich bessere Voraussetzungen. Baust begriff es als moralische Pflicht des Arztes, den Wunsch des Patienten zu kennen und zu respektieren, auch bei Ablehnung einer Therapie oder der Reanimation.65 Er räumte ein, dass der Patient für eine Entscheidung genügend aufgeklärt sein müsse, von seinem behandelnden Arzt jedoch nur selten die Wahrheit erfahre. Stattdessen finde häufig ein Vertrauensbruch zwischen Arzt und Patient statt, da sich letzterer die Prognose selbst aus unterschiedlichen Formulierungen erschließe und dann den Arzt mit berechtigten Vorwürfen konfrontiere.66 Baust verglich in der Folge die diesbezügliche Rechtsprechung von DDR und BRD. In der DDR sei die Aufklärung dem Betreuungszweck untergeordnet und es bestehe keine Rechtspflicht des Arztes, den Patienten aufzuklären, wenn er annehmen müsse, dass die Wahrheit ihm schade. In der BRD gebe es auch im Schadensfall eine Aufklärungspflicht, da der Patient einen Anspruch auf die Wahrheit habe.67 Baust kritisierte die polemisierende Diskussion um den Wunsch eines infaust Erkrankten, sterben zu wollen. Zudem trete anstelle des Respektes vor dem Wunsch des Patienten eine sedierende Intensivtherapie, die den Patienten der Entscheidungsfähigkeit beraube.68 Die Diskussion um aktive und passive Sterbehilfe illustrierte Baust für den Bereich der Intensivmedizin, die dazu geführt habe, dass sich ein Sterbevorgang verlängern könne. Im Einklang mit den DDR-Ethikern lehnte er den belasteten Begriff der Euthanasie ab und spricht von „Sterbebetreuung“.69 Baust forderte für die Sterbephase einen intensiven menschlichen Beistand. Erst wenn dieser versage, könnten Sedativa oder Analgetika zum Einsatz kommen, was auch eine Verkürzung des Sterbeprozesses bewirken könne. Eine Verweigerung dieser Möglichkeit widerspräche in seinen Augen den ethischen ärztlichen Prinzipien, da sie auch zu einer Verlängerung des Sterbens und zu einer 62 63 64 65 66 67 68 69

Vgl. Körner (1995), S. 54. Vgl. Baust (1988), S. 121. Ebd., S. 122. Ebd., S. 123. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 139.

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Verstärkung von Leiden und Schmerzen des Patienten führen könne. 70 Den Tod selbst verstand er biologisch und verglich ihn mit dem Wechsel des Aggregatzustandes in der Physik.71 Baust diskutierte auch den prozesshaften Ablauf des Todes. Er betrachtet dabei den sozialen Tod und definiert ihn als Phase, in der sozial relevante Attribute des Patienten für den Umgang mit ihm keine Rolle mehr spielen und er als tot betrachtet werde. In diesem Zusammenhang besprach er kritisch das Verhalten von medizinischem Personal gegenüber sterbenden Patienten. Würdelosen Umgang und Infantilisierung des Patienten sah er als Gefahr, beides hielt er weder medizinisch noch ethisch-moralisch für gerechtfertigt.72 Hiermit knüpfte er an den von Sudnow in den siebziger Jahren eingeführten Begriff social death an, den er auch in seiner definierten Bedeutung verwendete.73 Des Weiteren präzisierte Baust Begriffe wie klinischen, biologischen, somatischen oder totalen Tod. Seine Abhandlung über die medizinischen Dimensionen des Sterbens stellte die mit dieser Zielstellung präziseste Ausarbeitung für die DDR dar. Ohne ideologischen Ballast, dennoch im Sinne des sozialistischen Gedankens stellte er fest: „Vorerst wollen wir jedoch leben und die hervorragenden Erkenntnisse und Erfolge der Medizin sollten uns helfen, unser Leben noch besser zu gestalten. Die einst begründete Kunst des Sterbens – die ars moriendi – könnte von einer neuen Zielstellung, der Kunst zum Leben, abgelöst werden.“74

Baust begriff seine Auseinandersetzung in einem internationalen Kontext, in der die DDR kaum thematisiert wurde. Man erhob ethische Forderungen oder benannte ethische Probleme, eine übergreifende Erläuterung oder tiefgreifende Diskussion ethischer Gesichtspunkte erfolgte jedoch meist nicht. Im Mittelpunkt standen die medizinischen Aspekte. ALTERNATIVE PERSPEKTIVEN Die in posttotalitären Systemen vorhandene Parallelkultur zeigte sich in der DDR besonders in den 1980er Jahren durch die Existenz von organisierten Umweltund Friedensinitiativen und anderen Interessengruppen, die häufig unter dem Dach der Kirche agierten. Tendenzen von Liberalisierung und Pluralisierung existierten im Grunde nur scheinbar, tatsächlich wurden derartige Gruppen durch die Staatssicherheit beobachtet und mit geheimdienstlichen Methoden verdeckt unterwandert und bekämpft. Aufgrund dieses Umstandes ist dieser Bereich nur schwer zu erforschen. Es durfte nicht öffentlich publiziert werden, die Darstellung der Positionen ist ein eigenes wissenschaftliches Desiderat, das ein aufwändiges Auf70 71 72 73 74

Ebd., S. 143. Ebd., S. 145. Baust (1988), S. 148–149. Wittwer et al. (2010), S. 133. Baust (1988), S. 174.

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arbeiten von Unterlagen der Staatssicherheit, Zeitzeugenbefragung und Sammeln und Sichten nichtpublizierter schriftlicher Unterlagen erfordert. Daher kann auf diese Positionen nur grob und punktuell eingegangen werden. Neben den offiziellen und ideologiekonformen Äußerungen gab es auch Beispiele alternativer Vorstellungen. Allerdings findet man ihre Ausformulierungen nicht in der zensierten Literatur, sondern in den Akten der Staatssicherheit. Ein Bericht des GHI „Bethune“ etwa fasste die Antrittsvorlesung eines Mediziners „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“, die sich mit der Todesthematik auseinandersetzte, in folgender Weise zusammen: „Unsere Zeit sei ‚arm an Persönlichem‘, es gäbe keinen Platz mehr für den Tod, da es hier kein Analogon zur Maschine gäbe. Die Einstellung zum Tod sei ein Kriterium für die Haltung zum Leben. [geschwärzt] bemühte sich offensichtlich eine ‚zeitlose‘ Philosophie zu geben, er vermied es irgendwelche Vertreter oder Strömungen zu zitieren, übernahm aber die bürgerliche Lebensphilosophie und Werttheorie. Er suchte aus der ‚Bestimmung der Krankheit‘ den Sinn des Lebens zu erklären. Der Arzt solle sich am Wert und nicht am Zweck orientieren. Höchster Wert sei das Leben, es sei unantastbar, auch das Ungeborene. Hier schien [geschwärzt] die Gedanken A. Schweitzers zu übernehmen, ohne ihn zu nennen. Der Vortrag war ausgesprochen philosophisch und war im Sinne der idealistischen Philosophie mit einem Zug von Pessimismus über unsere Zeit und einer etwas mystischen Tendenz.“ 75

Die Berichterstattung über eine bürgerliche Position konnte sich in den 1960er Jahren, aus denen dieser Bericht stammt, negativ für den Mediziner auswirken, zeigt jedoch, dass es auch in der frühen posttotalitären Phase abweichende Meinungen gab. Die Ärzte bildeten eine spezielle Gruppe gesonderter Überwachung, da die Republikflucht medizinischen Personals in den 50er Jahren staatsdestabilisierende Dimensionen angenommen hatte. Nach dem Mauerbau gelang es der DDR auch diesen Bereich stärker zu kontrollieren und mehr auf ihre Ziele hin auszurichten. Alternative Annäherungen an und Initiativen für das Thema Sterben und Tod gab es außerhalb des medizinischen Bereiches innerhalb der Kirche. Der Pfarrer Heinrich Pera etwa eröffnete Ende der 70er Jahre eine Krisenberatungsstelle im Elisabethkrankenhaus in Halle; bis zur Wende 1989 versorgten dort Ärzte, Fürsorger und Seelsorger ca. 6.000 Hilfesuchende. 1985 rief er das erste Hospizbetreuungsteam in Halle ins Leben.76 Diese exemplarisch angeführten Beispiele zeigen, dass es in der DDR, insbesondere in den 80er Jahren, eine größere Vielfalt gab, als es die publizierte und zensierte Literatur vermuten lässt.

75

76

Kurzer Bericht über die Antrittsvorlesung des Doz. Dr. med. habil. [geschwärzt] Oberarzt [geschwärzt] med. Klinik am Dienstag, d. 5. 5. 64 über das Thema „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“, 21.05.1964, GHI-Akte „Bethune“, BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 1361/60, AIM 2724/75 Bd. 2, Teil 2, Bl. 100. Vgl. Packenius (2004).

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MEDIZINISCHE ETHIK IM SPANNUNGSFELD DER SOZIALISTISCHEN REALITÄT Zentrales Problem der Staatsethik war die kaum vorhandene bzw. sehr zögerliche Hinwendung zur Realität und die Auseinandersetzung mit dieser. Einen Eindruck über die tatsächlichen Möglichkeiten der Lebensbewahrung oder des Umgangs mit Sterben und Tod im klinischen Bereich vermitteln ebenfalls Akten der Staatssicherheit, wie ein Beispiel aus einem evangelischen Pflegeheim der Inneren Mission zeigt. Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass die Berichterstatterin selbst Theologie studiert hatte und sich nun beim Bischof über einen Fall unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge und medizinische Fehlbehandlung ihrer Eltern beschwerte: „Daß der Geist der Stiftung nicht gut sei, das wollte er [der Bischof, Anm. d. Autorin] sich nicht sagen lassen. Wir sagten ihm, dass Schwestern und Hilfskräfte äußern, daß die alten Leute hoffentlich bald ‚verrecken‘. Wir schilderten ihm, mit welcher seelischen Grausamkeit sie die Mutter in labilem Zustand in das Bett gefesselt haben, mit einem Brett davor, den Vater in die Chirurgie geschafft. Und das war ein Zeitpunkt, wo [sic] sie noch ein bisschen laufen konnte und wollte. Wir erzählten ihm, dass wir den Vater nie wieder zurückbringen [sollten] [handschriftlich eingefügt, Anm. d. Aut.] durften und schon gar nicht alleine über Weihnachten hätten trotz Beerdigung lassen dürfen, weil sie ihm die Fernsehantenne und auch die halbe Flasche Sekt entfernt hatten.“77

Es folgen Vorwürfe über Veruntreuung von Geld und Sachwerten, Übermedikation von Beruhigungs- und Schlafmitteln. Weiter hieß es: „Er sagte, es könnte doch unter Umständen besser sein, wenn man weiß, daß jemand stirbt, man ließe ihn ruhig liegen und betete mit ihm, statt den Krankentransport zu rufen, und sei es ½ Std. Außerdem kämen die ja gar nicht pünktlich. Auch das ein Schlag gegen die staatliche Gesundheitsfürsorge.“78

Die Berichterstatterin erkannte in ihren Erfahrungen eine neue Form der Euthanasie, der sie christliche Wurzeln beimaß: „Er [ein Pastor der Diakonie – Anm. d. Aut.] sagte, die Frage der Euthanasie müsse heute neu durchdacht werden, ohne daß es in diesem Gespräch eine Möglichkeit gab, diese Äußerung zu hinterfragen und ihn näher erklären zu lassen.“79

Sie bemerkte ein persönliches Forschungsinteresse und schrieb: „Neue Überlegungen zur Euthanasie sind von der westlichen Ideologie bei uns eingetragen und beschäftigen die Mediziner. Es ist notwendig, daß die Mediziner in der DDR einen marxistischen Standpunkt auch in Einzelfragen erarbeiten und formulieren. Dabei brauchen sie die Hilfe von philosophischer Seite, weil die vorliegenden Versuche in der ideologischen Auseinandersetzung nicht ausreichen (Hahn/Thom, Sinnvolle Lebensbewahrung – humanes Sterben, in: Weltanschauung heute, Heft 40, Berlin 1983.) Die Kenntnisse der Medizingeschichtler (Zentrum scheint das Karl-Sudhoff-Institut in Leipzig zu sein) sind nicht ausrei77 78 79

Gespräch mit Bischof [geschwärzt] am [geschwärzt] 1984 in seiner Privatwohnung, Vermerk vom 16.05.1984, BStU, MfS, ZA, HA XVIII, Nr. 15454, S. 8, Bl. 132. Ebd., S. 12, Bl. 136. BStU, Persönliche Erfahrungen mit der [geschwärzt]-Stiftung, 20.12.1983, BStU, MfS, ZA, HA XVIII, Nr. 15454, S. 6, Bl. 149.

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Andrea Quitz chend, um die ideologischen Wurzeln und Strömungen im einzelnen zu analysieren. Ich würde da eine Arbeitsaufgabe für mich sehen, weil man für diesen Bereich Kenntnisse christlicher Ethik haben muß und Kenntnisse der bürgerlichen Ideologie. Von besonderem Interesse wäre für mich die Untersuchung der Frage, ob die Befürworter einer neuen Euthanasie auch die Atomwaffen und die Nachrüstung rechtfertigen, wie es durch Thielicke 80 nahegelegt wird. Das wäre selbstverständlich an jeder Person nachzuprüfen. Inwieweit sich faschistische Tendenzen nachweisen lassen, wäre eine weitere Frage. Von Prof. [geschwärzt] und Prof. Dr. [geschwärzt] weiß ich, dass die Partei dringend Leute sucht, die daran mitarbeiten, unseren marxistischen Standpunkt in der konkreten exakten und fundiert wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit solchen Überfremdungen zu formulieren. Sind diese jetzt betonten Auseinandersetzungen, die ganze Zweige der neueren medizinischen Forschung in Frage zu stellen drohen, ein Ablenkungsmanöver von der Nachrüstung? Von Frau [geschwärzt] weiß ich, daß im Klinikbereich [geschwärzt] hart darüber diskutiert wird, wobei wenige Mediziner konsequent jede Form der Euthanasie abgelehnt haben.“81

Ursachen für menschenverachtendes Verhalten wurden hier auf den äußeren Feind projiziert und in westlicher Ideologie gesucht. Ein limitierender Faktor, der die Umsetzung humanistischer Ziele deutlich einschränkte, war die durch die Planwirtschaft verursachte ökonomische Mangelsituation. Über die Auswirkungen in der Praxis gibt ein Bericht aus der Nephrologie in Rostock Zeugnis: „In einem Gespräch erklärte Oberarzt Klinkmann, daß er bei einer sehr guten apparativen Ausrüstung im Hinblick auf mehrere künstliche Nieren, mehr Dialysen schaffen könne, wenn er mehr Betten hätte. Er formulierte wörtlich, daß er jetzt seine Funktion als die einer Art Scharfrichter betrachte, wenn er über die Station geht, um zu entscheiden, wer sterben muß, und wer noch leben darf, weil der Bettenmangel so groß ist, daß er viele Patienten, die er ansich [sic] behandeln könnte, einfach wieder nach Hause schickt, um sie dort sterben zu lassen, weil er sie nicht dialysieren kann.“82

Derselbe Mediziner kam acht Jahre später zu folgender Einschätzung, dass „[…] die DDR derzeit auf dem Gebiet der Versorgung der Behandlung mit der künstlichen Niere einen in Europa schon nicht mehr vertretbaren Rückstand hat. Wir waren ehemals in Europa das zweite Land nach Schweden und sind jetzt zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf den 19. Platz unter 27 Ländern zurückgefallen, d.h., bei uns in der DDR werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur 1/4 aller Patieten [sic] mit der künstlichen Niere behandelt, die eigentlich behandelt werden müssten, das heißt, ganz kraß ausgedrückt, von 100 Patienten, die behandlungsbedürftig sind, können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur 25 Patienten behandeln. Diese Zahlen sind auch gesundheitspolitisch für uns von sehr negativem Wert, da wir uns an der offiziellen Erhebung der Weltgesundheitsgesellschaft [gemeint ist die WHO, Anm. d. Aut.] beteiligen, die diese Zahlen dann jährlich publiziert und wir z.B. in diesem Jahr uns

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Gemeint war der medizinethisch aktive evangelische Theologe Helmut Thielicke (1908– 1986), vgl. für die vorliegende Thematik etwa Thielicke (1979). Persönliche Erfahrungen mit der [geschwärzt]-Stiftung, 20.12.1983, BStU, MfS, ZA, HA XVIII, Nr. 15454, S. 13, Bl. 156. Tonbandabschrift. Die Verhältnisse in der künstlichen Niere unter Leitung von Oberarzt Dr. Klinkmann. 09.02.1968. IMV-Akte „Ludwig“, BStU, MfS, BV Rostock, Reg.-Nr. I 32/68, AIM 2769/87, Bd. 1. Teil 1, Bl. 77.

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einer Zahl gegenübersehen, die um das dreifache niedriger liegt als die Behandlungskapazität in der BRD.“83

Die Schere zwischen marxistischer Theorie und „real existierendem Sozialismus“ klaffte immer weiter auseinander. Es war weder möglich, die Theorie an die Realität anzupassen, noch gelang es der DDR, ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Dieser Konflikt wurde insbesondere in den 80er Jahren deutlich und lässt sich auch in der Ethik verfolgen. Die medizinethische Auseinandersetzung zur Sterbeproblematik wurde am ehesten von der Ärztegruppe getragen, die auch in qualitativer Hinsicht führend ist. Wenn man die in quantitativer und qualitativer Hinsicht überschaubaren Publikationen zum Thema Sterben und Tod der ersten dreißig Jahre der DDR der letzten Periode gegenüberstellt, ist für das letzte Jahrzehnt eine deutliche Zunahme der Veröffentlichungen und eine mäßige Pluralisierung im Sinne einer Differenziertheit zu verzeichnen. Alternative Ideen konnten jedoch aufgrund der Zensur nicht publiziert werden, so erscheint die „Blütezeit der medizinethischen Aktivitäten“84 – als solche charakterisiert der Staatsethiker Ernst Luther die 1980er Jahre in der DDR im Nachhinein – als Suggestion einer freien Ethik, die es in der DDR nie gegeben hat.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU, MfS, ZA, HA XVIII, Nr. 15454. BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 1361/60, AIM 2724/75, GHI-Akte „Bethune“. BStU, MfS, BV Rostock, Reg.-Nr. I 32/68, AIM 2769/87, IMV-Akte „Ludwig“.

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84

IM-Bericht. Studienreise Amerika in der Zeit vom 02.10. bis 31.10.1976 zusammen mit dem [geschwärzt] der Urologischen Universitätsklinik Berlin-Friedrichshain, Prof. Dr. [geschwärzt], Kandidat des ZK der SED, 11.11.1976, IMV-Akte „Ludwig“, BStU, MfS, BV Rostock, Reg.-Nr. I 32/68, AIM 2769/87, Abt. XII, Bd. 1, Teil 2, S. 22–23, Bl. 226–227. Vgl. Luther (2010), S. 20–39.

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Kersten, J. (2010): Medizinethische Theorie und Praxis in der DDR, dargestellt am Beispiel der Behandlung kritisch kranker Patienten mit wahrscheinlich infauster Prognose in Gesundheitseinrichtungen. Diss. phil. Frankfurt (Oder). Körner, U./Seidel, K./Thom, A. (Autorenkollektiv) (1981a): Grenzsituationen ärztlichen Handelns. 3. Auflage. Jena. Körner, U./Seidel, K./Thom, A. (1981b): Sozialistischer Humanismus und die ärztliche Pflicht zur Bewahrung menschlichen Lebens. In: Körner et al. (1981a), S. 15–41. Körner, U. (1986): Vom Sinn und Wert menschlichen Lebens. Überlegungen eines MedizinEthikers. Berlin. Körner, U. (1995): Hirntod und Organtransplantation. Fragen zum menschlichen Leben und zum menschlichen Tod. Dortmund. Kraatz, H./Körner, U. (1981): Schwangerschaftsabbruch und Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben. In: Körner et al. (1981a), S. 67–79. Lenin, W. I. (1931): Über Religion. Aus Artikeln und Briefen. 2. Auflage. Wien, Berlin. Lammich, S./Koch, H.-G. (1991): Deutsche Demokratische Republik. Übersicht zur Problematik der Sterbehilfe: In: Eser/Koch (1991), S. 195–218. Linz, J. J./Stepan, A. (1996): Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe. Baltimore, London. Luther, E. (2010): Abriss zur Geschichte der medizinischen Ethik in der DDR. In: Bettin/ Gadebusch Bondio (2010), S. 20–39. Luther, E./Thaler, B. (Hrsg.) (1967): Das hippokratische Ethos: Untersuchungen zu Ethos und Praxis in der deutschen Ärzteschaft. Halle (Saale). Maceina, A. (1969): Sowjetische Ethik und Christentum. Zum Verständnis des kommunistischen Menschen. Witten. Meyer, H. (2010): Zur Entwicklung der Diskussion um die ärztliche Bewahrungspflicht in der DDR. In: Bettin/Gadebusch Bondio (2010), S. 102–105. Packenius, G. (2004): Heilen war seine Berufung. Zum Tod von Pfarrer Heinrich Pera. In: http://www.bistum-magdeburg.de/front_content.php?idart=3319 (25.04.2011). Quitz, A. (2013): Staat, Macht, Moral. Die medizinische Ethik in der DDR. Diss. phil. Erlangen. Quitz, A. (2015): Staat, Macht, Moral. Die medizinische Ethik in der DDR. Berlin. Schwäbisch, L. (Hg.) (1974): Anleitung zum sozialen Lernen für Paare, Gruppen und Erzieher. Reinbek b. Hamburg. Thielicke, H. (1979): Wer darf sterben? Grenzfragen der modernen Medizin. Freiburg i.Br. Thompson, M. R. (2002): Totalitarian and Post-Totalitarian Regimes in Transitions and NonTransitions from Communism. Totalitarian Movements and Political Religions 3, 1 (2002), S. 79–106. Wittwer, H./Schäfer, D./Frewer, A. (Hg.) (2010): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar. Zehnpfennig, B. (2000): Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation. München.

III. MEDIZIN – GESCHICHTE – MORAL SCHLÜSSELPERSONEN UND IHR WIRKEN

GESCHICHTE UND ETHIK AUS SICHT VON GESUNDHEITSMINISTER LUDWIG MECKLINGER. POSITIONEN ZUR MITVERANTWORTUNG VON ÄRZTEN BEI NS-MEDIZINVERBRECHEN Rainer Erices Ihrem Selbstverständnis nach war die DDR ein antifaschistischer Staat. Ihre Verfassung garantierte, dass der Nationalsozialismus überwunden war – „mit Stumpf und Stiel ausgerottet“, wie es die Staatsführung in der Öffentlichkeit ausdrückte. Der Faschismus und die Verbrechen der Hitler-Zeit wurden in der Regel dem anderen Gesellschaftssystem und damit dem Westen zugeschoben.1 Eine lebendige Aufarbeitung, die beispielsweise Schuldfragen innerhalb der eigenen Gesellschaft untersuchte, gab es nicht. Doch mit diesem Paradigma geriet die DDR, die öffentliche Diskussionen weitgehend vermied oder untersagte, immer wieder in deutliche Widersprüche. Ein großes Problem stellten Ärzte dar, die in der Nazi-Zeit am so genannten T4-Programm2 beteiligt gewesen waren. Etliche Mediziner hatten am Töten von – wie es die Nazis nannten – „lebensunwertem Leben“ mitgewirkt. Einige Hauptverantwortliche waren im Nürnberger Ärzteprozess bestraft worden, doch viele Mediziner, die bewusst oder unbewusst mitgeholfen hatten, dass geistig Behinderte getötet oder sterilisiert worden waren, arbeiteten nach dem Krieg weiter.3 Teilweise machten sie sogar Karriere und zählten zu den bekanntesten Ärzten der DDR.4 Zu Beginn des Jahres 1969 führte die DDR-Staatssicherheit mit dem stellvertretenden Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger (1919–1994) in Ost-Berlin eine Aussprache.5 Mecklinger wurde über ein Schreiben des Leipziger Bezirksrats informiert, das eine Namensliste von Ärzten enthielt, die einst während der Nazizeit „erbbiologisch“ begründete Sterilisationen durchgeführt hatten. Ludwig Mecklinger galt zu jener Zeit als Hoffnungsträger im staatlichen DDR-Gesundheitswesen. Zwei Jahre später (1971) wurde er im Alter von 52 Jahren Gesundheitsminister;6 ein Amt, das er letztlich bis zum Januar 1989 behielt. 1 2 3 4 5 6

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Präambel vom 09.04.1968. Vgl. Klee (2010). Vgl. Reif-Spirek (2001a). Vgl. Erices/Gumz (2005). BStU, MfS, HA XX, Nr. 527. Mecklinger wurde Nachfolger von Max Sefrin (1913–2000). Sefrin war ausgebildeter Kaufmann und Flugzeugführer sowie Oberfeldwebel der deutschen Luftwaffe. 1945–1949 Betriebsleiter und Stadtrat, bis 1950 stellvertretender Direktor eines kommunalen Wirt-

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Der – einst aus Bayern stammende – Mecklinger verfügte über eine umfangreiche Ausbildung: Nach eigenen Angaben hatte er vor dem Krieg ein paar Semester Philosophie studiert, sich dann aber der Medizin zugewandt. Nach 1945 hatte er in der Seuchenbekämpfung gearbeitet, Jura im Fernstudium studiert und schließlich seinen Facharzt in Sozialhygiene abgelegt. 1957 wurde er Kommandeur der Militärmedizinischen Sektion der Nationalen Volksarmee an der Universität in Greifswald. Mecklinger habilitierte und stieg 1964 zum stellvertretenden Minister in Ost-Berlin auf.7 Bis zu seiner Abwahl als Gesundheitsminister wenige Monate vor dem Mauerfall 1989 vertraute ihm die Staats- und Parteiführung der DDR. Das MfS bescheinigte ihm unter anderem bereits 1962 eine vorbildliche Zusammenarbeit.8 Der „SED-Technokrat“9 vereinte in seiner Person verschiedene Instanzen sowohl des Gesundheitswesens als auch der Partei, der Armee und des Geheimdienstes. Mecklinger, der offenbar nie als IM-Agent des MfS wirkte, pflegte jahrelang beste offizielle Kontakte in die Geheimdienst-Führung.10 Bei ihrer Aussprache erhoffte sich die Staatssicherheit von Mecklinger eine Einschätzung sowohl aus medizinisch-fachlicher als auch aus juristischer Sicht. Zudem sollte Mecklinger eine Wertung darüber abgeben, welche allgemeinen Auswirkungen eine strafrechtliche Verfolgung der Ärzte mit entsprechenden Veröffentlichungen haben könnte. Die Stasi-Akten enthalten die Antworten Mecklingers. Juristisch äußerte sich der stellvertretende Minister zurückhaltend: Bekanntlich würden Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Möglicherweise handele es sich bei den Sterilisationen lediglich um vorsätzliche Körperverletzung, diese wäre verjährt. Interessant ist Mecklingers Bewertung der Situation aus ärztlicher Sicht. Er befürchtete, dass das Problem größer sei als bislang angenommen. So äußerte Mecklinger „die Überzeugung“, dass auf der Leipziger Liste nur „ein Bruchteil der Ärzte“ erfasst sei. Er war sich demnach sicher, dass bei weiteren Ermittlungen, viele Ärzte dazukämen, die an den Sterilisationen beteiligt gewesen waren. An dieser Stelle äußerte Mecklinger eine Befürchtung: „Der Gegner“, gemeint waren damit die inneren und äußeren Feinde der DDR, würde derartige Veröffentlichungen „unbedingt ausnutzen“, um Unruhe unter den Ärzten zu stiften. Mecklinger meinte, dass die betreffenden Mediziner zur Nazi-Zeit vornehmlich junge Assistenzärzte gewesen seien. Inzwischen seien sie, wie er der vorgelegten Liste entnahm, „med. erfahrene, ältere Ärzte, die auch in den Jahren der

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schaftsunternehmens. Seit 1946 Mitglied der CDU, 1951–1953 Hauptabteilungsleiter in der CDU-Parteileitung und bis 1989 Mitglied im CDU-Hauptvorstand. Sefrin war seit 1952 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1971 stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Nationale Verteidigung. Überdies 1958–1971 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates und Minister für Gesundheit (Nachfolger von Luitpold Steidle). Siehe u.a. Müller-Enbergs (2000). BStU, MfS, AP, Nr. 35651. BStU, MfS, HA XX, Nr. 527, S. 451. Anonymus (1974), S. 80–86. Vgl. Süß (1999).

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offenen Grenze, die DDR nicht verlassen haben“. Vermutlich hätten die Ärzte kein Schuldgefühl, was ihr eigenes Handeln in der Nazi-Zeit betrifft. Um sich der Frage der Schuld der genannten Ärzte und damit einer potenziellen Strafverfolgung zu nähern, beschrieb Mecklinger zwei Gruppen. Seiner Meinung nach gab es Ärzte, die Sterilisationen „auf Grundlage der Beschlüsse des Erbgesundheitswesens auf Weisung der betreffenden Chefärzte“ durchführten und jene, die als Gutachter dafür verantwortlich oder gar an den Beschlüssen des Erbgesundheitswesens der Nazis beteiligt gewesen waren. Jedoch würden seiner Einschätzung nach alle genannten Ärzte der ersten Gruppe angehören. Mecklinger fügte hinzu, dass eine Sterilisation – zumindest beim Mann – „lediglich als kleiner Eingriff“ zu verstehen sei. Laut Aktenprotokoll berichtete Mecklinger im weiteren Verlauf der Unterredung, dass auch in der DDR eine „beachtliche Zahl von Sterilisationsoperationen“ durchgeführt werden würde. Derartige Eingriffe bei Frauen seien nicht riskant. Der Wunsch nach freiwilliger Sterilisation wachse. Angesichts von rund 20.000 Abtreibungen jährlich, würde das DDR-Gesundheitsministerium ein neues Gesetz planen, das Wunschsterilisationen „unter Wahrung strenger Maßstäbe“ ermögliche.11 Ermittlungen gegen Ärzte und die Verabschiedung des neuen Gesetzes würden zeitlich zusammenfallen. Das könne „nur ungünstig“ sein. Mecklinger erhob Zweifel, ob sich der „Arbeitsaufwand zur Verfolgung derartiger Verbrechen lohnen“ würde. Überdies würde ein solcher Vorgang die Frage aufwerfen, warum die Strafverfolgung erst 1969 aufgegriffen werden würde, da doch in der DDR bis zum Jahr 1950 mit NS-Verbrechen abgerechnet worden sei. Eine Reihe von Ärzten würde mögliche Strafverfahren „sicher nicht“ verstehen.12 Allerdings sollten Mecklinger zufolge zumindest alle Ärzte, die der zweiten Gruppe zuzurechnen seien, „unbedingt“ strafrechtlich verfolgt werden. Im Folgenden notierte die Staatssicherheit eine Hochrechnung Mecklingers über den nötigen Arbeitsaufwand. Es müsste nach sämtlichen Unterlagen chirurgischer Kliniken, die 1945 existierten, gefahndet werden. Mecklinger rechnete mit 350–400 Klinikarchiven. Des Weiteren schätzte er die Anzahl der durchgeführten Operationen und kam zu dem Ergebnis, dass vermutlich Unterlagen von einer bis anderthalb Millionen Eingriffe auszuwerten seien. Eine solche Leistung sei, meinte Mecklinger, vom Gesundheitsministerium nicht „ohne Aufsehen zu erregen“ zu vollbringen. Er erklärte sich jedoch bereit, alles zu tun, dass Mitarbeiter der Staatssicherheit „in abgedeckter Form“ die Akten finden und lesen könnten. Dass die These vom konsequent antifaschistischen Staat DDR nicht der Realität entsprach, wurde nach der Wende viel besprochen und beispielsweise im Kontext der „Euthanasie“-Aufarbeitung oder der Entwicklung des Rechtsextre11

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Tatsächlich verabschiedete die DDR-Volkskammer im März 1972 das neue Gesetz zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Das Gesetz sorgte für Aufsehen selbst über die Grenzen der DDR hinaus. Es war die einzige Beschlussfassung der Volkskammer, die nicht einstimmig ausfiel. Kritik übten beide Kirchen. Zum Gesetz siehe auch den Text im Anhang. Die Staatssicherheit sammelte den BStU-Akten zufolge besonders in den 1960er Jahren Material zur Vergangenheit von einzelnen in der DDR tätigen Ärzten und Wissenschaftlern. Vgl. hierzu Listen über mutmaßliche Naziverbrecher in BStU, MfS, HA, XX, Nr. 5755.

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mismus nachgewiesen.13 Der vorliegende Aktenfund ist ein weiterer Beleg dafür, dass das Selbstverständnis, das die DDR in Abgrenzung zur Bundesrepublik hatte, nicht stimmte. Zudem zeigen die Unterlagen das absurde Dilemma, in dem die DDR steckte, wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Nazi-Vergangenheit ging. Klar wird, dass die Mittäterschaft von Ärzten bei den Verbrechen der Nazis auch in der DDR rund dreißig Jahre nach Kriegsende nicht aufgearbeitet war. Offenbar gab es keine Leitlinien, wie bei Verdachtsmomenten umzugehen war. Der Aktenfund verdeutlicht die Unsicherheit und fehlende Strategien der DDR-Sicherheitsorgane beim grundsätzlichen Umgang mit der T4-Vergangenheit von Ärzten oder derartigen Verdachtsmomenten. Mecklinger wird offenbar angefragt, da er zum einen als Jurist eine mögliche Strafbarkeit einschätzen kann und zum anderen aus Medizinersicht eine Vorstellung geben kann, unter welchen Bedingungen Ärzte in der Nazi-Zeit gearbeitet hatten und wie Zwangssterilisationen ausgeführt wurden. Die Akten zeigen, welches Vertrauen der zukünftige DDR-Gesundheitsminister bei der Staatssicherheit genoss. Zu erkennen ist auch, dass sich das MfS durchaus mit den gefundenen Informationen befasste. Auch andere BStU-Unterlagen zeigen, dass die Staatssicherheit in den 1960er Jahren etliches Material erarbeitete, was die Beteiligung von Medizinern beim „Ausmerzen“ von „lebensunwertem Leben“ nachwies.14 Letztlich gerieten die Ermittler jedoch in eine Zwickmühle. Die Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen war zu diesem Zeitpunkt kaum mehr möglich. Das selbst verordnete Konstrukt des Antifaschismus, ein wesentlicher Teil der politisch-ideologischen Frontstellung zur Bundesrepublik, wäre zusammengebrochen. Kein anderes Wort der politischen Sprache diente so sehr der Rechtfertigung des Sozialismus wie „Antifaschismus“. Insofern waren die Informationen zu noch tätigen Ärzten mit Nazi-Hintergrund brisant. Keinesfalls sollten derartige Details an die Öffentlichkeit gelangen. Eine ethisch-moralische Bewertung von Zwangssterilisationen als Teil der so genannten Rassenhygiene der Nazis war in der DDR-Ärzteschaft nicht konsensuell geklärt. Mecklinger vertrat den Ärztestand in nahezu höchster Position. Obgleich er vermutlich nicht die Entscheidungsgewalt hatte, wie die DDR insbesondere strafrechtlich mit dem Problem mutmaßlich „Euthanasie“-verdächtiger Ärzte umgehen sollte, so war sein Wort zumindest wegweisend für den öffentlichen Umgang der DDR-Ärzteschaft mit der eigenen Vergangenheit. Mecklinger enthielt sich einer klaren ethischen Stellungnahme. Er gibt Hinweise zum Umgang mit dem Problem, wobei eine Tendenz zum Bagatellisieren zu erkennen ist, vorausgesetzt, dass das einstige Gespräch zwischen den Offizieren des MfS und Mecklinger korrekt wiedergegeben ist. Er zweifelt ein grundlegendes Schuldbewusstsein der Betroffenen an. Die Unterlagen deuten darauf hin, dass er selbst keine Schuld oder Mitverantwortung jener Ärzte, die damals nicht in leitenden Positionen waren, sieht. Zumindest wirkt es so, als sei Mecklinger eine „politisch saubere“ Durchsetzung des neuen Gesetzes zur 13 14

Vgl. Dirks (2006) und Wanitschke (2005). Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AOP 613/66, Bde. I-II, Beiakte, Bde. I-II, Beweismittelakte; BStU, MfS, BV Gera, Nr. 268/47.

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Abtreibung wichtiger als eine „vergangenheitsbelastete“ Diskussion um Sterilisationen oder Schwangerschaftsabbrüche. Moralische und berufsethische Fragen standen somit hinter gesellschaftspolitischen Zielen zurück. In einer von Ludwig Mecklinger 1994 verfassten Analyse des DDR-Gesundheitssystems, in der er sich auch mit seiner einstigen Rolle als Minister auseinandersetzte, offenbarte er „ein gewisses Schuldgefühl“ angesichts von „quälenden Erkenntnissen grober Verletzung von Menschenrechten und Menschenwürde“.15 Dem „elementaren Erfordernis“ einer Abrechnung mit der nazistischen Vergangenheit hätte die DDR jedoch – im Vergleich zur Bundesrepublik – mit größerer „Prinzipienfestigkeit Rechnung getragen“.16 Viele Ärzte, die sich an der T4-Aktion der Nazis maßgeblich beteiligt hatten, lebten und arbeiteten nach dem Krieg im Westen Deutschlands.17 Dass auch in der DDR schuldige Ärzte unbehelligt blieben, schien dem langjährigen Gesundheitsminister auch nach der politischen Wende nicht bewusst zu sein. Er hielt am Antifaschismus-Mythos fest.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU, MfS, AP, Nr. 35651. BStU, MfS, BV Gera, AOP 613/66, Bde. I-II, Beiakte, Bde. I-II, Beweismittelakte. BStU, MfS, BV Gera, Nr. 268/47. BStU, MfS, HA XX, Nr. 527. BStU, MfS, HA, XX, Nr. 5755.

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HERBERT UEBERMUTH: „WIR STEHEN ZUM ÄRZTLICHEN ETHOS.“1 EIN LEIPZIGER ARZT IN ZWEI DIKTATUREN Francesca Weil EINLEITUNG Über den ehemaligen Leipziger Klinikdirektor Herbert Uebermuth wurden in den vergangenen Jahrzehnten Laudationes gehalten und medizinhistorische Dissertationen verfasst, die vorwiegend seine unbestritten hervorragenden medizinischen Leistungen in den Mittelpunkt rückten. 2004 gab es einen ersten öffentlichen Hinweis auf die Tätigkeit des Chirurgen als inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR, der viele Fragen offen ließ. Michael Parak schrieb in seinem Buch über sächsische Hochschullehrer: „So konnten ehemalige NSDAP-Mitglieder [Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre – die Verf.] wieder eingestellt werden, wenn sie neben der dringend notwendigen fachlichen Kompetenz eine Grundloyalität zur DDR vorwiesen, die wie im Falle von Herbert Uebermuth Grund zur Annahme gab, dass er ‚Anschluss an die fortschrittlichen Kräfte der Fakultät finden wird‘. Im Falle des Leipziger Chirurgen ging die Bereitschaft, mit dem neuen Staat zusammenzuarbeiten, in der Folgezeit freilich über das zunächst geforderte Maß der Loyalität hinaus: Als IM ,Dozent‘ gab Uebermuth in den sechziger Jahren Interna der Medizinischen Fakultät preis.“2

Da die oben erwähnten Laudationes und medizinhistorischen Dissertationen im Gegensatz zu Arbeiten über andere, ebenso bekannte Leipziger Ärzte3 auf die Beschreibung der politischen Einbindungen Uebermuths weitgehend verzichteten und zur Kooperation des Klinikdirektors mit dem MfS gegenwärtig lediglich ein Satz unvermittelt im Raume steht, sind m. E. präzisere Erläuterungen zwingend erforderlich. Dies gelang beispielsweise Maria Ilgner und Olaf Ostwald, indem sie neben die durchaus beachtlichen medizinischen Leistungen zweier Leipziger Mediziner auch deren politische Anpassungsbereitschaft, Resistenz oder Karriereinteressen stellten und damit vollständige wie differenzierte Bilder von Arztbiografien entwickelten.4 In Hinblick auf Herbert Uebermuth steht das noch aus.

1 2 3 4

BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 80. Vgl. Parak (2004), S. 378. Vgl. Ilgner (1999) und Ostwald (1999). Ebd.

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ZUR BERUFLICHEN BIOGRAFIE UEBERMUTHS Der Chirurg hat sich – wie von Laudatoren zu seinem 65. und zu seinem 100. Geburtstag hervorgehoben – über die Jahre seines Wirkens vornehmlich an der Leipziger Universität aufgrund seiner beruflichen Kompetenzen einen außergewöhnlichen Ruf verschafft. 1901 in Leipzig geboren, wuchs er in der sächsischen Messestadt auf, besuchte das Thomas-Gymnasium und studierte 1920 bis 1925 an der Universität seiner Heimatstadt Medizin.5 Sein Studium in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre zu absolvieren, war nur als „Werkstudent“ möglich.6 Die hier gewonnenen Erkenntnisse bewertete Albrecht Gläser 1966 in seiner Laudatio als Erfahrungen Uebermuths mit einfachen, arbeitenden Menschen, die bestimmend für dessen tiefes Verständnis in Hinblick auf soziale Fragen zu einer Zeit gewesen seien, in der „das Akademische traditionsgebunden noch am Alten“ verharrt habe.7 Nach der Promotion bei dem berühmten Chirurgen Erwin Payr (1871–1946) in Leipzig lernte Uebermuth bei ebenso renommierten Lehrern wie Walter Stoeckel (1871–1961) an der Berliner Universitätsfrauenklinik und Werner Hueck (1882–1962) am Pathologischen Institut. Als Uebermuth 1933 als Assistent zu Payr an die Leipziger Chirurgische Klinik zurückkehrte, begann für ihn eine anhaltend intensive klinische und wissenschaftliche Tätigkeit, die ihn befähigte, bereits 1936 zu habilitieren.8 Schon ein Jahr darauf erhielt Uebermuth die Dozentur für das Fachgebiet Chirurgie. Während des Zweiten Weltkriegs war er 1942 bis 1945 in Kriegslazarettabteilungen als Chirurg und Stabsarzt tätig.9 1943 wurde Uebermuth in Abwesenheit zum außerordentlichen Professor ernannt.10 1946 aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen, kehrte er sofort nach Leipzig zurück. Aufgrund seiner einstigen Zugehörigkeit zur NSDAP konnte er vorläufig keine Stelle an der Universität annehmen. In den Folgejahren leitete er als frei praktizierender Arzt die Chirurgische Privatklinik des Geheimrats von Goebel, wo er sich laut Stasiakte aufgrund „seiner Hilfsbereitschaft und seines Könnens in der Bevölkerung einen ausgezeichneten Namen machte“.11 1950 wurde er als Nachfolger Erich Sonntags zum Direktor des Chirurgisch-Poliklinischen Institutes der Universität Leipzig berufen. Zwei Jahre später ernannte die Universitätsleitung Uebermuth zum Professor mit Lehrstuhl für Chirurgie und übergab ihm das Ordinariat von Ernst Heller. Damit habe sich nach Auffassung eines Laudators, Professor Schwokowski, nicht nur ein lang gehegter Wunsch Uebermuths erfüllt, sondern es sei auch der mehrfache Wechsel im Direktorat beendet worden, der einer Klinik immer Unruhe und Energieverlust bringe.12 5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Schwokowski (2001), S. 22. Vgl. Gläser (1966), S. VII. Vgl. ebd. Vgl. Schwokowski (2001), S. 22; vgl. auch Gläser (1966), S. VIII. Vgl. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 17. Vgl. Schwokowski (2001), S. 22. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 17. Vgl. Schwokowski (2001), S. 22.

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Von 1955 bis 1957 leitete Uebermuth als Ärztlicher Direktor das Chirurgische Klinikum, von 1958 bis 1959 schließlich das Dekanat der Medizinischen Fakultät.13 1966 wurde Uebermuth emeritiert.14 ZU DEN LEISTUNGEN DES CHIRURGEN ALS MEDIZINER UND WISSENSCHAFTLER Trotz hoher Belastung durch administrative Aufgaben gelang es Uebermuth, mehr als 130 Publikationen, darunter ein für das Grundlagenstudium der Chirurgie wesentliches Lehrbuch, zu verfassen. Seine Erfolge beziehen sich auch auf zahlreiche Initiativen, als deren Ergebnis aus chirurgischen Spezialabteilungen eigenständige Kliniken der Leipziger Universität entstanden. Das betraf 1954 die Neurochirurgische Klinik, 1958 die Kinderchirurgische Klinik, 1961 die Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie und weitere selbständige Abteilungen und Stationen.15 Damit erfuhr das Fachgebiet der Chirurgie gegenüber dem Vorkriegsstand eine maßgebliche Weiterentwicklung. Uebermuth habe – so Albrecht Gläser in seiner Lobrede – damals klar erkannt, dass es für einen Einzelnen unmöglich war, „die gesamte Chirurgie zu überblicken und souverän zu beherrschen, wie es für die Altmeister der klassischen deutschen Chirurgie noch zutraf“. Die logische Konsequenz bestand deshalb in der raschen Entwicklung von Spezialabteilungen.16 Allerdings hielt Uebermuth den Zusammenhalt der Chirurgie auch weiterhin für äußerst wichtig. So formulierte er 1956: „Dem Ordinarius unserer Zeitentwicklung obliegt die nicht leichte Aufgabe, trotz aller Spezialisierung und aller Neigungen zur Trennung die Chirurgie im ganzen zusammen zu halten und ihre speziellen Fachvertreter in der allgemeinen Arbeitsleistung der Gesamtchirurgie zu vereinen“.17

Das deshalb geschaffene „Unter-Einem-Dach-System“ ermöglichte zudem eine kontinuierliche Unterrichtung der Studenten und Assistenten. So nahm die Leipziger Klinik „eine rasche Aufwärtsentwicklung, anknüpfend an alte Traditionen eines weit über die Grenzen der engeren Heimat hinaus bekannten chirurgischen Zentrums“.18 Das zeitige Erkennen und Durchsetzen der Aufteilung der Chirurgie in Spezialgebiete in den 1950er Jahren bis zu Beginn der 60er Jahre unter dem gemeinsamen Dach der Leipziger Universität führte schließlich zum erwünschten Anschluss an internationale Trends.19 In der Festrede von 1966 erwähnte Gläser zudem die staatlichen Auszeichnungen des Chirurgen in der DDR: 1956 „Verdienter Arzt des Volkes“, 1959 13 14 15 16 17 18 19

Ebd. Ebd., S. 23. Ebd. Gläser (1966), S. VIII. Schwokowski (2001), S. 22. Gläser (1966), S. VIII. Schulze (2000), S. 1.

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„Vaterländischer Verdienstorden in Silber“, 1961 „Nationalpreis 2. Klasse“.20 Auch Burga Schulze zählte in ihrer 2000 erschienenen Dissertation alle Anerkennungen auf, die Uebermuth in den 50er und 60er Jahren für seine chirurgischen Leistungen und sein umfangreiches wissenschaftliches Werk erhalten hatte.21 Die Autoren der Geschichte der Medizinischen Fakultät, welche anlässlich des 575jährigen Bestehens der Fakultät 1990 herausgeben wurde, verbanden den Namen Uebermuths ebenfalls mit der „schnellen Aufwärtsentwicklung“ der Chirurgischen Klinik nach 1952 und verwiesen sowohl auf die Verleihung des Nationalpreises an den Arzt als auch auf viele andere Auszeichnungen zur Würdigung seines Schaffens.22 DIE POLITISCHE ANPASSUNG UEBERMUTHS IM „DRITTEN REICH“ In der Dissertation von Burga Schulze, die sich den Anspruch stellte, eine Gesamtdarstellung des Lebensweges von Herbert Uebermuth zu erarbeiten,23 fehlt die Interpretation der politischen Anpassungsbereitschaft des Chirurgen fast vollständig. Zu Uebermuths Mitgliedschaft in der NSDAP zitiert sie lediglich unkommentiert folgende Passage aus dessen selbstverfasstem Lebenslauf von 1948: „Meine wissenschaftlichen Arbeiten hatten mir auch in Leipzig die wissenschaftliche Laufbahn eröffnet. Dieser schon bis 1933 unter vielen Entbehrungen beschrittene Weg wäre beendet gewesen, wenn ich nicht der NSDAP beitrat. Die freie Niederlassung als Chirurg war andererseits erschwert oder unmöglich, da ich unvermögend war. Ich trat deshalb im Mai 1933 der Partei bei, weigerte mich aber bis zuletzt, Ämter zu übernehmen oder der SA beizutreten. Wegen meines passiven Verhaltens erhielt ich nicht das Parteibuch. Bis zum Ende der Zugehörigkeit zur Partei (Januar 1942) betätigte ich mich nie aktiv politisch bis auf Feldscher-Kurse in erster Hilfe für Feldschere des Jungvolkes, die ich ohne sonstige Bindung von 1934 an bis etwa 1936 oder 1937 erteilte. Für diese Zeit galt ich als Mitglied der HJ, wodurch ich mich dem Drängen der Ämterübernahme oder zum SA-Beitritt entzog.“24

Fast lobend erwähnt Schulze dagegen, dass Uebermuth 1938 einen Beitrag über die erbbiologische Bewertung der Lippen- und Gaumenspalten veröffentlichte, in welchem er „zu der wichtigen Feststellung kam, dass es ärztlich und erbbiologisch vertreten werden kann, wenn die Spaltenbildung im Gesicht nicht zu den schweren Erbleiden im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gerechnet werden“.25

Schulzes positive Bewertung der Differenzierung von Behinderten durch Uebermuth im Sinne dieses Gesetzes ist jedoch mehr als bedenklich. Macht Uebermuths Positionierung doch in erster Linie deutlich, dass er dieses Gesetz und dessen Folgen für behinderte Menschen prinzipiell nicht in Frage stellte. 20 21 22 23 24 25

Vgl. Gläser (1966), S. IX. Vgl. Schulze (2000), S. 36. Vgl. Kästner/ Thom (2000), S. 233–234. Vgl. Schulze (2000), S. 2. Universitätsarchiv Leipzig, Personalakte 4502, Bl. 13; zitiert in: Schulze (2000), S. 14. Ebd., S. 19.

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Herbert Uebermuth war tatsächlich seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Entgegen seinen persönlichen Einlassungen gehörte er der Partei jedoch nicht nur bis 1942, sondern bis 1945 an, was aus den erhalten gebliebenen Akten bzw. Karteikarten der NSDAP und der Reichsärztekammer hervorgeht.26 Dass Uebermuths Beitritt zur NSDAP der Sicherung von Arbeitsverhältnis und Karriere galt und nicht vordergründig einer nationalsozialistischen Gesinnung entsprang, belegen seine dem standesgemäßen Habitus entsprungenen Auffassungen und Äußerungen. Außerdem wird seine Geisteshaltung im Vergleich mit anderen Leipziger Ärzten und deren Einstellung und Handeln während des Nationalsozialismus deutlich. Ein solches Beispiel beschreibt Olaf Ostwald in seiner Dissertation. So konnte der Chirurg Alfons Kortzeborn am Leipziger St. Elisabeth-Krankenhaus mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten seine persönlichen Ziele wesentlich besser verfolgen, vor allem durch „die nun gegebene Möglichkeit der Übertragung des absoluten Führerprinzips auf den Ärztestand“.27 Kortzeborn, der damalige leitende Arzt des Krankenhauses, welcher der NSDAP angehört habe und mit NSDAP-Kreisleiter Wettengel und Gauleiter Mutschmann befreundet gewesen sei, suchte – laut Propst Spülbeck – „seinen Einfluss auf das Krankenhaus im nazistischen Sinne zu verstärken“.28 Nachdem das Arbeitsverhältnis Kotzeborns am 31. August 1939 endete, weil infolge der Übernahme des Krankenhauses durch die Wehrmacht alle Arbeitsverträge mit den Ärzten ruhten, trat der Chirurg bereits einen Tag darauf infolge eines Dienstvertrages mit der Stadt Leipzig den Leitungsposten des Stadtkrankenhauses an.29 Dabei handelte es sich um das ehemalige israelitische Krankenhaus, das „Eitingon“, welches bis zu diesem Zeitpunkt Zentrum der jüdischen Wohlfahrtspflege und die einzige verbliebene Behandlungseinrichtung für jüdische Patienten in Leipzig war. Infolge einer Intervention Kortzeborns beim Stadtrat wurden die letzten jüdischen Patienten und das verbliebene Personal nach der Heilanstalt Dösen verlegt, damit das Haus ausschließlich der „arischen“ Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden konnte. Alle Patienten, die Ärzte und das Pflegepersonal wurden später ausnahmslos von Dösen in Vernichtungslager deportiert.30 Kotzeborn dagegen stand mit dieser Übernahme „ein modernes und voll ausgerüstetes chirurgisches Krankenhaus“ zur Verfügung.31 Mit einem vollkommen gegensätzlichen Beispiel befasst sich Maria Ilgner in ihrer Studie. Über den bekannten Leipziger Gerichtsmediziner Gottfried Raestrup, der niemals der NSDAP angehört hatte, führt sie u. a. Folgendes aus: „Trotz dieses bereits sehr früh nachweisbaren Drucks auf Inhaber leitender Positionen im Staatsdienst ist es bemerkenswert, dass Raestrup der NSDAP niemals angehört hat. An dieser 26 27 28 29 30 31

Vgl. Bundesarchiv (ehem. BDC), RÄK, NSLB, NSDAP-Zentralkartei, NSDAP-Gaukartei, up. Ostwald (1999), S. 47. Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 51–52. Ebd., S. 52.

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Francesca Weil Stelle nicht nachgegeben zu haben, muß, wenn auch nicht als ‚Widerstand‘, so doch mindestens als Zeichen expliziter Distanz, vielleicht auch als Ablehnung gewertet werden. Daß sie eines gewissen Mutes bedurfte, kann nicht bezweifelt werden, denn natürlich war den Nationalsozialisten die Partei Mittelpunkt und Zentrum des eigenen Selbstverständnisses. Dahin zielte die Ausschließlichkeit, mit der von ihr ‚allein‘ die Leitung von Staatsämtern ideologisch möglich sein sollte.“32

Uebermuth wiederum zählte weder zu den Medizinern, die sich wie Raestrup einer NSDAP-Mitgliedschaft konsequent verweigerten, noch zu denen, die wie Kortzeborn ihre nationalsozialistische Gesinnung unter Beweis stellten und die Parteizugehörigkeit zu ihrem persönlichen Vorteil nutzten. Er war offensichtlich „nur“ wegen der Sicherung des Arbeitsplatzes politisch anpassungsbereit. UEBERMUTHS POLITISCHE LOYALITÄT IN DER DDR Im Gegensatz zu seiner Bereitschaft, der NSDAP aus stellensichernden Gründen beizutreten, verzichtete Uebermuth nach der Rückkehr 1946 auf eine Mitgliedschaft in der SED. Ihm gelang während der 50er Jahre in der DDR eine außerordentliche Karriere aufgrund seiner nachweislichen beruflichen Kompetenzen und nicht wegen einer Parteizugehörigkeit. Allerdings besaß er spätestens seit 1958 Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Mitarbeiter der Leipziger MfS-Bezirksverwaltung erinnerten sich seiner 1961 in Hinblick auf eine Werbung als inoffizieller Mitarbeiter: Professor Uebermuth hatte laut MfS-Angaben bereits 1958 konspirativ mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet, um einen „Agenten“, der in seiner Klinik lag, zu überführen und dessen Flucht zu verhindern. Dieser Auftrag sei von ihm sehr gut erledigt worden, so dass diese Person habe inhaftiert werden können.33 Im gleichen Jahr hat Professor Uebermuth laut Angaben von Stasimitarbeitern dem MfS „Material“ über einen Arzt zur Verfügung gestellt. Als ihm das „Material“ zurückgegeben worden sei, habe der Chirurg seine Befriedigung darüber zum Ausdruck gebracht, dass er dem MfS habe helfen können. Uebermuth sei in diesem Kontext allerdings sehr daran interessiert gewesen, dass sein Name in diesem Zusammenhang nicht an die Öffentlichkeit dringen dürfe. Trotz dahingehender Befürchtungen habe sich der Klinikdirektor grundsätzlich bereit erklärt, das MfS auch bei anderen Fragen zu unterstützen.34 Hauptamtliche Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Leipzig gaben 1959 schließlich folgendes Bild von Herbert Uebermuth ab: In seiner fachlichen und wissenschaftlichen Tätigkeit an der Karl-Marx-Universität, besonders der Chirurgischen Klinik, werde Professor Uebermuth als bekanntester und einer der begabtesten Fachärzte für Chirurgie, Frauenheilkunde und Geburtshilfe beurteilt. Besondere Wertschätzung erfreue sich der Arzt durch seine Tätigkeit als Dekan der Medizinischen Fakultät. In dieser Funktion setze er sich stark ein für die Aus32 33 34

Ilgner (1999), S. 14. Vgl. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 23. Ebd., Bl. 32.

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bildung begabter Mitarbeiter und für leistungsfähige Spezialabteilungen in der modernen Chirurgie. Uebermuth habe zudem eine positive Einstellung zum Arbeiter- und Bauernstaat. Für gesellschaftspolitische Aufgaben zeige er sich stets zugänglich und arbeite in wichtigen Fragen mit den gesellschaftlichen Organisationen, der Partei und den Staatsorganen zusammen.35 Große Unterstützung erhalte der Chirurg vor allem durch die SED-Stadtleitung, da zu ihm besonders die Spitzenfunktionäre zur Behandlung kommen würden.36 Sowohl der hervorragende Ruf und die zahlreichen Kontakte Uebermuths als auch dessen Kooperationswilligkeit qualifizierten ihn offenbar zum inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit innerhalb seiner Berufsgruppe. Die IM-Akte „Dozent“, die Uebermuth zugeordnet ist, beinhaltet im Vergleich zu denen anderer Klinikdirektoren, welche auch als inoffizielle Mitarbeiter des MfS tätig waren, weniger ausführliche und eher verhalten formulierte Personenberichte. Bei diesen Unterlagen handelt es sich zudem insofern um keine „typische“ Akte, weil sich in ihr zahlreiche von dem Chirurgie-Professor verfasste und vom MfS akribisch gesammelte Zeitungsartikel befinden. Aus diesen geht eindeutig hervor, dass sich Herbert Uebermuth – obwohl kein Parteimitglied – offensichtlich von der SED für ihre Interessen benutzen ließ. ZUR POLITISCHEN INSTRUMENTALISIERUNG UEBERMUTHS DURCH DIE SED Gegen Ende des Jahres 1960 war der Leipziger Mediziner in der Hamburger Zeitung „Die Welt“ als angeblicher „politischer Erpresser“ diskreditiert worden. Grundlage für die von der Zeitung formulierten Vorwürfe war ein der westdeutschen Presse zugänglicher Abschiedsbrief eines aus Leipzig in die Bundesrepublik geflüchteten Oberarztes, in dem dieser an Uebermuth geschrieben hatte: „Ich kann nicht ohne Gewissenskonflikte den in der DDR geübten Methoden des Aufbaus des Sozialismus zustimmen, nach denen nur der ein Weiterbestehen hat, der ‚gesellschaftlich aktiv‘ ist. Inwiefern ich mich deshalb hätte habilitieren können, hätten nicht Sie, hochverehrter Herr Professor, entschieden, sondern die Leute von der SED.“ 37

Der Chirurg wies die Vorwürfe, die unter der Überschrift „SED-Politik treibt Ärzte zur Flucht“ erhoben wurden, energisch zurück und überzeugte durch eine Richtigstellung: Weder die in seiner Amtszeit zur Habilitation gelangten sechs Ärzte, noch die in Vorbereitung begriffenen zwei Ärzte seien jemals zu politischen Bekenntnissen gezwungen worden. Es sei vielmehr nachweisbar, „dass allseits als scharfe Gegner der politischen Verhältnisse bekannte Oberärzte mühelos zur Habilitation gelangten“. „Die Welt“ kam daraufhin Anfang des Jahres 1961 nicht umhin, eine Berichtigung zu veröffentlichen. Für den vorgeblich poli-

35 36 37

Vgl. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 21. Ebd., Bl. 23. „Die Welt“ widerruft – und lügt weiter. In: ZU vom 03.01.1961. Ebd., Bl. 47.

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tischen Druck Uebermuths auf habilitationswillige Ärzte habe sich keine Bestätigung erhalten lassen, teilte man mit.38 Auch wenn Uebermuths Äußerungen keinerlei parteipolitische Bezüge aufwiesen, sondern lediglich vom Interesse der eigenen Rehabilitierung geprägt waren, ließ er es dennoch zu, dass die SED ihn gegen den sog. „Klassenfeind“ benutzte und ihn an ihrer statt in zahlreichen Zeitungen ins Feld führte. Uebermuth war die persönliche Rehabilitierung offenbar so wichtig, dass er die Instrumentalisierung seiner Person durch die SED in Kauf nahm. Ohne parteipolitisch vordergründig zu argumentieren, beurteilte Uebermuth in diesem Zusammenhang in der „Leipziger Volkszeitung“ auch das Verhalten „republikflüchtiger“ Ärzte. Dabei stellte er deren berufsethischen Anspruch in den Vordergrund und nicht zuletzt öffentlich in Frage: „Welche Gründe es auch sind, die Ärzte zur Republikflucht bewogen haben, gegen jeden muss der Vorwurf erhoben werden, er habe das ärztliche Ethos missachtet und den hippokratischen Eid gebrochen, den er einmal als werdender Arzt abgab. Denn dort, wo ihn das Schicksal hinstellte, hat er nicht die Treue zu seinen Kranken aufgebracht und sie eines Tages verlassen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, dass sie, seine deutschen Landsleute, Menschen seiner eigenen Nation, seine Hilfe brauchten. Wie fern stehen solche Ärzte jenen Männern wahrhafter ärztlicher Berufung, die ihre Gesundheit und sogar ihr Leben für ihr Arzttum gaben?“39

An dem nach wenigen Monaten folgenden Vorschlag der MfS-Bezirksverwaltung „zur Werbung eines inoffiziellen Mitarbeiters“ lässt sich die Freude der Stasimitarbeiter über den politischen Erfolg der Uebermuthschen Intervention gegen den „Welt“-Artikel erahnen: „Sein gutes Verhältnis zur Partei war besonders in der letzten Zeit Angriffspunkt feindlicher Institutionen aus Westdeutschland, die sich hierbei besonders die Unterstützung des republikflüchtigen Oberarztes der Chirurgischen Klinik, [...], zunutze machten. Dieser Angriff wurde jedoch aufgrund eingeleiteter Maßnahmen sowie der Beliebtheit des Kandidaten zunichte gemacht.“40

IM „DOZENT“ Letztendlich trugen diese Ereignisse maßgeblich dazu bei, dass das MfS im Mai 1961 Professor Uebermuth als inoffiziellen Mitarbeiter werben wollte. Die Werbung wurde damit begründet, dass der Chirurg aufgrund seines Ansehens und seiner Stellung innerhalb der „medizinischen Intelligenz“ – nicht nur im Bezirk Leipzig – für die inoffizielle Arbeit „auf der Linie Gesundheitswesen große Perspektiven“ aufzuweisen habe.41 Zu den verschiedenen operativen Aufgaben, die der IM „Dozent“ übernehmen sollte, zählten u. a. der „Einsatz bei der Verhinde38 39 40 41

Vgl. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 47. Ebd., Bl. 80. Ebd., Bl. 62. Vgl. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. Bl. 62.

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rung von Republikfluchten unter den Angehörigen der medizinischen Intelligenz“, die „Aufklärung der Gründe bereits erfolgter Republikfluchten“, der „Einsatz bei der Zurückholung von republikflüchtigen Ärzten und Wissenschaftlern“, die „Einschätzung der Situation unter den Ärzten und Wissenschaftlern der KarlMarx-Universität“ und der „Einsatz bei der Aufklärung westdeutscher und ausländischer Kongresse“.42 Aufgrund der Tatsache, dass der „IM-Kandidat“ bereits erfolgreich einige operative Aufgaben im Interesse des Ministeriums für Staatsicherheit gelöst hatte, bestanden nach Ansicht der MfS-Mitarbeiter günstige Voraussetzungen für die Anwerbung des Kandidaten. Er sollte auf „Basis der Überzeugung“ angeworben, die bereits zu ihm bestehende Verbindung ausgebaut und gefestigt werden. Als Methode für die Werbung wählten die Stasioffiziere „das allmähliche Heranziehen des Kandidaten an die Lösung weiterer operativ notwendiger Aufgaben und Maßnahmen“. Zur engeren Gestaltung der Verbindung sollten monatlich regelmäßig Zusammenkünfte durchgeführt und konkrete operative Aufgaben zur Lösung übertragen werden.43 Als Anknüpfungspunkt für die am 18. Mai 1961 folgende Zusammenkunft nahmen die MfS-Mitarbeiter die von ihnen geforderte Entlassung der Sekretärin eines „republikflüchtigen“ Oberarztes, die Uebermuth im März des Jahres laut Stasibericht im Interesse der Staatssicherheit vorgenommen hatte.44 Während des Anwerbungsgespräches wurde gegenüber dem Chirurgen nicht ein einziges Mal erwähnt, dass er von diesem Tage an konspirativ mit dem MfS zusammenarbeitete. Auch im Abschlussbericht von 1967 resümierte der Führungsoffizier, dass aus den Unterlagen nicht hervorgehe, ob der Genannte über die inoffizielle Kooperation informiert gewesen sei.45 Es existiert zudem keine schriftliche Verpflichtungserklärung und kein Hinweis darauf, dass es einen verpflichtenden Händeschlag gegeben hat oder dass Uebermuth seinen Decknamen „Dozent“ selbst wählte oder davon wusste. Ob Uebermuth die Kontakte mit dem MfS als offizielle oder inoffizielle verstanden hat, ist jedoch unerheblich. Den Unterlagen entsprechend steht fest, dass es diese Treffen gegeben und der Arzt selbst auf die damit verbundene „Diskretion“ Wert gelegt hat. Bereits während des ersten Treffens gab der Chirurg laut Akte Auskünfte – zwar wie schon beschrieben auf verhaltene Art und Weise – über Arztkollegen und dankte dem MfS für „die ihm vertrauensvoll gegebenen Hinweise“, die er offenbar nutzen konnte. Anhand des Falls eines Kollegen habe ihm der angehende Führungsoffizier außerdem deutlich gemacht, wie notwendig und zweckmäßig es sei, dass er zum MfS Kontakt unterhalte, um derartige Dinge sofort klären zu können. Uebermuth versprach daraufhin laut Protokoll, künftig direkte Verbindung zum MfS-Mitarbeiter aufzunehmen, um solche „Probleme“ oder die Klinik

42 43 44 45

Vgl. ebd., Bl. 63. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 97.

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betreffende Angelegenheiten zu besprechen.46 In der Folgezeit berichtete Uebermuth – laut Akte – ausführlich über seine Gespräche mit angeblich ausreise- oder republikfluchtwilligen Ärzten seiner Klinik.47 Die gute Zusammenarbeit und Uebermuths Einsatzbereitschaft zeigten sich nach Auffassung des Führungsoffiziers allerdings besonders bei der Behandlung von Patienten, die bei ihm „konspirativ“ auf der Privatstation lagen. Selbst bei komplizierten ärztlichen Problemen, zu denen er andere Berufskollegen zurate ziehen musste, habe er die dringend erforderliche Geheimhaltung eingehalten.48 Das MfS beendete die konspirative Zusammenarbeit 1967, da nach Uebermuths Emeritierung laut Meinung der Stasimitarbeiter keinerlei Gründe mehr bestehen würden, mit ihm inoffiziell zusammenzuarbeiten. Bei Problemen könne der IM von nun an offiziell genutzt werden.49 RESÜMEE Die Vervollständigung der Biografie Uebermuths darf keinesfalls als Diffamierung der durchaus unumstrittenen wie bemerkenswerten beruflichen Kompetenzen und Leistungen des bekannten Leipziger Chirurgen verstanden werden. Mittels einer komplettierten Lebensbeschreibung soll aber darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch Mediziner, insbesondere wenn sie Führungspositionen einnahmen oder einnehmen wollten, in Diktaturen nicht in politischen Freiräumen agieren konnten. Sie mussten zumindest eine gewisse politische Grundloyalität gegenüber Staat und Partei üben, was Uebermuth sowohl im NS-Regime als auch während der SED-Diktatur eindeutig praktizierte. In der DDR ging seine Bereitschaft, mit dem System zusammenzuarbeiten, – wie schon Parak schlussfolgerte – aufgrund der konspirativen Tätigkeit für das MfS tatsächlich über das üblicherweise geforderte Maß hinaus. Zahlreiche andere Beispiele belegen,50 dass offenbar gerade Mediziner aufgrund des Prestiges ihres Berufsstandes und des damit verbundenen elitären Standesbewusstseins dem Glauben aufsaßen, dieses Maß an Loyalität für sich selbst festlegen zu können. Sie nahmen deshalb auch irrtümlicherweise an, den Charakter angeblich unumgänglicher Verbindungen zu Institutionen wie dem MfS bzw. zu deren Mitarbeiter weitgehend mitbestimmen oder prägen zu können. Alles in allem stehen die politischen Einlassungen Uebermuths exemplarisch dafür, dass ein nicht geringer Teil dieser standesbewussten Profession durchaus ein großes Anpassungsverhalten in Diktaturen aufwies. Den meisten in der Studie „Zielgruppe Ärzteschaft“ vorgestellten ehemaligen IM-Ärzten, die während des „Dritten Reiches“ nachweislich SS-Formationen, der NSDAP oder anderen NS46 47 48 49 50

Vgl. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P, Bl. 66–67. Vgl. ebd., Akte A, Bl. 18–19. Vgl. ebd., Bl. 97. Ebd., Bl. 98. Vgl. Weil (2008).

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Organisationen angehört hatten – zu denen der Leipziger Chirurg laut Aktenlage zählt –, bescheinigten die Führungsoffiziere der Staatsicherheit politische Loyalität gegenüber der Partei- und Staatsführung der DDR.51 Für die MfS-Offiziere stellten sich das „Umdenken“ der Mediziner und ihre weitgehende Anpassung an die neuen politischen Gegebenheiten nach 1945 als Wandel oder Bruch in den Lebensläufen dar. Hinsichtlich der konkreten politisch-ideologischen Auffassungen bzw. öffentlicher Bekenntnisse dieser Ärzte mag das zutreffen. Zugleich werden in diesen Fällen aber auch Kontinuitäten im prinzipiellen Anpassungsverhalten von Ärzten gegenüber diktatorischen Machthabern sichtbar. Das hier beschriebene Handeln Uebermuths bestätigt diese Grundhaltung mehr als deutlich.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte A. BStU BV Leipzig AIM 179/67, Akte P. Bundesarchiv (ehem. BDC), RÄK, NSLB, NSDAP-Zentralkartei, NSDAP-Gaukartei.

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Francesca Weil

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ARZT, AKADEMIEPRÄSIDENT, AUFSICHTSRAT. DER DDR-MEDIZINER HORST KLINKMANN IM DIENST DES STAATES Rainer Erices, Antje Gumz, Andreas Frewer Im Mai 2010 veröffentlichte die linke Tageszeitung „Neues Deutschland“ ein Porträt von Horst Klinkmann.1 Der weltweit bekannte Nephrologe feierte seinen 75. Geburtstag, die Zeitung feierte mit. Klinkmann gilt als einer der erfolgreichsten Mediziner Ostdeutschlands: Er erhielt als erster DDR-Arzt eine Gastprofessur in den USA, wirkte maßgeblich am Aufbau des Dialyse- und Nierentransplantationswesen in der DDR mit und forschte am Kunstherzen für den Menschen. Zuletzt, auf dem Höhepunkt seiner medizinischen Karriere, war er Präsident der „Akademie der Wissenschaften“ der DDR, bevor diese einst bedeutendste ostdeutsche Forschungseinrichtung im wieder vereinten Deutschland geschlossen wurde. Anfang 1993 verlor Klinkmann seine Direktorenstellung an der Universitätsklinik Rostock.2 Die eingesetzte „Ehrenkommission“ begründete die Entlassung mit schwerem Fehlverhalten bei politischen Aktivitäten in der DDR. So sei er SED-Mitglied gewesen und Vorsitzender des wissenschaftlichen Rates beim Gesundheitsminister der DDR. Außerdem standen Gerüchte um eine inoffizielle Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Raum. Seitdem sind einige Jahre vergangen. Die neue Zeit hat der Bekanntheit Horst Klinkmanns keinen Abbruch getan: Er wurde Mitglied des „Gesprächskreises Ost“ um Klaus von Dohnanyi, der im Auftrag der Bundesregierung über den Aufbau der neuen Länder beriet, im Jahr 1996 wurde er Aufsichtsratsvorsitzender des Fußball-Bundesligavereins Hansa Rostock. Heute sitzt Klinkmann in verschiedenen öffentlichen Gremien seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern.3 Die Entlassung und die damit einhergehende öffentliche Infragestellung des guten Rufes Klinkmanns lösten, auch Jahre später noch, heftige Reaktionen aus. So war die Rede von einer „Hexenjagd“ mit Analogien zur faschistischen Verfolgung von „staatsnahen“ Bürgern der Weimarer Republik in der Hitlerzeit 4 und einem „rechtsstaatlich unhaltbaren Verfahren“.5 In dem einer Laudatio ähnlichen Bericht griff auch das „Neue Deutschland“ die Vorwürfe gegen Klinkmann aus der Nachwendezeit wieder auf. „Peinlich“ 1 2 3 4 5

Ottow (2010), Neues Deutschland (22.05.2010). Frenkel (1993). Vgl. Vita Klinkmann im Internet unter www.bcv.org/hosting/bcv/docs.nsf/urlnames/ARAI67AG4N/$file/cv_hklinkmann.pdf. Jung (1993), S. 94–97. Frenkel (2001).

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seien die Argumente damals gewesen, „ausgesprochen lächerlich“ die Vorwürfe, mit denen Klinkmann seinerzeit auch von der Presse öffentlich für seine DDRVergangenheit angeprangert wurde. Besonders die Zusammenarbeit mit dem MfS habe sich „nie bestätigt“. Die Zeitung vermittelte das Bild, dass es sich im Falle von Horst Klinkmann um eine typische Geschichte eines verdienten Wissenschaftlers aus dem Osten handelt, der den politischen Zusammenbruch der Wendezeit beruflich nicht überlebte. Fragwürdig erscheint dabei jedoch, dass der Zeitungsbericht den umfangreichen Aktenbestand, der zu Horst Klinkmann bei der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU) existiert und eine Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit (IM) auf den ersten Blick vermuten lässt, nicht erwähnt. Klinkmann hat eine derartige IM-Mittäterschaft stets abgestritten, eine schriftliche Verpflichtungserklärung gibt es nicht. Fraglich bleibt, warum das MfS zwei Jahrzehnte lang jene Akte unter dem Decknamen „Ludwig“ führte, die gegen Ende der DDR über 1.000 Seiten dick war.6 Es stellt sich weiterhin die Frage, wie weit die öffentliche Aufarbeitung derartiger Tätigkeiten insbesondere von Ärzten in den letzten Jahren gediehen ist. Dies scheint auch insofern interessant, da der Anteil der inoffiziellen Mitarbeiter unter Ärzten höher als in der Gesamtbevölkerung war.7 Handelt es sich aus heutiger Sicht um ein „Kavaliersdelikt“, wenn Mediziner einem Repressionsapparat wie dem MfS ihre Dienste anboten? Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Bewertung der Mittäterschaft von Ärzten im repressiven DDR-System ist bei weitem nicht abgeschlossen. Eine Auseinandersetzung mit der Verantwortlichkeit von Ärzten gehört wesentlich zu dieser Aufarbeitung. Horst Klinkmann war einer der führenden Mediziner der DDR. Sein Lebenslauf beeindruckt, die beruflichen Erfolge sind zahlreich. Sein Einzelfall kann zum Verständnis, zur Analyse wie auch Aufarbeitung der Verflechtungen zwischen Medizin, SED und Staatssicherheit in der DDR beitragen. HORST KLINKMANN: AUFSTIEG UND ANERKENNUNG Horst Klinkmann, aus einer mecklenburgischen Kleinstadt stammend, studierte in seiner Heimat: In Rostock promovierte und habilitierte er, rasch wurde er Oberarzt. Mit 36 Jahren übernahm er als Universitätsprofessor die Leitung der neuen Klinik für Innere Medizin in Rostock. Diesen Posten behielt er knapp 20 Jahre. In dieser Zeit baute er eine der führenden nephrologischen Forschungseinrichtungen der DDR auf. Sein Fachgebiet die Nephrologie war Mitte des 20. Jahrhunderts im Umbruch. Die theoretischen Vorarbeiten für die Dialyse waren geleistet, die maschinelle Blutwäsche für akut und chronisch niereninsuffiziente Patienten wurde weltweit in den entwickelten Staaten zum Standard – auch die DDR bemühte sich, ab den 1960er Jahren immer mehr Kliniken mit Dialyseplätzen auszustatten. 6 7

BStU MfS BV Rostock: I / 32/68 Band I, Archiv-Nr. 2769/87, „Ludwig“/AIM 2769/87, Teil II, Band 1. Weil (2008), S. 36.

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Die Behandlung stellte besondere Anforderungen an moderne Technik und Räumlichkeiten. Ab 1965 stellte die DDR verschiedene Typen einer eigenen künstlichen Niere her, die sie auch exportierte.8 Die Klinik der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock wurde zur so genannten DDR-„Leiteinrichtung“ für die Dialyse.9 Klinkmann hatte daran entscheidenden Anteil. An seiner Klinik wurden Nieren transplantiert. Rostock verfügte neben Berlin und Halle über eines von drei Nierentransplantationszentren in Ostdeutschland.10 Klinkmann unternahm zahlreiche Auslandsreisen. Als „Reisekader“ flog er um die Welt, in die USA, nach Japan, China, Kolumbien oder bis in den Irak. Er freundete sich mit westlichen Wissenschaftlern an, hielt Vorträge auf Kongressen, saß in Leitungsgremien internationaler Verbände.11 Klinkmann war nach eigenen Angaben der erste DDR-Forscher, der in den USA einen medizinischen Fachvortrag hielt. Er bekam daraufhin 1969 eine Gastdozentur für elf Monate an der Universität von Salt Lake City in den USA.12 Als einziger Mediziner wurde er Mitglied einer siebenköpfigen inoffiziellen Kommission des DDR-Hochschulministeriums,13 die Konzepte für den wissenschaftlichen Austausch mit den USA erarbeitete und dabei vor allem politische Ziele verfolgte: Die DDR bemühte sich in dieser Zeit um internationale Anerkennung und die Aufnahme in die UNO. Klinkmann förderte auch entgegen internationaler Vorbehalte den wissenschaftlichen Austausch der DDR mit dem Westen: Seine Mitarbeiter flogen zu Kongressen, er orderte internationale Fachzeitschriften und beschaffte Klinikausrüstung, die zur Wendezeit einen Standard hatte, der sogar manche Einrichtungen in der Bundesrepublik übertraf. Er knüpfte enge Kontakte zu den berühmtesten Nierenforschern der Zeit. Besondere Beziehungen bestanden nach Schweden, zur Universität in Lund. Dort war Nils Alwall tätig, einer der weltweit führenden Nierenforscher.14 Die Universität Rostock verlieh Alwall die Ehrendoktorwürde, schwedische Studenten wurden nach Rostock eingeladen, im Gegenzug wurden Rostocker Mitarbeiter in Lund ausgebildet. In Schweden knüpfte Klinkmann auch Kontakte zu Medizintechnik-Firmen, die DDR-Kliniken ausrüsten sollten. Er war beteiligt bei wichtigen Wirtschaftsvereinbarungen der DDR, die die Ausrüstungen der Krankenhäuser mit Importgeräten im Wert von Millionen von Valutamark regelten. Klinkmann gelang es, den Forscher Willem Kolff in die DDR zu holen.15 Für ein Jahr wurde Kolff in Rostock Gastdozent. Er richtete ein Labor für die For8 9 10 11 12 13 14 15

Bundesarchiv DQ/109/95. Vgl. Bundesarchiv DQ 1/12960. Vgl. Bundesarchiv DQ 1/12970. Beispielhaft Bundesarchiv DQ 1/12982, BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil I, Band 2, Bl. 281. Vgl. Vita Klinkmann, im Netz gefunden unter www.bcv.org/hosting/bcv/docs.nsf/urlnames/ ARAI-67AG4N/$file/cv_hklinkmann.pdf. BStU MfS HA XX Nr 2822, Bl. 65ff. Nils Alwall (1904–1986), schwedischer Internist, Pionier bei der Entwicklung von Dialysegeräten. Willem Johan Kolff (1911–2009), niederländischer Internist, eine von ihm 1945 behandelte Frau mit akutem Nierenversagen gilt als die erste durch Dialyse gerettete Patientin.

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schung zum künstlichen Herz ein. Einem Rostocker Mitarbeiter zufolge, der für das MfS spitzelte, waren die Bedingungen für den Universitätsprofessor aus Salt Lake City gut: Die künstlichen Organe sollten hier „günstig und schnell“ entwickelt und am Menschen getestet werden. Derartige Tests waren demnach im Mormonenstaat Utah wie auch in vielen westeuropäischen Ländern kaum möglich. Kolff pflanzte sein künstliches Herz in ein Kalb ein.16 Die DDR war sehr interessiert an den Forschungen: Transplantationen von Niere, Herz oder Leber zählten zu Aushängeschildern eines fortschrittlichen Gesundheitswesens.17 Ähnlich wie beim Spitzensport oder der Entwicklung von elektronischen Mikrochips wollte die zunehmend marode DDR punktuelle Höchstleistungen vorweisen. Zur Wendezeit gehörte Horst Klinkmann zu den bekanntesten Ärzten der DDR. 1990 wurde er Präsident der Akademie der Wissenschaften, der zentralen Forschungseinrichtung. DIE AKTE DES IM „LUDWIG“ Am 7. Juni 1968 verpflichtete die Bezirksverwaltung der DDR-Staatssicherheit in Rostock ihren Akten zufolge einen neuen IM zur Mitarbeit.18 Das Werbungsgespräch verlief sehr kurz. Der Kandidat hatte „sehr wenig Zeit [...] (Patienten an der Niere)“. Als Decknamen wählte er die Bezeichnung „Ludwig“. Ein zuständiger MfS-Mitarbeiter, Hauptmann Kasten, notierte, dass der Kandidat „nicht schriftlich verpflichtet“ wurde. Bereits in den beiden vorangegangenen, so genannten Kontaktgesprächen hatte Ludwig erklärt, dass er nichts schreiben werde, „jedoch alles erzählen“. Die Arbeit des MfS sei „wichtig und notwendig“. Für ihn gebe es „keine Unterschiede zwischen den Zielen der DDR mit denen des MfS“.19 Bis zur Wende, also 21 Jahre lang, hielt das MfS seinen Kontakt zu Ludwig aufrecht. Die Treffen im Abstand von teilweise nur einer Woche fanden laut den Akten im Dienstzimmer des IMs oder bei ihm zu Hause statt. Die Berichte in der IM-Akte offenbaren Vertrautheit zwischen beiden Seiten. Ludwig erhielt die private Telefonnummer des MfS-Bezirkschefs. Mit den Führungsoffizieren sprach er über seine Forschungen, die Auslandsreisen sowie seine Gedanken zu Innen- und Außenpolitik. Auch die Entscheidung, ob er in die SED eintreten solle, erörterte er mit dem MfS.20 Regelmäßig nahm ein Mitarbeiter von der Hauptverwaltung Aufklärung (abgekürzt HVA), also der DDR-Auslandsspionage, Kontakt zu Ludwig auf. Von ihm erhielt der Forscher Aufträge für seinen nächsten Einsatz, etwa in den USA. So sollte er Erkenntnisse über Einreiseformalitäten, das Hochschul-

16 17 18 19 20

BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil I, Band 2, Bl. 53–54, Bericht des IM Mühle. Bundesarchiv, DQ 1/12970. BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil I, Band 1, Bl. 91. Ebd., Bl. 80ff. Ebd., Teil II, Band 1, Bl. 115.

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wesen und die aktuell verwendete Medizintechnik gewinnen sowie persönliche Kontakte knüpfen.21 Den Akten zufolge berichtete IM Ludwig umfangreich über seine Kollegen an der Universitätsklinik in Rostock, deren Umfeld oder auch über Studierende. Oft fielen seine Einschätzungen kurz aus, meist lobte er die fachlichen Leistungen seiner Mitarbeiter, doch nicht immer. Einen Angestellten aus der Poliklinik beschrieb er als „etwas gemütlich, schwerfällig“,22 einen anderen als „nicht besonders intelligent“, sondern „nur bauernschlau“,23 ein weiterer hatte ein „intimes Verhältnis mit der Oberschwester“24 und ein anderer war „in moralisch-sexueller Hinsicht ruhiger“25 geworden. IM Ludwig bewertete auch das Leben einer Kollegin aus ethischer Perspektive: „Das moral.[ische] Verhalten ist nicht einwandfrei von […]. Frl. Dr. […] hat ein Kind von […]. Beide einigten sich, dass Dr. […] als Vater des Kindes nicht genannt wird, was in der Klinik aber ein offenes Geheimnis ist.“26

Die Einschätzungen wirken zum Teil wie Klatsch. Eine solche Art vermeintlich harmloser Alltagsberichterstattung ist häufig in IM-Akten zu finden. Ungewöhnlich erscheint auch nicht, dass die Stasi durch Ludwig erfuhr, dass ein Arzt-Kollege keinen Alkohol oder das Getrenntsein von der Familie vertrug und „ohne Hinsehen“ die Partnerinnen wechselte, einen „verhältnismäßig stark“ ausgeprägten „Hang zur Überheblichkeit, Egoismus, Im-Mittelpunkt-Stehen-Wollen(s), Prahlerei und Geltungsbedürfnis“ habe und „regelrecht mit Geld um sich schmeiße“.27 Ludwig berichtete auch über Studenten, die „im angetrunkenen Zustand während der Nachtwachen“ aus dem Rahmen fielen oder nicht zu Vorlesungen erschienen.28 Den Akten zufolge ging IM Ludwig in seinen Spitzeldiensten jedoch deutlich weiter. Er erhielt Aufträge zu Personen, die die Stasi im Rahmen „Operativer Personenkontrollen“ (abgekürzt OPK) „bearbeitete“, also gezielt verfolgte. So bekam der IM den Auftrag, zu einem Professor freundschaftlichen Kontakt aufzubauen, was offenbar gelang: Die beiden Kollegen duzten sich. Die Stasi stellte fest, IM Ludwig „berichtet offen u. ehrlich über seinen Freund“.29 Der Bespitzelte verlor in der Folge seinen Status als NSW-Kader,30 das heißt, er durfte nicht mehr ins westliche Ausland reisen. Auch eine andere OPK-Anfrage des MfS klärte IM Ludwig: Er prüfte, an welcher Klinik eine Ärztin behandelt wurde. Laut Akten21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., Bl. 74ff. Ebd., Bl. 86. Ebd., Bl. 130. Ebd., Bl. 132. Ebd., Bl. 243. Ebd., Bl. 246. Ebd., Bl. 134–135. Ebd., Bl. 124. Ebd., Bl. 134. NSW steht für Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet. Der Begriff wurde in der DDR offiziell in Abgrenzung zu den Staaten des RGW (Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe) verwendet.

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eintrag informierte Ludwig über sein Ergebnis und gab den Rat, dass eine „Invalidisierung“ in der Psychiatrie eher möglich sei.31 Es ist denkbar, dass das auf Konspiration bedachte MfS in diesen Fällen Ludwig nicht umfassend informierte, aus welchen Gründen seine Mitarbeit erwünscht war, die IM-Akte enthält zumindest keine weiteren Hinweise. So erhielt der IM den Auftrag, der Mitarbeiterin einer im Ausland arbeitenden Firma die Tropentauglichkeit zu versagen.32 Den Akten zufolge nahm Ludwig diese Aufgabe an. In einem anderen Fall besorgte der IM Schlafmittel aus der Zentralapotheke und übergab sie der Stasi.33 Der Akteneintrag gibt Hinweise auf die Ziele des MfS: Mit dem Mittel sollte eine „Schleusung“ durch die für die „politische Untergrundtätigkeit“ in der DDR und im Westen zuständige MfS-Abteilung XX/5 durchgeführt werden. Laut Akteneintrag wurden die diesbezüglichen „Möglichkeiten“ mit dem IM vorab besprochen. Berührungsängste zum MfS scheint es bei Ludwig nicht gegeben zu haben. Einem Eintrag des Führungsoffiziers zufolge bat der IM das MfS um Unterstützung, die neuen Mitarbeiter zweier Stationen „auf Sicherheit“ zu prüfen, da die beiden als „Kaderstationen“ fungieren sollten.34 Ludwig beteiligte sich offenbar auch an der Wahl eines neuen Vertragsarztes für die Staatssicherheit.35 Seit längerer Zeit hatte er einen Arzt dafür ausgebildet, heißt es in den Akten. Zusätzlich schlug Ludwig weitere Ärzte („alle SED“) für das Amt vor. Er beriet das MfS – laut Akten – auch dabei, welcher ärztliche Mitarbeiter geeignet erschien, einen westdeutschen Kollegen zu beschatten. Er wurde daraufhin beauftragt, eine wissenschaftliche Aufgabenstellung zu erarbeiten und „in diesem Rahmen das MfS interessierende Fragen“ einzubauen.36 In einem anderen Bericht heißt es, dass Ludwig „wichtige Ausgangshinweise“ geliefert habe: Ein „Personenkreis“ einer Dresdner Medizintechnik-Firma konnte daraufhin „wegen nachgewiesener Störtätigkeit gegen die Volkswirtschaft der DDR inhaftiert“ werden.37 Mit den Jahren gestaltete sich der Kontakt zwischen dem IM und seinen Auftraggebern schwieriger. Ludwig, 1974 in die SED eingetreten, stieg in der Parteihierarchie auf, er bekam direkten Kontakt zu Erich Honecker.38 Das MfS entdeckte zunehmend, dass IM Ludwig nicht mehr zuverlässig berichtete, besonders nicht über seine privaten Kontakte, etwa zu Treffs mit republikflüchtigen Kollegen im Westen. Auch informierten andere IMs immer wieder, dass Ludwig durchaus auch DDR-feindliche Witze in der Öffentlichkeit erzählte und „sozialistische Termini“ vermied. Die Staatssicherheit entschied, ihren IM nunmehr von anderen inoffiziellen Mitarbeitern beschatten zu lassen. Zusätzlich wurde die Abteilung 26 eingeschaltet, um das Telefon von Ludwig zu überwachen. Trotz allem beschenk31 32 33 34 35 36 37 38

BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil II, Band 1, Bl. 197. Ebd., Bl. 177. Ebd., Bl. 149. Ebd., Bl. 168. Ebd., Bl. 278. Ebd., Bl. 360. Ebd., Teil I, Band 1, Bl. 169. Ebd., Bl. 372.

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te ihn das MfS – z.B. 1986 zum Tag des Gesundheitswesens mit 200 Mark.39 Ein Jahr später beendete die Stasi die inoffizielle Tätigkeit, weil IM Ludwig eine „bedeutsame wissenschaftl.[ich] öffentlichkeitswirksame Person“ geworden war (1987). Der Kontakt sollte fortan offiziell stattfinden: „Es erfolgen regelmäßige Informationsgespräche mit ihm.“40 DIE AUFARBEITUNG Nach dem Zusammenbruch der DDR beschloss die Bundesrepublik Ende 1991 das Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Die Arbeitgeber für Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst erhielten Auskunft über IM-Tätigkeiten ihrer Angestellten, eine Kündigungswelle setzte ein. Dabei wurde nach Aktenlage des MfS entschieden, die Betroffenen wurden nicht gehört. Zumeist erhielten sie Zugang zu ihren IM-Akten erst im Rahmen arbeitsrechtlicher Prozesse.41 Im Zuge der Überprüfungen an den Universitäten verlor auch Horst Klinkmann seine Stellung als Klinikdirektor. Protestschreiben von Kollegen aus aller Welt erreichten das Wissenschaftsministerium von Mecklenburg-Vorpommern. Klinkmann klagte, beide Seiten einigten sich auf einen Vergleich, aber Klinkmann musste gehen. Die Gründe wurden nicht veröffentlicht.42 In umfangreichen Artikeln würdigte die „Zeit“ 1993 und nochmals 2001 den Forscher Klinkmann.43 Der Wochenzeitung galt der Fall Klinkmann als ein typischer der Nachwendezeit: verdienstvoller DDR-Forscher vom Siegersystem des Westens kalt gestellt, oder sogar: „gestern gefeuert – heute gefeiert“ (Frenkel 2001). Klinkmanns Karriere erlebte mit der Evaluation an ostdeutschen Hochschulen einen klaren Einschnitt. Einen vollständigen Abbruch tat es seiner Laufbahn nicht. Er arbeitete als Chefarzt einer Privatklinik, bekam Lehraufträge im Ausland und ist bis heute Mitglied in diversen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften. Die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns hat sich bei Klinkmann für den Umgang mit ihm in der Nachwendezeit entschuldigt: „Das Schweriner Kabinett steht heute hinter ihm und sucht seinen Rat“.44 Es bleibt die Frage, wie mit jener Stasi-Akte des IM Ludwig umzugehen ist. Zweifellos zeichnet sie den Lebensweg Horst Klinkmanns nach. Würde eine von dem Mediziner unterzeichnete Verpflichtungserklärung existieren, wäre dies der juristische Nachweis für seine damalige wissentliche IM-Tätigkeit. Doch die schriftliche Erklärung, als inoffizieller Mitarbeiter zu arbeiten, fehlt. In der Akte findet sich lediglich eine handschriftliche Erklärung Horst Klinkmanns vom 24. 39 40 41 42 43 44

Ebd., Band 2, Bl. 272. BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil I, Band 2, Bl. 289–290. Vgl. Kerz-Rühling/Plänkers (2004). Latsch (2004), S. 42. Frenkel (1993). Wöltge (2005).

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Oktober 1955. Darin erklärt er sich bereit, „des Öfteren mit den Sicherheitsorganen in Verbindung zu treten. Über diese Aussprachen bewahre ich Stillschweigen.“ Die Erklärung weist Klinkmanns Kontakte zur Staatssicherheit nach, ist aber keine IM-Verpflichtung. Wie schwierig Einschätzungen zum Wahrheitsgehalt von Stasi-Akten sein können, zeigt das bekannte Beispiel des DDR-Fußballstars Peter Ducke. Anfang der 1990er Jahre verlor er seine Anstellung im öffentlichen Dienst. Akten der Staatssicherheit zufolge hatte er als IM gearbeitet. Die Akte erwies sich jedoch im Nachhinein als Fälschung eines Stasi-Mitarbeiters. Dieser hatte bei seinen MfS-Vorgesetzten Erfolge vorweisen wollen. Im Jahr 2008 sprach Horst Klinkmann an der Universität Rostock über seine einstige Arbeit als Klinikchef.45 Eingeladen hatte die Fakultät für Geschichtswissenschaften. Einleitend sagte Klinkmann: „Für uns Zeitzeugen kann es nur die einzige Aufgabe sein, Tatsachen festzuhalten und zu dokumentieren und es dann den Historikern zu überlassen, anhand dieser dokumentierten Tatsachen später ihr Urteil zu fällen.“

Klinkmann schilderte anschließend folgende Begebenheit aus der Nachwendezeit: „In der Weihnachtszeit kam plötzlich ein ehemaliger, so genannter ‚Sicherheitsbeauftragter‘ der Universität Rostock zu uns. Zu Ihrem Verständnis so viel, wenn Sie Forschung betrieben, schauten diese Sicherheitsbeauftragten nach, ob Sie auch Ihre Forschungsberichte mit dem entsprechenden vertraulichen Dienstsiegel oder ‚geheime Verschlusssache‘ versahen. Dieser, unser damaliger Sicherheitsbeauftragter, ich will den Namen nicht nennen, kam zu uns, bat mich um Entschuldigung und überbrachte mir ein Schreiben auf dem stand, dass er eidesstattlich erkläre und sich entschuldige, dass er – unwissentlich für mich – für seine eigene Karriere eine Akte angelegt habe. So etwas war für den Einzelnen auch immer ganz bedeutend für die eigene Karriere. So viel dazu.“

Die Besucher der Veranstaltung, vor allem Studenten der Geschichte, hatten die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Zum Thema MfS hatten sie keine. Im Gegensatz zur erwähnten gefälschten Akte des Fußballers Peter Ducke sind die Unterlagen zum IM Ludwig Hunderte Seiten lang. Auch wurde Ludwig nicht von lediglich einem Mitarbeiter der Staatssicherheit geführt. Den Akten zufolge hatte er über zwei Jahrzehnte hinweg Kontakt zu mindestens sechs Führungsoffizieren, ein Dutzend weiterer MfS-Mitarbeiter beschäftigte sich mit dem IM. Insofern kann Klinkmanns Anekdote die im Raum stehenden Verdächtigungen, er könne für die Staatssicherheit gearbeitet haben, nur schwer entkräften. Aus dem angeblichen Stasi-Täter wird ein Stasi-Opfer, bei dem sich nun – Jahre später – entschuldigt wird. Eine unbefriedigende Situation: Es existiert eine im Umfang enorme Akte eines Stasi-IMs ohne offensichtliche Ungereimtheiten, zu der jedoch nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, ob bzw. in welchem Ausmaß sie mit oder ohne Wissen des Betreffenden angelegt wurde. Die BStU wertet derartige Fälle üblicherweise nicht, eine Einschätzung bleibt dem Forscher, oder allgemein dem Leser der Akten, überlassen.

45

Krüger (2008).

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Mit der Überwindung des diktatorischen Regimes der DDR ergibt sich eine zumindest moralische Pflicht zu dessen Aufarbeitung. Eine Auseinandersetzung mit möglichem Fehlverhalten von Ärzten in der damaligen Zeit ist zudem aus medizinethischer Sicht bedeutsam. Die gesellschaftliche Verantwortlichkeit von Ärzten zum Wohle der Patienten erscheint umso höher, je exponierter die Position des Arztes war. Als Klinikdirektor war Horst Klinkmann verantwortlich für einen der wichtigsten und angesehensten Forschungsbereiche innerhalb der Medizin des Landes. Er repräsentierte die DDR in der Welt und wurde von ihr protegiert. Sein Wirken muss im Zusammenhang mit der Nähe zum politischen System der DDR gesehen werden. Möglicherweise ergibt sich hier eine moralische Verpflichtung, auch Stasi-Vorwürfe konkret aufzuarbeiten. Ein Protegé im Unrechtssystem der DDR war nicht ausschließlich Opfer. Die Stasi-Akten zu Ludwig zeigen, wie der IM, die Funktionen, die er für Partei oder für das MfS innehatte, für die Klinik oder die Forschung nutzte. Das Beispiel eines Patienten mag das verdeutlichen: Im Jahr 1968 wurde Ludwig ein Mitarbeiter der Staatssicherheit vorgestellt.46 Der junge Mann hatte Schrumpfnieren, es bestand akute Lebensgefahr. Doch Ludwig konnte den Patienten nicht in das Dialyseprogramm seiner Klinik aufnehmen, da er akut keine freien Behandlungsplätze hatte. Zweifellos hätte er sonst einen anderen niereninsuffizienten Patienten benachteiligen oder gar dem Tod ausliefern müssen. Bei den regelmäßigen Treffen schlug er seinem Führungsoffizier vor, dafür Sorge zu tragen, dass bereits für den Ostseeschutz eingeplante Gelder seiner Klinik zugutekommen sollten. Dadurch könnte er die Dialysekapazität rasch erhöhen – so die Argumentation – und somit das Leben des MfS-Patienten erhalten. Mithilfe des Geheimdienstes förderte IM Ludwig offenbar auch die wissenschaftliche Forschung seiner Klinik. Er bat das MfS um Hilfe bei der Beschaffung von ausländischen wissenschaftlichen Zeitschriften. Der Anteil von Angestellten, die zu Forschungszwecken ins westliche Ausland reisen durften, war an seiner Klinik höher als anderswo. In einem seiner Treffs kritisierte er, dass die materielle Vergütung für Ärzte und Schwestern „nicht mehr stimulativ genug“ sei.47 Ludwig sprach auch aktuelle ethische Probleme an. So verurteilte er vor seinem Führungsoffizier den Verkauf von Blut Ende der 1980er Jahre ins westliche Ausland. Die DDR habe die Menschenrechtskonvention unterzeichnet, wonach Blut zunächst den Landsleuten zugutekommen muss – die DDR begehe damit Vertragsbruch. Den Akten nach förderte Ludwig die medizinische und biotechnische Entwicklung. Hier ist einzubeziehen, dass er durch sein Engagement in höchsten staatlichen Stellen und für das MfS die nötige Macht hatte, sich Vorteile und Mittel zu verschaffen, die an anderen Stellen im DDR-Gesundheitswesen fehlten.48 Die MfS-Akten zu Ludwig enthalten Hinweise auf medizinethische Grenzüberschreitungen. Wie gravierend sie waren, lässt sich aus dem Material nicht 46 47 48

BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil II, Band 1, Bl. 7–8. Ebd., Bl. 451–452. Vgl. Müller (1997).

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eindeutig und abschließend bewerten, zumal abgesehen vom grundsätzlichen Fälschungsverdacht quellenkritisch angemerkt werden muss, dass MfS-Akten keineswegs immer eine ausreichend objektive Darstellung der tatsächlichen Geschehnisse liefern. IM Ludwig hat seiner Akte zufolge Aufträge, die ein Brechen der ärztlichen Schweigepflicht oder das vorsätzliche Stellen einer Fehldiagnose enthielten, angenommen. Als ein eindeutiger Verstoß gegen das ärztliche Berufsethos wäre die Weitergabe von Schlafmitteln an das MfS und deren missbräuchliche Verwendung, etwa zum Schaden politischer Gegner, zu bewerten. Wie sich der Vorfall genau ereignete, ist heute kaum nachzuvollziehen. Zur Aufklärung könnten Akten des MfS-Auslandsnachrichtendienstes beitragen. Diese wurden jedoch in der Wendezeit zum großen Teil vernichtet. Es bleibt also der Vorwurf im Raum stehen, dass IM Ludwig – bewusst oder unbewusst – an möglichen Menschenrechtsverletzungen der DDR beteiligt gewesen war. Doch wie beschrieben ist eine differenzierte Aufarbeitung nicht abschließend möglich. Wie in vielen anderen Fällen innerhalb der Ärzteschaft findet eine inhaltliche Aufarbeitung kaum statt.49 Die hier im Raum stehenden Vorwürfe und damit zusammenhängenden moralischen Dimensionen könnten am besten durch die betreffende Person selbst aufgeklärt werden. Ist die IM-Tätigkeit des Ludwig ein „Kavaliersdelikt“? Diese Frage ist zu verneinen – angesichts der augenscheinlichen Fülle des Aktenmaterials und der vielen Treffberichte des MfS. Auch wenn sich Millionen Menschen in der DDR, in der Parteimitgliedschaft „der Fahrschein in die Karriere“50 war, dem System andienten oder die Dinge „geschehen ließen“, so war es selbstverständlich dennoch kein moralisch anerkannter Usus, dass der Einzelne ein vertrauensvolles Verhältnis zur Staatssicherheit aufbaute – auch nicht unter Ärzten und Wissenschaftlern.51 Sich gegen das MfS zu stellen, setzte – insbesondere in herausgehobenen Positionen – Zivilcourage voraus und auch den Willen, unter Umständen auf den Schutz des Machtapparates und damit auf die eigene Karriere zu verzichten. Ein Hinweis, dass Ludwig zur IM-Tätigkeit gezwungen oder mit bestimmten Tatbeständen erpresst wurde, findet sich in den Akten nicht. Den Unterlagen zufolge war der IM zur Zeit der Anwerbung Oberarzt. Man könnte einwenden, dass es sich im Fall Ludwig weder um einen ungewöhnlichen noch um einen der besonders schwerwiegenden Fälle handelt. Tätigkeiten in Spitzenpositionen setzten in der Regel „Staatsnähe“ voraus oder einen gewissen Opportunismus, um mit den Zwängen des Staates umgehen zu können. Ein großer Teil der Klinikchefs in der DDR arbeitete mit dem MfS inoffiziell zusammen.52 Hochqualifizierte Wissenschaftler waren für die Staatssicherheit besonders interessant.53 Hier ist jedoch anzumerken, dass historische Forschungen nicht primär juristischen Zielen dienen, sondern der Aufarbeitung. Mit „Tot49 50 51 52 53

Vgl. Weil (2008), S. 293–294. Wolle (2009), S. 322. Vgl. Süß (1999), S. 264. Vgl. Weil (2008), S. 63ff. Vgl. Eckert (1995).

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schlagargumenten“ läuft man rasch Gefahr, dass die gesamte Gesellschaft der DDR unterminierende menschenverachtende Wirken der Staatssicherheit zu bagatellisieren. IM-Tätigkeit war in gewisser Weise ein „Teufelspakt“. Die vielen Fragen, die bei der Auseinandersetzung mit der Akte Ludwig entstehen, machen exemplarisch deutlich, dass es der Ärzteschaft noch nicht ausreichend gelungen ist, öffentlich und differenziert Position zu beziehen, um die eigene Mittäterschaft in einem Unrechtssystem, wie es die DDR zweifellos war, auch vor dem Hintergrund des Arztbildes systematisch aufzuklären. Ziel einer solchen Auseinandersetzung sollte keinesfalls die immer wieder von einstigen Systemträgern befürchtete allgemeine Schmälerung von Leistungen sein, sondern eine inhaltliche Bewertung und Abwägung.54 Auf dem 100. Rostocker Wissenschaftshistorischem Kolloquium Anfang 2007 betonte Klinkmann, dass er sich verpflichtet fühle, mit „objektiven Tatsachen für die Bewertung der Geschichte“ beizutragen.55 Auf einer Veranstaltung ein Jahr später berief er sich auf den Hippokratischen Eid: „Wenn Sie Mediziner sind, haben Sie auch noch den Hippokratischen Eid geleistet. Dieser Hippokratische Eid verpflichtet Sie, dass Sie das Beste für die Ihnen anvertrauten Patienten machen müssen. Ich berufe mich jetzt nicht auf den Hippokratischen Eid, um mein Verhalten und Verbleiben in der DDR eventuell zu rechtfertigen, aber eines sage ich Ihnen, ich habe ihn geschworen und bin es gewohnt, zu dem Wort zu stehen, das ich einmal gesagt habe.“ Der so genannte Hippokratische Eid56 umfasst mehr, als das Wohl der Patienten im Auge zu behalten, nämlich jene verbindliche Diskretion, die zur Vertrauensstellung eines Arztes gehört und die mit einer umfangreichen und unkritischen Tätigkeit für die Staatssicherheit nicht zu vereinbaren ist.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN Bundesarchiv DK 107/15830. Bundesarchiv DQ 1/12960. Bundesarchiv DQ 1/12970. Bundesarchiv DQ 1/12982. Bundesarchiv DY 30 / J IV 2/3 / 3471. Bundesarchiv DY 30/27282.

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Vgl. Süß (1999), S. 16. Siehe www.mv.rosalux.de/fileadmin/ls_mvp/dokumente/publikationen/wissenschaftl.Arbeit_ Norden-DDR_45-90_0903.pdf (zuletzt gesehen: 15.01.2011, nicht mehr im Netz: 21.06. 2011). Der Eid diente im DDR-Gesundheitswesen offiziell als „Leitbild des sozialistischen Arztes“, siehe auch Hansen/Vetterlein (1973), S. 17.

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BStU MfS BV Rostock I / 32/68 Band I, Archiv-Nr. 2769/87. BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil I, Band 1. BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil I, Band 2. BStU MfS BV Rostock AIM 2769/87 „Ludwig“, Teil II, Band 1. BStU MfS HA XX Nr 2822. BStU MfS HA XX 7085 Teil 2. BStU MfS HA XVIII 15324. BStU MfS BV Rostock AIM 4219/90 „Hein Fink“, Teil II, Band IX.

INTERNETQUELLEN Biographie Horst Klinkmann (21.06.2014). http://www.bcv.org/hosting/bcv/docs.nsf/urlnames/ARAI-67AG4N/$file/cv_hklinkmann.pdf. Wikipedia-Eintrag Horst Klinkmann (21.06.2014). http://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Klinkmann. Klinkmann, Horst: Porträt (21.06.2014). http://e20.manu.edu.mk/prilozi/Klinkmann.pdf.

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Voigt, D./Mertens, L. (Hrsg.) (1995): DDR-Wissenschaft im Zwiespalt zwischen Forschung und Staatssicherheit. Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung 45. Berlin. Weil, F. (2008): Zielgruppe Ärzteschaft. Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Göttingen. Wöltge, H. (2005): Einführende Bemerkungen. Leibniz-Sozietät (Hg.): Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 81 (2005), S. 5–7. Wolle, S. (2009): Die heile Welt der Diktatur. 3. Auflage. Berlin.

OTTO PROKOP UND DIE GERICHTSMEDIZIN IN DER DDR. DAS WIRKEN EINER „UNPOLITISCHEN KORYPHÄE“ AN GRENZEN Rainer Erices Der Rechtsmediziner Otto Prokop (1921–2009)1 gehört zu den interessantesten und schillerndsten Figuren seines Fachgebietes.2 Trotz einiger Artikel über Leben und Werk – primär im Rahmen von Nachrufen – gibt es kaum eine historische Bearbeitung zu seinem Wirken. Erst kürzlich erschien eine Biografie, die sich mit dem Leben Prokops anhand von Erinnerungen und Dokumenten auseinandersetzt.3 Der vorliegende Beitrag soll einen zeitgeschichtlichen Aspekt zu Grenzfragen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik beleuchten. Im Januar 1957 vollzog der 35jährige Prokop einen außergewöhnlichen Schritt: Er zog in der Phase des „Kalten Kriegs“ gemeinsam mit seiner Frau von Bonn nach Ost-Berlin.4 Prokop folgte einem Ruf an die Humboldt-Universität und wurde neuer Direktor des Instituts für Gerichtsmedizin der Charité. Bei seinem Übertritt von West nach Ost hatte er „nicht die geringsten politischen Bedenken“.5 In den folgenden 30 Jahren führte Prokop das Institut in der Hannoverschen Straße zu internationalem Erfolg. Prokop, gebürtiger Österreicher, wurde zu einem der bekanntesten Mediziner in beiden Teilen Deutschlands. Bei aller internationalen Anerkennung und trotz der politischen Umstände blieb er der DDR stets treu. In Bonn war Prokop vier Jahre vor seinem Ruf nach Ost-Berlin zu Untersuchungen von Blutgruppenantigenen habilitiert worden.6 Die Forschung zu Blutgruppen und Seren blieb auch an seinem neuen Wirkungsort eines seiner Hauptgebiete. Er beschäftigte sich zudem mit Genetik wie auch Spurenkunde, betrieb Krebsforschung und setzte sich darüber hinaus intensiv mit verschiedenen alternativen Heilmethoden sowie mit Formen von Parapsychologie und Okkultis-

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Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otto Gerhard Prokop wurde am 29.09.1921 in St. Pölten geboren und starb am 20.01.2009 in Ottendorf (bei Kiel); er liegt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben. Vgl. auch Prokop/Grimm (1995) und (1996), Heinke (2001), Wewetzer (2009) und Geserick/Tsokos (2009). Vgl. u.a. Dangel (1972), Fischer-Homberger (1983), Mallach (1996), Madea/Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin (2004), Pollak (2004), Bockholdt/Schneider (2005) und Wirth et al. (2008). Benecke (2013). Stein (1992). ORB 26.04.1997. Zur Person. Günter Gaus im Gespräch. Prokop (1953).

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mus auseinander,7 die er als unwissenschaftlich kritisierte. Neben seinem Lehrstuhl an der Charité unterstützte er den Aufbau der gerichtsmedizinischen Institute in Leipzig und Halle und war zusätzlich Direktor des Instituts für Blutspende- und Transfusionswesen in Ost-Berlin.8 Insgesamt, so schätzte Prokop nach seiner Emeritierung, habe er nahezu 50.000 Sektionen beigewohnt. Dabei, so fügte er hinzu, seien ihm nachweislich nur drei kleine Fehler unterlaufen.9 Prokop schrieb hunderte Fach-Artikel, seine Lehrbücher wurden Standardwerke.10 Über zwanzig Wissenschaftler habilitierten unter ihm.11 Der Öffentlichkeit wurde Prokop vor allem durch seine Sonntagsvorlesungen an der Charité bekannt. Der Österreicher, der stets mit Fliege auftrat, verkörperte in der DDR für viele auch ein Stück Weltläufigkeit.12 Trotz des gewissen Sonderstatus’ als Ausländer musste sich Prokop während seiner Tätigkeit mit den ideologischen Vorgaben in der DDR auseinandersetzen. In einem Gespräch nach der politischen Wende schilderte er im Jahr 1992 Konflikte, mit denen er sich in seiner Amtszeit konfrontiert sah: So habe er sich einst dafür rechtfertigen müssen, dass er keinen „Altar“ für den DDR-Staatschef Walter Ulbricht aufstellen wollte; er habe sich zudem geweigert, die Dienstpost seiner Mitarbeiter zu kontrollieren und sei für ungenehmigte Interviews gemaßregelt worden.13 Insgesamt beschrieb sich Prokop als „unpolitisch“, stets habe er sich „aus der ganzen Politik herausgehalten“. So sei er weder Partei- noch Gewerkschaftsmitglied gewesen. Auch zu den obligatorischen ideologischen Schulungen für Hochschullehrer sei er nicht gegangen. Aus heutiger Sicht stellt sich allerdings die Frage, inwieweit es einem Professor und derartigem Lehrstuhlinhaber in der DDR gelingen konnte, sich von staatlichen und politischen Vorgaben des damaligen Systems wirklich fernzuhalten. Interessanterweise wird dieser Aspekt in den Artikeln zum Leben und Wirken Prokops bisher nicht diskutiert. Dabei ist anzunehmen, dass gerade die Tätigkeit eines Gerichtsmediziners in der DDR per se durchaus „politisch“ war. Das mag insbesondere für die in Ost-Berlin arbeitenden leitenden Ärzte gegolten haben, die zwangsläufig eng mit dem Staat zusammenwirken mussten: Die Gerichtsmediziner der Charité bildeten MfS-Mitarbeiter aus, sie obduzierten die Leichname prominenter Persönlichkeiten der DDR, die von Mordopfern und auch die an der Mauer erschossenen Flüchtlinge. Mit dem Wissen um wahre Todesumstände erlangten Gerichtsmediziner somit sensible Informationen, die in der Regel der Bevölkerung nicht zugänglich und für den Staat außerordentlich heikel waren.

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Prokop/Wimmer (1985). Stein (1992), S. 60. ORB 26.04.1997. Zur Person. Günter Gaus im Gespräch. Prokop/Uhlenbruck (1963) und Weimann/ Prokop (1963). Geserick (2006), S. A–2567. Vgl. http://www.tagesspiegel.de/wissen/nachruf-otto-prokop-wissenschaftler-zwischen-denfronten/1428160.html (15.07.2014). Stein (1992), S. 60–61.

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WISSENSCHAFT AN GRENZEN: PROKOP UND DIE MAUEROPFER Besonders zum Thema der Maueropfer lässt sich eine ethisch-moralische Debatte führen. Gemäß dem Credo „Die Klasse der Medizin war unpolitisch“14 ordnete Prokop nach Ende der DDR die Obduktion der Toten ein: die Frage nach den Todesumständen konnte „sachlich beantwortet“ werden. Zur Tatsache, dass die von den Gerichtsmedizinern entworfenen Obduktionsberichte zum Teil im Nachhinein verheimlicht oder bewusst falsch verwendet wurden, äußerte sich Prokop nicht. Beispielsweise kam er 1964 bei der Obduktion des an der Mauer erschossenen Grenzunteroffiziers Egon Schultz zu einem anderen Ergebnis als von der DDR verkündet. Die DDR behauptete, Schultz sei von einem „westlichen Agenten“15 ermordet worden. Der Tote wurde zum Märtyrer stilisiert, Legenden zu seiner Person überdauerten Jahrzehnte. Laut Prokops Obduktionsbericht jedoch war Schultz durch Schüsse einer Kalaschnikow-Maschinenpistole ums Leben gekommen, ein Kamerad hatte ihn offenbar versehentlich erschossen.16 Prokops Bericht blieb geheim, erst nach der Wende äußerte sich der Rechtsmediziner öffentlich zu den Todesumständen.17 Jahrelang obduzierten Prokops Mitarbeiter an der Charité die Mauertoten. Ihren Angaben zufolge wurde der letzte Tote 1972 untersucht. Danach übernahmen die Gerichtsmediziner der Medizinischen Akademie der Nationalen Volksarmee in Bad Saarow südlich von Berlin die Aufgabe.18 Ein Bericht der Staatssicherheit aus dem Jahr 1979 enthält Hinweise, dass Prokops Institut jedoch weiterhin Ansprechpartner für die Obduktionen von Mauertoten blieb.19 In mehreren Akten finden sich genaue Festlegungen, wie alle Beteiligten – also Sicherheitskräfte, Ärzte und Staatsanwälte – mit verwundeten oder getöteten Flüchtlingen umzugehen hatten. Den Gerichtsmedizinern musste demnach die Brisanz ihrer Tätigkeit bewusst sein. Das MfS war auf äußerste Diskretion und konspirative Mitarbeit bedacht. In einem Bericht von 1970 führte die Staatssicherheit sechs Gerichtsmediziner auf, die sie für besonders geeignet hielt, an der Charité Mauertote zu obduzieren.20 Es handelte sich um Mitarbeiter Prokops, er selber wurde nicht genannt. Der Bericht beschreibt auch, dass ein zuständiger MfS-Mitarbeiter grundsätzlich bei den Sektionen der Mauertoten anwesend sein musste und sich vor den Ärzten als Volkspolizist ausgeben sollte. Von ihm erhielten die Ärzte Informationen über den Todeshergang. Selbstverständlich sind die Opfer der Mauer den obduzierenden Gerichtsmedizinern in keiner Weise anzulasten. Diskussionswürdig scheint allerdings die Frage, inwieweit die Ärzte mit ihrer Tätigkeit das System unterstützten. Wie alle Ärzte unterlagen auch sie der beruflichen Schweigepflicht. Der Umfang des 14 15 16 17 18 19 20

ORB 26.04.1997. Zur Person. Günter Gaus im Gespräch. Neues Deutschland am 06.10.1964. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (2009). Stein (1992). Geserick et al. (2001). BStU, MfS, HA IX, Nr. 16435. BStU, MfS, BVfS Berlin, Abt. IX, Nr. 97.

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Tötens an der innerdeutschen Grenze und der Umgang mit den Toten musste ihnen bekannt gewesen sein. Ein solches Wissen war per se „politisch“: Die DDR musste ihren Gerichtsmedizinern vertrauen können, dass insbesondere „unliebsame“ Todesfälle in ihrer Regie und der Öffentlichkeit unbekannt blieben. POLITISCHE FUNKTIONEN DER WISSENSCHAFT Die DDR-Staatssicherheit war über die Universitätssektion Kriminalistik mit dem gerichtsmedizinischen Institut verzahnt. Unter Prokop wurde der Nachwuchs von Volkspolizei und Staatssicherheit ausgebildet. Prokop selber erwähnte, dass er bei den unzähligen Grenzkontrollen viele ehemalige Studenten, nunmehr in OffiziersUniform, wieder traf. Die Aktenbestände des Ministeriums für Staatssicherheit enthalten auch Informationen zu gemeinsamen Forschungsprojekten des Instituts mit den Untersuchern des MfS. Nach Akteneintrag fertigte Prokop zudem Gutachten für die Staatssicherheit an.21 Besondere Aufmerksamkeit wurde Otto Prokop 1983 zu teil. Der Hamburger Rudolf Burkert hatte Anfang April bei einer Grenzkontrolle in Berlin einen Herzinfarkt erlitten und war gestorben. Im Westen wurde gemutmaßt, dass Burkert dem unmenschlichen Regime der DDR zum Opfer gefallen war. Franz Josef Strauß sprach von Mord.22 Die DDR bemühte sich umgehend, die Vorwürfe zu widerlegen. Dank Otto Prokop gelang es ihr, der „westlichen Verleumdungskampagne“23 einen Spiegel vorzuhalten. Prokop konnte in ausführlichen Fernsehinterviews nachweisen, dass Burkert nicht durch Gewalt von außen, sondern infolge eines vorgeschädigten Herzens gestorben war. Er trug damit entscheidend zur öffentlichen Aufklärung des Todesfalls bei. Die innerdeutsche Lage blieb jedoch angespannt, in der Folge sagte Erich Honecker einen geplanten Besuch in Bonn ab. Die Verbundenheit Otto Prokops zur DDR-Staatssicherheit zeigte sich auch anlässlich regelmäßiger Jubiläumsfeiern. So erhielt der Institutsdirektor etliche MfS-Auszeichnungen: Anlässlich des 30. Jahrestages des MfS bekam Prokop ein Ehrengeschenk Erich Mielkes für „hervorragende Unterstützung des MfS“.24 Neben Prokop wurden die berüchtigte ehemalige DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, der Präsident des Obersten Gerichts sowie der Generalstaatsanwalt der DDR ausgezeichnet. Eine Ehrung wurde Prokop auch 1977 zum 70. Geburtstag der sowjetischen Tscheka zuteil, 1982 erhielt er die Medaille für Waffenbrüderschaft in Gold wegen „hoher Verdienste im Kampf“ gegen Feinde und kurz darauf überreichte ihm das MfS noch einen Orden wegen „Stärkung der sozialistischen Rechtsordnung“.25 21 22 23 24 25

BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. A378–3. Anonymus (1983), S. 25–29. Bethge, Telefoninterview in RIAS, Berlin. 28.04.1983. BStU, MfS, HA IX, Nr. 2314, S. 61. Eine Übersicht der Auszeichnungen findet sich in BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 126.

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In vielen Akten der Staatssicherheit finden sich Hinweise auf ein vertraulichrespektvolles Miteinander Prokops mit dem MfS. Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen und Professoren der Gerichtmedizin ließ er sich jedoch nicht als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit anwerben. Es finden sich keine diesbezüglichen Anwerbepläne in den Akten. Dass das MfS zu Prokop auch inoffiziell viele Informationen erhielt, verdankt es seinem Spitzel, dem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) Schöbel alias Helmut Schlägel. Schlägel genoss Prokops Vertrauen. Er arbeitete für ihn nebenberuflich als Assistent, „Referent“ und Fahrer. Ob Prokop wusste, dass Schlägel für das MfS arbeitete, ist unklar. Jahrelang berichtete „Schöbel“ über die Reisen Prokops, über Gespräche mit ihm, seine Probleme, Konflikte im Institut, über dessen Familie und Mitarbeiter. Die Art, wie Schöbel über den Professor sprach, unterscheidet sich wesentlich von anderen Spitzel-Berichten. So äußerte sich der IM stets wertschätzend über Prokop. Ein gegen Prokop gerichtetes Wirken der Staatssicherheit ist nicht zu erkennen. In den Berichten findet sich immer wieder die Sorge Prokops um sein Institut. Nach Prokops Einschätzung war die Forschung am Gerichtsmedizinischen Institut in Ost-Berlin Weltspitze, diesen Stand wollte er halten.26 Doch er geriet auch hier immer wieder an Grenzen. Wie die meisten Einrichtungen im DDR-Gesundheitswesen litt die Charité unter einem zunehmenden Geldmangel, besonders Valuta für den Einkauf von westlicher Technik war knapp. Häufig fuhr Prokop, der als Ausländer uneingeschränkte Reisefreiheit genoss, mit einem Assistenten über die Grenze nach West-Berlin, um Geräte, Kopierer oder Papier für sein Institut zu kaufen.27 Die Staatssicherheit wusste zudem, dass Prokop auf eigene Faust Seren billig herstellen ließ, um sie im Westen gewinnbringend zu verkaufen. Das dringend benötigte West-Geld sollte umgehend der eigenen Forschung zugute kommen.28 Die Stasi-Akten enthalten auch den Fall einer Sekretärin von Prokop.29 Diese hatte gekündigt und einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt. Angeblich habe ihr ein Vertreter einer westdeutschen Medizinfirma, die Kontakte zum Institut hielt, eine Anstellung in Aussicht gestellt. Den Akten zufolge versuchte Prokop, die Mitarbeiterin von der geplanten Ausreise abzuhalten: Er drohte damit, den Geschäftsführer der Firma „zu warnen“ und bestehende Verträge mit ihr zu kündigen. Noch 1992 kritisierte Prokop die Flucht von Ärzten aus der DDR und lobte diejenigen, die das „Ethos hochgehalten“ hatten und nicht weggegangen waren.30 Laut mehreren MfS-Berichten Schöbels beklagte Prokop den technologischen Rückstand der DDR. Prokops Meinung nach betrug er im „Immunsektor“ 20 Jahre: Die DDR könne auf dem Gebiet der Forschung den Westen nicht mehr einholen, es fehlten beispielsweise Computer. Die Lage sei „katastrophal“.31 Trotz 26 27 28 29 30 31

BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 126. BStU, MfS, HA IX, Nr. 16435. BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 126. Ebd. Vgl. Stein (1992). BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 126, S. 114–115.

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all dieser Probleme hielt Prokop weiter zur DDR, wenn auch mit kritischer Distanz. Vertrauen hatte er, den Akten zufolge, lediglich zum MfS. Hier seien „seine besten Freunde“.32 Nur das MfS würde noch „im Sinne der DDR arbeiten“ und ihn unterstützen. Ohne das MfS würde sein Institut den „Weltruhm“ verlieren.33 Ein solches Verhältnis zum MfS erscheint aus heutiger Sicht kritikwürdig. Dies besonders, da sich Prokop als einen Wissenschaftler fern jeder Politik darstellte. Auch wenn Prokop als Forscher einer „höheren Sache“ diente – ein Fernhalten von gesellschaftspolitischen Realitäten in der DDR und damit ein Abkapseln von der Wirklichkeit war in seiner Position nicht möglich. Diesen Umstand zu verleugnen, würde die Vergangenheit verzerren. Es sei noch einmal betont, dass es hier nicht um eine Relativierung vorhandener Leistungen oder etwa um die Auseinandersetzung mit einer „Täterschaft“ im eigentlichen Sinn geht. Vielmehr soll eine differenziertere Diskussion um mögliche Mitverantwortung im Unrechtssystem der DDR angestoßen werden. Eine solche kritische Debatte zu strukturellen und graduellen Verstrickungen mit dem System gehört zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit bedeutenden Personen wie dem Gerichtsmediziner Otto Prokop.

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. A378-3. BStU, MfS, BVfS Berlin, Abt. IX, Nr. 97. BStU, MfS, HA IX, Nr. 2314. BStU, MfS, HA IX, Nr. 16435. BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 126. RIAS-Reportage über die Absage des Besuches von Erich Honecker in der Bundesrepublik nach dem Tod des Transitreisenden Burkert, 28. April 1983. Eckhart Bethge im Telefoninterview. http://www.chronik-der-mauer.de/chronik/?month=4&year=1983&opennid=173063&moc=1# anchornid173063 (30.06.2015) ORB 26.04.1997. Zur Person: Günter Gaus im Gespräch mit Prof. Otto Prokop. Autor: Günter Gaus, Sendedatum: 26.04.1997, Länge: 52 Min.

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BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 126, S. 114–115. Ebd.

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GESCHICHTE UND ETHIK DER DDR-MEDIZIN. NACHWORT Andreas Frewer, Ulf Schmidt, Rainer Erices Ein Vierteljahrhundert nach Fall des Eisernen Vorhangs und Ende der DDR ist die „zeithistorische Schallmauer“ von 30 Jahren – eine Generation Abstand bei geschichtlicher Forschung und Bewertung – fast erreicht. Zahlreiche Publikationen und Konferenzen belegen eine intensive Auseinandersetzung mit allen Themen von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft der DDR;1 dies gilt mit Einschränkungen auch für den hier relevanten Bereich der Medizin2 und speziell der Medizinethik.3 Die vielbeschworene „Aufarbeitung“ der Entwicklungen im 20. Jahrhundert weist aber selbst bereits wieder neue Probleme und brisante Brüche auf. „Medizinische Ethik in der DDR. Erfahrungswert oder Altlast?“ ist das Thema eines Bandes aus dem Jahr 2010.4 Auf dem Titelbild findet sich das Hammer- und Sichelmotiv der DDR in eigentlich kreativer Weise abgewandelt auf die Heilkunde bezogen: Es wurden ein medizinischer Reflexhammer und ein Stethoskop als Symbole ärztlichen Handelns verwendet. Darum rankt sich auf beiden Seiten ein Ehrenkranz aus Lorbeerblättern; dies ist zur Erhebung der Medizin in der DDR jedoch nicht alles, denn das Bild ruht auf dem zentralen Platz eines angedeuteten Siegerpodestes. Innerhalb der Beiträge des Sammelbandes finden sich leider keine Bezugnahmen auf diese Gestaltung und Illustration,5 aber dass auf diese Weise die Medizinethik der DDR vermeintlich einen ehrenvollen Platz in der Geschichte einnimmt, ist wohl die erste Assoziation einer selbstverständlich offenen Interpretation. Der vorhandene Untertitel „Erfahrungswert oder Altlast?“ zeigt das mögliche Spektrum zwischen Bezugnahme auf den Erfahrungsschatz der DDR-Geschichte und den als Belastung empfundenen Teil der Medizinhistorie. 1

2 3 4 5

Zur DDR-Geschichte insgesamt vgl. u.a. Kaelble et al. (1994), Dennis (2000), Fulbrook (2005) und (2009), Betts (2010), Weber (2012) sowie Eckart (2013), Wolff (2013) und Pasternack (2015). Vgl. u.a. Ernst (1997), Müller (1997), Rausch (2000), Krumbiegel (2007) und Schleiermacher/Pohl (2009). Vgl. Bettin/Gadebusch Bondio (2010), Bettin (2010), Erices/Gumz (2013), Lohmeier/Gross (2013), Wahl/Schmidt (2014) und insbesondere Quitz (2013). Vgl. Bettin/Gadebusch Bondio (2010). Umfang: 160 Seiten. Selbstverständlich könnte auch eine eigenständige Gestaltung durch den Verlag vorliegen, die Herausgeber sind aber für die Inhalte verantwortlich. Sie bringen in Bezug auf einen früheren Greifswalder Band den interessanten und hier ebenfalls zutreffenden Passus, „[…] auf welche Weise eine ideologische Kontrolle und Instrumentalisierung der Medizinethik angestrebt wurde“ (ebd., S. 10) und betonen zu recht, dass es „[w]eitere wichtige zu klärende Fragen“ gibt (ebd., S. 14).

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Andreas Frewer, Ulf Schmidt, Rainer Erices

Problematisch wird diese äußerliche Gestaltung jedoch, wenn man einen Blick in das Inhaltsverzeichnis des Bandes wirft, ist doch eine Reihe der Autoren unschwer als führende DDR-Medizin(ethik)er zu identifizieren; dies allein wäre sicherlich nicht das entscheidende Problem, aber eine kritische Perspektive auf die eigene Geschichte fehlt völlig, noch dazu wird von mehreren Personen die Rolle in der DDR nicht reflektiert. Hier fungieren ehemalige inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit als Experten, ohne dass dies an einer Stelle des Buchs historisch kontextualisiert oder kritisiert wird; die Einseitigkeit der Betrachtung ist offenkundig – eine eigentlich angekündigte Reflektion der „Altlasten“ der DDR-Medizingeschichte findet nicht statt, zentrale ethische Skandale und grundlegende Probleme werden leider ausgeblendet. An dieser Stelle kann das nur punktuell beleuchtet werden, aber es erscheint doch symptomatisch für manche noch fehlende Aufarbeitung gerade für das Gebiet der Medizinethik. So wurde in Thüringen ein „Zentrum für Ethik in der Medizin“ als eingetragener Verein gegründet,6 der als erstes ein „Ehrenkolloquium für Prof. Dr. em. Ernst Luther, Halle“ veranstaltete. Mit einem Forum zum Thema „Demenz – In einer anderen Welt Leben“ [sic] sollte der ehemalige Hallenser Medizinethiker im Jahr 2012 öffentlich hofiert werden. Dass dieser jedoch in einer besonders staatstragenden Rolle die Medizinethik in der DDR repräsentiert hatte und eigentlich schon jahrelang seine umfangreiche Tätigkeit für die Staatssicherheit historisch belegt ist, gerät auf diese Weise sehr leicht aus dem Blick.7 Die gewählte Thematik „Demenz“ – medizinethisch sicher hochrelevant – und der Untertitel des Symposiums „In einer anderen Welt [l]eben“ erhalten auf diese Weise eine nicht beabsichtigte Doppeldeutigkeit und Komik, symbolisieren sie doch auf besondere Weise die Geschichtsvergessenheit vieler Bereiche der Medizin(ethik) in Ostdeutschland8 – auch eine Generation nach Ende der DDR. Diese Beispiele lassen sich durchaus nahtlos fortsetzen, wenn etwa in einem erst vor kurzem erschienenen Band zur „Professionslogik im Krankenhaus. Heilberufe und die falsche Ökonomisierung“ gerade die dem DDR-System treu ergebene Viola Schubert-Lehnhardt den Beitrag „Zum Leitbild von ÄrztInnen in der DDR“9 übernimmt, ohne die Schwierigkeiten auch in Bezug auf staatliche Dimensionen zu reflektieren. Dass hier ebenfalls eine 6

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Auf der betreffenden Internetseite des Vereins wird 2015 mit „Stand: März 2012“ angegeben: „35 Mitglieder, davon 10 Männer, 24 Frauen und 1 Verein, darunter Abgeordnete des Thüringer Landtages, Ärzte, Hochschullehrer, Lehrer, Theologen, Mitarbeiter aus heil- und pflegerischen Berufen.“ Ob die Mitglieder und insbesondere die Landtagsmitarbeiter wussten, wen sie dabei als erstes geehrt haben, erscheint fraglich bzw. durchaus sehr fragwürdig. Vgl. www.zem-thueringen.de (15.05.2015). Vgl. Süß (1999) und Quitz (2013). Luther hatte nicht nur akademische Positionen mit Schwerpunkt Marxismus-Leninismus inne, sondern war u.a. als „Geheimer Hauptinformator“ und IM „Bethune“ für das MfS aktiv; vgl. GHI-Akte „Bethune“, BStU, MfS, BV Halle. Hier ist aber auch die eingeschränkte Perspektive der „Akademie für Ethik in der Medizin“ (AEM) als Fachgesellschaft für das Gebiet Medizinethik zu nennen. Nach dem Mauerfall wurden DDR-Bürger Mitglied ohne die IM-Tätigkeit zu berücksichtigen, auch wenn sogar bei der Aufnahme zur Mitgliedschaft jeweils bürgende Personen notwendig sind. Eine Korrektur dieser jahrelangen Versäumnisse des AEM-Vorstands steht immer noch aus. Schubert-Lehnhardt (2015).

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ehemalige inoffizielle Mitarbeiterin zur Ehre der Autorschaft in einem Buch mit einem wichtigen Thema kommt, hat der sonst sehr differenzierte Herausgeber offenbar nicht gewusst; die Ex-DDR-Autorin wurde aber sogar für professionelle IM-Dienste ökonomisch vergütet, und dies war bereits Gegenstand einer 2013 erschienenen Dissertationsstudie, die auch im Buchhandel verfügbar ist.10 Die Opfer der DDR-Medizin11 kommen in den genannten Veranstaltungen und Publikationen der ehemaligen Protagonisten selten oder überhaupt nicht vor. Auch längere Zeit nach den Gesprächen mit ost- und westdeutschen Ärzten über ihre Zeit in SBZ und DDR12 sowie zentralen Studien zur IM-Tätigkeit13 ist ein allgemein verbindlicher Stand der Fachdiskussion bisher noch nicht erkennbar. Umso heikler ist es dann, wenn selbst Experten mit einem breiteren Überblick – bewusst oder unbewusst – deutliche blinde Flecken offenbaren. Auf ein aktuelles Beispiel sei hier abschließend etwas ausführlicher eingegangen. 2015 erschien vom Institut für Hochschulforschung (Halle-Wittenberg) der Band „Akademische Medizin in der DDR. 25 Jahre Aufarbeitung 1990–2014“.14 Neben einem allgemeinen Forschungsüberblick, vielfältigen bibliographischen Angaben und Ausführungen zu speziellen Bereichen der Literaturentwicklung15 findet sich das für die Medizinethik in der DDR besonders relevante Kapitel 5 „Skandalisierungen: Medizinmissbrauch“. Es fängt mit folgenden Passagen an: „Zu einer speziellen Aufarbeitungstextsorte im Umbauprozess der akademischen Medizin Ostdeutschlands avancierte im Lauf der Zeit der Untersuchungsbericht. Dahinter verbirgt sich ein spezieller Aspekt der Transformation, in dem wiederum das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der DDR ein medizinbezogenes Echo fand: Auch die medizinische Wissenschaft unterlag einem Generalverdacht, der ihr im Zusammenspiel mit den politischen Strukturen der DDR nahezu jedes unethische Verhalten zutraute.“16

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Vgl. Quitz (2013) und (2015). Es handelt sich um IM „Maria“, vgl. IMS-Akten BStU, MfS, BV Halle, Abt. II. Sie erhielt mehrfach Prämien für ihre realisierten „operativen Aufgaben“. Im Kern sind diese Spitzeltätigkeiten moralisch und menschenrechtlich grundlegende Verletzungen der informationellen Selbstbestimmung von Betroffenen sowie eine gravierende Beeinflussung der Biographien aus politisch-ideologischen oder gar niederen Motiven. Exemplarisch sei auf wichtige Studien mit Blick auf die Opfer der DDR-Medizin verwiesen: Beer/Weissflog (2011), Voigt/Erler (2011) und Steger/Schochow (2014); siehe auch den Beitrag von Mesecke im vorliegenden Band. Müller (1994) sowie ferner auch Wolff (2013). Vgl. insbesondere Müller-Enbergs (1996), Gieseke (2001), Mielke/Kramer (2004) und Weil (2008). Pasternack (2015). Diese eigentlich verdienstvolle Zusammenstellung hat leider klare Lücken. Pasternack (Jahrgang 1963) studierte nach einer Fahrzeugschlosserlehre Politikwissenschaft an der Universität Leipzig. Differenzierter ist hier Hechler/Pasternack (2013). Kapitel 2.14 im Abschnitt B führt zu den Fachgebieten „Medizingeschichte, Medizinische Ethik“ ganze acht Arbeiten auf, vgl. Pasternack (2015), S. 182–184. In Bezug auf „Konjunkturen im Zeitverlauf“ bringt die Studie für 2014 lediglich zwei (!) Arbeiten. Ebd., S. 75. Ebd., S. 65. Hier sind in gewisser Hinsicht parallele Argumentationsstrukturen wie nach Ende des Nationalsozialismus zu erkennen: Die Medizin(er) agiere(n) lediglich durch die Politik.

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Andreas Frewer, Ulf Schmidt, Rainer Erices

Dem Autor geht es offenbar (auch) um die Beseitigung dieses „Generalverdachts“ und damit verbunden um die (Teil-)Rehabilitierung der DDR-Geschichte, denn er setzt mit folgenden Zeilen fort: „Recht bald nach dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit war die ostdeutsche Medizin zahlreichen Skandalisierungskampagnen17 ausgesetzt. Die Auseinandersetzung damit erforderte, parallel zum Struktur- und Personalumbau, beträchtliche Energie. Die Skandalisierungen rückten die Universitätsklinika in den Kontext (vermeintlicher) Missbräuche der DDRMedizin für nichtmedizinische Zwecke.“18

Die Charakterisierung als „vermeintliche“ Missbräuche zeigt die Richtung der Argumentation, die im Folgenden auf ausgewählte Einzelbeispiele eingeht: „Mit schlagzeilenträchtigen Vorwürfe [sic] wurde das Publikum beschäftigt: Benutzung ahnungsloser DDR-Patienten als Testprobanden für in Erprobung befindliche westliche Pharma-Erzeugnisse, Spenderorganentnahme an Lebendpatienten, und zwar zur Verwendung wahlweise für greise Führungsfunktionäre oder devisenbringenden Organhandel, desweiteren Psychiatrisierung19 politischer Gegner in der DDR und die Ertränkung Frühgeborener in Wassereimern.“20

Pasternack kommt zu dem klaren Ergebnis: „In überraschender Eindeutigkeit haben sich dann die Vorwürfe im wesentlichen [sic] als – neutral formuliert – Recherchefehler herausgestellt.“ Schon beim ersten genannten Beispiel irrt sich der Bibliograph in einer doch frappierenden Weise: Diverse Studien zu westlicher Pharmaforschung in der DDR werden vollständig ausgeblendet, auch wenn diese bereits in den letzten Jahren erschienen sind und der Autor des übergreifenden Bandes die gesamte Medizin der DDR im Spiegel der Literatur von „1990–2014“ dokumentiert haben will. Arbeitsgruppen der Medizingeschichte aus Universitätsinstituten in Berlin,21 Erlangen-Nürnberg,22 Greifswald, Halle-Wittenberg, Marburg23 und andernorts sowie ihre einschlägigen Ergebnisse und Beweise umfangreicher Westforschung in der DDR werden vollständig ausgeblendet. Frühe kritische Hinweise bereits nach der Wende hätten sich als „Recherchefehler“ herausgestellt – hier lässt der Hochschulforscher grundlegende Defizite und seinerseits mangelhafte Recherchearbeit offenkundig werden. Dies trifft leider auch auf weitere Bereiche der medizinhistorischen und medizinethischen Forschung zur DDR zu; etwa das Themenfeld „Patienten-Eingaben“24 oder der umfangreiche Skandal bei der Betreuung von jungen Müttern in der DDR mit Hunderten von 17 18 19 20 21

22 23 24

Hervorhebung durch die Autoren. Ebd. Hier sind weitere Regionalstudien und Zeitzeugenberichte notwendig, vgl. u.a. Rose (2005), Jachertz (2009) oder Müller/Mitzscherlich (2015) sowie Kumbier (2015a) und (2015b). Ebd. Doping im DDR-Sport, Missbrauch in Kinderheimen oder Haftanstalten mit Beteiligung der Medizin sowie eine Reihe weiterer Themenfelder fehlen in dieser Aufzählung. Vgl. etwa die Medienberichte aus dem Berliner Institut für Geschichte der Medizin seit 2013 sowie u.a. http://medizingeschichte.charite.de/forschung/arzneimittelforschung_in_der_ddr/ (15.05.2015). Erices (2013), Kuhrt/Wensierski (2013) und Erices et al. (2014). Retzar/Friedrich (2014). Vgl. etwa Bruns (2012) und (2015).

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iatrogenen Hepatitis-C-Infektionen wird ebenso wie die devisenorientierten Arzneimitteltests25 und Blut-„Spenden“ wie auch andere Problemgebiete der DDRHeilkunde gar nicht erwähnt. Die historisch differenzierte Aufarbeitung von Medizin und Medizinethik in der DDR wird für die nächsten Jahre ein sehr wichtiges Forschungsfeld bleiben. Die mancherorts noch vorhandene Scheu bei Offenlegungen und damit verbundenen Publikationen – Tabuisierungen, Ausblendungen, Unsicherheiten und Begutachtungszeiten von über eineinhalb Jahren bei medizin(histor)ischen Fachartikeln etc. – sollte mittelfristig einer kritischen, konstruktiven wie auch detaillierten Diskussion weichen. Ein solcher Diskurs ist ein erstrangiges Desiderat historischer Forschung zur Medizinethik. Insofern kann der hier vorliegende Band nur Startpunkt und Aufruf zu weiterer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit den Themen sein: Ad fontes et ad disputationes!

ARCHIVALIEN/UNGEDRUCKTE QUELLEN BStU, MfS, BV Halle, Abt. II. IMS-Akte, IM „Maria“. BStU, MfS, BV Halle, Abt. II. GHI-Akte „Bethune“.

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Pasternack (2015), S. 75 kommt verfrüht zu dem falschen Resultat: „Nachdem jedenfalls die Untersuchungsberichte zu den skandalisierten Missbrauchsvorwürfen vorgelegt waren, vermochten sie mit ihren entlastenden Botschaften nur schwer durchzudringen. So konnte der ‚Spiegel‘ 2013 seine Skandalisierung der Arzneimittel-Testreihen von 1991 aktualisieren, obgleich sie seinerzeit bereits entkräftet worden war“.

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Andreas Frewer, Ulf Schmidt, Rainer Erices

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IV. SCHLÜSSELDOKUMENTE ZUR BIOPOLITIK IN DER DDR

GESETZ ÜBER DIE UNTERBRECHUNG DER SCHWANGERSCHAFT vom 9. März 1972 geändert durch Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl. II. S. 889), Anlage II, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt I, Nr. 4 aufgehoben durch Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. Juli 1992 (BGBl. I. S. 1398), Art. 16.1 Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert, daß die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann. Die Verwirklichung dieses Rechts ist untrennbar mit der wachsenden Verantwortung des sozialistischen Staates und aller seiner Bürger für die ständige Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Frau, für die Förderung der Familie und der Liebe zum Kind verbunden. Dazu beschließt die Volkskammer folgendes Gesetz: § 1. (1) Zur Bestimmung der Anzahl, des Zeitpunktes und der zeitlichen Aufeinanderfolge von Geburten wird der Frau zusätzlich zu den bestehenden Möglichkeiten der Empfängnisverhütung das Recht übertragen, über die Unterbrechung einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden. (2) Die Schwangere ist berechtigt, die Schwangerschaft innerhalb von 12 Wochen nach deren Beginn durch einen ärztlichen Eingriff in einer geburtshilflich-gynäkologischen Einrichtung unterbrechen zu lassen. (3) Der Arzt, der die Unterbrechung der Schwangerschaft vornimmt, ist verpflichtet, die Frau über die medizinische Bedeutung des Eingriffs aufzuklären und über die künftige Anwendung schwangerschaftsverhütender Methoden und Mittel zu beraten. (4) Die Unterbrechung einer Schwangerschaft ist auf Ersuchen der Schwangeren und nur nach den Bestimmungen dieses Gesetzes und der zu seiner Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften zulässig. Im übrigen gelten die §§153 bis 155 des Strafgesetzbuches vom 12. Januar 1968 (GBl. I S. 1). Durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurde der § 1 Abs. 1 aufgehoben.

1

Editorische Notiz: Die hier grau wiedergegebenen Passagen sind im Original rot.

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Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft

§ 2. (1) Die. Unterbrechung einer länger als 12 Wochen bestehenden Schwangerschaft darf nur vorgenommen werden, wenn zu erwarten ist, daß die Fortdauer der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet, oder wenn andere schwerwiegende Umstände vorliegen. (2) Die Entscheidung über die Zulässigkeit einer später als 12 Wochen nach Schwangerschaftsbeginn durchzuführenden Unterbrechung trifft eine Fachärztekommission. § 3. (1) Die Unterbrechung der Schwangerschaft ist unzulässig, wenn die Frau an einer Krankheit leidet, die im Zusammenhang mit dieser Unterbrechung zu schweren gesundheitsgefährdenden oder lebensbedrohenden Komplikationen führen kann. (2) Die Unterbrechung einer Schwangerschaft ist unzulässig, wenn seit der letzten Unterbrechung weniger als 6 Monate vergangen sind: In besonderen Ausnahmefällen kann die Genehmigung von der Fachärztekommission gemäß § 2 Absatz 2 erteilt werden. § 4. (1) Die Vorbereitung; Durchführung und Nachbehandlung einer nach diesem Gesetz zulässigen Unterbrechung der Schwangerschaft sind arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall gleichgestellt. (2) Die Abgabe ärztlich verordneter schwangerschaftsverhütender Mittel an sozialversicherte Frauen erfolgt unentgeltlich.

Durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurde der § 4 Abs. 2 aufgehoben. § 5. (1) Dieses Gesetz tritt mit seiner Beschlußfassung in Kraft. (2) Zugleich tritt § 11 des Gesetzes vom 27. September 1980 über den Mutterund Kinderschutz und die Rechte der Frau (GBl. S. 1037) außer Kraft. (3) Die Einzelheiten der Vorbereitung und Durchführung der Unterbrechung der Schwangerschaft; einschließlich der Nachbehandlung, legt der Minister für Gesundheitswesen in Durchführungsbestimmungen fest. Durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurde der § 5 aufgehoben.2 Das vorstehende, von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am neunten März neunzehnhundertzweiundsiebzig beschlossene Gesetz wird hiermit verkündet. Berlin, den neunten März neunzehnhundertzweiundsiebzig Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik W. Ulbricht Quellen: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1972 Teil I. S. 89 © 29. Dezember 2004 2

Siehe hierzu auch die Durchführungsbestimmung vom 9. März 1972 (GBl. II S. 149).

VERORDNUNG ÜBER DIE DURCHFÜHRUNG VON ORGANTRANSPLANTATIONEN vom 4. Juli 1975 geändert durch Verordnung vom 5. August 1987 (GBl. I S. 199) faktisch aufgehoben durch Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl. II. S. 889)1 Die Möglichkeit, menschliche Organe durch Transplantation zu ersetzen, ist ein Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts, das dem humanistischen Anliegen der Medizin zur Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit der Bürger dient. Zur Durchführung von Organtransplantationen wird folgendes verordnet: I. Abschnitt Grundsatz § 1. (1) Organtransplantationen werden auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse der Medizin durchgeführt. Voraussetzung ist, daß die Anwendung anderer medizinischer Mittel und Methoden zur Erhaltung des Lebens oder der Wiederherstellung oder Besserung, der Gesundheit eines kranken keine oder nur geringe Aussicht auf Erfolg verspricht. (2) Zur Durchführung von Organtransplantationen sind vorrangig Organe von Verstorbenen zu verwenden. (3) Organe lebender Spender, die sich aus freiem Entschluß zur Organspende bereit erklären, können für Transplantationen nur Verwendung finden; wenn geeignete Organe von Verstorbenen nicht zur Verfügung stehen. § 2. Organtransplantationen und Organentnahmen werden nur in den vom Ministerium für Gesundheitswesen bestimmten Gesundheitseinrichtungen durchgeführt. § 3. Für Organspenden dürfen materielle und finanzielle Leistungen nicht gefordert, angeboten oder gewährt werden. Unberührt hiervon bleiben die Rechtsvorschriften über das Blutspende- und Transfusionswesen.

1

Editorische Notiz: Die hier grau wiedergegebenen Passagen sind im Original rot.

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Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen

II. Abschnitt Voraussetzungen für eine Organentnahme von Verstorbenen § 4. Organentnahme für Transplantationszwecke. (1) Die Organentnahme von Verstorbenen für Transplantationszwecke ist zulässig, falls der Verstorbene zu Lebzeiten keine anderweitigen Festlegungen getroffen hat: (2) Bei einem Tod unter verdächtigen Umständen ist eine Organentnahme nur auf der Grundlage der in Rechtsvorschriften geregelten Voraussetzungen zulässig. Amtliche Anmerkung zu § 4.: § 94 der Strafprozeßordnung der Deutschen Demokratischen Republik -StPO- vom 12. Januar 1988 (GBl. I Nr. 2 S. 49) in der Fassung des Gesetzes vom 19. Dezember 974 zur Änderung der Strafprozeßordnung (GBl. I Nr. 64 S. 597) und § 4 der Anordnung vom 2. Dezember 1968 über die ärztliche Leichenschau (GBl. II Nr. 129 S. 1041). § 5. Todesfeststellung. (1) Voraussetzung für die Organentnahme von Verstorbenen ist die zweifelsfreie und nachweisbare Feststellung des Todes. (2) Die Feststellung des Todes eines Bürgers, bei dem Reanimationsmaßnahmen zur künstlichen Aufrechterhaltung von Organfunktionen mit dem Ziel der Lebenserhaltung durchgeführt werden, trifft das vom Bezirksarzt bestimmte Ärztekollektiv, das hierüber ein Protokoll anzufertigen hat. (3) Die Entscheidung über die Feststellung des Todes ist unabhängig von einer möglichen Organentnahme zu treffen. Das Ärztekollektiv; das den Tod feststellt, darf die Transplantation eines Organs; das dem Verstorbenen entnommen wird, nicht durchführen. III. Abschnitt Voraussetzungen für eine Organentnahme vom lebenden Spender § 6. Vorrang der Interessen des lebenden Spenders. Eine Organentnahme vom lebenden Spender ist nur zulässig, wenn für ihn im Ergebnis umfassender ärztlicher Untersuchung keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwarten sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, daß die Transplantation des Organs zur Rettung des Lebens oder zur Wiederherstellung oder Besserung der Gesundheit eines Kranken führen wird. Zustimmung des Spenders zur Organentnahme § 7. (1) Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Organentnahme ist die aus freiem: Entschluß ohne Beeinflussung durch Dritte erteilte Zustimmung des Spenders. Sie kann nicht ersetzt werden. (2) Der Spender muß volljährig sein.

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(3) Der Spender kann seine Zustimmung bis unmittelbar vor der Organentnahme jederzeit ohne Angabe von Gründen zurücknehmen. § 8. (1) Der Spender ist vor seiner Zustimmung über die möglichen Folgen und Risiken der Organentnahme umfassend aufzuklären. Die Aufklärung hat sich auch auf alle im Zusammenhang mit der Organentnahme stehenden Umstände zu erstrecken, soweit sie für die Erteilung der Zustimmung des Spenders von Bedeutung sein können. (2) Die Zustimmung des Spenders ist gegenüber dem zuständigen Kreisarzt in Anwesenheit eines Vertreters des Ärztekollektivs, das die Organentnahme vornimmt, zu erklären. Dabei ist der Spender auf die bestehenden Möglichkeiten der Nachsorge hinzuweisen. (3) Über den Inhalt der Aufklärung und die Zustimmungserklärung des Spenders ist ein Protokoll aufzunehmen, das vom Kreisarzt, dem Vertreter des Ärztekollektivs und dem Organspender zu unterschreiben ist. § 9. (1) Der Organspender kann die Zustimmung zur Organentnahme unter der Bedingung erteilen, das Organ nur einem bestimmten Empfänger zu transplantieren. (2) Ist nach der Organentnahme eine Transplantation bei dem vorgesehenen Empfänger unmöglich geworden, darf das Organ einem Dritten transplantiert werden, wenn andere Organe nicht zur Verfügung stehen und eine Replantation beim Spender nicht möglich ist oder von ihm nicht gewünscht wird. § 10. Entscheidung über die Organentnahme. Die Entscheidung über die Organentnahme trifft ein vom Ärztlichen Direktor der Gesundheitseinrichtung bestimmtes Ärztekollektiv, das hierüber ein Protokoll aufzunehmen hat. § 11. Materielle Sicherstellung des Spenders. (1) Hat die Organentnahme wider Erwarten zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Spenders geführt, sind ihm hierdurch entstehende materielle Nachteile auf der Grundlage der Rechtsvorschriften zu ersetzen. (2) Ist infolge der gesundheitlichen Beeinträchtigung ein Wechsel des Berufs oder der bisherigen Tätigkeit des Spenders erforderlich, erhält dieser durch die örtlichen Staatsorgane Unterstützung bei der Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes oder bei einer notwendigen Umschulung. (3) Hat die Organentnahme den Tod des Spenders zur Folge, sind den unterhaltsberechtigten Hinterbliebenen der wegfallende Unterhalt und die Bestattungskosten durch die Staatliche Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik zu ersetzen. Leistungen der Sozialversicherung, aus der zusätzlichen Altersversorgung der Intelligenz und aus sonstigen Alters- und Invalidenversorgungen werden angerechnet.

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Verordnung über die Durchführung von Organtransplantationen

Amtliche Anmerkung zu § 11 Abs. 1: § 10 der Anordnung vom 18. November 1969 über die Bedingungen für die Pflichtversicherung der staatlichen Organe und staatlichen Einrichtungen bei der Staatlichen Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik (GBl. II Nr. 101 S. 682) und § 2 Buchst. c der Verordnung vom 11. April 1973 über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten (GBl. I Nr. 22 S. 199). Durch Verordnung vom 5. August 1987 erhielt der § 11 mit Wirkung vom 1. Oktober 1987 folgende Fassung:

(1)

(2)

(3) (4)

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§ 11. Materielle Sicherstellung des Spenders. Für die Dauer der ärztlich bescheinigten Arbeitsbefreiung erhalten Organspender, die - sich in einem Arbeitsrechtsverhältnis befinden, Geldleistungen in Höhe ihres Nettodurchschnittsverdienstes, - Mitglieder von Genossenschaften sind, Geldleistungen in Höhe ihrer Nettodurchschnittseinkünfte von der zuständigen Sozialversicherung. Die Dauer dieser ärztlich bescheinigten Arbeitsbefreiung wird durch andere Geldleistungen der Sozialversicherung wegen Arbeitsbefreiung bei Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit, Arbeitsunfall oder Berufskrankheit nicht angerechnet. Private Handwerker sowie Gewerbetreibende und andere selbständig oder freiberuflich Tätige sowie deren ständig mitarbeitende Ehegatten und Mitglieder von Kollegien der Rechtsanwälte erhalten für die Dauer der ärztlich bescheinigten Arbeitsbefreiung von der für sie zuständigen Sozialversicherung eine Geldleistung in Höhe des Nettoeinkommens, höchstens 14 400 M jährlich. Die Berechnung der Geldleistung wird auf der Grundlage des Nettoeinkommens des vorangegangenen Kalenderjahres vorgenommen. Dazu ist die Bescheinigung der Abteilung Finanzen des Rates des Kreises über die Höhe des Nettoeinkommens vorzulegen. Die ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsbefreiung ist von der Gesundheitseinrichtung mit einem Vermerk zu versehen, aus dem sich der Anspruch des Organspenders auf Geldleistungen gemäß den Absätzen 1 und 2 ergibt. Die notwendigen Fahrkosten werden entsprechend den geltenden Richtlinien der Sozialversicherung von der Stelle gezahlt, die auch die Geldleistungen für Organspender vornimmt. Die Verantwortlichkeit für Schäden, die im Zusammenhang mit Organspenden auftreten, bestimmt sich nach den Vorschriften des Zivilgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. Juni 1975 (GBl. I Nr. 27 S. 465) über die erweiterte Verantwortlichkeit bei Schadenszufügung. Eine Befreiung von der Verpflichtung zum Schadenersatz ist ausgeschlossen. Der Schadenersatzanspruch wird durch die Staatliche Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik erfüllt.

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(6) Ist infolge einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Organspenders ein Wechsel des Berufs oder der bisherigen Tätigkeit erforderlich, erhält dieser durch den für seinen Wohnsitz zuständigen Rat des Kreises, Amt für Arbeit, die notwendige Unterstützung bei der Aufnahme einer neuen Tätigkeit und einer dafür erforderlichen Qualifizierung.“ IV. Abschnitt Voraussetzungen für die Durchführung von Organtransplantationen beim Empfänger § 12. Medizinische Indikation. Die Durchführung von Organtransplantationen ist medizinisch indiziert, wenn die Voraussetzungen des § 1 vorliegen und begründete Aussicht besteht, daß das Leben des Patienten durch eine Organtransplantation erhalten oder seine Gesundheit wiederhergestellt oder gebessert werden kann. § 13. Zustimmung des Empfängers. (1) Voraussetzung für die Durchführung einer Organtransplantation ist die Zustimmung des Empfängers. Bei nicht volljährigen Bürgern ist die Zustimmung der Erziehungsberechtigten, bei Entmündigten die des Vormunds einzuholen: Nicht volljährige Bürger und Entmündigte sollen nach Möglichkeit gehört werden. (2) Der Empfänger bzw, der gesetzliche Vertreter ist über die Art. und das Ausmaß der Erkrankung und die für die medizinische Indikation einer Organtransplantation wesentlichen Umstände sowie über Risiken, die mit der Transplantation verbunden sein können, aufzuklären. (3) Über die Zustimmungserklärung des Empfängers und den Inhalt der Aufklärung ist ein Protokoll aufzunehmen, das von einem Vertreter des Ärztekollektivs, das die Transplantation durchführt, und vom Organempfänger bzw, seinem gesetzlichen Vertreter zu unterschreiben- ist. Der Empfänger soll über die Herkunft des transplantierten Organs nur informiert werden, wenn ein enges persönliches Verhältnis zum Spender besteht. V. Abschnitt Schlußbestimmungen § 14. Die Organentnahme von Verstorbenen zu Transplantationszwecken ist nur zulässig, wenn diese Bürger der Deutschen Demokratischen Republik oder Staatenlose mit ständigem Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik waren. § 15. Durchführungsbestimmungen erläßt der Minister für Gesundheitswesen im Einvernehmen mit den Leitern der zuständigen staatlichen Organe.

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§ 16. Diese Verordnung tritt am 1. September 1975 in Kraft. Berlin, den 4. Juli 1975 Der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Mittag Erster Stellvertreter des Vorsitzenden Der Minister für Gesundheitswesen i. V. Tschersich Staatssekretär

GESETZ ÜBER DEN VERKEHR MIT ARZNEIMITTELN – ARZNEIMITTELGESETZ – VOM 27. NOVEMBER 1986 Arzneimittel dienen der Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Bürger. Die wissenschaftlich begründete Verordnung und sichere Anwendung der Arzneimittel sind von großer Bedeutung für eine hohe Qualität der medizinischen Betreuung. Der sozialistische Staat gewährleistet in Verwirklichung des verfassungsmäßig garantierten Gesundheitsschutzes für alle Bürger die unentgeltliche Bereitstellung von ärztlich verordneten Arzneimitteln auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems. Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin tragen zur Entwicklung und Erhaltung gesunder Tierbestände bei. Die Volkskammer beschließt folgendes Gesetz: § 1. Geltungsbereich (1) Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen und Bedingungen für den Verkehr mit Arzneimitteln und den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen (nachstehend Arzneimittel genannt). (2) Dieses Gesetz gilt für - Staatsorgane, - Kombinate, wirtschaftsleitende Organe, Betriebe, Genossenschaften, Einrichtungen, gesellschaftliche Organisationen (nachstehend Betriebe und Einrichtungen genannt), - Bürger. (3) Die zur Durchführung dieses Gesetzes erforderlichen Maßnahmen entsprechend den Bedingungen in den Verantwortungsbereichen der Ministerien für Nationale Verteidigung, für Staatssicherheit und des Innern werden zwischen dem Minister für Gesundheitswesen und den zuständigen Ministern vereinbart. Grundsätze § 2. (1) Arzneimittel müssen für den Verkehr staatlich zugelassen sein. Betriebe und Einrichtungen, die am Verkehr mit Arzneimitteln teilnehmen, bedürfen einer staatlichen Erlaubnis. Der Verkehr mit Arzneimitteln unterliegt der staatlichen Überwachung und Sicherung. (2) Für die medizinische und veterinärmedizinische Betreuung sind hochwertige und qualitativ einwandfreie Arzneimittel sortiments- und bedarfsgerecht bereitzustellen. Die Betriebe und Einrichtungen, in denen Arzneimittel herge-

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stellt werden, sind verantwortlich für die Entwicklung wirksamer und sicherer Arzneimittel, die Sicherung der Qualität und die Gewährleistung einer stabilen und flexiblen Produktion von Arzneimitteln. (3) Die Arzneimittelforschung ist mit dem Ziel der weiteren Qualifizierung der medizinischen und veterinärmedizinischen Betreuung auf der Grundlage langfristiger Konzeptionen unter Beachtung der internationalen Entwicklungstendenzen in den Naturwissenschaften und der Medizin kontinuierlich durchzuführen. § 3. (1) Ärzte und Zahnärzte sichern den wissenschaftlich begründeten Einsatz von Arzneimitteln bei der medizinischen Betreuung. Sie haben Arzneimittel verantwortungsbewußt auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zu verordnen. Ärzte und Zahnärzte sind verpflichtet, sich zur Erfüllung ihrer fachlichen Aufgaben auf dem Gebiet der Arzneimittelanwendung ständig weiterzubilden und das interdisziplinäre Zusammenwirken zur Gewährleistung eines wirksamen Einsatzes von Arzneimitteln zielstrebig zu entwickeln. (2) Tierärzte sichern den wissenschaftlich begründeten Einsatz von Arzneimitteln bei der veterinärmedizinischen Betreuung unter Beachtung des volkswirtschaftlichen Nutzens. § 4. (1) Der Ministerrat sichert durch die zentrale Leitung und Planung der Forschung, Produktion und Verteilung die Bereitstellung der Arzneimittel für die medizinische und veterinärmedizinische Betreuung. (2) Das Ministerium für Chemische Industrie und die anderen zentralen Staatsorgane, die für die Leitung und Planung der Forschung und Entwicklung, Produktion und Bereitstellung von Arzneimitteln verantwortlich sind, haben in Durchführung der ihnen mit dem Volkswirtschaftsplan erteilten staatlichen Planauflagen die Deckung des Arzneimittelbedarfs zu sichern. (3) Das Ministerium für Gesundheitswesen ist im Zusammenwirken mit anderen zentralen Staatsorganen insbesondere verantwortlich für die - Gestaltung des Arzneimittelsortiments entsprechend dem Stand der medizinischen Wissenschaft und den Bedürfnissen der medizinischen Praxis, - Ermittlung des begründeten Bedarfs an Arzneimitteln, - Festlegung von Grundsätzen der Arzneimittelanwendung und für eine entsprechende Qualifizierung der medizinischen und pharmazeutischen Fachkräfte, - Festlegung von staatlichen Qualitätsvorschriften für Arzneimittel, - staatliche Qualitätskontrolle von Arzneimitteln, - Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln. (4) Das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft ist im Zusammenwirken mit anderen zentralen Staatsorganen insbesondere verantwortlich für die

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-

Gestaltung des Arzneimittelsortiments für die veterinärmedizinische Betreuung, - Ermittlung des volkswirtschaftlich begründeten Bedarfs an Arzneimitteln zur Anwendung in der Veterinärmedizin, - Festlegung von Grundsätzen der Arzneimittelanwendung in der Veterinärmedizin. (5) Auf dem Gebiet des Arzneimittelwesens arbeitet die Deutsche Demokratische Republik eng mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und den anderen im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammengeschlossenen sozialistischen Staaten zusammen. Sie fördert die gleichberechtigte und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit mit anderen Staaten auf dem Gebiet des Arzneimittelwesens und wirkt aktiv in entsprechenden internationalen Organisationen, insbesondere in der Weltgesundheitsorganisation, mit. § 5. Begriffsbestimmungen (1) Arzneimittel sind biologisch aktive Stoffe oder Zubereitungen aus solchen Stoffen, die 1. im oder am menschlichen Körper zur Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Nachsorge von Krankheiten und Körperschäden sowie zur Erkennung und Beeinflussung der Beschaffenheit des Zustandes oder der Funktionen des Körpers oder psychischer Verhaltensweisen (Arzneimittel zur Anwendung in der Humanmedizin) oder 2. im oder am tierischen Körper zur Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten sowie zur Erkennung und Beeinflussung der Beschaffenheit, des Zustandes oder der Funktionen des Körpers (Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin) angewendet werden. (2) Den Arzneimitteln gleichgestellte Erzeugnisse sind 1. Gegenstände und Materialien, die zum zeitweiligen oder dauernden Verbleib im oder am menschlichen Körper bestimmt sind, 2. Stoffe und Zubereitungen, die außerhalb des menschlichen Körpers zur Anwendung kommen, wenn sie der Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Nachsorge von Krankheiten und Körperschäden oder der Erkennung und Beeinflussung der Beschaffenheit, des Zustandes oder der Funktionen des Körpers dienen, 3. Gegenstände und Materialien, die zum zeitweiligen oder dauernden Verbleib im oder am tierischen Körper bestimmt sind, und Stoffe und Zubereitungen, die außerhalb des tierischen Körpers zur Anwendung kommen, wenn sie der Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Nachsorge von Krankheiten und Körperschäden oder der Erkennung und Beeinflussung der Beschaffenheit, des Zustandes oder der Funktionen des Körpers dienen. 4. Gegenstände und Materialien, die außerhalb des menschlichen oder tierischen Körpers unmittelbaren Kontakt mit Arzneimitteln oder mit Körperbestandteilen haben und Bestandteile beeinflussen können,

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5. (3)

(4) (5)

(6)

(7)

Stoffe und Zubereitungen als Bestandteile von Arzneimitteln, soweit sie keine Arzneimittel sind. Der Verkehr mit Arzneimitteln umfaßt das Herstellen, Zubereiten, Be- oder Verarbeiten, Ab- oder Umfüllen, Ab- oder Umpacken und sonstige Behandeln, das Veräußern, Abgeben und sonstige Inverkehrbringen, das Erwerben, Sichbeschaffen, Besitzen, Transportieren, Vorrätighalten, Aufbewahren, Lagern, Verordnen, Verabreichen sowie das Beseitigen und den sonstigen Umgang mit Arzneimitteln. Hersteller sind Betriebe und Einrichtungen, die Arzneimittel herstellen, zubereiten, be- oder verarbeiten, mit Ausnahme der Apotheken. Versorgungsbetriebe für Arzneimittel sind Betriebe und Einrichtungen, die zur Versorgung der Apotheken und anderen Einrichtungen des Apothekenwesens, der Gesundheitseinrichtungen und der Einrichtungen des Veterinärwesens Arzneimittel vorrätig halten und abgeben. Verbraucher ist, wer Arzneimittel erwirbt, um sie an sich, an anderen Personen oder an Tieren anzuwenden. Verbraucher sind auch Gesundheitseinrichtungen, Einrichtungen des Veterinärwesens und landwirtschaftliche Betriebe sowie andere Betriebe und Einrichtungen, die Arzneimittel bei der Erfüllung ihrer Aufgaben anwenden. Für weitere in diesem Gesetz verwendete Begriffe gelten die in der Anlage festgelegten Begriffsbestimmungen.

§ 6. Erlaubnis (1) Das Ministerium für Gesundheitswesen erteilt die staatliche Erlaubnis zur Teilnahme am Verkehr mit Arzneimitteln für Hersteller, Importbetriebe, Versorgungsbetriebe für Arzneimittel und andere Betriebe und Einrichtungen. Apotheken und andere Einrichtungen des Apothekenwesens, Gesundheitseinrichtungen und Einrichtungen des Veterinärwesens besitzen die Erlaubnis im Rahmen ihrer Aufgabenstellung. (2) Die Erteilung der Erlaubnis erfordert, daß die personellen, sachlichen und hygienischen Voraussetzungen für die Teilnahme am Verkehr mit Arzneimitteln erfüllt sind. Mit der Erlaubnis können Bedingungen für die Teilnahme am Verkehr mit Arzneimitteln festgelegt und Auflagen erteilt werden. (3) Die Erlaubnis kann geändert oder zurückgenommen, werden, wenn 1. die Voraussetzungen, die zur Erteilung der Erlaubnis geführt haben, nicht mehr gegeben sind oder 2. die festgelegten Bedingungen oder die erteilten Auflagen nicht eingehalten werden. § 7. Prüfung und Zulassung (1) Arzneimittel dürfen nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie nach den Erkenntnissen und Erfahrungen von Wissenschaft und Praxis ausreichend geprüft sind. Für den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimit-

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(2)

(3)

(4)

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(6)

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teln sind tierexperimentelle und weitere wissenschaftliche Untersuchungen sowie Prüfungen am Menschen erforderlich. Die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen bedarf zum Schutz der Probanden der Genehmigung des Ministeriums für Gesundheitswesen. Sie ist nur zulässig, wenn die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen eine Prüfung am Menschen rechtfertigen und ein wesentlicher Fortschritt für die medizinische Betreuung zu erwarten ist. Die Prüfung darf nur vorgenommen werden, wenn der Proband durch den Arzt ausreichend über die Bedeutung, und den Umfang der Prüfung, den Ablauf der Untersuchungen sowie über mögliche Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken aufgeklärt und mit der Prüfung einverstanden ist. Der Proband hat das Recht, sein Einverständnis jederzeit zurückzuziehen, ohne daß ihm daraus ein Nachteil entstehen darf. Die Prüfung muß für den Probanden zumutbar sein und ist mit dem geringsten Risiko für ihn durchzuführen. Sie hat unter Wahrung ethischer Kriterien dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu entsprechen. Die Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Veterinärmedizin an Nutz-, Heim-, Wild- oder Zootieren bedarf der Genehmigung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. Sie ist nur zulässig, wenn ein wesentlicher Fortschritt für die veterinärmedizinische Betreuung zu erwarten ist. Arzneimittel werden durch das Ministerium für Gesundheilswesen zum Verkehr staatlich zugelassen, wenn ihre Wirksamkeit und Sicherheit nach dem Stand der naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse für den jeweiligen Anwendungszweck nachgewiesen sind und ein gesellschaftliches Bedürfnis besteht. Die Zulassung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Veterinärmedizin bedarf der Zustimmung des Ministeriums für Land-, Forstund Nahrungsgüterwirtschaft. Mit der Zulassung von Arzneimitteln können Kriterien für die Verordnung und Anwendung der Arzneimittel festgelegt und Auflagen erteilt werden. Zugelassene Arzneimittel werden in das beim Ministerium für Gesundheitswesen geführte Arzneimittelregister eingetragen. Stoffe und Zubereitungen, die ausschließlich zur industriellen Herstellung zugelassener Arzneimittel bestimmt sind, werden nicht eingetragen. Die in das Arzneimittelregister eingetragenen Arzneimittel sowie die mit der Zulassung festgelegten Kriterien werden im Arzneimittelverzeichnis bekanntgemacht.

§ 8. Kennzeichnung (1) Arzneimittel müssen gekennzeichnet sein. (2) Die Anforderungen an die Kennzeichnung von Arzneimitteln hat der Minister für Gesundheitswesen bzw. der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft durch Rechtsvorschriften festzulegen.

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§ 9. Zentraler Gutachterausschuß Das Ministerium für Gesundheitswesen und das Ministerium für Land-, Forstund Nahrungsgüterwirtschaft werden in Fragen des Verkehrs mit Arzneimitteln, insbesondere bei Entscheidungen über die Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln, durch den Zentralen Gutachterausschuß für Arzneimittelverkehr beraten. Aufgaben, Arbeitsweise und Zusammensetzung des Zentralen Gutachterausschusses für Arzneimittelverkehr regelt der Minister für Gesundheitswesen in Abstimmung mit dem Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft durch das Statut.

(1) (2)

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§ 10. Qualität Arzneimittel dürfen nur in den Verkehr gebracht werden, wenn ihre Qualität den staatlichen Qualitätsvorschriften für Arzneimittel entspricht. Das gilt auch für importierte Armeimittel. Staatliche Qualitätsvorschriften für Arzneimittel sind insbesondere das Arzneibuch der Deutschen Demokratischen Republik, die Gütevorschriften für Arzneimittel sowie weitere Vorschriften zur Bestimmung der Qualität von Arzneimitteln, die das Ministerium für Gesundheitswesen erläßt. Das Ministerium für Gesundheitswesen gibt das Arzneibuch heraus, erklärt die Gütevorschriften für Arzneimittel zur Anwendung in der Humanmedizin für verbindlich und kann bestimmen, daß Arzneimittel zur Anwendung in der Humanmedizin nur nach staatlicher Freigabe jeder hergestellten Charge in den Verkehr gebracht werden dürfen. Das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft erklärt Gütevorschriften für Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin für verbindlich und kann bestimmen, daß Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin nur nach staatlicher Freigabe jeder hergestellten Charge in den Verkehr gebracht werden dürfen.

Verordnungsweise § 11. (1) Arzneimittel dürfen nur von Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten, die für die Deutsche Demokratische Republik die erforderliche staatliche Erlaubnis zur Berufsausübung besitzen, im Rahmen ihrer beruflichen Aufgaben und fachlichen Qualifikation verordnet werden. (2) Es dürfen nur solche Arzneimittel verordnet werden, die in der Deutschen Demokratischen Republik zum Verkehr zugelassen und im Arzneimittelverzeichnis enthalten sind. Bei der Verordnung sind die Anwendungsgebiete und weitere mit der Zulassung für die Verordnung und Anwendung der Arzneimittel festgelegte Kriterien einzuhalten. (3) Die Verordnung von Arzneimitteln hat im Interesse einer hohen Qualität der medizinischen Betreuung den Grundsätzen der wissenschaftlich begründeten Verordnungsweise zu entsprechen. Sie muß den effektiven Einsatz von Arzneimitteln in Diagnostik, Prophylaxe und Therapie gewährleisten.

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§ 12. (1) Zur Sicherung der wissenschaftlich begründeten Verordnungsweise sind vom Arzt oder Zahnarzt nach sorgfältiger Auswahl die Arzneimittel einzusetzen, die notwendig sind, um das Behandlungsziel zu erreichen. (2) Die Auswahl der Arzneimittel sowie die Festlegung der Anwendungsart, der individuellen Dosierung und der Anwendungsdauer müssen von objektiven klinischen und klinisch-pharmakologischen Gesichtspunkten ausgehen. Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Arzneimittel sind zu beachten. (3) Der Arzt oder Zahnarzt hat im Rahmen der Aufklärung über Ziel und Maßnahmen der Behandlung den Patienten ausreichend über Wirkungen sowie mögliche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der verordneten Arzneimittel zu informieren. (4) Der Arzt oder Zahnarzt hat die für eine sachgerechte Anwendung des Arzneimittels notwendige Anleitung zu geben und auf ein therapiegerechtes Verhalten des Patienten bei der Arzneimittelanwendung hinzuwirken. Dabei wird er von anderen medizinischen Fachkräften unterstützt.

(1) (2) (3) (4)

§ 13. Abgabe Arzneimittel dürfen grundsätzlich nur von Apotheken an Verbraucher abgegeben werden. Der Minister für Gesundheitswesen und der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft können Ausnahmen festlegen. Die Abgabe von Arzneimitteln an Bürger ist nur nach Vorlage einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung zulässig. Für die Abgabe an andere Verbraucher ist eine Anforderung erforderlich. Der Minister für Gesundheitswesen kann Arzneimittel von der Verschreibungspflicht ausnehmen. Diese Arzneimittel können ohne ärztliche, zahnärztliche oder tierärztliche Verschreibung an Bürger abgegeben werden. Die Abgabe von Arzneimitteln an Kinder und Jugendliche unterliegt Einschränkungen, die vom Minister für Gesundheitswesen festgelegt werden.

§ 14. Anwendung (1) Der Bürger trägt zur Erhaltung und Wiederherstellung seiner Gesundheit durch die bestimmungsgemäße Anwendung von Arzneimitteln bei. Er erhält dazu vom Arzt oder Zahnarzt sowie bei der Abgabe des Arzneimittels vom Apotheker oder von anderen Fachkräften des Apothekenwesens die erforderliche Information und Anleitung. (2) In Gesundheitseinrichtungen sind Arzneimittel nur auf ärztliche oder zahnärztliche Verordnung an Patienten zu verabreichen oder auszugeben. Ärzte, Zahnärzte und andere Fachkräfte der Gesundheitseinrichtungen sind zum ordnungsgemäßen und sorgfältigen Umgang mit Arzneimitteln verpflichtet. (3) Bei der Anwendung von Arzneimitteln an Tieren sind die tierärztlichen Anordnungen zu befolgen.

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§ 15. Aufbewahrung (1) Arzneimittel sind sachgerecht unter Beachtung der mit der Zulassung festgelegten Aufbewahrungsvorschriften so zu transportieren, vorrätig zu halten und zu lagern, daß sie in ihrer Qualität nicht beeinträchtigt werden. (2) Die am Verkehr mit Arzneimitteln Beteiligten haben zu gewährleisten, daß ein unbefugter Zugriff zu Arzneimitteln und deren mißbräuchliche Verwendung ausgeschlossen sind. (3) Arzneimittel sind vor Kindern geschützt aufzubewahren.

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§ 16. Arzneimittelinformation Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker und andere Fachkräfte des Gesundheitswesens und des Veterinärwesens sind verpflichtet, sich die erforderlichen Kenntnisse für die wissenschaftlich begründete Verordnungsweise sowie die sachgerechte und sichere Anwendung von Arzneimitteln anzueignen. Die Betriebe und Einrichtungen, die Arzneimittel herstellen bzw. importieren, die Versorgungsbetriebe für Arzneimittel und Einrichtungen des Apothekenwesens sowie die zuständigen Staatsorgane und die ihnen unterstellten wissenschaftlichen Einrichtungen haben zu gewährleisten, daß die Fachkräfte des Gesundheitswesens und des Veterinärwesens umfassend über alle Eigenschaften der zugelassenen Arzneimittel informiert werden, die für ihre Anwendung von Bedeutung sind. Diese Informationen müssen dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen. Die Kennzeichnung der Arzneimittel sowie Informationen bei der Verordnung und Abgabe von Arzneimitteln müssen den Bürger in die Lage versetzen, die Anwendung der Arzneimittel bestimmungsgemäß und sachgerecht durchzuführen. Werbung für Arzneimittel ist unzulässig. Das gilt auch für andere Erzeugnisse, wenn ihnen damit Eigenschaften von Arzneimitteln zugeschrieben werden.

Materielle Leistungen bei Gesundheitsschäden § 17. (1) Die Verantwortlichkeit für Schäden, die im Zusammenhang mit der Prüfung von Arzneimitteln am Menschen eintreten, bestimmt sich nach den Vorschriften des Zivilgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik über die erweiterte Verantwortlichkeit für Schadenszufügung. Eine Befreiung von der Verpflichtung zum Schadenersatz ist ausgeschlossen. (2) Der Schadenersatzanspruch wird durch die Staatliche Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik erfüllt. Die Gesundheitseinrichtung hat den Schadenfall der zuständigen Bezirksdirektion der Staatlichen Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik zu melden, auch wenn vom Bürger kein Antrag auf Schadenersatz gestellt wurde.

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§ 18. (1) Tritt eine Verletzung der Sorgfaltspflicht im Zusammenhang mit der bestimmungsgemäßen Anwendung eines ärztlich verordneten Arzneimittels eine erhebliche Gesundheitsschädigung beim Menschen ein, die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft auf bisher nicht bekannte oder nicht vorhersehbare schädliche Wirkungen zurückzuführen ist, wird eine materielle Unterstützung gewährt. (2) Der Minister für Gesundheitswesen regelt im Einvernehmen mit den Leitern anderer zuständiger zentraler Staatsorgane die Voraussetzungen, die Art und den Umfang sowie das Verfahren zur Gewährung der materiellen Unterstützung in Rechtsvorschriften. Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln § 19. (1) Der Verkehr mit Arzneimitteln unterliegt der Überwachung und Sicherung durch das Ministerium für Gesundheitswesen und durch die Räte der Bezirke und Kreise. Bei der Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln zur Anwendung in der Veterinärmedizin arbeitet das Ministerium für Gesundheitswesen mit dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft zusammen. (2) Das Ministerium für Gesundheitswesen, das Ministerium für Land-, Forstund Nahrungsgüterwirtschaft und die Räte der Bezirke und Kreise sind berechtigt, durch beauftragte Mitarbeiter in Betrieben und Einrichtungen, die am Verkehr mit Arzneimitteln teilnehmen, unter Beachtung der Rechtsvorschriften über den Geheimnisschutz Kontrollen durchzuführen, Unterlagen über den Verkehr mit Arzneimitteln einzusehen, erforderliche Auskünfte zu verlangen sowie unentgeltliche Arzneimittelproben zu entnehmen. Zur Beseitigung von Mängeln, die die Qualität der Arzneimittel oder die Sicherheit des Verkehrs mit Arzneimitteln beeinträchtigen, können der zuständige Leiter im Ministerium für Gesundheitswesen bzw. im Ministerium für Land-, Forstund Nahrungsgüterwirtschaft, die Bezirks- und Kreisärzte und die Bezirksund Kreistierärzte im Rahmen ihrer Zuständigkeit Auflagen erteilen. (3) Das Institut für Arzneimittelwesen der DDR, das Staatliche Veterinärmedizinische Prüfungsinstitut und das Staatliche Kontrollinstitut für immunbiologische Arzneimittel des Zentralinstituts für Hygiene, Mikrobiologie und Epidemiologie der DDR nehmen im Auftrag des Ministers für Gesundheitswesen oder des Ministers für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft zur Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln staatliche Kontrollaufgaben gemäß Abs. 2 wahr. Die Direktoren dieser Institute sind berechtigt, im Rahmen ihrer Zuständigkeit Auflagen gemäß Abs. 2 zu erteilen. Der Minister für Gesundheitswesen und der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft können weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen ihrer Verantwortungsbereiche in Durchführungsbestimmungen zu diesem Gesetz Aufgaben übertragen, die auf die Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln gerichtet sind.

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Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln/Arzneimittelgesetz

§ 20. (1) Nicht mehr verwendungsfähige Arzneimittel sind nicht nutzbare Abprodukte im Sinne des Landeskulturgesetzes. (2) Die Apotheken nehmen von Bürgern nicht mehr verwendungsfähige oder nicht mehr benötigte Arzneimittel zurück und gewährleisten deren ordnungsgemäße Beseitigung.

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(3) (4.)

(5)

(6)

§ 21. Beschwerdeverfahren Entscheidungen, die auf der Grundlage dieses Gesetzes oder der dazu erlassenen Rechtsvorschriften getroffen werden, sind zu begründen, auszuhändigen oder zuzustellen. Sie haben eine Rechtsmittelbelehrung zu enthalten, soweit gegen diese Entscheidungen das Rechtsmittel der Beschwerde gemäß Abs. 2 eingelegt werden kann. Beschwerde kann eingelegt werden gegen 1. die Versagung, die Änderung und die Zurücknahme der staatlichen Erlaubnis für die Teilnahme am Verkehr mit Arzneimitteln sowie die in diesem Zusammenhang festgelegten Bedingungen und erteilten Auflagen (§ 6), 2. die Versagung, die Änderung und die Zurücknahme bzw. die Versagung der Zurücknahme der staatlichen Zulassung von Arzneimitteln zum Verkehr und die in diesem Zusammenhang erteilten Auflagen (§ 7), 3. die erteilten Auflagen zur Beseitigung von Mängeln, die die Qualität der Arzneimittel oder die Sicherheit des Verkehrs mit Arzneimitteln beeinträchtigen (§ 19). Die Beschwerde ist schriftlich unter Angabe der Gründe innerhalb einer Frist von vier Wochen nach Kenntnisnahme der Entscheidung bei dem Leiter einzulegen, der die Entscheidung getroffen hat. Über die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach ihrem Eingang zu entscheiden. Wird der Beschwerde nicht oder nicht in vollem Umfang stattgegeben, ist sie innerhalb dieser Frist dem Entscheidungsbefugten gemäß Abs. 6 zuzuleiten. Der Beschwerdeführer ist davon zu informieren. Der Entscheidungsbefugte hat innerhalb weiterer vier Wochen endgültig zu entscheiden. Kann in Ausnahmefällen eine Entscheidung innerhalb der Frist nicht getroffen werden, ist rechtzeitig ein Zwischenbescheid unter Angabe der Gründe sowie des voraussichtlichen Entscheidungstermins zu geben. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Die für die Beschwerdeentscheidung Zuständigen können die Durchführung auferlegter Maßnahmen bis zur endgültigen Entscheidung aussetzen. Die Beschwerde gegen eine Entscheidung, mit der eine Erlaubnis zurückgenommen wird, hat aufschiebende Wirkung. Entscheidungsbefugte sind 1. die Bezirksärzte bzw. die Bezirkstierärzte bei Beschwerden gegen Entscheidungen der Kreisärzte bzw. der Kreistierärzte,

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2.

der zuständige Leiter im Ministerium für Gesundheitswesen bei Beschwerden gegen Entscheidungen der Direktoren der wissenschaftlichen Einrichtungen gemäß § 19 Abs. 3. Entscheidungen, die Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin betreffen, sind im Einvernehmen mit dem zuständigen Leiter im Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft zu treffen, 3. der Minister für Gesundheitswesen bei Beschwerden gegen Entscheidungen der Bezirksärzte und des zuständigen Leiters im Ministerium für Gesundheitswesen, 4. der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft bei Beschwerden gegen Entscheidungen der Bezirkstierärzte und des zuständigen Leiters im Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. (7) Die Beschwerdeentscheidung ist zu begründen und dem Beschwerdeführer auszuhändigen oder zuzustellen. Strafbestimmungen § 22. (1) Wer vorsätzlich Arzneimittel entgegen den Bestimmungen dieses Gesetz l. herstellt, be- oder verarbeitet, erwirbt, besitzt, aufbewahrt oder in sonstiger Weise mit ihnen umgeht, 2. verabreicht, abgibt, sich oder einem anderen beschafft oder in den Verkehr bringt und dadurch fahrlässig eine unmittelbare Gefahr für das Leben oder die Gesundheit von Menschen verursacht, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. (2) Wer durch die Handlung vorsätzlich eine unmittelbare Gefahr, für das Leben oder die Gesundheit von Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (3) Wer durch die Handlung gemäß Abs. 1 fahrlässig einen erheblichen Gesundheitsschaden oder den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren bestraft. (4) Der Versuch nach Abs. 2 ist strafbar. § 23. (l) Wer fahrlässig eine im § 22 Abs. 1 genannte Handlung begeht und dadurch einen erheblichen Gesundheitsschaden eines Menschen fahrlässig verursacht, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Wurde der Tod eines Menschen fahrlässig verursacht, ist auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder auf Verurteilung auf Bewährung zu erkennen. (2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt vor, wenn 1. mehrere Menschen getötet werden oder 2. die fahrlässige Handlung auf einer rücksichtslosen Verletzung der Bestimmungen dieses Gesetzes beruht oder der Täter seine Sorgfaltspflichten

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im gesellschaftlichen Zusammenleben in besonders verantwortungsloser Weise verletzt. § 24. (1) Wer vorsätzlich eine im § 22 Abs. 1 genannte Handlung begeht und dadurch fahrlässig Verluste an Tierbeständen in wirtschaftlich bedeutendem Umfang verursacht, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. (2) Wer durch die Handlung gemäß Abs. 1 vorsätzlich Verluste an Tierbeständen in wirtschaftlich bedeutendem Umfang verursacht, wird mit Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (3) Wer fahrlässig eine im § 22 Abs. 1 genannte Handlung begeht und dadurch die beschriebenen Folgen gemäß Abs. l fahrlässig verursacht, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. (4) Der Versuch nach Abs. 2 ist strafbar. § 25. Ordnungsstrafbestimmungen (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig 1. Arzneimittel für andere herstellt, vorrätig hält, abgibt oder sonst behandelt, obwohl er die auf Grund des § 6 erforderliche Erlaubnis nicht besitzt, 2. Arzneimittel entgegen den Bestimmungen der §§ 7 und 10 in den Verkehr bringt, 3. Arzneimittel entgegen den Bestimmungen der §§ 11 bis 13 verordnet, abgibt oder in sonstiger Weise mit ihnen umgeht, 4. Arzneimittelinformation oder Werbung für Arzneimittel entgegen den Bestimmungen des § 16 betreibt oder 5. die Durchführung von Kontrollen, die Einsichtnahme in Unterlagen, die Erteilung von Auskünften oder die Probenahme von Arzneimitteln behindert oder verweigert oder Auflagen gemäß § 19 Absätze 2 und 3 nicht nachkommt, kann mit Verweis oder Ordnungsstrafe von 10 M bis 500 M belegt werden. (2) Ebenso kann zur Verantwortung gezogen werden, wer als Betriebsleiter oder leitender Mitarbeiter eines Betriebes oder einer Einrichtung vorsätzlich oder fahrlässig eine Handlung nach Abs. 1 Ziffern 1, 2, 4 oder 5 zuläßt. (3) Eine Ordnungsstrafe bis zu l 000 M kann ausgesprochen werden, wenn bei einer vorsätzlichen Handlung nach Abs. 1 1. ein größerer Schaden verursacht wurde oder hätte verursacht werden können, 2. die gesellschaftlichen Interessen grob mißachtet wurden, 3. die staatliche oder öffentliche Ordnung und Sicherheit erheblich beeinträchtigt wurden oder 4. sie aus Vorteilsstreben oder wiederholt innerhalb von zwei Jahren begangen und mit Ordnungsstrafe geahndet wurde.

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(4) Die Durchführung des Ordnungsstrafverfahrens obliegt dem Bezirksarzt oder dem Kreisarzt, bei Zuwiderhandlungen im Bereich des Veterinärwesens dem Bezirkstierarzt oder dem Kreistierarzt. Sofern die Ordnungswidrigkeit von einem Betriebsleiter oder von einem leitenden Mitarbeiter eines Herstellers von Arzneimitteln begangen wurde, obliegt die Durchführung des Ordnungsstrafverfahrens dem Direktor des Instituts für Arzneimittelwesen der DDR oder dem Direktor des Staatlichen Veterinärmedizinischen Prüfungsinstituts. (5) Für die Durchführung des Ordnungsstrafverfahrens und den Ausspruch von Ordnungsstrafmaßnahmen gilt das Gesetz vom 12. Januar 1968 zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWG – (GBl. I Nr. 3 S. 101). § 26. Folgebestimmungen Der Ministerrat, der Minister für Gesundheitswesen sowie der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft erlassen die zur Durchführung dieses Gesetzes erforderlichen Rechtsvorschriften. § 27. Inkrafttreten und Aufhebung von Rechtsvorschriften (1) Dieses Gesetz tritt am 1. Juni 1967 in Kraft. (2) Gleichzeitig treten außer Kraft: 1. Gesetz vom 5. Mai 1964 über den Verkehr mit Arzneimitteln – Arzneimittelgesetz – (GBl. I Nr. 7 S. 101), 2. Ziffer 40 der Anlage zum Gesetz vom 11. Juni 1966 zur Anpassung von Strafbestimmungen und Ordnungsstrafbestimmungen – Anpassungsgesetz – (GBl. I Nr. 11 S. 242), 3. Ziffern 21 und 22 der Anlage zur Anordnung vom 12. Juni 1968 zur Anpassung der geltenden Straf- und Ordnungsstrafhinweise – Anpassungsanordnung – (GBl. II Nr. 62 S. 400), 4. Ziffer 6 der Anlage zum Gesetz vom 24. Juni 1971 über die Neufassung von Regelungen über Rechtsmittel gegen Entscheidungen staatlicher Organe (GBl. I Nr. 3 S. 49), 5. Erste Durchführungsbestimmung vom 15. Mai 1964 zum Arzneimittelgesetz (GBl. II Nr., 56 S. 465), 6. Zweite Durchführungsbestimmung vom 15. Mai 1964 zum Arzneimittelgesetz – Gesundheitspflegemittel – (GBl. II Nr. 56 S. 502), 7. Dritte Durchführungsbestimmung vom 13. Juli 1967 zum Arzneimittelgesetz – Medizintechnische Erzeugnisse – (GBl. II Nr. 86 S. 641), 8. Vierte Durchführungsbestimmung vom 22. Februar 1968 zum Arzneimittelgesetz (GBl. II Nr. 25 S. 109), 9. Fünfte Durchführungsbestimmung vom 26. September 1968 zum Arzneimittelgesetz – Standardisierte Laboratoriumsmethoden – (GBl. II Nr. 115 S. 908), 10. Sechste Durchführungsbestimmung vom 16. August 1976 zum Arzneimittelgesetz – Medizintechnische Erzeugnisse – (GBl. I Nr. 32 S. 405),

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11. Siebente Durchführungsbestimmung vom 16. Dezember 1969 zum Arzneimittelgesetz – Staatliche Prüfung von Seren, Impfstoffen und anderen Arzneimitteln – (GBl. II 1970 Nr. 6 S. 27), 12. Achte Durchführungsbestimmung vorn 6. September 1971 zum Arzneimittelgesetz – Gesundheitspflegemittel – (GBl. II Nr. 66 S. 573), 13. Neunte Durchführungsbestimmung vom 7. Juli 1972 zum Arzneimittelgesetz – Medizinalfuttermittel – (GBl. II Nr. 50 S. 563), 14. Zehnte Durchführungsbestimmung; vom 19. Februar 1973 zum Arzneimittelgesetz – Radioaktive Arzneimittel – (GBl. l Nr. 11 S. 103), 15. Elfte Durchführungsbestimmung vom 7. März 1974 zum Arzneimittelgesetz – Gesundheitspflegemittel – (GBl. 1 Nr. 19 S. 185), 16. Zwölfte Durchführungsbestimmung vom l7. Mai 1976 zum Arzneimittelgesetz – Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin – (GBl. I Nr. 17 S. 248), 17. Anordnung vom 13. Oktober 1961 zur Verschreibung von Arzneimitteln (GBl. II Nr. 70 S. 470), 18. Sechste Durchführungsbestimmung vom 18. Februar 1969 zur Apothekenordnung (GBl. II Nr. 27 S. 177), 19. Anordnung vom 26, Juli 1963 über das Arzneibuch der DDR (GBl. l Nr. 23 S. 234).

Anlage zu vorstehendem Gesetz 1. 2.

Begriffsbestimmungen Stoffe: Chemische Elemente oder chemische Verbindungen oder Naturerzeugnisse in unbearbeitetem oder bearbeitetem Zustand. Zubereitungen: Mischungen, Lösungen, Auszüge oder andere aus Stoffen gemäß Ziff. 1 hergestellte Erzeugnisse, in denen diese Stoffe noch ganz oder teilweise enthalten sind. Zubereitungen sind auch a) Arzneifertigwaren b) Standardrezepturen c) Arzneien. Arzneifertigwaren sind Arzneimittel gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes, die in einer abgabefertigen Packung des Herstellers über Versorgungsbetriebe in den Verkehr gebracht und vorrätig gehalten werden. Standardrezepturen sind Arzneimittel gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes, die nach verbindlichen Vorschriften in Einrichtungen des Apothekenwesens hergestellt werden und in abgabefertiger Packung vorrätig gehalten werden dürfen.

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3.

4.

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Arzneien sind Arzneimittel gemäß § 5 Abs. l des Gesetzes, die auf ärztliche, zahnärztliche oder tierärztliche Verordnung nach einer individuellen Rezeptur in Apotheken zur Abgabe an einen Verbraucher zubereitet werden. Arzneimittel gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes: Solche Arzneimittel sind auch a) antigenhaltige, antikörperhaltige, Lymphozyten- und Blutzubereitungen, soweit sie keine Labordiagnostika sind, b) Gewebezubereitungen, c) radioaktive Arzneimittel, soweit sie keine Labordiagnostika oder keine umschlossenen Strahlenquellen sind, d) Desinfektionsmittel zur Anwendung am menschlichen oder tierischen Körper. Antigenhaltige Zubereitungen sind Impfstoffe, Testantigene, Allergene zur Testung und Desensibilisierung sowie andere Erzeugnisse, die Antigene enthalten. Antikörperhaltige Zubereitungen sind Erzeugnisse, die Immunglobuline enthalten. Lymphozytenzubereitungen sind Erzeugnisse, die sensibilisierte Lymphozyten oder andere Reaktionsprodukte der zellvermittelten Immunität enthalten. Blutzubereitungen sind Erzeugnisse, die zelluläre und/oder plasmatische Bestandteile des Blutes enthalten, mit Ausnahme von antigenhaltigen, antikörperhaltigen und Lymphozytenzubereitungen. Gewebezubereitungen sind Erzeugnisse, die von Menschen oder Tieren gewonnene Gewebe enthalten, mit Ausnahme von Blutzubereitungen. Radioaktive Arzneimittel sind Erzeugnisse, die radioaktive Nuklide oberhalb der in den dafür geltenden Rechtsvorschriften festgelegten Freigrenzen enthalten und die dazu bestimmt sind, durch Ausnutzung der ionisierenden Strahlung für diagnostische oder therapeutische Zwecke angewendet zu werden. Desinfektionsmittel sind Stoffe und Zubereitungen, die dazu bestimmt sind, durch Abtöten oder Inaktivieren von Krankheitserregern deren Übertragung zu verhindern. Den Arzneimitteln gleichgestellte Erzeugnisse a) gemäß § 5 Abs. 2 Ziff. 1 bzw. 3 des Gesetzes: zum zeitweiligen oder dauernden Verbleib im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmte Gegenstände und Materialien; wie Verbandstoffe, Pflaster, chirurgische Nähmaterialien, dentaltechnische Werk- und Hilfsstoffe, Endoprothesen, Katheder, Kanülen, umschlossene Strahlenquellen, b) gemäß § 5 Abs. 2 Ziff. 2 bzw. 3 des Gesetzes: Labordiagnostika einschließlich der zur Laboratoriumsdiagnostik bestimmten antigenhaltigen, antikörperhaltigen, Lymphozyten- und Blutzubereitungen und radioaktiven Arzneimittel sowie Desinfektionsmittel, die zur Anwendung außerhalb des menschlichen oder tierischen Körpers bestimmt sind, c) gemäß § 5 Abs. 2 Ziff. 4 des Gesetzes:

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5.

6.

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zur Anwendung außerhalb des menschlichen oder tierischen Körpers bestimmte Gegenstände und Materialien, wie Infusions- und Blutdetoxikationssysteme, d) gemäß § 5 Abs. 2 Ziff. 5. des Gesetzes: zur Herstellung von Anwendungsformen der Arzneimittel bestimmte Stoffe und Zubereitungen, wie Lösungsmittel, Trägerstoffe, Lösungsvermittler, Konservierungsmittel, Stabilisatoren, Farb- und Geschmacksstoffe. Labordiagnostika sind Stoffe und Zubereitungen zur Durchführung von Untersuchungen, die dazu bestimmt sind, außerhalb des menschlichen oder tierischen Körpers die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder Krankheitserreger erkennen zu lassen. Charge: Die Menge eines Arzneimittels, die als Ergebnis eines zeitlich begrenzten Herstellungsprozesses hergestellt wurde und von einheitlicher Beschaffenheit ist. Staatliche Freigabe: Die Freigabe von Arzneimitteln durch eine mit der Zulassung des Arzneimittels festgelegte wissenschaftliche Einrichtung.

Das vorstehende, von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am siebenundzwanzigsten November neunzehnhundertsechsundachtzig beschlossene Gesetz wird hiermit verkündet. Berlin, den siebenundzwanzigsten November neunzehnhundertsechsundachtzig Der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik E. H o n e c k e r

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Erste Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz – Prüfung, Zulassung und Kennzeichnung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin – vom 1. Dezember 1986 Auf Grund des § 26 des Arzneimittelgesetzes vom 27. November 1986 (GBl. I Nr. 37 S. 473) wird im Einvernehmen mit den Leitern der zuständigen zentralen Staatsorgane und in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes folgendes bestimmt: Abschnitt I Prüfung von Arzneimitteln § 1. Umfang der Prüfung Die für den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit erforderliche Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin umfaßt die pharmazeutische Prüfung, die pharmakologisch-toxikologische Prüfung und die Prüfung am Menschen. Prüfungen von Arzneimitteln sind nach den Richtlinien des Ministers für Gesundheitswesen, die in Verfügungen und Mitteilungen veröffentlicht werden, vorzunehmen. Prüfungen von Arzneimitteln dürfen nur in Betrieben und Einrichtungen durchgeführt werden, die für die jeweilige Aufgabenstellung die notwendigen personellen und sachlichen Voraussetzungen besitzen. § 2. Pharmazeutische Prüfung Die pharmazeutische Prüfung von Arzneimitteln hat zu gewährleisten, daß die pharmakologisch-toxikologische Prüfung und die Prüfung am Menschen mit Stoffen und Zubereitungen durchgeführt werden, die qualitativ und quantitativ charakterisiert sind und die erforderliche Qualität aufweisen. Im Rahmen der pharmazeutischen Prüfung von den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen sind zur qualitativen und quantitativen Charakterisierung auch materialtechnische Prüfungen, Funktionsprüfungen und andere spezifische, auf den Verwendungszweck des Erzeugnisses gerichtete Prüfungen durchzuführen. § 3. Pharmakologisch-toxikologische Prüfung Die pharmakologisch-toxikologische Prüfung hat das Wirkungsspektrum des Arzneimittels einschließlich seiner Verträglichkeit zu charakterisieren. Dazu gehören Prüfungen am Tier und an anderen biologischen Systemen. Soweit möglich, sind Prüfungen am Tier durch geeignete alternative Untersuchungen zu ersetzen. Die Charakterisierung des Wirkungsspektrums von antigen- und antikörperhaltigen Zubereitungen und von Lymphozytenzubereitungen ist durch eine immunologisch-toxikologische Prüfung zu erbringen. Im Rahmen der pharmakologischtoxikologischen Prüfung von den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen, die

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im oder am menschlichen Körper zur Anwendung kommen, sind die Verträglichkeit und die funktionelle Eignung zu prüfen. Prüfung von Arzneimitteln am Menschen § 4. Aufgabe der Prüfung (1) Die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen hat den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit bei bestimmungsgemäßer Anwendung zu erbringen. Aufgabe der Prüfung am Menschen ist auch der Nachweis von Vorteilen gegenüber den wissenschaftlich anerkannten und in der medizinischen Praxis angewendeten Betreuungsmaßnahmen. Darüber hinaus sind alle weiteren für die Anwendung des Arzneimittels notwendigen Parameter zu ermitteln. (2) Für die den Arzneimitteln gleichgestelltem Erzeugnisse die im oder am menschlichen Körper zur Anwendung kommen, sind im Rahmen der Prüfung am Menschen die funktionelle Eignung und Gebrauchsfähigkeit nachzuweisen. Für die den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnisse, die außerhalb des menschlichen Körpers zur Anwendung kommen, sind die funktionelle Eignung und Gebrauchsfähigkeit unter den Bedingungen ihrer vorgesehenen Anwendung nachzuweisen. (3) Die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen ist in drei Stufen durchzuführen, um das Risiko für die Probanden so gering wie möglich und stets kontrollierbar zu halten. Die Stufe II bzw. die Stufe III dürfen erst dann durchgeführt werden, wenn die Stufe I bzw. die Stufe II mit positivem Ergebnis abgeschlossen wurden. Weitere Voraussetzungen für die Durchführung der Prüfung am Menschen sowie Aufgabenstellung und Umfang der einzelnen Stufen werden in den Richtlinien gemäß § 1 geregelt. § 5. Genehmigung (1) Die Genehmigung des Ministeriums für Gesundheitswesen für die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen ist für jede Stufe der Prüfung erforderlich. Die Prüfung der funktionellen Eignung und Gebrauchsfähigkeit von den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen; die außerhalb des menschlichen Körpers zur Anwendung kommen, bedarf ebenfalls der Genehmigung des Ministeriums für Gesundheitswesen. Das Ministerium für Gesundheitswesen entscheidet auch über Ausnahmen von den Festlegungen gemäߧ 4 Abs. 3. (2) Die Genehmigung ist vom Hersteller beim Sekretariat des Zentralen Gutachterausschusses für Arzneimittelverkehr – Sektion Humanmedizin – (nachfolgend ZGA genannt) zu beantragen. Ausländische Hersteller beantragen die Genehmigung über das Beratungsbüro beim Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (lmport). Mit dem Antrag sind der Prüfplan und alle Unterlagen einzureichen, die belegen, daß die für den Beginn der jeweiligen Stufe der Prüfung von Arzneimitteln am Menschen geforderten Voraussetzungen erfüllt sind. Für die Prüfung von an-

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timikrobiell wirksamen Arzneimitteln am Menschen ist zusätzlich eine Einsatzgenehmigung des Ministeriums für Gesundheitswesen erforderlich. (3) Die Genehmigung für die Prüfung von radioaktiven Arzneimitteln am Menschen hat die Zustimmung des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz zur Voraussetzung. Für diese sind vom Hersteller die zur Einschätzung des Strahlenschutzes des Personals und der Bevölkerung erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Die Zustimmung ist vom Hersteller dem Sekretariat des ZGA einzureichen. Das gilt auch für die Anwendung von mit Radionukliden markierten Arzneimitteln zur Untersuchung des pharmakokinetischen Verhaltens. (4) Die eingereichten Unterlagen sind von 2 Gutachtern, die nicht an der Entwicklung des Arzneimittels beteiligt sind, zu beurteilen. Die Gutachter sind vom Sekretariat des ZGA zu beauftragen. Sie haben ein Gutachten innerhalb von 4 Wochen zu erstatten. Der Antrag ist vom ZGA in Gegenwart der beiden Gutachter zu beraten. (5) Das Genehmigungsverfahren soll innerhalb von 8 Wochen nach Eingang der vollständigen Unterlagen abgeschlossen werden. § 6. Vereinbarung Auf der Grundlage der Genehmigung des Ministeriums für Gesundheitswesen ist zwischen dem Hersteller und den an der Prüfung beteiligten Einrichtungen eine Vereinbarung über die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen oder über die Prüfung der funktionellen Eignung und Gebrauchsfähigkeit abzuschließen. Für ausländische Hersteller schließt das Beratungsbüro beim Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (Import) diese Vereinbarung ab. Für die Planung, Koordinierung und Auswertung der Prüfung ist ein Leiter der Prüfung festzulegen. Die Vereinbarung ist durch das Sekretariat des ZGA zu bestätigen. § 7. Durchführung (1) Die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen ist mit großer Sorgfalt und Umsicht durchzuführen. Die Prüfung muß für die Probanden so schonend und risikoarm wie möglich, zumutbar und nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft vertretbar sein. Notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen sind zu gewährleisten. Der Gesundheitszustand der Probanden ist vor Beginn und nach Abschluß der Prüfung durch umfassende medizinische Untersuchungen zu beurteilen und zu dokumentieren. (2) Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung ist der Proband auch darüber zu informieren, daß er materiell sichergestellt ist, falls im Zusammenhang mit der Prüfung von Arzneimitteln ein Schaden eintreten sollte. Die Aufklärung über Prüfungen in den Stufen I und II sowie über Prüfungen in der Stufe III, die zum Nachweis einer prophylaktischen Wirksamkeit oder außerhalb einer für den Probanden notwendigen diagnostischen oder therapeutischen Zielstellung durchgeführt werden, ist zu protokollieren. Das Protokoll hat alle Informatio-

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nen, die Gegenstand der Aufklärung waren, sowie die Einverständniserklärung des Probanden zu enthalten. Es ist vom Arzt und vom Probanden zu unterschreiben.

(1)

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§ 8. Einschränkung des Probandenkreises Die Prüfung von Arzneimitteln an handlungsunfähigen oder in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkten Personen ist nur zum Nachweis der Wirksamkeit sowie für spezielle pharmakokinetische Untersuchungen zulässig, wenn die hierbei zu ermittelnden Daten aus medizinisch-wissenschaftlichen Gründen nur mit diesen Personen erarbeitet werden können und für eine breite Anwendung des Arzneimittels erforderlich sind. Prüfungen von Arzneimitteln an handlungsunfähigen oder in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkten volljährigen Personen sind erst ab Stufe II zulässig. Prüfungen von Arzneimitteln an Kindern und Jugendlichen sind erst ab Stufe III zulässig. Das gilt nicht für die Prüfung von Impfstoffen, die zur Anwendung im Kindesalter bestimmt sind, wenn die zu ermittelnden Ergebnisse aus medizinisch-wissenschaftlichen Gründen auch in den Stufen I und II nur mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet werden können. Für die Prüfung von Arzneimitteln an Personen gemäß Abs. 1 ist das Einverständnis der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters erforderlich. Für die Prüfung von Arzneimitteln an Personen, die sich aus physischen oder psychischen Gründen in einem ihre Entscheidungsfähigkeit einschränkenden oder ausschließenden Zustand befinden, gilt Abs. 1. Prüfungen von Arzneimitteln an Schwangeren und Stillenden sind nur ab Stufe III und unter den im Abs. 1 genannten Kriterien zulässig. Die Anwendung von mit Radionukliden markierten Arzneimitteln zur Untersuchung des pharmakokinetischen Verhaltens ist unzulässig. Die Prüfung von Arzneimitteln an Ausländern, Strafgefangenen und Verhafteten sowie an Personen, die sich auf Grund einer Anordnung oder eines gerichtlichen Beschlusses gemäß den hierfür geltenden Rechtsvorschriften in einer Einrichtung des Gesundheits- und Sozialwesens befinden, ist unzulässig.

§ 9. Freistellung von Probanden (1) Probanden, die in einem Arbeitsrechtsverhältnis stehen und bei denen die Prüfung von Arzneimitteln im Rahmen einer krankheitsbezogenen medizinischen Betreuung durchgeführt wird, sind zu den ärztlich festgelelegten Konsultationsterminen entsprechend den arbeitsrechtlichen Bestimmungen von der Arbeit freizustellen. (2) Probanden, die in einem Arbeitsrechtsverhältnis stehen und bei denen die Prüfung von Arzneimitteln außerhalb einer krankheitsbezogenen medizinischen Betreuung durchgeführt wird, sind zu den ärztlich festgelegten Untersuchungsterminen von der Arbeit freizustellen. Für die ausgefallene Arbeitszeit wird entsprechend den arbeitsrechtlichen Bestimmungen ein Betrag er-

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stattet, der dem Durchschnittslohn entspricht. Notwendige Fahrkosten, die dem Probanden im Zusammenhang mit den ärztlichen Untersuchungen entstehen, sind in der nachgewiesenen Höhe zu erstatten. (3) Probanden, bei denen die Prüfung von Arzneimitteln außerhalb einer krankheitsbezogenen medizinischen Betreuung durchgeführt wird, haben Anspruch auf eine Entschädigung. (4) Die Erstattung des Durchschnittslohnes und der Fahrkosten gemäß Abs. 2 sowie die Zahlung der Entschädigung gemäß Abs. 3 wird durch die Einrichtung vorgenommen, in der die Prüfung von Arzneimitteln durchgeführt wird. Abschnitt II Zulassung von Arzneimitteln § 10. Antrag (l) Die staatliche Zulassung von Arzneimitteln ist vom Hersteller beim Sekretariat des ZGA zu beantragen. Ausländische Hersteller stellen den Antrag über das Beratungsbüro beim Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (Import). (2) Der Antrag hat folgende Angaben zu enthalten: 1. Name und Anschrift des Herstellers, 2. Bezeichnung des Arzneimittels, 3. vollständige Zusammensetzung des Arzneimittels nach Art und Menge, bei den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen weitere das Erzeugnis charakterisierende Parameter, 4. Wirkungen, 5. Anwendungsgebiete, G. Kontraindikationen, 7. Nebenwirkungen, 8. Wechselwirkungen, 9. Anwendungsform, 10. Anwendungsart, 11. Dosierung, 12. Packungsgrößen, 13. vom zuständigen Preisorgan bestätigte Preisobergrenze (IAP) oder staatlich bestätigten Preis (IAP/EVP), 14. Verwendbarkeitsdauer, 15. Aufbewahrungsvorschriften, 16. Vorschlag zu Abgabefestlegungen, 17. Begründung des medizinischen Bedürfnisses, 18. geschätzten Jahresbedarf einschließlich Grundlage der Schätzung, 19. vorgesehene Produktionshöhe, 20. vorgesehenen Termin der ersten Produktionsauslieferung. (3) Wird der Antrag für ein radioaktives Arzneimittel gestellt, sind in die geforderten Angaben gemäß Abs. 2 spezifische Aussagen und Daten hinsichtlich des Radionuklids aufzunehmen. Außerdem ist die Strahlenschutzzulassung

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des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz für den Strahlenschutz des Personals und der Bevölkerung vorzulegen. (4) Dem Antrag auf Zulassung sind folgende Anlagen beizufügen: 1. pharmazeutisches Gutachten des Instituts für Arzneimittelwesen der DDR (nachfolgend IfAR genannt) oder gemeinsames Gutachten des IfAR und des Staatlichen Kontrollinstituts für immunbiologische Arzneimittel des Zentralinstituts für Hygiene, Mikrobiologie und Epidemiologie der DDR, das Voraussetzung für die Durchführung der Stufe III der Prüfung am Menschen oder der Prüfung der funktionellen Eignung und Gebrauchsfähigkeit war, sowie Ergebnisse der Haltbarkeitsprüfung, 2. Gutachten über die pharmakologisch-toxikologische Prüfung oder über die immunologisch-toxikologische Prüfung, 3. Gutachten über die Stufen 1, II und III der Prüfung am Menschen oder über die Prüfung der funktionellen Eignung und Gebrauchsfähigkeit, 4. Einschätzung der Eigenschaften des Arzneimittels im Vergleich zu international bekannten Arzneimitteln ähnlicher Struktur und gleicher oder vergleichbarer Anwendungsgebiete auf der Grundlage wissenschaftlicher Veröffentlichungen, 5. Entwurf des Textes für die innere und äußere Umhüllung des Arzneimittels und, soweit vorgesehen, der Packungsbeilage, 6. Entwurf des Informationsmaterials für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker, 7. bei Arzneimitteln ausländischer Hersteller ein Zertifikat über die Registrierung im Herstellerland, eine Übersicht über den Stand der Registrierung in anderen Ländern sowie eine Bestätigung des Herstellers, daß der Export in die DDR von Rechten Dritter frei ist. (5) Bei der Beantragung der Zulassung von Standardrezepturen sowie von Stoffen und Zubereitungen, die zur Verarbeitung in Einrichtungen des Apothekenwesens bestimmt sind, ist der Umfang der einzureichenden Unterlagen vom Sekretariat des ZGA festzulegen. Anträge auf Zulassung von Standardrezepturen sind vom IfAR zu stellen. § 11. Zulassungsverfahren (1) Die mit dem Antrag auf staatliche Zulassung eingereichten Unterlagen sind von 2 Gutachtern, die nicht an der Entwicklung des Arzneimittels beteiligt waren, zu beurteilen. Die Gutachter sind vom Sekretariat des ZGA zu beauftragen. Sie haben ein Gutachten innerhalb von 4 Wochen zu erstatten. Der Antrag ist vom ZGA in Gegenwart der beiden Gutachter zu beraten. Durch den ZGA ist festzustellen, ob alle Voraussetzungen für die Zulassung erfüllt sind. (2) Der ZGA empfiehlt dem Ministerium für Gesundheitswesen, das Arzneimittel zuzulassen oder die Zulassung zu versagen. Die Empfehlung des ZGA zur Zulassung hat neben der Bezeichnung und Zusammensetzung des Arzneimittels insbesondere folgende Aussagen zu enthalten: 1. zuzulassende Anwendungsgebiete,

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2. 3.

Ausnahme von der Verschreibungspflicht, Anwendungsvorschriften, Anwendungsbeschränkungen und sonstige im Zusammenhang mit der Anwendung zu beachtende Festlegungen, 4. Zulässigkeit der Abgabe von Arzneimitteln außerhalb von Apotheken in Spezialgeschäften und anderen Einzelhandelseinrichtungen gemäß § 9 der Dritten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 zum Arzneimittelgesetz – Anwendung von Arzneimitteln in der Humanmedizin – (GBl. I Nr. 37 S. 488), 5. Zulässigkeit der Abgabe von Stoffen und Zubereitungen, die zur Verarbeitung in Einrichtungen des Apothekenwesens zugelassen sind, in unverarbeiteter Form an Verbraucher. Weiterhin kann der ZGA empfehlen, das Arzneimittel der staatlichen Freigabe zu unterstellen und die dafür zuständige wissenschaftliche Einrichtung festzulegen, die Zulassung mit bestimmten Auflagen zu verbinden oder von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig zu machen. (3) Das Zulassungsverfahren soll innerhalb von 4 Monaten nach Eingang der vollständigen Unterlagen abgeschlossen werden.

(1) (2)

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§ 12. Eintragung in das Arzneimittelregister Das vom Ministerium für Gesundheitswesen zugelassene Arzneimittel wird vom IfAR in das Arzneimittelregister eingetragen. Voraussetzungen für die Eintragung sind: 1. pharmazeutisches Gutachten des IfAR oder gemeinsames Gutachten des IfAR und des Staatlichen Kontrollinstituts für immunbiologische Arzneimittel des Zentralinstituts für Hygiene. Mikrobiologie und Epidemiologie der DDR, in dem nachgewiesen wird, daß das industriemäßig für die Versorgung produzierte Arzneimittel in der Qualität den am Menschen oder im Rahmen der Prüfung der funktionellen Eignung und Gebrauchsfähigkeit geprüften Mustern entspricht, 2. Muster des gedruckten Informationsmaterials für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker, 3. Mitteilung über den Abschluß des Liefervertrages. Der Hersteller erhält durch das IfAR den Zulassungsbescheid, der die vom Ministerium für Gesundheitswesen getroffenen Festlesungen enthält. Die staatliche Zulassung von radioaktiven Arzneimitteln beinhaltet gleichzeitig die Strahlenschutzzulassung des Arzneimittels für den Strahlenschutz des Patienten. Entscheidungen des Ministeriums für Gesundheitswesen über die Versagung der Zulassung sind vom IfAR dem Hersteller mitzuteilen.

§ 13. Nachbeobachtung (1) Arzneimittel unterliegen nach der Zulassung einer Nachbeobachtung im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit. Zur Beurteilung der Anwendungsergebnisse, insbesondere hinsichtlich neuer Erkenntnisse über Wirkungen,

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Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und Kontraindikationen sind systematische Untersuchungen durchzuführen. Daneben sind alle verfügbaren Daten über die Anwendung der Arzneimittel auszuwerten. (2) Die Verantwortung für die Nachbeobachtung hat der Hersteller. Die Nachbeobachtung erstreckt sich auf einen Zeitraum von 5 Jahren, wenn vom Ministerium für Gesundheitswesen nichts anderes festgelegt wurde. Über diesen Zeitraum hinaus ist der Hersteller verpflichtet, die Anwendungsergebnisse der Arzneimittel ständig zu beobachten. (3) Das Ministerium für Gesundheitswesen kann auf Empfehlung des ZGA für die Nachbeobachtung des Arzneimittels gegenüber dem Hersteller Vorgaben festlegen, die vom IfAR dem Hersteller mitgeteilt werden. (4) Der Hersteller hat dem IfAR über die Ergebnisse der Nachbeobachtung zu berichten. Die Ergebnisse sind durch den ZGA auszuwerten. § 14. Änderung der Zulassung (1) Änderungen der Zulassung eines Arzneimittels sind beim Sekretariat des ZGA unter Angabe der Gründe zu beantragen. Dem Antrag sind die entsprechenden Gutachten beizufügen. Die Beratung des Antrages und die Entscheidung über den Antrag richten sich nach den §§ 11 und 12. (2) Die für eine Änderung der zugelassenen bestimmungsgemäßen Anwendung eines Arzneimittels erforderliche Prüfung am Menschen bedarf der Genehmigung gemäß § 5.

(1) (2)

(3)

(4)

§ 15. Zurücknahme der Zulassung Die Zulassung eines Arzneimittels wird zurückgenommen, wenn Tatsachen bekannt werden, die eine Versagung der Zulassung rechtfertigen würden. Anträge auf Zurücknahme der Zulassung sind beim Sekretariat des ZGA unter Angabe der Gründe einzureichen. Nach Beratung im ZGA empfiehlt dieser dem Ministerium für Gesundheitswesen, die Zulassung des Arzneimittels zurückzunehmen oder die Zurücknahme der Zulassung zu versagen. Die Entscheidung des Ministeriums für Gesundheitswesen wird dem Hersteller, sofern der Antrag nicht von diesem gestellt wurde, auch dem Antragsteller mitgeteilt. Im Falle der Zurücknahme der Zulassung löscht das IfAR die Eintragung des Arzneimittels im Arzneimittelregister. Arzneimittel dürfen nach Zurücknahme der Zulassung noch innerhalb der Verwendbarkeitsdauer vorrätig gehalten und abgegeben werden, sofern in der Mitteilung gemäß Abs. 3 keine anderen Festlegungen getroffen wurden.

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Abschnitt III Kennzeichnung von Arzneimitteln § 16. Arzneifertigwaren (1) Arzneifertigwaren und den Arzneimitteln gleichgestellte Erzeugnisse müssen zur Kennzeichnung auf ihrer inneren und, soweit vorhanden, äußeren Umhüllung folgende Angaben enthalten: 1. Name des Arzneimittels; 2. Name des Herstellers; 3. deklarationspflichtige Bestandteile unter Verwendung der internationalen nicht schutzfähigen Bezeichnungen der Weltgesundheitsorganisation nach Art und Menge und weitere das Erzeugnis charakterisierende Parameter entsprechend dem Zulassungsbescheid; 4. Menge des lnhalts; 5. Anwendungsform; 6. Anwendungsart, bei Labordiagnostika den Aufdruck „Zur Labordiagnostik“; 7. Hauptanwendungsgebiet, nach Möglichkeit in deutscher Sprache; 8. Chargennummer. Diese besteht aus der Werkchargenbezeichnung, der Zahl des Herstellungsmonats und den beiden letzten Ziffern des Herstellungsjahres. Bei einer Verwendbarkeitsdauer unter 6 Monaten ist zusätzlich der Herstellungstag anzugeben. Bei einstelligen Zahlen ist eine Null voranzustellen. Herstellungstag, -monat und -jahr sind in arabischen Ziffern anzugeben; 9. Verwendbarkeitsdauer. Diese kann in der Form „Verwendbar bis ...“ oder in Verbindung mit dem aus der Chargennummer ersichtlichen Herstellungsdatum in der Form „... verwendbar“ angegeben werden. Dabei ist die Verwendbarkeitsdauer unter l Monat in Tagen, unter 2 Jahren in Monaten und ab 2 Jahren in Jahren anzugeben; 10. Aufbewahrungsvorschriften, Anwendungsvorschriften und Anwendungsbeschränkungen sowie sonstige im Zusammenhang mit der Anwendung zu beachtende Festlegungen entsprechend dem Zulassungsbescheid; 11. Endverbraucherpreis (EVP). Dieser ist als sechsstellige Ziffernfolge zu verschlüsseln. Die Zahl ist auf der Grundlage der kleinsten Währungseinheit zu bilden. Für jede fehlende Stelle wird eine Null vorangestellt; 12. von der Verschreibungspflicht ausgenommene Arzneimittel sind durch den Buchstaben „A“ vor dem EVP zu kennzeichnen; 13. Arzneimittel, die außerhalb von Apotheken in Spezialgeschäften gemäß § 9 Abs. 1 der Dritten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 zum Arzneimittelgesetz abgegeben werden dürfen, sind durch den Buchstaben „S“, sofern sie von der Verschreibungspflicht ausgenommen sind, durch die Buchstaben „AS“ vor dem EVP zu kennzeichnen;

248

(2)

(3) (4) (5)

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14. von der Verschreibungspflicht ausgenommene Arzneimittel, die außerhalb von Apotheken in anderen Einzelhandelseinrichtungen sowie auch in Spezialgeschäften gemäß § 9 Abs. 2 der Dritten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1906 zum Arzneimittelgesetz abgegeben werden dürfen, sind durch die Buchstaben „AE“ vor dem EVP zu kennzeichnen. Soweit eine äußere Umhüllung vorhanden ist, können auf der inneren Umhüllung die Angaben gemäß Abs. 1 Ziff. 10, mit Ausnahme der Aufbewahrungsvorschriften und Anwendungsbeschränkungen, sowie die Angaben gemäß Abs. l Ziffern 11 bis 14 entfallen. Weitere technologisch bedingte Abweichungen von den für die innere Umhüllung vorgeschriebenen Angaben sind zulässig, wenn diese in der Gütevorschrift festgelegt sind. Anwendungsvorschriften und sonstige im Zusammenhang mit der Anwendung zu beachtende Festlegungen gemäß Abs. l Ziff. 10 können auch ausschließlich auf einer Packungsbeilage angegeben werden. Die Kennzeichnung von Ampullen und Injektionsflaschen muß mindestens die im Abs. 1 Ziffern 1, 4, 8 und 9 genannten Angaben enthalten. Die Kennzeichnung der Stoffe und Zubereitungen, die zur Verarbeitung in Einrichtungen des Apothekenwesens zugelassen sind, hat Abs. l Ziffern 1 bis 4 und 8 bis 10 zu entsprechen. Für die Kennzeichnung radioaktiver Arzneimittel gelten gesonderte Vorschriften1.

§ 17. Standardrezepturen und Arzneien (1) Standardrezepturen sind wie Arzneifertigwaren mit Ausnahme der Angaben gemäß § 16 Abs. 1 Ziff. 3 zu kennzeichnen. (2) Labordiagnostika, die von Einrichtungen des Apothekenwesens hergestellt oder als Stoffe und Zubereitungen in unverarbeiteter Form abgegeben werden, sind gemäß § 16 Abs. 1 zu kennzeichnen. Bei Labordiagnostika, die nach dem Arzneibuch der DDR hergestellt werden, sind die Angaben gemäß § 16 Abs. 1 Ziff. 3 durch den Hinweis „Hergestellt nach AB(D. L.)-DDR“ zu ersetzen. (3) Arzneien müssen auf ihrer Umhüllung folgende Angaben enthalten: 1. Name der Apotheke, 2. Zusammensetzung nach Art und Menge, 3. Menge des Inhalts, 4. Gebrauchsanweisung, 5. Anwendungsform, 6. Anwendungsart,

1

TGL 25293 Ausg. 12.84 Radioaktive Stoffe; Offene radioaktive Stoffe; Kennzeichnung, Begleitpaß (Zertifikat)

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7.

bei Arzneien, die nicht zum Einnehmen bestimmt sind, mit Ausnahme von zur Infusion oder Injektion bestimmten Arzneien, den Hinweis „Nicht zum Einnehmen“, 8. Herstellungsdatum oder Chargennummer gemäß § 16 Abs. 1 Ziff. 8, 9. Verwendbarkeitsdauer gemäß § 16 Abs. l Ziff. 9, 10. Aufbewahrungsvorschriften und bei der Anwendung zu beachtende Vorschriften, 11. Sterilisationsverfahren bei zur Infusion oder Injektion bestimmten Arzneien, 12. Name des Patienten. (4) Die abgabefertigen Packungen von Stoffen und Zubereitungen, die in unverarbeiteter Form von Apotheken an Verbraucher abgegeben werden dürfen, sind wie Arzneien gemäß Abs. 3 Ziffern 1 bis 11 und, wenn sie von der Verschreibungspflicht ausgenommen sind, zusätzlich mit dem Buchstaben „A“ vor dem EVP zu kennzeichnen. (5) Für die Kennzeichnung gemäß den Absätzen 1 bis 4 sind Etiketten zu verwenden, die den Festlegungen und Mustern des Etikettenkataloges, der vom Zentralinstitut für Apothekenwesen und Medizintechnik herausgegeben wird, zu entsprechen haben. § 18. Kennzeichnung als Gift Stoffe und Zubereitungen, die zur Verarbeitung oder zur Abgabe in unverarbeiteter Form bestimmt sind. Labordiagnostika und Desinfektionsmittel müssen zusätzlich zu den Festlegungen gemäß den §§ 16 und 17 als Gift gekennzeichnet werden, wenn sie den Rechtsvorschriften über den Verkehr mit Giften unterliegen. Abschnitt IV Schlußbestimmung § 19. Diese Durchführungsbestimmung tritt am l. Juni 1987 in Kraft. Berlin, den l. Dezember 1986 Der Minister für Gesundheitswesen Prof. Dr. sc. med. M e c k l i n g e r

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Zweite Durchführungsbestimmung2 zum Arzneimittelgesetz – Herstellung und Qualitätssicherung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin und in der Veterinärmedizin – vom l. Dezember 1986 Auf Grund des § 26 des Arzneimittelgesetzes vom 27. November 1986 (GBl. I Nr. 37 S. 473) wird im Einvernehmen mit den Leitern der zuständigen zentralen Staatsorgane und in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes folgendes bestimmt: Abschnitt 1 Herstellung von Arzneimitteln § 1. Sachliche Voraussetzungen (1) Hersteller von Arzneimitteln müssen über geeignete Räumlichkeiten, Ausrüstungen und weitere für die Herstellung und Lagerung von Arzneimitteln notwendige sachliche Voraussetzungen verfügen. (2) Die Herstellung von Arzneimitteln unterliegt entsprechend den Rechtsvorschriften besonderen hygienischen Anforderungen. (3) Werden für die Gewinnung, Herstellung oder Prüfung von Arzneimitteln Tiere gehalten, richten sich die Anforderungen an die Haltung und veterinärmedizinische Überwachung nach den gemeinsamen Festlegungen des Ministeriums für Gesundheitswesen und des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. § 2. Personelle Voraussetzungen (1) Für die Ausübung einer Tätigkeit bei der Herstellung von Arzneimitteln sind die hygienischen Voraussetzungen entsprechend den Rechtsvorschriften zu erfüllen. (2) Der für die Herstellung von Arzneimitteln verantwortliche Produktionsleiter des Betriebes oder der Einrichtung muß über einen Hochschulabschluß in einer naturwissenschaftlichen, medizinischen, veterinärmedizinischen oder technischen Fachrichtung verfügen, die den Erfordernissen der jeweiligen Produktionsrichtung entspricht. Er muß ferner eine mindestens dreijährige praktische Tätigkeit in der Arzneimittelherstellung nachweisen. (3) Für die Herstellung von antigen- und antikörperhaltigen Zubereitungen, Blut-, Gewebe- und Lymphozytenzubereitungen muß der Produktionsleiter mindestens 3 Jahre auf dem Gebiet der Mikrobiologie, der Serologie oder des Blutspende- und Transfusionswesens tätig gewesen sein. Das gilt nicht für die 2

Erste Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 (GBl. I Nr. 37 S. 479)

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Herstellung von chirurgischen Nähmaterialien aus tierischem Gewebe. In Einrichtungen des Blutspende- und Transfusionswesens muß der Produktionsleiter Facharzt für Blutspende- und Transfusionswesen sein. (4) Der Produktionsleiter für die Herstellung radioaktiver Arzneimittel muß über eine zusätzliche Ausbildung auf dem Gebiet des Umgangs mit radioaktiven Stoffen verfügen.

(1)

(2)

(3) (4)

(5)

Staatliche Erlaubnis als Hersteller § 3. Die staatliche Erlaubnis als Hersteller von Arzneimitteln ist beim Institut für Arzneimittelwesen der DDR (nachfolgend IfAR genannt) zu beantragen. Die Anträge haben folgende Angaben zu enthalten: 1. Name und Anschrift des Herstellers, 2. Name des Leiters des Betriebes oder der Einrichtung, 3. Name des für die Arzneimittelherstellung verantwortlichen Produktionsleiters des Betriebes oder der Einrichtung mit Nachweis der erforderlichen personellen Voraussetzungen, 4. Name des Leiters der für die Qualitätssicherung der hergestellten Arzneimittel zuständigen Technischen Kontrollorganisation Pharmazie mit Nachweis der erforderlichen personellen Voraussetzungen, 5. Nachweis der zur Herstellung und Qualitätssicherung von Arzneimitteln erforderlichen sachlichen Voraussetzungen, 6. vorgesehenes Produktionsprogramm. Werden vom Hersteller die erforderlichen personellen Voraussetzungen gemäß den §§ 2 und 14 Abs. 3 nicht erfüllt, kann die Erlaubnis nur dann erteilt werden, wenn die qualitäts- und sachgerechte Herstellung von Arzneimitteln gewährleistet ist. Jede Veränderung zu den Angaben gemäß Abs. 1 Ziffern 1 und 2 ist innerhalb von 2 Wochen dem IfAR schriftlich mitzuteilen. Veränderungen zu den Angaben gemäß Abs. 1 Ziffern 3 und 4 sind beim IfAR zu beantragen. Entscheidungen über die Erteilung, die Versagung und die Zurücknahme der Erlaubnis als Hersteller von Arzneimitteln sind, soweit sie Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin betreffen, mit dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft abzustimmen. Für die Herstellung von radioaktiven Arzneimitteln ist die entsprechende Erlaubnis des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz erforderlich.

§ 4. Betriebe und Einrichtungen, die dem Arzneimittelgesetz unterliegende Erzeugnisse herstellen, bedürfen keiner Erlaubnis, wenn diese Erzeugnisse überwiegend für andere Zwecke und nur zu einem geringen Teil zur Weitererarbeitung als Arzneimittel hergestellt werden.

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Abschnitt II Versorgungsorganisation

(1) (2) (3) (4) (5) (6)

§ 5. Versorgungsbetriebe Die Versorgung mit Arzneimitteln wird grundsätzlich durch die Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik sowie das Zentraldepot für Pharmazie und Medizintechnik durchgeführt. Die Versorgung mit in den Einrichtungen des Blutspende- und Transfusionswesens hergestellten Blut-, Gewebe- und Lymphozytenzubereitungen wird von diesen Einrichtungen durchgerührt. Für die Versorgung mit radioaktiven Arzneimitteln ist die Isocommerz GmbH zuständig. Bestimmte Arzneimittel können auch durch andere Versorgungsbetriebe für Arzneimittel bereitgestellt werden. Arzneimittel, die durch die Buchstaben „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, können auch durch andere Großhandelsbetriebe bereitgestellt werden. Bestimmte, durch das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft festgelegte Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin werden auch durch die VEB Materiell-technische Versorgung der Landwirtschaft bereitgestellt.

§ 6. Voraussetzungen (1) Versorgungsbetriebe für Arzneimittel müssen über geeignete Räumlichkeiten, Ausrüstungen und weitere für die Lagerung und den Transport von Arzneimitteln notwendige sachliche Voraussetzungen verfügen. (2) Der für die Arzneimittelversorgung verantwortliche Leiter in den Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik und im Zentraldepot für Pharmazie und Medizintechnik muß Fachapotheker für Arzneimittelversorgung sein. Staatliche Erlaubnis als Versorgungsbetrieb § 7. Betriebe und Einrichtungen gemäß § 5 Absätze 1 bis 3 besitzen die staatliche Erlaubnis als Versorgungsbetrieb für Arzneimittel. Die Kombinate Großhandel Waren täglicher Bedarf des Zentralen Warenkontors Waren täglicher Bedarf besitzen die Erlaubnis zur Versorgung mit Arzneimitteln, die durch die Buchstaben „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind. § 8. (1) Die staatliche Erlaubnis als Versorgungsbetrieb für Arzneimittel ist beim IfAR zu beantragen. Die Anträge haben folgende Angaben zu enthalten: l. Name und Anschrift des Betriebes oder der Einrichtung, 2. Name des Leiters,

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3.

Nachweis, daß die zur Versorgung mit Arzneimitteln erforderlichen sachlichen Voraussetzungen gegeben sind, 4. vorgesehenes Sortiment. (2) Jede Veränderung zu den Angaben gemäß Abs. 1 Ziffern 1 und 2 ist innerhalb von 2 Wochen dem IfAR schriftlich mitzuteilen. Veränderungen zu den Angaben gemäß Abs. 1 Ziff. 4 sind beim IfAR zu beantragen. (3) Entscheidungen über die Erteilung, die Versagung und die Zurücknahme der Erlaubnis als Versorgungsbetrieb für Arzneimittel sind, soweit sie Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin betreffen, mit dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft abzustimmen. Für die VEB Materiell-technische Versorgung der Landwirtschaft wird die Erlaubnis durch das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft erteilt. Lieferbeziehungen § 9. (1) Hersteller von Arzneimitteln dürfen Arzneimittel nur liefern an 1. Versorgungsbetriebe gemäß § 5, 2. andere Hersteller von Arzneimitteln, soweit diese Arzneimittel zur Weiterverarbeitung benötigt werden, 3. Gesundheitseinrichtungen, soweit es zwischen dem Hersteller, dem Versorgungsdepot für Pharmazie und Medizintechnik und der zuständigen Bezirksapothekeninspektion/ Bezirksdirektion des Apothekenwesens vereinbart ist, 4. Einrichtungen des Veterinärwesens, soweit es zwischen dem Hersteller, dem Versorgungsdepot für Pharmazie und Medizintechnik und der zuständigen tierärztlichen Apotheke vereinbart ist. (2) Hersteller von radioaktiven Arzneimitteln dürfen diese Arzneimittel nur an die Isocommerz GmbH und an von der Isocommerz GmbH benannte Gesundheitseinrichtungen, die eine entsprechende Erlaubnis des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz besitzen, liefern. § 10. (l) Versorgungsbetriebe für Arzneimittel dürfen Arzneimittel nur liefern an 1. Apotheken, 2. andere Einrichtungen des Apothekenwesens, 3. Einrichtungen des Blutspende- und Transfusionswesens, soweit diese Arzneimittel zur Herstellung von Blut-, Gewebe- und Lymphozytenzubereitungen benötigt werden, 4. Gesundheitseinrichtungen, soweit es zwischen dem Versorgungsbetrieb und dem zuständigen Pharmazeutischen Zentrum vereinbart ist, 5. Einrichtungen des Veterinärwesens, soweit es zwischen dem Versorgungsbetrieb und der zuständigen tierärztlichen Apotheke vereinbart ist. 6. Spezialgeschäfte, soweit die Arzneimittel mit den Buchstaben „S“, „AS“ oder „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, 7. andere Bedarfsträger, soweit diese Arzneimittel zur Herstellung von Erzeugnissen oder zur Komplettierung benötigt werden, sowie

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8.

Bedarfsträger, die vom Ministerium für Gesundheitswesen bestimmt werden. (2) Die Isocommerz GmbH darf radioaktive Arzneimittel nur an Gesundheitseinrichtungen, die eine entsprechende Erlaubnis des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz besitzen, liefern. (3) Andere Großhandelsbetriebe dürfen Arzneimittel, die mit den Buchstaben „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, nur an Einzelhandelseinrichtungen und Spezialgeschäfte gemäß § 9 Abs. 2 der Dritten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 zum Arzneimittelgesetz – Anwendung von Arzneimitteln in der Humanmedizin – (GBl. I Nr. 37 S. 408) liefern. Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin, die mit den Buchstaben „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, dürfen auch an Einzelhandelseinrichtungen gemäß § 27 Abs. 1 der Vierten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 zum Arzneimittelgesetz – Prüfung, Zulassung, Kennzeichnung und Anwendung von Arzneimitteln in der Veterinärmedizin – (GBl. l Nr. 37 S. 491) geliefert werden. § 11. Weitere Teilnahme am Verkehr mit Arzneimitteln Wissenschaftliche Einrichtungen, die Arzneimittel für Forschungs-, Lehr- und Untersuchungszwecke benötigen, können beim IfAR eine Erlaubnis zur Teilnahme am Verkehr mit Arzneimitteln beantragen. Soweit veterinärmedizinische Belange betroffen sind, ist die Entscheidung mit dem Ministerium für Land-, Forstund Nahrungsgüterwirtschaft abzustimmen. Abschnitt III Qualitätssicherung von Arzneimitteln § 12. Arzneibuch (1) Das Arzneibuch der DDR (nachfolgend AB-DDR genannt) ist auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen unter Beachtung volkswirtschaftlicher Erfordernisse durch das IfAR zu erarbeiten und ständig zu aktualisieren. (2) Die im Rahmen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe erarbeiteten Qualitätsvorschriften für Arzneimittel sind Bestandteil des AB-DDR in dem dort ausgewiesenen Umfang. (3) Das AB-DDR ist in der jeweils letzten Fassung verbindlich. Mit jedem Nachtrag ist eine Übersicht über die geltenden Vorschriften des AB-DDR herauszugeben. Jeder Nachtrag ist durch das Ministerium für Gesundheitswesen bekanntzumachen.

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(l)

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§ 13. Gütevorschriften Gütevorschriften für Arzneimittel werden auf der Grundlage der vom Hersteller einzureichenden Entwürfe gemeinsam durch die zuständigen wissenschaftlichen Einrichtungen gemäß § 20 und den Hersteller erarbeitet. Gütevorschriften für Arzneimittel zur Anwendung in der Humanmedizin werden durch das IfAR im Auftrag des Ministeriums für Gesundheitswesen, Gütevorschriften für Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin durch das Staatliche Veterinärmedizinische Prüfungsinstitut (nachfolgend SVP genannt) im Auftrag des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft für verbindlich erklärt und dem Hersteller übergeben. Änderungen von Gütevorschriften sind vom Hersteller bei der zuständigen wissenschaftlichen Einrichtung zu beantragen. Gütevorschriften haben folgende Angaben zu enthalten: 1. vollständige Zusammensetzung des Arzneimittels nach Art und Menge sowie Qualitätsbezeichnung; bei den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen weitere das Erzeugnis charakterisierende Parameter, 2. deklarationspflichtige Angaben, 3. Beschreibung der Umhüllung; Packungsgrößen, 4. Verwendbarkeitsdauer; Aufbewahrungsvorschriften, 5. Beschreibung des Arzneimittels, 6. Prüfung der Anwendungsform, 7. Prüfungen auf Identität und Reinheit; biologische Prüfungen; Gehaltsoder Wertbestimmung; spezielle Prüfungen, 8. Anzahl der Rückstellmuster. Gütevorschriften haben folgende Anlagen zu enthalten: 1. Muster der Etiketten und der Umhüllungen, 2. Muster der Packungsbeilage, 3. Informationsmaterial für Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker, 4. weitere Unterlagen, soweit es zur Charakterisierung des Arzneimittels erforderlich ist. Gütevorschriften haben außer den Angaben gemäß Abs. 2 auch die Arbeitsgänge bei der Herstellung, die einer besonderen Kontrolle zu unterziehen sind, die Kontrollverfahren sowie weitere zur Qualitätssicherung erforderliche Festlegungen zu enthalten, wenn Unterschiede in den biologischen Eigenschaften des Arzneimittels von Charge zu Charge nicht sicher ausgeschlossen werden können oder das Arzneimittel in seiner Zusammensetzung erhebliche Schwankungen aufweisen kann. Unterliegen diese Arzneimittel der staatlichen Freigabe, sind die für die Freigabe jeder Charge erforderlichen Voraussetzungen in der Gütevorschrift auszuweisen.

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(1) (2)

(3)

(4) (5)

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§ 14. Technische Kontrollorganisation Pharmazie Jeder Hersteller von Arzneimitteln muß über eine für die Qualitätssicherung der hergestellten Arzneimittel zuständige Technische Kontrollorganisation Pharmazie (nachfolgend TKOP genannt) verfügen. Die TKOP muß zur Erfüllung ihrer Aufgaben über entsprechend qualifizierte Mitarbeiter in erforderlicher Anzahl, geeignete Räumlichkeiten, Ausrüstungen und weitere für die Qualitätskontrolle von Arzneimitteln notwendige sachliche Voraussetzungen verfügen. Der Leiter der TKOP muß Fachapotheker für Arzneimittelkontrolle sein. In Betrieben und Einrichtungen, die antigen- und antikörperhaltige Zubereitungen, Blut-, Gewebe- und Lymphozytenzubereitungen herstellen, kann der Leiter der TKOP auch Diplombiologe, Arzt oder Tierarzt, in Betrieben und Einrichtungen, die den Arzneimitteln gleich gestellte Erzeugnisse herstellen, auch Hochschulabsolvent einer naturwissenschaftlichen oder technischen Fachrichtung, die den Erfordernissen der jeweiligen Produktionsrichtung entspricht sein. Er muß eine mindestens dreijährige praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Arzneimittelkontrolle nachweisen. In Betrieben und Einrichtungen, die radioaktive Arzneimittel herstellen, muß der Leiter der TKOP über eine zusätzliche Ausbildung auf dem Gebiet des Umgangs mit radioaktiven Stoffen verfügen. Der Leiter der TKOP ist dem Leiter des Betriebes oder der Einrichtung unterstellt und wird vom IfAR fachlich angeleitet. In Betrieben und Einrichtungen, die Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin herstellen, wird der Leiter der TKOP außerdem durch das SVP angeleitet. Für die Qualitätssicherung der in den Apotheken und anderen Einrichtungen des Apothekenwesens hergestellten Arzneimittel sind die Abteilungen Qualitätssicherung der Pharmazeutischen Zentren zuständig. Der Leiter der Abteilung Qualitätssicherung ist vom Bereich Qualitätssicherung der Bezirksapothekeninspektion/Bezirksdirektion des Apothekenwesens zusätzlich fachlich anzuleiten. Hersteller von Arzneimitteln, die neben Arzneimitteln überwiegend andere Erzeugnisse herstellen, können die Qualitätssicherung der hergestellten Arzneimittel im Rahmen der Kontrolltätigkeit der Technischen Kontrollorganisation gewährleisten, soweit Art und Umfang der hergestellten Arzneimittel dies zulassen und das IfAR dem zustimmt. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation oder ein von ihm Beauftragter ist vom IfAR zusätzlich fachlich einzuleiten. Soweit Arzneimittel zur Anwendung in der Veterinärmedizin hergestellt werden, sind die erforderlichen Maßnahmen mit dem SVP abzustimmen.

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(1)

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§ 15. Aufgaben der TKOP Die TKOP führt die Kontrolle der Einhaltung der staatlichen Qualitätsvorschriften für Arzneimittel durch. Dazu hat sie insbesondere 1. alle zur Herstellung der Arzneimittel erforderlichen Stoffe, Zubereitungen und sonstigen Ausgangsmaterialien sowie Verpackungs- und Etikettiermaterialien zu prüfen und über deren Freigabe zu entscheiden oder bei nicht entsprechender Qualität ihre Weiterverarbeitung bis zur Beseitigung der Mängel oder Erteilung einer Ausnahmegenehmigung durch das IfAR oder das SVP zu sperren, 2. die Durchführung von Kontrollen zur Sicherung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Herstellungsprozesses (inprocess-Kontrollen) und deren Dokumentation zu überwachen, 3. die Durchführung von Maßnahmen zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit von Geräten und Maschinen zu kontrollieren, soweit diese einen unmittelbaren Einfluß auf die Qualität der hergestellten Arzneimittel haben, 4. jede Charge der Endprodukte zu prüfen und über deren Freigabe zu entscheiden oder bei nicht entsprechender Qualität ihre Auslieferung bis zur Beseitigung der Mängel oder Erteilung einer Ausnahmegenehmigung durch das IfAR oder das SVP zu sperren. 5. Rückstellmuster unter Verschluß aufzubewahren, 6. die ordnungsgemäße Lagerung sowie die Einhaltung der Verwendbarkeitsdauer aller zur Herstellung der Arzneimittel erforderlichen Stoffe, Zubereitungen und sonstigen Ausgangsmaterialien, der Verpackungsund Etikettiermaterialien sowie der hergestellten Halbfertig- und Endprodukte zu kontrollieren. Alle durchgeführten Prüfungen und Kontrollen sind zu dokumentieren. Diese Aufzeichnungen sowie die über den Ablauf des Herstellungsprozesses jeder Charge zu führenden Berichte (Produktionsbegleitscheine) und die Rückstellmuster sind von der TKOP bis zum Ablauf der Verwendbarkeitsdauer der hergestellten Arzneimittel aufzubewahren. Der Leiter der TKOP hat die Ergebnisse der Prüfungen und Kontrollen auszuwerten und darüber den Leiter des Betriebes oder der Einrichtung in Kenntnis zu setzen sowie bei festgestellten Mängeln deren unverzügliche Behebung zu verlangen. Wird dem nicht entsprochen, hat der Leiter der TKOP das IfAR oder das SVP zu informieren. Der Leiter der Abteilung Qualitätssicherung des Pharmazeutischen Zentrums informiert den Bereich Qualitätssicherung der Bezirksapothekeninspektion/Bezirksdirektion des Apothekenwesens. Die TKOP erarbeitet die zur Prüfung und Zulassung von Arzneimitteln erforderlichen Entwürfe für Vorschriften des AB-DDR und für Gütevorschriften sowie pharmazeutische Gutachten des Herstellers.

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§ 16. Staatliche Freigabe Der staatlichen Freigabe können Arzneimittel unterstellt werden, die von Charge zu Charge Unterschiede in den biologischen Eigenschaften oder erhebliche Schwankungen in ihrer Zusammensetzung aufweisen können. Die staatliche Freigabe wird durch die mit der Zulassung des Arzneimittels festgelegte wissenschaftliche Einrichtung gemäß § 20 erteilt. Die staatliche Freigabe einer Charge ist durch die TKOP bei der wissenschaftlichen Einrichtung gemäß Abs. 1 zu beantragen. Gesamtmenge der Charge sowie Anzahl, Art und Inhaltsmenge der Behältnisse, die die Charge umfaßt, sind anzugeben, Probenmengen und Ergebnisse der Prüfungen entsprechend der Gütevorschrift sind beizufügen. Bis zur staatlichen Freigabe sind die Arzneimittel in von der TKOP plombierten Behältnissen unter Verschluß aufzubewahren. Wird eine Charge nicht staatlich freigegeben, kann die wissenschaftliche Einrichtung gemäß Abs. l Auflagen über die weitere Verwendung oder Vernichtung des Arzneimittels erteilen. Importierte Arzneimittel sind bis zur staatlichen Freigabe durch den für die Entgegennahme des Imports zuständigen Versorgungsbetrieb sicher aufzubewahren. Dieser Versorgungsbetrieb hat unverzüglich nach Eingang des Imports die Erteilung der staatlichen Freigabe bei der wissenschaftlichen Einrichtung gemäß Abs.1 unter Beifügung eines Zertifikats des Herstellers oder der zuständigen staatlichen Stelle des Ausfuhrlandes zu beantragen. Proben sind auf Anforderung einzusenden. Anträge auf staatliche Freigabe gemäß den Absätzen 2 und 4 und Mitteilungen über die staatliche Freigabe sind 3 Jahre über die Verwendbarkeitsdauer der Charge hinaus aufzubewahren.

§ 17. Produktion (1) Durch die Gestaltung des Herstellungsprozesses ist zu gewährleisten, daß einheitliche Chargen qualitätsgerechter Arzneimittel hergestellt werden. (2) Für die Herstellung jedes Arzneimittels muß eine Herstellungsvorschrift vorliegen, die die einzelnen Stufen der Herstellung und die durchzuführenden Kontrollen ausweist. Herstellungsvorschriften sowie Änderungen dieser Vorschriften bedürfen der Bestätigung durch die TKOP. Herstellungsvorschriften für Standardrezepturen werden durch das IfAR, für Standardrezepturen für die Veterinärmedizin durch das SVP herausgegeben. (3) Für jede Charge eines Arzneimittels ist ein Produktionsbegleitschein zu führen, der den Ablauf der Herstellung vollständig ausweist. Die Herstellung und Prüfung der betreffenden Charge in Übereinstimmung mit der Herstellungsvorschrift und anderen zutreffenden Vorschriften ist auf dem Produktionsbegleitschein zu bestätigen.

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(4) Zur Herstellung von Arzneimitteln dürfen nur solche Stoffe, Zubereitungen und sonstige Ausgangsmateralien sowie Verpackungs- und Etikettiermaterialien eingesetzt werden, die die TKOP freigegeben hat. (5) Bei der Herstellung von Arzneimitteln sind geeignete Vorkehrungen zur Vermeidung von Kontaminationen durch andere Stoffe und Zubereitungen und von sonstigen Verunreinigungen sowie von Verwechslungen zu treffen. Behältnisse, Maschinen und Anlagen sind eindeutig mit dem Namen des Inhalts und der Chargennummer zu kennzeichnen. § 18. Qualitätssicherung im Versorgungsbetrieb (1) Das Staatliche Versorgungskontor für Pharmazie und Medizintechnik, die Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik und das Zentraldepot für Pharmazie und Medizintechnik müssen jeweils über einen Beauftragten für Qualitätssicherung verfügen, der Apotheker sein muß. Er ist dem Leiter des Betriebes unterstellt. (2) Der Beauftragte für Qualitätssicherung des Staatlichen Versorgungskontors für Pharmazie und Medizintechnik wird vom IfAR fachlich angeleitet. Die Begründung, Änderung und Beendigung seines Arbeitsrechtsverhältnisses bedarf der Zustimmung des IfAR. § 19. Ausnahmegenehmigung Arzneimittel, die von den staatlichen Qualitätsvorschriften für Arzneimittel abweichen, können in den Verkehr gebracht werden, wenn eine Ausnahmegenehmigung des IfAR, bei Arzneimitteln zur Anwendung in der Veterinärmedizin eine Ausnahmegenehmigung des SVP, vorliegt. Eine Ausnahmegenehmigung kann erteilt werden, wenn die Qualitätsabweichung die erforderliche Sicherheit bei der Anwendung des Arzneimittels nicht beeinträchtigt. Abschnitt IV Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln § 20. Wissenschaftliche Einrichtungen (1) Das Institut für Arzneimittelwesen der DDR nimmt als wissenschaftliche Einrichtung des Ministeriums für Gesundheitswesen Aufgaben der Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln, insbesondere hinsichtlich der Herstellung und Qualitätssicherung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin, wahr. (2) Das Staatliche Veterinärmedizinische Prüfungsinstitut nimmt als wissenschaftliche Einrichtung des Ministeriums für Land-, Forst.- und Nahrungsgüterwirtschaft Aufgaben der Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln wahr, soweit Belange des Veterinärwesens betroffen sind. (3) Das Staatliche Kontrollinstitut für immunbiologische Arzneimittel des Zentralinstituts für Hygiene, Mikrobiologie und Epidemiologie der DDR nimmt als wissenschaftliche Einrichtung des Ministeriums für Gesundheitswesen

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spezielle Aufgaben der Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin, insbesondere mit antigenund antikörperhaltigen Zubereitungen, wahr.

(1)

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§ 21. Räte der Bezirke und Kreise Die Räte der Bezirke, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, sind zuständig für die Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln in 1. Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik und anderen Versorgungsbetrieben für Arzneimittel mit Ausnahme der Betriebe und Betriebsteile mit zentraler Aufgabenstellung, 2. Pharmazeutischen Zentren, 3. zentralgeleiteten Gesundheitseinrichtungen und Apotheken, 4. bezirksgeleiteten Gesundheitseinrichtungen. Die Räte der Kreise, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, sind zuständig für die Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln in l. Apotheken, 2. kreisgeleiteten Gesundheitseinrichtungen, 3. Spezialgeschäften und anderen Einzelhandelseinrichtungen. Die Räte der Bezirke, Abteilung Veterinärwesen, sind zuständig für die Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln in 1. Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik und anderen Versorgungsbetrieben für Arzneimittel mit Ausnahme der Betriebe und Betriebsteile mit zentraler Aufgabenstellung, soweit veterinärmedizinische Belange betroffen sind, 2. VEB Materiell-technische Versorgung der Landwirtschaft, 3. zentral- und bezirksgeleiteten Einrichtungen des Veterinärwesens sowie Einrichtungen der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR und des Hoch- und Fachschulwesens, soweit veterinärmedizinische Belange betroffen sind. Die Räte der Kreise, Abteilung Veterinärwesen, sind zuständig für die Überwachung und Sicherung des Verkehrs mit Arzneimitteln in 1. tierärztlichen Apotheken, 2. Einzelhandelseinrichtungen, soweit veterinärmedizinische Belange betroffen sind.

§ 22. Kontrollen (1) Die wissenschaftlichen Einrichtungen gemäß § 20 haben bei den Herstellern mindestens alle 2 Jahre die Einhaltung der Vorschriften über den Verkehr mit Arzneimitteln zu kontrollieren. Die Räte der Bezirke und Kreise, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen und Abteilung Veterinärwesen, kontrollieren mindestens alle 2. Jahre die ihnen gemäß § 21 zugeordneten Betriebe und Einrichtungen. Die Kontrollen sind auf der Grundlage der vom Ministerium für Gesundheitswesen und vom Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungs-

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güterwirtschaft herausgegebenen Kontrollisten und -ordnungen durchzuführen. (2) Unabhängig von den Kontrollen gemäß Abs.1 sind in Gesundheitseinrichtungen durch den Leiter der für die Versorgung mit Arzneimitteln zuständigen Apotheke oder einen von ihm Beauftragten mindestens einmal im Jahr die Einhaltung der Rechtsvorschriften über den Umgang mit Arzneimitteln zu kontrollieren. (3) Die Ergebnisse der Kontrollen sind protokollarisch festzuhalten. Die Protokolle sind 5 Jahre aufzubewahren. (4) Kontrollen durch die wissenschaftlichen Einrichtungen gemäß § 20 Abs. 3 sind in Abstimmung mit dem IfAR durchzuführen.

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Verfügungen der wissenschaftlichen Einrichtungen § 23. Arzneimittel, bei denen der begründete Verdachte besteht, daß sie bei bestimmungsgemäßer Anwendung Schäden bei Mensch oder Tier hervorrufen oder bei denen schwerwiegende Qualitätsmängel erkannt wurden, sind umgehend von der weiteren Anwendung auszuschließen und sicherzustellen. Feststellungen gemäß Abs. 1 sind unverzüglich dem IfAR oder dem SVP mitzuteilen. Erforderliche Sicherungsmaßnahmen, die keinen Aufschub dulden, sind zu veranlassen. Eine Probe des betreffenden Arzneimittels ist umgehend dem IfAR oder dem SVP zuzuleiten. Das IfAR und das SVP entscheiden durch Verfügung, ob das betreffende Arzneimittel oder bestimmte Chargen desselben 1. aus dem Verkehr zu ziehen sind oder 2. nach Erfüllung der erteilten Auflagen weiterhin angewendet werden dürfen. Das IfAR und das SVP können im Interesse des Gesundheitsschutzes der Bürger oder zur Erhaltung gesunder Tierbestände weitere notwendige Entscheidungen als Verfügung treffen und Informationen geben. Die Verfügungen gemäß den Absätzen 3 und 4 sind bezüglich der Dringlichkeit und des Empfängerkreises zu kennzeichnen.

§ 24. (1) Verfügungen des IfAR gemäß § 23 Absätze 3 und 4 erhalten die Bezirksapotheker, die Medizinischen Dienste zentraler Staatsorgane und weitere am Arzneimittelverkehr teilnehmende zentralgeleitete Betriebe und Einrichtungen sowie der Hersteller des betreffenden Arzneimittels. (2) Die Bezirksapotheker haben die Verfügungen an die am Arzneimittelverkehr teilnehmenden Einrichtungen des Bezirkes, einschließlich der Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik und anderer Versorgungsbetriebe für Arzneimittel, entsprechend den Festlegungen gemäß § 23 Abs. 5 weiterzuleiten. Ist die Benachrichtigung von Gesundheitseinrichtungen festgelegt, sind diese durch die für die Versorgung mit Arzneimitteln zuständige Apotheke über die Verfügung in Kenntnis zu setzen.

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(3) Verfügungen des SVP gemäß § 23 Absätze 3 und 4 erhalten die Bezirkstierärzte, am Arzneimittelverkehr teilnehmende zentralgeleitete Betriebe und Einrichtungen und der Hersteller des betreffenden Arzneimittels. Die Bezirkstierärzte haben die Verfügungen an die am Arzneimittelverkehr teilnehmenden Einrichtungen des Bezirkes, einschließlich der Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik und anderer Versorgungsbetriebe für Arzneimittel, entsprechend den Festlegungen gemäß § 23 Abs. 5 weiterzuleiten. (4) Die Bezirksapotheker, die Bezirkstierärzte und die gemäß den Absätzen 2 und 3 zu benachrichtigenden Einrichtungen mit Ausnahme der Gesundheitseinrichtungen haben über den Erhalt, die Weitergabe und die Durchführung der Verfügungen ein Nachweisbuch3 zu führen. Diese Nachweisbücher sind nach der letzten Eintragung 5 Jahre aufzubewahren. Abschnitt V Schlußbestimmung § 25. Diese Durchführungsbestimmung tritt am 1. Juni 1987 in Kraft. Berlin, den 1. Dezember 1986 Der Minister für Gesundheitswesen Prof. Dr. sc. med. M e c k 1 i n g er

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Der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft L i e tz

Bestellnummer 9610, Vordruckverlag Freiberg, Scheunenstr. 9, Freiberg, 9200.

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Dritte Durchführungsbestimmung4 zum Arzneimittelgesetz – Anwendung von Arzneimitteln in der Humanmedizin – vom 1. Dezember 1986 Auf Grund des § 26 des Arzneimittelgesetzes vom 27. November 1986 (GBl. I Nr. 37 S. 473) wird im Einvernehmen mit den Leitern der zuständigen zentralen Staatsorgane und in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes folgendes bestimmt:

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Verordnung von Arzneimitteln § 1. Für die Verordnung von Arzneimitteln muß eine durch wissenschaftliche Diagnostik begründete Indikation gegeben sein. Der beabsichtigte Nutzen und das Risiko der Arzneimittelanwendung sind sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Bei der Verordnung sind vorrangig Arzneifertigwaren und Standardrezepturen zu berücksichtigen. Darüber hinaus können Arzneien verordnet werden. In der ambulant-medizinischen Betreuung sind Arzneimittel in einer der festgelegten Dosierung und Anwendungsdauer oder dem Zeitraum bis zum nächsten Konsultationstermin angemessenen Menge zu verordnen. Bei wiederholter Verordnung eines Arzneimittels ist die bei der vorangegangenen Konsultation verordnete Menge dieses Arzneimittels sowie die Einhaltung der Anwendungsvorschriften durch den Patienten zu berücksichtigen. In der stationär-medizinischen Betreuung sind bei der Verabreichung und Ausgabe von Arzneimitteln an Patienten die mit der ärztlichen oder zahnärztlichen Verordnung getroffenen Festlegungen, insbesondere zur Dosierung zum Dosierungsintervall und zur Anwendungsart, sowie weitere aus der Kennzeichnung des Arzneimittels ersichtliche Anwendungsvorschriften einzuhalten. Verwechslungen sind durch geeignete Maßnahmen sicher auszuschließen.

§ 2. Die Arzneimittelverordnung ist in die medizinische Dokumentation des Patienten einzutragen. Die Indikationsstellung, die Anwendungsart und Dosierung der verordneten Arzneimittel, das Datum der Verordnung und die festgelegte Anwendungsdauer oder verordnete Menge sind zu vermerken, in der ambulantmedizinischen Betreuung zusätzlich der nächste Konsultationstermin. Aufgetretene Nebenwirkungen und Meldungen darüber sind ebenfalls zu dokumentieren. Verschreibung von Arzneimitteln § 3. (1) Verschreibungen von Arzneimitteln für Patienten in der ambulant-medizinischen Betreuung zu Lasten der Kostenträger dürfen nur auf Rezeptvordru4

Zweite Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1985 (GBl. I Nr. 37 S. 483)

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cken5 vorgenommen werden. Das gilt nicht für Verschreibungen zu Lasten des Patienten. Verschreibungen von Arzneimitteln haben folgende Angaben zu enthalten: 1. Kostenträger, 2. Arztnummernstempel, 3. Datum der Verschreibung, 4. Name, Vorname, Wohnanschrift und Geburtsjahr des Patienten, bei Kindern bis zum vollendeten 3. Lebensjahr das vollständige Geburtsdatum, 5. Bezeichnung und Menge des verordneten Arzneimittels, 6. bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die Gebrauchsanweisung, 7. Namensstempel des Arztes oder Zahnarztes einschließlich Telefonnummer, 8. Stempel der Gesundheitseinrichtung einschließlich Angabe der Struktureinheit, 9. eigenhändige, ungekürzte Unterschrift des Arztes oder Zahnarztes. Der verbleibende Leerraum ist durchzustreichen. Bei Verschreibungen zu Lasten des Patienten kann der Arztnummernstempel entfallen. Verschreibungen dürfen nicht vor- oder zurückdatiert werden. Sie sind 10 Tage gültig. In Notfällen sind formlose Verschreibungen zulässig, Diese sind mit dem Vermerk „Notverschreibung“ zu kennzeichnen. Notverschreibungen haben die Angaben gemäß Abs. 2 Ziffern 3, 5, 6 und 9 sowie Namen und Arbeitsstelle oder Wohnanschrift des verordnenden Arztes oder Zahnarztes zu enthalten. Notverschreibungen verbleiben in der Apotheke. Die Apotheke hat den Arzt oder Zahnarzt von der Abgabe zu benachrichtigen. Dieser ist verpflichtet, die Notverschreibung innerhalb von 3 Tagen durch eine Verschreibung gemäß Abs. 2 zu ersetzen. Die verordneten Arzneimittel sind nach den Angaben des Arzneimittelverzeichnisses zu bezeichnen. Abkürzungen sind zulässig; sie dürfen die sachliche Eindeutigkeit nicht beeinträchtigen. Bei Arzneien sind alle Bestandteile nach Art und Menge anzugeben. Die Menge des verordneten Arzneimittels ist als Stückzahl oder in Massebzw. Volumeneinheit anzugeben. Die Verordnung von Originalpackungen (OP) ist bei nicht einzeldosierten Arzneimitteln zulässig, wenn dies nach den Grundsätzen der wissenschaftlich begründeten Verordnungsweise vertretbar ist. Die Menge kann auf der Verschreibung auch indirekt durch Festlegung der Anwendungsdauer in Verbindung mit der Gebrauchsanweisung, aus der die Tagesdosis ersichtlich sein muß, angegeben werden. Für die Mengenangabe sind arabische Ziffern zu verwenden. Die Gebrauchsanweisung hat die Einzeldosis und das Dosierungsintervall zu enthalten. Bei Arzneimitteln zur Anwendung auf der Haut kann die Angabe der Einzeldosis entfallen. Im Arzneimittelverzeichnis festgelegte Höchstdo-

Bestellnummer SOZ 062, Vordruckverlag Freiberg, Scheunenstr. 9, Freiberg, 9200

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sen sollen nicht überschritten werden. Bei vorgesehener Überschreitung sind die Dosierungsangaben mit einem Ausrufezeichen zu versehen. (8) Die Gebrauchsanweisung kann dem Patienten auch schriftlich, formlos oder auf Formblatt6 übergeben werden. Sie hat außer den Angaben gemäß Abs. 7 den Namen des Patienten, die Bezeichnung des Arzneimittels und das Datum zu enthalten und ist vom Arzt oder Zahnarzt zu unterschreiben. In diesem Fall ist auf der Verschreibung zu vermerken, daß der Patient informiert wurde („P. i.“). Bei beabsichtigter Überschreitung festgelegter Höchstdosen ist die Gebrauchsanweisung auf der Verschreibung anzugeben. § 4. (1) Rezeptvordrucke sind mit Tinte, Kugelschreiber oder Tintenstift in schwarzer oder blauer Farbe deutlich lesbar auszufertigen. Die Angaben gemäß § 3 Abs. 2 Ziff. 4 können mit Schreibmaschine geschrieben oder in Form maschinell geschriebener oder gedruckter Etiketten aufgeklebt werden. (2) Die Angaben gemäß § 3 Abs. 2 Zittern 5 und 6 sollten vom Arzt oder Zahnarzt selbst geschrieben werden. Sofern Änderungen erforderlich sind, hat der Arzt oder Zahnarzt diese zu signieren. Für die Bezeichnung der Arzneimittel können auch Stempel verwendet werden. (3) Verschreibungen zur wiederholten Abgabe von Arzneimitteln sind nicht zulässig. (4) Rezeptvordrucke, Stempel der Gesundheitseinrichtung, Arztnummern- und Namensstempel sind vor Verlust und Mißbrauch zu schützen. Abgabe von Arzneimitteln. § 5. (1) Die Apotheke hat nach Prüfung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben gemäß den §§ 3 und 4 die verschriebenen Arzneimittel an den Bürger abzugeben, der die Verschreibung vorlegt. (2) Die Apotheke ermittelt aus der verschriebenen Menge des Arzneimittels oder aus der auf der Verschreibung festgelegten Gebrauchsanweisung und Anwendungsdauer die Größe und die Anzahl der abzugebenden Packungen. Bei Abweichungen von den Packungsgrößen ist die Apotheke berechtigt, die Packungen abzugeben, die der verschriebenen Menge am nächsten kommen. Dabei darf die verschriebene Menge des Arzneimittels jedoch höchstens um 10 % unterschritten werden. (3) Die Apotheke hat die auf der Verschreibung angegebene Gebrauchsanweisung auf die Umhüllung des Arzneimittels oder auf ein Formblatt7 zu übertragen, sofern diese nicht mit der vom Hersteller aufgedruckten Gebrauchsanweisung übereinstimmt. Die Übertragung entfällt auch, wenn dem Patienten vom Arzt oder Zahnarzt eine schriftliche Gebrauchsanweisung übergeben wurde.

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Bestellnummer 9656, Vordruckverlag Freiberg a. a. O. Bestellnummer 9656, Vordruckverlag Freiberg a. a. O.

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(4) Bei der Abgabe des verschriebenen Arzneimittels hat die Apotheke über die auf der Verschreibung angegebene Gebrauchsanweisung zu informieren und weitere Hinweise zu geben, die bei der Anwendung und Aufbewahrung des Arzneimittels zu beachten sind. § 6. Die Apotheke darf Arzneimittel an Kinder ab 7 Jahren und an Jugendliche nur abgeben, wenn ein schriftlicher Auftrag des Erziehungsberechtigten oder der Personalausweis des Jugendlichen vorgelegt wird. § 7. (1) Verschreibungen, die den Festlegungen gemäß den §§ 3 und 4 nicht entsprechen, dürfen von der Apotheke nicht beliefert werden, sofern nicht die Absätze 2 oder 3 zutreffen. (2) Die Apotheke ist berechtigt, nach Rücksprache mit dem verordnenden Arzt oder Zahnarzt, sofern dieser nicht erreichbar ist, mit dessen zuständigem Leiter, auf den Verschreibungen Korrekturen bei den Angaben gemäß § 3 Abs. 2 Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 vorzunehmen. Die Rücksprache ist auf der Verschreibung zu vermerken. Fehlende Angaben gemäß § 3 Abs. 2 Ziffern 1, 3 und 4 können durch die Apotheke ergänzt werden, wenn der Bürger diese Angaben nachweist oder glaubhaft versichert. (3) Verschreibungen, die den Festlegungen gemäß den §§ 3 und 4 nicht entsprechen und auf denen eine Korrektur gemäß Abs. 2 nicht möglich ist, dürfen durch die Apotheke ganz oder teilweise beliefert werden, wenn der Überbringer der Verschreibung glaubhaft versichert oder es anderweitig ersichtlich ist, daß ein dringender Fall vorliegt, der die unverzügliche Anwendung des Arzneimittels erforderlich macht. Auf der Verschreibung ist ein entsprechender Vermerk vorzunehmen. Bei fehlender Gebrauchsanweisung ist die erforderliche Anleitung für die Anwendung des Arzneimittels zu geben. § 8. (1) Bei der Abgabe von Arzneimitteln sind die Verschreibungen vom Abgebenden zu signieren. Sie sind zusätzlich vom Rezeptar abzuzeichnen, wenn die Arzneimittel in der Apotheke für den Patienten zubereitet oder abgepackt werden. Auf Notverschreibungen ist die Nummer des Personaldokumentes des Abholenden einzutragen. Die Verschreibungen sind mit dem Datum der Abgabe und dem Stempel der Apotheke zu versehen. (2) Auf den Verschreibungen ist bei der Abgabe von Arzneimitteln – außer bei Arzneien – der Preis einzutragen. Die Übereinstimmung zwischen verschriebenen Arzneimitteln und eingetragenen Preisen ist innerhalb eines Tages nach der Abgabe zu kontrollieren. § 9. (1) Arzneimittel, die durch den Buchstaben „S“ oder die Buchstaben „AS“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, dürfen in Spezialgeschäften an Verbraucher abgegeben werden. Spezialgeschäfte sind medizinische Fachgeschäfte der Pharmazeutischen Zentren sowie Einzelhandelseinrichtungen,

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die in ihrem Sortiment orthopädietechnische Erzeugnisse und Krankenpflegeartikel führen. (2) Arzneimittel, die durch die Buchstaben „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, dürfen in anderen Einzelhandelseinrichtungen sowie auch in Spezialgeschäften gemäß Abs. l, sofern sie deren Sortiment entsprechen, an Verbraucher abgegeben werden. Andere Einzelhandelseinrichtungen sind Drogerien, Reformhäuser, Kaufhallen sowie weitere vom Rat des Kreises festgelegte Verkaufsstellen. Anforderungen von Armeimitteln § 10. (1) Arzneimittel für den Behandlungsbedarf der Gesundheitseinrichtungen sind bei der für die Versorgung zuständigen Apotheke (Lieferapotheke) anzufordern. Diese ist vom Kreisarzt festzulegen. (2) Soweit erforderlich, kann für bestimmte Arzneimittel ein Direktbezug von anderen Einrichtungen des Apothekenwesens, von Versorgungsdepots für Pharmazie und Medizintechnik, vom Zentraldepot für Pharmazie und Medizintechnik, von anderen Versorgungsbetrieben für Arzneimittel oder von Herstellern mit dem zuständigen Pharmazeutischen Zentrum oder mit der zuständigen Bezirksapothekeninspektion/ Bezirksdirektion des Apothekenwesens vereinbart werden. § 11. (1) Anforderungen von Arzneimitteln für den Behandlungsbedarf sind auf Anforderungsscheinen8 vorzunehmen. (2) Anforderungen von Arzneimitteln haben folgende Angaben zu enthalten: l. Stempel der Gesundheitseinrichtung einschließlich Angabe der anfordernden Struktureinheit und Telefonnummer, 2. Datum der Anforderung, 3. Bezeichnung und Menge der Arzneimittel, 4. Namensstempel des Leiters der Struktureinheit, 5. eigenhändige, ungekürzte Unterschrift des Leiters der Struktureinheit. Der verbleibende Leerraum ist durchzustreichen. (3) Arzneimittel für den Behandlungsbedarf, deren Kosten für bestimmte Gesundheitseinrichtungen durch die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten übernommen werden, sind auf Anforderungsscheinen anzufordern, die zusätzlich zu den Angaben gemäß Abs. 2 mit dem Vermerk „Zu Lasten der SV“ zu versehen sind. Umgang mit Arzneimitteln § 12. (1) Die Verantwortung für die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit beim Umgang mit Arzneimitteln in den Struktureinheiten der Gesundheitseinrichtungen hat der jeweilige Leiter. 8

Bestellnummer 9504 (A 5) und *9611 (A 4), Vordruckverlag Freiberg a. a. O.

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(2) Die in Gesundheitseinrichtungen tätigen Mitarbeiter sind zum Umgang mit Arzneimitteln berechtigt, soweit es zur Erfüllung ihrer Arbeitsaufgaben erforderlich ist und sie eine Approbation als Arzt oder Zahnarzt, einen Hochschulabschluß in einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung oder eine staatliche Erlaubnis zur Ausübung eines medizinischen Fachschul- oder Facharbeiterberufes besitzen. Der Leiter kann weitere Mitarbeiter zum Umgang mit Arzneimitteln berechtigen. (3) Der Leiter der Gesundheitseinrichtung hat zu sichern, daß alle Mitarbeiter gemäß Abs. 2 bei Aufnahme ihrer Tätigkeit und mindestens einmal jährlich aktenkundig über den Umgang mit Arzneimitteln belehrt werden. § 13. (1) In den Gesundheitseinrichtungen sind Arzneimittel so zu transportieren und aufzubewahren, daß ein Zugriff durch Unbefugte ausgeschlossen ist. Das gilt auch für den Transport zwischen Lieferapotbeke und Gesundheitseinrichtung. (2) Die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper bestimmten Arzneimittel sind in geeigneten Schränken übersichtlich geordnet, getrennt nach innerer und äußerer Anwendung, aufzubewahren. Elektrolytkonzentrate sind getrennt von lnfusionslösungen einzuordnen. Die Schränke sind deutlich zu kennzeichnen. Die Kennzeichnung muß eindeutig darauf hinweisen, daß in ihnen nur Arzneimittel aufbewahrt werden dürfen, die zur Anwendung am Patienten bestimmt sind. Labordiagnostika, Desinfektionsmittel, mit Ausnahme der zur Haut- und Händedesinfektion bestimmten Gebrauchslösungen, sowie sonstige nicht zur Anwendung am Patienten bestimmte Erzeugnisse dürfen in diesen Schränken nicht aufbewahrt werden. (3) Arzneimittel sind nur in den Lieferbehältnissen aufzubewahren, sie dürfen aus diesen nicht umgefüllt werden. (4) Die Arzneimittel sind hinsichtlich ihrer Verwendbarkeitsdauer regelmäßig zu überprüfen. Arzneimittel, deren Verwendbarkeitsdauer abgelaufen ist, sowie nicht mehr benötigte Arzneimittel sind der Lieferapotheke zurückzugeben, Radioaktive Arzneimittel, deren Verwendbarkeitsdauer abgelaufen ist oder die nicht mehr benötigt werden, sind als radioaktiver Abfall zu behandeln, sofern die Aktivität und Aktivitätskonzentration die Freigrenzen für radioaktiven Abfall überschreiten. § 14. (1) Die Herstellung von Arzneimitteln in Gesundheitseinrichtungen ist mit Ausnahme der in den Absätzen 2 und 3 getroffenen Festlegungen nicht zulässig. (2) Im Arzneimittelverzeichnis besonders gekennzeichnete Labordiagnostika können in Gesundheitseinrichtungen hergestellt werden. Soweit Labordiagnostika auch für andere Gesundheitseinrichtungen hergestellt werden, bedarf dies einer staatlichen Erlaubnis gemäß § 3 der Zweiten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 zum Arzneimittelgesetz – Herstellung und Qualitätssicherung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin und in der Veterinärmedizin – (GBl. I Nr. 37 S. 463).

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(3) Die Herstellung einzelner Zubereitungen gemäß Anlage zum Arzneimittelgesetz Ziff. 3 Buchstaben a und b in Gesundheitseinrichtungen für die Anwendung an bestimmten Patienten bedarf der Genehmigung durch die zuständige Wissenschaftliche Einrichtung gemäß § 20 der Zweiten Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 zum Arzneimittelgesetz. Die Genehmigung hat Art und Menge der Zubereitung, das Herstellungs- und Prüfverfahren sowie den Herstellungszeitraum zu enthalten und kann von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig gemacht werden. Der Antrag auf Genehmigung ist an das Institut für Arzneimittelwesen der DDR zu richten. (4) Das Lösen des Inhalts von Trockenampullen, der Zusatz von Elektrolytkonzentraten zu Infusionslösungen, die Herstellung von Dialyselösungen aus Dialysekonzentraten, das Verdünnen von Desinfektionsmitteln und andere vergleichbare, für die Anwendung des Arzneimittels notwendige Vorbereitungsmaßnahmen gelten nicht als Herstellung. Der Zusatz anderer Zubereitungen zu Infusionslösungen und das Mischen von Injektionslösungen sind nur bei nachgewiesener gegenseitiger Verträglichkeit zulässig. § 15. In den Struktureinheiten der Gesundheitseinrichtungen sind vom jeweiligen Leiter oder von einem von ihm Beauftragten mindestens einmal im Monat die Arzneimittelbestände, insbesondere hinsichtlich der Verwendbarkeitsdauer und der Einhaltung der Aufbewahrungsvorschriften, zu kontrollieren. Die Kontrollen sind in einem Kontrollbuch zu dokumentieren. § 16. Meldepflicht Jede schädliche Wirkung eines Arzneimittels, die bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung in der dem jeweiligen Krankheitsfall angepaßten Dosierung ausgelöst wird und zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes des Patienten führt, ist durch den behandelnden Arzt dem Institut für Arzneimittelwesen der DDR zu melden9. Besteht der Verdacht, daß die beobachtete Wirkung auf einen Qualitätsmangel des Arzneimittels zurückzuführen ist, ist der Meldung der Rest des angewendeten Arzneimittels und, soweit möglich, ein Muster derselben Charge beizufügen. Desgleichen sind alle Wirkungen und Wechselwirkungen von Arzneimitteln, die als nicht bekannt oder ungewöhnlich angesehen werden, dem Institut für Arzneimittelwesen der DDR mitzuteilen. § 17. Arzneimittelinformation (1) Die Arzneimittelinformation dient der Vermittlung erforderlicher Kenntnisse für den wissenschaftlich begründeten Einsatz von Arzneimitteln in der medizinischen Betreuung. (2) Das im Auftrag des Ministeriums für Gesundheitswesen vom Institut für Arzneimittelwesen der DDR herausgegebene Arzneimittelverzeichnis enthält für Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und andere in der medizinischen Betreuung und pharma9

Formblätter sind von der Lieferapotheke zu beziehen.

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zeutischen Versorgung tätige Fachkräfte notwendige Informationen über Zusammensetzung, zugelassene Anwendungsgebiete, Kontraindikationen, Dosierung, Anwendungsart und Packungsgrößen, über die Abgabe, Anwendung und Aufbewahrung betreffende Vorschriften sowie über weitere mit der Zulassung getroffene Festlegungen. Das Arzneimittelverzeichnis enthält die Endverbraucherpreise. (3) Der Hersteller ist verpflichtet, für jedes in das Arzneimittelregister eingetragene Arzneimittel ein Informationsmaterial für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker herauszugeben, das weitergehende Informationen insbesondere zu pharmakologischtoxikologischen, klinisch-pharmakologischen und klinischen Aspekten enthält. Für importierte Arzneimittel wird das Informationsmaterial durch das Zentraldepot für Pharmazie und Medizintechnik und das Versorgungsdepot für Pharmazie und Medizintechnik Berlin herausgegeben. (4) Die im Auftrag des Ministeriums für Gesundheitswesen vom Institut für Arzneimittelwesen der DDR herausgegebenen Zentralen Therapieempfehlungen dienen der Information über die Anwendung von Arzneimitteln bei bestimmten Erkrankungen. (5) Anzeigen über Arzneimittel sind in medizinischen, stomatologischen und pharmazeutischen Fachzeitschriften zulässig. Sie dürfen nur über neu in den Verkehr gebrachte Arzneimittel und über Änderungen bei im Verkehr befindlichen Arzneimitteln informieren. § 18. Schlußbestimmung Diese Durchführungsbestimmung tritt am 1. Juni 1987 in Kraft. Berlin, den 1. Dezember 1986 Der Minister für Gesundheitswesen Prof. Dr. sc. med. M e c k l i n g e r

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Vierte Durchführungsbestimmung10 zum Arzneimittelgesetz – Prüfung, Zulassung, Kennzeichnung und Anwendung von Arzneimitteln in der Veterinärmedizin – vom l. Dezember 1986 Auf Grund des § 26 des Arzneimittelgesetzes vom 27. November 1986 (GBl. I Nr. 37 S. 473) wird im Einvernehmen mit dem Minister für Gesundheitswesen und den Leitern der anderen zuständigen zentralen Staatsorgane sowie in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes folgendes bestimmt: Abschnitt I Prüfung von Arzneimitteln § 1. Umfang der Prüfung Die für den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit erforderliche Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Veterinärmedizin umfaßt die pharmazeutische und die pharmakologisch-toxikologische oder immunologisch-toxikologische Prüfung sowie die Prüfung an Nutz-, Heim-, Wild- und Zootieren (nachfolgend klinische Prüfung genannt). Prüfungen von Arzneimitteln dürfen nur in Betrieben und Einrichtungen durchgeführt werden, die für die jeweilige Aufgabenstellung die notwendigen personellen und sachlichen Voraussetzungen besitzen. § 2. Pharmazeutische Prüfung Die pharmazeutische Prüfung von Arzneimitteln hat zu gewährleisten, daß die pharmakologisch-toxikologische oder immunologisch-toxikologische Prüfung und die klinische Prüfung mit Stoffen und Zubereitungen durchgeführt werden, die qualitativ und quantitativ charakterisiert sind sowie die erforderliche Qualität aufweisen. Im Rahmen der pharmazeutischen Prüfung von den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen sind zur qualitativen und quantitativen Charakterisierung auch materialtechnische Prüfungen, Funktionsprüfungen und andere spezifische, auf den Verwendungszweck des Erzeugnisses gerichtete Prüfungen durchzuführen. § 3. Pharmakologisch-toxikologische Prüfung Die pharmakologisch-toxikologische Prüfung hat das Wirkungsspektrum des Arzneimittels einschließlich seiner Verträglichkeit zu charakterisieren. Dazu gehören Prüfungen am Tier und an anderen biologischen Systemen. Soweit möglich, sind Prüfungen am Tier durch geeignete alternative Untersuchungen zu ersetzen. Die Charakterisierung des Wirkungsspektrums von antigen- und antikörperhaltigen Zubereitungen und von Lymphozytenzubereitungen ist durch eine immunolo10

Dritte Durchführungsbestimmung vom 1. Dezember 1986 (GBl. I Nr. 37 S. 488)

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gisch-toxikologische Prüfung zu erringen. Im Rahmen der pharmakologischtoxikologischen Prüfung von den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen, die im oder am tierischen Körper zur Anwendung kommen, sind die Verträglichkeit und die funktionelle Eignung zu prüfen. § 4. Sonstige Prüfungen Neben der pharmazeutischen, der pharmakologisch-toxikologischen oder immunologisch-toxikologischen Prüfung von Arzneimitteln sind in Zusammenarbeit mit den zuständigen Organen des Gesundheitswesens Prüfungen zur Rückstandsbildung in Lebensmitteln tierischer Herkunft durchzuführen. Gegebenenfalls sind Prüfungen zum Einfluß auf die Resistenzbildung von Krankheitserregern sowie zur Festlegung besonderer Arbeitsschutzmaßnahmen für den Anwender und für Umweltschutzmaßnahmen vorzunehmen. Klinische Prüfung

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§ 5. Genehmigung der klinischen Prüfung Die klinische Prüfung von Arzneimitteln erfolgt entsprechend den dazu erlassenen Bestimmungen des Ministers für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft in den Stufen 1 bis 3. Die jeweiligen Stufen der klinischen Prüfung bedürfen auf der Grundlage der Empfehlungen des Zentralen Gutachterausschusses für Arzneimittelverkehr – Sektion Veterinärmedizin – (nachfolgend ZGA genannt) der Genehmigung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft. Die Genehmigung ist vom Hersteller beim Sekretariat des ZGA zu beantragen. Ausländische Hersteller beantragen die Genehmigung über das Beratungsbüro beim Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (Import). Mit dem Antrag sind der Prüfplan und alle Unterlagen einzureichen, die belegen, daß die für den Beginn der jeweiligen Stufe der klinischen Prüfung von Arzneimitteln geforderten Voraussetzungen erfüllt sind. Die Gutachter gemäß § 8 Abs. 2 sind bei der Beratung der Anträge durch den ZGA hinzuzuziehen. Für die klinische Prüfung von antimikrobiell wirksamen Arzneimitteln ist zusätzlich eine Einsatzgenehmigung des Ministeriums für Gesundheitswesen einzureichen. Die klinische Prüfung von radioaktiven Arzneimitteln bedarf der Zustimmung des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz. Zur Einschätzung des Strahlenschutzes des Personals und der Bevölkerung sind dem Staatlichen Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz vom Hersteller die erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Das gilt auch für die Anwender von mit Radionukliden markierten Arzneimitteln zur Untersuchung des pharmakokinetischem Verhaltens. Das Verfahren der Genehmigung soll innerhalb von 8 Wochen nach Eingang der vollständigen Unterlagen abgeschlossen werden. § 6.

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Vereinbarung Auf der Grundlage der Genehmigung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft ist zwischen dem Hersteller und den an der Prüfung beteiligten Betrieben und Einrichtungen eine Vereinbarung über die klinische Prüfung abzuschließen. Für ausländische Hersteller schließt das Beratungsbüro beim Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (Import) diese Vereinbarung ab. § 7. Kontrolle Die klinische Prüfung unterliegt der Kontrolle durch das Staatliche Veterinärmedizinische Prüfungsinstitut (nachfolgend SVP genannt). Bei der Kontrolle sind insbesondere die personellen und sachlichen Voraussetzungen, die Einhaltung des Prüfplanes sowie die Dokumentation des Prüfverlaufs und der Prüfergebnisse zu berücksichtigen. § 8. Gutachten (1) Über die Ergebnisse der Prüfungen von Arzneimitteln sind Gutachten anzufertigen, die die positiven und negativen Ergebnisse darstellen. (2) Für die Genehmigung der klinischen Prüfung gemäß § 5 Abs. 2 sind die eingereichten Unterlagen zu den Ergebnissen durch 2 vom Sekretariat des ZGA benannte Gutachter, die nicht an der Entwicklung des Arzneimittels beteiligt waren, zu beurteilen. Abschnitt II Zulassung von Arzneimitteln § 9. Antrag (1) Die staatliche Zulassung von Arzneimitteln ist vom Hersteller beim Sekretariat des ZGA zu beantragen. Ausländische Hersteller stellen den Antrag über das Beratungsbüro beim Ministerium für Gesundheitswesen für Arzneimittel und medizintechnische Erzeugnisse (lmport). (2) Der Antrag hat folgendes zu enthalten: 1. Name und Anschrift des Herstellers, 2. Bezeichnung des Arzneimittels, 3. vollständige Zusammensetzung des Arzneimittels nach Art und Menge, bei den Arzneimitteln gleichgestellten Erzeugnissen weitere das Erzeugnis charakterisierende Parameter, 4. Wirkungen, 5. Anwendungsgebiete, 6. Kontraindikationen, 7. Nebenwirkungen, 8. Wechselwirkungen, 9. Anwendungsform, 10. Anwendungsart,

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11. Dosierung, 12. Packungsgrößen, 13. vom zuständigen Preisorgan bestätigte Preisobergrenze (IAP) oder staatlich bestätigten Preis (IAP/EVP), 14. Verwendbarkeitsdauer, 15. Aufbewahrungsvorschriften, 16. Vorschlag zu Abgabefestlegungen, 17. Begründung des veterinärmedizinischen Bedürfnisses, 18. geschätzten Jahresbedarf einschließlich Grundlage der Schätzung, 19. vorgesehene Produktionshöhe, 20. vorgesehenen Termin der ersten Produktionslieferung. (3) Der Antrag auf Zulassung für ein radioaktives Arzneimittel hat außer den im Abs. 2 genannten Angaben Aussagen und Daten zum Radionuklid zu enthalten. Außerdem ist die Strahlenschutzzulassung des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz für den Strahlenschutz des Personals und der Bevölkerung vorzulegen. (4) Dem Antrag auf Zulassung sind folgende Anlagen beizufügen: 1. pharmazeutisches Gutachten des SVP, das Voraussetzung für die Durchführung der Stufe 3 der klinischen Prüfung war, sowie Ergebnisse der Haltbarkeitsprüfung, 2. pharmakologisch-toxikologisches oder immunologisch-toxikologisches Gutachten, 3. Gutachten über die durchgeführten Stufen der klinischen Prüfung, 4. Einschätzung der Eigenschaften des Arzneimittels im Vergleich zu international bekannten Arzneimitteln ähnlicher Struktur und gleicher oder vergleichbarer Anwendungsgebiete auf der Grundlage wissenschaftlicher Veröffentlichungen, 5. Entwurf des Textes für die innere und äußere Umhüllung des Arzneimittels und, soweit vorgesehen, der Packungsbeilage, 6. Entwurf des Informationsmaterials für Tierärzte und Apotheker, 7. bei Arzneimitteln ausländischer Hersteller ein Zertifikat über die Registrierung im Herstellerland, eine Übersicht über den Stand der Registrierung in anderen Ländern sowie eine Bestätigung des ausländischen Herstellers, daß der Export in die DDR von Rechten Dritter frei ist, 8. Gutachten über erforderliche Karenzzeitregelungen für Lebensmittel tierischer Herkunft. (5) Bei der Beantragung der Zulassung von Standardrezepturen für die Veterinärmedizin sowie von Stoffen und Zubereitungen, die zur Verarbeitung in Einrichtungen des Apothekenwesens bestimmt sind, ist der Umfang der einzureichenden Unterlagen vom Sekretariat des ZGA festzulegen. Anträge auf Zulassung von Standardrezepturen für die Veterinärmedizin sind vom SVP zu stellen.

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§ 10. Zulassungsverfahren Die eingereichten Unterlagen sind von 2 Gutachtern, die nicht an der Entwicklung des Arzneimittels beteiligt waren, zu beurteilen. Ein Gutachter ist vom SVP zu stellen, der zweite Gutachter wird vom ZGA benannt. Die Gutachter haben zu beurteilen, ob die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Arzneimittels bei bestimmungsgemäßer Anwendung sowie das veterinärmedizinische Bedürfnis nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nachgewiesen wurden. Sie haben ein Gutachten innerhalb von 4 Wochen zu erstatten. Der Antrag ist vom ZGA in Gegenwart der beiden Gutachter zu beraten. Durch den ZGA ist festzustellen, ob alle Voraussetzungen für die Zulassung erfüllt sind. Der ZGA empfiehlt dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, der Zulassung des Arzneimittels zuzustimmen oder die Zustimmung zu versagen. Die Empfehlung des ZGA zur Zulassung hat neben der Bezeichnung und Zusammensetzung des Arzneimittels insbesondere folgende Aussagen zu enthalten: l. zuzulassende Anwendungsgebiete, Dosierungen und Anwendungsverfahren, 2. Ausnahme von der Verschreibungspflicht, 3. Anwendungsvorschriften, Anwendungsbeschränkungen und sonstige im Zusammenhang mit der Anwendung zu beachtende Festlegungen, 4. Zulässigkeit der Abgabe von Arzneimitteln außerhalb von Apotheken in anderen Einzelhandelseinrichtungen, 5. Zulässigkeit der Abgabe von Stoffen und Zubereitungen, die zur Verarbeitung in Einrichtungen des Apothekenwesens zugelassen sind, in unverarbeiteter Form an Verbraucher, 6. Festlegungen über die staatliche Freigabe durch das SVP. Die Zulassung kann mit bestimmten Auflagen verbunden oder von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig gemacht werden. Das Zulassungsverfahren soll innerhalb von 4 Monaten nach Eingang der vollständigen Unterlagen abgeschlossen werden.

§ 11. Eintragung in das Arzneimittelregister (1) Das vom Ministerium für Gesundheitswesen zugelassene Arzneimittel wird vom Institut für Arzneimittelwesen der Deutschen Demokratischen Republik (nachfolgend IfAR genannt) in das Arzneimittelregister eingetragen. (2) Voraussetzungen für die Eintragung sind: l. pharmazeutisches Gutachten des SVP, in dem nachgewiesen wird, daß das industriemäßig für die Versorgung produzierte Arzneimittel in der Qualität den in der klinischen Prüfung nach Stufe 3 geprüften Mustern entspricht,

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Muster des gedruckten Informationsmaterials für Tierärzte und Apotheker, 3. Mitteilung über den Abschluß des Liefervertrages. (3) Der Hersteller erhält durch das IfAR den Zulassungsbescheid, der die vom Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft getroffenen Festlegungen enthält. (4) Entscheidungen des Ministeriums für Gesundheitswesen und des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft über die Versagung der Zulassung sind dem Hersteller vom SVP mitzuteilen.

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§ 12. Nachbeobachtung Arzneimittel unterliegen nach der Zulassung hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Sicherheit einer Nachbeobachtung. Zur Beurteilung der Anwendungsergebnisse, insbesondere hinsichtlich neuer Erkenntnisse über Wirkungen, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und Kontraindikationen, sind systematische Untersuchungen durchzuführen. Daneben sind alle verfügbaren Daten über die Anwendung der Arzneimittel auszuwerten. Die Verantwortung für die Nachbeobachtung obliegt dem Hersteller. Die Nachbeobachtung erstreckt sich auf einen Zeitraum von 5 Jahren, wenn vom Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft nichts anderes festgelegt wurde. Über diesen Zeitraum hinaus ist der Hersteller verpflichtet, die Anwendungsergebnisse der Arzneimittel ständig zu beobachten. Das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft kann auf Empfehlung des ZGA für die Machbeobachtung des Arzneimittels gegenüber dem Hersteller Vorgaben festlegen, die vom SVP dem Hersteller mitgeteilt werden. Der Hersteller hat dem SVP über die Ergebnisse der Nachbeobachtung zu berichten. Die Ergebnisse sind durch den ZGA auszuwerten. Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Arzneimitteln und durch sie hervorgerufene Schäden, die im Rahmen der veterinärmedizinischen Betreuung festgestellt werden, sind durch den behandelnden Tierarzt über den Kreistierarzt dem SVP mitzuteilen. Bei importierten Arzneimitteln obliegt die Nachbeobachtung dem SVP.

§ 13. Änderung der Zulassung (1) Änderungen der Zulassung eines Arzneimittels sind beim Sekretariat des ZGA unter Angabe der Gründe durch den Hersteller zu beantragen. Dem Antrag sind die entsprechenden Gutachten beizufügen. Für die Beratung des Antrages und die Entscheidung über den Antrag gelten die Festlegungen der §§ 10 und 11. (2) Die für eine Änderung der zugelassenen bestimmungsgemäßen Anwendung eines Arzneimittels erforderliche klinische Prüfung bedarf der Genehmigung gemäß § 5.

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§ 14. Zurücknahme der Zulassung Die Zulassung eines Arzneimittels wird zurückgenommen, wenn Tatsachen bekannt werden, die eine Versagung dieser Zulassung gerechtfertigt hätten. Anträge auf Zurücknahme der Zulassung sind beim Sekretariat des ZGA unter Angabe der Gründe einzureichen. Nach Beratung im ZGA empfiehlt dieser dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, der Zurücknahme der Zulassung des Arzneimittels durch das Ministerium für Gesundheitswesen oder dem Versagen der Zurücknahme zuzustimmen. Die Entscheidung des Ministeriums für Gesundheitswesen wird dem Hersteller mitgeteilt. Im Falle der Zurücknahme der Zulassung löscht das IfAR die Eintragung des Arzneimittels im Arzneimittelregister. Arzneimittel dürfen nach Zurücknahme der Zulassung noch innerhalb der Verwendbarkeitsdauer vorrätig gehalten und abgegeben werden, sofern mit der Entscheidung gemäß Abs. 3 keine anderen Festlegungen getroffen werden. Abschnitt III Kennzeichnung von Arzneimitteln

§ 15. Arzneifertigwaren und den Arzneimitteln gleichgestellte Erzeugnisse (1) Arzneifertigwaren und den Arzneimitteln gleichgestellte Erzeugnisse müssen zur Kennzeichnung auf ihrer inneren und, soweit vorhanden, äußeren Umhüllung folgende Angaben enthalten: l. Name des Arzneimittels; 2. Name des Herstellers; 3. deklarationspflichtige Bestandteile des Arzneimittels unter Verwendung der internationalen nicht schutzfähigen Bezeichnungen der Weltgesundheitsorganisation nach Art und Menge und weitere das Erzeugnis charakterisierende Parameter entsprechend dem Zulassungsbescheid; 4. Menge des Inhalts; 5. Anwendungsform; 6. Anwendungsart, bei Labordiagnostika den Aufdruck „Zur Labordiagnostik“; 7. Hauptanwendungsgebiet, nach Möglichkeit in deutscher Sprache; 8. Chargennummer. Diese besteht aus der Werkchargenbezeichnung, der Zahl des Herstellungsmonats und den beiden letzten Ziffern des Herstellungsjahres. Bei einer Verwendbarkeitsdauer unter 6 Monaten ist zusätzlich der Herstellungstag anzugeben. Bei einstelligen Zahlen ist eine Null voranzustellen. Herstellungstag, -monat und -jahr sind in arabischen Ziffern anzugeben; 9. Verwendbarkeitsdauer. Diese kann in der Form „Verwendbar bis…“ oder in Verbindung mit dem aus der Chargennummer ersichtlichen Herstellungsdatum in der Form „…verwendbar“ angegeben werden. Dabei ist

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die Verwendbarkeitsdauer unter 1 Monat in Tagen, unter 2 Jahren in Monaten und ab 2 Jahren in Jahren anzugeben; 10. Aufbewahrungsvorschriften, Anwendungsvorschriften und Anwendungsbeschränkungen sowie sonstige im Zusammenhang mit der Anwendung zu beachtende Festlegungen entsprechend dem Zulassungsbescheid; 11. Endverbraucherpreis (EVP). Dieser ist als sechsstellige Ziffernfolge zu verschlüsseln. Die Zahl ist auf der Grundlage der kleinsten Währungseinheit zu bilden. Für jede fehlende Stelle wird eine Null vorangestellt; 12. Kennzeichnung der von der Verschreibungspflicht ausgenommenen Arzneimittel durch den Buchstaben „A“ vor dem EVP; 13. Kennzeichnung der von der Versehreibungspflicht ausgenommenen Arzneimittel, die außerhalb von Apotheken gemäß § 27 Abs. 1 in anderen Einzelhandelseinrichtungen abgegeben werden dürfen, durch die Buchstaben „AE“ vor dem EVP; 14. Kennzeichnung von Arzneimitteln, die zur ausschließlichen Anwendung bei Tieren vorgesehen sind, durch den zusätzlichen Aufdruck „Nur für Tiere“ unter dem Namen des Arzneimittels bzw. „ad us. vet.“ als Namensbestandteil des Arzneimittels. Soweit eine äußere Umhüllung vorhanden ist, können auf der inneren Umhüllung die Angaben gemäß Abs. 1 Ziff. 10, mit Ausnahme der Aufbewahrungsvorschriften und Anwendungsbeschränkungen, sowie die Angaben gemäß Abs. 1 Ziffern 11 bis 13 entfallen. Weitere technologisch bedingte Abweichungen von den für die innere Umhüllung vorgeschriebenen Angaben sind zulässig, wenn diese in der Gütevorschrift festgelegt sind. Anwendungsvorschriften und sonstige im Zusammenhang mit der Anwendung zu beachtende Festlegungen gemäß Abs. 1 Ziff. 10 können auch ausschließlich auf einer Packungsbeilage angegeben werden. Die Kennzeichnung von Ampullen und Injektionsflaschen muß mindestens die Angaben gemäß Abs. 1 Ziffern 1, 4, 8, 9 und 14 enthalten. Die Kennzeichnung der Stoffe und Zubereitungen, die zur Verarbeitung in Einrichtungen des Apothekenwesens zugelassen sind, hat Abs. 1 Ziffern 1 bis 4, 8 bis 10 und 14 zu entsprechen. Für die Kennzeichnung radioaktiver Arzneimittel gelten gesonderte Vorschriften11.

§ 16. Standardrezepturen und Arzneien (1) Standardrezepturen sind wie Arzneifertigwaren mit Ausnahme der Angaben gemäß § 15 Abs. 1 Ziff. 3 zu kennzeichnen. (2) Arzneien müssen auf ihrer Umhüllung folgende Angaben enthalten: 1. Name der Apotheke, 2. Zusammensetzung nach Art und Menge, 11

TGL 25293 Ausg. 12.84 Radioaktive Stoffe; Offene radioaktive Stoffe; Kennzeichnung Begleitpaß (Zertifikat).

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Menge des Inhalts; Gebrauchsanweisung mit dem deutlich sichtbaren Vermerk „Nur für Tiere“, 5. Anwendungsform, 6. Anwendungsart, 7. den Hinweis „Nicht zum Eingeben“ bei Arzneien, die nicht zum Eingeben bestimmt sind, mit Ausnahme von zur Infusion oder Injektion bestimmten Arzneien, 8. Herstellungsdatum bzw. Chargennummer gemäß § 15 Abs. 1 Ziff. 8, 9. Verwendbarkeitsdauer gemäß § l5 Abs. l Ziff. 9, 10. Aufbewahrungsvorschriften und bei der Anwendung zu beachtende Vorschriften, 11. Sterilisationsverfahren bei zur Infusion oder Injektion bestimmten Arzneien, 12. Tierart und Name des Tierhalters. (3) Die abgabefertigen Packungen von Stoffen und Zubereitungen gemäß § 15 Abs. 4, die in unverarbeiteter Form von Apotheken an Verbraucher abgegeben werden dürfen, sind wie Arzneien gemäß Abs. 2 Ziffern 1 bis 11 und, wenn sie von der Verschreibungspflicht ausgenommen sind, zusätzlich mit dem Buchstaben „A“ vor dem EVP zu kennzeichnen. (4) Für die Kennzeichnung gemäß den Absätzen l bis 3 sind Etiketten zu verwenden, die den Festlegungen und Mustern des Etikettenkataloges; der vom Zentralinstitut für Apothekenwesen und Medizintechnik herausgegeben wird, zu entsprechen haben. § 17. Kennzeichnung als Gift Stoffe und Zubereitungen, die zur Verarbeitung oder zur Abgabe in unverarbeiteter Form bestimmt sind, Labordiagnostika und Desinfektionsmittel müssen zusätzlich zu den Festlegungen gemäß den §§ 15 und 16 als Gift gekennzeichnet werden, wenn sie den Rechtsvorschriften über den Verkehr mit Giften unterliegen. Abschnitt IV Wissenschaftlich begründete Anwendung von Arzneimitteln § 18. Grundsätze (1) Bei der Verordnung von Arzneimitteln ist der Tierarzt verpflichtet, nur solche Arzneimittel anzuwenden, über die er sichere Kenntnlsse besitzt. Er hat sich auf die zugelassenen Anwendungsgebiete und Dosierungen zu beziehen. In begründeten Ausnahmen hat er von objektiven klinischen und klinischpharmakologischen Gesichtspunkten auszugehen. (2) Zur Sicherung einer wissenschaftlich begründeten Anwendung von Arzneimitteln an Tieren sind vom Tierarzt die Arzneimittel einzusetzen, die not-

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wendig sind, um das Behandlungsziel zu erreichen. Dazu kann der Tierarzt auch Arzneimittel zur Anwendung in der Humanmedizin einsetzen. Arzneimittel sind indikationsgerecht und auf der Grundlage einer tierärztlichen Diagnose oder auf der Basis von Prophylaxe- und Therapieregime sowie von biotechnischen Verfahren einzusetzen. Der Tierarzt trägt für jede Anwendung von Arzneimitteln und für die Durchführung notwendiger Folgemaßnahmen die Verantwortung. Im Falle der Beauftragung anderer Personen ist diese so eindeutig zu erteilen, daß eigenmächtige Behandlungsweisen ausgeschlossen werden. Die Anwendung von Arzneimitteln ist nach rationellen Gesichtspunkten unter Beachtung des volkswirtschaftlichen Nutzens vorzunehmen. Die Anwendung von Arzneimitteln erfolgt unter Beachtung von Wirkungen und Nebenwirkungen der Arzneimittel, von Kombinationseffekten, der Altersabhängigkeit, der Kondition, der Technologie der Haltung und Fütterung der Tiere sowie unter Berücksichtigung der Tierseuchensituation. Bei der Verordnung und Anwendung von Arzneimitteln sind vorrangig Arzneifertigwaren und Standardrezepturen zu berücksichtigen. In begründeten Fällen können Arzneien verordnet werden. Anwendungsbefugnisse § 19. Die Prüfung der spezifischen Umstände für die Verordnung und Anwendung von Arzneimitteln erfolgt nur durch den behandelnden Tierarzt, der auch den Therapie- und/oder Prophylaxeplan festlegt. Die Bestimmungen über die Kastration von Tieren bleiben hiervon unberührt. Der Tierarzt kann mit der Anwendung von Arzneimitteln mittlere veterinärmedizinische Fachkräfte beauftragen, außer mit der Anwendung von suchtmittelhaltigen Arzneimitteln, von Prostaglandinen und von Impfstoffen gegen Tollwut und Milzbrand. Das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft kann dazu im Einvernehmen mit dem Ministerium für Gesundheitswesen weitere Festlegungen treffen. Die Kontrolle der Anwendung von Arzneimitteln durch mittlere veterinärmedizinische Fachkräfte und der damit verbundenen Maßnahmen obliegt dem behandelnden Tierarzt. Regelmäßig wiederkehrende Behandlungen bedürfen der periodischen Anweisung des Tierarztes, die der epizootiologischen Situation Rechnung zu tragen hat. Die standardisierte produktionssteuernde Anwendung von Arzneimitteln kann nach Anweisung des Tierarztes unter Aufsicht von Veterinäringenieuren durch andere mittlere veterinärmedizinische Fachkräfte der jeweiligen Tierproduktionsanlage durchgeführt werden.

§ 20. (1) Soll eine Behandlung von Tieren mit Arzneimitteln ausnahmsweise durch zootechnische Fachkräfte, durch Tierhygienebeauftragte des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter, durch Bienenseuchensachverständige oder durch Tierhalter durchgeführt werden, ist über die Behandlung je-

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weils gesondert durch den Tierarzt zu entscheiden und der genannte Personenkreis theoretisch und praktisch zu unterweisen. Infusions- und Injektionspräparate dürfen durch diese Personen nicht angewendet werden. (2) Die Anwendung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in Betrieben und Einrichtungen bedarf der tierärztlichen Anweisung. Werden nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel an Bürger aus der tierärztlichen Apotheke abgegeben, hat durch den Tierarzt eine Unterweisung über die Anwendung zu erfolgen. (3) Bestandsspezifische antigen- und antikörperhaltige Zubereitungen können nur nach Einschätzung der epizootiologischen Situation durch das territorial zuständige veterinärmedizinische Fachorgan des Rates des Bezirkes oder des Rates des Kreises mit Genehmigung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft eingesetzt werden. Die Herstellung dieser Zubereitungen bedarf der Genehmigung des SVP. § 21. Arbeits- und Umweltschutz (1) Durch Festlegung geeigneter Maßnahmen sind die an der Anwendung von Arzneimitteln beteiligten Werktätigen vor unbeabsichtigten Einwirkungen der Arzneimittel zu schützen. Arzneimittel sind nur dann einzusetzen, wenn die erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz der Umwelt getroffen wurden. (2) Bei der Anwendung von Arzneimitteln an Tieren, die der Gewinnung von Lebensmitteln dienen, ist zu sichern, daß entsprechende Festlegungen für den Schutz der Verbraucher eingehalten oder getroffen werden.

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§ 22. Arzneimittelinformation Die Arzneimittelinformation dient der Vermittlung erforderlicher Kenntnisse für die wissenschaftlich begründete Anwendung von Arzneimitteln in der veterinärmedizinischen Betreuung. Das im Auftrag des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft vom SVP herausgegebene Tierarzneimittelverzeichnis enthält die für Tierärzte und Apotheker erforderlichen Informationen über Zusammensetzung, zugelassene Anwendungsgebiete, Kontraindikationen, Dosierung, Anwendungsart und Packungsgrößen, über die Abgabe, Anwendung und Aufbewahrung betreffende Vorschriften, über den Endverbraucherpreis, über die Karenzzeiten sowie über weitere mit der Zulassung getroffene Festlegungen. Der Hersteller ist verpflichtet, für jedes in das Arzneimittelregister eingetragene Arzneimittel ein Informationsmaterial für Tierärzte und Apotheker herauszugeben. Hierbei ist insbesondere über die pharmakologisch-toxikologischen, immunbiologischen und klinischen Aspekte, über die Karenzzeiten sowie Arbeitsschutz- und Umweltschutzmaßnahmen zu informieren. Für importierte Arzneimittel wird das Informationsmaterial durch das Zentraldepot für Pharmazie und Medizintechnik herausgegeben. Anzeigen über Arzneimittel sind in interdisziplinären veterinärmedizinischen, medizinisch-veterinärmedizinischen, veterinärmedizinisch-landwirtschaftlich-

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en und pharmazeutischen Fachzeitschritten zulässig. Sie dürfen nur über neu in den Verkehr gebrachte Arzneimittel und über Änderungen bei bereits im Verkehr befindlichen Arzneimitteln informieren.

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Verschreibung von Arzneimitteln § 23. Verschreibungen von Arzneimitteln haben folgende Angaben zu enthalten: 1. Name und Anschrift der Einrichtung, in der der Tierarzt tätig ist, bzw. Name, Titel, Berufsbezeichnung und Anschrift des Tierarztes, in gedruckter oder gestempelter Form, 2. Datum der Verschreibung, 3. Bezeichnung und Menge des verordneten Arzneimittels, 4. Gebrauchsanweisung oder den Vermerk ,,nach gesonderter tierärztlicher Anweisung“, 5. Tierart und Anzahl der Tiere, Name und Anschrift des Tierhalters, 6. Namensstempel des Tierarztes einschließlich Telefonnummer, 7. eigenhändige ungekürzte Unterschrift des Tierarztes. Der Beginn einer Verschreibung von Arzneimitteln ist durch die Buchstaben „RP.:“, das Ende der Verschreibung in geeigneter Weise kenntlich zu machen. Verschreibungen von Arzneimitteln sind 10 Tage gültig. Sie dürfen nicht voroder zurückdatiert werden. Verschreibungen zur wiederholten Abgabe von Arzneimitteln sind als solche eindeutig zu kennzeichnen und hinsichtlich Häufigkeit und Zeitraum der Abgabe zu begrenzen. In Notfällen sind formlose Verschreibungen von Arzneimitteln zulässig. Diese sind als „Notverschreibung“ zu kennzeichnen. Sie haben die Angaben gemäß Abs. 1 Ziffern 2 bis 5 und 7 zu enthalten. Notverschreibungen verbleiben in der Apotheke. Die Apotheke hat den Tierarzt von der Abgabe zu benachrichtigen.

§ 24. (l) Die verschriebenen Arzneimittel sind nach den Angaben des Tierarzneimittelverzeichnisses oder Arzneimittelverzeichnisses zu bezeichnen; Abkürzungen dürfen die sachliche Eindeutigkeit nicht beeinträchtigen. Bei Arzneien sind alle Bestandteile nach Art und Menge anzugeben. (2) Die Menge des verschriebenen Arzneimittels ist als Stückzahl oder in Massebzw. Volumeneinheit anzugeben. Die Verschreibung von Originalpackungen (OP) ist bei nicht einzeldosierten Arzneimitteln zulässig, wenn dies nach den Grundsätzen der wissenschaftlich begründeten Verordnungsweise vertretbar ist. Die Menge kann auch indirekt durch Festlegung der Anwendungsdauer in Verbindung mit der Gebrauchsanweisung, aus der die Tagesdosis ersichtlich sein muß, angegeben werden. Für die Mengenangabe sind arabische Ziffern zu verwenden. (3) Die Gebrauchsanweisung hat die Einzeldosis und das Dosierungsintervall zu enthalten. Bei Arzneimitteln zur äußeren Anwendung kann die Einzeldosis entfallen. Im Tierarzneimittelverzeichnis festgelegte Höchstdosen sollten

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nicht überschritten werden. Bei beabsichtigter Überschreitung sind die Dosierungen mit einem Ausrufezeichen zu versehen. (4) Die Gebrauchsanweisung kann auch formlos übergeben werden. Sie hat außer den Angaben gemäß Abs. 3 den Namen des Tierhalters, die Tierart und die Bezeichnung des Arzneimittels, das Datum und die Unterschrift des Tierarztes zu enthalten. Bei beabsichtigter Überschreitung festgelegter Höchstdosen ist die Gebrauchsanweisung auf der Verschreibung des Arzneimittels anzugeben. (5) Die Formulare zur Verschreibung von Arzneimitteln sind deutlich lesbar mit Tinte, Kugelschreiber, Tintenstift oder mit Schreibmaschine auszufüllen. Es können auch aufgeklebte maschinell geschriebene oder gedruckte Etiketten verwendet werden. Sofern Änderungen erforderlich sind, hat der Tierarzt diese zu signieren. Für die Bezeichnung der Arzneimittel können auch Stempel verwendet werden. Abschnitt V Abgabe von Arzneimitteln

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§ 25. Abgabe durch Apotheken Die Apotheke einschließlich der tierärztlichen Apotheke hat nach Prüfung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben gemäß den §§ 23 und 24 die verschriebenen Arzneimittel an den Bürger abzugeben, der die Verschreibung vorlegt. Die Apotheke ermittelt aus der verschriebenen Menge des Arzneimittels oder aus der festgelegten Gebrauchsanweisung und Anwendungsdauer die Größe und Anzahl der abzugebenden Packungen. Bei Abweichungen von den Packungsgrößen ist die Apotheke berechtigt, die Packungen abzugeben, die der verschriebenen Menge am nächsten kommen. Dabei darf die verschriebene Menge des Arzneimittels höchstens um 10 Prozent unterschritten werden. Die Apotheke hat die auf der Verschreibung des Arzneimittels angegebene Gebrauchsanweisung auf die Umhüllung des Arzneimittels zu übertragen, sofern diese nicht mit der vom Hersteller aufgedruckten Gebrauchsanweisung übereinstimmt. Die Übertragung entfällt auch, wenn dem Tierhalter vom Tierarzt eine schriftliche Gebrauchsanweisung übergeben wurde. Bei der Abgabe des verschriebenen Arzneimittels hat die Apotheke über die auf der Verschreibung angegebene Gebrauchsanweisung zu informieren und weitere Hinweise zu geben, die bei der Anwendung und Aufbewahrung des Arzneimittels zu beachten sind. Die Apotheke darf Arzneimittel an Kinder ab 7 Jahren und an Jugendliche nur abgeben, wenn ein schriftlicher Auftrag des Erziehungsberechtigten vorliegt oder der Personalausweis des Jugendlichen vorgelegt wird.

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§ 26. Besonderheiten der Abgabe Verschreibungen von Arzneimitteln, die den Festlegungen gemäß den §§ 23 und 24 nicht entsprechen, dürfen nicht beliefert werden, sofern nicht die Absätze 2 und 3 zutreffen. Die Apotheke ist berechtigt, nach Rücksprache mit dem verschreibenden Tierarzt, sofern dieser nicht erreichbar ist, mit dessen zuständigem Leiter, auf Verschreibungen von Arzneimitteln Korrekturen bei den Angaben zur Bezeichnung und Menge der verschriebenen Arzneimittel und zur Gebrauchsanweisung vorzunehmen. Die Rücksprache ist auf den Verschreibungen zu vermerken. Verschreibungen von Arzneimitteln, auf denen eine erforderliche Korrektur nicht möglich ist, dürfen durch die Apotheke ganz oder teilweise beliefert werden wenn der Überbringer der Verschreibung glaubhaft versichert oder anderweitig ersichtlich ist, daß ein dringender Fall vorliegt, der die unverzügliche Anwendung des Arzneimittels erforderlich macht. Auf der Verschreibung ist ein entsprechender Vermerk vorzunehmen. Bei fehlender Gebrauchsanweisung ist durch die Apotheke eine entsprechende Anleitung zu geben. Belieferte Verschreibungen von Arzneimitteln sind mit dem Stempel der Apotheke und mit dem Abgabedatum zu versehen. Auf Notverschreibungen ist die Nummer des Personaldokumentes des Bürgers einzutragen, der die Arzneimittel aus der Apotheke abholt.

§ 27. Abgabe außerhalb von Apotheken (1) Arzneimittel, die mit den Buchstaben „AE“ vor dem Endverbraucherpreis gekennzeichnet sind, können in Einzelhandelseinrichtungen des Zoologiehandels und der bäuerlichen Handelsgenossenschaften sowie in Drogerien abgegeben werden. (2) Die VEB Materiell-technische Versorgung der Landwirtschaft können vom Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft festgelegte Arzneimittel abgeben. Abschnitt VI Schlußbestimmung § 28. Diese Durchführungsbestimmung tritt am 1. Juni 1987 in Kraft. Berlin, den 1. Dezember 1986 Der Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft Lietz

AUTORINNEN UND AUTOREN MIT ADRESSEN

Dipl.-Ing., Dipl.-Soz.arb./Soz.päd. (FH) Kornelia Beer KOMMIT-Institut, Fakultät Soziale Arbeit Hochschule Mittweida Technikumplatz 17 09648 Mittweida E-Mail: [email protected] Dr. med. Rainer Erices Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A. Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10 91054 Erlangen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Antje Gumz Psychologische Hochschule Berlin Am Köllnischen Park 2 10179 Berlin E-Mail: [email protected] Anne Mesecke, M.A. Sebastian-Bach-Str. 6 04109 Leipzig E-Mail: [email protected]

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Autorinnen und Autoren mit Adressen

Dr. med. Dr. phil. Andrea Quitz Ärztin in der Klinik für Neurologie ANregiomed Escherichstraße 1 91522 Ansbach E-Mail: [email protected] Prof. Ulf Schmidt, PhD, FRHistS School of History Rutherford College University of Kent Canterbury, Kent, CT2 7NX E-Mail: [email protected] Markus Wahl, M.A. School of History Rutherford College University of Kent Canterbury, Kent, CT2 7NX E-Mail: [email protected] Dr. phil. Francesca Weil Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. Technische Universität Dresden Helmholtzstraße 6 01062 Dresden E-Mail: [email protected]

Hippokrates oder Lenin – in welchem Verhältnis standen Medizin und Moral in der DDR? Die Autoren dieses Bandes blicken hinter die Fassade einer Gesundheitspolitik, die bis heute häufig als Erfolgsgeschichte gilt. Tatsächlich stand die medizinische Versorgung in den 1980er Jahren vor dem Abgrund, war der Staat hilflos angesichts umfassender Mängel. Dazu kam der ethische Bankrott mancher Akteure – nicht wenige Ärzte und sogar Medizinethiker dienten der DDR als Spitzel. Anhand von Archivalien, u.a. aus dem Ministerium für Staatssicherheit, zeigen die hier versammelten Beiträge, wie weit An-

History and Philosophy of Medicine

spruch und Wirklichkeit auseinanderklafften: Sei es am Beispiel des (Fehl-)Verhaltens einzelner Schlüsselfiguren, durch den kritischen Blick auf die Praxis der Humanexperimente oder den Skandal der Hepatitis-Infektionen. Ein Anhang führt Schlüsseldokumente zur Biopolitik der DDR auf, von Schwangerschafts- und Transplantationsrecht bis hin zu Bestimmungen zur Forschung am Menschen. Der Band leistet damit einen wichtigen Beitrag sowohl zur Geschichte der Medizinethik als auch zur DDR-Historiographie.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11175-1