Medialisierte Körper: Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas in den 1970er Jahren [1 ed.] 9783412514242, 9783412514228


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German Pages [325] Year 2020

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Medialisierte Körper: Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas in den 1970er Jahren [1 ed.]
 9783412514242, 9783412514228

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Corinna Kühn

Medialisierte Körper Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas in den 1970er Jahren

Das östliche Europa: Kunst- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Robert Born, Michaela Marek †, Ada Raev Band 11

Corinna Kühn

MEDIALISIERTE KÖRPER Performances und Aktionen der Neoavantgarden Ostmitteleuropas in den 1970er Jahren

Böhlau Verlag WIEN Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Schroubek Fonds Östliches Europa. Bei dem Buch handelt es sich um eine von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommene Dissertation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: KwieKulik, Pomnik bez paszportu (Denkmal ohne Reisepass), Aktion im Rahmen der Gesamtpolnischen Biennale Junger Künstler, Sopot 1978. © Kulik-KwieKulik Foundation Korrektorat: Elena Mohr Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51424-2

Inhalt 1 Einleitung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einführung in das Thema und Motivation  . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fragestellung und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Untersuchungsgegenstand und Begriffsdefinitionen  . . . . . . . . . 1.3.1 Performance- und Aktionskunst und ihre Medialisierung  . . . 1.3.2 Neoavantgarde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Medien und Netzwerke der Neoavantgarden  . . . . . . . . . 1.3.4 Praktiken als Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . 1.4 Forschungsansatz und Methode  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Zeitliche und räumliche Eingrenzung und die Konzeption Ostmitteleuropas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Historischer Vergleich und Verflechtungsgeschichte  . . . . . . 1.5 Forschungsstand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Die (Wieder-)Entdeckung der Kunst Ostmitteleuropas in großen Überblicksausstellungen  . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Die (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte einzelner ostmitteleuropäischer Länder  . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Forschung zur Kunst Ostmitteleuropas aus transnationaler und/ oder vergleichender Perspektive  . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Materialauswahl: Ausstellungen, Künstlerarchive und Interviews  . . . 1.7 Der Vergleich in der Praxis: Aufbau der Arbeit und Thesen  . . . . . . 2 Eine Situation eröffnen und sich total freuen. Jiří Kovandas und Endre Tóts Aktionen und Interaktionen im öffentlichen Raum   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Prolog: „Nichts! Gar nichts!“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Methodische Fragen und Aufbau des Kapitels  . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Ebene 1: Der agierende Körper  . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Ebene 2: Der öffentliche Raum  . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Ebene 3: Interagierende Kameras  . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Ebene 4: Historischer Kontext  . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Kurzer Forschungsstand, Ziel des Vergleichs und Fragestellung  . 2.3 Performances und Aktionen von Endre Tót . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die totale Freude in den TÓTalJOYS . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die ersten Straßenaktionen, Gladness- und ZeroDemonstrationen im westlichen Ausland  . . . . . . . . . . .

        

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| Inhalt

2.3.3 Medialisierung der Straßenaktionen . . . . . . . . . . . . . .  2.4 Jiří Kovandas Interventionen im öffentlichen Raum  . . . . . . . . .  2.4.1 Die unterschiedliche Rolle von Passantinnen und Passanten und geladenem Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2.4.2 Die Medialisierung der Aktionen durch Fotografie und Text  .  2.5 Unterschiedliche Formen von Engagement in einer Situation . . . . .  2.5.1 In einer Situation mit Kovanda  . . . . . . . . . . . . . . . .  2.5.2 Die imaginäre Ko-Präsenz von Performenden und Betrachtenden – oder das „sekundäre Publikum“ als das primäre Publikum  . . .  2.5.3 Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  2.6 Historischer Kontext und die Netzwerke der Neoavantgarde  . . . . .  2.6.1 Der politische Kontext in der Tschechoslowakei . . . . . . . .  2.6.2 Kovanda in Warschau und seine Vernetzung innerhalb der Performance-Kunst-Szene in Prag . . . . . . . . . . . . .  2.6.3 Ungarische Volksrepublik: Unterstützen, dulden, verbieten  . .  2.6.4 Tót und das Netzwerk der Mail Art  . . . . . . . . . . . . . .  2.6.5 Auf beiden Seiten des ‚Vorhangs‘  . . . . . . . . . . . . . . .  2.7 Zwischenfazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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3 Performances für die Kamera – Natalia LL und Ion Grigorescu im Vergleich   . . . . . . . . . . . . . . . . .  132 3.1 Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  132 3.2 Person und Identität: Natalia LL und ihr Dialog mit der Kamera . . .  137 3.2.1 Konsum-Kunst (1972)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  138 3.3 Fotografische Performances von Ion Grigorescu  . . . . . . . . . . .  141 3.3.1 Improvisation und Experiment: Grigorescus fotografische Ausrüstung und Techniken  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 3.3.2 Die fotografischen Serien Waschen (1976) und Pyjama (1978)  .  143 3.4 Medialisierung der Performances durch Fotografie und Film  . . . . .  145 3.4.1 Begriffsklärungen und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . .  145 3.4.2 Die Kamera als Spiegel in eine Richtung und als Mittel zur Identifikation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  149 3.4.3 Auflösung der einseitigen Spiegelung hin zum Dialog  . . . . .  160 3.4.4 Funktion der Kamera in zwei Richtungen . . . . . . . . . . .  162 3.4.5 Soziale Rolle und die Anderen  . . . . . . . . . . . . . . . .  164 3.4.6 Definition und Re-Definition einer potentiellen sozialen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 3.4.7 Darstellung und Fassade, Face und Image, Rolle und Rollendistanz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  167

Inhalt |

3.4.8 Von der Hinterbühne zur Verantwortung  . . . . . . . . . . . 3.4.9 Die somatische Affizierung der Betrachtenden  . . . . . . . . 3.4.10 Aktivität und Macht der Künstlerin oder des Künstlers  . . . . 3.5 Vergleich der Arbeitsbedingungen unter Einbezug der spezifischen historischen Kontexte  . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Ausstellungsmöglichkeiten Natalia LLs in der Volksrepublik Polen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Galerie und Künstlergruppe PERMAFO  . . . . . . . . . . . 3.5.3 Natalia LL im Kontext der feministischen Kunst(-Geschichte)  . 3.5.4 Natalia LL zwischen Konsum und Produktion  . . . . . . . . 3.5.5 Arbeits- und Ausstellungsbedingungen in der Volksrepublik Rumänien (ab 1948) und in der Sozialistischen Republik Rumänien (ab 1965)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.6 Vernetzungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Sozialistischen Republik Rumänien  . . . . . . . . . . . . 3.5.7 Agieren in privaten Räumen  . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zwischenfazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tafelteil  

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4 Die Erweiterung des Werkbegriffs durch Medialisierungsstrategien und kollektive Prozesse im Werk von KwieKulik   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einleitung, kurzer Forschungsstand, These und Aufbau des Kapitels: Das Künstler-Duo KwieKulik (1971 – 1987)  . . . . . . . . . . . . . . 4.2 „Neue Rote Kunst“: Kollektive Aktionen um KwieKulik  . . . . . . . 4.2.1 Offene Form – Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin (Frühjahr 1971)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Spiel auf dem Morel-Hügel (Winter 1971)  . . . . . . . . . . . 4.2.3 Forma otwarta: Das Spiel mit der „Offenen Form“  . . . . . . 4.2.4 Die subversive Affirmation des Kollektivkörpers, die Farbe Rot und eine neue Kunst für eine neue Gesellschaft  . . . . . . . . 4.3 Der Kontext als Katalysator: Konflikte mit staatlichen Institutionen sowie Überwachung durch den Staat  . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Finanzierung der künstlerischen Arbeit  . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Konflikte mit dem Ministerium für Kunst und Kultur  . . . . 4.3.3 Überwachung durch den Sicherheitsdienst  . . . . . . . . . . 4.4 Definitionen, Werkbegriff, mediale Strategien und politische Aktionen als Antwort auf staatliche Repressionen . . . . . . . . . . . . . . . .



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4.4.1 (Selbst-)Definitionen und der erweiterte Kunstund Werkbegriff bei KwieKulik  . . . . . . . . . 4.4.2 Mediale Strategien und Taktiken KwieKuliks  . . 4.4.3 Künstlerisch-politische Protestaktionen  . . . . . 4.5 Zwischenfazit: Sichtbar-Werden in Zwischenräumen  . .

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5 Schlusswort und Ausblick   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  284 5.1 Zusammenfassung und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  284 5.2 Ergebnisse und Beantwortung der Hauptfragestellung  . . . . . . . .  288 5.3 Ausblick: Aufgaben der zukünftigen Forschung . . . . . . . . . . . .  290 5.4 Übertragung des theoretischen Ansatzes auf andere Forschungsbereiche und Themenkomplexe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  291 6 Quellen- und Literaturverzeichnis   . . . . . 6.1 Interviewverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Film- und Videoverzeichnis  . . . . . . . . . . 6.3 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Ungedruckte Quellen (ohne Interviews)  6.3.2 Gedruckte Quellen  . . . . . . . . . . . Bildnachweis   . . . . Dank   . . . . . . . . . Personenregister   . .

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1 Einleitung 1.1 Einführung in das Them a und Motivation Im Jahr 2019 haben überall in Europa, und besonders in Deutschland, Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum des Falls der Berliner Mauer und des Kommunismus in Osteuropa sowie der damit verbundenen deutsch-deutschen Wiedervereinigung stattgefunden. Auf zahlreichen Tagungen, Symposien und in den Massenmedien ist die Frage diskutiert worden, was sich seit 1989 verändert habe. Doch wie kam es überhaupt zu dem Umbruch Ende der 1980er Jahre? Welche Ursachen und Gründe führten zu einem gesellschaftlichen Umdenken? Aufgrund der langjährigen einseitigen Geschichts- und Kunstgeschichtsschreibung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gibt es Nachholbedarf in der Forschung: Vor allem auf dem Gebiet der ostmitteleuropäischen Kunstgeschichte ab den 1960er Jahren bis 1989 sind inhaltliche Lücken zu schließen und grenzübergreifende Zusammenhänge herzustellen. Im Vergleich zur angloamerikanischen Forschung gibt es in Westeuropa immer noch relativ wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Das unterstreicht die Forschungsrelevanz des Gegenstandes der vorliegenden Arbeit und stellt gleichzeitig eine besondere Herausforderung dar. Im Fokus stehen nachfolgend eben jene Zeit vor der Wende und die künstlerischen Strategien und Praktiken der Neoavantgarden in Ostmitteleuropa. Untersucht werden alternative Kunstrichtungen, die sich während der 1960er und 1970er Jahre parallel oder entgegengesetzt zum offiziell akzeptierten Kunstsystem in den ostmitteleuropäischen Ländern entwickelten. Die Künstlerinnen und Künstler dieser alternativen Gruppierungen bezeichneten sich selbst als Neoavantgarde und wurden von der Kunstgeschichtsschreibung als solche definiert, da sie sich an Konzepten der sogenannten Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa orientierten, sie teilweise wieder aufgriffen und transformierten. Obwohl die Neoavantgarde als ein Konglomerat aus heterogenen Kunstbewegungen betrachtet werden kann, waren diese durch ähnliche Ziele, Praktiken und durch Netzwerke verbunden. Künstlerinnen und Künstler, die in den 1970er Jahren in verschiedenen ostmitteleuropäischen Ländern performativ oder aktionskünstlerisch arbeiteten, realisierten ihre Arbeiten zumeist im halböffentlichen oder im privaten Raum. Sie bewegten sich in internationalen Netzwerken aus alternativen Galerien und privaten Künstler­ archiven, die oftmals eine „zweite Öffentlichkeit“ 1 formierten. Diese Kultur des 1 Als „zweite Öffentlichkeit“ betitelt zum Beispiel der von Hans Knoll herausgegebene Band neoavantgardistische Strömungen in Ungarn im 20. Jahrhundert: Knoll 1999.

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| Einleitung

„Underground“ 2 stand jedoch nicht zwingend im Gegensatz zur offiziellen oder Staatskultur. Beide Kulturen bedingten sich gegenseitig, reagierten aufeinander und waren ineinander integriert. Der Körper spielte in dieser gegenseitigen Abgrenzung und Selbstdefinition eine herausragende Rolle. Die medial inszenierten und (re-) produzierten Künstlerkörper in der Performance- und Aktionskunst legten zum einen ideologische Konstruktionen offizieller Körper- und Menschenbilder in den sozialistischen Gesellschaften offen, zum anderen griffen die agierenden Körper und ihre Repräsentationen bestimmte utopisch-revolutionäre Ideen auf und affirmierten sie subversiv. Da die Aktionen größtenteils im Verborgenen stattfanden und, wenn überhaupt, nur einem kleinen Publikum zugänglich waren, zielte die Medialisierung dieser flüchtigen Ereignisse mittels Fotografie und Film 3 auf eine Archivierung und Distribution dieser Arbeiten, ermöglichte eine breitere Rezeption und machte die Werke sichtbar.

1.2 Fr agestellung und Ziel der A r beit Die vorliegende Arbeit untersucht Performances und Aktionen und ihre Medialisierung im Kontext der künstlerischen Neoavantgarden Ostmitteleuropas in der Zeit von 1960 bis 1989. Im Zentrum steht die Frage nach der Erweiterung des Kunstbegriffs durch bestimmte Praktiken und Medien. Dabei ist die zentrale These, dass der Kunstbegriff durch den Einsatz neuer Medien, den Einsatz des Körpers, durch kollaborative Praktiken und die Verbindung von Kunst und Leben, wie die Integration des Alltags in die Kunst und der Kunst in den Alltag, über den modernen, in Westeuropa und den USA ent­wickelten und definierten Kunstbegriff hinaus erweitert wurde. Da sich dieser Paradigmenwechsel jedoch global feststellen lässt, werden seine spezifische Auswirkung auf die Kunstsysteme in Ostmitteleuropa und damit verbundene Ausprägungen und Besonderheiten, insbesondere subversive Strategien in der Kunst wie etwa die Verwendung bestimmter Medien und der Aufbau von Archiven sowie das Agieren in Netzwerken, untersucht. Eine Auswahl von fünf künstlerischen Positionen, die größtenteils in den 1970er Jahren und in dem geopolitisch begrenzten Raum Ostmitteleuropa entstanden, bildet den Kern der Untersuchung. Die Performances und Aktionen werden im Kontext ihrer sozialpolitischen und geistesgeschichtlichen Bedingungen analysiert. Gleichzeitig werden die

2 Lydia Goehr erörtert beispielsweise die Funktion von Kunst, die sich underground bewegt: Goehr 2008. 3 Video wurde in Ostmitteleuropa in den 1970er Jahren zur Dokumentation kaum verwendet. Verbreitet waren 8mm- und 16mm-Filmkameras. Zur Verwendung von 8mm-Film in der ehemaligen DDR vgl. Daniels/Stoschek 2007.

Fragestellung und Ziel der Arbeit  |

künstlerischen Positionen jedoch in einen breiteren, internationalen Kontext eingebettet. Dabei spielen Selbstwahrnehmungen, Ziele und Praktiken der Neoavantgarden und die Vernetzung ihrer Zentren sowohl innerhalb Ostmitteleuropas als auch über den damaligen Eisernen Vorhang hinaus eine wichtige Rolle. Die Untersuchung des gesellschaftlichen Kontextes fließt in die Analyse der einzelnen Werke ein. Um die spezifischen Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkungen der einzelnen Aktionen herauszuarbeiten, werden in Kapitel 2 und 3 jeweils zwei künstlerische Positionen gegenübergestellt, die Ähnlichkeiten, aber auch Kontraste verdeutlichen. In einigen Fällen werden die analysierten Arbeiten in Beziehung zu künstlerischen Aktionen und Performances gesetzt, die zeitgleich oder etwas früher in Westeuropa oder in den USA entstanden. Diese Bezugnahme verfolgt nicht den Zweck, die osteuropäischen Positionen zu rechtfertigen, zu legitimieren oder sie als bloße Folge des Einflusses von Kunstpraktiken aus den USA oder aus Westeuropa zu deklarieren und damit zu entwerten. Vielmehr sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestellt und die Leserinnen und Leser für die jeweiligen soziohistorischen und politischen Kontexte sensibilisiert werden. Hat zum Beispiel eine künstlerische Geste im öffentlichen Raum die gleiche Bedeutung, wenn sie im New York der 1960er Jahre oder in der Tschechoslowakei der 1970er Jahre durchgeführt wird? Und welche Rolle spielen Publikum und Medialisierung in der jeweiligen Situation? Durch die Einbettung in den historischen Kontext und die Verortung im Bezug zu grenzüberschreitenden, transnationalen künstlerischen Konzepten wird die Rolle des Körpers in den spezifischen Kunstsystemen Ostmitteleuropas deutlich gemacht. Der Einsatz des Körpers in Performance und Aktion erscheint in diesem Kontext ambivalent: Die Verwendung von Körpersprache, -symbolik oder -gesten des Systems, das offen oder verdeckt kritisiert wird, dessen Strategien aufgedeckt werden sollen und dem ein Spiegel vorgehalten werden soll, birgt eine gewisse Gefahr. Einerseits kann die Botschaft falsch oder gar nicht verstanden werden. Andererseits stellt sich die Frage nach der generellen Wirksamkeit subversiver Strategien, die die Philosophin Lydia Goehr folgendermaßen formuliert: Wenn die Botschaft dadurch, dass sie versteckt ist, subversiver wird, wird sie eben deshalb vielleicht auch weniger effektiv, da die Konfrontation ja nur indirekt, „underground“, stattfindet. […] Vielleicht kontrolliert eine repressive Gesellschaft ihre subversiven Elemente gerade dadurch, dass die Kunst „underground“ bleibt?4

In den Werkanalysen werden die folgenden künstlerischen Strategien und Praktiken der Neoavantgarde herausgearbeitet: a) der Einsatz des eigenen Körpers, b) die Verwendung alltäglicher Handlungen, c) Gesten der scheinbaren Nicht-Kommunikation, 4 Goehr 2008, 694.

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d) Interventionen im öffentlichen Raum, e) kollektive Prozesse und f ) die subversive Affirmation sowohl avantgardistischer Strategien als auch normativer Körperbilder. Die genannten Praktiken verändern im Prozess der Medialisierung und Wiederaufführung im öffentlichen, halböffentlichen oder privaten Raum sowie durch die Verbreitung über alternative Netzwerke jeweils das Verhältnis Performende – Kamera – Betrachtende. Darüber hinaus wird erstens ein erweiterter Kunst- und Werkbegriff definiert und zweitens das Verhältnis von Künstlerinnen oder Künstlern und Gesellschaft neu bestimmt. Körper und alltägliche Handlung erweisen sich in den von mir untersuchten Kontexten Ostmitteleuropas als Schnittpunkte, an denen das Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum vorgeführt und neu verhandelt wird. Zudem wird die Notwendigkeit alternativer Formen der Kunstgeschichtsschreibung deutlich. Publikationen, die sich der Kunstgeschichte Osteuropas widmen, sind zum Beispiel mit Zweistimmige Kunstgeschichte 5 oder Art of Two Germanys 6 betitelt. Die Titel spielen auf die durch den Kalten Krieg zweigeteilte Weltsicht an, zu der auch zwei in Abgrenzung voneinander und gleichzeitig in starkem Bezug aufeinander entstandene große Narrative der Kunstgeschichte gehören, die durch die Praxis der Exklusion ihre jeweiligen Charakteristika erhielten und die jeweils (implizit oder explizit) bestimmte politische Zwecke verfolgten. Alternative Kunsthistoriografien hinterfragen heute die als west- oder ostzentriert entlarvten Blickweisen und nehmen die Peripherien in Augenschein. Theoretische Ansätze versuchen Formierungen wie die Neoavantgarde weniger als Strömung mit einem Anfang und einem Ende zu sehen, sondern vielmehr als Netzwerk und als (unvollendetes) Projekt.7 Konzepte, die mit dem Begriff „Einfluss“ arbeiten sind wenig hilfreich, um ein differenziertes Bild der Entwicklung bestimmter Kunstpraktiken zu zeichnen. Michael Baxandall hat in seiner Publikation Patterns of Intention (1985) in einem Unterkapitel mit dem Titel „Excursus against Influence“ Kritik am Begriff des Einflusses (influence) geäußert: Seiner Meinung nach ist nicht die passive Beeinflussung, sondern die aktive Rezeption ausschlaggebend.8 Ähnlich hat die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal in ihrer Publikation Quoting Caravaggio (1999)9 das Konzept des „umgekehrten Einflusses“ (preposterous history) dargelegt: In dieselbe Richtung wie die Überlegungen Baxandalls über den differenzierteren Umgang mit Bezugnahmen und das „Neuschreiben“ der Kunstgeschichte weist der Ansatz der Kulturtheoretikerin Mieke Bal. Auch sie lehnte es ab, Beziehungen zwischen Künstlern lediglich in

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Orišková 2008. Ausst. Kat. Los Angeles 2009. Fähnders/Van den Berg 2009, 11 – 14. Baxandall 1985, 58 – 62. Bal 1999.

Fragestellung und Ziel der Arbeit  |

einer linearen Reihenfolge zu betrachten. Vielmehr „produzierte“ der spätere Künstler den früheren, da die Beschäftigung mit früherer Kunst stets eine Wertung impliziert. Diesen „umgekehrten Einfluss“ bezeichnete Bal als preposterous history (widersinnige Geschichte).10

Aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kunst und Kunstgeschichte Ostmitteleuropas ergeben sich zwangsläufig Fragen nach der politischen Aussage einzelner Werke. Waren performative und aktionskünstlerische Arbeiten, die unter totalitären Bedingungen entstanden, subversiv? Waren die experimentellen Vorgehensweisen politisch motiviert? Wie sind die Selbstaussagen der Künstlerinnen und Künstler in diesem Zusammenhang zu werten? In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass das Sammeln von regimekritischer Kunst, das Aufbauen von Archiven, die Aussagen und Dokumente von Dissi­ dentinnen und Dissidenten enthalten, und die (künstlerische) Beteiligung an internationalen Netzwerken subversive Praktiken darstellen. Doch wie lässt sich diese Subversivität bestimmen? Das Verhältnis von Kunst und Politik und die damit verbundene Frage nach der Subversion lassen sich nicht allein durch eine werkimmanente Analyse der künstlerischen Aktionen oder eine Befragung der Künstlerinnen und Künstler bestimmen. Ob eine Handlung subversiv wirksam wurde oder werden konnte, kann nur über eine sorgfältige Kontextualisierung der Arbeiten gezeigt werden. Um diesen Anspruch einzulösen, untersucht die vorliegende Studie ephemere Kunstformen, Künstlerarchive und Netzwerke wie Fluxus 11 und Mail Art 12. In meiner Arbeit stehen daher die Situation und die an ihr beteiligten Akteurinnen oder Akteure, Medien und Räume im Zentrum. Da sich die Aktionen von damals fast immer durch Fotografie oder Film vermitteln, sind dies die Medien, die bei der Analyse performativer Kunst fokussiert werden. Seltener treten Textdokumente wie Partituren oder Manifeste hinzu. Es handelt sich bei den untersuchten Arbeiten sowohl um Aufführungen in einer Live-Situation als auch um Wiederaufführungen beispielsweise in Form von Filmvorführungen. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Welche Rolle spielen Begriffe wie Authentizität, Präsenz, Performativität oder Ritual? Sind hierarchische Betrachtungsweisen der einzelnen Aggregatzustände der Werk-Konglomerate in diesem Zusammenhang überhaupt vertretbar? Eine Betrachtung der Performance als Kunstwerk im traditionellen Sinne, die dem materiellen Endresultat den höchsten Wert beimisst, erweist sich als problematisch. Daher wird ein erweiterter Kunstbegriff zugrunde gelegt, der die Produktion, Medialisierung, Archivierung und Distribution und Rezeption miteinschließt und jede dieser Komponenten zunächst gleichwertig behandelt. 10 Michel 2009, 13 – 14. 11 Zu Fluxus in Osteuropa vgl. Ausst. Kat. Berlin 2007. Allgemein zum Thema Fluxus vgl. Ausst. Kat. Wuppertal 1981. – Ausst. Kat. Stuttgart 2012. 12 Zur Mail Art in Osteuropa vgl. Röder 2008.

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| Einleitung

1.3 Untersuchungsgegenstand und Begr iffsdefinitionen 1.3.1 Performance- und Aktionskunst und ihre Medialisierung Die Performance- und Aktionskunst entwickelte sich Ende der 1950er Jahre in den USA und in Westeuropa. Die ersten Arbeiten entstanden in einem interdisziplinären Kontext in unterschiedlichen Konstellationen zwischen Musikerinnen und Musikern, Künstlerinnen und Künstlern, Tänzerinnen und Tänzern, die mit ihren Körpern zu experimentieren begannen. Der Fokus wurde dabei vom materiellen Werk auf den künstlerischen Prozess verlagert. Die Ereignisse waren ephemer und wurden auf verschiedene Art und Weise durch Schrift- und Tondokumente, Fotografie, Film und Video dokumentiert. Oftmals wurde ganz auf ein bleibendes Werk verzichtet. Sowohl dem anwesenden als auch dem zukünftigen Publikum kam mehr und mehr Bedeutung zu, und es wurde zunehmend in den Entstehungsprozess mit einbezogen.13 Die ersten aktionskünstlerischen Arbeiten in Ostmitteleuropa entstanden in den 1960er Jahren. In den 1970er Jahren gab es in allen Ländern des sogenannten Ostblocks Künstlerinnen und Künstler, die performativ arbeiteten oder künstlerische Aktionen durchführten. Die Künstlerinnen und Künstler waren untereinander vernetzt und pflegten Kontakte in den sogenannten Westen. Dennoch blieb die Geschichte der ostmitteleuropäischen Performance- und Aktionskunst aufgrund der politischen Situation bis in die 1990er Jahre ungeschrieben und wurde erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs geradezu wiederentdeckt. In meiner Arbeit fasse ich unter Performance und Aktionskunst unterschiedliche Arten künstlerischen Handelns zusammen, die einzeln oder in einer Gruppe (kollektiv) erfolgen können. Dabei kann die Künstlerin oder der Künstler ihren eigenen Körper einsetzen, dies ist jedoch keine Bedingung. Oftmals handelte es sich bei den von mir untersuchten künstlerischen Praktiken um alltägliche Gesten. In den meisten Fällen war kein Live-Publikum anwesend. Manchmal gab es ein zufällig vorbeikommendes Publikum, das jedoch nicht über das Stattfinden der Performance oder Aktion unterrichtet wurde und diese vorwiegend nicht als solche erkannte. In fast allen Fällen wurde die Performance oder Aktion durch eine Fotokamera dokumentiert oder durch eine Filmkamera aufgezeichnet. Die in der vorliegenden Arbeit analysierten Performances und Aktionen waren meist von kurzer Dauer, es handelt sich nicht um Langzeitstudien. Die Räume, in denen die Performances oder Aktionen aufgeführt wurden, waren entweder 13 Zu Geschichte und Entstehung von Performance- und Aktionskunst vgl. Wick 1975; Schilling 1978; Goldberg 1979; Schröder 1990; Dreher 2001; Janecke 2004/II; Fischer-Lichte 2004. Zur Body Art und Körper-Kunst vgl. Angerer 1995; Ausst. Kat. Los Angeles 1998; Jones 1998; Angerer ²2000; Jones/Warr 2000; Warstat 2001. Feministische Ansätze werden unter anderem verhandelt in: Ausst. Kat. Roma 2015.

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öffentliche Räume, wie die Plätze und Straßen einer Stadt, oder private Räume, wie die Wohnung der Künstlerin oder des Künstlers. Seltener handelt es sich bei den Aufführungsorten um Galerieräume oder Museen. Sowohl die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch die Künstlerinnen und Künstler selbst problematisieren die häufig unreflektierte Verwendung der Bezeichnungen „Performance-Kunst“ und „Aktionskunst“. Das Künstlerduo KwieKulik 14 zum Beispiel benennt seine Performances und Aktionen mit dem polnischen Begriff działanie (dt. Handeln, Tätigkeit, (Ein-)Wirkung; Plural: działania), um sich bewusst von anderen in US-Amerika und Westeuropa geläufigen Begriffen abzugrenzen und die Besonderheit ihrer Arbeiten innerhalb ihres eigenen Kontextes zu betonen. Der Kunsthistorikerin Pavlína Morganová zufolge wird zur Bezeichnung performativer künstlerischer Praktiken in der angloamerikanischen kunsthistorischen Literatur verstärkt der Begriff performance verwendet, wohingegen in der mittel- und osteuropäischen kunsthistorischen Literatur der Begriff action überwiegt.15 Sie weist darauf hin, dass der Begriff action im Vergleich zu dem der performance eine leicht abweichende Konnotation besitzt. Während action schlicht eine Handlung bezeichnet, impliziert performance meist irgendeine Art von Präsentation. Eine Aktion kann in An- oder Abwesenheit von Zeugen durchgeführt werden. Bei der Performance ist oft ein Publikum zugegen. Trotz dieser Unterschiede überschneiden sich die Begriffe auf mehreren Bedeutungsebenen. Nach Morganová sind Zeit und Vergänglichkeit für beide Erscheinungsformen zentral – wobei die Vergänglichkeit relativ ist. Sie verweist hier auf die Künstlerin und Kunstkritikerin Laura Cottingham, die die Dauerhaftigkeit einer Erfahrung in diesem Kontext betont.16 Morganová führt weiter aus, dass der Sammelbegriff action art in Mittel- und Osteuropa ein breiteres Spektrum künstlerischer Praktiken umfasst. Performance-Kunst, Happenings, konzeptuelle Manifestationen, die auf physischen Aktionen basieren, Body Art und sogar Land Art werden unter diesem Begriff zusammengefasst. Der Begriff performance art bezieht sich nach Morganová hingegen überwiegend auf einen spezifischen Typ westlicher, konzeptuell ausgerichteter Kunst, der vornehmlich in den Publikationen der Kunsthistorikerin RoseLee ­Goldberg formuliert wurde.17 Die Kunsthistorikerin Ileana Pintilie verwendet in ihren Analysen die Begriffe action und actionism und vermeidet die Bezeichnungen happening und performance, da Letztere ihrer Meinung nach ein öffentliches Publikum als eine äußerst wichtige Komponente miteinschließen. Im 14 Das Künstlerduo KwieKulik bestand von 1971 – 1987 aus der Künstlerin Zofia Kulik und dem Künstler Przemysław Kwiek. Vgl. dazu Kapitel 4. 15 Im Tschechischen: akční umění, im Slowakischen: umenie akcie, im Deutschen: Aktion oder Wiener Aktionismus. Vgl. Morganová 2014, 23. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. ebd.

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Kontext der rumänischen Kunst während der kommunistischen Zeit waren solche öffentlichen Performances von Anfang an ausgeschlossen – oder aber das Publikum wurde aus einer Anzahl von Kunstliebhaberinnen und Kunstliebhabern zusammengestellt und war somit halböffentlich.18 Auch wenn, wie von Morganová und Pintilie aufgezeigt, die beiden Begriffe „Performance“ und „Aktion“ in der Anwendung auf künstlerische Phänomene in Ostmittel­ europa geringfügige Unterschiede in der Konnotation aufweisen, überwiegen die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der Phänomene, die sie bezeichnen. Nachfolgend werden die beiden Begriffe daher synonym verwendet. In den Fällen, in denen die Künstlerinnen oder Künstler eigene Begriffe entwickelt und angewandt haben, werden diese bevorzugt gebraucht. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte hat 2004 mit ihrer Ästhetik des Performativen 19 nicht nur eine ästhetische Bestimmung des Begriffs „Performativität“ vorgelegt, die bis heute wegweisend ist. Sie hat zudem die Geschichte der Begriffe „Performanz“ und „Performativität“, die der Performancekunst sowie eine Wissenschafts­ geschichte der Disziplinen, die sich mit Performance- und Aktionskunst befassen, geliefert. Bei der Herleitung des Begriffs „Performativität“ nimmt Fischer-Lichte Bezug auf die Konzepte des Sprachphilosophen John Langshaw Austin und der Philosophin Judith Butler, die in Kapitel 3 näher erläutert werden.20 Weniger zentral für die vorliegende Arbeit ist jedoch der Forschungsstand zu Performance- und Aktionskunst allgemein, viel wichtiger sind die Publikationen, die sich dezidiert mit der Medialisierung von Performance- und Aktionskunst befassen. Hier ist vor allem der Kultur-, Theater- und Medienwissenschaftler Philip Auslander 21 zu nennen, dessen Thesen ausführlich in Kapitel 3.4.1 behandelt werden. Die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Barbara Engelbach hat in ihrer Dissertation (2001) anhand vielfältiger Beispiele grundlegende Erkenntnisse zur Medialisierung von Performances vorgestellt.22 Die Kunstkritikerin und Kunsttheoretikerin Rosalind Krauss hat sich bereits 1976 ausführlich mit den narzisstischen 18 Pintilie 2002/II, 8. Es handelt sich dabei um eine erweiterte, englische Ausgabe von Pintilie 2002/I. 19 Fischer-Lichte 2004. Vgl. hierzu außerdem die folgenden Schriften von Fischer-Lichte: FischerLichte 1998; Fischer-Lichte/Fleig 2000; Fischer-Lichte/Wulf 2001; Fischer-Lichte 2003; Fischer-Lichte 2012. 20 Austin 2002 [1962]; Butler 1991; Butler 1997. Zur Diskussion der Begriffe in Bezug auf Austin und Butler vgl. Kapitel 3.4.1 in dieser Arbeit. Eine Unterscheidung der Begriffe „Performanz“ und „Performativität“ hat auch die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal überzeugend dargelegt: Bal 2001. Vgl. hierzu Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. Weitere Annäherungen an die beiden Begriffe finden sich in einem von Uwe Wirth herausgegebenen Sammelband: Wirth 2002. 21 Auslander 2006. 22 Engelbach 2001. Einen überzeugenden Vorschlag zur Analyse medialisierter Performances machte auch Stefanie Stallschus: Stallschus 2010. Im gleichen Jahr erschien folgender Sammelband, der ebenfalls modellhafte Analysebeispiele liefert: Meyer 2006.

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Zügen des Mediums Video beschäftigt und mehrere Performances für die Videokamera analysiert.23 Krauss’ These lieferte impulsartige Anregungen zu den in Kapitel 3.4.3 dieser Arbeit ausgeführten Überlegungen zur Spiegelung, die bei Krauss jedoch unter anderen Prämissen stattfindet.24 Zwei Ausstellungen in jüngerer Zeit beleuchteten im Besonderen die Beziehung zwischen Performance beziehungsweise Performenden und Kamera.25 Für die vorliegende Arbeit wegweisend bei der Definition einer Aktion oder Performance als soziale Situation, in der neue Medien nicht nur fester Bestandteil sind, sondern zu deren Konstitution sie (innerhalb von Medienkulturen) maßgeblich beitragen, waren die Tagung sowie der daraus hervorgegangene Sammelband Präsenzen 2.0 (2015).26 Dies wird in Kapitel 1.3.4 weiter ausgeführt. 1.3.2 Neoavantgarde Der Begriff „Neoavantgarde“ bezeichnet für den ostmitteleuropäischen Raum eine beziehungsweise mehrere künstlerische Strömungen ab dem Ende der 1960er Jahre, die sich alternativ zum offiziellen, das heißt dem vom Staat vorgegebenen, Kunstsystem entwickelten. Das offizielle System schrieb den Sozialistischen Realismus 27 vor und ließ den Künstlerinnen und Künstlern wenig bis gar keinen Spielraum für eine individuelle kreative Entfaltung außerhalb des staatlich vorgegebenen Rahmens. Die Kunstschaffenden der neoavantgardistischen Strömungen hielten sich meist nicht an die Vorgaben des Sozialistischen Realismus, sondern suchten nach eigenen künstlerischen Lösungen. Der Literaturwissenschaftler Peter Bürger postulierte 1974 in seiner Theorie der Avantgarde 28 das Scheitern der Avantgarde, insbesondere der Neoavantgarde. Diese These wurde später unter anderem von Literatur- und Medienwissenschaftlern wie Martin Lüdke und Burkhardt Lindner angezweifelt.29 Die Diskussion darum, was eine Avantgarde sein könne und ob sie gescheitert sei, verdeutlicht, zu welcher Problematik die Verwendung des Begriffs „Neoavantgarde“ führt: Wie auch die Avantgarde bezeichnet er eine sehr heterogene Kunstströmung, und es ist schwierig zu entscheiden, wer dazu gehörte und wer nicht. Zudem geschieht die Zuordnung oft nach politischen Kriterien. Doch da Künstlerinnen und Künstler von konformen zu nonkonformen Haltungen wechseln 23 Krauss 1976. Für eine kurze Zusammenfassung der Thesen vgl. Kapitel 3.4.3 in dieser Arbeit. Zur medialen Spezifik von Video vgl. weiterführend Spielmann 2005. 24 Vgl. hierzu Kapitel 3.4.3. 25 Dirksen/Franzen/Jonas/Lowack 2015; und Baker/Moran 2016. 26 Hahn/Stempfhuber 2015/I. 27 Zur Geschichte des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion vgl. Elliot 1995/I und Elliot 1995/II. 28 Bürger 1974. 29 Vgl. hierzu Lüdke 1976; Lindner 1976; Bożenna Stokłosa versucht in ihrem Essay von 2007, die Avantgardetheorie Bürgers auf die polnische Avantgarde anzuwenden, siehe Stokłosa 2007.

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konnten und umgekehrt 30, stellt diese Art der Zuordnung keine sichere Methode dar. Zusätzlich erschwert die Tatsache, dass auch die Vertreterinnen und Vertreter des Sozialistischen Realismus den Begriff „Avantgarde“ für sich beanspruchten, die Orientierung. Neuere Avantgardetheorien versuchen, die Avantgarde nicht mehr als eine Strömung mit bestimmten Merkmalen, sondern als Netzwerk und Projekt zu sehen.31 Der Kulturwissenschaftler Hubert van den Berg und der Germanist Walter Fähnders verweisen beispielsweise darauf, dass sie als Netzwerk gesehen werden könne. Es handele sich jedoch „gewiss nicht um ein klar strukturiertes Netzwerk, sondern vielmehr um einen rhizomartigen Zusammenhang“.32 Aus der beschriebenen Problematik ergeben sich folgende Fragen: Ist der Begriff „Neoavantgarde“ geeignet, um die künstlerischen Bewegungen Ostmitteleuropas ab 1960 zu fassen? Wie sieht sein Verhältnis zu dem der Avantgarde aus? Inwiefern stützte sich die Neoavantgarde auf Konzepte der vorangegangenen Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts oder versuchte sich von diesen abzusetzen? Gibt es womöglich mehrere, nebeneinander existierende und sich vermischende Neoavantgarden? Welcher Natur waren Selbstverständnis, -wahrnehmung, Ansprüche und Ziele der Künstlerinnen und Künstler? Und in welchem Verhältnis stand die Neoavantgarde in Ostmitteleuropa zur staatlich unterstützten und propagierten Kultur? Die Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeiten nachfolgend diskutiert werden, werden zwar häufig der sogenannten Neoavantgarde zugerechnet, in den Werkanalysen wird es jedoch vornehmlich darum gehen, die spezifischen Besonderheiten von Performances und Aktionskunst im ostmitteleuropäischen Kontext in Form eines Close-up genauer zu beleuchten. 1.3.3 Medien und Netzwerke der Neoavantgarden Ein wichtiges Merkmal der Neoavantgarden ist die Verwendung neuer Medien wie Film und Fotografie und die Bildung von nationalen und internationalen Netzwerken. Es liegt in der Natur der ephemeren Kunstpraktiken, dass sie durch Notizen, Fotografie, Film oder Video dokumentiert und in Archiven gesammelt werden müssen, um für die Nachwelt erhalten zu bleiben. Da die offizielle Kunstgeschichtsschreibung und der Kunstmarkt der sozialistischen Regime hauptsächlich regimekonforme Kunst akzeptierten und unterstützten, mussten unangepasste und der Regierung wie der Kulturpolitik kritisch gegenüberstehende Künstlerinnen und Künstler sowie -gruppierungen ihre Ausstellungen eigenständig organisieren und ihre Kunst selbst dokumentieren und sammeln. Die Verwendung neuer Medien wie Film oder Fotografie ermöglichte den Künstlerinnen und 30 Vgl. hierzu Ronduda 2009/II, 230 – 232 und 249 – 260. 31 Fähnders/Van den Berg 2009, 11 – 14. 32 Ebd., 11.

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Künstlern, unabhängig von staatlich geförderten offiziellen Kulturinstitutionen zu agieren, um alternative soziale Räume für den künstlerischen Austausch zu schaffen. Sie gründeten unabhängige Galerien und begannen informelle Archive aufzubauen, die oft miteinander verbunden waren und Handlungsplattformen und Treffpunkte für Künstlerinnen und Künstler sowie andere Intellektuelle darstellten. Eine weitere Gelegenheit zum Austausch boten internationale Netzwerke wie Fluxus und Mail Art, durch die die Künstlerinnen und Künstler Ostmitteleuropas trotz des Eisernen Vorhangs vom Kunstschaffen Westeuropas und der USA nicht abgeschnitten waren. Sowohl das Fluxus-Netzwerk als auch das der Mail Art funktionierten vorrangig über den Postweg. Die Briefe ermöglichten den durch den Kalten Krieg isolierten Künstlerinnen und Künstlern in Ostmitteleuropa (aber auch in Lateinamerika) internationale Kontakte, insbesondere zum sogenannten Westen, und Anschluss an dortige künstlerische Theorien und Konzepte aufzubauen und zu halten. 1.3.4 Praktiken als Untersuchungsgegenstand Um die medialisierten Performances und Aktionen in ihrer ganzen Komplexität darstellen und die Produktions- und Rezeptionsprozesse analysieren zu können, eignet sich eine praxeologische Herangehensweise. In kleinteiligen und detaillierten Analysen werden die einzelnen Arbeiten einander gegenübergestellt und miteinander verglichen; gleichzeitig wird dadurch jedoch die Heterogenität der Arbeiten und ihrer jeweiligen Kontexte betont. Fragen, die sich aus der Analyse ergeben, können sein: Was tun die Künstlerinnen und Künstler, wenn sie etwas tun? Was sind das für Tätigkeiten? Was genau tun sie? Was wird durch diese Tätigkeit erzeugt? Wie sind diese Praktiken im Körper verankert? Wer ist dabei anwesend? Welche Formen von Präsenz werden erzeugt? Findet eine Interaktion statt? Und wenn ja, wie genau? Welche Formen von Engagement gibt es bei dieser Interaktion? Gibt es technische Geräte? Inwiefern beeinflussen diese die Tätigkeit? Bringen sie neue (künstlerische) Praktiken hervor? Eine neuere Forschungsrichtung hat sich in den letzten Jahren unter dem Begriff „Praxeologie“ herausgebildet. Einige Forscherinnen und Forscher sprechen sogar von einem „practice turn“.33 Die Soziologin Friederike Elias, die Historiker Albrecht Franz und Henning Murmann sowie der Germanist Ulrich Wilhelm Weiser versuchen in dem Tagungsband Praxeologie (2014), die interdisziplinäre Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften herauszuarbeiten und die wichtigsten Forschungsansätze zusammenzufassen.34 Im Fokus der Praxeologie stehen konkrete Akteurinnen und Akteure und deren Praktiken. Vertreterinnen und Vertreter dieser 33 Elias/Franz u. a. 2014/II, 3. 34 Ebd., 3 – 12.

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Forschungsrichtung wenden sich von einem strukturalistischen, normativen Kulturverständnis ab und stellen stattdessen „die praktische Handhabung und Produktion von Kultur im Handeln der Akteure in den Vordergrund“.35 Ziel ist die Erfassung der performativen wie auch der materiellen Dimension der Produktion von Sinn, indem analysiert wird, wie Praktiken zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit beitragen. Wichtige Referenzen in diesem Zusammenhang sind erstens der Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu, der mit dem Begriff des Habitus auf die Reproduktion kultureller Ordnung durch implizit vollzogene, inkorporierte Praktiken verweist, zweitens die Akteur-Netzwerk-Theorie des Soziologen und Philosophen Bruno Latour sowie drittens Butlers Theorien des Performativen. Das praxeologische Forschungsprogramm beinhaltet ein erweitertes Akteursverständnis. Dieses geht davon aus, dass Praktiken grundsätzlich eine materielle Dimension besitzen: Sie beinhalten eine körperliche Performanz oder den Umgang mit Artefakten. Im Fokus der Untersuchung steht daher die Beziehung einer Praktik zum Körper oder zu Artefakten, da nicht allein die (menschlichen) Akteurinnen und Akteure Träger von Praktiken sind, sondern auch Artefakte und Körper „vorhanden sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann“.36 Die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden Theorien von Bourdieu und Butler versucht der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz in seinem Aufsatz von 2004 zu widerlegen, indem er die Frage nach der Stabilität und Repetitivität von Praktiken (Bourdieu) mit der Frage nach der Unberechenbarkeit und Widerständigkeit von Praktiken (Butler) verknüpft. 37 Die Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen praxeologischen Forschungsrichtungen 38 fordern eine Aufwertung der Akteurinnen und Akteure gegenüber den häufig abstrakten Diskursen. Dies passt gut zu dem hier betrachteten Gegenstand, da es sich vorwiegend um künstlerische Arbeiten handelt, die auf alltäglichen Gesten und Handlungen basieren. Dadurch wird vermieden, die Werke ausschließlich in bestehenden (Sinn-)Systemen und mit Hilfe von herkömmlichen Begriffen zu analysieren. Stattdessen stellt die praxeologische Herangehensweise den Versuch dar, die subversiven Konzepte gleichsam mithilfe einer subversiv agierenden Methode zu erforschen und ihnen damit besser gerecht zu werden. Die Methode berücksichtigt die Dynamik, Vieldeutigkeit und Veränderbarkeit der untersuchten kulturellen Phänomene. 35 36 37 38

Ebd., 3. Andreas Reckwitz zit. nach: Elias/Franz u. a. 2014/II, 4. Reckwitz 2004. Für eine grundlegende Einführung in die Praxeologie in der Geschichtswissenschaft vgl. Reichardt 2007. – Reichardt 2015. Zur Praxeologie in den Kulturwissenschaften vgl. Hörning/Reuter 2004. Zur Verbindung von Praxeologie und Performance (in einem erweiterten Sinne) vgl. Göbel/Klein 2017. Neuere Positionen zur Praxeologie im Bereich der Sozialwissenschaften vertreten Hahn/Stempfhuber 2015/I. – Hirschauer 2014. – Knorr Cetina 2009.

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Die Analyse der prozesshaften und ephemeren Phänomene erfolgt in den Analyse­ kapiteln über eine Rekonstruktion und Beschreibung der Produktions- und Rezeptionsprozesse. Ausgehend von alltäglichen Praktiken und Gesten, die den Künstlerkörper in Bewegung versetzen, werden die Konstellation Performende – Kamera – Betrachtende und ihr Verhältnis zum öffentlichen und privaten Raum erforscht. Die Herangehensweise an das historische Material ändert sich durch den praxeologischen Ansatz insofern, als sich aus dem Zusammendenken von Praktiken, Körpern und Medien ein erweiterter Kunst- und Werkbegriff ergibt. Für die Erforschung dieses hybriden Untersuchungsgegenstands bietet die Praxeologie Beschreibungs- und Analysemöglichkeiten, die die Relationen zwischen den einzelnen Einheiten einbezieht. In Ergänzung zu ikonografisch-ikonologisch orientierten Methoden, die als traditionell kunsthistorisch gelten und die sich besonders für die Analyse einer Geste als Bild eignen, ermöglicht die Anwendung praxistheoretisch orientierter Methoden in der Kunstgeschichte die Erforschung künstlerischer Praktiken auf mehreren Ebenen: als performative Tätigkeit, als (kollektiver) Prozess und als lokal verortete Praktik innerhalb transnationaler Künstlernetzwerke. Zudem wird in dieser Arbeit die These vertreten, dass eine praxistheoretisch inspirierte Lesart künstlerischer Phänomene zu einer Multiplizierung der Kunsthistoriografien Ostmitteleuropas beitragen und auf diese Weise eine einseitige Forschung in der europäischen Kunstgeschichte hinterfragen kann. In den einzelnen Analysekapiteln werden zentrale Begriffe des Soziologen Erving Goffman sowie seine Definition einer „sozialen Situation“ 39 vorgestellt, um sie anschließend auf Interaktionen in medialisierten Situationen zu übertragen. Es wird zunächst erklärt, welche Faktoren bei Goffman für die Entstehung, den Verlauf sowie das Ende einer Situation ausschlaggebend sind, um anschließend die verschiedenen Phasen der Medialisierung einer Performance genauer beschreiben zu können. Die untersuchten Formen der Performance für die beziehungsweise in Anwesenheit einer Kamera werden dabei drei verschiedenen Kategorien zugeordnet, die sich auch in Goffmans Begriffsrepertoire wiederfinden und die ein geeignetes Instrumentarium bilden, um in den Werkanalysen eine neue Perspektive aufzuzeigen und die komplexen Situationen und Interaktionen jeweils besser fassen zu können. Warum aber passt Goffmans Analyseinstrumentarium so gut zu den hier ausgewählten Arbeiten? Goffman interessiert sich „für die Bedingungen und Einschränkungen, unter denen Ziele verfolgt oder Handlungen ausgeführt werden, sowie für die damit verknüpften Anpassungsstrukturen“ 40 und weniger für die „Wahl der Ziele oder die Art, in der diese Ziele in ein einziges Handlungssystem integriert werden“ 41. 39 Goffman ²2001 [1982], 55. 40 Goffman 1974 [1971], 11. 41 Ebd.

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Es geht ihm um „die Normen und Praktiken, die von den einzelnen Teilnehmern bei ihren reziproken Handlungen angewendet werden“ 42. Wie die Veranstalterinnen und Veranstalter einer Tagung in Zürich im November 2016 konstatierten, stellen die Strategien, die von Performance-Künstlerinnen und -Künstlern weltweit entwickelt wurden, ihre Orientierung hin zum Ereignis und der Fokus auf den Aspekt der Aktion (auf das doing) eine Herausforderung für die Kunstgeschichtsschreibung dar. Damit meinen sie die Kunstgeschichte, ihre Institutionen und ihre Konzepte. Osteuropa bietet ihrer Meinung nach ein hervorragendes Beispiel der Geschichte der Performance-Kunst, die sich selbst als doing versteht – und zwar nicht nur als einen performativen, sondern als einen künstlerischen Akt.43 Das Kunstprojekt „East Art Map“ (1999 – 2006)44 ist ein Beispiel für eine Strategie, die Künstlerinnen und Künstler entwickelt haben, um eine andere Geschichte der (Performance-)Kunst in Ostmitteleuropa zu schreiben. Es handelt sich bei diesen Strategien um Methoden der Dokumentation, der Sammlung, des Archivierens, des Schreibens, des Kartografierens (mapping), des Reenactment. Der Ankündigungstext der Tagung in Zürich formuliert die dazugehörigen Fragen: Wer sind die Akteurinnen und Akteure dieser Kunstgeschichte? Was sind ihre Konzepte? Wie wurde Performance-Kunst zu Zeiten des Eisernen Vorhangs dokumentiert, archiviert und gesammelt und wie werden diese Dokumente heute historisiert? Welche Theorien der Sammlung, des Archivierens, der Dokumentation können aus diesen künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Prozessen hergeleitet werden?45 Auf weitere Literatur zur Praxeologie wird in den einzelnen Kapiteln im konkreten Zusammenhang mit den Analysen verwiesen. Weitere Begriffe, die für die Analysen im Einzelnen wichtig sind, werden in den jeweiligen Kapiteln herangezogen und erläutert, so zum Beispiel „subversive Affirmation“ 46, „Überidentifikation“ 47, „Geste“ 48, „Spiegelstadium“ 49, das „Abjekte“ 50, „posttotalitäres System“ 51.

42 Ebd. 43 Die Konferenz „Doing Performance Art History“ fand vom 3. – 5. 11. 2016 im Cabaret Voltaire in Zürich statt. Siehe: http://arthist.net/archive/13914 [Zugriff am 15. 5. 2020]. 44 Irwin 2006. Vgl. Unterkapitel 1.4.2.2 in dieser Arbeit. 45 Vgl. den Ankündigungstext der Konferenz: https://arthist.net/archive/13914 [Zugriff am 15. 5. 2020]. 46 Arns/Sasse 2006. Vgl. hierzu Kapitel 2.3.1 in dieser Arbeit. 47 Žižek 1992, 49. Vgl. hierzu auch Arns/Sasse 2006 und Kapitel 2.3.1 in dieser Arbeit. 48 Flusser 1991. Vgl. hierzu Kapitel 2.4.1.1 in dieser Arbeit. 49 Lacan 1973 [1949]. Vgl. hierzu Kapitel 3.4.2 in dieser Arbeit. 50 Kristeva 1982. Vgl. hierzu Kapitel 3.4.9 in dieser Arbeit. 51 Havel 1989. Vgl. hierzu Kapitel 3.5.4 in dieser Arbeit.

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1.4 Forschungsansatz und Methode Für eine fundierte Analyse der künstlerischen Positionen sind kunsthistorische Methoden wie Ikonologie und Ikonografie notwendig, die jedoch um medien-, kultur- und geschichtswissenschaftliche Ansätze und Methoden wie die Praxeologie, den historischen Vergleich, die Verflechtungsgeschichte und Oral Art History ergänzt und erweitert werden. Die Untersuchung der einzelnen Performances und Aktionen erfolgt vergleichend auf vier Ebenen 52: der agierende Körper, der öffentliche Raum, interagierende Kameras und historischer Kontext. Bei diesen Ebenen handelt es sich um abstrakte Differenzierungen, die in der Performance selbst miteinander interagieren und nur theoretisch voneinander geschieden werden können. Theoretische Konzepte fließen dabei direkt mit ein; Begriffsdefinitionen werden an den Stellen erläutert, an denen sie unmittelbar für das Verständnis der Interpretation benötigt werden. Der Analyse der einzelnen Arbeiten wird ein erweiterter Werkbegriff zugrunde gelegt. Durch die Berücksichtigung von ephemeren Kunstformen wie Performance, Aktionskunst und Body Art, Konzeptkunst und Netzwerken wie Fluxus und Mail Art wird deutlich gemacht, auf welche Weise der Kunstbegriff im Kontext der neoavantgardistischen Bewegungen erweitert wurde, welche Medien eingesetzt wurden und inwiefern die Wahl des Mediums mit den historischen sozialpolitischen und geistesgeschichtlichen Hintergründen zusammenhing. Kunstwerke existieren nicht als autonome Objekte, sondern bewegen sich in verschiedenen Diskursen, wie dem der offiziellen/staatlichen und alternativen/inoffiziellen Kunst, dem nationalen und globalen Kunstdiskurs. Ein kontextualistischer, komparatistischer und interdisziplinärer Forschungsansatz ist unabdingbar, um die Kunstwerke und Kommunikationstechniken der Neoavantgarden Ostmitteleuropas analysieren und rekonstruieren zu können. Außerdem bestimmen folgende Ansatzpunkte das wissenschaftliche Vorgehen: Zum einen soll die Ost-West-Dichotomie aufgebrochen und das Schema von Zentrum und Peripherie dekonstruiert werden. Dabei wird vermieden, vom Einfluss des sogenannten Westens auf den sogenannten Osten zu sprechen. Vielmehr soll hier im Anschluss an die Theorie des Kunsthistorikers Michael Baxandall 53 die aktive und bewusste Rezeption von als westlich verstandenen Ideen und Konzepten in der ostmitteleuropäischen Kunst hervorgehoben werden. Zum anderen wird versucht, über eine national begrenzte Kunsthistoriografie hinauszugehen.

52 Inspiration für dieses Vorgehen lieferte Landwehr 22009, 107 – 109. Landwehr schlägt für die Analyse ebenfalls vier Ebenen vor: 1. Situativer Kontext, 2. Medialer Kontext, 3. Institutioneller Kontext, 4. Historischer Kontext. 53 Baxandall 1985, 58 – 62.

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1.4.1 Zeitliche und räumliche Eingrenzung und die Konzeption Ostmitteleuropas Die Untersuchung konzentriert sich auf den Zeitraum der 1970er Jahre.54 Während des Zweiten Weltkriegs war die künstlerische Vorkriegs-Avantgarde in Ostmitteleuropa zerschlagen oder vertrieben worden. Unmittelbar nach 1945 fand in der Kunst vor allem eine Verarbeitung der Kriegserlebnisse statt. Die Künstlerinnen und Künstler versuchten, ihre alten Netzwerke zu aktivieren oder neue Kontakte zu knüpfen.55 Es folgte die Einführung des Sozialistischen Realismus und eine größtenteils erzwungene Anpassung der Künstlerinnen und Künstler an das neue politische System. Eine neue Künstlergeneration wuchs heran, die ab den 1960er Jahren verstärkt nach alternativen künstlerischen Lösungen zu suchen begann. Dazu wurde mit Neuen Medien (Fotografie, Film, seltener Video), der Vermischung von Medien (Intermedia) und dem eigenen Körper (Body Art, Aktionskunst) experimentiert, es wurde nun vermehrt kollaborativ und konzeptuell gearbeitet. In den einzelnen Staaten in der sowjetischen Einflusszone gab es sogenannte Tauwetterphasen, das heißt Phasen der Liberalisierung und der Öffnung Richtung Westeuropa und USA , in denen sich Kunst und Kultur relativ frei entfalten konnten. Die wechselnden Phasen der Liberalisierung oder einer verschärften Freiheitseingrenzung waren von Land zu Land verschieden.56 In seinem Aufsatz On „Two Voices of Art History“ 57 weist der Kunsthistoriker Piotr Piotrowski sowohl auf die historisch-politischen Unterschiede als auch auf die Gemeinsamkeiten in den einzelnen Ländern Ostmitteleuropas hin. Im Jahr 1948 begann die Implementierung stalinistischer Kulturpolitik in ganz Osteuropa – außer im damaligen Jugoslawien, wo im selben Jahr eine kulturelle Liberalisierung einsetzte. 1956 begann in einigen Ländern Osteuropas, besonders in der Volksrepublik Polen und in der damaligen Sowjetunion, eine Zeit des Tauwetters. In den Volksrepubliken Bulgarien und Rumänien existierte diese Phase jedoch nicht. In den Jahren von 1968 bis 1970 setzte die sogenannte Normalisierung ein, die das Ende der liberalen Kulturpolitik und in einigen Ländern massive Unterdrückung einläutete, wie nach der Niederschlagung des sogenannten Prager Frühlings in der Tschechoslowakei. In der Volksrepublik Polen hingegen markierte das Jahr 1970 den Beginn limitierter künstlerischer Freiheiten. In den frühen 1980er Jahren stellt Piotrowski ähnliche Differenzen fest. In der Volksrepublik Polen herrschte zu dieser Zeit Kriegsrecht, während in der Volksrepublik Ungarn der sogenannte Gulaschkommunismus 54 In einzelnen Fällen, wie bei den Arbeiten von Endre Tót, werden Beispiele aus den 1980er Jahren berücksichtigt. 55 Rottenberg 1999, 201 – 203. 56 Piotrowski 2009 [2005], 9. 57 Piotrowski 2006, 55.

Forschungsansatz und Methode  |

waltete, ein konsumorientiertes Modell des sozialistischen Staates, das sich durch eine Offenheit gegenüber dem Westen und eine signifikante Liberalisierung der Kulturpolitik auszeichnete. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass hier keinesfalls das Bild eines homogenen Ostmitteleuropa gezeichnet werden kann, sondern vielmehr von parallel stattfindenden und oft sehr unterschiedlichen Bewegungsrichtungen zwischen Liberalisierung und Unterdrückung gesprochen werden muss. Die Jahre 1945 und 1989 markieren jedoch für ganz Ostmitteleuropa zwei Einschnitte. Mit 1945 sind das Kriegsende und der Beginn der sowjetischen Herrschaft in Ostmitteleuropa verbunden, was jeweils unterschiedliche spezifische Folgen in den einzelnen Ländern nach sich zog. Das Jahr 1989 und der Fall der Berliner Mauer führten ebenfalls in ganz Ostmitteleuropa zu Veränderungen, die wiederum von Land zu Land ganz unterschiedlich ausgefallen sind. Der gemeinsame Rahmen dieser lokalen Kulturen und ihrer Modi künstlerischer Produktion war das Machtsystem, das in unterschiedlichen Variationen einige gemeingültige Funktionen hatte und auf den folgenden Vorgaben basierte: keine Demokratie und die Kontrolle der kommunistischen Partei über den öffentlichen Raum.58 Der Kunsthistoriker Łukasz Ronduda und der Kunstsoziologe Patryk Wasiak erklären überzeugend, dass in der Volksrepublik Polen mit der Einführung des Kriegsrechts 1981 eine neue Zeit angebrochen sei und daher mit diesem Jahr die Zeit der Neoavantgarde als abgeschlossen angesehen werden könne.59 Mit der Wende von 1989 begann im gesamten sogenannten Ostblock eine neue Ära. Neben der zeitlichen Eingrenzung nehme ich in meiner Arbeit auch eine räumliche Eingrenzung auf Performances und Aktionen, die in Ostmitteleuropa entstanden, vor. Dass Ostmitteleuropa ein komplexes, nicht unbedingt trennscharfes Konstrukt ist und was genau ich darunter verstehe, werde ich im Folgenden erläutern. Der Begriff „Ostmitteleuropa“ 60 bezeichnet das Gebiet mit den heutigen Landesgrenzen Polens, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarns. Seltener werden auch Rumänien und die ehemalige DDR hinzugezählt. Das Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa der Universität Oldenburg zählt zum Raum Ostmitteleuropa im weitesten Sinne die Regionen zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer […], das heißt der Ländergürtel von Finnland und Estland im Norden bis Ungarn, Kroatien und Rumänien im Süden einerseits und von der Germania Slavica im Westen bis zu den „Kresy“ der polnisch-litauischen Adelsrepublik im Osten andererseits.61

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Piotrowski 2006, 55. Ronduda 2009/II, 375. – Wasiak 2010. Vgl. dazu Karger 1997, 146. – Šuvakovič 2003, 90. Vgl. dazu auch Halecki 1957/I. – Halecki 1957/II. Hackmann 2015.

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Im engeren Sinne umfasst Ostmitteleuropa dem Online-Lexikon zufolge die nachstehen­ den historischen Regionen Polen-Litauen, die böhmischen Länder und Ungarn sowie Siebenbürgen. In den gegenwartsbezogenen Wissenschaftsdisziplinen sind dementsprechend mit Ostmitteleuropa in der Regel die Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) sowie mitunter auch die baltischen Staaten, Weißrussland, die Ukraine, Slowenien und Kroatien gemeint.62

In meiner Arbeit untersuche ich Arbeiten aus den – jeweils ehemaligen – Volksrepubliken Polen und Ungarn, der Tschechoslowakei und der Sozialistischen Republik Rumänen. Die Volksrepublik Polen und die Tschechoslowakei gelten als typische Beispiele ostmittel­ europäischer Länder in der Zeit des Kalten Kriegs. Im Gegensatz dazu ist Rumänien für die vorliegende Untersuchung besonders interessant, weil die historischen Gegeben­ heiten – sowohl während der Zeit des Kommunismus als auch davor – signifikant anders waren als in den sogenannten Visegrád-Staaten und der ehemaligen DDR. Auch wenn Rumänien meist zu Südosteuropa gezählt wird, hat es durchaus Gemeinsamkeiten mit Ostmitteleuropa – es gibt jedoch auch Unterschiede. Um die Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Transfer offen zu stellen, habe ich mich bewusst dafür entschieden, Rumänien zu berücksichtigen. In den Einzelanalysen konnte ich beispielsweise feststellen, dass künstlerische Performances und Aktionen in Rumänien und der Tschechoslowakei einige Gemeinsamkeiten aufweisen, da die Regierungen beider Länder restriktiver als in den anderen Vergleichsfällen agierten. Das Gebiet Ostmitteleuropa hängt sowohl geopolitisch als auch kulturhistorisch zusammen und kann daher als eine Einheit betrachtet werden. Die Region ist demnach nicht allein geografisch zu bestimmen, sondern vielmehr historisch, politisch und kulturell. Das gilt entsprechend auch für die Abgrenzung von Ostmitteleuropa gegen benachbarte Regionen. Nicht nur in geschichtswissenschaftlicher Perspektive stellt sich dabei das Problem, dass diese Abgrenzungen nicht trennscharf zu ziehen sind und sich folglich stellenweise recht vielschichtige Überlappungen mit Mitteleuropa, Nordosteuropa, Südosteuropa und Osteuropa ergeben.63

Der Osteuropa-Historiker Joachim von Puttkamer geht sogar so weit, unterschiedliche Definitionen in Abhängigkeit von der jeweiligen Betrachterperspektive vorzuschlagen:

62 Ebd. 63 Ebd.

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Da historische Strukturräume letztlich diskursive, von der Perspektive des jeweiligen Betrachters geprägte Konstrukte darstellen, muss sich jede Definition Ostmitteleuropas an pragmatischen Kriterien ausrichten, die dem jeweiligen Erkenntnisinteresse entsprechen. […] Je nach Zugang werden folglich auch die Grenzen Ostmitteleuropas unterschiedlich weit gezogen.64

Und der Historiker und Slavist Stefan Troebst führt in seinem Beitrag „Geschichtsregion“: Historisch-mesoregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften (2010) die Geschichtsregion als einen heuristischen Kunstgriff ein, mittels dessen nicht-territorialisierte, aber epochal eingegrenzte historische Mesoregionen staaten-, gesellschaften-, nationen- oder gar zivilisationenübergreifender Art zur Arbeitshypothese komparativer Forschung genommen werden.65

Ziel sei es dabei, „spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen“ 66, wobei nicht die einzelnen Merkmale dabei einzigartig und somit clusterspezifisch seien, sondern ihre jeweilige Kombination. Die großflächigen, indes epochengebundenen Cluster dieser Art können als Geschichtsregionen bezeichnet werden und seien dabei „‚fluktuierende Zonen mit fließenden Übergängen‘, die in sich entsprechend in Zentren und Peripherien gegliedert werden können“ 67. Das Spezifische ist jeweils nicht ohne ein Umfeld denkbar und die eine Geschichtsregion ist nur im Kontext anderer zu fassen. Die Binnenstruktur einer Geschichtsregion zeichnet sich demnach durch Relationalität und Beziehungshaftigkeit aus. Diese innerhalb der historischen Teildisziplin Osteuropäische Geschichte entwickelte Methode mit transnational-vergleichendem Forschungsdesign wird auch in auf das östliche Europa bezogenen Teilen der Kunstgeschichtsforschung verwendet. Troebst verfolgt die Verwendung des Begriffs „Ostmitteleuropa“ in der kunsthistorischen Forschung zurück zu dem Kunsthistoriker Jan Białostocki, der sogenannte „‚Kunstregionen‘ (artistic regions)“ 68 erforschte, und weist darauf hin, dass Begriffe wie Ostmitteleuropa oder East Central Europe in der Kunst­ geschichte zunächst „kritisch an das in der Zwischenkriegszeit in Deutschland entwickelte (und stark deutschtumszentrierte) Konzept der ‚Kunstgeographie‘ an[knüpften]“ 69. Im Jahr 1998 hinterfragte eine Tagung in Großbritannien den Ansatz der ­Kunstgeografie

64 Puttkamer 2011, 154. 65 Troebst 2010. 66 Ebd. 67 Ebd. Troebst verweist auf: Strohmeyer, 1999, 47. 68 Ebd. Troebst verweist auf: Białostocki 1976/I. Vgl. auch Białostocki 1976/II. 69 Ebd.

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anhand von ostmitteleuropäischen Fallbeispielen.70 Die Frage „Gibt es eine Kunstlandschaft Ostmitteleuropa?“ beantwortete die Kunsthistorikerin Marina Dmitrieva-Einhorn überwiegend positiv.71 Wie der Historiker Joachim von Puttkamer, der sich an den Historikern Alexei Miller 72 und Rudolf Jaworski 73 orientiert, plädiert die vorliegende Arbeit dafür, den Begriff Ostmitteleuropa „aus seinen vielfältigen politischen Instrumentalisierungen zu lösen und ihn flexibel und undogmatisch zu handhaben“ 74. Denn ein offenes, nicht dogmatisch verstandenes historiografisches Konzept von Ostmitteleuropa kann „neue Perspektiven aufzeigen und in dem Blick auf übergreifende Gemeinsamkeiten ein längst überfälliges Korrektiv zu den etablierten Ländergeschichten mit ihrer Fixierung auf den Nationalstaat bieten“ 75. Das Online-Lexikon der Universität Oldenburg warnt vor einer leichtfertigen Verwendung des Begriffs und betont, dass „‚Ostmitteleuropa‘ nach wie vor ein vielschichtiger, spannungsgeladener Begriff“ sei: Er ist einerseits eine wissenschaftlichen oder politischen Konzeptionen entstammende Begriffskonstruktion, andererseits aber auch Teil eines Begriffsfeldes identitätsbildender Selbstzuschreibungen, also einer „mental map“, die gesellschaftliche Wertsysteme, nicht aber naturräumliche Tatsachen abbildet.76

Doch auch wenn der Einsatz des Konzepts Geschichtsregion Risiken birgt und es zu Missverständnissen kommen kann, gibt es Anwendungs- und Erkenntnismöglichkeiten solcher Konzeptionen im Forschungsalltag. Für die hier interessierenden Fragestellungen

70 Vgl. Murawska-Muthesius 2000. Zit. nach: Troebst 2010. 71 Vgl. Dmitrieva-Einhorn 2004. Siehe auch Labuda 1993 und Troebst 2010. 72 Miller 2002. 73 Jaworski 1992. 74 Puttkamer 2011, 154. 75 Ebd., 155. 76 Hackmann 2015. Zu der Bezeichnung „Visegrád“ vgl. auch die Definition im Info-Portal Östliches Europa auf der Seite der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: „Die vier Hauptstaaten Ostmitteleuropas – Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei – werden mitunter auch als ‚Visegrád-Staaten‘ bezeichnet. Dieser Name geht auf den Beschluss eines losen Bündnisses zurück, das Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei 1991 in der ungarischen Stadt Visegrád schlossen. Dadurch sollte die Kooperation der Staaten im regionalen Bereich, sowie in Wirtschaft und Kultur vertieft werden. Seit der Teilung der Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei besteht die Visegrád-Gruppe aus vier Staaten. Die Gründung eines eigenen Bündnisses und die Annäherung an die europäische Gemeinschaft ermöglichte der Staatengruppe eine Abkoppelung von der ehemaligen UdSSR. […]“ Siehe: https://osteuropa.lpb-bw.de/ostmitteleuropa-uebersicht?no_cache=1&sword_list%5B0 %5D=visegr%​ C3 %A1d&cHash=5db9571edcc9db52605d46ac81303589 [Zugriff am 15. 5. 2020].

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ist die Überwindung nationalgeschichtlicher Engführung mittels transnationaler Vergleiche von zentraler Bedeutung.77 Es wird jedoch nachfolgend nicht vorrangig darum gehen, den Begriff „Ostmitteleuropa“ kritisch zu überprüfen, sondern darum Arbeiten zu untersuchen, die in einem vergleichbaren soziopolitischen Rahmen entstanden und die auf diesen Kontext mit ähnlichen, aber auch mit sehr unterschiedlichen Strategien reagierten. Trotz der ähnlichen kulturellen Entwicklungen und künstlerischen Strategien muss jedoch immer die jeweilige politische Situation und der davon abhängige Grad der Freiheit der Künstlerinnen und Künstler in den einzelnen Ländern berücksichtigt werden. 1.4.2 Historischer Vergleich und Verflechtungsgeschichte 78 Die Historikerinnen und Historiker Agnes Arndt, Joachim C. Häberlen und Christiane Reinecke heben in ihrer Einführung Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis in dem Sammelband Vergleichen, Verflechten, Verwirren …79 die Vorteile einer Verflechtungsgeschichte im Hinblick auf die komparative Forschung zur Europäischen Geschichte hervor. Die beispielhaften Analysen in ihrer Publikation setzen „‚west-‘ und ‚osteuropäische‘ Räume zueinander in Bezug“ 80 und fragen „über die ehemaligen ‚Blockgrenzen‘ hinweg nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, nach Abgrenzungen und Verflechtungen“ 81. Die vorgestellte Vielfalt der geografischen Zugänge bietet „die Möglichkeit, sich dem Feld der ‚Europäischen Geschichte‘ vor allem kritisch zu nähern“ 82. Die Autorinnen und Autoren plädieren für eine Hinterfragung der „in der deutschen historischen Forschung nach wie vor klar dominierende[n] Trennung von „allgemeiner“ (und damit im allgemeinen Verständnis zumeist „westeuropäisch“ konnotierter) sowie „ostmitteleuropäischer“ Geschichte“ 83 und weisen auf die zahlreichen Verflechtungen europäischer 77 Troebst 2010. Zur Debatte der transnationalen Geschichte im deutschsprachigen Raum vgl. Budde/ Conrad/Janz 2010; Conrad/Eckert/Freitag 2007 und Osterhammel 2008. Zum Begriff der „transnationalen Geschichte“ und insbesondere den Abgrenzungen zwischen „transnationalen“, „supranationalen“ und „internationalen“ Zugängen vgl. Clavin 2005 und Gassert 2012. 78 Die Grundlagen für den folgenden Abschnitt wurden im Rahmen eines Workshops mit dem Titel „Vergleich in der Praxis. Der praktische Vergleich in der europäischen Geschichte und Kunstgeschichte“ erarbeitet, den die Autorin am 10. Juli 2014 gemeinsam mit Stefanie Coché an der Universität zu Köln organisierte. Der Workshop wurde gefördert von ZEUS, dem Zentrum für vergleichende Europäische Studien an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, und unterstützt durch die a. r. t. e. s. Graduate School for the Humanities Cologne. 79 Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/I. 80 Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/II, 11. 81 Ebd. 82 Ebd., 12. 83 Ebd.

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mit außereuropäischen Entwicklungen hin. Vor diesem Hintergrund werden in dem von Arndt, Häberlen und Reinecke herausgegebenen Sammelband Räume und Grenzen, Akteure und soziale Praktiken sowie Konzepte und Repräsentationen untersucht.84 In der nachfolgenden komparatistischen Analyse findet der Vergleich zwar vorwiegend innerhalb Ostmitteleuropas statt. Teile der einzelnen Vergleiche sind jedoch stark verflechtungsgeschichtlich angelegt. Der ungarische Künstler Endre Tót beispielsweise emigrierte 1980 nach Westdeutschland und führte seine Straßenaktionen, die er bereits in Budapest konzipiert hatte, in ganz Europa auf. Auch seine Kommunikation über das Netzwerk der Mail Art war nationalen Grenzen übergeordnet. Der tschechische Künstler Jiří Kovanda hatte seine erste Ausstellung in Warschau und bekam dort Kontakt zu Künstlern in Prag (tschech. Praha), die er in Prag vielleicht nie kennengelernt hätte. In Warschau besuchte er das Studio des Künstlerduos KwieKulik, das als internationaler Knotenpunkt für Künstlerinnen und Künstler in ganz Ostmitteleuropa fungierte. Die polnische Künstlerin Natalia LL  85 sammelte wichtige Erfahrungen in New York, die sie in Kontakt mit feministischen Diskursen brachten, die ihre weitere Arbeit maßgeblich mitprägten. Selbst der rumänische Künstler Ion Grigorescu, der seine Arbeiten sehr isoliert schuf und in den 1970er Jahren in Rumänien so gut wie keinen Austausch mit anderen Performance-Künstlerinnen und -Künstlern hatte, unternahm eine Reise nach Westeuropa und orientierte sich an westeuropäischer und US -amerikanischer Performance-Kunst. Der verflechtungsgeschichtliche Blick auf das Thema Performance und Aktionskunst in Ostmitteleuropa ist daher nicht nur bereichernd, sondern absolut notwendig für das vorliegende Forschungsprojekt. Wie genau sich die geschichtswissenschaftlichen Ansätze in der Kunstgeschichte und speziell im Hinblick auf Osteuropa anwenden und fruchtbarmachen lassen, wird im Folgenden dargestellt. In Bezug auf forschungspraktische Fragen, die sich aus einer vergleichenden und zugleich verflechtungsgeschichtlich argumentierenden Perspektive ergeben, diskutieren Arndt, Häberlen und Reinecke die neuesten Forschungsergebnisse der Geschichtswissen­ schaften. Die Autorinnen und Autoren sprechen vor allem zwei Probleme an: Zum einen wird auf die Tatsache hingewiesen, dass lange Zeit bestimmte Themen als nicht vergleichstauglich galten. Zu diesen Themen gehörten Imperien, alltagsgeschichtliche Prozesse, der Eigensinn von Akteurinnen und Akteuren, Diskurse, Begriffe oder auch Ästhetik.86 Der andere Punkt ist die praktische Umsetzung der Konzepte Vergleich 87, 84 Ebd. 85 Der bürgerliche Name lautet Natalia Lach-Lachowicz. Vgl. hierzu Kapitel 3. 86 Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/II, 13. 87 Zur komparativen Geschichtsschreibung vgl. Haupt/Kocka 1996/II. – Kaelble 1999. – Welskopp 1995.

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Transfer 88, Verflechtung beziehungsweise „Histoire croisée“ 89, „entangled histories“ 90 oder „shared history“ 91. Dabei betonen die Autorinnen und Autoren die Schwierigkeit, verschiedene staatliche Rahmenbedingungen, Transferphänomene sowie die Multiperspektivität des Untersuchungsgegenstandes zu berücksichtigen und zugleich die eigene Rolle als Forscherin oder Forscher zu reflektieren. Arndt betont die Herausforderung, die Vielzahl der Analyseergebnisse, die bei einer solchen Vorgehensweise unweigerlich entstehen, in ein zusammenhängendes Narrativ zu bringen.92 Bei der Betrachtung von Geschichte und Kunstgeschichte in ihrer Forschungstradition kann festgestellt werden, dass in den Geschichtswissenschaften Ende der 1990er Jahre eine lebhafte Diskussion über Vergleich, Transfer und Verflechtung stattfand 93, während in der Kunstgeschichte die theoretisch-methodische Diskussion zum vergleichenden Arbeiten weniger ausgeprägt war und andere Schwerpunkte ausbildete. Innereuropäische Vergleiche, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, stießen die Debatte in der Geschichtswissenschaft an – in der Kunstgeschichte hingegen lösten vor allem die Postcolonial Studies 94 entsprechende Streitgespräche aus. In der Kunstgeschichte wurde zum nationalen Vergleich zwar keine so ausgeprägte Diskussion wie in der Geschichte geführt, gleichwohl rezipierte die Kunstwissenschaft die Ergebnisse der Diskussion in den Geschichtswissenschaften. Dies ist insofern erstaunlich, als die Kunstgeschichte die Disziplin ist, in der vergleichendes Sehen nahezu als Grundmethode der Forschung 88 Zur Transferforschung vgl. Espagne 1994. – Geppert/Mai 2000. – Kaelble/Schriewer 2003. – Paulmann 1998. Die Vertreterinnen und Vertreter der Transferforschung betonen die Interaktionen zwischen Kulturen oder Gesellschaften und analysieren Austauschprozesse sowie die Bewegung von Menschen, materiellen Gegenständen, Konzepten und kulturellen Zeichensystemen im Raum. Vgl. Middell 2000, 18. 89 Die relationale Perspektive der Verflechtungsgeschichte oder Histoire croisée ist im europäischen Raum verhaftet und fordert in erster Linie eine kritische Selbstreflexion der Forschenden auf ihre sprachlichen und kulturellen Vorprägungen. Vgl. Werner/Zimmermann 2002, hier: 618 zur Forderung, mindestens zwei unterschiedliche Blickwinkel auf das Untersuchungsobjekt anzuwenden; vgl. dazu auch Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/II, 14. 90 Zu dem Konzept der „entangled histories“ vgl. Conrad/Randeria 2002/II. – Randeria 2002. Das Konzept der „entangled histories“ geht zurück auf die Geschichte des Zuckers von Sidney Wilfred Mintz: Mintz 1986. Den Konzepten „entangled histories“ und „shared history“ ist gemein, dass sie den Blick auf den wechselseitigen Austausch und die Interdependenzen zwischen verschiedenen Kulturen oder Gesellschaften lenken. Vgl. hierzu Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/II, 14. 91 Zum Konzept der „shared history“ vgl. Cooper/Stoler 1997/II. Die „shared history“ lenkt ihren Blick auf die Interferenzen und geteilten Erfahrungen von Peripherie und Metropole, Kolonialisierenden und Kolonialisierten und übt damit Kritik am gängigen Eurozentrismus der Forschung. Vgl. Arndt/ Häberlen/Reinecke 2011/II, 14. 92 Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/II, 16. 93 Vgl. hierzu die Debatten in folgenden Aufsätzen und Artikeln: Kaelble 2005. – Welskopp 1995. – Werner/Zimmermann 2002. Vgl. außerdem Conrad/Osterhammel 2006. 94 Vgl. hierzu beispielhaft Karentzos 2002. – Schmidt-Linsenhoff 2002.

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betrachtet werden kann. Gerade dadurch hat es den Charakter des Selbstverständlichen und die vergleichenden Sehgewohnheiten und Modelle wurden erst in neuerer Zeit explizit gemacht und hinterfragt. So wurde in dem von den Kunsthistorikerinnen und -historikern Lena Bader, Martin Gaier und Falk Wolf herausgegebenen Sammelband Vergleichendes Sehen 95, der auf ein gleichnamiges Forschungsprojekt in Basel zurückgeht, in mehreren Beiträgen die Tradition der Doppelprojektion hervorgehoben. Der klassische Vergleich in der Kunstgeschichte fand ausgehend von dieser parallelen Projektion im dunklen Höroder Vortragssaal immer zwischen zwei Bildern statt. Dabei wurde oft übersehen, dass es sich um unterschiedlich große Bilder, in verschiedenen Medien und aus verschiedenen Kontexten handelte. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der mit seinem großangelegten Bilderatlas „Mnemosyne“ 96 in den 1920er Jahren den Vergleich zwischen Bildern ungeachtet ihrer Größe, ihres Mediums oder ihres Kontextes etablierte. Formale Vergleiche vernachlässigen oftmals inhaltliche Fragen – oder umgekehrt – und werden den Objekten nicht immer gerecht. Dies erinnert an den oft erhobenen Einwand in der Zeitgeschichte, der Nationalsozialismus dürfe nicht mit sozialistischen Diktaturen verglichen werden, da die Gefahr bestünde, mit dem Vergleich beide gleichzusetzen und damit die Schrecken des NS-Regimes zu trivialisieren. Das Problem des Gleichmachens durch die Methode des Vergleichs ist also ein in Geschichte und Kunstgeschichte bekanntes Phänomen. Neuere Forschungsansätze versuchen diese Geschichte des vergleichenden Sehens mitzudenken und kritisch zu reflektieren. Zu fragen wäre, ob die aktuellen Präsentationstechniken mit neuen Medien in der Kunstgeschichte das binäre Vergleichsschema aufbrechen oder sogar aufgegeben haben und inwiefern sich daraus neue Sehweisen ergeben. Bezogen auf die Kunstgeschichte ist zudem hervorzuheben, dass sich Diskussionen um den Vergleich zwischen europäischen Nationalstaaten vor allem für den Forschungsbereich Ostmitteleuropa ergeben haben und besonders hitzig geführt wurden. Lange lag der Fokus der klassischen Kunstgeschichte auf den Ländern England, Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden und Deutschland, die als Wiege der Hochkultur in Europa galten. Die Beschäftigung mit Ostmitteleuropa war weniger selbstverständlich und mit der Wiederentdeckung Osteuropas Ende der 1990er Jahre wurden vermehrt methodische Fragen gestellt. Piotrowski, der als einer der ersten Kunsthistoriker eine vergleichende Studie zur Kunst und Kunstgeschichte im ostmitteleuropäischen Raum vorgenommen hat, hat den Begriff der „critical geography“ 97 vorgeschlagen und daran anschließend eine hilfreiche methodische Herangehensweise für die Erforschung der ostmitteleuropäischen Kunstgeschichte entwickelt, die im Folgenden vorgestellt wird. 95 Bader/Gaier/Wolf 2010. 96 Vgl. hierzu beispielsweise: Brehm/Heil/Ohrt 2016. 97 Piotrowski 2005/II, 153.

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1.4.2.1 Critical Geography Mit der Publikation In the Shadow of Yalta 98 setzte Piotrowski es sich zum Ziel, die Lücken in den – fast ausschließlich auf den sogenannten westlichen Kanon fokussierten – Kunstgeschichtsbüchern zu füllen und eine ausgeglichenere Studie der Nachkriegskunst in Ostmitteleuropa zu schreiben. Piotrowski nennt seinen methodisch-theoretischen Zugriff „critical geography“ 99, womit er an die „relational geography“ 100 der Kulturwissen­ schaftlerin Irit Rogoff anknüpft, und distanziert sich damit von der essentialistischen Basis der traditionellen Kunstgeografie, die einer Blut-und-Boden-Mentalität verhaftet war.101 In seinen Aufsätzen Between Place and Time: A Critical Geography of „New“ Central Europe 102, On „Two Voices of Art History“ 103 und On the Spatial Turn, or Horizontal Art History 104 bestimmt Piotrowski die Critical Geography als „pluralistisch, multidimensional und ahierarchisch“ 105. Sein Ziel ist es, regionale, staatliche und globale Perspektiven miteinander zu verflechten. Er benennt zwei Probleme der ostmitteleuropäischen Kunstgeschichte: das Problem der Marginalisierung – laut Piotrowski liegt Osteuropa „an der geografischen Peripherie der kulturellen Machtzentren, die sich in den großen Metropolen des Westens befinden – sowohl zu Zeiten der Moderne als auch zu Zeiten der Postmoderne“ 106 – und das Problem der Hierarchisierung. Eine „horizontale Kunstgeschichte“ 107, verkörpert durch die Critical Geography, kann seiner Meinung nach diese beiden Probleme lösen, da sie kumulativ arbeitet und in ihrer Analyse viele sich überlappende Prozesse kombiniert. Sie ist eine kritische „Geografie, die nach der kulturellen Differenz fragt“ 108 – unabhängig von spezifischen sozialen oder ethnischen Gruppen. Der Fokus verschiebt sich von den Machtzentren hin zur Peripherie. Die Critical Geography ist eine Strategie, die Relationen zwischen Subjekt und Ort neu zu denken. Sie bezieht sich dabei jedoch nicht auf nationale Systeme, sondern auf kulturelle Differenz.109 Mit Hilfe dieses methodisch-theoretischen Ansatzes wird es möglich, ostmitteleuropäische Kunstgeschichte auf einer komparativen und kontextualisierenden Ebene zu reflektieren. 98 Piotrowski 2009/III. 99 Piotrowski 2005/II, 153. 100 Rogoff 2003. 101 Piotrowski 2005/II, 153. 102 Ebd. 103 Piotrowski 2006. 104 Piotrowski 2008. 105 Piotrowski 2005/II, 155. Piotrowski knüpft hier an die Histoire croisée an: vgl. hierzu Werner/ Zimmermann 2002. 106 Piotrowski 2006, hier 49 – 50. 107 Piotrowski 2009/I und Piotrowski 2008. 108 Piotrowski 2006, hier 49 – 50. 109 Ebd., hier 50.

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1.4.2.2 East Art Map Eine andere Herangehensweise hat das Künstlerkollektiv IRWIN mit dem künstlerischen Projekt East Art Map (1999 – 2006)110 gewählt. Die slowenische Gruppe IRWIN wurde 1983 in Ljubljana gegründet (Dušan Mandič, Miran Mohar, Andrej Savski, Roman Uranjek und Borut Vogelnik) und gehört zum Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK). Bei dem Projekt East Art Map handelt es sich um einen Versuch, die Kunstgeschichte Ostmitteleuropas neu zu schreiben und eine Landkarte der Kunst hervorzubringen. Das Projekt, das zwei Phasen hatte (die erste Phase dauerte von 1999 bis 2002, die zweite Phase von 2002 bis 2005, die Publikation erschien jedoch erst 2006) ist demokratisch aufgebaut, ahierarchisch und horizontal – wie es auch Piotrowski gefordert hat. East Art Map will bislang unbekannte Bereiche der Kunst des östlichen Europas ab 1945 erschließen und zugänglich machen. Ziel ist der Aufbau eines Orientierungssystems, das über nationale Grenzen hinweg Zusammenhänge aufzeigt und Vergleiche ermöglicht. Die Topografie kann im Internet durch die Öffentlichkeit verändert werden. In Zusammenarbeit mit Universitäten werden östliche und westliche Kunstproduktionen erforscht, aufgearbeitet und in Beziehung gesetzt.111

1.5 Forschungsstand Die Beschäftigung mit ostmitteleuropäischer Kunst konfrontiert uns mit unserem jeweils eigenen Blick auf die Kunstgeschichte und macht die Notwendigkeit deutlich, bestehende Narrative und Perspektiven, die vorrangig für Kunst in Westeuropa und den USA entwickelt wurden, zu hinterfragen. Haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kuratorinnen und Kuratoren zu Beginn der 1990er Jahre bei der Entdeckung Ostmitteleuropas vorwiegend nach dem Ähnlichen im Anderen gesucht und versucht, das Vorgefundene zu identifizieren, zu benennen, in die große Erzählung einzubetten und damit seine Gleichwertigkeit unter Beweis zu stellen, so bemüht sich die folgende Generation von (oftmals ostmitteleuropäischen) Kunsthistorikerinnen, Kunsthistorikern und Kunstschaffenden, alternative Formen der Kunstgeschichtsschreibung zu entwerfen und zu praktizieren.112 Neben der Herstellung von Bezügen zwischen einzelnen Ländern und der Betonung transnationaler Netzwerke werden bezüglich der künstlerischen Praktiken sowie ihrer Rezeption Differenzen innerhalb 110 Irwin 2006. 111 Vgl. ebd. 112 Hier sind beispielsweise die bereits beschriebene „critical geography“ von Piotrowski zu nennen oder das Kunstprojekt „East Art Map“ des Künstlerkollektivs IRWIN. Vgl. Kapitel 1.4.2.1 und 1.4.2.2..

Forschungsstand |

Ostmitteleuropas herausgearbeitet und eine heterogene Kunstgeografie erstellt. Ein kritischer Umgang mit möglicherweise westlich zentrierten Sichtweisen führt zu einer Zersplitterung und Fragmentierung der großen Narrative zugunsten von historisch wie geografisch bedingten unterschiedlichen Kunsthistoriografien. Doch lag der Fokus in bisherigen Studien zu ostmitteleuropäischer Kunst fast immer auf einzelnen Nationen und es gab nur bedingt Vergleiche zu den Situationen in anderen Ländern. Erstmals nimmt die vorliegende Arbeit einen Vergleich unterschiedlicher künstlerischer Positionen aus einer transnationalen Perspektive vor. 1.5.1 Die (Wieder-)Entdeckung der Kunst Ostmitteleuropas in großen Überblicksausstellungen In den letzten zehn Jahren ist vermehrt Forschungsliteratur zur Kunst in Ostmitteleuropa veröffentlicht worden, wobei sich beobachten lässt, dass ein wesentlicher Beitrag von polnischen Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern geleistet worden ist. Die Forschung zu ostmitteleuropäischer Kunst begann in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zunächst in Form großer Überblicksausstellungen. Nach dem Jahr 1989 wurden mehrere große Ausstellungen zur Kunst in Osteuropa sowie zu einzelnen Themenschwerpunkten organisiert. Insbesondere die Überblicksausstellungen hatten das Ziel, zunächst einmal Material aufzuspüren, zu sichern, mit Schlagworten zu versehen und zugänglich zu machen.113 Man war bestrebt, die wiederentdeckte Kunst in den Kanon der westeuropäischen und der US-amerikanischen Kunstgeschichte einzubetten, die kleinen Kunsthistoriografien den großen Narrativen hinzuzufügen und die ­osteuropäische Kunst in die ­westeuropäische Ausstellungspraxis zu integrieren. Die Kunst wurde nach Herkunftsländern kategorisiert, und es wurde versucht, rückblickend jeweils eine eigene Kunstgeschichte der einzelnen Länder für die entsprechende Zeit zu verfassen. Bei diesem Prozess handelt es sich größtenteils um eine unkritische Integration der ostmitteleuropäischen Kunst in den dominanten Kanon, ohne bestehende Konzepte auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen.114 113 So zum Beispiel: Ausst. Kat. Berlin 1994. – Ausst. Kat. Bonn 1994. – Ausst. Kat. Stockholm 1999. – Ausst. Kat. Wien 1999. 114 Eine Ausnahme, die sich nicht an nationalen Ländergrenzen orientiert, sondern einen transnationalen Ansatz verfolgt, stellt folgender Ausstellungskatalog dar, der sich bemüht, eine Verflechtungsgeschichte der historischen Avantgarden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierten, zu schreiben: Ausst. Kat. Leipzig 2002. Ein Beispiel für eine Ausstellung, die sich auf die künstlerischen Entwicklungen einer bestimmten Region, nicht jedoch auf die Kunst eines Volkes oder einer Nation konzentriert, war in Warschau, Košice und Bochum zu sehen: Ausst. Kat. Warszawa 2015. Die Schau verfolgte die avantgardistischen Strömungen in der Stadt Breslau sowie ihre transnationalen historischen Verflechtungen.

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Für die Erforschung der Kunst allgemein sowie der Body Art im Speziellen in ­Mittelund Osteuropa leistete die Kuratorin Zdenka Badovinac wichtige Arbeit. Sie publizierte 1998 den Katalog zur Ausstellung Body and the East. From the 1960s to the Present 115, in dem unter anderem die Arbeiten des polnischen Künstlerduos KwieKulik vorgestellt werden. Der Ausstellungskatalog konzentriert sich auf die Verwendung des Körpers in der zeitgenössischen osteuropäischen Kunst und gibt einen Überblick über die unterschiedlichen künstlerischen Phänomene, reißt dabei jedoch den jeweiligen Kontext lediglich an, ohne die historischen Zusammenhänge eingehender zu analysieren. Ein Handbuch der Aktionskunst in Osteuropa hat Elisabeth Jappe bereits 1993 zusammengestellt. Sie ordnet dort die osteuropäische Performance-Kunst in gesamteuropäische Zusammenhänge ein, beschreibt die künstlerischen Arbeiten jedoch jeweils nur kurz.116 Der Sammelband Art Action. 1958 – 1998 (2001), der beansprucht, Aktionskunst global darzustellen, schließt Polen, Ungarn, Deutschland, das sogenannte Transsylvanien, die Slowakei und das ehemalige Jugoslawien mit ein.117 Eine Auswahl von Primärquellen ist 2002 von der Kuratorin Laura Hoptman und dem Kritiker, Kurator und Kunsthistoriker Tomáš Pospiszyl herausgegeben worden.118 2010 wurde in zwei großen Überblicksausstellungen ein Schwerpunkt auf die Frage nach dem Subversiven in der Kunst Osteuropas gelegt.119 Als besonders interessant stellen sich Publikationen zum Themenkomplex Gender innerhalb der Kunst Osteuropas heraus, da diese die osteuropäische Kunst unter einem gendertheoretischen Aspekt untersuchen. Neben der Hinterfragung von Binaritäten wie Mann – Frau vermeiden sie auch andere Dichotomien wie Ost – West und entgehen dabei der Gefahr, ihre Analysen an nationalistischen Gesichtspunkten auszurichten.120 1.5.2 Die (Re-)Konstruktion der Kunstgeschichte einzelner ostmitteleuropäischer Länder Im Folgenden wird die wichtigste Forschungsliteratur zur Kunst und – sofern vorhanden – zur Performance- und Aktionskunst in den einzelnen Ländern vorgestellt, die den Entstehungskontext der hier untersuchten Werke bilden: Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien. Ergänzend wird Literatur zur Kunst in der ehemaligen DDR aufgeführt. Die Publikationen beschränken sich in ihrer Darstellung jedoch jeweils auf einen Nationalstaat und (re-)konstruieren dadurch die Kunstgeschichte des einzelnen Landes. 115 Ausst. Kat. Ljubljana 1998. 116 Jappe 1993. 117 Martel 2001. 118 Hoptman/Pospiszyl 2002. 119 Ausst. Kat. Paris 2010. – Ausst. Kat. Stuttgart 2010. 120 So zum Beispiel in dem folgenden Ausstellungskatalog sowie dem dazugehörigen Textbuch: Ausst. Kat. Wien 2009 und Pejić 2010/I.

Forschungsstand |

Die Kunsthistorikerin Anda Rottenberg gibt in verschiedenen Publikationen einen Gesamtüberblick über Kunst in Polen von 1945 bis 2005.121 Dezidiert zur Neoavantgarde in Polen geforscht und publiziert hat auch Ronduda 122, der unter anderem Mitherausgeber des umfassenden KwieKulik-Werkverzeichnisses ist, das 2012 erschien.123 Das Verzeichnis erwähnt nahezu alle Aktionen und Werke des Künstlerduos und bietet mit Beschreibungen der Aktionen und zwei kurzen Aufsätzen von Ronduda und Georg Schöllhammer ein hilfreiches Nachschlagewerk. Es stellt jedoch nicht bloß eine grundlegende Quelle zur Erforschung der künstlerischen Arbeiten KwieKuliks dar, sondern bietet umfangreiche Informationen sowohl zur Vernetzung der Neoavantgarden innerhalb der Volksrepublik Polen als auch darüber hinaus. Da die Atelier-Galerie KwieKuliks von Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt besucht wurde und Zofia Kulik und Przemysław Kwiek alles aufzeichneten und archivierten, was in dem Atelier passierte, die Besucherinnen und Besucher fotografierten sowie Daten notierten, lässt sich die Entwicklung und Vernetzung sehr genau nachverfolgen.124 Obwohl die getrennte Behandlung tschechischer und slowakischer Kunst zwischen 1945 und 1989 wenig sinnvoll erscheint, da ihre Geschichte eng miteinander verwoben ist, konzentrieren sich die in den letzten zehn Jahren erschienenen Publikationen meist auf eine der beiden Nationen. Die Anthologie České umění 1938 – 1989. Programy, kritické texty, documenty 125 (Tschechische Kunst 1938 – 1989. Programme, kritische Texte, Dokumente)126, herausgegeben von den Kunsthistorikerinnen und -historikern Dagmar Dušková, Morganová und Jiří Ševčík, ist eine Quellensammlung von Dokumenten und Manifesten der tschechischen Kunst und stellt eine unverzichtbare Primärquelle dar. 121 Rottenberg 2005. In einem auf Deutsch publizierten Aufsatz gibt sie 1999 bereits einen Überblick über die polnische Kunst von 1945 bis 1999: Rottenberg 1999. Ein weiterer Aufsatz Rottenbergs zur selben Thematik erschien 2000: Rottenberg 2000. Der Bestandskatalog des Centrum Sztuki Współczesnej Zamek Ujazdowski [Zentrum für Zeitgenössische Kunst Schloss Ujazdowski] in Warschau gibt mit kurzen Beschreibungen von Schlüsselwerken ebenfalls einen ersten Einblick in die zeitgenössische polnische Kunst: Ausst. Kat. Warszawa 2005/I. 122 Ronduda 2009/II. Ronduda ist auch Mitherausgeber des folgenden Ausstellungskatalogs: Ausst. Kat. Warszawa 2007. 123 Ronduda/Schöllhammer 2012/II . Bereits der Ausstellungskatalog zur ersten Einzelausstellung des Künstlerduos KwieKulik 2009/10 in Breslau bildet eine Art Mini-Werkverzeichnis: Ausst. Kat. Wrocław 2009. 124 Zum Künstlerduo KwieKulik vgl. Kapitel 4. Erwähnenswert im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit sind außerdem die Kunsthistorikerin Luiza Nader, die die Konzeptkunst in Polen während des Kommunismus erforscht hat (Nader 2009), und die Kunsthistorikerin Agata Jakubowska, die 2011 einen Sammelband zum Leben und Werk polnischer Künstlerinnen herausgegeben hat (Jakubowska 2011/II). Dort werden alle, ihrer Meinung nach relevanten, polnischen Künstlerinnen vorgestellt und in kurzen Texten beschrieben. Auf diese Weise entstand ein Kanon der weiblichen Künstlerinnen in Polen. 125 Dušková/Morganová/Ševčík 2001. 126 Soweit nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen in dieser Arbeit von der Autorin.

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Eine Auswahl der Quellen wurde 2007 ins Deutsche übersetzt und von Ševčík und dem Künstler, Kurator und Theoretiker Peter Weibel herausgegeben.127 Einen umfassenden Überblick über die Geschichte der tschechischen Aktionskunst gibt Morganová in der erweiterten und 2014 ins Englische übersetzten Fassung ihrer Dissertation Czech Action Art. Happenings, Actions, Events, Land Art, Body Art and Performance Art Behind the Iron Curtain.128 Morganová hat mit einer weiteren Publi­kation im Jahr 2014 ein neues Buchformat erprobt, in dem sich die Orte aller Performances und Aktionen, die in Prag zwischen 1949 und 1989 im öffentlichen Raum stattfanden, nachschlagen und mithilfe von Adressen und GPS -Daten im heutigen Prag aufsuchen lassen. Der Band ist nach Stadtteilen gegliedert und zu jeder Performance oder Aktion finden sich Abbildungen und genaue Beschreibungen.129 Etwas umfassender wurde bereits Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre zum Werk des Performance-Künstlers Milan Knížák publiziert.130 Die Aktionskunst in der Slowakei in den 1960er Jahren hat die Kunsthistorikerin Andrea Bátorová 2009 in ihrer Dissertation untersucht, wobei sie den Fokus auf die Aktionen des slowakischen Künstlers Alex Mlynarčik legt.131 Zur ungarischen Neoavantgarde ist 1999 ein Sammelband mit dem Titel Die zweite Öffentlichkeit. Kunst in Ungarn im 20. Jahrhundert 132 erschienen. Die 2013 erschienene Dissertation der Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Beata Hock mit dem Titel Gendered Artistic Positions and Social Voices. Politics, Cinema, and the Visual Arts in State-Socialist and Post-Socialist Hungary untersucht die ungarische Neoavantgarde ausgehend von feministischen Fragestellungen.133 Einen guten Überblick über die rumänische Performance- und Aktionskunst gibt der umfangreiche Ausstellungskatalog Experiment in Romanian Art Since 1960 (1997).134 Mit Actionism in Romania During the Communist Era (2002) veröffentlichte die Kunsthistorikerin und ausgewiesene Expertin für rumänische Aktionskunst Ileana Pintilie das erste Überblickswerk in englischer Sprache.135 127 Ševčík/Weibel 2007. 128 Morganová 2014/I. Eine Zusammenfassung der Einleitung wurde ebenfalls 2014 in der Zeitschrift Centropa veröffentlicht. Siehe: Morganová 2014/II. 129 Morganová 2014/III. 130 So gab der Künstler selbst folgende Publikationen (mit-)heraus: Ausst. Kat. Berlin 1980 sowie Knížák 1973. 131 Bátorová 2009. 132 Knoll 1999. Besonders aufschlussreich für die Kontextualisierung der Kunst der ersten Hälfte der 1970er Jahre ist der folgende Aufsatz: Beke 1999. Weitere Aufsätze zur ungarischen Neoavantgarde erschienen 2008 und 2014 von Eva Forgacs und von Maja Fowkes in der Zeitschrift Centropa: Forgacs 2008. – Fowkes 2014. 133 Hock 2013. Zudem gab Hock 2015 eine Ausgabe der Zeitschrift Comparativ heraus: Hock 2015. 134 Ausst. Kat. București 1997. 135 Pintilie 2002/II. Auch Pintilie hat einen Teil ihrer Forschung in der Zeitschrift Centropa veröffentlicht. Siehe: Pintilie 2014. Sie veröffentlichte außerdem einen weiteren Beitrag zur rumänischen

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Für eine bessere Vergleichbarkeit der künstlerischen Phänomene in Ostmitteleuropa wurde für die vorliegende Arbeit außerdem Literatur zur Kunst und Kultur in der DDR der 1970er und 1980er Jahre hinzugezogen.136 1.5.3 Forschung zur Kunst Ostmitteleuropas aus transnationaler und/oder vergleichender Perspektive Es gibt nur wenige Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, die sich der ostmitteleuropäischen Kunstgeschichte in vergleichender Perspektive und unter transnationalen Gesichtspunkten genähert haben. Unter ihnen sind Piotrowski und Klara Kemp-Welch hervorzuheben. Piotrowski gibt in In the Shadow of Yalta: Art and the Avant-garde in Eastern Europe, 1945 – 1989137 einen Überblick über die Kunst und die Avantgarde(n) in Ostmitteleuropa von 1945 bis 1989. Es ist bis jetzt das erste und einzige umfassende Überblickswerk zu diesem Thema und wurde 2009 ins Englische übersetzt. Aufgrund der Fülle der Arbeiten, die Piotrowski in seinem Standardwerk einordnet und bespricht, kann er nicht alle Werke en détail analysieren und einige werden in seiner Darstellung nur gestreift. Piotrowski hat zudem einige Aufsätze publiziert, die sich der theoretischen und methodischen Herangehensweise an ostmitteleuropäische Kunst sowie der praktischen Kunstgeschichtsschreibung in Ostmitteleuropa widmen.138 Kemp-Welch hat 2014 mit der Veröffentlichung ihrer Dissertation einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der ostmitteleuropäischen Neoavantgarde geleistet. In ihrer Publikation Antipolitics in Central European Art. Reticence as Dissidence under Post-Totalitarian Rule 1956 – 1989139 sowie zuvor bereits in mehreren Aufsätzen 140 untersucht sie dezidiert die nonkonforme Kunst des Underground. Im Gegensatz zu Piotrowski, der in seiner Publikation In the Shadow

Aktionskunst: Pintilie 2009. 136 Eckhart 1993. – Feist/Gillen/Vierneisel 1996. – Gillen/Haarmann 1990. – Ausst. Kat. Berlin 1997. – Ausst. Kat. Bonn/Leipzig 2002. – Ausst. Kat. Los Angeles 2009. Zu einzelnen kulturellen Zentren innerhalb der ehemaligen DDR: Ausst. Kat. Dresden 2010. – Ausst. Kat. Erfurt 2011. – Ausst. Kat. Erfurt 2014. Zur Performance-Kunst der Auto-Perforations-Artisten: Ausst. Kat. Dresden 2006. Zur Frauenforschung innerhalb der Forschung zur (Performance-)Kunst in der ehemaligen DDR: Ausst. Kat. Berlin 1991. In dem Projekt ging es laut Pressemitteilung darum, einem vermeintlich „westlich geprägten Publikum Arbeiten vorzustellen, die von Frauen abseits der staatstragenden Kultur in der ehemaligen DDR entwickelt wurden.“ Siehe hierzu den Auszug aus der Pressemitteilung auf der Seite der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst: https://archiv.ngbk.de/ projekte/ausserhalb-von-mittendrin/ [Zugriff am 15. 5. 2020]. – Ebert 2003. – Ausst. Kat. Berlin 2009. – Ausst. Kat. Mannheim 2011. 137 Piotrowski 2009/III. 138 Piotrowski 1994; Piotrowski 2005/II; Piotrowski 2009/II. 139 Kemp-Welch 2014. 140 Vgl. zum Beispiel Kemp-Welch 2007 und Kemp-Welch 2012.

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of Yalta künstlerische Positionen und Gruppierungen in vergleichender Perspektive betrachtet, konzentriert sie sich in jedem ihrer Kapitel auf einen Künstler und zeichnet ein differenziertes Bild der vorwiegend performativen künstlerischen Setzungen in ihrem jeweiligen Kontext. Kemp-Welch widmet sich in ihrer Dissertation jedoch ausschließlich männlichen Künstlern, was ein verzerrtes Bild der ostmitteleuropäischen Neoavantgarde ergibt, deren weibliche Vertreterinnen erheblichen Anteil an den künstlerischen Entwicklungen zwischen 1945 und 1989 hatten. Auch werden die Bezüge zwischen den einzelnen Beispielen nicht ganz deutlich. Zudem schenkt sie den jeweiligen Medien sowie dem Prozess der Medialisierung nicht die erforderliche Aufmerksamkeit. Die Bildunterschriften in ihrer Darstellung enthalten in den meisten Fällen keine Informationen darüber, welches Medium abgebildet ist. Der Sozialwissenschaftler Patryk Wasiak und die Kunsthistorikerin Amy Bryzgel wählen ebenfalls einen vergleichenden Ansatz in ihren Studien. Wasiak untersucht die Kulturkontakte zwischen Polen und Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR in den Jahren 1970 – 1989 am Beispiel bildender Künstler 141, und Bryzgel erforscht die osteuropäische Performancekunst ab 1980 bis heute und vergleicht Beispiele aus Polen, Lettland und Russland miteinander, dabei legt sie jedoch den Schwerpunkt auf Performance- und Aktionskunst nach der Wende 142. Im Jahr 2011 fand im Martin-Gropius-Bau in Berlin eine große Ausstellung zu 1000 Jahren Kunst und Geschichte in Polen und Deutschland statt.143 Diese Schau schlug einen großen Bogen, stellte jedoch nicht bloß die (Kunst-) Geschichte der beiden Länder nebeneinander, sondern widmete den Überschneidungen, Verflechtungen und den untrennbar miteinander verbundenen, gemeinsamen Teilen der Geschichte besondere Aufmerksamkeit. Die Zweistimmige Kunstgeschichte (Bratislava 2002; Wien 2008)144 der Kunsthisto­ rikerin Maria Orišková stellt einen Versuch dar, die gespaltene Kunstgeschichtsschreibung sowohl in als auch über Ostmitteleuropa zu entlarven und zu überbrücken. Wie Piotrowski richtig bemerkt, untersucht Orišková zwar polnische, tschechische, slowakische und ungarische Kunst, die tschechische und slowakische Kunst werden jedoch ausführlicher behandelt und der Schwerpunkt liegt auf neoavantgardistischer Kunst.145 Die Kunsthistorikerin Kristine Stiles hingegen hat bereits 1998 ­osteuropäische Positionen im Bereich der Performance und Aktionskunst wie selbstverständlich in einen internationalen Zusammenhang eingebettet, wobei ihr Fokus insbesondere auf der politischen Aussage einzelner Werke in ihrem jeweiligen Kontext liegt.146 Die 141 Wasiak 2009. 142 Bryzgel 2013. 143 Ausst. Kat. Berlin 2011. 144 Orišková 2008. 145 Vgl. Piotrowski 2009/III, 8. 146 Stiles 1998.

Materialauswahl: Ausstellungen, Künstlerarchive und Interviews   |

Kunsthistorikerin Claire Bishop trägt mit ihren detaillierten Analysen zu einer differenzierteren Sicht auf einzelne künstlerische Positionen innerhalb eines internationalen Kontexts bei.147 Eine alternative osteuropäische Kunstgeschichtsschreibung möchte auch das Künstlerkollektiv IRWIN mit seinem Kunstprojekt und der dazugehörigen Publikation East Art Map 148 anstoßen und umsetzen. Zu den einzelnen hier analysierten Werken ist der Stand der Forschung sehr unterschiedlich. Alle behandelten Künstlerinnen und Künstler waren in den vergangenen Jahren in den oben genannten großen Überblicksausstellungen zu sehen und alle hatten zumindest eine Einzelausstellung in den letzten zehn Jahren. Die Qualität der Forschung zum jeweiligen Gesamtwerk variiert jedoch erheblich. Der Forschungsstand zum Werk der einzelnen Künstlerinnen und Künstler wird zu Anfang der jeweiligen Kapitel dargestellt. Auf weitere Literatur wird in direktem Zusammenhang mit den Werkanalysen verwiesen.

1.6 M ater ial auswahl: Ausstellungen, Künstler archive und Interv iews Als Fundorte und Quellen für die Materialauswahl fungierten vornehmlich Sammlungspräsentationen in deutschen, österreichischen, polnischen, rumänischen, ungarischen und tschechischen Museen und ihre Publikationen, Wechselausstellungen und die dazugehörigen Ausstellungskataloge, Präsentationen auf Tagungen sowie die entsprechenden Tagungsbände, Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern sowie private Künstlerarchive.149 Einige der Künstlerinnen und Künstler besitzen große private Künstlerarchive, wie Zofia Kulik, die das KwieKulik-Archiv verwaltet, das während zwei Forschungsaufenthalten in Warschau 2010 und 2012 besucht werden konnte. Die umfassendste Publikation zum Archiv 147 Bishop widmet ein ganzes Kapitel der Kunstregion Osteuropa: Bishop 2012, 129 – 162. 148 Irwin 2006. 149 Wegweisend für die Konzeption der vorliegenden Arbeit waren folgende Ausstellungen: Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945 – 1989, Germanisches Nationalmuseum, Berlin, 2009; Mind Expanders. Performative Körper – utopische Architekturen um ’68, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, 2009; Tschechische Fotografie des 20. Jahrhunderts, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 2009; Early Years, Kunst-Werke Berlin, 2010; Subversive Praktiken. Kunst unter Bedingungen politischer Repression, 60er/80er, Südamerika/Europa, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 2010; Agents & Provocateurs, Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Dortmund 2010. Folgende Fachtagungen gaben wichtige Impulse: Paradigmenwechsel. Ost- und Mitteleuropa im 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte im Wandel der politischen Verhältnisse, 15. Tagung des Verbandes Österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, 5. – 8. 11. 2009, Wien; Kunst und das kommunistische Europa: Zu einer transnationalen Geschichte, 19. – 21. 11. 2009, Centre Marc Bloch, Berlin; Włodzimierz Borowski. Works and Reconstructions, 19. – 20. 11. 2010, Muzeum Sztuki Nowoczesnej, Warszawa.

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von KwieKulik hat Kulik selbst erarbeitet.150 Außerdem von Interesse ist das Archiv „Die Schwarze Lade“ des Performance-Künstlers Boris Nieslony, ein umfangreiches Archiv zur Performance-Kunst in Köln.151 Darüber hinaus wurden im Rahmen der Recherche zwei Mail Art-Archive besucht: zum einen das Privatarchiv von Géza Perneczky in Köln, dessen Mail Art-Archiv vor einiger Zeit in den Besitz des Zentrums für Künstlerpublikationen/Weserburg in Bremen übergegangen ist 152, und zum anderen das Mail Art-Archiv in Schwerin, das sich im Besitz des Staatlichen Museums Schwerin befindet.153 Den Ausschlag zu dem Forschungsaufenthalt in Schwerin gab die Dissertation der Kunsthistorikerin Kornelia Röder mit dem Titel Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art. Seine spezifische Bedeutung für Osteuropa von 1960 bis 1989 (2008)154, die auf dem Gebiet der Mail Art in Osteuropa weiterhin eine Pionierarbeit darstellt. Daneben bilden der Ausstellungskatalog Mail Art. Osteuropa im internationalen Netzwerk 155 sowie die im Rahmen der Ausstellung publizierte, gleichnamige Kongressdokumentation eine wichtige Quelle. Neuere Forschungen zur Grafischen Sammlung und zum Mail Art-Archiv in Schwerin 156 sowie zur Grafik und Mail Art in der ehemaligen DDR im Allgemeinen sind 2015 in den Ausstellungskatalog Außer Kontrolle! Farbige Grafik & Mail Art in der DDR eingegangen.157 Recherchen zu den Arbeiten von Endre Tót konnten während eines weiteren Forschungsaufenthaltes 2012 im Artpool-Archiv in Budapest durchgeführt werden, eine zentrale Quelle für Mail Art sowie für neoavantgardistische Kunstpraktiken im Ungarn der 1960er bis 1980er Jahre.158 Eine

150 Die Publikation wurde von Kulik erarbeitet und 2012 in Form eines Werkverzeichnisses von Łukasz Ronduda und Georg Schöllhammer herausgegeben: Ronduda/Schöllhammer 2012/II. 151 Vgl. hierzu Bosbach/Kühn 2016. Weitere Informationen zur „Schwarzen Lade“: http://www.asa.de/ asa_broschure.pdf (Zugriff am 15. 5. 2020]. 152 Vgl. hierzu die von Géza Perneczky herausgegebenen Überblickswerke mit Materialien aus seinem Archiv sowie die von ihm herausgegebenen Netzwerk-Atlanten: http://www.c3.hu/~perneczky/atlas. html [Zugriff am 15. 5. 2020]. Mit der Schenkung des Archivs an das Zentrum für Künstlerpublikationen ging eine Ausstellung einher. Vgl. hierzu die Webseite des Zentrums für Künstlerpublikationen: https://weserburg.de/ausstellung/geza-perneczky/ [Zugriff am 15. 5. 2020]. 153 Vgl. hierzu die Webseite des Staatlichen Museums Schwerin: https://www.museum-schwerin.de/ sammlung/forschung/archiv/ [Zugriff am 15. 5. 2020]. Aufgebaut wurde und betreut wird das Archiv von Kornelia Röder. 154 Röder 2008. 155 Berswordt-Wallrabe 1996. Siehe hierzu auch: Berswordt-Wallrabe 1997. 156 Das Mail Art-Archiv in Schwerin wurde 1996 gegründet und ist an das Staatliche Museum Schwerin/ Ludwigslust/Güstrow angegliedert: https://www.museum-schwerin.de/sammlung/forschung/archiv/ [Zugriff am 15. 5. 2020]. 157 Ausst. Kat. Schwerin 2015. Darüber hinaus gibt folgende Publikation einen umfassenden Einblick in die Mail Art-Szene der ehemaligen DDR: Winnes/Wohlrab 2009. 158 Literatur zum Artpool-Archiv: http://www.artpool.hu/2013/Artpool_book_en.html und http://www. artpool.hu/flexpaper/Artpool_book.html [Zugriff am 15. 5. 2020]. Vgl. hierzu auch die Webseite des Artpool-Archivs: http://www.artpool.hu/ [Zugriff am 15. 5. 2020].

Materialauswahl: Ausstellungen, Künstlerarchive und Interviews   |

sehr gute Beschreibung und Analyse des Archivs Józef Robakowskis in Łódź 159 sowie des Artpool-Archivs in Budapest liefert die Dissertation von Isabelle Schwarz über Archive für Künstlerpublikationen 160. Die Archivmaterialien Robakowskis ermöglichen es, Verbindungen zwischen einzelnen Künstlerinnen und Künstlern zu überprüfen sowie einen Eindruck von den Vernetzungsmöglichkeiten innerhalb der Volksrepublik Polen und darüber hinaus zu bekommen. Hilfreich für das Verständnis des Phänomens Mail Art sind außerdem verschiedene Publikationen zum Samizdat in Osteuropa. Unter Samizdat wird die Selbstherausgabe sogenannter grauer Literatur verstanden, die aufgrund strenger Zensur nicht in staatlichen Verlagen erscheinen konnte.161 Zum Thema Fluxus East ist der gleichnamige Ausstellungskatalog 162 mit hervorragenden Beiträgen von und über Fluxus-Künstlerinnen und -Künstler aus Ostmitteleuropa wegweisend. Die nachfolgend untersuchten Filme der polnischen Neoavantgarde konnten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau gesichtet werden.163 Persönliche Gespräche sind mit den Künstlerinnen und Künstlern Ion Grigorescu in Bukarest (rumän. București)164, Jiří Kovanda in Berlin 165, Zofia Kulik in Warschau 166, ­Natalia LL in Breslau (poln. Wrocław)167, Boris Nieslony in Köln 168, Ewa Partum in Berlin 169, Géza

159 Der polnische Künstler Józef Robakowski richtete in Zusammenhang mit der 1978 von ihm gegründeten Galeria Wymiany / Exchange Gallery ein umfassendes Archiv ein. Vgl. hierzu die Webseite der Galeria Wymiany / Exchange Gallery: http://www.exchange-gallery.pl/ [Zugriff am 15. 5. 2020]. Vgl. hierzu auch Ausst. Kat. Warszawa 2012 und Ausst. Kat. Warszawa 2013/II. 160 Schwarz 2008. 161 Erwähnenswert sind die folgenden beiden Publikationen: Ausst. Kat. Berlin 2000. – Alber/ Stegmann 2016. 162 Ausst. Kat. Berlin 2007. 163 Künstlerische Experimental- und Dokumentarfilme sowie -videos sind online zugänglich in der Filmdatenbank des Filmarchivs: http://artmuseum.pl/en/filmoteka [Zugriff am 15. 5. 2020]. 164 Vgl. das Interview der Autorin mit Ion Grigorescu am 22. 5. 2014 in seiner Wohnung in Bukarest (gemeinsam mit Francesca Valentini). Im Folgenden abgekürzt: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 165 Vgl. das Interview der Autorin mit Jiří Kovanda am 18. 8. 2015 in Berlin. Transkript im Besitz der Autorin. Im Folgenden abgekürzt: Interview Kühn – Kovanda. 166 Vgl. die beiden Interviews der Autorin mit Zofia Kulik am 12. 11. 2010 und am 29. 4. 2012. Im Folgenden abgekürzt: Interview Kühn – Kulik I und II. 167 Vgl. das Interview der Autorin mit Natalia LL am 31. 10. 2011 in Breslau sowie das Email-Interview der Autorin mit Natalia LL am 3. 1. 2013. Im Folgenden abgekürzt: Interview Kühn – Natalia LL I und II . 168 Vgl. das Interview der Autorin mit Boris Nieslony am 6. 2. 2015 in Köln (gemeinsam mit Lisa Bosbach). Im Folgenden abgekürzt: Interview Bosbach/Kühn – Nieslony. Das Gespräch wurde auszugsweise abgedruckt in: Bosbach/Kühn 2016. 169 Interview der Autorin mit Ewa Partum am 20. 11. 2011 in Berlin. Im Folgenden abgekürzt: Interview Kühn – Partum.

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­ erneczky in Köln 170, Gabriele Stötzer in Utrecht 171 und Endre Tót 172 in Köln geführt worP den.173 Die Orte weisen darauf hin, dass einige der Künstlerinnen und Künstler nicht mehr dort leben, wo die performativen Arbeiten entstanden. Perneczky emigrierte bereits in den 1970er Jahren nach Köln, Partum und Tót gingen in den 1980er Jahren nach West-Berlin und Köln ins Exil. Stötzer verließ Erfurt nach der Wende, lebte längere Zeit in Utrecht und lebt heute wieder in Erfurt. Kovanda erhielt im Jahre 2015 ein Stipendium des DAAD in Berlin, weshalb das Interview dort stattfand.

1.7 Der Vergleich in der Pr a xis: Aufbau der A r beit und Thesen Die Arbeit ist in drei große Analysekapitel gegliedert, die von Einleitung und Schlusswort gerahmt werden. In den einzelnen Kapiteln erfolgt die Analyse auf den bereits erwähnten vier Ebenen: der agierende Körper, der öffentliche Raum, interagierende Kameras und historischer Kontext. Dabei werden je zwei künstlerische Positionen miteinander verglichen, die aus unterschiedlichen Ländern stammen, aber in zentralen Aspekten Gemeinsamkeiten aufweisen. Im ersten Kapitel werden die Aktionen und Interaktionen der beiden Künstler Endre Tót und Jiri Kovanda im öffentlichen Raum Ungarns, der Tschechoslowakei sowie Westeuropas in den 1970er Jahren vergleichend untersucht. Es wird die These vertreten, dass die wiederholte Aufführung und die Medialisierung von Gesten des Zögerns, des Wartens und der Verneinung im öffentlichen Raum und ihre Dissemination über alternative Netzwerke die scheinbar gescheiterte Interaktion in eine Kommunikation mit einem, von mir als zukünftiges bezeichnetes, Publikum transformieren. Um diese These zu erläutern, werden einige Grundbegriffe Erving Goffmans eingeführt, und es wird eingehend auf die Vernetzung der Neoavantgarde eingegangen. Im Zentrum des zweiten Kapitels stehen die Performances für die Kamera der polnischen Künstlerin Natalia LL und des rumänischen Künstlers Ion Grigorescu in den 170 Interview der Autorin mit Géza Perneczky am 6. 4. 2016 in Köln (gemeinsam mit Lisa Bosbach). Im Folgenden abgekürzt: Interview Bosbach/Kühn – Perneczky. 171 Vgl. das Interview der Autorin mit Gabriele Stötzer am 25. 9. 2012 in Utrecht. Im Folgenden abgekürzt: Interview Kühn – Stötzer. 172 Vgl. die beiden Interviews der Autorin mit Endre Tót am 7. 3. 2012 (gemeinsam mit Réka Kemény, Budapest) und am 28. 09. 2015, beide in Köln. Im Folgenden abgekürzt: Interview Kemény/Kühn – Tót und Kühn – Tót. 173 Zur Problematik der Verwendung von Interviews in der Kunstgeschichte vgl. Imhof/Omlin 2010. Um Material und Informationen für die vorliegende Arbeit zusammenzutragen, wurden außerdem Gespräche mit folgenden Fachexpertinnen und -experten geführt: Prof. Dr. Piotr Piotrowski (Warschau), Dr. Kornelia Röder (Schwerin), Dr. Luiza Nader (Warschau), Dr. Claus Löser (Berlin), Barbara Piwowarska (Warschau), Constance Krüger (Berlin), Dr. Seraina Renz (Zürich).

Der Vergleich in der Praxis: Aufbau der Arbeit und Thesen  |

1970er Jahren, die ohne die Anwesenheit eines Live-Publikums stattfanden. Es werden die Produktions- und Rezeptionsprozesse untersucht und miteinander verglichen. Dabei wird die These aufgestellt, dass während der Produktion und Rezeption einer Performance für die Kamera eine (imaginäre) Ko-Präsenz von performenden und betrachtenden Körpern erzeugt wird. Die in der (Wieder-)Aufführung (re-)produzierten, kontrollierten und wiederangeeigneten Körper und Körperbilder entwickeln vor der Folie eines staatlich entworfenen, verordneten und kontrollierten Körperbildes in ihrem jeweiligen Kontext ein subversives Potential. Hier wird die These aus dem ersten Analysekapitel, dass in der Situation ein zukünftiges Publikum anwesend ist, ausgeführt und erweitert. Zur Erläuterung werden weitere Begriffe und Konzepte Goffmans aufgegriffen und ihre für die vorliegende Arbeit relevante Weiterentwicklung in der neueren soziologischen Forschung thematisiert. Das dritte Kapitel widmet sich den kollektiven Aktionen um das Künstlerduo ­KwieKulik sowie der alltäglichen Zusammenarbeit und den Protestaktionen des Künstlerduos in der Volksrepublik Polen in den 1970er Jahren. In künstlerischer Kollaboration und kollektiven Prozessen werden durch das Spiel mit der „Offenen Form“ und die subversive Affirmation avantgardistischer Strategien ein erweiterter Kunst- und Werkbegriff erarbeitet sowie das Verhältnis von Kunstschaffenden und Gesellschaft neu verhandelt. Interaktion findet hier ebenfalls zwischen Akteurinnen oder Akteuren und verschiedenen Kameras sowie dem zukünftigen und dem Live-Publikum statt; es kommt jedoch die Interaktion der Akteurinnen und Akteure untereinander hinzu. Es wird die These vertreten, dass das dokumentarische Material in unterbrochenen (Wieder-)Aufführungen und Multimedia-Projektionen, die die Aktivität und Partizipation unterschiedlicher Publika intendieren, in halböffentlichen Räumen sichtbar und zugänglich gemacht wird. In diesem Kapitel wird die Vernetzung der Neoavantgarde nochmals mit einem Schwerpunkt auf der Volksrepublik Polen thematisiert und ihre Komplexität aufgezeigt. KwieKulik bündeln und verteilen dabei als zentrale Figur der kollektiven Aktionen sowie als Gründer und Betreiber ihres Ateliers für Aktivitäten, Dokumentation und Verbreitung eigene und internationale subversive Positionen und wirken somit als Multiplikatoren innerhalb der ostmitteleuropäischen Neoavantgarde. Zu der Plattform ihres AtelierArchivs treten theoretische Texte und Manifeste hinzu, mit denen KwieKulik ihrem Werk Bedeutung verleihen und seine Interpretation steuern. Die Hauptfragestellung dieser Arbeit nach dem subversiven Potential des agierenden Körpers im Kontext der ostmitteleuropäischen Neoavantgarden durchzieht die drei Analyse­kapitel wie ein roter Faden. Die Antworten auf diese Frage werden im Schlusswort noch einmal aufgegriffen und es wird ein Resümee gezogen.

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2 Eine Situation eröffnen und sich total freuen. Jiří Kovandas und Endre Tóts Aktionen und Interaktionen im öffentlichen Raum  2.1 Prolog: „Nichts! Gar nichts!“ Am 17. April 2015 versammelte sich auf dem Heinrich-Böll-Platz vor dem Museum Ludwig in Köln eine Gruppe von Menschen mit Postern und Bannern, die von den Vorbeigehenden neugierig beäugt wurde (Taf. 1).1 Die Poster und Banner waren mit Reihen von Nullen (zeros) bedeckt, die wie gewöhnliche Sätze von Ausrufezeichen oder Fragezeichen beendet und durch Punkte und Kommata unterbrochen waren (Taf. 2). Mit etwas Verspätung setzte sich die Gruppe in Bewegung und ging auf die Hohenzollernbrücke zu, die hinter dem Hauptbahnhof den Rhein überquert. Angeführt durch den in einer Rikscha sitzenden ungarischen Künstler Endre Tót (*1937) gingen die Protestierenden schweigend über die Brücke und blinzelten in die Sonne, von Zeit zu Zeit mit dem heftigen Wind kämpfend, der auf der Brücke in die Banner und Plakate fuhr, als ob es Segel seien (Taf. 3). Die Entgegenkommenden fragten die Demonstrierenden „Wofür demonstriert ihr?“ oder „Was bedeuten die Nullen auf den Plakaten?“ – „Nichts! Gar nichts!“ oder „Null! Zero!“ entgegneten die Befragten grinsend und sichtlich amüsiert. Einige Passantinnen und Passanten lächelten zurück und freuten sich über die Nichtigkeit der Aussagen auf den Postern. Während der gesamten Zeit begleiteten mehrere Pressefotografinnen und -fotografen sowie Kameraleute die Aktion, und die Demonstration wurde von drei Polizistinnen und Polizisten eskortiert. Wie ich von der neben mir gehenden Frau erfuhr, war sie über ihre Agentur angefragt worden, als Komparsin an der Aktion teilzunehmen. Als Belohnung für ihre Teilnahme erhielt sie freien Eintritt zur ältesten Kunstmesse der Welt, der Art Cologne, die den Endpunkt der Demonstration darstellte. Nach etwa einer halben Stunde erreichte die Prozession die Messehallen. Die Teilnehmenden stellten sich für ein letztes Pressefoto auf den Stufen vor dem Eingang der Messe auf und lächelten in die Kamera.

1 Teile dieses Kapitels basieren auf dem folgenden Aufsatz: Kühn 2012.

Methodische Fragen und Aufbau des Kapitels  |

2.2 Methodische Fr agen und Aufbau des K apitels In dieser kurzen Beschreibung der Zero-Demonstration (2015) von Tót werden verschiedene Komponenten angesprochen, die für die Situation konstitutiv sind. Als Situation bezeichne ich die „soziale Situation“ 2, die hier von Tót initiiert, definiert und teilweise dominiert wird. Diese verschiedenen Komponenten spielen in der folgenden Analyse von weiteren Aktionen von Tót sowie von dem tschechischen Künstler Jiří Kovanda (*1953) im öffentlichen Raum, in die unterschiedliche Interaktionspartnerinnen und -partner eingebunden sind und die von Kameras begleitet werden, eine tragende Rolle. Die Analyse erfolgt auf vier Ebenen: der agierende Körper, der öffentliche Raum, interagierende Kameras und historischer Kontext. Selbstverständlich handelt es sich bei diesen Ebenen um abstrakte Differenzierungen, die in der Performance selbst miteinander interagieren und nur theoretisch voneinander geschieden werden können. 2.2.1 Ebene 1: Der agierende Körper Hauptbestandteil einer künstlerischen Performance oder Aktion ist der agierende Körper, die Geste, das, was die Künstlerin oder der Künstler und in diesem Fall alle an der Demonstration Teilnehmenden mit ihrem Körper ausführen und kommunizieren. Da in den meisten Fällen mehrere Körper in die Situation einbezogen sind, lassen sich hier noch einmal drei verschiedene Kategorien von Körpern unterscheiden: a) der agierende Körper eines oder mehrerer Künstlerinnen beziehungsweise Künstler, Mimik und Gestik b) die agierenden Körper der eingeladenen Interaktionspartnerinnen und -partner, Mimik und Gestik c) die agierenden Körper der nicht eingeweihten Passantinnen und Passanten, Mimik und Gestik Bei der Interaktion zwischen Demonstrierenden und zufällig Vorbeigehenden spielt sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikation eine Rolle: sich in einer Gruppe durch die Stadt bewegen, Plakate in die Höhe halten, posieren, lächeln, grüßen, Fragen stellen, antworten. Außerdem sind die Nullen auf den Plakaten als eine Art der Kommunikation aufzufassen, die durch ihre scheinbare Nicht-Aussage eine bestimmte Aussage des Künstlers zum Ausdruck bringt. Im Falle der Kölner Demonstration wurde die Gruppe von drei Polizistinnen und Polizisten begleitet, die nicht mitdemonstrierten, die aber zu den eingeweihten Interaktionspartnerinnen und -partnern zählten und ein wichtiger Bestandteil der Aufführung waren. Ihre Anwesenheit legitimierte die Demonstration 2 Goffman 22001 [1982], 55. Vgl. hierzu Kap. 2.5 in dieser Arbeit.

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als eine politische Veranstaltung, die genehmigt wurde. Sie hatten jedoch – wie die anwesenden Kameras auch – überwachende Augen, die die Situation kontrollierten. Bei einem Zwischenfall hätten sie die Situation auflösen können und waren daher mit einer Macht ausgestattet, die sich von der des Künstlers unterscheidet und im Ernstfall über sie hinausgegangen wäre. 2.2.2 Ebene 2: Der öffentliche Raum Die zweite Ebene ist der öffentliche Raum, durch den sich die Körper bewegen und in dem sich private und öffentliche Gebäude, Monumente, Fahrzeuge und weitere mobile und immobile Objekte befinden. Hier lassen sich mobile und immobile Objekte, die den Raum strukturieren und definieren, voneinander unterscheiden: a) Gebäude, Denkmäler, Plätze und Straßen b) mobile Objekte In Köln sind die wichtigsten Gebäude, an denen sich die Zero-Demonstration vorbeibewegt, das Museum Ludwig, der Kölner Dom, der Kölner Hauptbahnhof, der Deutzer Bahnhof und die Kölner Messe. Ein weiteres Monument, das passiert wird, ist die Hohenzollernbrücke, die das Zentrum von Köln mit dem Stadtteil Deutz auf der gegenüberliegenden Rheinseite verbindet. Am südlichen Eingang zur Brücke, vom Dom kommend, befindet sich ein Reiterdenkmal von Kaiser Wilhelm II., auf der Deutzer Seite südlich der Brücke ein weiteres von Kaiser Wilhelm I. Während sich die D ­ emonstration über die Brücke bewegte, fuhren Züge über die Brücke, und sie wurde von Fußgängerinnen oder Fußgängern und Radfahrerinnen oder Radfahrern (deren Körper zur Ebene 1 zählen) passiert. Nachdem die Demonstrierenden die Brücke überquert hatten, überquerten sie eine vielbefahrene, mit Ampeln versehene Straße, gingen den Bahnhofsvorplatz in Deutz entlang und unter einer weiteren Eisenbahnbrücke hindurch, bevor sie schließlich das Messegelände erreichten.3 2.2.3 Ebene 3: Interagierende Kameras Als dritte Komponente kommen Kameras hinzu, die die Aktion aufzeichnen, die Agierenden begleiten und ebenfalls mit ihnen in Interaktion treten: Sie lächeln in die Kamera, bewegen sich auf eine bestimmte Art und Weise und sind sich der Kamerapräsenz in 3 Auch wenn Tót darauf beharrt, dass die Auswahl der Orte allein praktische Gründe hatte, so spielen die Gebäude, Plätze und Straßen genauso wie die mobilen Subjekte und Objekte im öffentlichen Raum dennoch eine wichtige Rolle als Akteurinnen oder Akteure und Aktantinnen oder Aktanten während der Durchführung der Aktion und sind Teil der Situation.

Methodische Fragen und Aufbau des Kapitels  |

jedem Augenblick bewusst. In einer Situation können Kameras anwesend sein, die vom Künstler kontrolliert, gelenkt und autorisiert sind, es können jedoch auch Kameras in der Situation befinden, die nicht direkt daran beteiligt sind und eher zufällig involviert werden. Es ist deshalb zu unterscheiden zwischen: a) den in der Situation anwesenden und vom Künstler autorisierten Kameras b) zufällig in der Aktion anwesenden Kameras (auch Smartphones) Wie Tót in einem Gespräch einige Monate nach der Aktion in Köln berichtet, filmten während der Zero-Demonstration zwei ihm bekannte Kameraleute: ein französischer Kameramann sowie eine Mitarbeiterin des WDR, die zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren an einem Porträt über Tót arbeitete.4 Außerdem wurde die Demonstration von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Galerie acb galeria 5 fotografiert sowie von mehreren an der Aktion Teilnehmenden, die ihre privaten Kameras nutzten. Bei einer Demonstration im öffentlichen Raum in der heutigen Zeit kann davon ausgegangen werden, dass nicht nur Kameras der Veranstalterinnen und Veranstalter die Demonstration begleiten, sondern dass sich zeitgleich unzählige weitere Kameras im direkten Umfeld befinden, die ebenfalls aktiviert werden und deren Aufnahmen anschließend publiziert werden können. Beim Eintreffen der Demonstration am Eingang der Messehallen waren außerdem Vertreterinnen und Vertreter der Presse vor Ort, die ebenfalls fotografierten und über das Ereignis berichteten.6 Ob im Fall der Zero-Demonstration von 2015 in Köln ein Bruch der Inszenierung durch die Pressefotografie stattfindet und ob sich Tót hier der Deutungsmacht der Presse unterwirft, wird am Ende dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen. 2.2.4 Ebene 4: Historischer Kontext Eine vierte Ebene, die für die Analyse der Performances und Aktionen entscheidend ist, ist der historische Kontext, in dem die Aktion situiert ist. Im vorliegenden Kapitel wird vor allem auf folgende Punkte innerhalb des Kontextes eingegangen: 4 Aussage des Künstlers in: Interview Kühn – Tót. Das Video von der Demonstration in Köln von Marion Kellmann ist auf youtube abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=W8CRQ0dMQKo [Zugriff am 17. 1. 2020]. Auf youtube findet sich ein weiteres Video von „radical egal“: https://www.youtube. com/watch?v=WRFDc_w59T4 [Zugriff am 17. 1. 2020]. 5 Die den Künstler vertretende Galerie „acb galeria“ ist in Budapest angesiedelt (1068 Budapest, Király utca 76). Am 8. September 2015 veranstaltete die Galerie Mathias Güntner in Hamburg eine ZeroDemonstration mit Tót, die ebenfalls gefilmt wurde: https://vimeo.com/141171533 [Zugriff am 17. 1. 2020]. 6 Ein kurzer Bericht „Zer0-Demonstration als Performance“ von David Beckmann mit Aufnahmen von der Demonstration findet sich beispielsweise auf der Webseite Kunst & Köln: http://journalcologne.hmkw. de/kunstundkoeln/2015/04/17/zer0-demonstration-als-kunst-performance/ [Zugriff am 15. 5. 2020].

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a) institutioneller Kontext b) künstlerische Vernetzung c) (kultur-)politische Situation Im Hinblick auf die Arbeiten von Tót und Kovanda werden vergleichend die institutionelle Einbindung beziehungsweise die Abwesenheit von Institutionen untersucht, die Finanzierung ihrer künstlerischen Arbeit, ihre Vernetzung innerhalb Ostmitteleuropas und die internationale Kommunikation zum Beispiel über Mail Art-Netzwerke sowie ihre Arbeit im Exil. Der Analyse wird die jeweilige (kultur-)politische Situation zu Grunde gelegt, das heißt, es werden Besonderheiten der regionalen Kulturpolitik, staatliche Förderungen sowie Zensur und Verbote berücksichtigt. Der Vergleich zeigt, dass beide Künstler in ihrer jeweiligen Heimatstadt eine Außenseiterposition einnahmen, der sie nur durch internationale Kontakte eine Volksrepublik Polen und nach Westdeutschland entkommen konnten. Die vier Ebenen sind nicht scharf voneinander abgrenzbar. Sie greifen ineinander und machen so die Produktions- und Rezeptionsprozesse auf miteinander verbundenen Ebenen greifbar. Wesentlicher Vorteil der Analyse auf vier Ebenen ist, dass sie sich in direkte Verbindung zueinander setzen lassen und so die Möglichkeit bieten, Einzelfälle und gesellschaftliche Vorstellungen, Regeln und wissenschaftliche Diskurse zu verknüpfen. Bei der folgenden Interpretation und Einordnung künstlerischer Aktionen der 1970er Jahre sind nicht immer alle vier Ebenen gleich gewichtet. In einigen Aktionen sind die agierenden Körper wichtiger als der öffentliche Raum oder die Kameras haben mehr Einfluss auf die Situation als die zufällig interagierenden Passantinnen oder Passanten. Die Situation kann als ein dynamisches Gebilde betrachtet werden. In den Analysen der einzelnen Beispiele erfolgt daher jeweils eine andere Schwerpunktsetzung, sie lassen sich jedoch meist auf mehr als einer Ebene miteinander vergleichen.7 2.2.5 Kurzer Forschungsstand, Ziel des Vergleichs und Fragestellung Im Folgenden werden Aktionen und Performances der beiden Künstler Jiří Kovanda und Endre Tót vorgestellt, die während der 1970er Jahre Aktionen im öffentlichen Raum durchgeführt haben. Kovanda und Tót experimentieren mit alltäglichen, scheinbar einfachen Gesten und interagieren mit Menschen und öffentlichem Raum in unterschiedlichen Situationen. Beide Künstler erfinden keine neuen Gesten, sondern verwenden 7 Die Analyse aller vier Untersuchungsebenen ist nicht für die Beantwortung jeder Frage sinnvoll, jedoch wird jedes Beispiel aus mindestens zwei Perspektiven untersucht. Zu der Forderung mindestens zwei unterschiedliche Blickwinkel auf das Untersuchungsobjekt anzuwenden vgl. Werner/Zimmermann 2002, 618.

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ausschließlich im Alltag vorgefundene Verhaltensweisen, die den Betrachtenden äußerst vertraut sind, da sie sie selbst täglich und routinemäßig durchführen. Die Aktionen beider Künstler wurden fotografisch und meist in serieller Form dokumentiert. Später ließ Tót einige seiner „Zero Demonstrationen“ auch durch Film und Video dokumentieren. Die kunsthistorische Fachliteratur zum jeweiligen Werk der beiden Künstler ist überschaubar. Im Jahre 2006 erschien ein Werkverzeichnis Kovandas, das zwar keine umfangreicheren Beschreibungen der einzelnen Performances enthält, in dem jedoch ein Interview mit dem Künstler grundlegende Informationen liefert.8 Einen Überblick über Tóts Werk geben vornehmlich Ausstellungskataloge.9 Klara Kemp-Welch hat in ihrer Dissertation beiden jeweils ein ganzes Kapitel gewidmet, in denen sie einen Großteil ihrer Werke ausführlich analysiert und in den historischen Kontext einordnet.10 Claire Bishop bespricht das Werk Kovandas ebenfalls ausführlich in dem Kapitel „The Social Under Socialism“ ihres Buches Artificial Hells.11 Pavlína Morganová behandelt das Werk Kovandas in einem Aufsatz sowie in ihrer Publikation zur tschechischen Aktionskunst.12 Der Kurator Hans-Ulrich Obrist veröffentlichte ein Interview mit Kovanda in der Interviewsammlung The Czech Files.13 Weitere kurze Beiträge stammen von der Kunstkritikerin Noemi Smolik und von Tomáš Pospiszyl.14 Sowohl mit Tót als auch mit Kovanda konnten Interviews geführt werden.15 Außerdem wurden Rechercheergebnisse aus dem Artpool-Archiv in Budapest berücksichtigt.16 Kovanda lebte und arbeitete während der 1970er Jahre in Prag. Tót begann seine Serie von Performances in Budapest, bevor er 1978 mit Hilfe eines DAAD-Stipendiums für ein Jahr nach West-Berlin ging. Er kehrte nicht in die Ungarische Volksrepublik zurück und setzte seine Arbeit in verschiedenen europäischen Städten fort. Seit 1980 lebt und arbeitet er in Köln. Anhand einer vergleichenden Analyse der künstlerischen Aktionen werden unterschiedliche Modi der Kommunikation und der Definition einer Situation herausgearbeitet: Auf welche Art und Weise kommunizierte Tót, indem er 8 Havránek 2006, Anhang o. S. Ein weiterer Werkkatalog bietet vor allem Bildmaterial: Jeřabková 2010. 9 Ausst. Kat. Budapest 1995. – Ausst. Kat. Kassel 2006. – Ausst. Kat. Debrecen 2012. 10 Kemp-Welch 2014, 141 – 184 und 185 – 220. Zum Werk Tóts hat Kemp-Welch außerdem einen Aufsatz publiziert: Kemp-Welch 2007. 11 Bishop 2012, hier 149 – 151. 12 Morganová 2014/I. – Morganová 2014/II. 13 Obrist 2014. 14 Smolik 2008. – Pospiszyl 2010. – Pospiszyl 2012. 15 Vgl. Interview Kemeny/Kühn – Tót und Kühn – Tót sowie Interview Kühn – Kovanda. Literatur zum Artpool-Archiv findet sich hier: http://www.artpool.hu/2013/Artpool_book_en.html und http://www. artpool.hu/flexpaper/Artpool_book.html [Zugriff am 15. 5. 2020]. Vgl. hierzu auch die Webseite des Artpool-Archivs: http://www.artpool.hu/ [Zugriff am 15. 5. 2020]. 16 Der Rechercheaufenthalt im Artpool-Archiv in Budapest erfolgte im September 2012.

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(scheinbar) nicht kommunizierte? Inwiefern definierte Kovanda die Situation, indem es ihm (von außen betrachtet) misslang, sie zu definieren? Welche Rolle spielte dabei der sie umgebende Raum und welche Bedeutung hatten die unterschiedlichen Interaktionspartnerinnen und -partner, zu denen auch die Kamera gehörte? Erkenntnisleitend sind hierbei folgende Fragen: Warum war die Dokumentation so ungemein wichtig für beide Künstler? Wie gingen sie mit dem öffentlichen Raum um? Auf den historischen Kontext bezogen wird es vor allem um folgende Punkte gehen: Welche Strategien entwickelten die beiden Künstler, um sich zu vernetzen und Kontakte im Ausland zu knüpfen? In welcher Hinsicht gleichen sich ihre Herangehensweisen und wo sind Differenzen festzustellen? Wie hängt dies mit den jeweiligen historischen Kontexten zusammen? Inwiefern führte die den Künstlern gemeinsame Situation einer erzwungenen Isolation zu einem ähnlichen Umgang mit derselben? Oder manifestierten sich die spezifischen und doch recht unterschiedlichen politischen Bedingungen in Prag und Budapest in den Arbeiten der beiden Künstler und in ihrem Netzwerkverhalten? Sprechen die Antworten auf diese Fragen dafür, die heterogenen künstlerischen Gruppierungen, Bewegungen und Einzelphänomene in den 1960er bis 1980er Jahren in Ostmitteleuropa als Neoavantgarde zu bezeichnen? Wie verhalten sich erzwungene Isolation und alternative Künstlernetzwerke in diesem Kontext zueinander? Und lässt sich im Falle von Tóts Auftritten im Ausland, während er noch in Budapest wohnte, vielleicht sogar eine Inszenierung des sogenannten Ostens im sogenannten Westen feststellen? Durch Kovandas Auftritte und Tóts spätere Emigration nach Westdeutschland sind Vergleich 17 und Verflechtungsgeschichte 18 eng miteinander verknüpft. Der Vergleich ostmitteleuropäischer Künstler während der 1970er Jahre ist daher zugleich eine Verflechtungs(netzwerk)geschichte, die zu großen Teilen in Westeuropa stattfindet. Im Folgenden wird es zunächst um Tóts künstlerische Arbeiten gehen, die vornehmlich in Budapest realisiert oder von Budapest aus versandt wurden. Der politische Kontext wurde hierbei von ihm in bestimmten Gesten verhandelt und nur bestimmte Formen der Medialisierung waren in diesem spezifischen Kontext möglich und wirksam. Während er in Budapest lebte und arbeitete, dokumentierte Tót seine Aktionen meist fotografisch, nur in einem Fall bekam er die Möglichkeit einen Film zu produzieren, der dann jedoch sofort zensiert wurde. Im westlichen Ausland veränderten sich die Wirkungsmöglichkeiten der Aktionen und es fand eine thematische Verschiebung statt. Diese wird deutlich, wenn es um die Straßenaktionen und Zero-Demonstrationen im westlichen Ausland geht. 17 Zum historischen Vergleich vgl. Welskopp 1995. Vgl. hierzu Kap. 1.4.2 in dieser Arbeit. 18 Zur Verflechtungsgeschichte vgl. Arndt/Häberlen/Reinecke 2011/I. – Kaelble 2005. – Werner/ Zimmermann 2002; zur transnationalen Geschichte vgl. Budde/Conrad/Janz 2010. – Conrad/ Osterhammel 2006. Vgl. hierzu Kap. 1.4.2 in dieser Arbeit.

Performances und Aktionen von Endre Tót  |

2.3 Per for m ances und Aktionen von Endr e Tót 2.3.1 Die totale Freude in den TÓTalJOYS Auf einer Schwarzweißfotografie sind ein Oberkörper und zwei Beine in kurzen Stiefeln zu sehen, die im Begriff sind, einen Schritt zu tun – der Kopf ist abgeschnitten (Abb. 1). Die Geste des Schreitens wurde in der Bewegung von der Kamera eingefangen und fotografisch festgehalten: Der rechte, nach vorne gesetzte Fuß schwebt knapp über dem Boden, der Schritt ist kurz vor seiner Vollendung eingefroren. Die nicht zu Ende geführte Geste, der verhinderte Schritt ist das Thema dieser Aktion. Die Beine gehören Endre Tót: Die Aktion I am glad if I can take one step 19 ist eine von vielen TÓTalJOYS , die der Künstler in den Jahren von 1973 bis 1975 in Budapest durchführte. Warum freut sich Tót, dass er diesen Schritt machen kann? Bereits im Jahre 1972 hatte er eine gleichnamige Aktion in den Béla-Balázs-Filmstudios in Budapest realisiert. Drei bis vier Avantgardekünstlerinnen und -künstler waren eingeladen, im Filmstudio einen kurzen Experimentalfilm zu drehen. Dies war in einer kommunistischen Diktatur eine einzigartige Möglichkeit.20 Die drei kleinen Stücke, die Tót im Filmstudio aufführte, waren sogenannte „Joy“-Stücke. Das erste Stück nannte er I am glad if I can take one step. Er stand zunächst regungslos im Raum. Dann machte er einen Schritt, während im Film der Untertitel „I am glad if I can take one step“ eingeblendet wurde. Anschließend stand er nochmals für einen Moment still im Raum. Für das zweite Stück setzte er sich auf einen Stuhl und tat für wenige Minuten gar nichts. Plötzlich schlug er die Beine übereinander. Im Film wurde der Untertitel „I am glad if I can cross my legs“ eingeblendet. Anschließend passierte wieder nichts und Tót saß für wenige Minuten unbewegt auf seinem Stuhl. Das dritte Stück lief ähnlich ab wie das erste und das zweite, nur dass die kleine Freude des Gehens oder des Beine-Übereinander-Schlagens durch eine dritte unscheinbare und alltägliche Geste ersetzt wurde. Während der Aufführung war eine Jury zugegen, in der auch Parteifunktionäre saßen. Sie waren empört, dass sich in ihrem Land jemand erdreistete, glücklich zu sein, dass er einen Schritt machen durfte. Tóts Film wurde verboten. Das Filmstudio hatte geplant, die Experimentalfilme in großen Kinos als Vorfilme vor den dort gezeigten Spielfilmen zu präsentieren, dies war jedoch nach der Zensur nicht mehr möglich. 19 Von Anfang an benutzt Tót in seinen Aktionen die englische Sprache. Auch im Mail Art-Netzwerk wurde die englische Sprache verwendet. Dies ermöglichte den Kunstschaffenden, international zu kommunizieren. In der Ungarischen Volksrepublik stellte ihr Gebrauch eine Form des Protests dar. Zudem war Englisch die Sprache der Beat Generation. Vgl. die Aussagen Tóts und Réka Keménys in: Interview Kemeny/Kühn – Tót. 20 Die Filmkopie mit den Aktionen von Tót ist verloren gegangen. Es gibt lediglich eine Rekonstruktion der ersten Aktion I am glad if I can take one step von 1990. Aussage des Künstlers in: Interview Kühn – Tót. Vgl. die Abbildung zur Aktion in: Ausst. Kat. Debrecen 2012, 60.

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|  Eine Situation eröffnen und sich total freuen Abb. 1  Endre Tót, I am glad if I can take one step, aus der Serie TÓTalJOYS, Budapest, 1973 – 1975.

Drei Jahre später, 1975, wurde Tót nach Belgrad zum Festival proširenih medija (engl. Festi­val of Extended Media) eingeladen. Dort zeigte er seine Filmstücke und bekam viel Anerkennung. Der Aufenthalt in Belgrad ermöglichte ihm persönliche Kontakte zur internationalen Performance-Kunst-Szene: Er traf mehrere Künstlerinnen und Künstler aus westeuropäischen Ländern wie zum Beispiel Katharina Sieverding. Außerdem lernte er Marina Abramović und Braco Dimitrijević kennen, die beide in Zagreb studiert hatten und die ihn nachhaltig beeindruckten.21 In Belgrad führte Tót außerdem eine Aktion durch: In einem leeren Raum, in dem nur ein Kopierer stand, machte er mehrere 1.000 Kopien.22 Diese Aktion, betitelt mit I am glad if I can xerox war ein direkter Verweis auf die Zensur in der Volksrepublik Ungarn, wo die Nutzung von Kopierern strengen Kontrollen unterlag. 21 Tót erinnert sich nicht an Filmvorführungen oder Performances der genannten Künstlerinnen und Künstler, die Begegnungen waren für ihn dennoch prägend. Aussage des Künstlers in: Interview Kühn – Tót. Wie Fotografien in dem Katalog Permafo belegen, nahm auch Natalia LL 1975 an dem Festival of Extended Media (auch IV. April-Treffen genannt) in Belgrad teil. Vgl. hierzu Ausst. Kat. Wrocław 2012/II, 157. 22 Aussage des Künstlers in: Interview Kühn – Tót.

Performances und Aktionen von Endre Tót  |

Abb. 2  Endre Tót, I am glad if I can walk back and forth, I am glad if I can look to the right und I am glad if I can look to the left, aus der Serie TÓTalJOYS, Budapest, 1973 – 1975.

Die Gesten in den beschriebenen Aktionen und Joy-Stücken sind alltäglich und unspektakulär: Tót macht einen Schritt, liest Zeitung („I am glad if I can read the newspaper“), spreizt seine Zehen („I am glad if I can do like this“), schaut nach rechts („I am glad if I can look to the right“, Abb. 2), schaut nach links („I am glad if I can look to the left“, Abb. 2), schreibt („I am glad if I can write sentences, one after the other“), kopiert („I am glad if I can xerox“, Abb. 3) und stempelt („I am glad if I can stamp“, Abb. 4). Obwohl Tót die Aktion lange im Voraus plante und durchdachte, fertigte er keine Skizzen oder Skripte an. Die meisten Aktionen realisierte er im öffentlichen Raum, einige wenige führte er auch im Innenraum, zum Beispiel in seiner Wohnung, durch.

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Abb. 3  Endre Tót, I am glad if I can xerox, 1975.

Die fotografische Dokumentation der „totalen Freuden“ Tóts wurde von Freunden oder Unbekannten durchgeführt, deren Namen vom Künstler nicht genannt werden. Meist ist es eine einzige Fotografie, die die Aktion dokumentiert. Die Fotografien der TÓTalJOYS funktionieren jedoch als Serie, deren Entstehung auf 1973 – 75 datiert wird. In den Jahren

Performances und Aktionen von Endre Tót  |

Abb. 4  Endre Tót, I am glad if I can stamp, FLUXshoe-Festival Blackburn, 1973.

von 1971 bis 1980 wurden Reproduktionen der Fotografien mehrfach als Serie in Form von Künstlerbüchern publiziert.23 Auf den ersten Blick erscheinen diese Gesten nicht wie Tätigkeiten, die im Alltag besondere Freude hervorrufen. Tóts Aktionen machen daher auf etwas aufmerksam, dessen existenzielle Wichtigkeit erst im Augenblick seiner Abwesenheit bewusst wird. Es ist die Freiheit, sich im alltäglichen Handeln individuell zu äußern und mitzuteilen, die sich in diesen beiläufigen Gesten manifestiert. Mit subtiler Ironie machen die TÓTalJOYS deutlich, dass selbst Gehen, Schreiben, Stempeln und Kopieren sowie nach rechts und links Schauen in der Volksrepublik Ungarn keine frei praktizierbaren Tätigkeiten waren. Die Nutzung und Wiederholung bereits existierender Formen der Äußerung kann in einer Situation, die durch die Einschränkung der individuellen Ausdrucksmöglichkeiten gekennzeichnet ist, als eine kritische oder oppositionelle Praxis verstanden werden. Der Soziologe, Historiker und Kulturphilosoph Michel de Certeau hat die

23 Vgl. Ausst. Kat. Debrecen 2012, 240. Im Anhang des Katalogs werden insgesamt drei Künstler­bücher mit dem Titel TÓT alJOYS genannt: TÓT alJOYS (1971 – 1975), Ecart Publications, Genf és Howeg, Hinwil, 1975; TÓTalJOYS (1971 – 1975), Ecart Publications, Genf, 1976; TÓTalJOYS, Rainer Verlag, Berlin és Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin, 1978. Vgl. hierzu Ausst. Kat. Debrecen 2012, 382.

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Möglichkeiten passiven Konsums unter kapitalistischen Bedingungen untersucht und einer aktiven Nutzung oder Praxis gegenübergestellt. Diese „andere Produktion [ist] fast unsichtbar, denn sie äußert sich nicht durch eigene Produkte, sondern in der Umgangsweise mit den Produkten, die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden.“ 24 De Certeau schreibt, dass auch wenn das Vokabular der Konsumentinnen und Konsumenten aus vorgegebenen Sprachen bestehe und sie sich im Rahmen der vorgeschriebenen Syntaxen bewegten, blieben „diese ‚Quergänge‘ heterogen gegenüber den Systemen, in die sie eindringen und in denen sie trickreich differente Interessen und Wünsche entwerfen.“ 25 Auch bei Tót findet in dem Moment der Performance und durch die Dokumentation und Betitelung eine Umdeutung der alltäglichen Gesten statt. Die Taktiken, die von Tót und Kovanda verwendet werden, können auch als „Taktiken“ im Sinne de Certeaus beschrieben werden, denn ihm zufolge haben viele Alltagspraktiken taktischen Charakter.26 Er unterscheidet „Taktiken“ von „Strategien“ und bestimmt Letztere als eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt […] von einer „Umgebung“ abgelöst werden kann. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt […] dienen kann.27

Die Taktik bezeichnet de Certeau auch als eine „Kunst des Schwachen“.28 Er beschreibt sie als ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können.29

Im Gegensatz zur Strategie, die durch eine Macht organisiert wird, „wird die Taktik durch das Fehlen von Macht bestimmt“ 30. Die Taktik

24 25 26 27 28 29 30

De Certeau 1988, 13. Ebd., 85. Ebd., 24. Ebd., 23. Vgl. hierzu auch ebd., 87 – 88. Ebd., 89. Ebd., 23. Vgl. hierzu auch ebd., 89. Ebd., 90.

Performances und Aktionen von Endre Tót  |

Abb. 5  Endre Tót, You are the one who made me glad, Budapest, 1975.

profitiert von „Gelegenheiten“ und ist von ihnen abhängig […]. Sie muss wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. […] Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber. 31

Die Taktiken erfüllen also eine ähnliche Funktion wie die Überidentifikation und die subversive Affirmation. Wie in den folgenden Kapiteln noch deutlich werden wird, eigneten sich insbesondere die alltäglichen Praktiken, die von den Performance-Künstlerinnen und -Künstlern in Ostmitteleuropa verwendet wurden, als Taktiken, die beinahe unsichtbar im öffentlichen oder im privaten Raum wirkten und auf subtile Art und Weise ihr Potential entfalteten. Auf dem überwiegenden Teil der Fotografien, die die TÓTalJOYS dokumentieren, blickt uns der lachende Künstler entgegen, wie zum Beispiel in der Arbeit You are the one who made me glad (1975; Abb. 5). 31 Ebd., 89.

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Abb. 6  Endre Tót, I am glad if I can stamp, Stamp Action, Amsterdam, 1980.

Die Fotomontage zeigt eine Gegenüberstellung des Porträts eines ernstblickenden ­Vladimir Il’ič Lenin (russ. Владимир Ильич Ленин) mit dem Porträt eines lachenden Tóts. Lenin trägt Bart, Anzug und Krawatte – Tót hingegen wehen die langen, gelockten Haare ins rasierte Gesicht. Mit der Herstellung eines Mail Art-Stempels, auf dem der Schriftzug „I am glad if I can stamp“ das lachende Konterfei umrahmt, wurde das grinsende Gesicht zum Markenzeichen des Künstlers (Abb. 6).32 Die Mimik erscheint wie eine Maske, hinter deren Oberfläche sich der private Tót verbirgt. Klara Kemp-Welch weist jedoch auf die vergebliche Aufrechterhaltung der Dichotomie von öffentlich – privat im Sozialismus hin, da in der sozialistischen Gesellschaft die Öffentlichkeit in alle privaten Bereiche eindrang: „Maintaining such boundaries as public / private was impossible in this context.“ 33 Das lachende Gesicht steht bei Tót aber auch für pure Propaganda. Es ist die Verkörperung der sozialistischen Ideologie. 32 Da die Druckerei in Budapest sein Design abgelehnt hatte, ließ Tót seinen ersten Stempel in Zürich herstellen. Vgl. Perneczky 1995, 32. 33 Kemp-Welch 2007, 139. Das Verschwinden des privaten Raums beschreibt Bishop auch in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Tschechoslowakei ab 1948: „The ownership of private property was systematically eliminated, along with privacy and individuality as an emotional and psychological refuge.“ Bishop 2012, 131.

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Ein glückliches Lachen kennzeichnete den Neuen Menschen, der von der sozialistischen Gesellschaft mit vereinten Kräften für eine bessere Zukunft gebildet werden sollte.34 Kemp-Welch nennt Humor als eine Form der Dissidenz unter totalitären Bedingungen.35 Sie stützt ihre These überzeugend mit einem Beispiel aus Milan Kunderas Roman Der Scherz 36 von 1967, der das Schicksal des „Dissidenten“ Ludvik in der damaligen ČSSR schildert. In der Textstelle, auf die Kemp-Welch hinweist, wird Ludvik von den Genossinnen und Genossen in den Studienzirkeln der Fakultät „Individualismus“ 37 vorgeworfen. Dies wird damit begründet, dass er „immer so sonderbar“ 38 lächeln würde: „[…] als würdest du dir etwas dabei denken.“ 39 Ludvik entgegnet: „Na und? Ich freue mich!“ Bis zu diesem Zeitpunkt ist ihm dieses Lächeln nicht bewusst gewesen, es erregt jedoch Misstrauen und führt schließlich unter anderen Vorwürfen zu seinem Ausschluss aus der Partei und zum Verlust seines Studienplatzes. Ludvik beginnt nun selbst sein Verhalten zu hinterfragen und stellt fest, dass er im Alltag mehrere Rollen spielt und wie hinter verschiedenen Masken agiert: Ich begann mein Lächeln etwas zu kontrollieren, bald darauf spürte ich jedoch, wie sich in meinem Inneren zwischen dem, der ich war, und dem, der ich (gemäß dem Zeitgeist) hätte sein sollen und zu sein versuchte, ein kleiner Riß auftat.40

Ludvik kommt sogar zu dem Schluss, dass es das „echte“ 41 Gesicht gar nicht gebe – oder er es zumindest nicht identifizieren könne: Alle diese Gesichter waren echt: Ich hatte nicht wie ein Heuchler ein echtes und einige falsche Gesichter. Ich hatte mehrere Gesichter, weil ich jung war und selbst noch nicht wußte, wer ich war und wer ich sein wollte.42

34 Zum „Neuen Menschen“ im Sowjetkommunismus vgl. Haring 2016. 35 Kemp-Welch identifiziert in ihrer Dissertation insgesamt sechs Formen der Dissidenz, die sie unter dem Begriff „Antipolitics“ zusammenfasst: „Disinterest“, „Doubt“, „Dissent“, „Humour“, „Reticence“ und „Dialogue“. In jedem Kapitel untersucht sie die Werke eines Künstlers. Unter dem Titel „Humour“ fasst sie die Aktionen Tóts zusammen, unter „Reticence“ diejenigen Kovandas. Vgl. Kemp-Welch 2014. 36 Kundera 1987 [1967], 38. Die Originalausgabe erschien 1967 in Prag. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 39. 42 Ebd.

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|  Eine Situation eröffnen und sich total freuen Abb. 7  Endre Tót, I am glad if I can stand next to you, Budapest, 1973 – 1975.

Die Geschichte von Ludvik verdeutlicht die schizophrenen Züge, die das alltägliche Verhalten in einer politisch restriktiven Gesellschaft annehmen kann. Rollen und Masken sind jedoch Teil der alltäglichen Interaktion jeder Gesellschaft und das Lachen ist eine subversive Strategie, die sowohl die Identität einer Gruppe festigen und zu Exklusion führen, als auch ein soziales System hinterfragen und ins Wanken bringen kann. In den Jahren 1973 bis 1975 führt Tót eine weitere Joy-Aktion durch. In dieser Aktion mit dem Titel I am glad if I can stand next to you steht er direkt neben dem überlebensgroßen Lenin-Monument auf dem Felvonulási tér (dt. Felvonulási-Platz) in Budapest (Abb. 7).43 Um das gesamte Denkmal zu erfassen, wurde die Schwarzweißfotografie aus größerer Distanz aufgenommen. Der Künstler wirkt klein neben der riesenhaften Statue, die 43 Die vier Meter hohe bronzene Lenin-Statue des Bildhauers Pátzay Pál stand seit 1965 auf dem F­ elvonulási tér, bevor sie nach der Wende 1989 demontiert wurde. Seit 1993 befindet sie sich zusammen mit weiteren ausrangierten kommunistischen Statuen im Memento-Park. Siehe: http://www.mementopark. hu/ [Zugriff am 15. 5. 2020].

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von einem Sockel herabschaut, der Tót bis an die Schulter reicht. Sein Körper bildet dabei eine Art Gegengewicht zu der monumentalen Statue. Der Körper wird durch das Nahe-Bei-Dir-Stehen trotz der kurzen Dauer der Performance selbst zu einer Skulptur, die durch die Fotografie eingefangen wird.44 Für einen kurzen Moment berührt er mit seinen Fingerspitzen fast schüchtern und zugleich in einer Art rebellischem Akt die Oberkante des Sockels. „Ich war ein bisschen aufgeregt“ 45, erinnert sich Tót. Der Fotograf, der die Szene aufnahm, erzählte ihm später, dass aus dem großen Gebäude gegenüber dem Denkmal einige Leute herausgeblickt hätten, um zu sehen, was dort neben dem Denkmal geschehe. Im Rückblick beurteilt Tót die damalige Situation als nicht ungefährlich.46 Die Taktik, die Tót in seinen Joy-Aktionen verwendete, kann als eine Taktik der Überidentifikation beschrieben werden. In ihrem Text Subversive Affirmation: On Mimesis as a Strategy of Resistance 47 stellen die Kuratorin Inke Arns und die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse die These auf, dass sich die Praktiken der subversiven Affirmation und der Überidentifikation als künstlerische Taktiken seit den 1960er Jahren speziell in der osteuropäischen Kunst herausbildeten, indem sie auf die jeweiligen konkreten Umstände im sozialistischen Osteuropa Bezug nahmen.48 Die Taktiken der subversiven Affirmation und der Überidentifikation versetzen die Betrachtenden oder Zuhörenden in genau den Zustand oder die Situation, den oder die sie später kritisieren werden.49 Subversive Affirmation als künstlerische oder politische Taktik erlaubt nach ihrer Definition Künstlerinnen und Künstlern oder Aktivistinnen und Aktivisten, an bestimmten sozialen, politischen oder ökonomischen Diskursen zu partizipieren und sie zu affirmieren, zu appro­priieren oder zu konsumieren und sie dabei gleichzeitig zu untergraben.50 Während des Affirmierungsprozesses findet simultan eine Distanzierung oder eine Enthüllung von dem statt, was affirmiert wird.51 Arns und Sasse bestimmen Überidentifikation als „subversive affirmation in its ultimate form because it manages to create an absolute totality“ 52. Sasse entwickelt ihre Gedanken zur Überidentifizierung bereits 2001 in einem Aufsatz über das slowenische Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK ) und in Bezug auf den Philosophen Slavoj Žižek. Diesem zufolge bleibe offene Kritik an der Ideologie eines Systems folgenlos, 44 Vgl. hierzu Kapitel 4.4.3.2 (Bezüge im Werk KwieKuliks zu monumentalen Skulpturen). 45 Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 46 Aussage Tóts ebd. 47 Arns/Sasse 2006. 48 Ebd., 444. 49 Ebd., 445. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd., 448.

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da sich jeder ideologische Diskurs durch Zynismus auszeichne.53 Die Ideologie nehme eine zynische Distanz zu den eigenen moralischen Prämissen ein und glaube ihren eigenen Aussagen nicht mehr 54: „It is no longer meant, even by its authors, to be taken seriously […].“ 55 Selbst das Mittel der Ironie erweise sich gegenüber einer zynischen Ideologie als „in die Hände der Mächtigen spielend“ 56: […] in contemporary societies, democratic or totalitarian, that cynical distance, laughter, irony, are, so to speak, part of the game. The ruling ideology is not meant to be taken seriously or literally. Perhaps the greatest danger for totalitarianism is people who take its ideology literally […].57

Die exzessive Identifikation ist nach Žižek das, was die herrschende Ideologie am meisten fürchtet: „der Feind ist der ‚Fanatiker‘, der sich ‚überidentifiziert‘, anstatt einen angemessenen Abstand […] zu wahren […].“ 58 Diese Strategie frustriere das System (die herrschende Ideologie), weil sie ihr obszönes Superego, das sonst versteckt bliebe, ans Tageslicht bringe und dadurch seine Effizienz suspendiere.59 Die zwei Teile, aus denen sich eine Ideologie zusammensetze, seien einerseits die vom entsprechenden politischen System öffentlich verkündeten und propagierten expliziten Werte und andererseits die sogenannten verdeckten Kehrseiten.60 Diese impliziten Werte und Prämissen müssen unausgesprochen bleiben, damit die Ideologie funktionieren könne.61 Überidentifizierung sei keine einfache Wiederholung, sie „denkt die impliziten Annahmen einer Ideologie logisch zuende [sic] und konfrontiert sich selbst und das Publikum mit dem ‚besseren

53 „It is clear, therefore, that confronted with such cynical reason, the traditional critique of ideology no longer works.“ Žižek 81999, 30. 54 Vgl. Arns 2002, 152. 55 Žižek 81999, 30. 56 Arns 2002, 152. 57 Žižek 81999, 28. 58 Žižek 1992, 49. Žižek beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der spätkapitalistischen Ideologie und ihrer Angst vor der exzessiven Identifikation. Nach Arns/Sasse sind die in den 1960er Jahren in Osteuropa entwickelten künstlerischen Taktiken der subversiven Affirmation und der Überidentifikation in zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaften besonders effektiv (vgl. Arns/Sasse 2006, 444 – 445). Das Kollektiv „Neue Slowenische Kunst“ (NSK) aus Slowenien bspw. nutzt in seinen Arbeiten die Taktik der Überidentifikation, weshalb sowohl Žižek als auch Arns/Sasse (2006, 248) darauf verweisen. Für die Ausführungen bei Žižek vgl.: Žižek 1993. 59 Žižek zieht hier den Vergleich zur individuellen Erfahrung von extremer Peinlichkeit und Scham, wenn private Rituale, Phrasen (Spitznamen etc.) oder Gesten, die gewöhnlich nur im intimen Freundes- oder Familienkreis genutzt werden, öffentlich werden. Žižek 1993, 4. 60 Arns 2002, 152. 61 Ebd.

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Original‘“ 62. Durch die Strategie der „(Wieder-)Spiegelung“ 63 versuche sie die Funktionsmechanismen der herrschenden Ideologie aufzudecken. Die öffentliche Aufführung des obszönen phantasmatischen Kerns des Ideologiegebäudes setze seine Funktionalität außer Kraft.64 Nach Arns und Sasse gibt es sowohl in offen repressiven Systemen als auch in liberaleren kapitalistischen Gesellschaften kein Außen mehr.65 Kritik behaupte ein „Außerhalb des Textes“ 66, das es nicht gebe. Somit bleibt die Kritik wirkungslos, und als einzig mögliche erscheinende Strategie realisiere der „totale Vollzug“ in der Überidentifizierung „die logische Konsequenz aus den implizit und explizit vorgegebenen Prämissen der herrschenden Ideologie am eigenen Körper“ 67. Arns betont, dass es „nicht um eine im Textuellen verbleibende Strategie, nicht um das Virulent-Werden eines Bildes im Text, sondern um ein Somatisch-Werden des ideologischen Textes, um ein am eigenen Körper vollzogenen Diskurs“ 68 gehe. Dieser körperliche Vollzug der Überidentifikation und die somatischen Auswirkungen der Freude während des Gehens, Stehens, Schauens, Lächelns, Schreibens, Kopierens oder Stempelns lassen sich in den Aktionen Tóts beobachten. Er eignete sich in seinen TÓT alJOYS die ideologische Sprache in gesteigerter Form an, um sie gleichzeitig zu untergraben: Durch seine Aktionen wurde die Unzulässigkeit der totalen Freude in der Volksrepublik Ungarn sichtbar. Wenn er beispielsweise direkt neben dem Lenin-Denkmal für die Kamera posiert und die Statue ehrfürchtig berührt, hält er genau diese Distanz, von der Žižek spricht, nicht ein. Die Empörung der Jury, die während des Drehs der totalen Freuden im Filmstudio anwesend war, darüber, dass sich Tót freute, einen Schritt zu machen, verdeutlicht diese Angst der herrschenden Ideologie: Die Parteifunktionäre fühlten sich bedroht, da Tót durch seine Handlungen die für die Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse notwendige Distanz missachtete. Auch wenn die Taktiken der subversiven Affirmation und der Überidentifikation effektiv sind und bei Gelingen eine intensive Erfahrung ermöglichen, sind sie zugleich äußerst risikoreich und potentiell gefährlich, da sie leicht missverstanden werden können.69 Die subversive Botschaft kann beispielsweise nicht verstanden werden, da auf Seiten der

62 Ebd., 150. 63 Ebd. 64 Žižek 1993, 4. 65 „[…] everything and thus nothing can be said: The culture industry manages to recuperate and appropriate even the most critical viewpoints and render them ineffective. In both contexts [d. h. offen repressive Systeme und heutige liberalere Kontexte], critical distance (an ‚outside‘) proves to be an impossible or inadequate position.“ Arns/Sasse 2006, 444. 66 Arns 2002, 150. 67 Ebd. 68 Ebd., 151. 69 Arns/Sasse 2006, 455.

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Rezipientinnen und Rezipienten das notwendige Wissen oder die Aufmerksamkeit fehlt. Aufgrund dieser Gefahr ist deren Wahrnehmung von entscheidender Bedeutung. Ihnen wird ein Großteil der Verantwortung für die Situation übertragen.70 Ob eine subversive Botschaft ihre volle Wirkung entfalten kann, ist jedoch auch eine Frage der Rahmung. Die Betrachtenden orientieren sich bei ihrer Interpretation einer Situation am Rahmen. Als Rahmen bestimmt Goffman die implizit vorgenommenen oder explizit genannten Definitionen der Situation: Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente […] nenne ich „Rahmen“.71

Wie genau die Definition einer Situation vorgenommen wird und welche Rolle der Rahmen bei der Interpretation der Aktionen von Kovanda und Tót spielt, wird in Kapitel 2.5 weiter ausgeführt. 2.3.2 Die ersten Straßenaktionen, Gladness- und Zero-Demonstrationen im westlichen Ausland Wie zu Anfang des Kapitels bereits angedeutet wurde, findet mit Tóts (Aus-)Reise ins westliche Ausland und seiner Hinwendung zu Straßenaktionen eine thematische Verschiebung statt. Seine erste Straßenaktion führte er 1976 in Genf durch.72 Die Aktion entstand in Zusammenarbeit mit der Galerie Ecart 73, die seit 1973 von dem Schweizer Konzeptkünstler John M. Armleder geführt wurde. Mit Armleder stand Tót seit 1976 in Kontakt und der Galerist lud ihn ein, ein halbes Jahr nach Genf zu kommen und dort zu arbeiten. Trotz der Schwierigkeiten, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten 74, konnte Tót die Reise antreten. Bei der Straßenaktion in Genf trug er große Poster und Schilder mit „Gladness“-Aussagen um den Hals gehängt oder an Stöcken vor sich her: 70 Arns und Sasse sprechen sogar von der „vollen Verantwortung“, die den Rezipientinnen und Rezipienten übergeben wird. Ebd. Ich stimme dem nur teilweise zu, da die Künstlerin oder der Künstler ebenfalls einen Teil der Verantwortung übernimmt. Vgl. hierzu Auslander 2006 sowie Kapitel 3.4.1 in dieser Arbeit. 71 Goffman 1977 [1974], 19. 72 Vgl. die Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 73 Die Galerie und der dazugehörige Verlag bestanden von 1973 bis 1980 und gingen aus der Fluxus-Gruppe Groupe Ecart hervor. Mitte der 1970er Jahre hatte sie ihren Höhepunkt, damals war die Galerie ein Treffpunkt der Avantgarde. Der Vater John M. Armleders war damals einer der reichsten Männer der Schweiz, wie Tót sich erinnert. Vgl. die Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 74 Aussage Tóts: „We could spend thirty days in the West in every three years, but not always.“ Zit. nach: Kemp-Welch 2014, 165.

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Abb. 8  Endre Tót, Gladness-Demostration, Bonn, 1979.

„I’m glad if this can hang on my neck“, „I’m glad if this can hang here“, „I’m glad if I can hold this in my hand“ und „I’m glad if I can advertise on posters“. Der zuletzt genannte Satz stand auf einem Poster, das im Schaufenster der Galerie Ecart aufgehängt war. Unter dem Satz prangten das lachende Konterfei des Künstlers sowie die Unterschrift „TÓT alJOY “. Unterhalb des Posters in dem Schaufenster lagen verschiedene Künstlerpublikationen. Eine weitere Straßenaktion, die in Genf durchgeführt wurde, nimmt die späteren „Gladness“-Demonstrationen vorweg: Tót und Armleder hielten an zwei Stöcken ein großes Banner quer über die Straße, auf dem „We are glad if we can hold this in our hands“ stand.75 Auf der Fotografie mit dem Poster „I’m glad if I can hold this in my hand“ geht Tót vor einer Blaskapelle entlang. Er erinnert sich an einen „Skandal“ 76, da er mit seinem Plakat große Aufregung verursachte, die sogar das Ordnungsamt auf den Plan rief. Eine der ersten „Gladness“-Demonstrationen fand 1980 in Bonn statt (Abb. 8).77

75 Vgl. die Abbildungen in: Ausst. Kat. Debrecen 2012, 160. 76 Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 77 Im Jahre 1979 hatten bereits „Gladness“-Demonstrationen in Paris, Amsterdam und Bonn ­stattgefunden. Vgl. die Abbildungen im Ausstellungskatalog: Ausst. Kat. Debrecen 2012, 182.

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Abb. 9  Endre Tót, Zero-Demonstration, Viersen, 1980.

Im Ausstellungskatalog Endre Tót. Very Special Joys 78 ist die polizeiliche Genehmigung der Demo abgedruckt. Die erste Zero-Demonstration, bei der auf den Plakaten ausschließlich Nullen und Satzzeichen zu sehen waren, fand ebenfalls 1980 in Viersen statt (Abb. 9). Es war eine kleine Demonstration mit fünf bis sechs Leuten, die im Rahmen eines Kunstfests durchgeführt wurde. Das Abteimuseum hatte Tót nach Viersen empfohlen, und es wurde eine Schule mit jungen Leuten gefunden, die bei der Demonstration mitmachen sollten. Der Direktor des Gymnasiums verbot jedoch den Schülerinnen und Schüler seiner Schule die Teilnahme an solch einer – in seinen Augen – „nihilistischen“ 79 Aktion. Tót bekam Panik, da er nicht auf das Honorar verzichten konnte, das ihm für die Kunstaktion versprochen worden war.80 Er ging daher die Hauptstraße von Viersen entlang und fragte ein paar junge Mädchen, ob sie die Aktion mit ihm durchführen wollten. Mit ihrer Hilfe konnte die Demonstration schließlich stattfinden.81 1991 fand erneut eine Zero-Demonstration in Oxford statt, von der ein Video existiert (Abb. 10).82 78 79 80 81 82

Vgl. die Abbildung ebd., 178 – 179. Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. Es handelte sich dabei um 800 DM, was damals sehr viel Geld für Tót bedeutete. Aussage Tóts ebd. Vgl. die Abbildung im Ausstellungskatalog: Ausst. Kat. Debrecen 2012, 180 – 181. Das Video ist auf youtube abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=nKdi7MN7lCQ [Zugriff am 17. 1. 2020].

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Abb. 10  Endre Tót, Zero-Demonstration, Oxford, 1991, Videostill aus Dokumentarfilm.

Für die Demonstrationen verwendete Tót immer dieselben Plakate. Manchmal produzierte er einige neue Variationen wie zum Beispiel für eine Zero-Demonstration in Gent 2007.83 Hier erinnert die Anordnung der Nullen auf den Plakaten an Reklameschilder mit Preisen und Sonderangeboten, die durch große Pfeile hervorgehoben werden. In den letzten Jahren veranstaltete Tót insgesamt vier Zero-Demonstrationen in Debrecen (Centre for Modern and Contemporary Arts [MODEM]), Budapest (Prachtstraße: Andrássy út), Köln (Museum Ludwig – Art Cologne) und Hamburg (Kunsthalle – Galerie Mathias Güntner, Admiralitätsstraße). Die jüngsten Demonstrationen wurden jeweils mit 20 bis 50 Personen durchgeführt. Bereits in den Zero-Demonstrationen der 1970er Jahre wandelte Tót die Botschaft in eine Nicht-Botschaft um. Die Plakate wurden ihres früheren Inhalts entleert und mit einem neuen versehen: Das Plakat, ein Hauptmedium politischer Propaganda, transformierte zu einer neutralen weißen Fläche, auf der die Nullen sich zu Gedichten zusammensetzen konnten.84 Die Aktivität des Demonstrierens wurde somit im Moment ihrer 83 Vgl. die Abbildung im Ausstellungskatalog: Ausst. Kat. Debrecen 2012, 204 f. 84 Vgl. hierzu die Massenaufmärsche anlässlich sozialistischer Feiertage wie dem 1. Mai. Ein gutes Beispiel für die künstlerische Verwendung und subversive Affirmation dieser Events ist die Erklärung der gesamten Stadt Bratislava und ihrer Bewohner in der Woche vom 1. bis zum 9. Mai 1965 zu einer Ausstellung. Der Titel „Happsoc I“ ist eine Abkürzung für „happy society“ oder „happy socialism“ und zielt in eine ähnliche Richtung wie Tóts „JOY“-Stücke. Siehe Bishop 2012, 141 f.

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Durchführung bereits negiert, die politische Geste verwies einzig und allein auf sich selbst. Dadurch blieb jedoch das Element des Protests nicht nur erhalten, es wurde sogar noch verstärkt, wie einige Reaktionen auf die Zero-Demonstrationen zeigen. Denn auch in Westeuropa war das Nicht-Demonstrieren nicht so einfach möglich. Der Schuldirektor empfand die Nicht-Botschaft auf den Plakaten als unmoralisch und nihilistisch. Die Demonstration wurde dennoch abgehalten. Bei anderen Demonstrationen intervenierte die Polizei, weil sie nicht im Vorfeld genehmigt worden waren.85 2.3.3 Medialisierung der Straßenaktionen Wie Kovanda erzählt auch Tót, dass die Leute auf der Straße, die der Demonstration begegneten, fast gar nicht reagierten.86 Seine Aktionen zielten jedoch nach seiner Aussage gar nicht auf eine unmittelbare Reaktion der Passantinnen und Passanten ab. Ihn interessierte nur die Dokumentation.87 Wie Kovanda arbeitete er mit Fotografinnen und Fotografen zusammen, denen er Anweisungen gab, wie sie die Situation fotografieren sollten. Dadurch behielt er die Kontrolle in der Situation und betrachtete die Tätigkeit der Fotografierenden auch nie als einen Teil der künstlerischen Arbeit. In Budapest kooperierte Tót größtenteils mit einem bestimmten Fotografen, den er für seine Arbeit bezahlte.88 Meist wurden einige Dutzend Fotos aufgenommen, aus denen Tót dann einige wenige auswählte, die er entwickeln ließ und weiterverwendete. Im Ausland arbeitete er mit wechselnden Fotografinnen und Fotografen oder mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von ihm besuchten Institutionen zusammen. Er ließ die Fotografien mit Blick auf die Zukunft machen und sagte sich: „Das richtige Leben der Fotos, das kommt später.“ 89 In den 1970er Jahren verwendete Tót vornehmlich das Medium der Fotografie, um seine Aktionen zu dokumentieren. Dies lag zum einen daran, dass keine Filmkamera verfügbar war. Zum anderen konnte er mit Hilfe der Fotografie besser kommunizieren, weil diese sich einfacher veröffentlichen und zum Beispiel über das Mail Art-Netzwerk versenden ließ.90 Auf welche Art und Weise Tót dieses Netzwerk für sich nutzte, wird in Kapitel 2.6.4 ausführlich dargestellt. 85 Vgl. Perneczky 1995, 31. 86 Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 87 Aussage Tóts ebd. 88 Die Negative verblieben im Besitz des Fotografen, der sie später weiterverkaufte. Erst 40 bis 50 Jahre später und nach einigen weiteren Besitzwechseln gelangten die fast 1.000 Negative für eine relativ hohe Summe (etwa 50.000 Euro) in den Besitz der Galerie „acb galeria“. Der Galerist machte schöne VintageAbzüge, rahmte sie und stellte sie in seiner Galerie aus. Diesen Fotografien, die zuvor ausschließlich in Katalogen und Künstlerbüchern abgedruckt worden waren, wurde somit zum ersten Mal der Status eines eigenständigen Kunstwerkes verliehen. Vgl. hierzu die Aussagen Tóts in: Interview Kühn – Tót. 89 Aussage Tóts ebd. 90 Ein Film war damals noch nicht so leicht zu verbreiten und zu publizieren wie heute und konnte zum Beispiel nicht gleichzeitig an mehrere Leute verschickt werden.

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Die einzelnen Ebenen, die für die Analyse der Aktionen Tóts zentral sind, spielen auch in den nun folgenden Untersuchungen der Arbeiten Kovandas eine wichtige Rolle. In einigen Punkten unterscheiden sich jedoch sowohl die künstlerische Intention als auch die Wirkungsweise der Arbeiten. Im Folgenden wird Kovandas Vorgehensweise vorgestellt. Nach und nach werden im Vergleich mit der Arbeitsweise Tóts Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet.

2.4 Jiř í Kovandas Interventionen im öffentlichen R aum Jiří Kovanda begann mit seinen Aktionen in Prag in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Er hatte keine Kunstakademie besucht und besaß auch kein Atelier. Nach eigener Aussage brauchte er für seine Aktionen kein Atelier, er hätte als Autodidakt zum damaligen Zeitpunkt auch kein Anrecht darauf gehabt. Ein Atelier bekamen nur die offiziell registrierten Künstlerinnen und Künstler, die Mitglieder des „Verbandes Tschechischer Bildender Künstler“ waren und ihren Abschluss an einer Kunstakademie gemacht hatten.91 Seine künstlerische Arbeit finanzierte er durch Gelegenheitsjobs, zunächst beim U-Bahn-Bau, dann ab 1977 im Depot der Nationalgalerie.92 Seine Interaktionen im öffentlichen Raum waren kaum merkliche Veränderungen in seinem Verhalten gegenüber Fremden auf Plätzen und Straßen. Dabei bezog er den städtischen Raum auf verschiedene Art und Weise mit ein. 2.4.1 Die unterschiedliche Rolle von Passantinnen und Passanten und geladenem Publikum Kovanda selbst teilt seine Aktionen in zwei Kategorien ein: Aktionen ohne und Aktionen mit geladenem Publikum.93 In den Aktionen ohne geladenes Publikum, die immer in Anwesenheit einer Kamera und eines Fotografen stattfanden, konnten auch Passantinnen und Passanten in die Situation miteinbezogen werden. Das Publikum bekommt jeweils eine andere Rolle zugeschrieben.

91 Vgl. Mančuška 2008, 149. 92 Smolik 2008, 144. Kovanda erinnert diese Zeit wie folgt: „I have no artistic education, so officially I could not be an artist during the Communist regime. I had a duty to work like everyone else. So I selected jobs that were not too exhausting; above all I wanted to have time and energy for my artistic work.“ Zitiert nach Kemp-Welch 2014, 192. Den Job im Museum vermittelte ihm Karel Miler, ein Performance-Künstler, der ebenfalls im Prag der 1970er Jahre aktiv war. Vgl. Interview Kühn – Kovanda. 93 Kovanda nimmt diese Unterscheidung vor in: Interview Kühn – Kovanda.

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2.4.1.1 Aktionen ohne geladenes Publikum in Anwesenheit einer Kamera Für seine Aktion Kontakt am 3. September 1977 ging der Künstler die Straßen Spálená und Vodičkova auf und ab (Abb. 11).94 Während er den Gehsteig entlanglief, kamen ihm nacheinander mehrere Passantinnen und Passanten entgegen. Anstatt jedoch darauf zu achten, sie im Vorbeigehen nicht zu berühren, lief er so dicht an ihnen vorbei, dass er mit seiner Schulter wie versehentlich ihre Schulter streifte. Die Aktion ist durch mehrere Schwarzweißfotografien dokumentiert, die jeweils eine Begegnung wiedergeben. Soweit die Fotografien darüber Aufschluss geben können, drehten sich die berührten Passantinnen und Passanten nach dem „Kontakt“ nicht um, sondern setzten unbeirrt ihren Weg fort. Der Künstler hat anschließend vermutlich innegehalten und sich auf den nächsten „Kontakt“ vorbereitet. Die Zeit zwischen den einzelnen Begegnungen ist nicht dokumentiert worden, wir können also nur Vermutungen darüber anstellen. Am selben Tag führte der Künstler eine ähnliche Aktion in einer Unterführung unter dem Wenzelsplatz in Prag durch: Auf einer Rolltreppe drehte er sich um und schaute der hinter ihm stehenden Person direkt in die Augen (Abb. 12).95 Auf dem Bild ist zu sehen, dass die Rolltreppe aus dem dunkleren Bereich der Unterführung nach oben ins Tageslicht fuhr. Der Künstler stand mit dem Rücken zum Licht und seine Haare leuchteten von hinten angestrahlt aureolengleich auf. Der Fotograf stand einige Stufen unterhalb des Künstlers und des unbekannten Interaktionspartners. Das Gesicht der Person, die von Kovanda angeschaut wurde, ist nicht zu erkennen. Der Kleidung nach handelte es sich um einen Mann. Erwiderte er Kovandas Blick oder wich er ihm aus? Dies ist auf der Fotografie nicht zu sehen. Die Aktion wurde durch zwei Schwarzweißfoto­grafien dokumentiert und statt eines Titels hat der Künstler drei kleine x-Zeichen auf seiner Schreibmaschine getippt. Datum und Ort sind angegeben sowie ein Satz, der die Aktion beschreibt: „Auf der Rolltreppe … mich umwendend schaue ich in die Augen der Person, die hinter mir steht …“. Der Titel beschreibt exakt das, was auf dem Bild zu sehen ist. Die Beschreibung von etwas, das offensichtlich ist, erhält im Kontext des Lebens in einer Diktatur eine zusätzliche Konnotation. Die Benennung des Offensichtlichen suggeriert, dass eine Beschreibung notwendig ist, um wirklich sicherzustellen, dass alles so ist, wie es scheint. Da es um zwischenmenschlichen Nahkontakt mit Fremden geht, ist die Art und Weise, wie Kovanda die Ereignisse beschreibt, nicht bloß ein vermeintlich neutraler Bericht, sondern zugleich eine Reflexion darüber, dass zwischenmenschliche Kontakte potentiell gefährlich für die eigene Sicherheit sein können und über alles zweimal nachgedacht werden muss, auch über Alltägliches und scheinbar Selbstverständliches. 94 Havránek 2006, 38 f. 95 Siehe: Havránek 2006, 39 f.

Jiří Kovandas Interventionen im öffentlichen Raum  |

Abb. 11  Jiří Kovanda, Kontakt. 3. září 1977, Praha, Spálená a Vodičkova ulice (Kontakt. 3. September 1977, Prag, Spálená und Vodičkova Straße), ­Originaldokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24 cm, vier Schwarzweißfotografien und Schreibmaschine auf Papier, Fotografie: Pavel Tuč.

Am 18. November 1976 führt Kovanda eine weitere Aktion in Anwesenheit einer FotoKamera auf (Abb. 13). Er sitzt in wartender Position neben einem Telefon, das auf einem Tisch in einem Innenraum steht. Einen Arm aufgestützt, das Telefon mit aufgelegtem Hörer vor sich, blickt er versonnen in die Ferne, den Blick von der Kamera abgewandt. Eine einzige Schwarzweißfotografie dokumentiert die Aktion und sie ist nicht betitelt. Wie bei der Aktion auf der Rolltreppe sind auch hier in der Dokumentation anstelle des Titels drei kleine x-Zeichen eingefügt. Die Aktion ist wie alle anderen datiert und mit einer

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|  Eine Situation eröffnen und sich total freuen Abb. 12  Jiří Kovanda, x x x. 3. září 1977, Praha, Václavské náměstí. Na eskalátoru … otočen hledím do očí člověku, který stojí za mnou … (x x x. 3. September 1977, Prag, Wenzelsplatz. Auf der Rolltreppe … mich umwendend schaue ich in die Augen der Person, die hinter mir steht …), Originaldokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24  cm, zwei Schwarzweißfotografien und Schreibmaschine auf Papier, Fotografie: Pavel Tuč.

unpräzisen Ortsangabe versehen: „18. listopadu 1976, Praha“ (18. November 1976, Prag). Der darunter stehende Satz in tschechischer Sprache beschreibt die Aktion: „Čekám až mi nědko zavolá …“ (Ich warte, bis mich jemand anruft …)96. Auch wenn die Aktion nur 96 Havránek 2006, 47 f.

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Abb. 13  Jiří Kovanda, x x x. 18. listopadu 1976, Praha. Čekám až mi nědko zavolá (x x x. 18. November 1976, Prag. Ich warte, bis mich jemand anruft …), Originaldokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24 cm, Schwarzweißfotografie, Schreibmaschine auf Papier, Fotograf: Pavel Tuč.

durch eine Schwarzweißfotografie dokumentiert ist, wird dennoch durch die Haltung des Performers ein längerer Prozess vermittelt: Es ist die Geste des Wartens. Und obgleich die Fotografie nur einen Moment dieses Wartens festhält, so dauert in der Vorstellung der Betrachtenden dieser Prozess länger an. Während des Betrachtens der Fotografie warten die Betrachtenden mit Kovanda auf den Anruf. Da die Geste des Wartens eine

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alltägliche Geste ist, haben die Betrachtenden mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst schon einmal eine solche Situation erlebt: Sie haben genau so vor einem Telefon gesessen und auf einen Anruf gewartet. Der die Aktion beschreibende Satz „Ich warte, bis mich jemand anruft …“ stimmt dabei nicht überein mit „Ich warte, dass mich jemand anruft …“. Im ersten Fall kann die Wartezeit genau die Zeit betreffen, in der das Foto gemacht wurde, oder aber das Warten kann sich über unbestimmte Zeit hinziehen. Im zweiten Fall ist das Warten erst dann beendet, wenn der Wartende den ersehnten Anruf empfängt. In beiden Fällen wissen wir nicht, wie lange die Wartezeit genau gedauert hat und ob von Beginn der Situation an überhaupt die Aussicht bestand, dass der erwartete Anruf eingehen würde. Obwohl der Künstler die Betrachtenden nicht anblickt, teilen sie seine Zeit des Wartens für die Dauer der Betrachtung. Sie versetzen sich in die Situation hinein, machen eine kurze Zeitreise und beziehen die Umgebung, in der der Künstler sich zum Zeitpunkt der Aufnahme befand, mit ein. Dabei stellen sich nach und nach folgende Fragen: Ist es überhaupt realistisch, dass Kovanda in der Zeitspanne, in der er auf den Anruf wartet, angerufen wird? Hat er sich zum Telefonieren verabredet? Oder muss sein Warten ergebnislos bleiben, weil ihn niemand anrufen wird? Werden seine Hoffnungen erfüllt werden? Oder ist er im Gegenteil erleichtert, weil er gar nicht angerufen werden will? Haben die Menschen, auf deren Anruf er wartet, überhaupt Zugang zu einem Telefon? Und funktioniert sein eigenes Telefon oder ist die Leitung gekappt? Befindet er sich in seiner Wohnung und ist es überhaupt sein eigenes Telefon oder muss er zum Telefonieren einen anderen Ort aufsuchen? Hat er das nötige Kleingeld, um zu telefonieren? Warum ruft er nicht selbst an? Kann er überhaupt jederzeit und in alle Länder der Welt telefonieren oder sind die Möglichkeiten zu telefonieren in dem Staat, in dem er lebt, eingeschränkt? Und wenn ein Gespräch zustande kommen sollte: Werden seine Telefongespräche überwacht? Kann er seine Meinung über das Kommunikationsmittel Telefon frei äußern oder muss er aufpassen, was er sagt? Je nachdem, aus welchem Kontext die Betrachterin oder der Betrachter kommt, können die Fragen unterschiedlich ausfallen oder gewichtet werden. Bestimmte Interpretationen liegen je nach eigenem Erfahrungshorizont näher, unterschiedliche Sachverhalte werden selbstverständlich gewusst oder nicht gewusst oder aber einfach angenommen – etwa wie wahrscheinlich es ist, dass ein Telefongespräch eines Künstlers in Prag zu dieser Zeit abgehört wurde. Eine Kontextualisierung der Arbeiten erweist sich daher als notwendige Voraussetzung für deren Interpretation und Einordnung. Mitte der 1970er Jahre arbeiteten Kovanda und sein Freund und Fotograf Pavel Tuč 97 als Vermesser beim Prager U-Bahn-Bau. Dort im Büro wurde das Foto aufgenommen. Kovanda und Tuč nutzten die Gunst der Stunde, als sie, wahrscheinlich während einer 97 Havránek 2006, Anhang o. S. Nach Aussage Kovandas war Tuč ein Hobbyfotograf, der sehr gut fotografierte, jedoch keine Ambitionen hatte, sich zu professionalisieren. Tuč besaß jedoch eine

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Nachtschicht, allein im Büro waren. Auch in seiner eigenen Wohnung besaß Kovanda ein Festnetztelefon, er hätte die Aktion also genau so gut zu Hause durchführen können.98 Mit seinem Arbeitsplatz wählt er jedoch einen halböffentlichen Ort für die Aktion, der zugleich seine Lebens- und Arbeitsbedingungen als Künstler widerspiegelt.99 Bei der Arbeit wird ihn niemand anrufen, da er dort als Vermesser angestellt ist. Die Fotografie eines Künstlers, der sich seinen Lebensunterhalt beim U-Bahn-Bau verdient, verdeutlicht auf anschauliche Art und Weise, dass Performance-Kunst im Prag der 1970er Jahre im sogenannten Underground stattfand. Eine Geste definiert der Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser 1991 in seinem Versuch einer Phänomenologie der Gesten als „eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“ 100. Er setzt voraus, dass es sich dabei um eine symbolische Bewegung handelt.101 Als Beispiel führt Flusser die Geste des Arm-Hebens an: Wenn mir jemand in den Arm sticht, werde ich ihn bewegen, und diese Reaktion wird einem Beobachter die Aussage erlauben, daß die Bewegung meines Arms einen Schmerz „ausdrückt“ oder „artikuliert“, den ich verspürt habe. Es wird eine kausale Verkettung zwischen Schmerz und Bewegung geben […]. Aber ich kann meinen Arm auch auf spezifische Art und Weise emporwerfen, wenn mir jemand hineinsticht, und auch diese Handlung erlaubt dem Beobachter die Aussage, daß die Bewegung meines Arms einen Schmerz „ausdrückt“ oder „artikuliert“. Doch diesmal gibt es keine bruchlose Verkettung zwischen dem Schmerz und der Bewegung.102

Da sich eine Art Keil in die Verkettung eindrängt, eine Kodifizierung, kann die Beobachterin oder der Beobachter nur deshalb sagen, dass die Bewegung den Schmerz ausdrückt, weil sie oder er den Code kennt. Die Handlung des Arm-Hebens „stellt den Schmerz dar, sie ist sein Symbol und der Schmerz ist ihre Bedeutung“ 103. Da keine der Beobachterin oder dem Beobachter zur Verfügung stehenden Theorien diese Bewegung zufriedenstellend erklären kann, ist sie eine Geste.104

bessere Kamera als Kovanda und entwickelte seine Filme selbst. Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 98 Vgl. die Aussage Kovandas ebd. 99 Zu den öffentlichen, halböffentlichen und privaten Orten vgl. Kapitel 2.5.3. 100 Flusser 1991, 8. 101 Ebd., 11. 102 Ebd., 12. 103 Ebd. 104 Ebd.

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Selbstverständlich kann man behaupten, daß eine derartige Bewegung immer das Symptom von etwas anderem sei (zum Beispiel der Kultur, in der sie kodifiziert wurde), aber das ist nicht der Grund, weshalb man sie eine Geste nennt. Eine Geste ist sie, weil sie etwas darstellt, weil es sich bei ihr um eine Sinngebung handelt.105

Um zu untersuchen, was bei einer Geste passiert, fasst Flusser sie so ins Auge, als ob ihm „nichts an ihr bekannt wäre und [er] sie ganz naiv zum ersten Mal [sähe]“ 106, da er herausbekommen will, „was dabei ‚wirklich‘ abläuft“ 107. Flussers Methode, die Dinge oder Begriffe von ihrer aktuellen kulturellen Bedeutung frei zu machen, sie aus dem gewohnten Kontext herauszubrechen, um ihnen auf den Grund zu gehen, ähnelt der Art und Weise, mit der Kovanda und Tót alltägliche Gesten in ihren Performances verwenden. Ihre Bewegungen erzählen uns keine Geschichte, ihre Tätigkeiten fügen sich keinem Narrativ hinzu. Der Schritt ist bei Tót ein Schritt, den er macht. Er schaut nach rechts. Er schaut nach links. Die Bewegung des Kopfes und das Schauen nach rechts oder links sind genau das, was sie sind, nicht mehr und nicht weniger. Durch diese Verwendung einzelner Gesten und den mehrfachen Rahmenwechsel während der Performance isolieren und entblößen Tót und Kovanda die jeweilige Geste, gehen ihr auf den Grund und erforschen ihre ästhetischen Qualitäten. In dem Kapitel „Die Geste des Telefonierens“ äußert Flusser die Vermutung, dass an der Verzweigung und Effizienz eines Telefonnetzes der Grad der Freiheit ablesbar sei, die das Land seinen Staatsbürgern zugestehe.108 Er teilt die Situationen, in denen sich die oder der Angerufene zum Zeitpunkt des Anrufs befinden kann, in „vier Typen des Wartens, der Hoffnung, kurz des Glaubens“ 109 ein: Die erste Situation sei geprägt von Furcht oder Hoffnung, weil ein besonderer Anruf erwartet werde. Das Telefon bilde hierbei den Mittelpunkt der Lebenswelt. In der zweiten Situation werde die Konzentration der oder des Angerufenen gestört; durch das Läuten dringe das Öffentliche in den privaten Bereich ein. Die dritte Situation treffe die oder den Angerufenen schlafend oder Musik hörend an: Das Läuten zerstöre die entspannte Situation. Nur in der vierten sei das Läuten ein organischer Bestandteil der Lebenswelt. Dies sei die einzige für den Anruf offene Situation.110 Im Falle Kovandas können wir von einer Vermischung der ersten und zweiten Situation ausgehen: Sie ist geprägt von ungeduldigem Warten, von Hoffnung oder Furcht, dass das Telefon läuten möge, und das Telefon steht im Mittelpunkt der

105 Ebd. 106 Ebd., 130. 107 Ebd. 108 Ebd., 233. 109 Ebd., 239. 110 Ebd.

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Situation. Zugleich ist die Situation so offen, dass das erwartete Läuten als ihr integraler Bestandteil betrachtet werden kann. Dem Telefon ist, so Flusser, hinsichtlich der Kommunikation eine Dialektik eigen: „es verbindet und trennt diejenigen, die durch das Medium kommunizieren.“ 111 Flusser betont, dass diese Dialektik jedem Medium innewohnt, auch wenn einige, insbesondere die sogenannten Face-to-Face-Medien, die Möglichkeit unmittelbarer Kommunikation suggerieren. „Der Eindruck [unmittelbarer Kommunikation] ist stets falsch, denn es gibt keine unmittelbare Kommunikation […].“ 112 Das Telefon ist zu Zeiten Flussers noch ein Medium, dessen Gegenwart nicht so leicht vergessen werden kann, da das Telefongerät gut sichtbar im Raum steht und körperliche Involviertheit sowohl der Anruferin oder des Anrufers als auch der oder des Angerufenen fordert. Um die Form der Präsenz zu beschreiben, die während und durch die Telekommunikation produziert wird, verwendet Flusser das Wort „Telepräsenz“ 113. Doch auch wenn er sie in seiner Untersuchung der Face-to-Face-Präsenz gegenüberstellt, wertet er die Telepräsenz nicht ab, sondern beschreibt sie lediglich als eine weitere Form der Präsenz in zwischenmenschlicher Kommunikation. In einem Dialog, der über das Telefon geführt wird, sind laut Flusser alle Elemente vorhanden, die den zweiwertigen Dialog kennzeichnen: Appell, Verantwortung sowie Anerkennung des Anderen und im Anderen. Zugleich sind auch alle Elemente, die den zirkulären Dialog kennzeichnen, in einem Gespräch, das über das Telefon geführt wird, vorhanden: Veröffentlichung, Austausch und die Suche nach einer neuen Information. In diesen dialogischen Eigenschaften des Telefons sieht Flusser ein utopisches politisches Potential.114 In Bezug zu Kovandas übrigen Aktionen im gleichen Zeitraum kann diese Geste des Wartens auch die Unmöglichkeit, über das Telefon zu kommunizieren, ausdrücken oder sogar die Unmöglichkeit, überhaupt zu kommunizieren. Wie in der Aktion Kontakt (1977) und in der unbetitelten Aktion auf der Rolltreppe am selben Tag versuchte Kovanda mit seinen Mitmenschen Kontakt aufzunehmen. Manchmal entstand ein kurzer Moment der Begegnung, Blicke wurden ausgetauscht (vgl. die Aktion auf der Rolltreppe), eine körperliche Berührung fand statt (vgl. „Kontakt“). Doch die Versuche waren unbeholfen und liefen ins Leere, es entwickelte sich keine längere Beziehung. Der Kontakt blieb flüchtig oder kam gar nicht erst zustande (vgl. „Ich warte, bis mich jemand anruft …“). Die Fotografien dokumentieren seine Versuche und teilweise auch deren Ergebnisse. Sie zeigen seine Erfolge, eine Passantin oder einen Passanten unvermittelt (und unerlaubt) zu berühren – aber auch die Vergeblichkeit seiner Versuche, wirklich mit anderen Menschen 111 Ebd., 241. 112 Ebd. 113 Ebd., 242. 114 Ebd.

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in Kontakt zu treten. Trotzdem findet auf einer anderen Ebene permanent eine Form der Kommunikation statt, weil der Künstler kontinuierlich mit der Kamera in Kontakt ist. Sie ist sein Gegenüber, seine Verbündete, seine Zeugin. Meist wird bei Kovanda die Kommunikation mit der Kamera durch seine Gesten oder durch seine Bewegungen im Raum – und in Beziehung zur Kamera – hergestellt. Anders als bei Natalia LL und Ion Grigorescu, deren Performances für die Kamera in Kapitel 3 untersucht werden, wird die Kamera bei Kovanda nie zum Gegenspieler oder zum Spiegel und die Hierarchien sind fest verteilt. Kovanda ist der Kamera in seinen Aktionen niemals unterlegen oder ausgeliefert. Das Auge der Kamera begleitet den Künstler und beschützt ihn. Die Anwesenheit der Kamera bildet die Basis, auf der er agiert und handelt. Die Kamera verkörpert für Kovanda den Anderen, der ihn zum Handeln auffordert und ihm dadurch das Handeln in einer von ihm mitdefinierten Situation ermöglicht. Wenn Kovanda neben dem Telefon sitzt und auf einen Anruf wartet, sehnt er sich nach einer bestimmten Form von Kontakt, die nicht zwingend eine körperliche Berührung miteinschließt. Allerdings beinhaltet der Klang der Stimme, wenn er auf das Ohr des Zuhörers trifft, eine körperliche Komponente. Kovanda beschreibt sein Gegenüber im Titel der Aktion mit „jemand“ (nědko). Dies könnte eine Person sein, die er bereits kennt – es könnte jedoch auch eine unbekannte Person sein. Während er dort sitzt und ins Leere schaut, stellt er sich diese Person vielleicht vor. Er führt imaginäre Gespräche und denkt möglicherweise auch über die Folgen eines solchen Gespräches nach. Eine davon könnte eine Face-to-Face-Begegnung mit der zunächst nur vorgestellten Person sein. Während dieses Wartens lässt sich Kovanda fotografieren – das heißt, er ist nicht allein. Im Ausstellungskatalog von 2006 wird Tuč als Fotograf angegeben.115 Künstler und Fotograf befinden sich also bereits in einer sozialen Situation. Auch wenn Kovanda keinen Blickkontakt zur Kamera aufnimmt, so hat er die Aktion geplant, eine schriftliche Handlungsanweisung dafür verfasst und die Fotografie in Auftrag gegeben. Er setzt sich dem Blick der Kamera aus, erwidert ihn jedoch nicht und gibt vor, auf die Begegnung mit „jemand“ anderem zu warten. Er weicht also der Situation aus, die er selbst definiert hat. Anders als Natalia LL  116 nimmt er keinen Blickkontakt zu den teils imaginierten, teils physisch anwesenden Betrachtenden (wie zum Beispiel dem Fotografen) auf. Er gibt vor, nicht in die Situation engagiert zu sein. Das Abwenden des Blicks in einer sozialen Situation kann verschiedene Bedeutungen haben. Die Geste kann als „höfliche Gleichgültigkeit“ 117 zur Wahrung oder Aufrechterhaltung einer Situation dienen. Je nach Situation kann sie zudem Sicherheit oder Unsicherheit 115 Vgl. Havránek 2006, Anhang o. S. 116 Vgl. Kapitel 3 in dieser Arbeit. 117 Goffman 2009 [1963], 98. Zur „höflichen Gleichgültigkeit“ bei Goffman vgl. auch Kapitel 2.5.1 in dieser Arbeit.

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vermitteln.118 Bei Kovanda kann der abwesende Blick jedoch auch als ein Zeichen dafür gelesen werden, dass er in dem Moment, in dem er fotografiert wird, nicht präsent ist.119 Er entzieht sich der Interaktion mit den Betrachtenden und der gegenwärtigen Situation, indem er in eine zukünftige Realität eintaucht, in der das erwartete Telefongespräch Wirklichkeit wird. Dieser zukünftigen Realität gehören jedoch auch die Betrachtenden an, so dass Kovanda gerade durch seine scheinbare innere Abwesenheit in der Situation für die zukünftigen Betrachtenden zugänglich wird. In dieser Hinsicht sind seine Erwartungen an künftige Betrachter vielleicht ähnlich wie bei Natalia LL : Es ist eine Begegnung, auf die er wartet und die er in dieser Fotografie bereits imaginär vorwegzunehmen versucht. Eine weitere Aktion, bei der Gesten im Vordergrund stehen, ist mit Divadlo (Theater) betitelt (Abb. 14). Datum und Ort sind angegeben: „listopad 1976, Praha, Václavské náměstí“ (November 1976, Prag, Wenzelsplatz), und die Aktion wird mit zwei Sätzen beschrieben: „Chovám se přesně podle předem napsaného scénáře. Gesta a pohyby jsou voleny tak, aby nikdo z kolemjdoucích netušil, že sleduje ‚představení‘.“ („Ich folge einem zuvor geschriebenen Skript. Gesten und Bewegungen wurden so ausgewählt, dass keiner der Vorbeigehenden bemerkt, dass er einer ‚Performance‘ beiwohnt.“)120. Die aufgeklebten fünf Fotografien zeigen Kovanda, wie er jeweils eine Geste ausführt. Es sind minimale, unauffällige Gesten: Er kratzt sich hinter dem Ohr, kratzt sich unter der Nase, kreuzt die Beine und stützt sich am Geländer ab. Meist sind die Bewegungen nicht einmal als spezifische Gesten identifizierbar. Die Hände scheinen wie zufällig mit dem übrigen Körper in Kontakt zu kommen. Kovanda hat diese Gesten als solche des Wartens bezeichnet.121 Er greift damit ein Thema auf, das ihn schon in der vorhergehenden Arbeit Ich warte, bis mich jemand anruft … interessiert hat. Theater unterscheidet sich nach Kovandas Aussage insofern von den anderen Straßenaktionen, die „fast immer befremdlich und ungewöhnlich“ 122 waren, als die Handlungen „völlig normal und gewöhnlich“ 123 erscheinen. Die unscheinbaren Gesten erinnern auch an das Versteckspiel eines Undercover-Agenten, der bewusst unauffällig agiert, um unerkannt zu bleiben.124 So muss es denn für Vorübereilende auch schwierig gewesen sein, die kleinen Performances als solche zu erkennen, zu realisieren, 118 Vgl. Goffman 2009 [1963], 108. Zur Rolle des Blicks bei der Eröffnung, Dauer und Vermeidung einer Situation vgl. Kapitel 2.5.1 in dieser Arbeit. 119 Goffman 2009 [1963], 84. 120 Vgl. Havránek 2006, Anhang o. S. 121 Vgl. Schütz 2013, 183. 122 Aussage Kovandas in folgendem Interview: Schütz 2013, 182. 123 Ebd. 124 Kemp-Welch schreibt: „By designating such actions […] as artistic activity, he was also working ‚under cover‘.“ Kemp-Welch 2014, 201.

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Abb. 14  Jiří Kovanda, Divadlo. listopad 1976, Praha, Václavské náměstí. Chovám se přesně podle předem napsaného scénáře. Gesta a pohyby jsou voleny tak, aby nikdo z kolemjdoucích netušil, že sleduje „představení“. (Theater. November 1976, Prag, Wenzelsplatz. Ich folge einem zuvor geschriebenen Skript. Gesten und Bewegungen wurden so ausgewählt, dass keiner der Vorbeigehenden bemerkt, dass er einer Vorstellung beiwohnt.), Dokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24 cm, zwei Schwarzweißfotografien und Schreibmaschine auf Papier, Fotograf: Pavel Tuč.

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dass die Straße im Moment ihrer Ausführung zur Bühne gemacht wurde, sie selbst in diesem Stück partizipierten und durch ihr Nicht-Beachten der Bewegungen Kovandas ihren Teil zu der vom Künstler intendierten Situation beitrugen. Kovanda verwendet für die Betitelung seiner Performance das Wort představení – dies bedeutet „Aufführung, Vorstellung“. Im Vergleich zu KwieKulik, die für ihre Aktionen den Begriff działania (Handeln, Tätigkeit, (Ein-)Wirkung)125 verwenden, ist in dem Begriff představení das Publikum – oder sogar mehrere Publika – bereits mitgedacht. Kovanda führt seine alltäglichen Gesten und Interventionen auf der Bühne des öffentlichen Lebens auf. Der Begriff der Bühne meint in diesem Kontext nicht zwingend eine reale Bühne, die die Darstellenden über die Zuschauenden erhöht, sondern den Rahmen, innerhalb dessen die Darstellung stattfindet.126 Ähnlich wie bei Theater geht Kovanda auch bei einer unbetitelten Performance vor, die er mit dem Satz „Schovávám se“ („Ich verstecke mich“)127 beschreibt. Er führt sie ebenfalls im September 1977 durch und als Ort ist „Vinohrady, Praha“ („Vinohrady, Prag“)128 angegeben. Zu sehen sind sechs Schwarzweißfotografien, auf denen sich der Künstler hinter Ecken und Gegenständen im öffentlichen Raum versteckt: Er kauert hinter einer Mülltonne, hockt hinter einem Laternenpfahl, drückt sich in einen Hauseingang, presst sich hinter der Ecke an eine Wellblechwand. Für den Fotografen ist Kovanda gut sichtbar. Die vorbeigehenden Passantinnen und Passanten, die auf vier der sechs Fotografien zu sehen sind, scheinen ihn nicht zu bemerken. Der Künstler agiert hier zwar im öffentlichen Raum und ist für zufällig vorbeikommende Personen sichtbar, er verhält sich jedoch nicht so, wie man sich den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend auf der Straße verhält. Dies mag die Passantinnen und Passanten irritiert haben – reagiert haben sie auf den seltsamen Kauz nicht. Das Sich-Verstecken kann hier symbolisch verstanden werden: Der Künstler verschwindet vor den Augen der unmittelbar in der Situation anwesenden Menschen. Er selbst und seine künstlerischen Performances bleiben trotz der Durchführung im öffentlichen Raum für die Menschen unsichtbar. 2.4.1.2 Aktionen mit geladenem Publikum Während bei diesen beiden Performances das Publikum zufällig anwesend war, gab es andere Performances, zu denen Kovanda Gäste geladen hatte. Im Falle einer weiteren unbetitelten Performance wussten jedoch die ihn begleitenden Freundinnen und Freunde nicht, dass sie Teil einer Performance werden würden (Abb. 15). 125 Zu KwieKulik und der Definition von Działania vgl. Kapitel 4.4.1.1 in dieser Arbeit. 126 Vgl. Goffman 22001 [1982], 70, sowie Goffman 122013 [1956]. Zur Bühne vgl. auch Kapitel 3.4.7 und 3.4.8 in dieser Arbeit. 127 Havránek 2006, 37 f. Genaue Werkangaben: Schovávám se (Ich verstecke mich), September 1977, Vinohrady, Prag, Dokumentation der Aktion durch den Künstler, Fotografie: Pavel Tuč. 128 Vinohrady ist ein Stadtteil in Prag.

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Abb. 15  Jiří Kovanda, x x x. 23. ledna 1978, Praha, Staroměstské náměstí. Dal jsem si sraz s několika přáteli … stáli jsme v hloučku na náměstí a hovořili … náhle jsem se rozběhl, utíkal jsem přes náměstí a zmizel v Melantrichově ulici … (x x x. 23. Januar 1978, Prag, Altstädter Ring. Ich habe es arrangiert, einige Freunde zu treffen … wir standen in einer kleinen Gruppe auf dem Platz und redeten … plötzlich fing ich an zu rennen, ich rannte über den Platz und verschwand in der Melantrich Straße…), Originaldokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24 cm, Schwarzweißfotografie und Schreibmaschine auf Papier, Fotografie: Pavel Tuč.

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Die Aktion wird in der Bildüberschrift folgendermaßen beschrieben: Ich habe es arrangiert, einige Freunde zu treffen… wir standen in einer kleinen Gruppe auf dem Platz und redeten … plötzlich fing ich an zu rennen, ich rannte über den Platz und verschwand in der Melantrich Straße …129

Die einzelne Fotografie, die das Geschehen dokumentiert und inszeniert, zeigt Kovanda, wie er in großen Schritten von der Gruppe von Freundinnen und Freunden über den Altstädter Markt 130 davon rennt. Sie drehen sich verwundert nach ihm um und blicken ihm nach. Kovanda macht hier durch seine alltägliche Geste den Platz zur Bühne und die ihn begleitenden Personen zu seinem Publikum. Die anwesende Kamera trägt dazu bei, den Aktionsraum erst zu eröffnen und zu erschaffen. Durch seine Handlung und die fotografische Dokumentation dieser Aktion lässt Kovanda seine Begleiterinnen und Begleiter zu einem Teil der Performance werden. In einem Interview weist er darauf hin, dass in dieser Aktion die freundschaftliche Beziehung zu den ihn begleitenden Personen ausschlaggebend war: When a chance passer-by was involved, it was important that the person was a stranger, whereas those who were invited, whom I called my friends […], were not anonymous ­observers. That really was a group of people I knew that I ran away from, so there the relationship was important. Wherever I spoke about friends, it was important that they were friends. Friends are not observers; they’re fellow participants. They were also watching, but I had a certain relationship with them.131

Unfreiwillig werden die Freundinnen und Freunde nicht nur zu Beobachtenden, sondern zu Mitspielenden: Ihre Reaktionen auf die Handlung Kovandas werden ebenfalls dokumentiert und gehören zur Ausführung dazu. Später bietet diese Gruppe von Freundinnen und Freunden den Rezipientinnen und Rezipienten der Fotografie weitere Identifikationsfiguren an. Ähnlich wie in der Aktion auf der Rolltreppe, hat das Wegrennen vor Freundinnen und Freunden in diesem konkreten historischen Kontext eine politische Implikation. In seinen Aktionen geht Kovanda verschiedene Arten zwischenmenschlicher Beziehungen unter den Bedingungen des Lebens in einer Diktatur in seinen Performances durch: erzwungenes Alleinsein, mögliches Abgehört-Werden, Zusammentreffen mit Fremden, 129 Dal jsem si sraz s několika přáteli…stáli jsme v hloučku na náměstí a hovořili… náhle jsem se rozběhl, utíkal jsem přes náměstí a zmizel v Melantrichově ulici … Zit. nach: Havránek 2006, 31 f. 130 Tschech.: Staroměstské náměstí, dt. auch Altstädter Ring. 131 Obrist 2006, 107 f.

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Unmöglichkeit der unbefangenen Kontaktaufnahme oder Freundinnen und Freunde als potentielle Gefahr. Die von Kovanda erzeugten Situationen sind uneindeutig. Die Aufnahme mit der Kamera legt nicht unbedingt eine spezifische Deutung nahe, sie zwingt jedoch zum Deutungsversuch. Für eine weitere Aktion mit dem Titel Pokus o seznámení (Versuchte Bekanntschaft) 132, lud Kovanda am 19. Oktober 1977 einige Freundinnen und Freunde auf den Altstädter Ring (Staroměstské námestí)133 ein (Abb. 16). Die Eingeladenen wurden Zeuginnen und Zeugen mehrerer Versuche des Künstlers, sich mit einer weiblichen Person anzufreunden. Im Rahmen eines Interviews im Jahre 2006 erinnert er sich: „I ended it after 20 – 30 minutes because I didn’t dare to speak to anyone. I told those whom I’d invited what my intentions had been and that it simply wound up that way.“ 134 Das Ergebnis seiner Versuche war, dass er es aufgrund seiner Schüchternheit anscheinend nicht geschafft hatte, jemanden kennenzulernen. Seine Aktion inszenierte dieses angebliche Scheitern, exponierte ihn mit seiner vermeintlichen Schwäche und entblößte ihn vor dem geladenen Publikum, das jedoch erst nach der scheinbar misslungenen Aktion über das Ziel der Mission aufgeklärt wurde. Die auf den ersten Blick gescheiterte Aktion ist durch vier Schwarzweißfotografien dokumentiert. Datum und Ort sind angegeben sowie ein Satz, der die Aktion beschreibt: „Ich habe ein paar Freunde eingeladen, mich dabei zu beobachten, wie ich versuche, ein Mädchen kennenzulernen.“ 135 Unterhalb dieses Satzes sind zwei Zeilen mit schwarzem Stift durchgestrichen und dadurch unlesbar gemacht. Wie bereits gesagt, unterscheidet Kovanda Aktionen ohne und solche mit geladenem Publikum. Bei den Aktionen ohne Publikum waren die zufällig vorbeikommenden Passantinnen und Passanten nicht über die Aktion informiert und erkannten sie daher nicht als eine künstlerische Intervention. Zu der damaligen Zeit erwarteten die Menschen keine Kunst im öffentlichen Raum. Nur wenige kannten neue Kunstformen wie Performance oder Aktionskunst. Die Aktionen Kovandas blieben daher für die meisten Passantinnen und Passanten unsichtbar – sie konnten die Gesten nicht als künstlerische Gesten identifizieren.136 Doch trotz dieser Unbeteiligtheit der Passantinnen und Passanten in der Situation, sind die Performances eine Form der Kommunikation mit einem Publikum. Im Falle der Performances mit geladenem Publikum wussten die geladenen Personen, dass sie einer Performance beiwohnen würden. Die Größe des Publikums betrug zehn bis 15 Personen, 132 Havránek 2006, 36 f. 133 Dt. auch „Altstädter Markt“. 134 Aussage von Kovanda zit. nach: Kemp-Welch 2014, 207. 135 Havránek 2006, 36 f. 136 Vgl. Interview Kühn – Kovanda.

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Abb. 16  Jiří Kovanda, Pokus o seznámení. 19. října 1977, Praha, Staroměstské náměstí. Pozval jsem přátele, aby se podívali, jak se pokusím seznámit s holkou (Versuchte Bekanntschaft. 19. Oktober 1977, Prag, Altstädter Ring. Ich habe ein paar Freunde eingeladen, mich dabei zu beobachten, wie ich versuche, ein Mädchen kennenzulernen), Originaldokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24 cm, vier Schwarzweißfotografien und Schreibmaschine auf Papier, Fotografie: Pavel Tuč.

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die mündlich eingeladen wurden. Es gab keine Einladungskarten oder Flyer. Die öffentliche Durchführung von Performances mit offizieller Einladung war zur damaligen Zeit in Prag nicht möglich.137 In beiden Fällen findet die Kommunikation jedoch nicht in Echtzeit und vor Ort statt, sondern später während der Rezeption der Dokumentation.138 Wie diese Kommunikation genau verläuft und welche Gruppe von Betrachtenden bis zu welchem Grad involviert sind, wird in Kapitel 2.5 ausführlicher erläutert. Bevor ich zur Rezeptionssituation übergehe, werde ich zunächst näher auf die Medialisierung der Aktionen eingehen. 2.4.2 Die Medialisierung der Aktionen durch Fotografie und Text Wie Kemp-Welch bemerkt, begann Kovanda seine performative Arbeit mit dem Schreiben. Er verfasste kurze Anweisungen für Aktivitäten, die er dann ausführte und fotografisch dokumentieren ließ.139 Bei den aufgezeichneten Anweisungen handelte es sich jedoch um erste Ideen und Notizen, nicht um ein ausgearbeitetes Skript, wie Kovanda betont.140 Die Dokumentation seiner Arbeiten ist für den Künstler grundlegend. In Bezug auf die Arbeit Theater beschreibt er diese Notwendigkeit wie folgt (Abb. 14): Ohne Dokumentation existierte die Aktion nicht außerhalb von meinem Kopf, für andere gibt es „Theater“ nur wegen der Fotos. Das heißt, die entscheidende Kommunikation erfolgt hier über die Dokumentation, aber nicht über die Aktion auf der Straße.141

Da bei den meisten Aktionen Kovandas außer dem Fotografen kein geladenes Publikum anwesend war, das die Aktion als künstlerische Aktion wahrnahm und erkannte, fand die Rezeption fast immer im Nachhinein statt. Wichtig war jedoch, dass die Aktion stattgefunden hatte. Es gibt in Kovandas Œuvre keine Aktionen, die nicht durchgeführt wurden. Die Arbeiten existieren nach seinen Aussagen als Kunstwerk niemals als bloße Konzepte – sie wurden jedes Mal exakt so, wie der Künstler es in der vorangehenden Handlungsanweisung beschrieben hatte, ausgeführt. Kovanda betont in einem Interview: „But the action has to be there. An idea isn’t enough, it has to really take place. I’ve had many ideas and scripts for different actions that I haven’t carried out, but I’ve never published the ones that didn’t happen.“ 142 Im Unterschied zu Performances für die Kamera, die in der Volksrepublik Polen oder der Sozialistischen Republik Rumänien 137 Aussage Kovandas ebd. 138 „The performance is communication with the audience!“ Aussage Kovandas ebd. 139 Kemp-Welch 2014, 192. 140 Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 141 Aussage des Künstlers in: Schütz 2013, 182. 142 Mančuška 2008, 146.

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entstanden, dokumentierte Kovanda seine Aktionen nie mit einer Filmkamera. Wie auch die tschechischen Performance-Künstler Petr Štembera, Karel Miler und Jan Mlčoch hatte er in den 1970er Jahren in Prag keine Filmkamera zur Verfügung und kannte auch keine Filmemacher, die ihm hätten assistieren können.143 Meist wurden die Aktionen durch Tuč dokumentiert.144 Der Fotograf wird auf den Kartons nicht genannt, sein Name erscheint jedoch im Anhang des 2006 von dem Kunsttheoretiker und Kurator Vít Havránek herausgegebenen Werkkatalogs.145 Da die Anwesenheit eines Fotografen die Situation grundlegend verändert, sorgte Kovanda dafür, dass „der Fotograf […] für die Leute […] nicht sichtbar“ war. Kovanda erläutert seine Intention folgendermaßen: „Es war wichtig, dass der Fotograf nicht zu sehen war. Ich wollte ernst erscheinen, wie ein etwas verrückter Mann, aber nicht wie ein Witz.“ 146 Tomáš Pospiszyl weist darauf hin, dass die Fotografien, die Tuč von den Aktionen machte, in ihrer Ästhetik Überwachungsfotografien der Geheimpolizei ähnelten.147 Diese Beobachtung wird verstärkt durch die Tatsache, dass Tuč die Fotografien immer aus der Distanz mit einem Teleobjektiv aufnahm. Pospiszyl beschreibt die 1970er und frühen 1980er Jahre in Prag als eine Sphäre des Überwachens und des Überwacht-Werdens: The pictures taken by the police using hidden cameras capture the environment of the hardline communist days of Prague of the 1970s and early 1980s. The secret agent follows an individual who cannot be visibly distinguished from the other citizens. It is only from the records that we learn that this individual, seemingly doing everyday things, is in fact committing acts against the state. Sending letters, meeting with friends in restaurants or picking up visitors from the airport are later viewed as the distribution of subversive materials, gathering for counter-revolutionary reasons or establishing contacts with foreign spies.148

143 Im Rückblick bedauert Kovanda, dass er die Möglichkeiten filmischer Dokumentation in den 1970er Jahren nicht austesten konnte. Er vermutet, dass auch die damalige konservative Haltung der Kunstakademien und der Filmhochschulen in Prag dazu führten, dass sich die Wirkungskreise von Filme­macherinnen und Filmemachern sowie von Performance-Künstlerinnen und -Künstlern nicht überschnitten. Aussagen Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 144 Havránek 2006, Anhang o. S. 145 Ebd. Zur Zeit seiner ersten Ausstellung in Warschau empfand Kovanda die Zusammenarbeit mit Tuč als Kooperation. Später nahm er Tuč vorrangig als Dokumentar seiner Aktionen wahr. (Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda.) Die Wandlung des Verhältnisses spiegelt sich auch in der Literatur wider, in der von der Ausstellung in Warschau meist als Doppelausstellung von Kovanda und Tuč berichtet wird, obwohl auch dort nur die Aktionen Kovandas ausgestellt waren. In Berichten über spätere Ausstellungen wird Kovanda als der alleinige Autor genannt. 146 Aussage des Künstlers in: Schütz 2013, 182. 147 Pospiszyl 2012 und Pospiszyl 2010. Diese Beobachtung wird aufgenommen und weitergeführt von Bishop 2012, 149, und von Kemp-Welch 2014, 202. 148 Pospiszyl 2012, 50 – 51.

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Er führt weiter aus, dass die versteckten Szenarien der Geheimpolizistinnen und -polizisten auf der einen Seite und der inoffiziellen Künstlerinnen und Künstler auf der anderen Seite parallel und in Konkurrenz zueinander ausgeführt worden seien und dass die Fotografien und Texte, die aus diesen Operationen hervorgingen, daher eine Reihe von Ähnlichkeiten aufweisen.149 Dem Überwachungseindruck widerspricht jedoch die sorgfältige Planung der Aktionen sowie die Kontrolle, die Kovanda zu jedem Zeitpunkt über das Medium behält. Er ist der Kamera nicht ausgeliefert, sondern er definiert die Situation, zu der auch der Fotograf gehört. Kovanda wählt im Anschluss die Fotografien aus, die er veröffentlicht und lässt die übrigen Aufnahmen in sein Privatarchiv eingehen. Er ist am Ende der alleinige Autor des Werkes. Tuč bleibt einer der Akteure innerhalb der Situation, der zwar temporär mit Handlungsmacht ausgestattet ist, am Ende jedoch auf eine Notiz im Anhang des Werkkatalogs reduziert wird. Aus den fotografischen Ergebnissen traf der Künstler eine Auswahl und klebte diese mit den Beschreibungen der Szenarien auf weiße Papierseiten, die etwa das Format DinA4 aufweisen.150 In einigen Fällen wählte er nur eine Fotografie aus, meist ist es jedoch eine Serie von Fotografien, die den Prozess des Geschehens abbilden und vollziehen.151 Auf jede Seite ist oberhalb der Fotografien eine mit Schreibmaschine erstellte Überschrift aufgeklebt, die immer in der gleichen Weise die Aktion benennt, ihr einen Ort und ein Datum zuweist und in den meisten Fällen zusätzlich in einem Satz beschreibt. Dieser Satz entspricht der Anweisung, die Kovanda vor der Aktion verfasst hat. Mit Hilfe dieser maschinengeschriebenen Überschriften, die die Seiten in identischer Art und Weise betiteln, wollte Kovanda eine größtmögliche Neutralität erzielen. Nach eigener Aussage schrieb er die Titel nicht mit der Hand, um sie „as cool, as impersonal as possible“ 152 erscheinen zu lassen. Die Verwendung der Schreibmaschine bei Kovanda steht im Gegensatz zu Tóts Verwendung einer Schreibmaschine in der Aktion I am glad if I can type zeros (1975) (Abb. 17).153 Tót hat diese Aktion live aufgeführt und sich drei Tage lang in einen Raum gesetzt, um dort vor einem Publikum Nullen zu tippen. Durch das Tippen auf der Schreibmaschine wird sein Körper miteinbezogen. Ihm geht es um den Prozess des Schreibens. 149 Ebd., 52. 150 Alle Seiten weisen die Maße von 33,2 × 24 cm auf. Siehe: Havránek 2006, Anhang o. S. Die maschinen­ geschriebene Beschreibung der Aktionen tippte der Künstler erst nach der Durchführung seiner Aktionen ab. Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 151 Da Abzüge im Vergleich zu heute noch sehr teuer waren, war die Auswahl der Fotografien auch aus ökonomischen Gründen auf wenige Exemplare beschränkt. Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 152 Jiří Kovanda in: Obrist 2006, 107. 153 Vgl. die Beschreibung der Aktion in Kapitel 2.6.4.

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Abb. 17  Endre Tót, I am glad if I can type zeros, FLUXshoe-Festival Blackburn, 1973.

Anders als bei Kovanda ist das Schreiben auf der Schreibmaschine bei Tót nicht kühl und unpersönlich. Er experimentiert mit der Schreibmaschine, nutzt sie auf ungewöhnliche Weise und testet ihre Grenzen aus.154 Die persönliche Handschrift ist ihm auch in seinen Mail Art-Briefen wichtig, die in Kapitel 2.6.4 ausführlicher vorgestellt werden. Bei Kovanda sollten die Fotografien des Geschehens etwas von der Atmosphäre der Situation transportieren. Während der Text eine einfache Beschreibung von dem ist, was passierte, wird über die Fotografie ein visueller Eindruck von dem Ort und der Situation vermittelt. Dabei ging es dem Künstler jedoch nicht um Schönheit oder Komposition, sondern um die Atmosphäre. Die Zusammenstellung der Fotografien von einer Aktion, die Kovanda für die Dokumentation auswählt, kann von Ausstellung zu Ausstellung variieren.155 154 So bedeckt Tót beispielsweise Postkarten, auf denen unterschiedliche Motive zu sehen sind, vollständig mit getippten Schrägstrichen (Slashes) in gleichmäßigem Abstand, um Regen darzustellen. Oder er überschreibt Buchstaben (meist mit Nullen), um sie unkenntlich zu machen (vgl. Abb. 24). 155 Aussagen Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda.

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Zur Medialisierung der Aktionen durch Fotografie äußert sich Kovanda in einem Interview wie folgt: „The question is when communication takes place.“ 156 Er identifiziert den Zeitpunkt, an dem die Kommunikation stattfindet, als den Moment, in dem sich jemand der Aktion als Kunst zuwendet. Wenn die Aktion ein Publikum hat, wie beispielsweise x x x, 23. Januar 1978, Staroměstské náměstí, Prag (1978), in der Kovanda plötzlich von seinen Freunden davonrennt, passiert dies unmittelbar (Abb. 15). Wenn keine Betrachtenden eingeladen wurden, findet die Kommunikation erst später in einem künstlerischen Kontext statt. Dies kann ein Ausstellungsraum sein oder eine Künstlerpublikation. Die verschiedenen Medien sind für Kovanda gleichwertig. Entscheidend ist, dass die Aktion als Kunst präsentiert wird.157 Anders als bei Tót, der während seiner Zeit in Budapest intensiv über das Mail Art-Netzwerk kommuniziert, ist die Dokumentation von Kovandas Performances von Beginn der Konzeption an für einen Ausstellungskontext gedacht – die Aktionen finden jedoch in den 1970er Jahren ausschließlich außerhalb dieses Kontextes statt.158 Die Kontexte, in denen Kovanda seine Arbeiten schließlich ausstellen kann, werden in Kapitel 2.6.2 näher erläutert. 2.4.2.1 Die Dokumentation „nicht dokumentierter“ Aktionen Eine Aktion, die Kovanda am 30. November 1977 auf dem Karlsplatz durchführte, wurde durch das Wort nedokumentováno (undokumentiert, nicht dokumentiert) dokumentiert (Abb. 18). Ein rechteckiger Zettel mit den maschinengeschriebenen Versalien ist diagonal über ein weißes Blatt Papier geklebt. Die Aktion ist in derselben Weise betitelt wie die meisten anderen Aktionen: x x x. 30. listopadu 1977. Praha, Karlovo námestí (30. November 1977. Prag, Karlsplatz). Ein Satz beschreibt die Aktion: „V 19.40 hod jsem měl sraz s přáteli. Rozhodl jsem se, že na smluvené místo přijdu asi o 10 minut dřív …“ („Um 19:40 hatte ich eine Verabredung mit einigen Freundinnen und Freunden. Ich entschied, 10 Minuten früher zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen …“).159 Die Behauptung, die Aktion sei durch Abwesenheit von Bildern und die alleinige Anwesenheit einer Beschreibung „nicht dokumentiert“, trifft nicht zu. Durch die Angabe von Zeit und Ort sowie die Beschreibung kann die Aktion rekonstruiert und nachvollzogen werden. Auch wenn in dem Moment des Zu-Früh-Kommens des Künstlers weder Zeuginnen oder Zeugen noch 156 „The question is when communication takes place. I think it’s at the moment when the thing is referred to as art. That means that if an action has an audience, it happens straight away. If no spectators have been invited, however, I think it doesn’t take place until afterwards, in the artistic space – in other words, either at an exhibition, or in print, it doesn’t matter. In short, when it’s presented as art.“ Aussage des Künstlers in folgendem Interview: Mančuška 2008, 146. 157 Vgl. die Aussagen des Künstlers in folgendem Interview: Mančuška 2008, 146. 158 Ebd. 159 Havránek 2006, 34. Vgl. die Werkangaben im Werkverzeichnis: Havránek 2006, Anhang o. S.

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Abb. 18  Jiří Kovanda, x x x. 30. listopadu 1977, Praha, Karlovo námestí. V 19.40 hod jsem měl sraz s přáteli. Rozhodl jsem se, že na smluvené místo přijdu asi o 10 minut dřív … (x x x. 30. November 1977, Prag, Karlsplatz. Um 19:40 hatte ich eine Verabredung mit einigen Freundinnen und Freunden. Ich entschied, 10 Minuten früher zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen …), Dokumentation der Aktion durch den Künstler, Schreibmaschine auf Papier, 33,2 × 24 cm.

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eine Kamera anwesend waren, die seine Aktion bestätigen könnten, so kann aufgrund der Kenntnis seiner bisherigen Arbeitsweise davon ausgegangen werden, dass er die Aktion auf die beschriebene Art und Weise durchgeführt hat. Kovanda vermutet, dass diese „nicht dokumentierte“ Arbeit von 1977 „wohl am engsten mit dem Alltagsleben verbunden ist und davon gibt es kein Foto“ 160. Die enge Verbundenheit mit dem Alltagsleben basiert seiner Ansicht nach darauf, dass die Performance von außen nicht von einer gewöhnlichen Alltagssituation unterschieden werden kann. Der Unterschied zwischen einer Alltagssituation und einer künstlerischen Performance liegt für den Künstler jedoch in der Vorbereitung der Aktion: In seinen Aktionen agiere er „nie impulsiv und spontan auf eine Situation, alles ist vorbereitet“ 161. Angenommen Kovanda plante die Aktion wie üblich, indem er sich vornahm, zu früh am Treffpunkt zu erscheinen, und dies schriftlich festhielt: Er traf verfrüht am Treffpunkt ein und wartete zehn Minuten lang, bis seine Freunde erschienen. In dieser Zeit des absichtlich herbeigeführten Wartens könnte er sich heimlich gefreut haben, ähnlich wie Tót dies in seinen TÓTalJOYS beschreibt. Dass er zu diesem Zeitpunkt der Einzige war, der von der Aktion wusste und der aktiv an ihr teilnahm, könnte ihm Vergnügen bereitet haben. Er weicht von einem Schema ab, er hält eine Abmachung nicht ein, er widerspricht den Erwartungen, die durch die Verabredung an ihn gestellt werden. Auch wenn das Zu-Früh-Erscheinen keinen negativen Effekt erzeugt, so hat Kovanda dennoch etwas nicht getan, wozu er durch die Verabredung zu einer bestimmten Uhrzeit eingewilligt hatte: pünktlich an dem vereinbarten Ort zu erscheinen. Was Kovanda tut, ist kein Vergehen, er spielt mit den Grenzen in der sozialen Interaktion, testet aus, was passiert, wenn er die Variablen verändert. Das Entscheidende ist, dass er seine Aktionen, an denen niemand sonst teilnimmt, dokumentiert – und sei es nur in Form des Wortes nedokumentováno. Er lässt die zukünftigen Betrachtenden dadurch teilhaben an seinem Experiment und an der Freiheit, die er daraus gewinnt, sein Verhalten im öffentlichen Raum und in der Interaktion mit anderen Menschen kaum merklich zu variieren, ohne dabei Schaden anzurichten. Durch seine Aktion eröffnet er jedoch einen Handlungsund Möglichkeitsraum, in dem sich etwas Unsichtbares und trotzdem Wirkmächtiges ereignet – und sei es nur für die Dauer von zehn Minuten. Es existiert eine weitere Aktion von Kovanda, die durch das Wort nedokumentováno dokumentiert wurde. Sie fand am 23. Februar 1978 in Prag statt und die Beschreibung auf dem Blatt Papier lautet folgendermaßen: „Shromážděným divákům jsem z magnetofonového záznamu pustil písničku Boba Dylana ‚I Want You‘“ („Einer Gruppe von versammelten Zuhörerinnen und Zuhörern spielte ich eine Aufnahme von Bob Dylans 160 Aussage des Künstlers in: Schütz 2013, 183. 161 Ebd., 184. Dass seine Aktionen immer vorbereitet gewesen und nie spontan durchgeführt worden seien, betont Kovanda auch in: Interview Kühn – Kovanda.

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‚I want you‘ von einem Kassettenrecorder vor“).162 Es ist eine der letzten Aktionen der 1970er Jahre, in der Kovanda seinen eigenen Körper einsetzt: „I wanted to disappear physically from the scene …“.163 Für die späteren Betrachtenden der Aktion mit dem Dylan-Song ist das Bild der Körper, die an der Aktion teilgenommen haben, bereits verschwunden. Wir sehen nur das Wort nedokumentováno und lesen die Beschreibung der Aktion mit dem Songtitel. Wenn die Betrachtenden das Lied kennen, erklingt in ihrem Kopf möglicherweise eine Melodie, eine bestimmte Stimmung wird wachgerufen, eigene Assoziationen entstehen, Erinnerungen, die mit der eigenen Biografie zusammenhängen, tauchen auf. Die Situation in den 1970er Jahren, der sich die Rezipientinnen und Rezipienten durch die Lektüre der Aktionsbeschreibung annähern, gestaltete sich folgendermaßen: Eine Gruppe von Menschen versammelte sich um einen Kassettenrecorder. Die Aktion fand in einem Keller des Museums für Angewandte Kunst statt, in dem Petr Štembera in unregelmäßigen Abständen halboffizielle Performance-Veranstaltungen organisierte.164 Die spätere Dokumentation nennt als Ort der Aufführung jedoch lediglich „Prag“. Die um den Recorder Versammelten hörten sich gemeinsam den Song „I want you“ (1966) von Bob Dylan an. In einer nachträglichen Beschreibung erzählt Kovanda, wie er die Situation wieder beendet hat: „After it had finished playing, I switched off the recorder player and we left.“ 165 Die Situation hat vermutlich genauso lange gedauert wie der Song: etwa drei Minuten. Die Musik von Bob Dylan spielt deshalb in der Medialisierung dieser Performance eine ähnliche Rolle wie in den anderen Aktionen die anwesende Kamera. Sie ist das Medium, das einen Raum der Partizipation sowohl für die unmittelbar Anwesenden als auch für die später Rezipierenden eröffnet. Es wird hier aber nicht nur die visionäre Imagination der Betrachtenden angesprochen, sondern auch die auditive. Dabei müssen sie nicht zwingend genau die gleiche Zeit vor dem Werk verbringen, die Kovanda und seine Freundinnen und Freunde gebraucht haben, um den Song zu hören. Die Rezeptionszeit kann kürzer oder länger sein und 162 Dokumentation durch den Künstler, Schreibmaschine auf Papier, 29,2 × 21 cm. Vgl. die Werkangaben im Werkverzeichnis: Havránek 2006, Anhang o. S. 163 Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. Etwas später zieht sich Kovanda mit seinem Körper ganz aus seinen Aktionen zurück und beschäftigt sich ausschließlich mit sogenannten ‚Installationen‘, in denen der Künstlerkörper nicht mehr auftaucht. Erst viele Jahre später beginnt er wieder mit seinem Körper zu arbeiten und realisiert eine abgewandelte Wiederaufführung von Polibek (Kuss). Polibek war eine der ersten Aktionen, die Kovanda im Jahre 1976 auf der Insel Ostrov in Prag aufführte. Vgl. dazu den Werkkatalog: Havránek 2006, 47 f., und die Werkangaben im Anhang o. S. Ein kurzes Video von einer Aufführung der Performance Kissing through glass in Biel/Bienne 2014 findet sich unter folgendem Link: https://www.youtube.com/watch?v=WsapiuF7WXk [Zugriff am 17. 1. 2020]. 164 Štembera und Mlčoch hatten einen Nebenjob im Museum für Angewandte Kunst und konnten daher die inoffiziellen Zusammenkünfte organisieren. Am selben Abend fanden noch weitere Performances anderer Künstlerinnen und Künstler statt. Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 165 Aussage Kovandas zit. nach: Kemp-Welch 2014, 214.

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trotzdem können die Betrachtenden sich währenddessen in der Situation engagieren, Teil von ihr werden. In dem Song „I want you“ 166 singt Bob Dylan von seinem Verlangen und seiner Leidenschaft für einen anderen Menschen. Verschiedene Dinge und Personen wollen ihn davon abhalten, ihn zurückhalten, doch er schlägt alle Ratschläge in den Wind und verhält sich sogar „not very cute“ gegenüber einem Rivalen, da sein Verlangen übermächtig ist und aufgeben für ihn nicht in Frage kommt. Aus Dylans Gesang spricht eine jugendliche Entschlossenheit, für seine Träume zu kämpfen – auch wenn es unvernünftig scheint – in der Hoffnung, seine Sehnsüchte stillen zu können. Warum hat Kovanda gerade diesen Song für seine Performance ausgewählt? Kovanda selbst erinnert sich: „I liked the song.“ 167 Titel und Text dieses Liedes spielten in dem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Alle vorhergehenden Aktionen Kovandas waren Versuche gewesen, mit jemandem, mit einer anderen Person in Kontakt zu treten. Die Aussage all dieser Versuche war gewissermaßen: „I want you“. Dies bezog sich jedoch nicht notwendigerweise auf eine Beziehung zwischen Mann und Frau.168 Was Kovanda an dem gemeinsamen Musikhören interessierte, waren das „feeling“ und die „connection between people“ gewesen.169 Die Aktion, die Kovanda hier in Kooperation mit den eingeladenen Gästen durchführt, äußert eine Emotion und ein Begehren, die er nicht in Worte fassen, mit Hilfe der Musik jedoch in eine Handlung übersetzen und teilen kann. Die Versammlung der in der Situation präsenten Körper kann möglicherweise sogar im Sinne von Judith Butlers Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung 170 als eine Form des Protests aufgefasst werden. Auch wenn es sich nicht um eine öffentliche Demonstration handelt, so können Butlers Überlegungen zur Versammlung weiterführen. Eine verkörperte Handlung tut etwas auf eine Art und Weise kund, die weder diskursiv noch vordiskursiv ist.171 Butler erläutert dies wie folgt: 166 Songtext: The guilty undertaker sighs/The lonesome organ grinder cries/The silver saxophones say I should refuse you/The cracked bells and washed-out horns/Blow into my face with scorn/But it’s not that way/I wasn’t born to lose you/REFRAIN: I want you, I want you/I want you so bad/Honey, I want you.//The drunken politician leaps/Upon the street where mothers weep/And the saviors who are fast asleep/They wait for you/And I wait for them to interrupt/Me drinkin’ from my broken cup/And ask for me/Open up the gate for you/REFRAIN//Now all my fathers they’ve gone down/ True love they’ve been without it/But all their daughters put me down/’Cause I don’t think about it./REFRAIN //Well, I return to the Queen of Spades/And talk with my chambermaid/She knows that I’m not afraid/To look at her/She is good to me/And there’s nothing she doesn’t see/She knows where I’d like to be/But it doesn’t matter/REFRAIN//Now your dancing child with his Chinese suit/ He spoke to me, I took his flute/No, I wasn’t very cute to him – Was I?/But I did though because he lied/Because he took you for a ride/And because time was on his side/And because I …/ REFRAIN//. 167 Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 168 Aussage Kovandas ebd. 169 Aussage Kovandas ebd. 170 Butler 2016. 171 Vgl. ebd., 15.

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Versammlungen haben schon vor und unabhängig von spezifischen Forderungen, die sie stellen, eine Bedeutung. Stille Zusammenkünfte […] haben häufig eine Bedeutung, die jeden schriftlichen oder mündlichen Bericht darüber, worum es bei ihnen geht, übersteigt.172

Sie bestimmt das Recht, sich zu versammeln, als ein wichtiges politisches Vorrecht: „Die Versammlung bedeutet etwas, das über das Gesagte hinausgeht, und dieser Bedeutungsmodus ist eine gemeinsame körperliche Inszenierung, eine plurale Form der Performativität.“ 173 Gemeinsames Handeln kann laut Butler eine „verkörperte Form des Infragestellens der inchoativen und mächtigen Dimensionen herrschender Vorstellungen des Politischen sein“ 174. Möglichkeiten, die sich innerhalb dieser Formen des Versammelns ergeben, sind „sich zeigen, stehen, atmen, sich bewegen, stillstehen, reden und schweigen“ 175. All diese Gesten und Handlungen nutzt auch Kovanda – wenn auch nicht immer in kollektiver Form. Kemp-Welch vermutet im Verzicht auf die fotografische Dokumentation der Aktion auch einen freiwilligen Akt der Selbst-Zensur.176 Dies könnte insofern eine Rolle gespielt haben, als das Hören von US-amerikanischer Musik zwar nicht direkt ein Verbrechen bedeutete, die Ausübung des von den Dichterinnen und Dichtern der Beat Generation und von Dylan propagierten und besungenen Lebensgefühls des ruhelosen Unterwegsseins jedoch nicht mit den Idealen und Anforderungen des Alltags in der damaligen Tschechoslowakei vereinbar war.177 Auch wenn der Körper des Künstlers in der Dokumentation nicht mehr sichtbar ist, so bleibt doch die Geste dieses Körpers und aller anderen an der Situation beteiligten Körper erhalten: Es ist die Geste des Musikhörens. Vilém Flusser beschreibt die „Geste des Musikhörens“ 178 weniger als eine Körperbewegung und mehr als eine Körperstellung 179, die stark „von der empfangenden Botschaft“ 180 abhänge, und „zwar nicht nur 172 Ebd. 173 Ebd., 16. 174 Ebd., 17. 175 Ebd., 28 f. 176 Vgl. Kemp-Welch 2014, 214. 177 Im Rückblick erinnert sich Kovanda jedoch nicht daran, dass die US-amerikanische Kultur oder das Lebensgefühl der Beat-Poeten in dem Zusammenhang eine besondere Rolle gespielt hätten. Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. Von Acconci existiert die Videoarbeit Theme Song (1973), in der er unter anderem einen Song von Bob Dylan von einem Kassettenrecorder abspielte. Ulrike Rosenbach spielte in ihrer Videoarbeit Reflexionen über die Geburt der Venus (1978) das Lied Sad-eyed Lady of the Lowland von Bob Dylan ab. Da diese Arbeiten jedoch jeweils in einem vollkommen anderen Kontext entstanden, lassen sich weder Intention noch Wirkung mit Kovandas Arbeit vergleichen. 178 Flusser 1991, 193. 179 Ebd., 196. 180 Ebd., 195.

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von ihrem Inhalt, sondern ebenfalls davon, was man ihren ‚Kanal‘ nennt“ 181. Mit Kanal meint Flusser in diesem Fall den Körper. Der Körper passt sich demnach an die akustische Botschaft an und die innere Spannung verneint sich selbst, wenn sie sich lockert und als Bewegung äußert.182 Die Geste ist bei Flusser jedoch nicht nur eine körperliche Äußerung, sondern auch eine Gedankenfigur, ein gedankliches Experiment. Er wählt diesen Begriff als Modell, um durch ihn eine bestimmte Perspektive auf Phänomene zu erhalten und die Welt zu erfassen. In der Geste des Musikhörens verkörpere sich die Musik, ja nach Flusser seien die Hörenden beim Hören sogar selbst die gehörte Musik, wodurch die Geste nicht passiv sein könne.183 Flussers Beobachtungen münden in die Schlussfolgerung: „Beim Musikhören fällt die Trennung zwischen Mensch und Welt.“ 184 Die Geste des Musikhörens eignet sich daher gut für die Herstellung einer Situation, in der es Kovanda unter anderem um Gemeinschaft geht. Für die Dauer des Lieds teilt er mit seinen Freundinnen und Freunden einen Song, den er gerne mag, und gibt dadurch etwas von sich selbst preis. Darüber hinaus entsteht jedoch durch die Geste des Musikhörens eine gemeinsame Performance aller Beteiligten. Es ist eine der wenigen Performances, durch die Kovanda bei den beteiligten Individuen tatsächlich etwas verändert haben könnte. In seinen anderen Performances ging es ihm weniger darum, die Menschen, die ihn unmittelbar umgaben, wirklich zu erreichen – geschweige denn zu verändern.185

2.5 Unterschiedliche For men von Engagement in einer Situation Im Folgenden werde ich die Situationen, die durch Kovanda und Tót initiiert wurden, sowie die den jeweiligen Situationen entsprechenden Formen von Engagement untersuchen. Dabei gehe ich von der Definition einer „sozialen Situation“ 186 bei Erving Goffman 181 Ebd. 182 Ebd., 197. 183 Ebd., 198. 184 Ebd., 201. 185 In Interviews beharrt Kovanda darauf, dass es ihm bei seinen Aktionen im öffentlichen Raum darum gegangen sei, seine persönliche Schüchternheit zu überwinden: „I think that that step towards another person may be connected with a more personal feeling I had at that time, with a certain feeling of isolation. Although I woudn’t want that to be interpreted as alienation or loneliness, for it to be interpreted from a social perspective. For me it was something more personal than society’s alienation, or people’s alienation from that society. I always felt it was more of a personal matter for each individual and not a social matter. A lot of people have asked me what influence the state of society at the time had on those actions, and I’m not saying that there was no influence, but it definitely wasn’t the most important element for me. The personal aspect always predominated over the social.“ Aussage Kovandas in: Obrist 2006, 107. 186 Goffman 22001 [1982], 55.

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aus, weite sie jedoch auf medialisierte Situationen aus, in denen es sowohl um die zeitliche und räumliche körperliche Ko-Präsenz von Akteurinnen und Akteuren geht, als auch um die medialisierte, von Zeit und Raum entkoppelte Ko-Präsenz weiterer Partizipierender in der Situation. Es wird folgenden Fragen nachgegangen: Bis zu welchem Grad sind zukünftige Betrachtende in der Lage, die Situation durch ihre „Fernpräsenz“ 187 sowohl durch imaginierte Anwesenheit, beispielsweise in Form der stellvertretenden Präsenz einer Kamera, in der Situation als auch während der Rezeption zu einem späteren Zeitpunkt zu vervollständigen? Und inwiefern kann eine Geste des Wartens oder des Nichtstuns sowie des scheinbaren Scheiterns durch den Transfer in einen künstlerischen Kontext zu einer produktiven Handlung werden, die imaginäre und reale Grenzen überwindet? 2.5.1 In einer Situation mit Kovanda Goffman beschreibt in seinem 1963 zuerst auf Englisch erschienenen Buch Interaktion im öffentlichen Raum 188, dass der Blick in die Augen eines Gegenübers eine übliche Vorgehensweise ist, um eine Begegnung zu eröffnen: „Eine Begegnung wird eröffnet, wenn jemand einen Eröffnungszug macht. Normalerweise besteht diese Eröffnung darin, dem eigenen Blick einen besonderen Ausdruck zu geben […].“ 189 Diese Initiative kann vom anderen aufgenommen werden. Wenn dieser mit Augen, Stimme oder Haltung zurücksignalisiert, dass er sich für eine wechselseitige Aktivität von Angesicht zu Angesicht zur Verfügung stellt, beginnt das eigentliche Engagement.190 Jemandem direkt in die Augen zu schauen, wie Kovanda es in seiner Aktion auf der Rolltreppe tut, kann demnach als ein Versuch interpretiert werden, eine nicht-zentrierte Interaktion in eine zentrierte zu verwandeln. Wenn eine Begegnung vermieden werden soll, müssen wechselseitige Blicke unterbleiben, da Augenkontakt gegenseitige Verbindlichkeit vorbereitet.191 Der „Persönliche Raum“ 192 ist eines der „Territorien des Selbst“ 193, die Goffman in seinem 1971 auf Englisch erschienenen Buch Das Individuum im öffentlichen Austausch als den das Individuum umgebenden Raum beschreibt, „dessen Betreten seitens eines anderen

187 Zu „remote presence“ vgl. Hahn/Stempfhuber 2015/II, 8 – 10. 188 Goffman 2009 [1963]. 189 Ebd., 105. „An encounter is initiated by someone making an opening move, typically by means of a special expression of the eyes […].“ Siehe: Goffman 1963, 91. 190 Vgl. Goffman 2009 [1963], 105. „The engagement proper begins when this overture is acknowledged by the other, who signals back with his eyes, voice, or stance that he has placed himself at the disposal of the other for purposes of a mutual eye-to-eye activity […].“ Siehe: Goffman 1963, 91 f. 191 Vgl. Goffman 2009 [1963], 108. „[…] mutual glances ordinarily must be withheld if an encounter is to be avoided, for eye contact opens one up for face engagement.“ Siehe: Goffman 1963, 95. 192 Goffman 1974 [1971], 56. 193 Ebd., 54.

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vom Individuum als Übergriff empfunden wird“ 194. Alle von Goffman beschriebenen „territoriumsähnlichen Reservate“ 195 können auf verschiedene Art und Weise verletzt werden. Ein Mittel der Verletzung ist das „Anblicken, Anschauen, Durchbohren mit den Augen“ 196. Wenn Kovanda auf der Rolltreppe steht und der unter ihm auf der Treppe stehenden Person offen und direkt in die Augen blickt oder wenn er Vorbeigehende scheinbar versehentlich auf der Straße anrempelt, dringt er absichtlich in deren Territorium ein. Nach Goffman ist eine Strategie, auf solch eine Verletzung zu reagieren, die „höfliche Gleichgültigkeit“ 197: Mit höflicher Gleichgültigkeit tut man kund, dass man keinen Grund hat, den Absichten der anderen Anwesenden zu misstrauen, und auch keinen Grund, die andern zu fürchten, ihnen feindlich gesonnen zu sein oder sie meiden zu wollen. (Nimmt man diese Haltung ein, setzt man automatisch voraus, dass man von den anderen entsprechend behandelt wird.)198

Die Entfaltung von gegenseitiger höflicher Gleichgültigkeit identifiziert er als „eine wesentliche Form von nicht-zentrierter Interaktion“ 199. Sie ist Recht und Pflicht zugleich 200: Angesichts von Verstößen wird höfliche Gleichgültigkeit häufig einfach deshalb praktiziert, weil mit Hilfe dieser taktvollen Handlung die Situation aufrechterhalten werden kann, unabhängig davon, was geschieht.201

Sowohl das Sich-Umdrehen auf der Rolltreppe als auch das direkte Anblicken einer unbekannten Person ist eine Handlung, die in einer vornehmlich nach westeuropä­ ischen oder US -amerikanischen Maßstäben sozialisierten Region wie Europa nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht und deshalb die soziale Situation, in der sich die Beteiligten befinden, stört. Das Anrempeln unbekannter Personen auf der Straße ist ein noch stärkeres Vergehen. Kovanda stört die Situation nicht nur, er versucht sie zu dominieren und sie für alle Beteiligten neu zu definieren. Da die auf diese 194 Ebd., 56. „[…] space surrounding an individual, anywhere within which an entering causes the individual to feel encroached upon […].“ Siehe: Goffman 1971, 29 f. 195 Goffman 1974 [1971], 74. 196 Ebd., 75. „The glance, look, penetration of the eyes“. Siehe: Goffman 1971, 45. 197 Goffman 2009 [1963], 98. Im Original: „civil inattention“, siehe: Goffman 1963, 83. 198 Goffman 2009 [1963], 98 [Hervorh. im Orig.]. 199 Ebd., 102. „[…] a significant form of unfocused interaction“, siehe: Goffman 1963, 88. 200 „Sich richtig zu verhalten und das Anrecht auf höfliche Gleichgültigkeit zu haben – beides ist eng miteinander verbunden […].“ Siehe: Goffman 2009 [1963], 101 [Hervorh. im Orig.]. 201 Ebd., 101. „[…] civil inattention may be extended in the face of offensiveness simply as an act of tactfulness, to keep an orderly appearance in the situation in spite of what is happening.“ Siehe: Goffman 1963, 87.

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Weise beeinträchtigten Personen die von ihnen als normal empfundene Situation zu retten versuchen, tun sie so, als hätten sie das Vergehen des Künstlers nicht bemerkt oder als sähen sie absichtlich darüber hinweg.202 Dadurch versuchen sie, die ursprüngliche Situation wiederherzustellen, in denen sich alle Beteiligten sicher fühlen können, weil sie ihre Rolle spielen und ihr Territorium – und damit ihre Identität – schützen können. Eine Situation zu stören und ein Territorium zu verletzen, wird gewöhnlich nur kleinen Kindern, alkoholisierten oder unter anderen Drogen stehenden Personen, kranken, insbesondere psychisch kranken, und manchmal auch sehr alten Menschen zugestanden.203 Diese Personen werden wie „Unpersonen“ 204 behandelt. Kovanda gehört keiner dieser Personengruppen an. Dass die Aktion eine künstlerische ist, wissen die an ihr Beteiligten jedoch nicht, weshalb sie nicht auf seine non-konformen und dadurch irritierenden Annäherungsversuche reagieren. Da uns das Gesicht der Person, die von Kovanda attackiert wird, in der Fotografie verborgen bleibt, können wir nur rätseln, ob der Fremde den Blick des Künstlers im Sinne einer taktvollen Handlung vermieden hat, um die Situation aufrechtzuerhalten und dadurch in gewisser Weise zu retten (Abb. 12).205 Die angerempelten Personen blieben weder stehen noch drehten sie sich um (Abb. 11). Dies hing jedoch auch mit der Vorsicht und Zurückhaltung der Menschen im öffentlichen Raum der Tschechoslowakei der 1970er Jahre zusammen, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Eine „soziale Situation“ definiert Goffman 1982 in seiner Interaktionsordnung wie folgt: Soziale Interaktion im engeren Sinne geschieht einzig in sozialen Situationen, d. h. in U ­ mwelten, in denen zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, daß sie aufeinander reagieren können.206

Wie die neuere Präsenz-Forschung zeigt, kann Goffmans Interaktionstheorie auch auf mediatisierte Gesellschaften angewandt und in diesem Zusammenhang auch auf medialisierte Situationen übertragen werden. Umfasste Ko-Präsenz in der frühen Forschung Goffmans noch die real-körperliche Anwesenheit der Interaktionspartnerinnen und -partner zu einer bestimmten Zeit und in einem geografisch definierten Raum, so diffe­ renzieren neuere soziologische Forschungen verschiedene Formen von Ko-Präsenz, die

202 Vgl. Goffman 2009 [1963], 101. 203 Ebd., 56 und 97 f. Auf S. 56 nennt Goffman auch „Diener“ und „Höflinge“ als Unpersonen. 204 Goffman 122013 [1956], 138 – 140. Vgl. hierzu auch Goffman 2009 [1963], 57. 205 Vgl. Goffman 2009 [1963], 101. 206 Goffman 22001 [1982], 55. „Social interaction can be identified narrowly as that which uniquely transpires in social situations, that is, environments in which two or more individuals are physically in one another’s response presence.“ Siehe: Goffman 1983 [1981], 2.

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gleichberechtigt nebeneinanderstehen sowie als ein durch Praxis erzeugter Prozess verstanden und nicht hierarchisch geordnet werden.207 Die Soziologin Kornelia Hahn und der Soziologe Martin Stempfhuber plädieren in ihrer Einleitung zu dem Tagungsband Präsenzen 2.0. Körperinszenierung in Medienkulturen (2015)208 im Anschluss an die sogenannte Presence Research dafür, „nicht prinzipiell zwischen Mediatisierung und Nicht-Mediatisierung oder raum-zeitlicher Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Akteure“ zu unterscheiden und so „neue Möglichkeiten der Unterscheidung von Präsenz und Nicht-Präsenz“ zu eröffnen.209 Dabei wird „die Charakteristik sinnlicher Erfahrung in Face-to-Face-Kommunikation […] prinzipiell durch Technik gleichwertig erzeugbar angesehen“ 210. Neuere soziologische Ansätze haben diese unterschiedlichen Abstufungen von Präsenz als „Telepräsenz oder Remote Presence“, „gefühlte Nähe“ oder als „Zuschreibungseffekt“ genauer voneinander unterschieden.211 Dabei werden die Determinanten, mit denen beispielsweise Telepräsenz beschrieben wird, nicht dichotom, „sondern als Qualitäten, die in der empirischen Wirklichkeit in spezifischen graduellen Abstufungen vorkommen“, aufgefasst. Präsenz kann sich auch „als ‚gefühlte‘ Eigenschaft der Kommunikation“ ergeben.212 Hahn und ­Stempfhuber sprechen sich gegen eine Hierarchie der Präsenzformen aus.213 Face-toFace-Präsenz tritt bei ihnen als eine unter mehreren Präsenzformen auf, die jedoch nicht als die „oberste“ angesehen wird.214 Wie die beiden betonen, ist in einigen Fällen die Annahme, sich in einer wirklichen 215 sozialen Situation zu befinden, ausschlaggebend und „nicht von der (technologischen) Simulation von Kopräsenz abhängig“ 216. Als fruchtbar erweist sich auch der Ansatz von Christian Licoppe, Präsenz „not as a state but rather as a process“ 217 zu verstehen. Als eine Möglichkeit, das neue Verhältnis von Präsenz und Absenz zu erforschen und zu differenzieren, schlagen Hahn und Stempfhuber Goffmans Theorie des dramaturgischen Handelns vor: 207 Auch bei Goffman tauchen bereits Überlegungen auf, in denen er Medien in die Situation miteinbezieht und medial vermittelte Ko-Präsenz zumindest nicht für ausgeschlossen hält. Vgl. hierzu Goffman 2009 [1963], 32, Anm. 14 und 15. 208 Hahn/Stempfhuber, 2015/II, 7 – 22. 209 Ebd., 8 [Hervorhebung im Original]. 210 Ebd. 211 Ebd., 8 – 10. 212 Ebd., 10. 213 Ebd., 11. 214 Ebd. 215 Die Klassifizierung der sozialen Situation als „wirkliche“ wurde kursiv gesetzt, da aus der Forschung von Hahn und Stempfhuber hervorgeht, dass auch die „wirkliche“ soziale Situation niemals a priori gegeben ist, sondern immer erst situativ hergestellt wird. 216 Ebd., 12. 217 Licoppe 2015, 97.

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Während die von Goffman so meisterhaft analysierten Interaktionsordnungen sich auf prinzipielle körperliche Anwesenheit beziehen, kann diese Perspektive der Interaktionsordnungen in Medienkulturen auch für die Kommunikation unter Abwesenden […] ausgedeutet werden.218

In ihren Forschungsbeiträgen zeigen Hahn und Stempfhuber wie Körperzeichen untersucht werden können, „deren (Re-)Produktion durch technologisch basierte Interaktionsrahmen und Settings beeinflusst sind“ 219, und begreifen Körper und ihre Inszenierungen als einen Forschungsgegenstand, „dessen leibliches Substrat nicht einfach als a priori akzeptiert werden kann, sondern durch medial vermittelte Praktiken überhaupt erst hervor gebracht wird“ 220. Kovanda eröffnet die Situation in seiner Aktion auf der Rolltreppe (Abb. 15) und in der Aktion Kontakt (Abb. 14) in zweierlei Hinsicht: Er initiiert eine Begegnung, indem er mit den Passanten gezielt Blickkontakt oder scheinbar zufällig und ungewollt Körperkontakt aufnimmt. Gleichzeitig lässt er die Begegnung fotografisch dokumentieren und öffnet so die Situation für weitere Teilnehmende. Durch diese doppelte Eröffnung definiert er die Situation als eine „multizentrierte Zusammenkunft“ 221. Durch die Kontaktaufnahme mit den Passantinnen und Passanten macht er die nicht-zentrierte Interaktion auf der Straße zu einer – wenn auch sehr kurzen – zentrierten Situation. Durch die fotografische Dokumentation ermöglicht er weiteren Zuschauenden die Teilnahme als Teil-Engagierte, die jedoch trotzdem Teil der Beteiligungseinheit (oder der Gesamtsituation) sind.222 Laut Goffman gibt es in einer multizentrierten Zusammenkunft unterschiedliche Formen des Engagements: Bei mehr als zwei Beteiligten können einzelne Personen offiziell in der Situation anwesend sein, die gleichwohl inoffiziell aus der Begegnung ausgeschlossen und auch selbst nicht sehr in sie involviert sind. Solche teil-engagierten Teilnehmer machen die Zusammenkunft zu einer teil-zentrierten. Sind mehr als drei Personen anwesend, kann es zu mehr als einer Begegnung in der gleichen Situation kommen: Wir sprechen dann von multizentrierter Zusammenkunft.223

218 Hahn/Stempfhuber 2015/II, 13 [Hervorh. im Orig.]. 219 Ebd., 14. 220 Ebd. 221 Goffman 2009 [1963], 104 f. 222 Vgl. ebd., 104 f. und 173. 223 Ebd., 104 f. „With more than two participants, there may be persons officially present in the situation who are officially excluded from the encounter and not themselves so engaged. These unengaged participants change the gathering into a partly-focused one. If more than three persons are present, there may be more than one encounter carried on in the same situation – a multifocused gathering.“ Siehe: Goffman 1963, 91 [Hervorh. im Orig.].

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In Kovandas Aktionen sind einige der an der multizentrierten Situation Teilnehmenden physisch präsent, jedoch nicht voll engagiert, und einige sind imaginär präsent, jedoch in der Situation engagiert. Auch wenn sie direkt adressiert werden, sind die Passantinnen und Passanten auf der Straße nur teil-engagiert. Das imaginierte Publikum hingegen partizipiert an der Situation und macht aus der Situation eine multizentrierte Zusammenkunft. Die Rolle des Publikums oszilliert zwischen „Zuschauer“ (bystander)224 und vollem Mitglied der Partizipationseinheit. Goffman bezeichnet als Zuschauer „jede anwesende Person, die nichtbestätigtes volles Mitglied der fraglichen Begegnung ist, gleichgültig, ob sie gegenwärtig einer anderen Begegnung zugehört oder nicht“ 225. Das Publikum spielt eine bedeutende Rolle für den gesamten Ablauf der Begegnung: Sind Leute anwesend, die nicht an der Begegnung teilnehmen, wissen wir, dass sie unvermeidlich in die Lage geraten, etwas über die an der Begegnung Teilnehmenden zu e­ rfahren und dass sie selbst betroffen sind davon, wie die Begegnung als Ganzes abläuft. Die Begegnung, die statthat in einer Situation, in der Zuschauer anwesend sind, bezeichne ich als zugänglich.226

Die Rollen des unmittelbar anwesenden Publikums sowie des zukünftigen Publikums werden im folgenden Kapitel ausführlich erläutert. 2.5.2 Die imaginäre Ko-Präsenz von Performenden und Betrachtenden – oder das „sekundäre Publikum“ als das primäre Publikum In ihren Aktionen misslingt es Tót und Kovanda scheinbar, mit ihrer Umgebung zu kommunizieren und mit den Menschen in Kontakt zu treten. Gleichzeitig gelingt es den beiden Künstlern in ihren Aktionen durch den Einsatz der Kamera eine direkte Verbindung zu einem Publikum aufzubauen, das sie (noch) nicht kennen, das sie jedoch bewusst in die von ihnen initiierten Situationen miteinbeziehen. Die meisten der Aktionen Tóts und Kovandas aus den 1970er Jahren wurden weder für ein Live-Publikum noch für die zufällig anwesenden Passantinnen und Passanten auf der Straße aufgeführt, 224 Goffman 1963, 91. 225 Goffman 2009 [1963], 105. „[…] the term bystander will be used to refer to any individual present who is not a ratified member of the particular encounter in question, whether or not he is currently a member of some other encounter.“ Siehe: Goffman 1963, 91. 226 Goffman 2009 [1963], 163 f. „When there are persons present who are not participants in the engagement, we know that inevitably they will be in a position to learn something about the encounter’s participants and to be affected by how the encounter as a whole is conducted. When a face engagement must be carried on in a situation containing bystanders, I will refer to it as accessible.“ Siehe: Goffman 1963, 154 [Hervorh. im Orig.].

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sondern für ein Publikum in der Zukunft oder – in Tóts Fall – im Exil. In ihrem Kapitel zum „Sozialen im Sozialismus“ weist Bishop darauf hin, dass Kovandas Performances auf ein „sekundäres Publikum“ (secondary audience)227 abzielten. Bishop grenzt dieses von einem primären Publikum ab, das die Durchführung der Aktionen bezeugt und aktiv an der Produktion der Arbeiten beteiligt ist. Dieses primäre Publikum wurde in einigen Aktionen Kovandas durch seine Freundinnen und Freunde gebildet, die er exklusiv zu seinen Aktionen im öffentlichen Raum einlud – meist ohne zuvor anzukündigen, was genau geschehen würde.228 Auch Vít Havránek betont, dass die Performances keine Katharsis oder Transformation in denen hervorrufen sollten, die in die Performances involviert waren oder die zufällig an ihnen vorbeikamen: „They were intended for a secondary, gallery-going public […].“ 229 Im Folgenden möchte ich die Frage diskutieren, ob das von Bishop und Havránek als sekundär bezeichnete nicht eigentlich das primäre Publikum ist, das durch diese Akzentverschiebung in der gesamten Werkkonstellation einen anderen Stellenwert erhält. Das von Kovanda und Tót in ihren frühen Performances 230 adressierte zukünftige oder räumlich weit entfernte Publikum ist zwar lediglich imaginär anwesend, aber trotzdem insoweit präsent, dass es in die Situation involviert ist und einen integralen Bestandteil der Interaktion bildet. Die soziale Situation beginnt in dem Moment, in dem die Kamera vom Künstler beziehungsweise von seinem Komplizen aktiviert wird. Die ganze Situation ist nicht nur öffentlich, weil sie im öffentlichen Raum stattfindet. Die Präsenz der Kamera – und mit ihr die zukünftigen Betrachtenden – verwandelt den durch die künstlerische Intervention angeeigneten Raum in einen öffentlichen und ermöglicht es den späteren Betrachtenden an der Interaktion teilzuhaben. Die Kamera öffnet die Situation und erweitert sie. Kovandas Aktionen scheinen mehrere Schichten zu haben, die teilweise parallel (Passantinnen und Passanten, Kamera) und teilweise nacheinander (spätere Betrachtende) aktiviert werden. Das Involviert-Sein einer Kamera versieht die Aktion mit dem Potential, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort reaktiviert und dadurch gleichsam vervollständigt zu werden.

227 Goffman 2012, 149. 228 Vgl. ebd. 229 Goffman 2007, 81. 230 Bei Tót sind hier vor allem die TÓT alJOYS aus den 1970er Jahren gemeint, die in Budapest und West-Berlin realisiert wurden. Anders verhält es sich bei den Zero-Demonstrationen, die sowohl ein Live-Publikum auf der Straße ansprechen als auch ein zukünftiges oder räumlich entferntes Publikum im Sinn haben.

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2.5.3 Raum 2.5.3.1 Bezug zum städtischen Raum Kovanda und Tót agieren meist auf öffentlichen Plätzen, auf Straßen, in Unterführungen, vor öffentlichen Gebäuden, Denkmälern und vor Grenzarchitektur wie der Berliner Mauer. Kovanda bezieht den Raum bereits in die Konzeption seiner Aktionen ein, indem er vorab den Ort festlegt. Da es fast immer öffentliche Orte sind, kalkuliert er auch die Reaktionen der adressierten Passantinnen und Passanten oder Begleiterinnen und Begleiter in Bezug auf den öffentlichen Raum mit ein. Kovanda wählt belebte Orte, die tagsüber von vielen Menschen passiert werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt befinden sich bereits in einer öffentlichen Situation, sobald sie auf die Straße hinaustreten und Plätze, Straßen oder Unterführungen durchschreiten beziehungsweise entlanggehen. Es sind alltägliche Wege, deren Zurücklegung weitgehend automatisch erfolgt. Die Abläufe setzen jedoch voraus, dass die Menschen im öffentlichen Raum anderen Menschen begegnen werden und womöglich mit ihnen in Interaktion treten müssen. Der Weg führt sie an öffentlichen Gebäuden wie dem Nationalmuseum vorbei, dessen Gegenwart oft nicht bewusst wahrgenommen wird, dessen Präsenz und Architektur jedoch das Leben der Einwohnerinnen und Einwohner beeinflusst, die sich durch die Stadt und an den Gebäuden vorbei bewegen. Auch wenn Kovanda betont, dass er den Platz vor dem Nationalmuseum nur wählte, weil es ein öffentlicher Treffpunkt sei 231, so ist die Präsenz des Gebäudes für die Situation in der Aktion Theater ausschlaggebend (Abb. 17). Wie Noemi Smolik anmerkt, erinnert die mit Schusslöchern übersäte Fassade an die sowjetische Invasion.232 Zum erhöhten Haupteingang führen Treppen und eine Rampe, die mit überlebensgroßen Skulpturen 233 versehen sind, die Rustika-Fassade des Gebäudes erinnert an florentinische Renaissance-Paläste.234 Seit 1966 beherbergt das Gebäude eine Ausstellung über die Ur- und Frühgeschichte des heutigen Staatsgebiets und ist daher eng mit nationalistischen Selbstverständnis der Bevölkerung verbunden.235 Morganová weist darauf hin, dass die Wahl solcher explizit als öffentlicher Raum ausgewiesenen Orte durch Kovanda in der tschechischen Aktionskunst der 1970er Jahre einmalig sei.236

231 Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 232 Smolik 2008, 143. 233 Auf dem Zugang befinden sich gusseiserne Laternen und eine allegorische Darstellung Tschechiens mit Mähren und Schlesien, Elbe und Moldau von Antonín Pavel Wagner. 234 Das Gebäude im Stil der Neorenaissance wurde von Josef Schulz 1885 bis 1891 geplant und gebaut. 235 Das Hauptgebäude beherbergt außerdem eine mineralogische, eine zoologische und eine anthropologische Abteilung. 236 Vgl. Morganová 2014/II, 34.

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Abb. 19  Jiří Kovanda, x x x. 19. listopadu, 1976, Praha, Václavské Náměstí (x x x. 19. November 1976, Prag, Wenzelsplatz), Dokumentation der Aktion durch den Künstler, 33,2 × 24 cm, Schwarzweißfotografie und Schreibmaschine auf Papier, Fotograf: Pavel Tuč.

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Während der unbetitelten Aktion x x x 237, die Kovanda am 19. November 1976 auf dem Wenzelsplatz in Prag ausführt, steht er mit ausgebreiteten Armen mitten auf dem Platz. Er wendet den Betrachtenden den Rücken zu, die Passantinnen und Passanten kommen ihm entgegen (Abb. 19). Kovanda scheint wie ein Mahnmal dort zu stehen. Die Hüte und Mäntel der Menschen auf der Straße lassen auf eine kühlere Jahreszeit schließen. Die Fotografie ist so beschnitten, dass die Geste Kovandas mit den ausgestreckten Armen beinahe den gesamten Bildrahmen ausfüllt.238 Unterhalb seiner Füße ist das Kopfsteinpflaster des Platzes zu sehen. Kovanda steht – höchstwahrscheinlich mit Absicht – auf einem schmalen, längs gepflasterten Streifen, der sich diagonal durch die untere Hälfte der Fotografie zieht. Der Streifen schließt einen Teil des Platzes optisch ab und markiert möglicherweise den Übergang zum Fußgängerweg. Auf einer anderen Fotografie derselben Aktion, die einen etwas größeren Bildausschnitt zeigt, ist im Hintergrund wieder das Nationalmuseum zu sehen. Rechts im Bild sind einige Geschäfte, unter anderem für Schuhe, erkennbar.239 Kovanda berichtet in einem Interview von der Unbelebtheit der Straßen in den 1970er Jahren und der Zurückhaltung der Menschen, wenn sie sich auf der Straße begegneten: In den Siebzigerjahren waren die Menschen eher etwas beklommen, sie waren zurückhaltend und verschlossen. Jetzt wäre die Reaktion auf meine Arbeit möglicherweise anders, vielleicht aggressiver, aber ich weiß es nicht, da ich es nie ausprobiert habe. Damals waren alle mehr auf sich selbst konzentriert und man teilte den Raum um sich herum nicht mit anderen, es gab weniger offene Kommunikation. Meine Performances fanden oft mitten in der Stadt statt, auf dem Wenzelsplatz oder dem Altstadtplatz. Betrachtet man die Aktionsfotos vom Beginn des Jahres 1978 sieht man, dass der Platz fast leer ist und dies zur Mittagszeit.240

Die vom Künstler beschriebene Vorsicht der Passantinnen und Passanten, unmittelbar auf ein Geschehen auf offener Straße zu reagieren, sowie die damalige Leere der öffentlichen Plätze, die heute von einem geschäftigen Treiben geprägt und angefüllt sind mit Touristinnen und Touristen sowie Stadtbewohnerinnen und -bewohnern, die ihre Freizeit dort verbringen, flankiert von Lokalen und Shops, spielen bei der Analyse der Aktionen eine zentrale Rolle. Die von Kovanda erzeugten Situa­tionen waren zwar kurz, beinahe unsichtbar, und nicht auf eine Provokation angelegt, sie wirkten jedoch 237 Vgl. die Angaben im Werkverzeichnis in: Havránek 2006, Anhang o. S. 238 Es gibt weitere Fotografien, die einen größeren Bildausschnitt wiedergeben. Siehe die Illustration in: Schütz 2013, 180. Diese Abbildung ist auch abgedruckt in Kemp-Welch 2014, 197. 239 Die Fotografie wurde in der Zeitschrift Kunstforum International als Illustration zu einem Interview veröffentlicht. Siehe: Schütz 2013, 180. 240 Ebd.

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„in den leeren stillen Straßen von damals ziemlich befremdlich“ 241. Dennoch reagierten die vorbeigehenden Menschen nicht auf Kovandas Aktionen: „Alle gingen auf Abstand. Er wurde umso größer, je befremdlicher die Aktionen waren.“ 242 Dies belegt auch eine Aussage des tschechischen Performance-Künstlers Vladimír Havlík: People were jeopardized by what they didn’t understand at that time. They would say to themselves: „What’s going on there? Can it endanger me? The police are going to come“. […] you can see that in Kovanda’s photographs as well. People are acting as if nothing is going on. […] In the 1970s and 1980s […] perhaps only one per cent of the people present […] did as little as smile.243

Der Kunsthistoriker und Kurator Igor Zabel erklärt die Nicht-Reaktion der Passantinnen und Passanten auf ähnliche Art und Weise: „Even small, all but invisible interventions like Kovanda’s could present a disturbance in the order of things and thus an unidentified but clear threat to the understanding that the status quo was ‚natural‘.“ 244 Über seine Funktion als öffentlicher Platz im Leben der Einwohner Prags hinaus fungiert der Wenzelsplatz in der Aktion x x x. 19. November 1976, Prag, Wenzelsplatz auch als symbolischer Referenzpunkt: Es ist der Ort, an dem sich 1969 der Student Jan Palach selbst verbrannte. Er protestierte damit gegen die gewaltsame Niederschlagung der Reformbewegungen des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im Jahre 1968. Einen Monat später wiederholte der Student Jan Zajíc diese Form des Protests, ebenfalls auf dem Wenzelsplatz. Heute gibt es dort ein Mahnmal für die beiden Studenten. In seiner Aktion am 19. November 1976 scheint Kovandas Körper mit den ausgebreiteten Armen auch für die beiden Körper zu stehen, die hier verbrannten. Die Geste der ausgebreiteten Arme würde dann, in Anspielung auf die Ikonografie des gekreuzigten Christus, das Opfer der beiden Studenten symbolisieren. Da Kovanda jedoch jede politische Intention von sich weist, ist die Aktion nicht unmittelbar als Protestaktion zu verstehen.245 Doch auch wenn der Künstler jeden politischen Referenzrahmen ausschließt, markiert er 1976 in seiner Aktion den Wenzelsplatz mit seiner Geste als einen Ort, der im öffentlichen Bewusstsein als ein tragischer Unglücksort verankert ist. Der Künstler stellt sich den Menschen in den Weg, entgegen der Richtung, in die die meisten Passantinnen und Passanten auf diesem Teil des Platzes gehen. Seine Geste ist also nicht 241 Ebd. 242 Ebd., 183. 243 Vladimír Havlík zit. nach: Kemp-Welch 2014, 198. 244 Igor Zabel zit. nach: ebd., 203. Vgl. dazu Havel 1991/III. Auch Václav Havel beschreibt das damalige alltägliche Leben in der Tschechoslowakei und den öffentlichen Umgang der Menschen miteinander. 245 Vgl. hierzu Bishop 2012, 150.

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zwingenderweise eine Geste des Opfers, sondern der Künstler verkörpert vielmehr ein Hindernis. Die Geste der ausgebreiteten Arme scheint zu sprechen: „Halt! Stop!“ – Doch der Künstler bleibt unbeachtet. Die Menschen wenden den Blick ab, gehen vorbei und verlassen die Situation, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Morganová fasst die Situation wie folgt zusammen: When I first saw this performance, I understood it as a symbol of resistance, a provocative gesture which in those totalitarian years could easily have led to being arrested. How surprised I was then to hear Jiří’s explanation that he was essentially interested only in overcoming his innate shyness […]. Suddenly, a gesture of resistance and voluntary sacrifice turns into a loving embrace. We should not completely believe Kovanda […]. The fact that he chose Wenceslas Square – a place burdened with so many historical and social meanings – speaks for itself. Equally telling are the expressions on the faces of the passers-by. For me, this mix of indifference, indignation and incomprehension always represented the essence of totalitarian pettiness, which became visible only when confronted with Kovanda’s artistic act.246

Auch wenn Kovanda selbst die Situationen nicht als politische Aktionen definiert, so erhalten sie durch den Kontext, in dem sie aufgeführt werden, eine politische Bedeutung. De Certeau hat den „Raum“ als einen „Ort“ bezeichnet, „mit dem man etwas macht“ 247. Ein Ort ist bei ihm eine Ordnung, „nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden“ 248. Er ist eine „momentane Konstellation von festen Punkten“ 249 und zeichnet sich durch Stabilität aus. Der Raum hingegen entsteht durch die Verbindung von Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und der Variabilität der Zeit. De Certeau führt aus: „Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.“ Demnach ist Raum also „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ 250 und von der „Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten“ 251. Im Sinne dieser Definitionen de Certeaus wären Kovanda und Tót jeweils das „historische Subjekt“ 252, das durch seine Handlungen den Raum absteckt. Die Erzeugung eines Raumes, vermutet de Certeau, „scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet.“ 253 In 246 Aussage von Morganová. Abgedruckt in: Jeřabková 2010, 23. 247 De Certeau 1988, 218. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Ebd. 252 Ebd., 219. 253 Ebd.

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seinem Kapitel „Das Sprechen der verhallenden Schritte“ 254 beschreibt de Certeau, wie sich durch die Stadt gehende Personen durch die Wege, die sie in der Stadt zurücklegen, das topografische System aneignen und den Ort räumlich realisieren.255 Dies nennt er „Rhetorik des Gehens“ 256. Die in der räumlichen Ordnung enthaltenen Möglichkeiten und Verbote werden durch den Gehenden aktualisiert.257 Einerseits „verhilft er ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung“ 258, andererseits verändert er sie auch: durch Abkürzungen, Umwege und Improvisationen kann er „auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseite lassen“ 259. Die Fußgänger können einige Orte dazu verurteilen, „brach zu liegen oder zu verschwinden, und mit anderen […] ‚seltene‘, ‚zufällige‘ oder gar unzulässige räumliche ‚Wendungen‘“ 260 bilden. Der Akt des Gehens ist folglich nach de Certeau ein „Raum der Äußerung“ 261; er ist „für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist“ 262. Auf diese Weise verwandeln auch Tót und Kovanda durch ihre Aktionen räumliche Signifikanten in etwas Anderes. Durch die Entscheidung, in ihren Performances einige der von der baulichen Ordnung festgelegten Möglichkeiten auszuschöpfen und andere nicht zu beachten, vergrößern sie sowohl die Zahl der Möglichkeiten als auch der Verbote.263 Im Gegensatz zu Kovanda bezieht Tót die Historizität und Symbolhaftigkeit der Orte, an denen er seine Aktionen durchführt, explizit mit ein. In der Aktion I am glad if I can look at the wall (1978) steht er nicht auf einem freien Platz, den jeden Tag viele Menschen auf ihren Wegen von einem Punkt zum anderen passieren, sondern mit dem Gesicht zu einer Mauer (Abb. 20). Da sich der Künstler zum Zeitpunkt der Entstehung der Fotografie mit einem DAADStipendium in West-Berlin aufhält, handelt es sich bei der Mauer um die Berliner Mauer. Tót steht mit dem Rücken zu den Betrachtenden direkt vor der Betonwand und scheint darauf zu starren. Er trägt Mütze und Mantel. Die Arme hängen rechts und links am Körper herab. Er hat seine Füße zusammengestellt. Für die Dauer der Fotoaufnahme scheint er bewegungslos in dieser Position zu verharren. Die Mauer ist doppelt so hoch wie er selbst und der Ausschnitt der Fotografie ist so gewählt, dass der obere Mauerrand, 254 Ebd., 188 – 197. 255 Vgl. ebd., 189. 256 Ebd., 191. 257 Ebd., 190. 258 Ebd. 259 Ebd. 260 Ebd., 191. 261 Ebd., 189. 262 Ebd. 263 Vgl. hierzu ebd., 190.

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|  Eine Situation eröffnen und sich total freuen Abb. 20  Endre Tót, I am glad if I can look at the wall, West-Berlin, 1978, Schwarzweißfotografie

der aus einem runden Betonrohr bestand, mit dem oberen Bildrand abschließt. Von der Mauerarchitektur sind innerhalb des Bildrahmens drei längliche Betonplatten zu sehen und Tót steht exakt mittig vor der mittleren Platte. Am rechten Bildrand ist leicht angeschnitten der Buchstabe „N“ zu sehen. Er ist auf die Mauer gesprüht worden und scheint zu einem Wort zu gehören, das mit „N“ beginnt. Eine weitere Arbeit ist folgendermaßen bezeichnet: „Ich würde mich freuen, wenn ich etwas auf die andere Seite schreiben dürfte“ (1979; Abb. 21). In dieser Arbeit hat Tót den Satz in deutscher Sprache in vier Zeilen und in Versalien auf die Betonwand der Berliner Mauer geschrieben und dann abfotografiert. An dem Abstand zum oberen Mauerrand ist jedoch abzulesen, dass der Text etwas oberhalb des Kopfes angebracht ist. Der Ausschnitt der Fotografie ist so gewählt, dass sich der Satz in der Mitte der unteren Bildhälfte befindet. Über dem Mauerrand, der leicht diagonal zur oberen Bildkante verläuft, ist ein kleines Stück Himmel zu sehen. Der Künstler thematisiert hier die Sehnsüchte der geteilten Stadt: In der Vorstellung des Schreibens auf die andere Seite der Mauer versucht er die Unmöglichkeit des Vorhabens im künstlerischen Experiment gedanklich zu überwinden. Er würde sich freuen, wenn er im Osten etwas auf

Unterschiedliche Formen von Engagement in einer Situation  | Abb. 21  Endre Tót, Ich würde mich freuen, wenn ich etwas auf die andere Seite schreiben dürfte, West-Berlin, 1979, Schwarzweißfotografie.

die Mauer schreiben könnte, aus dem er gerade geflohen ist. Dies bleibt ihm jedoch verwehrt. Die Mauer ist eine wirkliche Grenze, eine Todeszone, in der Menschen auf der Flucht erschossen werden. Die Wand weist zudem auf die Isolation hin, in der sich der Künstler nicht nur in Budapest, sondern auch später noch in West-Berlin befinden sollte. Die Mauer ist eine physische Grenze, die sich dem Blick entgegenstellt: „Tót acted out physically the psychological restrictions on seeing.“ 264 Der von hinten fotografierte Künstler wirkt klein vor der hohen Betonmauer, die bis an den oberen Bildrand der Schwarzweißfotografie reicht und kein Stück Himmel frei lässt. Durch die Rückenansicht sind seine Augen nicht zu sehen. Das auf die Mauer gesprayte „N“ bekräftigt die Negation der Geste des Sehens. Absurd wirkt die Tatsache, dass der ungarische Künstler in West-Berlin davon träumt, etwas auf die Seite im Osten schreiben zu dürfen: Die Mauer funktioniert in beide Richtungen. Tót wird nach seinem Stipendium in West-Berlin nicht wieder in die Volkrepublik Ungarn zurückkehren, sondern sich in Westdeutschland niederlassen. Seine Arbeiten verbreitet Tót über das Mail Art-Netzwerk. Er versucht also zu kommunizieren und Grenzen zu überwinden. Auf den ersten Blick ähneln sich die Arbeiten von Kovanda und Tót. Sie setzen verwandte Gesten ein und arbeiten beide mit Handlungsanweisungen, die Möglichkeitsformen des Handelns und des Nicht-Handelns ausloten. Die Formen der Überlieferung und Distribution unterscheiden sich jedoch. Kovanda 264 Kemp-Welch 2007, 140.

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stellt seine Aktionen in Form von Fotografien aus, die auf weißen Karton geklebt und immer in derselben Art und Weise beschriftet sind. Stets sind das genaue Datum sowie der Ort mit den Namen der Straßen und Plätze angegeben. Bei Tót lässt sich der Ort nur erraten oder mit einiger Ortskenntnis anhand von Denkmälern und Gebäuden recherchieren. Auch die Medialisierung hat eine unterschiedliche Funktion und Bedeutung bei Kovanda und Tót. Wer fotografiert Tót, während er im öffentlichen Raum agiert? Der Künstler nennt keine Namen. Er besteht darauf, dass die Fotografinnen und Fotografen unwichtig sind.265 Kovanda hingegen nennt die Namen der Fotografinnen oder Fotografen. Die meisten seiner Aktionen wurden von Pavel Tuč fotografisch festgehalten. 2.5.3.2 Privater Raum – halböffentlicher Raum Einige der Aktionen, die Kovanda durchführte, fanden im Innenraum statt. Dabei handelt es sich nicht um seine privaten Wohnräume, sondern um halböffentliche Räume, wie den Keller des Museums für Angewandte Kunst in Prag. Die Räume waren nicht öffentlich zugänglich, es gab keine offizielle Einladung, sondern sie erfolgte mündlich und ging nur an einen kleinen Kreis von engeren Freundinnen und Freunden: „We organized performance events in different private spaces – cellars, store-rooms or empty apartments. It was only for a few invited friends, it wasn’t public.“ 266 Im Falle der unbetitelten Aktion x x x (1976), in der Kovanda auf einen Anruf wartet, nutzt er seinen Arbeitsplatz – jedoch zu einer Uhrzeit, in der außer ihm und seinem Freund Tuč niemand sonst zugegen war (Abb. 16). Der Raum veränderte sich während der Performance in einen halböffentlichen Raum, der theoretisch für Kolleginnen oder Kollegen und Vorgesetzte zugänglich war, in dem zum Zeitpunkt der Aktion jedoch etwas Privates durchgeführt wurde. Tót nutzte für seine Aktionen beinahe ausschließlich öffentliche Räume sowie das Béla Balazs-Filmstudio. Einige wenige Aktionen, die dokumentiert sind, fanden im Innenraum statt, wie zum Beispiel I am glad if I can do this (1973 – 75), bei der Tót die Faust ballte. Hinter ihm ist die Wand eines Zimmers zu sehen. Die Lichtverhältnisse weisen auf einen Innenraum hin, es sind jedoch keinerlei persönliche Gegenstände oder Möbel zu erkennen.

2.6 Histor ischer Kontext und die Netzwerk e der Neoavantgar de Kovanda und Tót bewegten sich beide innerhalb der Netzwerke der ostmitteleuropä­ ischen Neoavantgarden, insbesondere in engem Kontakt zur polnischen. Da es in den 1970er Jahren sowohl in der Volksrepublik Ungarn als auch in der Tschechoslowakei 265 Vgl. Kemp-Welch 2014, 152, Anm. 16. 266 Kovanda im Interview mit Tobi Maier im Jahr 2009, zit. nach: ebd., 207.

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kein öffentliches Forum für performative künstlerische Arbeiten gab, wichen beide auf polnische Galerien aus.267 Die Künstler entwickelten aufgrund der durch die politischen Verhältnisse erzwungenen Isolation ähnliche Strategien sich zu vernetzen und knüpften Kontakte im Ausland. Diese Strategien vermitteln ein anschauliches Bild der transnationalen Netzwerke der Neoavantgarden in den 1970er und 1980er Jahren in Ostmitteleuropa und darüber hinaus. Zentral ist hierbei die Rolle Polens: Die informellen künstlerischen Plattformen und Ausstellungsräume in Warschau, Łódź, Breslau und Posen (poln. Poznań) wurden von Kovanda wie auch von Tót genutzt. In der künstlerischen Entwicklung beider Künstler spielten zudem die internationalen Künstlernetzwerke der Neoavantgarde eine wichtige Rolle: Tót kam über die Mail Art mit ihnen in Kontakt – Kovanda vornehmlich über kleinere Künstlerzirkel in Prag und das persönliche Engagement einzelner Akteurinnen und Akteure, wie beispielsweise Petr Štembera, der intensive Kontakte zur internationalen Neoavantgarde pflegte und sein Wissen innerhalb der Zirkel weitergab. Es folgt nun zunächst eine kurze Darstellung des politischen Klimas der damaligen Zeit in der Tschechoslowakei und in der Volksrepublik Ungarn, um die Zwangslage zu beschreiben, in der sich Tót und Kovanda befanden, bevor die aus dieser spezifischen historischen Situation resultierenden (künstlerischen) Vernetzungsstrategien erläutert werden. 2.6.1 Der politische Kontext in der Tschechoslowakei Im Jahre 1948 wurde die Tschechoslowakei unter sowjetische Kontrolle gestellt. Der Kunstkritiker Jindřich Chalupecký beschreibt in seinem Essay The Intellectual under Socialism (1949)268 die weitreichenden Folgen dieses Umbruchs und wie die Zeit der Bürgerinnen und Bürger bis ins Detail vorbestimmt und kontrolliert wurde. Selbst die freie Zeit strukturiere sich in Formen vorgeschriebenen „organisierten Müßiggangs“ 269, so dass für die Beschäftigung mit privaten Angelegenheiten kein Raum blieb.270 Der Tod Iosif Vissarionovič Stalins (russ. Иосиф Виссарионович Сталин) 1953 führte in

267 Kemp-Welch schildert die damalige Situation in der ČSSR wie folgt: „[U]nder the conditions of normalization there was no opportunity to contact an official gallery-going public.“ Sie weist auf die doppelte Absenz eines konventionellen Publikums hin: „both on the street and in the traditional space of the gallery […]“. Siehe: ebd., 199. 268 Chalupecký 2002, 33. 269 „And let us not forget the diabolic invention of collective ‚organized leisure‘, which makes sure that people are unable to devote themselves to their own private concerns even during their vacations.“ Siehe: ebd. 270 Václav Havel beschreibt in seinem Aufsatz Six Asides about Culture (1984), dass es im sogenannten Realen Sozialismus keinen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Leben oder zwischen politischem und persönlichem Leben gab. Vgl. Havel 1991/II.

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Russland unter Nikita Sergeevič Chruščëv (russ. Никита Сергеевич Хрущёв) zu einer Phase der Entstalinisierung, bevor unter Leonid Il’ič Brežnev (russ. Леонид Ильич Брежнев) alle positiven Veränderungen wieder rückgängig gemacht wurden.271 In der Tschechoslowakei war die Entstalinisierung ein langsamer und zäher Prozess, der sich unter anderem in der späten Errichtung und nur wenige Jahre darauffolgenden Demontage eines riesigen Stalin-Denkmals abbildete. Aufgrund der langen Bauphase wurde das Denkmal erst im Jahre 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, eingeweiht. Im Jahre 1961 entschied ein eigens dafür einberufenes Komitee, die Statue endgültig zu zerstören und sie nicht durch eine andere zu ersetzen. Bis heute steht der 15 Meter hohe Sockel an derselben Stelle auf dem Letná-Hügel im Zentrum Prags und erinnert noch immer an die komplexe Geschichte dieses Ortes.272 Die Präsenz solcher Statuen im öffentlichen Raum und die langwierige Diskussion um ihre Entfernung ist deshalb so interessant für die hier untersuchten Aktionen, da die monumentalen Figuren das Stadtbild prägten, den idealen künstlerischen Umgang mit dem menschlichen Körper beispielhaft darstellen sollten und teilweise von den Performance-Künstlerinnen und -Künstlern in ihre Aktionen miteinbezogen wurden.273 Im Gegensatz zu Russland dauerte die Phase der Liberalisierung in der Tschechoslo­ wakei in den 1960er Jahren an, mündete im Frühjahr 1968 in den Prager Frühling und unter Alexander Dubček in die Einführung des sogenannten Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Dies hatte für kurze Zeit eine Lockerung der Einschränkungen der Presse-, Rede- und Reisefreiheit zur Folge.274 Diese kurze, aber intensive Zeit ermöglichte das Aufblühen einer tschechischen und slowakischen Nachkriegskultur, die auch die Aktionskunst einschloss.275 Bereits am 21. August 1968 führte jedoch die sowjetische Invasion zu einer Phase der sogenannten Normalisierung, die die absolute Wiederherstellung der zentralisierten Kontrolle, die Re-Kalibrierung des lokalen Systems und die Wiederanpassung an das sowjetische Modell bedeutete und harte Vorgehensweisen seitens der Regierung beinhaltete: Pressezensur, Einschränkung der Reisefreiheit sowie erhöhte Kontrolle durch die Geheimpolizei.276 Der Begriff „Normalisierung“ entstammt dem Moskauer Protokoll, das die tschechoslowakischen Führungskräfte am 27. August 1968 unterschreiben mussten. In dem Protokoll wird unter anderem die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts als „brüderlicher Beistand“ 277 271 Vgl. Bishop 2012, 131 f. 272 Vgl. Morganová 2014/II, 24. 273 Vgl. hierzu die Aktion mit der Lenin-Statue von Endre Tót I am glad if I can stand next to you (1973 – 75) in Kapitel 2.3.1 in dieser Arbeit. 274 Vgl. Bishop 2012, 131 f. 275 Vgl. Morganová 2014/II, 24. 276 Vgl. Bishop 2012, 131 f. 277 Vgl. Morganová 2014/II, 30.

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durch die Sowjetunion bezeichnet. Die Menschen begannen ein Leben mit einem „zweiten Gesicht“ 278: das eine diente dazu, die selbstzensierte eigene Meinung der Öffentlichkeit zu präsentieren, die Enthüllung des anderen Gesichts war dem Privatleben vorbehalten.279 Sogar kleine Kinder erlernten dieses Versteckspiel schnell, das unter anderem bereits 1978 von dem Dramatiker, Menschenrechtler und Politiker Václav Havel in seinem Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben demaskiert wurde.280 In Bezug auf die Performance-Kunst in der Tschechoslowakei hatten die Einschränkungen einen Rückzug ins Private zur Folge. Aktionen wurden meist nur noch in Anwesenheit einiger enger Freunde auf- oder durchgeführt. Nach Morganová war auch die verstärkte Hinwendung der Künstlerinnen und Künstler zum eigenen Körper eine Folge der gesellschaftlichen Situation. Der Körper stellte unter diesen Umständen gleichermaßen ein Medium der Befreiung dar wie eines, das auf existentielle Art und Weise Angst ausdrücken konnte.281 Wie in Kapitel 3 noch deutlicher herausgearbeitet wird, sind die durch den agierenden Körper geäußerten alltäglichen Handlungen und Gesten deshalb so gut geeignet, sowohl Angst als auch ein Gefühl der Freiheit zu artikulieren, weil Körper und Identität durch die stilisierte Wiederholung ebendieser Gesten und Bewegungen erst performativ hervorgebracht werden. Obwohl die Performenden nicht vollkommen frei wählen können, welche Möglichkeiten sie verkörpern oder welche Identität sie annehmen möchten, werden sie jedoch auch nicht vollständig von der Gesellschaft determiniert; und die performativen Akte, mit denen (geschlechtliche) Identität konstituiert wird, eröffnen den Performenden die Möglichkeit, sich durch sie selbst hervorzubringen, obwohl die Gemeinschaft durch performative Akte körperliche Gewalt auf die Einzelne oder den Einzelnen ausüben kann.282 Informationen über aktuelle künstlerische Entwicklungen in den USA oder Westeuropa erreichten die Tschechoslowakei vor allem über persönliche Kontakte. Einer der wichtigsten Multiplikatoren in den 1970er Jahren war Petr Štembera, der unter anderem den US-amerikanischen Performance-Künstler Chris Burden, die serbische Performance-Künstlerin Marina Abramović und den US-amerikanischen Konzeptkünstler Tom Marioni nach Prag einlud und selbst häufig im Ausland auftrat.283 Trotz dieser vereinzelten Möglichkeiten zum Austausch wurden die 1970er Jahre als eine dunkle Zeit empfunden und Veränderungen erst langsam mit der Veröffentlichung der Charta 77284 möglich, 278 Vgl. ebd. 279 Vgl. ebd. 280 Vgl. Havel 1989 [1978]. Dies wird noch weiter ausgeführt in Kapitel 3.5.4 in dieser Arbeit. 281 Vgl. Morganová 2014/II, 30. 282 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Butler in Kapitel 3.4.1. 283 Vgl. Morganová 2014/II, 31. 284 Die Charta 77 ist zum Beispiel auf folgender Webseite in deutscher Übersetzung zugänglich: http:// wendezeiten.philopage.de/detail/Charta77.asp?bURL=de/extras.asp [Zugriff am 15. 5. 2020].

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einem Manifest, das die Regierung kritisierte und von 243 Bürgern (darunter mehrere Künstlerinnen und Künstler) unterschrieben und am 6. Januar 1977 in westdeutschen Zeitungen veröffentlicht wurde. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner drückten ihre Besorgnis aus, dass die Bürger- und Menschenrechte in der Tschechoslowakei nur auf dem Papier existierten – obgleich das Land 1968 die UN-Menschenrechtscharta unterschrieben hatte.285 Das Recht auf Meinungsfreiheit, das in Artikel 19 des „International Pact on Civil and Political Rights“, veröffentlicht im „Codex of Laws of the CSSR / no. 120“ 286, garantiert wurde, entlarvten sie als „komplett illusorisch“ 287. Öffentliche Medien und kulturelle Institutionen wurden zentral kontrolliert, Zehntausende erhielten während der Phase der Normalisierung Berufsverbot, jungen Menschen wurde der Zugang zur Universität aufgrund der politischen Haltung ihrer Eltern verweigert.288 Die Regierung reagierte auf die Veröffentlichung der Charta 77 gewaltsam und inhaftierte mehrere Unterzeichnerinnen und Unterzeichner.289 Viele verloren ihre Arbeit, wurden verfolgt oder zur Emigration gezwungen.290 Trotzdem gab die Charta 77 den Impuls für eine organisierte Opposition in den 1980er Jahren und spielte eine Schlüsselrolle in der sogenannten Samtenen Revolution von 1989. Für künstlerische Aktionen, die in den 1960er Jahren noch ohne weiteres auf offener Straße hatten stattfinden können, bedeuteten die politischen Entwicklungen in den 1970er und 1980er Jahren, dass öffentliche Versammlungen verboten waren und somit jede Form von Aufführung im öffentlichen Raum unmöglich gemacht wurde.291 2.6.2 Kovanda in Warschau und seine Vernetzung innerhalb der Performance-Kunst-Szene in Prag Nach Polen reiste Kovanda zum ersten Mal im Frühjahr 1975 gemeinsam mit Freunden. Er schildert die Umstände, unter denen seine erste Ausstellung in Warschau zustande kam: By chance we visited Repassage Gallery – a small student space in Warsaw’s old town – and started talking with some guy there. Through him we met Zofía Kulik and Przemysław Kwiek, who showed me around the local scene.292 285 Kemp-Welch 2014, 219. 286 Ebd., 219 f. 287 Ebd., 220. 288 Ebd. 289 Vgl. Bishop 2012, 131 f. 290 Vgl. Morganová 2014/II, 33. 291 Vgl. Bishop 2012, 131 f. Auch Kovanda berichtet, dass künstlerische Aktionen auf offener Straße, in der Form wie Knížák sie durchgeführt hatte, ab 1969 unmöglich waren. Vgl. Interview Kühn – Kovanda. 292 Mančuška 2008, 146.

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Abb. 22  Ausstellung Kovandas in der Galerie Mospan in Warschau, 1976. Ausstellungsbesprechung von Tomasz Sikorski.

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Zofia Kulik und Przemysław Kwiek stellten auch den Kontakt zur Galerie Mospan und ihrem jungen Direktor Tomasz Sikorski her.293 In der Galerie Mospan, im Studentenclub der Technischen Universität Warschau, hatte Kovanda seine erste Ausstellung im November 1976 (Abb. 22).294 Es war eine Gruppenausstellung zusammen mit Pavel Tuč, der Kovandas Aktionen in Prag fotografisch dokumentiert hatte, hier jedoch auch mit eigenen Arbeiten vertreten war. Kovanda zeigte Fotografien seiner Aktionen, unter anderem x x x. 19. November 1976. Wenzelsplatz, Prag (Kovanda mit ausgebreiteten Armen auf dem Wenzelsplatz stehend; Abb. 19) und x x x. 18. November 1976. Prag („Ich warte, bis mich jemand anruft …“; Abb. 13). Er führte jedoch in Warschau keine Live-Performances durch.295 Während der 1970er und 1980er Jahre formten Kulik und Kwiek das Künstlerduo KwieKulik. 1971 gründeten sie das Atelier für Aktionen, Dokumentation und Verbreitung (Pracownia Działań, Dokumentacji i Upowszechniania (PDDiU))296 in ihrer Atelierwohnung in Warschau. In diesem Atelier begann das Künstlerduo ein Archiv aufzubauen, das vornehmlich Dokumentationen prozessorientierter und ephemerer Kunst beinhaltete mit dem Ziel, diese zu bewahren. Die gesammelten Dokumente beruhten vor allem auf Aktionen und Performances polnischer und internationaler Künstler der 1970er Jahre. In ihrer Atelierwohnung organisierten KwieKulik außerdem Ausstellungen und führten selbst Aktionen (działania) mit und ohne Publikum durch.297 Das Atelier für Aktionen, Dokumentation und Verbreitung stellte einen Treffpunkt und eine Plattform des Austauschs für Künstler aus ganz Ostmitteleuropa dar. In KwieKuliks Archiv befinden sich drei Schwarzweißfotografien, die Kovanda in den Räumlichkeiten des Ateliers für Aktionen, Dokumentation und Verbreitung zeigen (Abb. 23a).298

293 Vgl. Kemp-Welch 2014, 199. Die Galerie Mospan wird beschrieben als „[a]n art gallery that operated between January 1976 and December 1978 at the Warsaw University of Technology (WUT) Socialist Polish Students Union (SZSP), Klub Mospan in the ‚Babylon‘ dormitory at Kopińska Street in ­Warsaw. It was run by Tomasz Sikorski, with Tomasz Konart, from January 1977. The gallery itself, its manager and the program had nothing to do with the WUT, and with the SZSP only inasmuch that the organization provided some subsistence-level funding for the gallery’s operations. In this aspect it was a model situation for most independent galleries in 1970s Poland, a situation highly favorable from the viewpoint of artistic freedom.“ Siehe den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 480. 294 Vgl. Kemp-Welch 2014, 199. 295 Mančuška 2008, 146. 296 KwieKulik charakterisierten das PDDiU als „an alternative, private institution beyond institutions“. Sienkiewicz 2008, o. S. 297 Wilson 1999, 70. 298 Die Fotografien sind auf den 10. 8. 1976, den 15. 10. 1976 und den 16. 10. 1976 datiert. Siehe: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II, 414.

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Abb. 23a  Kovanda im Atelier-Archiv von KwieKulik (PDDiU) in Warschau, 1976.

Wie die Fotografien belegen, traf er dort nicht nur mit dem Künstlerduo KwieKulik und ihrem kleinen Sohn Dobromierz zusammen, sondern auch mit Przemysław Kwieks Bruder Paweł, mit dem jungen Galeristen Tomasz Sikorski und dem Konzeptkünstler Andrzej Partum 299 aus Łódź. Kovandas Begleiter Lumír Hladík 300 und Ivan Vacík 301 sind ebenfalls auf den Fotografien zu sehen. Auf einer Fotografie sind außerdem drei Diaprojektoren auf einem Tisch aufgebaut, und Zofia Kulik erläutert in ihrem Kommentar 299 Andrzej Partum war der Ehemann von Ewa Partum. Im Jahre 1972 gründeten sie gemeinsam die Galerie Adres. Vgl. Ausst. Kat. Karlsruhe 2001, 11. Vgl. hierzu auch: Interview Kühn – Partum. Ewa Partum ist auch auf einigen Fotografien in KwieKuliks Archiv zu sehen. Siehe: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II, 413. 300 Lumír Hladík ist ein tschechischer Performance-Künstler, der in den 1970er Jahren eng mit Kovanda befreundet und beispielsweise während der Aktion von 1978 anwesend war, in der Kovanda von seinen Freunden wegrannte. Vgl. hierzu Kapitel 2.4.1.2. Hladíks Performance The Mirrored Sea (1980) ist eines der wenigen Beispiele der tschechischen Aktionskunst, das mit Hilfe von Schwarzweißfilm dokumentiert wurde. Der Künstler wanderte 1981 nach Kanada aus und setzte dort seine künstlerische Arbeit fort. Vgl. hierzu Morganová 2014/II, 35 f. Vgl. hierzu auch die Webseite des Künstlers: http:// www.lumir.ca/en/pages/biografie [Zugriff am 15. 5. 2020]. 301 Ivan Vacík war ein Freund Kovandas. Vgl. hierzu die editorische Notiz im Kommentar von Zofia Kulik in: Jeřabková 2010, 17.

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Abb. 23b  Erklärung Zofia Kuliks zu der Fotografie von Kovanda im Atelier-Archiv von KwieKulik (PDDiU) in Warschau, 1976.

zu dem Foto, dass sie damals eine Projektion mit Dias aus ihrem Archiv vorgeführt haben (Abb. 23b).302 Zwei weitere Schwarzweißfotografien aus KwieKuliks Archiv zeigen die tschechischen Body-Art-Künstler Petr Štembera, Jan Mlčoch und Karel Miler als Gäste, die damals die Performance-Kunst-Szene in Prag dominierten.303 Ihr Aufenthalt in Warschau überschnitt sich jedoch nicht mit demjenigen von Kovanda. Er schildert in einem Interview die Absurdität, dass er von diesen beiden Künstlern erst über KwieKulik erfuhr und anschließend an seine Reise nach Polen sofort Kontakt zu ihnen aufnahm: Paradoxically, it was through them that I got Petr Štembera’s phone number here in Prague. When I got back, I called him right away. He was really helpful and invited me over. That’s how I met Jan Mlčoch and Karel Miler, too.304

302 Vgl. hierzu den Kommentar von Zofia Kulik in: ebd. 303 Die Fotografien sind auf den 4.5.1976 datiert. Siehe: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 413. Im Archiv befinden sich außerdem Fotografien, die den kroatischen Performance-Künstler Tomislav Gotovac in den Räumlichkeiten des PDDiU zeigen und auf den 22. 11. 1978 datiert sind. 304 Mančuška 2008, 146.

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Diese Erzählung verdeutlicht, dass Kovandas Reise nach Warschau und vor allem der Kontakt zu KwieKulik seine Vernetzung innerhalb der Performance-Kunst-Szene in Prag erst initiierten.305 Kovanda begann sich mit Štembera, Mlčoch und Miler auszutauschen und war fasziniert von ihren Arbeiten. Die expressive Art und Weise, wie die drei Künstler ihren Körper in Performances einsetzten, die oftmals Schmerzgrenzen austesteten und teilweise auch überschritten, sowie die Aufführungspraxis vor LivePublikum war ihm jedoch fremd und er suchte andere Wege.306 Štembera war auch derjenige, der Kontakt zu US-amerikanischen Performance-Künstlern wie Chris Burden pflegte, die Kovanda ebenfalls beeinflussten.307 Mit den slowakischen Performance- und Konzeptkünstlerinnen beziehungsweise -künstlern hatte Kovanda wenig Kontakt. Er kannte zwar die Arbeiten Július Kollers, erklärt jedoch in einem Interview, dass diese für ihn damals vollkommen unverständlich waren.308 Auch die Arbeiten der Wiener Aktionisten standen im Gegensatz zu Kovandas Arbeitsweise. Er erzählt jedoch, dass ihre Performances damals ausführlich diskutiert wurden und die Wiener Aktionisten in dieser Hinsicht Teil der Performance-Kunst-Szene in Prag waren.309 Kovandas Aktionen entstanden also nicht aus dem Nichts heraus – er wusste über aktuelle Entwicklungen der internationalen Performance-Kunst-Szene Bescheid und kannte die wichtigsten Positionen zumindest aus Erzählungen.310

305 Auch Kemp-Welch weist auf dieses Paradox hin und zitiert Štembera, der die Tatsache, dass Künstler, die aus derselben Stadt kamen, sich über Kontakte im Ausland kennenlernten, als „symptomatisch für unsere Situation“ bezeichnete. Das Zitat stammt aus einem Brief von Štembera an das Künstlerduo KwieKulik, der sich heute im KwieKulik-Archiv befindet. Siehe: Kemp-Welch 2014, 192. 306 Kovanda erwähnt hier auch den Einsatz von Requisiten bei Štembera, den er selbst versuchte, in seinen Performances zu vermeiden. Vgl. Mančuška 2008, 147. 307 Außerdem erwähnt Kovanda die Arbeiten des US-amerikanischen Performance-Künstlers Vito Acconci, die nach eigener Aussage eine große Entdeckung für ihn waren. Vgl. ebd. Kovanda kannte die Arbeiten Acconcis jedoch nur von Abbildungen in Katalogen oder Kunstmagazinen, er sah in den 1970er Jahren niemals ein Video von Acconci. Einige performative Arbeiten, die er bereits in den 1970er Jahren durch Fotografien oder Filmstills kennengelernt hatte, sah er erst viele Jahre später zum ersten Mal als Film oder Video. Im Gespräch erwähnt er beispielsweise die Arbeit Light/Dark (1977/78) von Marina Abramović/Ulay, die er 2015 in Berlin zum ersten Mal auf Video sah. Vgl. Interview Kühn – Kovanda. 308 Mančuška 2008, 147. 309 Kovanda fügt hinzu, dass Fluxus ihn nie interessiert habe, da es ihm zu „theatralisch“ sei. Vgl. ebd. 310 Bereits im Jahre 1969 nahm ein Freund den 16-jährigen Kovanda mit in eine Duchamp-Ausstellung in der Václav-Špála-Galerie in Prag. Vgl. Kemp-Welch 2014, 192, und Smolik 2008, 144. Kovanda selbst erinnert sich bis heute an die Ausstellung, erklärt jedoch, er habe sie damals nicht verstanden. Vgl. das Interview Kühn – Kovanda.

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2.6.3 Ungarische Volksrepublik: Unterstützen, dulden, verbieten Offiziell gab es in der Ungarischen Volksrepublik der 1970er Jahre zwar keine Zensur als „legal operierende Institution“ 311. Doch der gleichnamige Kurzfilm 312 zu der Aktion I am glad if I can take one step (1973 – 1975) wurde laut Kemp-Welch nach einer informellen Aufführung vor einer Gruppe von Studierenden von den Zensorinnen und Zensoren konfisziert. Einen Schritt zu machen – das war für die ungarische Obrigkeit ein Schritt zu viel.313 Die Freude über solche banalen Tätigkeiten stellte in der Volksrepublik Ungarn eine Provokation dar. Seit Ende der 1960er Jahre wurde die Politik der „3 T“ 314, abgeleitet von den ungarischen Wörtern támogatni, tűrni, tiltani (unterstützen, dulden, verbieten), des Kulturpolitikers György Aczél „in den Händen von Parteifunktionären und kleinen Beamten“ 315 zu einem beliebten Manipulationswerkzeug.316 Durch diese Form der Politik entstand eine repressive Atmosphäre, die erst gegen Ende der 1970er Jahre durch ein neues ökonomisches Regime, den sogenannten Gulaschkommunismus, abgelöst wurde.317 Das ungarische Kulturressort ordnete die Einteilung aller künstlerischen Arbeiten entsprechend den „3 T“ in die drei Kategorien „förderungswürdig“, „tolerierbar“ und „verboten“ ein und entschied so über die öffentliche Präsentation der Werke.318 Wie der Kunsthistoriker und Kurator László Beke berichtet, funktionierte das Prinzip „ziemlich widersprüchlich, es unterlag der Gunst und Laune einiger Kritiker oder Beamter, konnte, musste aber nicht ausgespielt werden“ 319. Da ein weiteres disziplinarisches Mittel der Machthabenden gegenüber Künstlerinnen und Künstlern die Verweigerung beziehungsweise der Entzug des Reisepasses war, boten sich Möglichkeiten zu Auslandsreisen gar nicht oder nur sehr begrenzt.320 Das Aufkommen der Mail Art leitete daher eine neue Epoche künstlerischen Austauschs ein und auch Tót, der nach Möglichkeiten suchte, mit Kunstschaffenden in Westeuropa und in den USA in Kontakt zu treten, begann dieses Kommunikationssystem mit Beginn der 1970er Jahre zu nutzen.

311 „There is no censorship in Hungary as a legally operating institution.“ Schöpflin 1983, 147; vgl. hierzu auch Kemp-Welch 2007, 138, und Beke 1999, 214. 312 Der 16mm-Film wurde 1972 vom Béla-Balázs-Studio produziert und sollte als Vorfilm im Kino laufen. Vgl. Interview Kemeny/Kühn – Tót. 313 Vgl. Kemp-Welch 2007, 138. 314 Beke 1999, 213. 315 Ebd. 316 Vgl. ebd. 317 Vgl. Piotrowski 2009/III, 273 f. 318 Vgl. Schwarz 2008, 300. 319 Beke 1999, 214. 320 Vgl. ebd., 219.

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2.6.4 Tót und das Netzwerk der Mail Art Bereits ab der Mitte der 1970er Jahre veranstaltete Tót die meisten seiner Zero-Aktionen im Ausland. Im Jahre 1972 war er an einer Ausstellung in der Galerie Foksal in Warschau beteiligt, wo er eine Stempelaktion mit dem Titel I am glad if I can stamp in Warsaw too durchführte.321 Im Frühling 1973 eröffnete er eine Einzelausstellung in Ewa Partums Autorengalerie Galerie Adres in Łódź.322 In einem Interview erinnert er sich: „Poland was at that time for me really very free […]. I knew the Polish art scene twenty times better than the Hungarian.“ 323 Im Jahre 1974 gewann Tót den ersten Preis der Internationalen Triennale für Zeichnung (Międzynarodowe Triennale Rysunku) in Breslau. Zu dem Wettbewerb gab es eine große Ausstellung, an der sich auch amerikanische Künstlerinnen und Künstler beteiligten. Dies führte zu einem Skandal in der Volksrepublik Ungarn, da Tót keine Genehmigung hatte, an dieser Ausstellung teilzunehmen. Sein Beitrag bestand aus einem sehr großen Blatt an einer Wand, auf das er in Augenhöhe eine horizontale Linie zeichnete und darunter den Satz schrieb: „I am glad if I can draw a line“.324 Ein Jahr später fand in Posen in der Galerie Akumulatory 2325 die Aktion I am glad if I can type zeros statt (Abb. 20). Drei Tage lang tippte Tót nur Nullen. Die mit Schreibmaschine beschriebenen Blätter wurden an die Wände der Galerie geklebt. Eine Woche später sandte er die „Zeropost“ mit „Zeropost“-Briefmarken in die Welt.326 Als Tót Anfang der 1970er Jahre mit seinen Aktivitäten im Netzwerk der Mail Art begann, hatte er kaum Kontakt zur ungarischen Neoavantgarde in Budapest. Er galt als Pionier der ungarischen Informel-Malerei, fühlte sich jedoch aufgrund dieser Vorreiterrolle isoliert. Informel-Malerei entsprach nicht den Forderungen der damaligen Kulturpolitik, die den Sozialistischen Realismus propagierte, und wurde daher weder anerkannt noch gefördert. Aus diesen Gründen konnte der Künstler von seiner Malerei nicht leben 321 Kemp-Welch 2014, 163. 322 Ebd., 165. Die künstlerische Vernetzung wurde in vielen Fällen durch soziale Beziehungen ergänzt. Endre Tót und Ewa Partum haben beispielsweise eine gemeinsame Tochter (Berenika). Vgl. die Aussagen Tóts in: Interview Kühn – Tót. 323 Tót zit. nach: Kemp-Welch 2014, 165. Ähnlich äußert sich auch Kovanda über Polen als Ort der Inspiration und des Austauschs während der 1970er Jahre: „The atmosphere there was much freer; normal exhibitions were held there.“ Er erzählt, dass er über einen Zeitraum von zwei oder drei Jahren insgesamt elf Mal in Warschau war. Aussage Kovandas in: Obrist 2006, 105. Zwischen den Performance-Künstlerinnen und -Künstlern in Budapest und Prag gab es hingegen kaum einen Austausch. Kovanda berichtet, dass er Budapest lediglich einmal als Tourist besuchte. Am Mail Art-Netzwerk war er im Gegensatz zu Tót nicht beteiligt. Aussage Kovandas in: Interview Kühn – Kovanda. 324 Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 325 Die Galerie Akumulatory 2 stellte auch Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus westeuropä­ ischen Ländern aus. Vgl. Aussage Tóts ebd. 326 Vgl. Smolinska 2011.

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und begann, für ein niedriges Gehalt an einer Druckerschule Grafik zu unterrichten.327 Im Jahre 1970 gab er die Malerei gänzlich auf, da er keine Möglichkeiten hatte auszustellen und die Arbeitssituation in seiner als Atelier genutzten Küche sehr beengt war.328 Nachdem er sich der Konzeptkunst zugewandt hatte, beschäftigte er sich ausschließlich mit der von ihm als „westlich“ 329 bezeichneten Avantgarde. Erst viel später, als er bereits im Exil wohnte, stellte Tót fest, dass zu der Zeit, als er in Budapest seine ersten Aktionen durchgeführt und mit neuen Medien experimentiert hatte, auch andere Künstlerinnen und Künstler dort konzeptuell und performativ gearbeitet hatten.330 Wie Tót in einem Interview erinnert, wurde der Postverkehr zu der damaligen Zeit nicht zensiert.331 Dies ermöglichte es ihm, aus seiner selbst gewählten „inneren Emigration“ 332 auszubrechen und sich auf dem Postweg mit der internationalen Avantgarde auszutauschen.333 Täglich verschickte und empfing der Künstler fünf bis sechs Briefe und Postkarten über das Mail Art-Netzwerk. Auf diese Weise korrespondierte er unter anderem mit Fluxus- und Konzeptkünstlern wie George Brecht, Robert Filliou, Dick Higgins, Milan Knížák, Ben Vautier und Lawrence Weiner. Sie nahmen an seinen Zero-Aktionen teil und füllten seine Fragebögen aus, die er mit der Aufschrift „I am glad if I can ask you questions“, „Some Nullified Questions for You“ oder „TÓTal questions by TÓT“ an sie verschickte (Abb. 24 – 26).334 Tót pflegte jedoch auch innerhalb Ostmitteleuropas intensive Kontakte zu anderen Künstlerinnen und Künstlern wie Jiří Valoch, Jiří Kocman und Petr Štembera, wie er in einem Videostatement auf der Online-Plattform The Central European Art Database (CEAD) bestätigt.335 In seinen Briefen reduzierte Tót die Botschaft auf aneinandergereihte 327 Vgl. Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 328 Tót lebte damals in einem Arbeiterviertel in einer sehr kleinen Wohnung ohne Badezimmer, in deren Küche er mehrere 100 Informel-Bilder malte. Später bekam er eine bessere Wohnung mit mehr Komfort, die jedoch ebenfalls sehr klein war. Erst nach seinem Umzug nach Köln im Jahre 1990 besaß Tót sein erstes eigenes Atelier. Vgl. Aussage Tóts ebd. Auch Kovanda war zu Anfang seiner künstlerischen Tätigkeit von den Surrealisten inspiriert, gab jedoch nach einer Weile die Produktion von Zeichnungen und Kollagen auf und wandte sich der Performance- und Aktionskunst zu. Vgl. Kemp-Welch 2014, 192. 329 Vgl. hierzu die Aussagen Tóts in: Interview Kemeny/Kühn – Tót. Vgl. hierzu außerdem Perneczky 1995, 33 sowie Smolinska 2011. 330 Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 331 Für besonders wichtige Sendungen reiste Tót jedoch nach Belgrad, um sie von dort abzuschicken. Vgl. Ausst. Kat. Berlin 2007, 269 und Perneczky 1995, 34 sowie Smolinska 2011. 332 Smolinska 2011. Eine deutsche Fassung des Interviews wurde der Autorin vom Künstler zur Verfügung gestellt. 333 Vgl. hierzu die Aussagen Tóts in: Interview Kemeny/Kühn – Tót. 334 Vgl. Perneczky 1995, 34. 335 Siehe den Eintrag zu Endre Tót und das dazugehörige Videostatement auf der Plattform The Central European Art Database (CEAD): http://cead.space/index.php/Detail/people/id:49/view/videos (Zugriff am 17. 1. 2020).

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Abb. 24  Endre Tót, I’d be glad if you answered my questions, TÓTal Questions by TÓT, ausgefüllt von George Brecht, 1974.

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Abb. 25  Endre Tót, „Letter to Ken Friedman’s Dog“, 1973.

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Abb. 26  Endre Tót, „Letter to John Armleder“, 1974.

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Nullen und wandelte sie auf diese Weise in eine Nicht-Botschaft um. Meist antworteten die Künstlerinnen und Künstler ihm in ähnlicher Weise, indem sie unleserlich schrieben oder – wie Brecht – den Bogen scheinbar unausgefüllt mit der markierten Anweisung „please print clearly“ zurücksandten (Abb. 24). Tót erzählt zum Beispiel über seinen Austausch mit Richard C 336: „Wir sandten uns jahrzehntelang sehr ausgefallene, merkwürdig gestaltete Postsendungen, aber wir haben einander nie einen ‚normalen‘ Brief geschrieben.“ 337 Im Jahre 1973 wurde Tót eingeladen, nach Blackburn zu reisen, um an dem durch mehrere Städte wandernden FLUX shoe-Festival teilzunehmen, das dort Station machte. Tót hatte Sorge, keine Ausreisegenehmigung zu bekommen. Er ging ins Kultusministerium und wurde dort gefragt: „Was ist dieses ‚Fluxus‘? Sagen Sie mir ehrlich: Ist das eine faschistische oder eine klerikale Organisation?“ Tót antwortete: „Etwas ganz anderes.“ 338 Daraufhin bekam er eine zweimonatige Ausreisegenehmigung. In Blackburn führte Tót erneut I am glad if I can type zeros auf (Abb. 17).339 2.6.5 Auf beiden Seiten des ‚Vorhangs‘ 1978 erhielt Tót die Möglichkeit mit einem DAAD-Stipendium für ein Jahr nach WestBerlin zu gehen. Nach einem langwierigen Ausreiseverfahren bekam er schließlich die Genehmigung und lebt und arbeitet seitdem in Deutschland – zunächst in West-Berlin, seit 1980 in Köln. Im West-Berlin der 1970er Jahre verschob sich die Bedeutung der TÓTalJOYS. Viele Ideen für Aktionen, die der Künstler bereits in Budapest entwickelt hatte, realisierte er erst ab diesem Zeitpunkt.340 Die unterschwellige Kritik funktionierte auch in Westeuropa – wenn auch leicht verändert: So wurden in der Aktion Ich freue mich, wenn ich auf Plakaten werben kann 341 (1979) die Möglichkeiten und Grenzen kapitalistischer Werbung hinterfragt. Einige seiner Aktionen liefen jedoch auch ins Leere: Bei einer Flyer-Aktion in Gent und Budapest verteilte Tót auf der Straße leere DIN A4-Blätter an Passantinnen und Passanten. Die Leute schauten sich die Blätter sehr ruhig auf der Vorder- und Rückseite an und gingen dann weiter: „Die annullierte Message fiel in das Nichts.“ 342

336 Richard C war Tót zufolge ein Freund von Ray Johnson. Vgl. Smolinska 2011. 337 Aussage Tóts ebd. 338 Aussage Tóts in: Interview Kühn – Tót. 339 Aussage Tóts ebd. 340 Vgl. hierzu die Aussagen Tóts in: Interview Kemeny/Kühn – Tót. 341 Spätere Arbeiten wurden vom Künstler oftmals in der Sprache des Landes betitelt, in dem die Aktion durchgeführt wurde. 342 Zit. nach: Smolinska 2011.

Zwischenfazit |

2.7 Zw ischenfazit Wie in der vergleichenden Analyse der Arbeiten Tóts und Kovandas deutlich wurde, ist der Ort, an dem die Performance stattfindet von entscheidender Bedeutung. Ist es ein städtischer und belebter Raum oder ein abgelegener Ort, möglicherweise in der Natur? Befindet sich der Ort in einem Land, in dem Kunstschaffende durch strenge Regeln und Gesetze eingeschränkt werden, in dem die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist und die Ein- und Ausreise in das oder aus dem Land strikt reglementiert sind und überwacht werden – oder befindet sich der Ort in einem Land, in dem experimentelle Kunstprojekte nicht nur geduldet, sondern sogar staatlich gefördert werden und in dem Künstlerinnen und Künstler ungehindert über Grenzen hinweg miteinander kommunizieren und sich gegenseitig Besuche abstatten können? Wie mit Bezug auf de Certeau gezeigt werden konnte, ist die Art und Weise, wie die Künstlerin oder der Künstler sich an dem von ihr oder ihm ausgewählten Ort bewegt, ausschlaggebend. Die Gesten verwandeln den Ort in einen Raum. Durch ihre Bewegungen können Künstlerinnen und Künstler sowohl Verbote als auch Möglichkeiten aktualisieren und erhalten somit Handlungsmacht. Der zweite wichtige Faktor ist die Präsenz einer oder mehrerer Kameras in der Situation der Aufführung. Dabei ist nicht entscheidend, wer fotografiert und filmt, sondern lediglich, dass fotografiert und/oder gefilmt wird. Diese Tatsache ist so zen­ tral, weil durch die Anwesenheit das zukünftige Publikum involviert wird. Auch wenn in der Situation zufällig vorbeigehende Fußgängerinnen und Fußgänger oder auch ein explizit eingeladenes Publikum anwesend sind, so macht erst der Einbezug des zukünftigen Publikums den Raum, in dem die Performance oder Aktion stattfindet zu einem halböffentlichen oder sogar öffentlichen Raum. Warum dies insbesondere für Künstlerinnen und Künstler wichtig war, die ausschließlich für die Kamera und nicht für ein eingeladenes oder zufällig vorbeigehendes Publikum performten, wird im folgenden Kapitel erläutert.

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3 Performances für die Kamera – Natalia LL und Ion Grigorescu im Vergleich 3.1 Einführung In diesem Kapitel werden performative Arbeiten der polnischen Künstlerin Natalia Lach-Lachowicz (*1937; Künstlername: Natalia LL 1 ) und des rumänischen Künstlers Ion Grigorescu (*1945) vergleichend analysiert. Es handelt sich dabei um Aktionen für die Kamera und ohne Live-Publikum in einem privaten Umfeld. Die Arbeit Sztuka konsumpcyjna (Konsum-Kunst) von Natalia LL ist 1972 in Interaktion mit einer 16mmFilmkamera entstanden.2 Es existieren jedoch auch fotografische Serien mit demselben Titel (Abb. 27). Auch die Aktionen Pijamaua (Pyjama)3 und Lăutul (Waschen) von Grigorescu von 1976 beziehungsweise 1978 gingen aus der Interaktion mit einer Fotokamera hervor und wurden in Form einer fotografischen Serie medialisiert (Abb. 28 und 29). Sowohl zum Werk Natalia LLs als auch zu dem Grigorescus existieren einzelne Publi­ kationen, die einen Überblick geben. Die inhaltlich fundierte Auseinandersetzung mit den Arbeiten fand bisher jedoch lediglich in einzelnen wissenschaftlichen Aufsätzen statt. Das gesamte Werk Natalia LLs im Kontext der Galerie und Künstlergruppe P ­ ERMAFO ist in dem Ausstellungskatalog Permafo (2012) sorgfältig dokumentiert.4 Oftmals wurde ihr Werk ausgehend von feministischen Fragestellungen untersucht, wie zuletzt in dem Ausstellungskatalog Natalia LL. Doing Gender (2013).5 Primärtexte von Natalia LL ­wurden 1 Natalia LL nennt das Jahr 1971 als Zeitpunkt für die Annahme ihres Künstlerinnen-Pseudonyms, das im Folgenden statt ihres bürgerlichen Namens verwendet wird. Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. 2 Natalia LL, Sztuka konsumpcyjna, 1972, 7’36’’, schwarzweiß, ohne Ton. Publiziert in: BWA Wrocław Galeria Sztuki Współczesnej (Hg.): Natalia LL. DVD-Compilation. Wrocław 2006. 3 Vgl. die Werkangaben in: Gantenbein 2015, 219. 4 Ausst. Kat. Wrocław 2012/II. 5 Ausst. Kat. Warszawa 2013/I. Vgl. hierzu beispielsweise Jakubowska 1997 oder Jakubowska 2007 und Piotrowski 2009/III, 353. Der von Ewa Toniak herausgegebene Katalog zur Ausstellung 3 Women nähert sich den drei als feministisch geltenden polnischen Künstlerinnen Maria Pinińska-Bereś, Ewa Partum sowie Natalia LL und ihrem künstlerischen Schaffen der 1970er Jahre aus einer vergleichenden Perspektive heraus: Ausst. Kat. Warszawa 2011. Eine weitere Publikation von Ewa Toniak aus dem Jahr 2008 untersucht Frauenrollen in Polen während der kommunistischen Zeit: Toniak 2008. Ebenfalls vergleichend wurde eine frühe Ausstellung zum gleichen Thema konzipiert: Ausst. Kat. Aarau 1995. Das Werk der polnischen Performance-Künstlerin Ewa Partum wurde in der Literatur umfassend im Hinblick auf feministische Fragestellungen untersucht. Weitere Literatur zu Ewa Partum bieten zwei Ausstellungskataloge: Ausst. Kat. Karlsruhe 2001. – Ausst. Kat. Łódź 2015.

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Abb. 27  Natalia LL, Sztuka konsumpcyjna (Konsum-Kunst), 1972, Schwarzweißfotografien, Gesamtmaße: 100 × 100  cm.

von ihr selbst in dem Band Natalia LL  – Texty (2004) herausgegeben.6 Zum Werk Grigorescus erschien 2013 ein Werkverzeichnis, in dem mehrere wissenschaftliche Aufsätze publiziert wurden.7 Ileana Pintilie hat einschlägig zu seinem Werk publiziert: Sie behandelt es in drei Aufsätzen sowie in einer Monografie zur rumänischen Aktionskunst.8 6 Natalia LL 2004/I. 7 Şerban 2013. Weitere Aufsätze, unter anderem von Georg Schöllhammer und Jan Verwoert, finden sich in dem folgenden Ausstellungskatalog: Ausst. Kat. Warszawa 2010. Zwei kürzlich erschienene (Künstler-)Publikationen geben ebenfalls einen guten Überblick über Grigorescus Werk: Grigorescu 2013 und Prucca 2016. 8 Pintilie 2002/II. – Pintilie 2007. – Pintilie 2009. – Pintilie 2013. – Pintilie 2014.

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Abb. 28  Ion Grigorescu, Pijamaua (Pyjama), 1978, Aktion, Serie von vier Schwarzweißfotografien, Gesamtmaße: 46 × 33,7 cm, Maße der einzelnen Schwarzweißfotografien: 14 × 9 cm.

Einführung |

Abb. 29  Ion Grigorescu, Lăutul (Waschen), 1976, Aktion, sechs Schwarzweißfotografien, Serie von sechs Silver Prints (produziert 2014), 28 × 42 cm (ungerahmt).

Piotr Piotrowski führt in seiner Publikation In the Shadow of Yalta (2009) einen äußerst interessanten Vergleich mit den zeitgleich entstandenen Performances des polnischen Künstlers Jerzy Bereś durch.9 Die Tagebücher Grigorescus aus dem Zeitraum zwischen 1970 und 1975 wurden 2014 von Schöllhammer herausgebracht.10 Gabriela Gantenbein hat 2015 das Buch Textures of Thought. Geta Brătescu, Ion Grigorescu, Dan Perjovschi  11 9 Piotrowski 2009/III, 382 – 387. 10 Mihail/Schöllhammer 2014. 11 Gantenbein 2015.

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herausgegeben, das sich durch exzellente Beiträge von Kristine Stiles und der Schriftstellerin Hélène Cixous zum Werk Grigorescus auszeichnet. Ein Interview mit Grigorescu erschien 2011 in dem Ausstellungskatalog des rumänischen Pavillons zur 24. Biennale in Venedig.12 Persönliche Gespräche konnten sowohl mit Grigorescu in Bukarest 13 als auch mit Natalia LL in Breslau 14 geführt werden. Mit Natalia LL wurde darüber hinaus ein E-Mail-Interview geführt.15 Zunächst werden die Arbeiten vorgestellt und beschrieben. In der daran anschließenden vergleichenden Analyse wird untersucht, was genau im jeweiligen Produktions- und Rezeptionsprozess passiert. Nach und nach werden weitere Arbeiten der beiden Performenden für einen erweiterten Vergleich herangezogen. In der Analyse wird gezeigt: 1.  auf welche Art und Weise die Performativität der Aktionen in der (Wieder-)Aufführung des filmischen und fotografischen Materials durch die Betrachtenden (re-) akti­viert wird; 2.  inwiefern die Definition einer „sozialen Situation“ 16 des Soziologen Erving Goffman hilfreich ist, um die Produktions- und Rezeptionsprozesse einer Performance für eine Kamera zu beschreiben und ihre einzelnen Komponenten genau zu bestimmen; 3.  dass Serialität und Wiederholung zwei Strategien beziehungsweise Techniken innerhalb der Medialisierung der Performance sind, durch die die Präsenz des Körpers performativ hervorgebracht wird. Dabei wird folgenden Fragen nachgegangen: 4.  Um welche Formen der Interaktion zwischen Performenden – Kamera und Betrachtenden handelt es sich jeweils? 5.  Welche Art von (Ko-)Präsenz von Performenden und Betrachtendenkörpern wird während der Produktion und während der Rezeption vorübergehend erzeugt? 6.  Auf welche Weise werden die Körper der Agierenden während der Produktion und daran anschließend der Betrachtenden während der Rezeption (wieder-)aufgeführt und (re-)produziert? Anschließend werden die Arbeitsbedingungen Natalia LLs und Grigorescus sowie die jeweiligen Auswirkungen innerhalb der Gesellschaft und darüber hinaus miteinander verglichen und zueinander in Kontrast gesetzt. Gerade weil die Entstehungskontexte der hier untersuchten Arbeiten unterschiedlich sind, ist es interessant herauszuarbeiten, inwiefern Natalia LL und Grigorescu mit ähnlichen Mitteln arbeiten. Eine Gegenüberstellung der 12 13 14 15 16

Cios 2011. Vgl. Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Vgl. Interview Kühn – Natalia LL I. Vgl. Interview Kühn – Natalia LL II. Goffman 22001 [1982], 55. Vgl. hierzu auch Kapitel 2 2.5 in dieser Arbeit.

Person und Identität: Natalia LL und ihr Dialog mit der Kamera   |

beiden Werke hinsichtlich der Frage nach Definition und (Re-)Definition einer sozialen Situation und der damit verbundenen Ko-Präsenz von Betrachtenden- und Performendenkörpern erweist sich als äußerst produktiv. Im Anschluss an die Frage, inwiefern die künstlerischen Arbeiten jeweils ähnlich oder unterschiedlich in der Volksrepublik Polen und in der Sozialistischen Republik Rumänien sowie außerhalb dieser Länder wahrgenommen wurden, wird die Interaktion von Kunst, Alltag und politischer Rahmenkonstellation untersucht. Die Gegenüberstellung macht deutlich, wie der historische Kontext die Bedeutung der künstlerischen Aussage verändert.

3.2 Person und Identität: Natalia LL und ihr Dialog mit der K a mer a Der Werkzyklus Konsum-Kunst entstand in einem Zeitraum von 1971 bis 1975.17 Es handelt sich um mehrere performative Arbeiten für Foto- und 16mm-Filmkamera 18, sowohl in Schwarzweiß als auch in Farbe. Die aus der Performance entstandenen Filme sind ohne Ton und wurden von der Künstlerin selbst aufgenommen.19 Auf den Fotografien sehen wir eine junge Frau, die für die Arbeit in einem privaten Raum und ohne Live-Publikum performt (Abb. 27). Während der Aufnahme bewegte sie sich vor der Kamera und führte einfache Gesten durch. Dabei blickte sie fortwährend in das Auge der Kamera. Auf den ersten Blick erscheint es, als hätte die Künstlerin persönlich für die Kamera performt. Dieser Eindruck trügt jedoch, denn Natalia LL arbeitete für diese Serie mit mehreren Modellen.20 Die Modelle sehen der jungen Natalia LL täuschend ähnlich und ihre Gesichter sind Teil der Künstlerinnenidentität „Natalia LL“ 21, die die Künstlerin 1971 annahm:

17 Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. Dem Zyklus Konsum-Kunst folgte 1975 der Zyklus Sztuka postkonsumpcyjna (Post-Konsum-Kunst) – ebenfalls in Form von fotografischen und filmischen Arbeiten mit performativem Charakter. Die Frisur der Künstlerin ändert sich in den verschiedenen filmischen Versionen: Mal trägt sie die blonden und leicht gelockten Haare schulterlang und offen, mal zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie ist jedoch immer geschminkt. Ihre Lippen und Fingernägel sind rot, ihre Augen schwarz betont. 18 Die Künstlerin verwendete eine 16mm-Filmkamera vom Typ Krasnogorsk aus sowjetischer Produktion. Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. 19 Für die Aufnahme verwendete Natalia LL künstliches Licht: Vier Halogenlampen à 1000 Watt wurden gegen die Decke gerichtet. Angaben der Künstlerin ebd. 20 Vgl. hierzu Pijarski 2013, 106, sowie die Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. Vgl. hierzu auch: Brzywczy 2015. 21 Natalia LL machte die Gesichter der Modelle zu ihrem „public face“, es wurde ihr „trademark“. Pijarski 2013, 106. Vgl. Brzywczy 2015.

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In 1971 in Współczesna Gallery in Warsaw I exhibited my work NATALIA LL that was the serigraphy print consisting of series of reproductions of my visiting-cards. On them my full name, Natalia Lach-Lachowicz, appeared in such a way that on the following cards the succeeding letters – going from the back – were gradually cancelled. So I became unglued from my name and was able to form a new person called NATALIA LL. As I had a new person and I had her pseudonym or name it was necessary to find her a new Face, new Date of birth and new Biography. I have borrowed the face from Ela M., my medium or model, who showed herself in photo and film séances of Consumer Art in 1972 and later in Post-Consumer Art seances in 1975. The date of birth I have borrowed from my brother Edward Lach (born 1943) whom I envied in my childhood to be a boy. The following projects and art realizations formed my biography or life-history.22

Die Künstlerin performt also nicht selbst vor der Kamera, sondern filmt und fotografiert das jeweilige Modell, ihre zweite Identität, die ebenfalls „Natalia LL“ ist.23 Die Künstlerin betont das gewöhnliche Aussehen des Modells Ela M.: „Ela M. had a regular, naïve, average and the same time extraordinarily banal face.“ 24 Während des Produktionsprozesses spaltet sich „Natalia LL“ sozusagen in zwei Teile, eine performende und eine fotografierende/ filmende Hälfte, auf.25 Da „Natalia LL“ selbst fotografiert/filmt und selbst performt, kann die Performance ebenfalls als „Performance für die Kamera“ gelten. Im Folgenden werde ich die Fotografin beziehungsweise Filmemacherin und das ausführende Modell voneinander unterscheiden, indem ich entweder von der Künstlerin „Natalia LL“ oder von der Performerin beziehungsweise dem ausführenden Modell spreche. Inwiefern die Doppelung der Künstlerinnenpersönlichkeit „Natalia LL“ während des Produktionsprozesses für den Inhalt der Arbeit bestimmend ist, wird im Verlauf des Kapitels ausgeführt. 3.2.1 Konsum-Kunst (1972) 3.2.1.1 Eine fotografische Version von 1972 Die während der Performance entstandenen Fotografien stellte die Künstlerin in unterschiedlicher Anzahl und Größe zusammen und klebte sie auf Pappe. Das Format der 22 Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. Vgl. hierzu Natalia LL 2004/II, 261. Hier formuliert sie den letzten Satz wie folgt: „My biography, my curriculum vitae, was composed of my individual works or projects.“ Erst 20 Jahre später kehrte sie zu ihrem tatsächlichen Geburtsdatum zurück. Vgl. Pijarski 2013, 106. 23 „Each session of Consumer Art I have filmed and photographed myself.“ Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. 24 Natalia LL 2004/II, 261. 25 Wie Pijarski bemerkt, erweitere und verkompliziere dies die Bedeutungsmöglichkeiten der Bezeichnung „persönlich“ im Werk Natalia LLs. Vgl. Pijarski 2013, 106.

Person und Identität: Natalia LL und ihr Dialog mit der Kamera   |

Fotografien innerhalb einer Arbeit ist jedoch immer einheitlich, wodurch der serielle Eindruck verstärkt wird. Meist werden die einzelnen Fotografien zu quadratischen Blöcken arrangiert. Eine im Muzeum Sztuki (Kunstmuseum) in Łódź befindliche Arbeit von 1972 besteht beispielsweise aus 20 Schwarzweißfotografien. Dabei sind jeweils vier Fotografien in insgesamt fünf Reihen angeordnet (Abb. 27).26 In dieser fotografischen Version von 1972 hat das performende Modell seine halblangen blonden Haare mit Ponyfrisur seitlich zu offenen Zöpfen gebunden, ihre Augen sind schwarz geschminkt. Ihr Gesicht und ihr unbekleideter Oberkörper sind bis zum Brustansatz vor einem weißen Hintergrund zu sehen. Durch die serielle Reihung der Fotografien werden eine zeitliche Abfolge und Bewegung suggeriert. Die Fotografien bilden einen Prozess ab, in dessen Verlauf die Performerin eine Banane in dem Mund nimmt, mit den Zähnen schält, ableckt und teilweise isst. 3.2.1.2 Eine filmische Version von 1972 Grundlage für die folgende Analyse bilden einzelne Sequenzen aus einer filmischen Version von 1972.27 Im Bildausschnitt sind das Gesicht und der unbekleidete Oberkörper der Performerin frontal bis zum Brustansatz vor einem weißen Hintergrund zu sehen. Sie hat ihre halblangen hellen Haare mit Ponyfrisur am Hinterkopf hochgesteckt, einige Locken fallen rechts und links neben ihrem Gesicht herab und rahmen es ein. Ihre Augen sind dunkel geschminkt, ihre Nägel lackiert. Sie blickt direkt in die Kamera. Zu Beginn des Films lächelt sie und schlägt die Augen nieder und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Dann fährt sie mit ihrem linken Zeigefinger die Lippen entlang, während sie weiter mit ihrer Zunge spielt. Ihr Blick richtet sich nach unten und eine Banane erscheint im Bild. Sie führt sie zum Mund, leckt daran und beginnt dann, wieder frontal in die Kamera lächelnd, sie zu schälen. Sie fährt mit der halb geschälten Banane über ihre Lippen, umkreist sie mit ihrer Zunge und beißt dann ein Stück ab. Lächelnd verspeist sie es und leckt weiter an der Banane. Eine zweite halbgeschälte Banane erscheint im Bild und die Künstlerin fährt fort die beiden Bananen abzulecken. Hin und wieder schlägt sie die beiden Bananen gegeneinander wie ein kleines Kind und lässt die Bananen­spitzen umeinanderkreisen. An zwei Stellen zuckt sie mit den Schultern und lacht unbefangen. Zwischendurch reißt sie immer wieder die Augen auf oder schließt sie halb, um dann scheinbar über sich selbst zu lachen. Die zweite Banane 26 Maße der einzelnen Fotografien 18 × 24 cm, Gesamtmaß der Arbeit: 100 × 100 cm. Angaben der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. 27 Die Beschreibung bezieht sich auf folgende Version: Sztuka konsumpcyjna (Konsum-Kunst), 1972, 7’36’’, schwarzweiß, ohne Ton. Publiziert in: BWA Wrocław Galeria Sztuki Współczesnej 2006. Fragmente aus den filmischen Versionen von 1972, 1974 und 1975 (15’58’’) sind online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/ ll-natalia-sztuka-konsumpcyjna?age18=true [Zugriff am 14. 5. 2020].

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verschwindet wieder und Natalia LL fährt fort, an der ersten Banane zu lecken. Es folgen unmerklich einige Schnitte und die Handlung setzt sich mit weiteren Objekten wie Gebäckstangen, kleinen Kügelchen und Pudding fort (Taf. 4). Bei den Kügelchen handelt es sich ebenfalls um Lebensmittel, die nach und nach zwischen den Lippen der Performerin hervorploppen, nachdem sie sie hineingelegt hat. Es beginnt eine neue Sequenz, in der das Gesicht des Modells stärker herangezoomt ist, so dass die obere Hälfte ihres Kopfes sowie ihre Schultern nicht mehr im Bild sichtbar sind; das Aussehen ist jedoch unverändert. Die Sequenz beginnt ähnlich wie diejenige zu Anfang des Films, indem sich die Performerin mit der Zunge über die Lippen fährt und zwischendurch lächelt. Es beginnen erneut kleine Kügelchen aus ihrem Mund hervorzuquellen, eines nach dem anderen. Anschließend erscheint eine Gebäckstange im Bild und die Performerin beginnt, sie auf die gleiche Art und Weise abzulecken, wie sie es zuvor mit der Banane getan hat. Auf die Gebäckstange folgt eine Salzstange, die wiederum von der Gebäckstange abgelöst wird und so fort – während das Modell weiter an ihnen leckt, sie abwechselnd in den Mund nimmt und mit der Zunge an ihnen spielt. Wie in der Sequenz mit der Banane gibt es auch hier spielerische Gesten: Die Performerin wechselt sehr schnell zwischen beiden Gebäckstücken, schlägt sie leicht aneinander, nimmt sie gleichzeitig in den Mund und klopft mit beiden Stangen leicht gegen ihre Zunge, während sie immer wieder verschmitzt lächelt, was großes Vergnügen an der Tätigkeit signalisiert. Ein weiterer länglicher Gegenstand erscheint im Bild, mit dem das Modell ähnlich verfährt, wie mit den beiden Gebäckstangen, bevor die Sequenz erneut wechselt. Der Kopf der Performerin beginnt sich auf und ab zu bewegen, wobei er sich leicht über die Bildgrenzen hinausbewegt, während sie Augen und Mund wie in Ekstase öffnet und schließt und sich erneut mit der Zunge über die Lippen fährt. Diese kurze Sequenz wird abgelöst von der Puddingszene: Nach einem kurzen Schnitt sehen wir, wie langsam eine weiße, puddingähnliche Flüssigkeit aus dem Mund des Modells hervorquillt (Taf. 4). Die Performerin öffnet und schließt den Mund und lässt die Flüssigkeit langsam aus ihm herauslaufen, leckt dann die Mundwinkel ab und senkt den Blick, um einen weiteren Esslöffel von der weißen Flüssigkeit in ihren Mund zu schieben. Die puddingähnliche Substanz ist relativ flüssig, so dass sie vom Löffel läuft. Wieder lässt das Modell die Flüssigkeit zwischen den Lippen hervorquellen, der Pudding läuft der Performerin über das Kinn und sie lächelt dabei und schiebt sich einen weiteren Löffel der weißen Substanz in den Mund. Die Sequenz wechselt und wir sehen das Gesicht des Modells nun wieder mit etwas Abstand, so dass sowohl der obere Teil des Kopfes als auch Hals, Schlüsselbeine und die nackten Schultern im Bild erscheinen. Die Performerin verwendet jetzt einen kleinen runden Holzlöffel, um wiederholt Flüssigkeit zwischen ihre Lippen zu befördern. Der Pudding quillt weiter aus ihrem Mund hervor, läuft über ihr Kinn und fällt zu Boden. Sie lacht.

Fotografische Performances von Ion Grigorescu  |

Die Gesten des performenden Modells lehnen sich an pornografische Vorbilder und an kommerzielle Werbung an. Wie ich im Folgenden zeigen werde, wird dieser Bezug jedoch im Verlauf der Performance durch ihre Mimik und den Umgang mit der Kamera wieder aufgebrochen und in Frage gestellt. Darüber hinaus stellen sich bei der Einordnung der Performance in ihren historischen Kontext folgende Fragen: Waren pornografische Bilder frei zugänglich? Wie wurde die Frau im öffentlichen Raum der Volksrepublik Polen dargestellt? Gab es Werbung und wenn ja, in welcher Form? Welche Bilder von Weiblichkeit waren verbreitet? Diese Fragen werden am Ende des Kapitels im Zusammen­ hang mit dem historischen Kontext behandelt.

3.3 Fotogr afische Per for m ances von Ion Gr igor escu Wie Natalia LL ohne Publikum und zunächst nur für die Kamera agierend, lotete der rumänische Künstler Ion Grigorescu in den 1970er Jahren alltägliche wie künstlerische Handlungen sowie ihre Interdependenzen aus. Ähnlich wie Natalia LL nutzte auch er die fotografische und filmische Aufzeichnung seiner Performances im privaten Raum zur schonungslosen Selbstbeobachtung und -erforschung sowie zur Hinterfragung seiner (geschlechtlichen) Identität. Während er einfache und banal anmutende Tätigkeiten wiederholte und seriell aufzeichnete, stellte er die Frage nach Kontrolle und individueller Selbstbestimmung unter totalitären Bedingungen. Inwiefern Identität im Prozess der Selbstbefragung und -konfrontation während der Performance entsteht und ob sie sich dadurch auch verändern kann, wird im Verlauf der Analyse untersucht werden. 3.3.1 Improvisation und Experiment: Grigorescus fotografische Ausrüstung und Techniken Seine erste Kamera bekam Ion Grigorescu von seinem Bruder Octav Grigorescu, der von 1951 bis 1958 am Nicolae Grigorescu-Institut für Bildende Kunst studierte und anschließend bis 1985 dort lehrte. Das ungarische Modell, eine Box-Kamera im Format 6 × 6 cm, benutzte Ion Grigorescu während der 1960er Jahre. Von seinem ersten Gehalt (um 1971) kaufte er sich dann eine Reflexkamera, ein deutsches Modell namens Exa 1 A.28 Der Vater war Chemiker und versorgte ihn mit den Laborsubstanzen, die er für die Entwicklung seiner Filme benötigte.29 Außerdem besaß Grigorescu einen Vergrößerungsapparat, der auf vielen Fotografien, die in seinem Wohnatelier entstanden, wie beispielsweise Pyjama und 28 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 29 Vgl. hierzu die Chronik in: Şerban 2013, 325.

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Masculin/Feminin (Männlich/Weiblich; 1976)30, im Hintergrund zu sehen ist (Abb. 28 und 31). Grigorescu begann mit der Kameraausrüstung zu experimentieren: Er tauschte die Reihenfolge der Linsen, ersetzte konvexe durch konkave Linsen und umgekehrt. Zudem nutzte er geschliffene Brillengläser, um bestimmte Effekte zu verstärken und Verfremdungseffekte zu erzeugen.31 Grigorescu beschreibt seine Experimente im Rückblick sehr detailliert: In 1972 I constructed an approximately 80 degree wide-angle objective using a pair of lens elements (convergent and divergent, concave-concave) that created an even wider space of correction, but with a powerful halo that persisted until the last diaphragm. At the beginning of ’73 I built an objective that worked by joining different lenses together. Its chief components were two lenses formed of three elements each (two convergent and one divergent), one of 50 mm and one of 75 mm focal length. By changing the formula in front of the diaphragm, between the two lenses, you could obtain different lenses, one of 28 mm and one of 180 mm focal length. Next, in front of the short one I placed spectacles lenses, of flint, divergent, thus obtaining an approximately 110 degree wide-angle with an 80 mm focal length and a relative aperture of 1/5. In front of the long one I placed a telescope installation and a cinematographic telephoto zoom, which reduced its focal length to 65/100 mm (there were also several possibilities with a relative aperture of 1/6).32

Da die von Grigorescu verwendeten Brillengläser nicht ganz rund, sondern asymmetrisch oval waren, ist auf manchen Fotografien der Rand der Linsenkonstrukte sichtbar.33 Zwei Jahre später (um 1973) kaufte sich Grigorescu von seinen Ersparnissen eine 8mm-Filmkamera, ein russisches Modell. Wie bei seiner ersten ungarischen Foto-Kamera blickte man bei dieser Filmkamera während des Aufnehmens nach unten, so dass es unmöglich war, die Szene insgesamt zu überblicken.34 Die Kamera hatte mehrere Objektive und Linsen, eine Standardlinse, eine Weitwinkel-Linse und kleine Linsen für Makroaufnahmen, um sehr kleine Gegenstände zu filmen. Es war jedoch unmöglich, während des Filmens festzustellen, ob man die kleinen Objekte nun filmte oder nicht. Daher machte Grigorescu „Kalkulationen“ (calculations)35 und versuchte die Position der Gegenstände zu berechnen. Meist musste er sich jedoch voll und ganz auf seine Intuition verlassen, vor allem wenn er etwas in seiner unmittelbaren Nähe filmte.36 30 Ich danke der Galerija Gregor Podnar in Berlin, insbesondere Kasia Lorenc, für die hilfreiche Unterstützung. 31 Grigorescu erinnert sich: „My brother and my father had glasses.“ Grigorescu in: Interview Kühn/ Valentini – Grigorescu. 32 Grigorescu 2013, o. S. 33 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 34 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus ebd. 35 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus ebd. 36 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus ebd.

Fotografische Performances von Ion Grigorescu  |

Für die Foto-Serien und für seine frühen Filme erstellte Grigorescu das Konzept niemals im Voraus. Es waren Improvisationen, ohne Programm oder Skript. Für die späteren Filme legte er jedoch ein Skript fest, bevor er mit der Kameraarbeit begann.37 Die Form, die Bewegung und die Veränderung standen für Grigorescu im Zentrum, dennoch versuchte er nicht, „die Form zu programmieren“ (programming form)38 oder eine Szene zu entwerfen, bevor er begann, zu fotografieren oder zu filmen. Grigorescu beschreibt die Art und Weise, wie er mit dem Alltäglichen umging wie folgt: „I am a coward, I am waiting. Stealing from the reality […]“.39 Diese Aussage soll erklären, warum er bei der Produktion seiner frühen Arbeiten auf ein Skript verzichtete, und veranschaulicht sein spontanes Vorgehen während des Produktionsprozesses. 3.3.2 Die fotografischen Serien Waschen (1976) und Pyjama (1978) Im Jahre 1976 entstand die schwarzweiße Foto-Serie Waschen (Abb. 29). Wie in der Arbeit Pyjama ist der Künstler in seiner Wohnung, die ihm als Atelier dient – im Hintergrund sind Rahmen an die Wand gelehnt –, zu sehen, wie er vor der Kamera posiert und alltäglichen Verrichtungen nachgeht. Im Vordergrund steht eine helle Schüssel mit Wasser auf einem kleinen Hocker. Grigorescu steht zunächst über die Schüssel gebeugt, nur mit einer Hose bekleidet, mit dem Gesicht zur Kamera. Sein Blick ist in allen sechs Aufnahmen nach unten oder zur Seite gerichtet; er wirkt etwas abwesend und in seine Tätigkeit vertieft. In der ersten Aufnahme streicht er sich mit beiden Händen über das Gesicht. In der zweiten und dritten Aufnahme schöpft er mit beiden Händen Wasser aus der Schüssel; in einer Hand hält er ein großes Stück Seife. In der vierten Aufnahme sind seine Hände in der Bewegung zum Gesicht eingefangen, das Wasser rinnt in kleinen Bächen zurück in die Schüssel. Die Stirn des Künstlers ist gerunzelt, als strenge ihn seine Tätigkeit an. In der fünften Aufnahme ist er hinter der Schüssel tief in die Knie gegangen, sein Kopf ist nach links gewandt, seine rechte Hand ist auf dem Weg zur Brust, um sie zu waschen. In der letzten Aufnahme streicht sich der Künstler, immer noch mit gebeugten Knien und mit der Brust über die Schüssel gelehnt, mit der rechten Hand über Hals und Brust, Wasser rinnt in kleinen Bächen von seinen Fingern zurück in die Schüssel. Die linke Hand ist nach oben geöffnet, als wolle sie das herabrinnende Wasser auffangen. Grigorescus Blick ist leicht nach oben gerichtet, er scheint jedoch in sich hinein zu blicken und keinen bestimmten Punkt zu fixieren.

37 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus ebd. 38 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus ebd. 39 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus ebd.

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Die Position der Kamera ist in jeder Einstellung gleich, die Fotografien sind durch Selbstauslöser entstanden. Einige Indizien deuten jedoch darauf hin, dass zwischen den einzelnen Aufnahmen etwas Zeit vergangen ist: das Handtuch, das über einem Rahmen im Hintergrund hängt, ist plötzlich verschoben. Die Handlung des Gesichtwaschens wird also von Grigorescu mehrfach wiederholt, variiert und anschließend zu einer Reihe zusammengesetzt, die eine sukzessive Abfolge suggeriert. Lediglich das verrutschte Handtuch verrät die Konstruktion des Ablaufs und kann bei den aufmerksamen Betrachtenden zu einem Moment der Irritation während des Nachempfindens der Handlung führen. Eine weitere Serie, die 1978 entstand, besteht aus vier Schwarzweißfotografien: Wir sehen Grigorescu, wie er im Schlafanzug vor der Kamera posiert, weshalb er die Arbeit Pyjama nannte (Abb. 28). Der Künstler ist in seiner Wohnung. Neben ihm im Zimmer befinden sich eine Staffelei und mehrere Leinwände, hinter ihm ein Tisch mit einem Vergrößerungsapparat und weiteren Arbeitsmaterialien. Die erste Fotografie zeigt ­Grigorescus Gesicht in Nahaufnahme: Ein abgebissenes Brötchen steckt zur Hälfte in seinem Mund. Die Fotografien drei und vier zeigen ihn auf einem Hocker in der Mitte des Raumes sitzend. In der dritten Fotografie betätigt er sichtbar den Selbstauslöser – das Kabel in seiner Hand ist zu sehen. In der vierten Fotografie hat er die Beine auf dem Hocker angezogen. Die Pantoffeln, die der Künstler in den vorangehenden Aufnahmen trug, stehen nun unter dem Hocker, seine weißbesockten Füße weisen in Richtung der Kamera. Weder lacht der Künstler, noch lächelt er. Soweit erkennbar ist seine Miene ernsthaft. Bis auf die erste Aufnahme in Nahansicht ist sein Gesicht in allen Fotografien verschwommen. Er fotografierte sich durch eine Fischaugenlinse, die er selbst gebastelt hatte.40 Das Bild erscheint durch die Linse verzerrt und wie durch eine Überwachungskamera oder einen Türspäher gesehen. Die Streifen auf dem Schlafanzug verleihen diesem eine Anmutung von Sträflingskleidung. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Arbeit zuerst „Im Gefängnis“ lautete.41 Der Eindruck, einen Gefängnisinsassen zu beobachten, wird verstärkt durch die Gesten, die Grigorescu vollführt, während er direkt in die Kamera blickt: In der zweiten Fotografie steht er mit zusammengeschlagenen Hacken in der hinteren Ecke des Zimmers und salutiert. In dieser Fotografie sind seine Gesichtszüge kaum erkennbar. Die vierte Fotografie weist eine Doppelbelichtung auf. Unter dem Künstler mit den auf dem Hocker hochgezogenen Beinen sind schwach die auf dem Boden stehenden, leicht angewinkelten Beine des zuvor aufgenommenen Bildes erkennbar.

40 Vgl. hierzu auch Pintilie 2007. 41 Pintilie nennt diesen frühen Titel nur in englischer Sprache „In Prison“. Siehe: Pintilie 2014, 89, Anm. 8.

Medialisierung der Performances durch Fotografie und Film  |

3.4 Medialisierung der Per for m ances durch Fotogr afie und Film 3.4.1 Begriffsklärungen und Thesen Bei allen Versionen von Konsum-Kunst von Natalia LL sowie bei den performativen Arbeiten Ion Grigorescus aus den 1970er Jahren handelt es sich um Performances für eine Foto- oder Filmkamera, die von der Künstlerin oder dem Künstler selbst bedient wird. Das Endprodukt des künstlerischen Prozesses sind in diesem Fall die fotografische Serie und der Film. Es geht jedoch nicht um eine bloße Dokumentation der Performance, die erst im Verlauf ihrer späteren Präsentation und Rezeption den Charakter eines Kunstwerks annimmt. Im Rezeptionsprozess wird – so meine These – die Performativität der Uraufführung durch die Betrachtenden jedes Mal aufs Neue aktiviert. Pintilie beschreibt Grigorescus Körper-Performances als Post-Happenings […], bei denen der Akzent nicht mehr auf der zeitlich begrenzten Dimension liegt, sondern auf der fotografischen Momentaufnahme, die jedoch nach wie vor den Charakter einer Performance hat.42

Wie dieser „Charakter einer Performance“ beschrieben werden kann und wie es sich mit der Performativität in der „fotografischen Momentaufnahme“ verhält, soll im Folgenden anhand der Ästhetik des Performativen (2004)43 von Erika Fischer-Lichte näher erläutert werden. Zunächst wird mit Bezug auf John Langshaw Austin und Judith Butler der Begriff des Performativen genauer definiert und anschließend auf die Reaktivierung der Performativität im Prozess der Wiederaufführung eingegangen. Austin verwendete den Begriff „performativ“ 44 zum ersten Mal 1955 in seinen Vorlesungen How to do things with Words an der Harvard University.45 Er leitete den Ausdruck von dem Verb „to perform“ („vollziehen“) ab: „man ‚vollzieht‘ Handlungen“ 46. In seinen Vorlesungen präsentierte er seine Entdeckung, dass mit sprachlichen Äußerungen Handlungen vollzogen werden können, die er performative Äußerungen nannte.47 Als Beispiele führte er die Taufe eines Schiffes oder die Trauung zweier Eheleute durch einen Standesbeamten an. Durch die Äußerungen „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ‚Queen Elizabeth‘“ 48 oder „Ja (sc. Ich nehme die hier anwesende XY zur Frau)“ 49 werde 42 Pintilie 2009, 183 f. 43 Fischer-Lichte 2004. 44 Austin 1972 [1962]. 45 Ebd. 46 Ebd., 28. 47 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 31. 48 Austin 1972 [1962], 26 f. 49 Ebd., 26.

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ein neuer Sachverhalt geschaffen, so Austin. Die Sätze „vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen“ 50. Zwei Merkmale kennzeichnen die performativen Äußerungen: „Das heißt, sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen.“ 51 In ihrem Aufsatz Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory führte Judith Butler 1988 den Begriff des Performativen in die Kulturphilosophie ein.52 Ohne sich ausdrücklich auf Austin zu berufen, legte sie in ihren Ausführungen dar, „daß Geschlechtsidentität (gender) – wie Identität überhaupt – nicht vorgängig, d. h. ontologisch oder biologisch gegeben ist, sondern das Ergebnis spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen darstellt.“ 53 Butler wendete den Begriff des Performativen nicht auf Sprechakte, sondern auf körperliche Handlungen an und erklärte: „[…] gender is in no way a stable identity or locus of agency from which various acts proceede; rather, it is an identity tenuously constituted in time – an identity instituted through a stylized repetition of acts.“ 54 Auch der Körper ist das Ergebnis einer Wiederholung bestimmter Gesten und Bewegungen. Die Handlungen bringen „den Körper als einen individuell, geschlechtlich, ethnisch, kulturell markierten überhaupt erst hervor“ 55 und Identität werde durch performative Akte konstituiert, so Butler. Wie bei Austin meint performativ hier wirklichkeitskonstituierend und selbstreferentiell.56 Mit Bezug auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty erläutert Butler „den Prozeß der performativen Erzeugung von Identität als einen Prozeß von Verkörperung (embodiment)“ 57. Fischer-Lichte fasst diesen Prozess wie folgt zusammen: Durch die stilisierte Wiederholung performativer Akte werden bestimmte historisch-kulturelle Möglichkeiten verkörpert und auf diese Weise sowohl der Körper als historisch-kulturell markierter wie auch Identität allererst erzeugt.58

Das Individuum kann nicht völlig frei wählen, welche Möglichkeiten es verkörpern oder welche Identität es annehmen will. Es wird jedoch auch nicht vollständig von der Gesellschaft determiniert. Die Gesellschaft kann zwar versuchen, die Verkörperung bestimmter Möglichkeiten durchzusetzen, kann sie jedoch nicht grundsätzlich 50 Fischer-Lichte 2004, 32. 51 Ebd. 52 Butler 1988. 53 Fischer-Lichte 2004, 37. 54 Butler 1988, 519 [Hervorh. im Orig.] 55 Fischer-Lichte 2004, 37. 56 Ebd., 37 f. 57 Zit. nach: ebd., 38 [Hervorh. durch Fischer-Lichte]. Vgl. hierzu Butler 1988, 521. 58 Fischer-Lichte 2004, 38.

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verhindern.59 Einerseits kann also die Gemeinschaft durch performative Akte körperliche Gewalt auf Einzelne ausüben, andererseits eröffnen die performativen Akte, mit denen (geschlechtliche) Identität konstituiert wird, die Möglichkeit, dass die oder der Einzelne sich durch sie selbst hervorbringt „und zwar durchaus auch abweichend von den in der Gemeinschaft dominierenden Vorstellungen, wenn auch um den Preis gesellschaftlicher Sanktionen“ 60. Aus diesem Grund sind performative Akte niemals nur Akte eines Einzelnen, sondern kollektive Handlungen.61 Die Handlung ist „in gewissem Sinne immer schon begonnen […], bevor der individuelle Akteur auf dem Schauplatz erschienen ist“ 62. Die Wiederholung der Handlung ist daher immer ein Reenactment eines Repertoires von Bedeutungen, die bereits gesellschaftlich eingeführt sind.63 Die Aufführung (geschlechtlicher) Identität als Prozess einer Verkörperung vergleicht Fischer-Lichte im Anschluss an Butler mit einer theatralen Aufführung: „Die Verkörperungsbedingungen lassen sich in diesem Sinne als Aufführungsbedingungen genauer beschreiben und bestimmen.“ 64 Da sich Fischer-Lichte in ihrer Entwicklung einer Ästhetik des Performativen explizit auf Live-Aufführungen bezieht und die zeitliche und räumliche Ko-Präsenz von Performenden und Betrachtenden als grundlegend für ihre Theorie ansieht, ziehe ich im Folgenden die Überlegungen von Philip Auslander hinzu. Mit Hilfe seiner Erkenntnisse soll die Performativität in Performances untersucht werden, in denen die Ko-Präsenz von Performenden und Betrachtenden erst durch das Medium Fotografie oder Film hergestellt wird. Auslander teilt in seinem Aufsatz Zur Performativität der Performancedokumentation (2006) die Dokumentation von Performances in „dokumentarische“ und „theatralische“ Bilder ein.65 Als „theatralische“ Bilder bezeichnet er eine Reihe von Arbeiten, die auch als „performed photography“ bezeichnet werden. Diese „theatralischen“ Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie von vorneherein ohne Publikum konzipiert werden: „Der Raum des Dokuments wird daher zum einzigen Raum, in dem die Performance stattfindet.“ 66 Die Bilder werden ausschließlich für die Kamera inszeniert.67 Erst die Medialisierung (bei Auslander „Dokumentation“) der von der Künstlerin oder dem Künstler durchgeführten Handlungen machen diese zu einer Performance. Auslander bezieht sich auf Austins im Zusammenhang mit der Sprechakttheorie entwickelte Definition von Performativität, 59 Vgl. ebd. 60 Ebd., 39. 61 Vgl. ebd. 62 Ebd. 63 Vgl. ebd. 64 Ebd. 65 Auslander 2006, 21. 66 Ebd., 23. 67 Ebd., 25.

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indem er sie als eine „Äußerung oder Handlung, die durch sich selbst den Zustand herbeiführt, den sie beschreibt“ 68 bestimmt. Dieses Konzept von Performativität überträgt er auf die Dokumentation von Performances und Aktionen: „Der Akt der Dokumentation eines Ereignisses als Performance […] konstituiert es als solche.“ 69 Auslanders Beispiel hebt hervor, dass es eine Performativität der Uraufführung gibt. Diese ist wiederum die Bedingung der Möglichkeit der Reaktivierung. Gleichzeitig konstatiert Auslander, dass die Performativität nicht nur in der Performance des Künstlers, sondern genauso in der Dokumentation, d. h. in diesem Beispiel in der Fotografie, enthalten sei. Noch genauer: im Verhältnis zwischen Fotografie und Betrachtenden. Für Auslander ist die dokumentierende Kamera nicht nur zufällig in der Situation anwesend, sondern produziert und konstituiert die Situation als solche mit. Ihre Präsenz ist die Voraussetzung dafür, dass sich ein Verhältnis zwischen dem Performancedokument und den späteren Betrachtenden etablieren kann, in dem Auslander auch die Authentizität des Ereignisses verankert. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass es vollkommen unerheblich sei, ob die Performance jemals wirklich stattgefunden habe. Für ihn findet die Performance immer dann statt – und es entsteht Performativität –, wenn sie im Akt der Rezeption als solche wahrgenommen und wiederaufgeführt wird.70 Anders als Auslander spreche ich nicht von Dokumentation, sondern von Medialisierung. Diese Medialisierung beinhaltet ein aktives Moment und einen Prozess, die in der Bezeichnung „Dokumentation“ schwächer oder gar nicht ausgeprägt sind. Das Publikum, von dem Auslander spricht und das er „Publikum der Dokumentation“ 71 nennt, bezeichne ich als zukünftiges Publikum. Wie Auslander gehe ich davon aus, dass dieses zukünftige Publikum das primäre Publikum ist und nicht das sekundäre.72 Neben Auslanders Ergebnissen sind die Erkenntnisse der Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal zur Analyse medialisierter Performances aufschlussreich. Bal hat in ihrem Aufsatz Performanz und Performativität 73 am Beispiel einer Installation des Konzeptkünstlers James Coleman gezeigt, wie Performativität in der (Wieder-)Aufführung des fotografischen Materials in Form von Dia-Projektionen immer wieder aufs Neue erzeugt wird.74 Dies geschehe bei Coleman vor allem durch die zeitbasierte Rezeption und die währenddessen bei den Betrachtenden ausgelösten Assoziationen und Erinnerungen. Bal betont jedoch auch die Notwendigkeit der physischen Anwesenheit der Betrachtenden im Raum und die körperliche Anstrengung, die sie während des 68 Ebd., 27. 69 Ebd. 70 Vgl. ebd., 33. 71 Ebd., 29. 72 Vgl. hierzu Kapitel 2.5.2 in dieser Arbeit. 73 Bal 2001. 74 Vgl. ebd.

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wiederholten Betrachtens der Projektion im Stehen empfänden.75 Die Betrachtenden führen das Werk mit auf. Dabei gleiche keine Aufführung der vorhergehenden und das Werk entstehe immer wieder neu, so Bal. Die Betrachtenden seien notwendig für die Aufführung des Werkes. Ohne ihre „Präsenz“ und ihre „nackten Sinne“, wie Goffman sie nennt, entsteht auch keine Performativität.76 Sowohl die Überlegungen FischerLichtes als auch Auslanders, Bals und Goffmans bilden die Grundlage der folgenden Analyse der Werke Natalia LL s und Grigorescus. Wo es notwendig erscheint, werden weitere Theorien hinzugezogen. Eine Foto-Serie wird von in europäisch oder US-amerikanisch geprägten Gesellschaften sozialisierten Betrachtenden in der Regel von oben links nach unten rechts gelesen, der Film im Idealfall von Anfang bis Ende angeschaut. Diese (im Falle der Fotografie auf ein Minimum reduzierte) zeitbasierte Rezeption ist wie ein Echo der zeitbasierten Aufführung der Performance. Durch ihre physische Anwesenheit während der Rezeption vervollständigen die Betrachtenden die (Wieder-)Aufführung und es wird – so die Erweiterung zu meiner ersten These – eine Ko-Präsenz von Rezipienten- und Künstlerkörper erzeugt, die ich mit einer „sozialen Situation“ 77 vergleichen möchte, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren von Goffman für Interaktionen im Alltag und im öffentlichen Raum beschrieben und in der neueren soziologischen Forschung weiterentwickelt wurde. Da dieser Effekt in der Rezeption der filmischen Arbeiten viel deutlicher zu beobachten ist als in der Rezeption der fotografischen Realisierungen, konzentriert sich die Beschreibung im Folgenden zunächst auf den Dialog zwischen Performenden und Filmkamera im Prozess der Performance und anschließend auf die Konstellation von Filmkamera, Performenden und Betrachtenden im Prozess der filmischen Wiederaufführung der Performance. Im Verlauf der Analyse werden die fotografischen Arbeiten von Natalia LL und von Grigorescu nach und nach vergleichend hinzugezogen. 3.4.2 Die Kamera als Spiegel in eine Richtung und als Mittel zur Identifikation Während der Performance Konsum-Kunst von Natalia LL blickt die Performerin die ganze Zeit in die Kamera und es entspinnt sich ein Dialog zwischen ihrem Auge und dem der Kamera (Abb. 27). Bei Grigorescu können wir dies am besten in der fotografischen Arbeit Pyjama, teilweise jedoch auch in der filmischen Arbeit Masculin/Feminin aus dem Jahre 1976 beobachten, in der er die meiste Zeit mit der Kamera kommuniziert und in das Auge derselben schaut (Abb. 28, 31). 75 Vgl. ebd., 293. 76 Vgl. Hubert Knoblauch: „Die soziale Situation zeichnet sich durch eine […] ‚Präsenz‘ aus, die allein den ‚nackten Sinnen‘ der Beteiligten (Goffman 1972, 61 f.) zugänglich ist.“ Knoblauch 1994, 35. 77 Goffman 22001 [1982], 55. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.5 in dieser Arbeit.

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Abb. 30  Ion Grigorescu, Masculin/Feminin (Männlich/Weiblich), 1976, Stills aus 16mm-Film, s/w, stumm, 12’50’’.

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Die Kamera fungiert zunächst einmal als Spiegel, in dem die Performerin oder der Performer sich selbst betrachtet. Damit ist nicht gemeint, dass sie über einen Monitor verfügt, in dem die Performenden die Bewegungen ihres Abbilds in Echtzeit verfolgen können. Die Kommunikation der Performenden mit der Kamera ist jedoch derjenigen eines Kleinkinds mit dem Spiegel im sogenannten Spiegelstadium vergleichbar. Ich beziehe mich im Folgenden auf den Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan, der 1949 das „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ 78 untersuchte und dessen Ausführungen trotz ihres Phallozentrismus für die Herausarbeitung des Spiegelmoments und des damit einhergehenden Prozesses der Identifikation in einer Performance für die Kamera erkenntnisleitend sind. Auch wenn die Idee des Spiegelstadiums zur Erklärung des komplexen Performenden-Kamera-Betrachtenden-Verhältnisses nicht ausreicht, so bietet sich das Modell dennoch als Ausgangspunkt an, von dem aus die einzelnen Ebenen und ihre Interdependenzen untersucht werden können – zumal sowohl Natalia LL als auch Grigorescu sich mit der (imaginierten) Spiegelfunktion der Kamera auseinandersetzen. Der Akt, in dem das Kleinkind „sein eigenes Bild als solches“ 79 im Spiegel erkennt, löst beim Kind sofort eine Reihe von Gesten aus, mit deren Hilfe es spielerisch die Beziehung der vom Bild aufgenommenen Bewegungen zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen Komplexes zur Realität untersucht, die es verdoppelt, bestehe sie nun im eigenen Körper oder in den Personen oder sogar in Objekten, die sich neben ihm befinden.80

Wenn kleine Kinder ihr Bild im Spiegel entdecken und erkennen, zeigen sie eine „jubilatorische“ 81 Reaktion. Am Anfang wissen sie noch nicht, dass sich das wahrnehmende Subjekt vom Bild unterscheidet und sind fasziniert von der Gestalt im Spiegel. Wie der Psychoanalytiker Peter Widmer beschreibt, begrüßt das Kind diese Gestalt in einer Art Selbstvergessenheit: Erst allmählich kristallisiert sich das Bild als Abbild des Betrachters heraus. Dann erfährt das Subjekt, daß es auch dann einen Körper hat, wenn er nicht gespiegelt wird, und es weiß, wie er aussieht, denn es kann sich seine Gestalt vorstellen. Um die Identität von Abbild und sich selbst zu prüfen, macht es Bewegungen und Grimassen und stellt dabei fest, daß das Spiegelbild alles nachahmt.82 78 Der Bericht Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint entstand für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949. Lacan 1973 [1949], 61. 79 Ebd., 63. 80 Ebd. 81 Lacan spricht von „jubilatorischer Geschäftigkeit“ und von „jubilatorische[r] Aufnahme“. Ebd., 63 – 64. 82 Widmer 1990, 29.

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Die Performerin in Natalia LLs Konsum-Kunst scheint die Gesten nur auszuführen, um sich dabei zu betrachten, sie wiederholt sie immer wieder und variiert sie, indem sie verschiedene Objekte zur Hand nimmt (Abb. 27). Spielerisch erkundet sie ihre eigene Reaktion auf die Erfahrung der (imaginierten) Spiegelung während des Filmens beziehungsweise des Fotografierens. Bei Grigorescu sind es weniger Selbstvergessenheit und Spiel, in die er sich während des Agierens versenkt, als vielmehr eine grundlegende und ernsthafte, fast wissenschaftliche Erforschung des eigenen Körpers, seiner einzelnen Teile, seiner Bewegungen und Grimassen. Er lächelt nicht und doch lässt sich in Masculin/ Feminin eine gewisse Selbstverliebtheit oder sogar Vernarrtheit in das Bild vom eigenen Körper feststellen, die teilweise an Besessenheit grenzt (Abb. 30). Bis in den kleinsten Winkel erforscht Grigorescu den Aufbau und die Zusammensetzung seines Körpers, wälzt sich auf dem Boden, spreizt die Beine und filmt auch die Teile seines Körpers, die für ihn unsichtbar sind, wie beispielsweise seinen Rücken. Er zieht Grimassen und streicht über sein Gesicht, zieht und drückt es auseinander und wieder zusammen, um seine Funktionen und die Effekte der mimischen Veränderungen zu erkunden. Er posiert vor der Kamera, zum Beispiel indem er sich auf einem Stuhl drapiert und seinen Körper mit den Beinen auf dem Tisch in komplizierten Positionen verrenkt oder indem er eine Kerze macht. Doch obgleich Grigorescu durch die extremen Posen seine intimsten Körperzonen immer wieder schutzlos dem Blick der Kamera aussetzt, ist das Verhältnis zu seinem Körper und der Kamera geprägt von Selbstkontrolle: Grigorescu betätigt den Selbstauslöser (Body, 1974; Abb. 31), er hält die Kamera in der Hand (Masculin/Feminin), er fixiert das Auge der Kamera durch die Fischaugenlinse (Pyjama; Abb. 28). Wie diese beiden Zustände, jener der Vulnerabilität und jener der Kontrolle oder Dominanz, sich immer wieder gegenseitig ablösen und wie die Grenzen dazwischen verwischt werden, wird im Folgenden genauer beschrieben. Bei Grigorescu ist nicht nur die Kommunikation mit der Kamera ein selbstvernarrtes Sich-Betrachten: Darüber hinaus integriert er immer wieder echte Spiegel als Akteure in seine Performances und lässt die Kamera durch die verschiedenen Spiegel sogar mit sich selbst kommunizieren. In der fotografischen Serie Body beispielsweise posiert Grigorescu gemeinsam mit der Kamera vor dem Spiegel. Deutlich ist sie darin zu erkennen, wie eine weitere Protagonistin blickt sie die Betrachtenden direkt aus dem Spiegel heraus an. Da die Kamera über ein Auge verfügt, erscheint es, als ob sie sich selbst im Spiegel betrachtet. Grigorescu hingegen hat in dieser Arbeit den Blick meist abgewendet. Seine Hand betätigt gut sichtbar den Selbstauslöser. In der filmischen Arbeit „Masculin/Feminin“ posiert Grigorescu ebenfalls mit der Kamera vor dem Spiegel, wobei sie die meiste Zeit verborgen bleibt und nicht im Spiegel zu sehen ist – bis auf zwei kurze Sequenzen, in denen sie entweder auf ein Stativ montiert im Hintergrund erscheint oder von ­Grigorescu in der Hand gehalten wird. Mehrmals ist hingegen ein Kabel in einer Steckdose im Spiegel zu sehen. Durch Grigorescus Spiel mit mehreren Spiegeln erscheinen an einer

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Abb. 31  Ion Grigorescu, Body, 1974, Schwarzweißfotografien, jeweils 12 × 59 cm.

Stelle zwei Doppelgänger des Künstlers im Spiegel. Wir sehen den Künstler, wie er mit zwei rechtwinklig zueinander aufgestellten Spiegeln posiert und immer wieder unterschiedliche Positionen einnimmt. Die beiden Doppelgänger tun es ihm nach, wobei durch die schräge Anordnung der Spiegel von jedem der gespiegelten Körper eine andere Ansicht zu sehen ist. So sehen wir den Künstler von drei verschiedenen Seiten, während er vor dem Spiegel agiert.

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Die Filmtheoretikerin Laura Mulvey hat in ihrem Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino (1975) die Faszination an der menschlichen Gestalt als eine der beiden Lüste beschrieben, die das Kino hervorbringe und zugleich befriedige. Neugierde und der Wunsch zu betrachten mischen sich mit der Faszination von Ähnlichkeit und Wiedererkennen: das menschliche Gesicht, der menschliche Körper, die Beziehung zwischen der menschlichen Gestalt und ihrer Umgebung, die sichtbare Präsenz der Person und der Welt.83

Auch Mulvey verweist auf Lacan, der den Augenblick, in dem das Kind sein Bild im Spiegel erkennt, als Schlüsselmoment für die Konstitution des Selbst herausgearbeitet hat. Lacan beschreibt das Spiegelstadium als Identifikationsprozess: „Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen […]: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme des Bildes ausgelöste Verwandlung.“ 84 Das Bild „(Imago)“ 85 spielt dabei eine besondere Rolle. Lacan definiert die Identifikation als „die Transformation, welche sich im Subjekt vollzieht, wenn es ein Bild annimmt“ 86, das heißt, wenn es sich in einem Bild erkennt und dieses als sein eigenes aneignet.87 Sie findet statt, bevor sich das „Ich (je) […] objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem andern und bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion des Subjektes wiedergibt“ 88. Diese Form situiere „die Instanz des Ich (moi)“ 89 vor jeder gesellschaftlichen Determinierung auf einer fiktiven Linie, „die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann“ 90, so Lacan. Dabei nehme das Subjekt die totale Form seines Körpers nur als „Gestalt“ 91 wahr. Diese Gestalt symbolisiere durch die zwei Aspekte ihrer Erscheinungsweise die mentale Permanenz des „Ich (je)“ und präfiguriere gleichzeitig dessen entfremdende Bestimmung.92 Die Funktion der Imago bestehe darin, „daß sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder […] zwischen der Innenwelt und der Umwelt“ 93. Dabei sei jedoch die Beziehung zur Natur gestört durch eine „ursprüngliche Zwietracht“ 94, die durch das Unbehagen und die motorische Inkoordination des Neugeborenen verraten werde: 83 Mulvey 1994 [1975], 53. 84 Lacan 1973 [1949], 64 [Hervorh. im Orig.]. 85 Ebd. [Hervorh. im Orig.]. 86 Evans 2002, 144. 87 Vgl. Evans 2002, 144. 88 Lacan 1973 [1949], 64 [Hervorh. im Orig.]. 89 Ebd. [Hervorh. im Orig.]. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd., 64 f. 93 Ebd., 66 [Hervorh. im Orig.]. 94 Ebd.

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Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.95

Das Dramatische dieses Moments liegt darin, dass die physischen Bedürfnisse des Kindes seinen motorischen Fähigkeiten voraus sind. Wie Mulvey erläutert, bereitet dem Kind das Wiedererkennen seiner selbst Freude, „da es annimmt, sein Spiegelbild sei fertiger, vollendeter als das, was ihm sein Körper an Erfahrung vermittelt. Erkennen wird also von ‚Falsch-Erkennen‘ überlagert.“ 96. Der reflektierte Körper des Selbst wird als ­ideales Ich projiziert. Das entfremdete Subjekt introjiziert wiederum dieses Ich-Ideal, was künftige Identifikation mit anderen möglich macht. Dieses Bild konstituiert die Matrix des Imaginären: „Erkennen/Falsch-Erkennen und Identifikation und damit die erste Artikulation des Ich, kurz Subjektivität“ 97. Mulvey weist zudem auf die Ähnlichkeiten zwischen Leinwand und Spiegel hin: Beide rahmen die menschliche Gestalt und ihre Umgebung ein. Sie betont, dass der Film die „Liebesbeziehung und zugleich […] Hoffnungslosigkeit zwischen Bild und Selbstbild“ mit großer Intensität vermitteln und freudvolles Wiedererkennen bei den Betrachtenden auslösen könne.98 Der Theaterwissenschaftler Adam Czirak betont, dass sich das Identifikationsmodell Lacans nicht nur auf die frühkindliche Phase beschränke, sondern in jedem Transformationsakt aktiv sei, der durch Bildwahrnehmung initiiert werde. Akte der Identifikation werden durch Begegnungen mit Gesichtern und Körpern im sozialen Umfeld begünstigt, und es bedürfe noch nicht einmal eines realen Spiegels, um den Betrachter mit einem externen Bezugspunkt zu verbinden.99 Er fügt hinzu, dass inszenierte Menschenbilder in der Kunst in der Begegnung mit den Rezipierenden ambivalente Identifizierungsmechanismen aktivieren können, „die jeweils in der doppelten Logik von Identifikation und Distanznahme, Einfühlung und Verfremdung, Selbstvergessenheit und Bewusstwerdung, Immersion und Reflexion zur Geltung kommen“ 100.

95 Ebd., 67. 96 Mulvey 1994 [1975], 53. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Czirak 2012, 64 f. 100 Ebd., 65.

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Die von Lacan im Spiegelstadium beobachtete Verdoppelung des eigenen Körpers und der Objekte, die sich neben dem Körper befinden 101, sowie die Erscheinungsweisen des „Doppelgängers“ 102 finden sich in den Performances von Grigorescu und Natalia LL sowie in der Interaktion der Performenden mit der Kamera in verschiedener Art und Weise. Die Erfahrung einer Verdoppelung und Vervielfältigung des Selbst wird durch Schnitt und Mehrfachbelichtung des filmischen und des fotografischen Materials verstärkt, indem sich die Bilder der Performerin oder des Performers zeitweilig überlagern und Sequenzen teilweise wiederholt werden. Um sein Filmmaterial mehrfach zu belichten, benutzte Grigorescu dieselbe Filmrolle zwei Mal oder er ließ die Blende offen und bewegte sich zwischen der Linse und einem dunklen Hintergrund hin und her. Besonders intensiv hat Grigorescu in der fotografischen Arbeit Superpositions (1977 – 79; Abb. 32) und in der filmischen Arbeit Box (1977; Abb. 33) mit Mehrfachbelichtung gearbeitet. Auch in einigen Filmen Natalia LLs taucht die Mehrfachbelichtung als künstlerisches Mittel auf.103 Für die Arbeit Konsum-Kunst ist zentral, dass Natalia LL sich ein Modell sucht, das ihr sehr ähnelt (Abb. 27). Die Betrachtenden sind, genau wie das kleine Kind im Spiegelstadium, verunsichert, um wie viele Personen es sich handelt. Die Performance-Künstlerin Marina Abramović erinnert sich, dass sie Konsum-Kunst oder Post-Konsum-Kunst zum ersten Mal im Jahre 1975 auf dem Cover der Zeitschrift Flash Art gesehen habe. Sie berichtet, dass die meisten Rezipientinnen und Rezipienten in der damaligen Kunstszene, die das Cover der Zeitschrift sahen, ohne Natalia LL zu kennen, annahmen, es handele sich um die Künstlerin selbst. Sie wären äußerst angetan von der hübschen jungen Frau gewesen und sehr überrascht, als sie Natalia LL kennen lernten und sich einer anderen Person gegenübersahen, die zwar Ähnlichkeit mit dem Modell hatte – jedoch viel

101 Vgl. Lacan 1973 [1949], 63. 102 Ebd., 65. 103 In der Arbeit Sztuczna rzeczywistość (Künstliche Realität, 1975/1976) sitzt Natalia LL in drei Sequenzen in wechselnder, auffälliger Kleidung und in einer späteren Sequenz unbekleidet auf verschiedenen Sitzgelegenheiten (Sofa, Sessel) und posiert in unterschiedlichen Stellungen vor der Kamera. Im Gegensatz zu Konsum-Kunst posiert die Künstlerin in dieser Arbeit selbst und die Kamera befindet sich jeweils etwas unterhalb der Sitzgelegenheit, so dass die Betrachtenden die agierende Künstlerin in leichter Untersicht sehen. Die Kamera steht jedoch nicht durchgehend auf einem Stativ, sondern wird an mehreren Stellen von einem männlichen Kameramann bedient, der Natalia LL durch die Wohnung folgt: Auf ihrem Weg passiert Natalia LL einen Spiegel, in dem für kurze Augenblicke der ihr folgende Mann mit der Kamera sichtbar wird. Durch die Mehrfachbelichtung überlagern sich die Körperbilder in verschiedenen Positionen auf eine solche Weise, dass der bekleidete oder nackte Körper der Künstlerin in einigen Einstellungen wie ein Rumpf mit mehreren Armen und Beinen erscheint. Vollständige Werkangaben: Sztuczna rzeczywistość (Künstliche Realität), 1975/76, 15’29’’, 16mm, ohne Ton. Der Film ist zu sichten über die Webseite des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http:// artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/ll-natalia-sztuczna-rzeczywistosc?age18=true [Zugriff am 17. 1. 2020].

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Abb. 32  Ion Grigorescu, Superpositions, 1977 – 79, zwei von neun Fotografien, Vintage Color Print, jeweils 40 × 26 cm (ungerahmt).

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Abb. 33  Ion Grigorescu, Box (Boxen), 1977, Stills aus 16mm-Film, s/w, stumm, 2’27’’.

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markantere Gesichtszüge trug.104 Die Irritation rührte daher, dass die meisten Künstlerinnen und Künstler, die damals im Bereich der Performance und Aktionskunst aktiv waren, selbst performten. Auch Abramović betont, dass zur damaligen Zeit alle Performance-Künstlerinnen und -Künstler mit ihrem eigenen Körper arbeiteten. Sich selbst durch ein Modell zu ersetzen – diese Arbeitsweise identifiziert Abramović im Rückblick als sehr avantgardistisch.105 Natalia LLs konstruiertes Selbst herrscht über mehrere Körper. Sie kombiniert in ihrer Performance Konsum und Körperlichkeit und das in einem Regime, das die Macht über den arbeitenden Körper beansprucht und Konsum massiv einschränkt. Natalia LLs Gesten können unter diesen Umständen als Gesten der Macht verstanden werden: Während die meisten Menschen die Kontrolle über ihren Körper abgeben müssen, gewinnt sie Kontrolle – nicht nur über ihren eigenen Körper, sondern über mehrere Körper. Die Kamera ist in der Performance von Natalia LL ihre Komplizin und Mitakteurin. Durch den Akt des Gefilmt-Werdens setzt sie sich bewusst der Betrachtung aus und geht einen Dialog mit der Kamera und den imaginierten Betrachtenden ein. Dabei stellt die Situation, in der Natalia LL sich befindet, während sie vor der Kamera performt, den Auftakt zu der sozialen Situation dar, die später im Rezeptionsprozess von den Betrachtenden aufgegriffen und eingelöst werden kann. Während sie gefilmt wird, befindet sich die Künstlerin in einem Zustand der Ungewissheit. Es besteht die Gefahr, dass die Kamera sich im Prozess der Performance gegen sie wendet und einen voyeuristischen Blick einnimmt. Indem die Künstlerin sich und ihren Körper den Blicken ausliefert, offenbart sie ihre Verletzlichkeit. Auch wenn sie den Produktionsprozess jederzeit beenden kann, geht sie mit der Performance ein Risiko ein. Der aufgezeichnete und auf filmischem Material gespeicherte Akt archiviert ihre eigene Verletzlichkeit. Dabei handelt es sich nicht um gewaltsame Körperverletzung, sondern um eine Ausübung von Macht über den medialen Blick und der Tatsache des Ausgeliefert-Seins ab dem Zeitpunkt der Aufzeichnung. Indem die Betrachtenden sich den Blicken der Künstlerin aussetzen, machen sie ein Zugeständnis. Durch ihre Teilnahme am Dialog gestehen sie die Macht des medialen Blicks nicht nur über den Körper der Künstlerin, sondern auch über ihren eigenen Körper ein. Wie die Künstlerin können sie dabei die Subjekt- oder die Objektposition einnehmen, ohne in der Lage zu sein, die jeweils andere Position auszublenden. Indem sich die Performenden exponieren und darstellen sowie vor einer Kamera und in einem Netzwerk präsentieren, kommunizieren sie und schaffen eine soziale Situation, die weitgehend von ihnen kontrolliert werden kann – bis zu dem Zeitpunkt, da sie veröffentlicht wird. Weil sie wissen, dass diese Darstellung irgendwann veröffentlicht wird, 104 Abramović lernte Natalia LL 1975 in Innsbruck kennen. Vgl. hierzu die Aussage von Abramović im Interview mit Karol Radziszewski in seinem Film America Is Not Ready For This: Radziszewski 2012/II. 105 Ebd.

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versuchen sie das Bild, das von ihnen entsteht, so weit wie möglich zu kontrollieren und damit auch die (soziale) Situation, die daraus entsteht, wenn die Darstellung veröffentlicht und rezipiert wird, zu dominieren. 3.4.3 Auflösung der einseitigen Spiegelung hin zum Dialog Die Momente der Selbstvergessenheit, Selbstverliebtheit und Selbstkontrolle werden bei Natalia LL und Grigorescu abgelöst durch solche, in denen die Performerin oder der Performer mit der Kamera kommuniziert. Die Kamera fungiert nicht nur als Spiegel, sondern auch als Akteurin. Ihre Einstellung repräsentiert gleichzeitig den Blick der potentiellen Betrachtenden. Um eine Qualifizierung dieser Konstellation, bestehend aus Performenden, Kamera und Betrachtenden, wird es im Folgenden gehen. In dem Augenblick, in dem sich das Auge der Kamera auf die Performerin oder den Performer richtet, erscheinen vor ihrem oder seinem inneren Auge bereits potentielle Betrachtende. Diese sind zum Zeitpunkt der Entstehung der Filmperformance demnach imaginär anwesend. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen der Live-Performance vor der Kamera und der Wiederaufführung der Performance durch Projektion des Films. Während der reale Körper vor der Kamera agiert, haben die von der Performerin oder dem Performer imaginierten Betrachtenden keinen Körper. Ihre Präsenz manifestiert sich nur im Blick. Indem die Performerin oder der Performer während der Produktion im Prozess des Performens vor der Kamera sich zeigt, ohne die Körper der Betrachtenden sehen zu können, entsteht ein Machtgefälle, das sich jedoch im Prozess der Wiederaufführung umkehrt. Rosalind Krauss benutzt in ihrem Aufsatz Video: The Aesthetics of Narcissism (1976)106 ebenfalls die Spiegelmetapher, um die Ästhetik von Performances für eine Kamera zu definieren. Krauss fokussiert ihre Aufmerksamkeit jedoch ausschließlich auf Performances für eine Videokamera und vergleicht nicht das Auge der Kamera, sondern den Monitor mit einem Spiegel. Die Kontrolle des erzeugten (Körper-)Bildes über einen Monitor ist in Echtzeit nur bei Videoaufzeichnungen möglich – nicht jedoch beim Filmen mit 8mmoder 16mm-Kameras. Krauss betont, dass die Performerin oder der Performer während des Agierens tatsächlich sich selbst sehe – und nicht nur ihr oder sein vorgestelltes Selbst. Der Körper der Künstlerin oder des Künstlers – oder bei Videoinstallationen der Betrachtenden – bewege sich zwischen zwei Maschinen, die wie eine öffnende und eine schließende Klammer zu verstehen seien: Die öffnende Klammer sei die Videokamera, die schließende Klammer der Monitor, der das Bild der Performerin oder des Performers mit der Unmittelbarkeit eines Spiegels wiedergebe.107 Das Double auf dem Monitor sei 106 Krauss 1976. 107 Ebd., 52.

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dabei nicht wirklich ein externes Objekt: „Rather it is a displacement of the self which has the effect […] of transforming the performer’s subjectivity into another, mirror, object.“ 108 Krauss resümiert: „[…] the medium of video art is the psychological condition of the self-split and doubled by the mirror-reflection of synchronous feedback […]“ 109. Den psychologischen Zustand während des Spiegelungsprozesses bezeichnet Krauss als narzisstisch. Bei ihr resultiert die Spiegelreflexion in einem Verschwinden der Trennung und in einer Bewegung hin zur Verschmelzung: „The self and its reflected image are of course literally separate. But the agency of reflection is a mode of appropriation, of illusionistically erasing the difference between subject and object.“ 110 Krauss’ Argumentation basiert auf der Annahme, dass das Spiegelmoment nur durch die Wiedergabe des Körperbildes auf dem Monitor hervorgerufen werden könne. Meine These ist jedoch, dass das Spiegelmoment auch im Prozess der Aufführung einer Performance in Anwesenheit einer 8mm-, einer 16mm- oder einer Foto-Kamera lokalisiert werden kann. Die Spiegelung findet imaginär statt: Die Performerin oder der Performer sieht sich selbst, während sie oder er vor der Kamera performt. Dabei agiert sie oder er in einer Rolle, deren Ambivalenz und Veränderbarkeit während der Performance hervorgehoben wird. Auch die Spiegelung in den Augen der Anderen findet imaginär statt: Die Performerin oder der Performer agiert in Anwesenheit des zukünftigen Publikums. Während des Aufführungsprozesses findet jedoch nicht, wie von Krauss im Zusammenhang mit dem Medium Video behauptet, eine Verschmelzung, sondern vielmehr eine Abgrenzung statt. Sowohl das Spiel mit der eigenen Rolle als auch das zukünftige Publi­ kum werden im weiteren Verlauf der Analyse ausführlich erläutert. Was die oder der Performende durch das Auge der Kamera sieht, ist also ihr oder sein gespiegeltes Selbst und gleichzeitig der Andere. Bei Lacan ist der kleine andere (Objekt klein a) „der andere, der nicht wirklich anders ist, sondern eine Spiegelung und eine Projektion des Ichs […]. Er ist gleichzeitig der Ähnliche und das Spiegelbild.“ 111 Der große Andere (A) hingegen „symbolisiert die radikale Alterität, eine Andersheit, welche die illusorische Andersheit des Imaginären transzendiert, weil sie nicht durch Identifikation aufgehoben werden kann“ 112. Diese radikale Alterität wird von Lacan dem Gesetz und der Sprache gleichgestellt und der Andere in die Ordnung des Symbolischen eingeschrieben. Der Andere könne somit sowohl ein anderes Subjekt als auch die symbolische Ordnung sein, wobei die Bedeutung des Anderen als ein anderes Subjekt hinter dessen Bedeutung als symbolische Ordnung zurücktrete: „zu allererst muß ‚der Andere als der

108 Ebd., 55. 109 Ebd. 110 Ebd., 56 f. 111 Evans 2002, 39. 112 Ebd.

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Ort [verstanden werden], an dem das Ich, das spricht, sich konstituiert‘“.113 Dieses Verständnis des Anderen als Ort geht zurück auf den Begriff der psychischen Lokalität des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der „das Unbewußte als ‚de[n] andere[n] Schauplatz‘“ 114 beschreibt, der jedoch nicht mit einer physischen oder anatomischen Lokalität verwechselt werden darf 115: „Lacan verwendet den Terminus ‚Schauplatz‘ zur Bezeichnung des imaginären und symbolischen Theaters, in welchem das Subjekt sein Phantasma auslebt, deren Fundament das Reale ist (die Welt).“ 116 Diese Vorstellung des Anderen als Ort und als Schauplatz ist im Zusammenhang mit einer Performance für die Kamera insofern hilfreich, als die Interaktion während der Performance zwischen Performerin oder Performer und dem Anderen stattfindet. Die Kamera ist nicht selbst der Ort oder Schauplatz, sie erzeugt und produziert jedoch diesen Ort oder Schauplatz im Zusammenspiel mit der Performerin oder dem Performer. Pintilie interpretiert den Künstlerkörper bei Grigorescu, der vor einem überwachenden Auge agiert, als einen gefügigen Körper (docile body)117 im Sinne Michel Foucaults. Dieser Körper werde von einer Macht manipuliert, „obeying commands and following directions, a sort of ‚machine-man‘, suffering from a materialist reduction of the soul, on which a real theory of control is applied“ 118. Pintilie zieht den Vergleich zum Alltag in einer Diktatur, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner in Schlafstädten leicht überwacht werden konnten.119 Die Interpretation des Kamerablicks als überwachendes Auge trifft jedoch nur auf einen Teil des Prozesses der Aufführung, Medialisierung und Wiederaufführung der Performance zu und greift daher zu kurz. Im Folgenden werden daher Blick und Funktion der Kamera in beide Richtungen – in Bezug auf die Performerin oder den Performer und in Beziehung zu den Betrachtenden – untersucht. 3.4.4 Funktion der Kamera in zwei Richtungen Im Prozess der Aufzeichnung und später im Rezeptionsprozess der medialisierten Performances fungiert die Kamera als Akteurin in beide Richtungen, indem sie ihr Auge zunächst auf die Performerin oder den Performer und später indirekt, mit einem Umweg über die Leinwand, auf die Betrachtenden richtet. Bei Natalia LL und bei ­Grigorescu haben die Betrachtenden zwei Möglichkeiten: die Performerin oder der Performer blickt sie durch die Kamera direkt an. Sie können nun entweder den Blick der Kamera 113 Ebd. 114 Ebd., 40. 115 Vgl. ebd., 257. 116 Ebd., 258. 117 Pintilie 2014, 89. 118 Ebd. 119 Ebd.

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einnehmen. Oder die Betrachtenden können sich mit der Performerin oder dem Performer und ihrem oder seinem Körper identifizieren und so selbst zum betrachteten Objekt werden. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen der Performerin oder dem Performer und den Betrachtenden beziehungsweise zwischen filmischem Körperbild und realem Betrachtendenkörper, der in der performativen Wiederholung Machtgefälle erzeugt und wieder aufhebt sowie reale und fiktive Körperbilder aktiviert, variiert und damit hinterfragt. Kristine Stiles beschreibt diesen Prozess für die fotografische Serie La Bella Addormentata (1982)120, für die Grigorescu vorgefundene Negative (found footage) entwickelt, betitelt, geordnet, koloriert und durch die Hinzufügung von Text mit einer Geschichte versehen hat. Stiles verwendet für das Beziehungsverhältnis zwischen Performerin oder Performer, Fotografin oder Fotograf beziehungsweise dem Kameraauge und den Betrachtenden das Wort „Triangulierung“ 121, das suggeriert, dass die Betrachtenden als Dritte zu einer intimen Zweierbeziehung hinzutreten: „Diese Konstellation bringt mit einer Anwesenheit (die Frau), einer anwesenden Abwesenheit (der Fotograf ) und einer abwesenden Anwesenheit (die Betrachter) Raum, Zeit, Ort und Geschichte aus dem Gleichgewicht.“ 122 Für „die Frau“ kann an dieser Stelle auch die Figur der Performerin oder des Performers und für „der Fotograf“ die Kamera beziehungsweise das Kameraauge eingesetzt werden. Wie Natalia LL in Konsum-Kunst blickt Grigorescu in seiner Arbeit Pyjama direkt in die Kamera und kommuniziert mit ihr (Abb. 28). Die Fischaugenlinse verzerrt das Bild und verstärkt das Gefühl räumlicher, beinahe klaustrophobischer Enge. Dass der Künstler eine Fischaugenlinse benutzt, verweist nicht nur auf die Möglichkeit, mit dem gewünschten Publikum in Beziehung zu treten, sondern auch auf die Gefahr, von ungewünschten Beobachtern gesehen und überwacht zu werden. Die Linse verkörpert die damals allgegenwärtige Angst vor der ständigen Überwachung, die alles bis in den privatesten Winkel des (künstlerischen) Lebens kontrollierte und strengen Regeln unterwarf. Der eigene Körper stellte in diesem Fall eine letzte Rückzugsmöglichkeit dar. Ist der Dialog mit der Kamera bei Natalia LL ein Spiel mit den Blickregimen und der Frage danach, wer die Situation kontrolliert, so wirkt die Kommunikation Grigorescus mit der Kamera in Pyjama wie ein Versuch, dem allmächtigen Blick zu trotzen, ihm 120 Die fotografische Serie ist Stiles gewidmet und befindet sich in ihrem Besitz. Genaue ­Werkangaben: La Bella Addormentata, 1982, handgemachtes Album von Ion Grigorescu, schwarzes Papier in violettes Leinen gebunden, 24 Seiten mit 23 Schwarzweißfotografien (aufgenommen von Adalbert „Bela“ C ­ harap), vorgefundene und entwickelte Negative, handkoloriert, maschinengeschriebener erzählerischer Text in italienischer Sprache von Ion Grigorescu, Album: 39,4 × 52 cm, Fotografien: je 29,8 × 40 cm. Courtesy: Kristine Stiles. Vgl. Gantenbein 2015, 220. 121 Stiles 2015, 121. 122 Ebd.

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etwas entgegenzusetzen, ihn zu irritieren und am Ende die Kontrolle über sich selbst und den eigenen Körper zurückzugewinnen. Pintilie beschreibt das Verhältnis zwischen Grigorescu und den von mir als zukünftig bezeichneten Betrachtenden wie folgt: For Grigorescu, the communication with the onlooker assumes the infinitely versatile forms of an image strategy construction. The secret structure of such communication relies on intuitive psychological and sociological analyses, and represents a mysterious, deeper presence. The effect, however, is unanimously recognized: the image, challenging to the highest degree, becomes manipulative and subversive, intrigues you and eventually forces you out of your position of a comfortable, neutral, potentially bored receiver. The onlooker is intrigued without always feeling the extent to which he is being manipulated.123

Auch Pintilie geht also von einer Kommunikation Grigorescus mit den Betrachtenden aus.124 Bei ihr sind die Betrachtenden unwissend. Nichtsahnend werden sie von dem Bild manipuliert, ohne es zu bemerken. Die Beziehung zwischen Performenden, Kamera und Betrachtenden ist jedoch weitaus komplexer, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird. 3.4.5 Soziale Rolle und die Anderen Während die Performenden in den Arbeiten Natalia LLs und Grigorescus filmen oder fotografieren, begeben sie sich in verschiedene soziale Rollen, die sie während der Aufnahme wiederholt aufführen und dabei variieren. Die Rollen führen sie zunächst einmal vor sich selbst auf, wobei sich die Rolle im Moment der Aufführung erst konstituiert. Ihre Mimik und ihre Gesten sind sowohl Antworten auf ihr (imaginäres) Spiegelbild als auch auf die Blicke der imaginierten Betrachtenden. Die Performativität dieses Prozesses liegt in dem Hin- und Herwechseln zwischen der Identifikation mit dem imaginierten Bild und der Entfremdung von demselben. Durch die Wiederholung werden Rolle und Selbstbild sowohl in ihrer sozialen als auch in ihrer medialen Erscheinungsform gefestigt. Die Rollen, die die Performerin in der Arbeit von Natalia LL im Laufe ihrer Performances nacheinander und manchmal auch gleichzeitig aufführt, die sie realisiert, affirmiert, mit denen sie spielt und die sie neu interpretiert, sind beispielsweise Kleinkind, Frau, Verführerin und Künstlerin. Grigorescu experimentiert in seinen Arbeiten Masculin/ Feminin und Naşterea (Geburt, 1977) mit als maskulin und feminin bezeichneten Rollen sowie Körperbildern (Abb. 30, Taf. 5). Die fotografische Serie Geburt beispielsweise zeigt den Künstler in einer Situation, in der ein Geburtsvorgang simuliert wird. Die Kamera 123 Pintilie 2013, 11. 124 Pintilie spricht den Betrachtenden die Verantwortung ab, die Philip Auslander ihnen zugesteht. Vgl. hierzu weiter unten in diesem Kapitel sowie Auslander 2006, 30.

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zeigt Ansichten seines nackten Körpers auf einem Stuhl in einem dunklen Raum aus verschiedenen Perspektiven. Ein knotenartig geflochtenes Gebäckstück in seinem Schoß kann für Eierstöcke, die Nabelschnur oder für ein neugeborenes Kind stehen. Der Vorgang des Gebärens kann auch politisch verstanden werden: „In der speziellen Situation Rumäniens dieser Zeit wurde Grigorescus Performance auch als eine Ausein­andersetzung mit dem Machtmenschen und ‚Gebärer‘ des politischen Systems, dem Staatschef Nicolae Ceauşescu, gesehen.“ 125 In Pyjama tritt uns Grigorescu mit dem Aussehen und der Gestik eines salutierenden Sträflings entgegen. Die Anspielung Grigorescus auf einen Menschen in Uniform verweist jedoch auch auf die Verkörperung eines Jedermanns, eines Menschen ohne Gesicht und Individualität. Dieser Jedermann wird gewissermaßen durch das (überwachende) Auge der Kamera erzeugt. Die Performance setzt dem disziplinierenden Blick der Kamera eine subjektive Erfahrung entgegen. Der Körper performt die alltäglichen Gesten auf seine ihm eigene und unwiederholbare Art und Weise – die Geste ist zwar wiederholbar, aber sie ist niemals dieselbe –, während die Kamera eine normierende Wirkung ausübt. Dieses Verhältnis von Körper und Kamera beschreibt Grigorescu rückblickend als einen Wettstreit über die Produktion von Bildern. Der Künstler arbeitete nie mit einem Fotografen zusammen, sondern ließ die Kamera ein Bild von sich zeichnen: When I take pictures of myself or when I look at myself on the screen, what I see is a dummy, in fact a common individual, Musil’s man without qualities. The body and the camera compete with each other over the production of images. I am not used to working with a photographer, I let the camera get a reading of me; analog cameras were easy to adapt, as their moves were mechanical; digital ones come with settings that I cannot change in any way.126

Das Kameraauge bekommt hier etwas äußerst Produktives: Es hat die Macht, Bilder zu erzeugen. Dabei ist zentral, dass Grigorescu der Kamera die Macht freiwillig überlässt. Er beschreibt jedoch auch seine damalige Vorliebe für analoge Kameras, deren Mechanik er beeinflussen konnte. Er überließ die Kontrolle also nie ganz der Apparatur. Natalia LL und Grigorescu beziehen sich einerseits auf Rollen, die bereits in der Gesellschaft existieren. Andererseits erfinden sie jedoch auch neue Rollen. Da die Performenden, wie bereits gezeigt, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ein imaginäres Publikum agieren, führen sie die soziale Rolle auch für die im Auge der Kamera präsenten Anderen auf. Diese Anderen tragen maßgeblich zur Entstehung der Rolle bei. Durch die Wiederholung wird die Rolle etabliert und gefestigt. Die Rollen widersprechen sich 125 Vgl. den Katalogeintrag des Museums Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien: https://www.mumok. at/de/deliverybirth [Zugriff am 15. 5. 2020]. 126 Cios 2011, 76.

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jedoch teilweise und erzeugen so eine Spannung und Zwischenräume, in denen Variation und Abweichung möglich werden. Die dauernde Möglichkeit der Variation erzeugt dabei einerseits Unsicherheit bei den Betrachtenden. Die Spannung verstärkt sich bei Natalia LL noch dadurch, dass ein Modell verwendet wird. Andererseits ermöglicht die Wiederholung erst die Variation und Rollenidentifikation, Rollendistanz und Rollenwechsel eröffnen Spielräume – nicht nur für das performende Modell, sondern auch für die Betrachtenden. Die Begriffe „Rolle“ und „Rollendistanz“ werden im Folgenden mit Bezug auf die Definition einer sozialen Situation von Erving Goffman weiter ausgeführt und um die Begriffe „Darstellung“, „Fassade“, „Image“ und „Face“ erweitert. 3.4.6 Definition und Re-Definition einer potentiellen sozialen Situation Wie in Kapitel 2 bereits beschrieben wurde, zeigen Interaktionspartner in sozialen Situationen „Aufmerksamkeit und Anteilnahme, hier findet die Koordination von Handlungen statt, und hier sind ihre Körper verletzlich […].“ 127 Goffman beschreibt 1963 in seinem Buch Interaktion im öffentlichen Raum 128 sowohl die Entstehung als auch das Ende einer Situation: Nach Goffmans Definition beginnt diese, wenn gegenseitig beobachtet wird (when mutual monitoring occurs)129, und endet, wenn die vorletzte Person den Schauplatz verlässt. Der Begriff „Situation“ bezieht sich dabei jedoch auf die gesamte räumliche Umgebung der Menschen, die Teil einer Zusammenkunft (gathering)130 sind oder Teil dieser Zusammenkunft werden. Übertragen auf die Situation von Performenden und Betrachtenden können also sowohl die Situation, in der die Performenden für künftige Betrachtende vor der Kamera agieren als auch die Rezeptionssituation zusammengenommen als eine Gesamtsituation (situation at large)131 aufgefasst werden. Die Künstlerin oder der Künstler bewegt sich in einem Raum, in dem imaginär die Anderen schon anwesend sind und eröffnet so die Situation. In der Rezeption der filmischen oder fotografischen Performance werden die Betrachtenden Teil der Zusammenkunft, die erst dann endet, wenn die oder der Letzte den Raum verlässt und die Performerin oder der Performer 127 Knoblauch 1994, 35. Vgl. hierzu Kapitel 2.5 in dieser Arbeit. 128 Goffman 2009 [1963]. 129 Goffman 1963, 18. 130 Goffman macht die körperliche Präsenz zur Bedingung einer „Zusammenkunft“ und spricht von Ko-Präsenz (copresence). „Die vollen Bedingungen von gemeinsamer Präsenz sind in weniger variablen Umständen anzutreffen: Die Personen müssen deutlich das Gefühl haben, dass sie einander nahe genug sind, um sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun; es muss auch wahrgenommen werden, dass sie den anderen wahrnehmen, und sie müssen einander nahe genug sein, um zu fühlen, dass sie wahrgenommen werden.“ Goffman gebraucht „den Terminus Zusammenkunft [gathering] hinfort für diejenigen Individuen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der gegenseitigen Anwesenheit anderer befinden.“ Goffman 2009 [1963], 33 f. 131 Goffman 1963, 18.

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im Bild allein zurückbleibt. Für die Aufmerksamkeit oder Beobachtung, die die an der Situation Beteiligten einander entgegenbringen oder unter die sie sich gegenseitig stellen, verwendet Goffman den Begriff „monitoring“ 132. Dieser beinhaltet sowohl die neutrale Beobachtung als auch die Überwachung und Kontrolle einer Situation und lässt sich daher gut auf Situationen übertragen, in denen eine Kamera die zentrale Rolle spielt und gegebenenfalls Kontrollfunktionen übernimmt. 3.4.7 Darstellung und Fassade, Face und Image, Rolle und Rollendistanz In seiner frühen Forschung Ende der 1950er Jahre verfolgte Goffman einen dramaturgischen Ansatz und entwickelte seine Begriffe in Analogie zum Theater. Sein erstes Buch erschien im Deutschen unter dem Titel Wir alle spielen Theater 133 und er führt darin Begriffe wie Darstellung, Rolle oder Vorder- und Hinterbühne ein. Als eine „Darstellung“ (performance) bezeichnet Goffman die „Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation […], die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen“ 134. Er führt weiter aus: „Ich habe den Begriff ‚Darstellung‘ zur Bezeichnung des Gesamtverhaltens eines einzelnen verwendet, das er in Gegenwart einer bestimmten Gruppe von Zuschauern zeigt und das Einfluß auf diese Zuschauer hat.“ 135 Während der Darstellung wählt die Performerin oder der Performer eine bestimmte Fassade, die die jeweilige Darstellung unterstützt und sie oder ihn in der Rolle schützt. Goffman plädiert dafür, denjenigen Teil der Darstellung des Einzelnen ‚Fassade‘ zu nennen, der regelmäßig in einer allgemeinen und vorbestimmten Art dazu dient, die Situation für das Publikum der Vorstellung zu bestimmen. Unter Fassade verstehe ich also das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet. Zunächst wird es sich empfehlen, die Elemente zu unterscheiden und zu benennen, die in den meisten Fällen offensichtlich zur Fassade gehören.136

Der Soziologe Heinz Abels fasst zusammen, dass Wahl und Konstruktion einer Fassade auch davon abhängt, was in einer Gesellschaft in dieser Hinsicht erwartet wird: „Die stereotypen Erwartungen an eine soziale Fassade können dazu führen, dass diese Fassade institutionalisiert wird.“ 137 Da sie Teil der dramatischen Gestaltung sei, sei der Darsteller 132 Ebd. 133 Goffman 122013 [1956]. 134 Ebd., 18. 135 Ebd., 23. 136 Ebd. 137 Abels 2007, 176.

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einer etablierten Rolle gezwungen, eine bestimmte Fassade zu übernehmen.138 Fassaden würden „meist gewählt und nicht geschaffen“ 139. Hier ist ein Blick in die gesellschaftlichen Strukturen notwendig, in denen die Performances von Natalia LL und Grigorescu entstanden. Welche Rollen waren für Männer und Frauen jeweils anerkannt? Welche Rollen konnte eine Künstlerin oder ein Künstler einnehmen? Inwiefern war es schwierig, sich von Rollenbildern abzugrenzen? War das Spiel mit verschiedenen oder abweichenden Rollen möglich oder in welchen Kontexten und unter welchen Voraussetzungen sogar erwünscht? Natalia LL spielt vor allem mit Rollenbildern, die in (west-)europäisch oder US amerikanisch geprägten Gesellschaften als weiblich gelten, wie zum Beispiel das Bild der Verführerin (vgl. hierzu weiter oben Seite 164). Dabei wechselt sie zwischen einem mit kindlichen Attributen besetzten Rollenbild sowie dem einer souverän auftretenden Frau hin und her. Sie thematisiert mit ihren Arbeiten jedoch auch die Rolle einer Künstlerin und die eines Modells. All diese Rollen waren gesellschaftlich anerkannt. Erst der Wechsel zwischen den Rollenbildern in Kombination mit bestimmten Gesten wie der erotisierten Interaktion mit einer Banane macht die Rollenbilder durchlässig, enttarnt sie als „Maskerade“ 140 und führt bei den Betrachtenden zu Irritation. Wie genau sich diese Ambivalenz bei den Betrachtenden auch als körperliche Reaktion äußert, wird im Folgenden noch einmal aufgegriffen (siehe auch Kapitel 3.4.9). Die Rolle, die Natalia LL mit ihrem Kunstschaffen in den feministisch geprägten KunstDiskursen der 1970er Jahre in Europa und den USA spielte, wird im Kontext-Kapitel (Kapitel 3.5.3) weiter ausgeführt. Die Rollenbilder, die Grigorescu untersucht, sind von ihm als maskulin und feminin bezeichnete Rollenbilder (Masculin/Feminin; Abb. 30) sowie die Rolle des Künstlers (Waschen; Abb. 29) und des Sträflings (Pyjama; Abb 28). In den Arbeiten, in denen er sich mit Männlichkeit und Weiblichkeit auseinandersetzt, ist der nackte Künstlerkörper sehr präsent. Grigorescu betrachtet seinen Körper von allen Seiten und dringt bis in die verstecktesten Winkel vor. Mit Hilfe von Spiegeln kann er auch Körperpartien filmisch einfangen, die er sonst nicht sehen könnte. In der fotografischen Serie Geburt simuliert er eine Geburt und stellt sich selbst als Gebärenden dar (Taf. 5). Der spielerische Umgang des Künstlers mit geschlechtlichen Rollen rührte in der damaligen Gesellschaft der Sozialistischen Republik Rumäniens an ein Tabu. Der Staat übte Kontrolle über den Körper jeder einzelnen Bürgerin und jedes einzelnen Bürgers, sogar über ihre oder seine Reproduktion, aus. Die Überwachung bezog sich nicht nur auf die Arbeitskraft des 138 Ebd., 176 f. 139 Goffman 122013 [1956], 28. 140 Vgl. hierzu die Ausführungen zur „Maskerade“ in Kapitel 3.4.10 in dieser Arbeit sowie den folgenden Aufsatz: Riviere 1994 [1929].

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Menschen, sondern erstreckte sich bis in die privaten Bereiche des Alltags. Das Hinterfragen geschlechtlicher Identitäten und traditioneller Rollenbilder wurde als Kritik am System aufgefasst.141 Wie Goffman beschreibt, beinhaltet eine Darstellung unterschiedliche Rollen, die die Darstellenden einnehmen und von denen sie sich distanzieren können: „Die Rolle, die ein Individuum in einem situierten Aktivitätssystem spielt, sagt unvermeidlich etwas darüber aus, welches Bild es von sich selbst und die anderen sich von ihm machen.“ 142 Es können immer mehrere Rollen gleichzeitig ausgeführt und von einem Individuum erwartet werden: Während das Individuum offensichtlich an einem Gefüge von Rollen teilnimmt, besitzt es die Fähigkeit, sein Engagement für andere Schemata in der Schwebe zu halten; es erhält so eine oder mehrere ruhende Rollen aufrecht, die bei anderen Gelegenheiten ausgeübt werden.143

Wie der Soziologe Jürgen Raab ausführt, agiere das Selbst in sozialen Situationen „in einer Doppelrolle als Akteur und gleichzeitig als Beobachter und Interpret eigener und fremder Handlungen.“ 144 Abels hebt den Unterschied zwischen „Face“ und „Image“ hervor, der in deutschen Übersetzungen teils verloren gegangen sei. „Face“ ist bei Goffman demnach zum einen das Selbstbild, dann aber auch das Bild, das das Individuum glaubt, in den Augen der anderen zu haben. […] Dieses zweite Bild wurde in der deutschen Fassung als „Image“ bezeichnet. […] Selbstbild und Image können in Widerspruch zueinander geraten […].145

Der Glaube an die eigene Rolle bestimme dabei, „wieweit der Einzelne selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet“ 146. Wie genau sich die Distanzierung von der Rolle vollzieht, erläutert Abels wie folgt: Für Goffman ist es die vorrangige Frage, inwieweit die Zumutungen der Gesellschaft die Darstellung der Identität stören. Um zu zeigen (oder wenigstens zu beanspruchen), dass man anderes und mehr ist als in der Rolle erwartet und ermöglicht wird, distanziert sich das Individuum von der Rolle. Rollendistanz heißt nicht Verweigerung oder Unfähigkeit, sondern im Gegenteil die hohe Kompetenz, souverän mit einer Rolle umzugehen.147

141 Vgl. hierzu die Ausführungen zum historischen Kontext in Kapitel 3.5.5 in dieser Arbeit. 142 Goffman 1973 [1961], 109.] 143 Ebd., 101. 144 Raab 2008, 91. 145 Abels 2007, 166. 146 Goffman 122013 [1956], 19. 147 Abels 2007, 168.

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Bei Natalia LL und Grigorescu können wir diese Souveränität beobachten. Bei Natalia LL wird diese Fähigkeit, die Rolle zu meistern, am deutlichsten in den Momenten, in denen die Performerin lächelt oder mit den Schultern zuckt. Bei Grigorescu kann sie in der Art und Weise beobachtet werden, wie der Künstler uns durch seine Fischaugenlinse wie durch einen Spion betrachtet und überwacht – obgleich das Instrument des Spions den Anschein erweckt, dass es eigens dafür gebaut wurde, den Künstler zu überwachen. Die Performenden sind der Kamera im Medialisierungsprozess der Performance keinesfalls unterlegen. Sie definieren und dominieren die Situation: Die durch die Rollendistanz erreichte Souveränität eröffnet dem Individuum die Chance, „die Situation und die Fassaden, das Bühnenbild und sogar die Zuschauer neu zu definieren“ 148. Abels betont mit Bezug auf den Soziologen Anselm Strauss, dass jede Interaktion eine Interaktion mit abwesenden Zuschauern ist. Diese Zuschauer, auf die man sich bezieht, müssen nicht konkret anwesend sein, es können symbolische Figuren der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch der Zukunft sein.149

Diese Interaktion mit einem zukünftigen Publikum und ihre Einbeziehung in die soziale Situation, die während der Performance in Anwesenheit einer Kamera erfolgt, wurde in Kapitel 2 ausführlich dargestellt. Welche Rolle dieses zukünftige Publikum im Verlauf der Medialisierung der Performance spielt und wie sehr es die Situation mitdefiniert, kann mit Abels wie folgt beschrieben werden: Die „Vorwegnahme der Antworten“ dieser anderen geht in das eigene Handeln ein. Dies kann dazu führen, dass man die Verpflichtung, die sich aus einer aktuellen Rolle ergibt, anders definiert, weil die Erwartungen dieser abwesenden Zuschauer höheres Gewicht haben. Der Handelnde distanziert sich also von aktuellen Erwartungen, indem er sich anderen Erwartungen annähert. Er handelt also in Bezug auf seine Interaktionspartner unter einem nicht explizit gemachten Vorbehalt.150

Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Goffman, der die „Rückkopplung“ 151 oder „Gegenseitigkeit“ 152 als ein Merkmal von „unmittelbarer sozialer Interaktion“ 153 herausstellt:

148 Ebd., 183 f. 149 Ebd., 184. Abels bezieht sich hier auf Strauss 1968 [1959], 34. 150 Ebd. Abels bezieht sich hier auf Strauss 1968 [1959], 34. 151 Goffman spricht auch von „Monitormöglichkeiten“. Goffman 2009 [1963], 31. 152 Ebd., 33. 153 Ebd., 32.

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Jeder Mensch kann sehen, dass er in einer bestimmten Weise erfahren wird, und er wird zumindest einige seiner Verhaltensweisen an der wahrgenommenen Identität und der ursprünglichen Reaktion deren, die ihn beobachten, ausrichten.154

Dadurch ist jeder Sender „zugleich auch Empfänger und jeder Empfänger ist zugleich auch Sender“ 155. Goffman selbst bezieht neue Medien in Situationen und medial vermittelte Ko-Präsenz zwar in seine Überlegungen mit ein, sein Fokus liegt jedoch auf Face-to-Face-Begegnungen. Wie in dem vorhergehenden Kapitel dargestellt wurde, haben neuere soziologische Forschungen Goffmans Konzepte jedoch weitergedacht und auf medialisierte Situationen ausgeweitet.156 Die medialisierte Performance bietet durch die Spiegelungs- und Dialogfunktionen künstlerische Techniken sowohl des Glaubens an die eigene Rolle als auch der Rollendistanz. Wenn Natalia LL lacht und die Schultern hochzieht, so ist dies eine Geste, mit der sie sich von ihrer Rolle distanziert. Sie unterbricht ihren Bewegungsablauf mehrfach durch unvermitteltes Lachen und die entschuldigende Schulterbewegung und bricht damit ihre Identifizierung mit der jeweiligen Rolle (bei Goffman der „Glaube an die eigene Rolle“ 157) als Kleinkind oder Verführerin. Dies irritiert zunächst, da auch die Betrachtenden dazu angehalten werden, die einzelnen Rollen und die Rollendistanz wahrzunehmen und in ihrer Rezeption darauf zu reagieren. Macht schränke die Handlungsmöglichkeiten innerhalb einer Situation asymmetrisch ein, so Abels: „Wo Macht die Situation dominiert, ist nur für eine Seite Rollendistanz möglich.“ 158 Erklärungen, Entschuldigungen und Scherze seien „Methoden, durch die das Individuum bittet, einige der bezeichnenden Merkmale der Situation als Quellen der Definition seiner Person zu streichen“ 159, betont Goffman. Diese Methoden ermöglichten es uns, uns als eine Person im Spiel zu halten und Vereinnahmungen zurückzuweisen, wie Abels erläutert.160 „Mittels Rollendistanz beeinflusst das Individuum aktiv das Bild, das andere von ihm haben oder haben könnten.“ 161 Rollendistanz ist bei Goffman daher die „Trennung zwischen dem Individuum und seiner mutmaßlichen Rolle“ 162. Das Spiel mit der Rolle sowie die Rollendistanz ist sowohl bei Natalia LL als auch bei Grigorescu eine Methode, die Betrachtenden abwechselnd in Sicherheit zu wiegen und zu verunsichern, die Kontrolle über das von ihnen produzierte Bild zu behalten und gezielt zu beeinflussen. 154 Ebd. 155 Ebd. 156 Vgl. hierzu Kapitel 2.5.1. 157 Goffman 122013 [1956], 19 – 23. 158 Abels 2007, 185. 159 Goffman 1973 [1961], 118. 160 Abels 2007, 185. 161 Ebd. 162 Goffman 1973 [1961], 121.

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Im Falle der Arbeiten Grigorescus kann auch an die Untersuchungen Goffmans zu „totalen Institutionen“ 163 angeschlossen werden. Im Rahmen seiner Forschung, die er anschließend in den beiden Büchern Asyle 164 und Stigma 165 publizierte, stellte Goffman fest, „dass Rollendistanz in totalen Institutionen eine Strategie des Überlebens unter institutionellen Randbedingungen ist, unter denen das Individuum extrem gefährdet ist“ 166. Wie im letzten Teil des Kapitels noch ausführlich dargestellt wird, lebt und arbeitet Grigorescu unter solchen „institutionellen Randbedingungen“, die für die Subjektivierung gefährdend sind, und wendet die Rollendistanz als künstlerisches Mittel an, um sich der permanenten Kontrolle der von ihm produzierten Bilder vom Körper durch den Staat zu entziehen. 3.4.8 Von der Hinterbühne zur Verantwortung In seiner Publikation Wir alle spielen Theater (1959) erklärt Goffman die Funktion der „Vorderbühne“, bevor er auf die „Hinterbühne“ zu sprechen kommt: […] daß man bei Tätigkeiten, die in Anwesenheit anderer stattfinden, einige Aspekte betont, andere hingegen, die den hervorgerufenen Eindruck beeinträchtigen könnten, unterdrückt. Es ist klar, daß solche Betonungen in dem Raum auftauchen, den ich als Vorderbühne bezeichnet habe.167

Auf der Hinterbühne hingegen tritt das Unterdrückte in Erscheinung: „Die Hinterbühne kann definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewußt und selbstverständlich widerlegt wird.“ 168 Badezimmer und Schlafzimmer sind bei Goffman Beispiele für die sogenannte „Hinterbühne“ 169. Die Räume der Hinterbühne dienen sowohl der Selbstkorrektur 170 als auch der Erholung von der Aufrechterhaltung der Fassade.171 Auch das ungezwungene 163 Goffman 202016 [1961]. Das erste Kapitel nach der Einleitung lautet: „Über die Merkmale totaler Institutionen“, ebd., 13 – 123. 164 Ebd. 165 Goffman 1974 [1963]. 166 Abels 2007, 186. 167 Goffman 122013 [1956], 104. 168 Ebd. 169 „[…] sind Badezimmer und Schlafzimmer überall […] Orte, von denen das Publikum gewöhnlich ausgeschlossen wird. In der Küche geschieht mit den Speisen, was in Badezimmer und Schlafzimmer mit dem menschlichen Körper geschieht.“ Ebd., 111. Vgl. hierzu auch Goffman 2009 [1963], 55. 170 „Hier können Kostüme und andere Bestandteile der persönlichen Fassade auf Fehler hin überprüft und korrigiert werden.“ Goffman 122013 [1956], 104. 171 „Hier kann sich der Darsteller entspannen; er kann die Maske fallen lassen, vom Textbuch abweichen und aus der Rolle fallen.“ Ebd., 105.

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Verhalten vor einem Spiegel findet meist in Räumlichkeiten statt, die zur Hinterbühne gezählt werden. Ein Spiegel kann jedoch auch dazu genutzt werden, eine andere Person unbemerkt zu beobachten. Sich in der Gegenwart eines Spiegels und gleichzeitig nicht im geschützten Bereich einer Hinterbühne zu befinden, bedeutet daher immer auch eine gewisse Verletzlichkeit einzukalkulieren, ein Den-Blicken-der-Anderen-Ausgeliefert-Sein in Kauf zu nehmen. Dieses Gefühl der Schutzlosigkeit ist vergleichbar mit dem Gefühl, das die Anwesenheit einer Kamera erzeugen kann. Erst die Kommunikation über den Spiegel (oder die Kamera) mit dem Blick des Anderen ermöglicht die Rückgewinnung der Kontrolle und das Spiel mit Rollen und Hierarchien. In seinem Aufsatz Goffman mediatisieren (2016)172 führt der Kulturwissenschaftler und Historiker Stefan Laube sehr überzeugend vor, wie sich die Überlegungen ­Goffmans zur Vorder- und Hinterbühne auf mediatisierte Situationen übertragen lassen. Er fragt, wie technologische Artefakte und im Speziellen bildschirmbasierte Kommunikationsmedien zum Zusammenwirken von Vorder- und Hinterbühne beitragen und wie Bildschirmtechnologien die Teilnahme am Vorderbühnengeschehen ermöglichen, ohne dass die Teilnehmenden körperlich auf dieser Vorderbühne auftreten müssen.173 Laubes Erweiterung von Goffmans theoretischen Grundannahmen bildet den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen zu Herstellung und Funktion von Vorder- und Hinter­bühne sowie dem Transfer zwischen beiden Bühnenarten im Werk von Natalia LL und Grigorescu. Natalia LL führt jede Serie mehrfach durch. So entstehen von Konsum-Kunst und später von Post-Konsum-Kunst in den Jahren 1971 bis 1975 mehrere Versionen (Abb. 27, Taf. 4). Auf diese Weise hat Natalia LL die Möglichkeit, die Wirkung der einzelnen Arbeiten zu überprüfen und die äußere Erscheinung des ausführenden Modells sowie die Gesten zu variieren. Diese Selbstkorrektur geschieht zwar nicht im Moment der Performance, sondern im Nachhinein, sie kann jedoch trotzdem mit der Selbstbeobachtung im Spiegel verglichen werden. Durch die Verwendung eines Modells verdoppelt Natalia LL ihren Körper und übt Macht über ihn aus. Auf diese Weise kann sie dessen Performance auch im Nachhinein noch verbessern. Grigorescu bewegt sich in doppelter Hinsicht auf einer Hinterbühne im Sinne ­Goffmans. Er befindet sich in seinen privaten Räumen, die ihm auch als Atelier dienen (Pyjama; Abb. 28), und er führt typische Hinterbühnen-Tätigkeiten durch: er legt seine Kleidung ab (Body; Abb. 31), wäscht sein Gesicht (Waschen; Abb. 29), bohrt in der Nase und macht Grimassen wie vor einem Spiegel (Masculin/Feminin; Abb. 30). Der Raum, sein Verhalten und seine Tätigkeiten weisen also darauf hin, dass er sich unbeobachtet fühlt und seine Fassade nicht weiter aufrechterhalten muss. Gleichzeitig führt er jedoch 172 Laube 2016. 173 Ebd., 287 f.

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seine Performance vor einem imaginären und zukünftigen Publikum auf. Die Anwesenheit der Kamera führt dazu, dass sich die Hinter- in eine Vorderbühne verwandelt – zugleich jedoch nicht alle Eigenschaften der Ersteren verliert. Wie Goffman feststellt, ist bestimmten Orten der Hinterbühnen-Charakter materiell inhärent, so dass sie „im Verhältnis zu benachbarten Regionen unausweichlich Hinterbühne sind“ 174. Gleichzeitig gebe es „viele Orte, die in einem Sinne und zu einem bestimmten Zeitpunkt als Vorderregion und in einem anderen Sinne als Hinterregion fungieren“ 175. Als ein solcher Ort kann Grigorescus Wohnung angesehen werden, in der er seine Performances durchführt. Dass diese überhaupt zu einem Ort wird, der zwischen Vorder- und Hinterbühne changiert, ist eng mit der räumlichen Verortung der Performance in der Sozialistischen Republik Rumänien und mit den historischen Bedingungen verknüpft, die in Kapitel 3.5.4 bis 3.5.6 ausführlich dargestellt werden. Das Changieren zwischen Vorder- und Hinterbühne führt dazu, dass die Betrachtenden sich nicht nur als Voyeurinnen und Voyeure des Geschehens erleben, sondern auch als Vertraute des Künstlers: Wir werden gewissermaßen Teil seines „Ensembles“. Goffman verwendet den Begriff „Ensemble“ für jede Gruppe von Individuen, die gemeinsam eine Rolle aufbauen 176: Ein Ensemble kann also definiert werden als eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muß, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll. Ein Ensemble ist zwar eine Gruppe, aber nicht in bezug auf eine soziale Struktur oder eine soziale Organisation, sondern eher in bezug auf eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen, in denen es um die relevante Definition der Situation geht.177

Die Mitglieder eines Ensembles unterstützen sich wechselseitig in den Darstellungen ihrer „Images“ und wissen um die Brüchigkeit der vorgeführten Wirklichkeit, weshalb sie in besonderer Art und Weise aufeinander angewiesen sind.178 Im Falle des Ensembles ist die Hinterbühne ein Raum, in dem Absprachen über die gemeinsame Fassade getroffen werden.179 Wie Goffman betont, stehen „Personen, die zusammen an der Inszenierung der gleichen Ensemblevorstellung arbeiten, oft in einem Vertrauensverhältnis zueinander“ 180. 174 Goffman 122013 [1956], 114. 175 Ebd., 116. 176 Ebd., 75. 177 Ebd., 96. 178 Raab 2008, 70 f. 179 „Hier kann das Ensemble, wenn keine Zuschauer da sind, seine Vorstellung proben und sie auf Anstoß erregende Ausdrücke hin kontrollieren. Hier können die schwächeren Ensemblemitglieder, die im Ausdruck ungeschickt sind, trainiert oder aus der Besetzungsliste gestrichen werden.“ Goffman 122013 [1956], 104. 180 Ebd., 117.

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Meist komme diese Vertrautheit nur zum Ausdruck, wenn kein Publikum anwesend sei: „Da Hinterregionen normalerweise den Zuschauern nicht zugänglich sind, dürfen wir hier Vertrautheit im Umgang erwarten, während auf der Vorderbühne ein förmlicher Ton angeschlagen wird.“ 181 Hier lässt sich ein Bogen zu Auslander schlagen, der davon ausgeht, dass die Künstlerin oder der Künstler im Verlauf einer Performance dem Publikum gegenüber „Verantwortung“ 182 übernehme. Die Beziehung, die dadurch zwischen Performerin oder Performer und zukünftigem Publikum entsteht, ist in gewisser Weise eine Vertrauensbeziehung. Um die „performed photography“ 183 genauer zu bestimmen, bezieht er sich auf eine Definition des Anthropologen Richard Bauman und verdeutlicht seine These anhand der Arbeit Photo-Piece (1969) von Vito Acconci: Da es bei der Live-Performance kein Publikum gab und das Ereignis für zufällig anwesende Zuschauer-Innen nicht als Performance gestaltet war […], wird einzig und allein durch die Dokumentation Acconcis Handlung als „Darstellung formuliert“ und aus ihrer ­„kontextuel­len Umgebung gehoben“.184

Die Formulierungen übernimmt Auslander von Bauman, der Performance wie folgt definiert: Kurz gesagt verstehe ich Performance als eine Art kommunikativer Darstellung, in der der Performer etwas signalisiert, nämlich „Hey, seht mich an! Ich bin da! Schaut zu wie geschickt und effektiv ich mich ausdrücke!“ Das heißt, dass sich Performance aus der Annahme begründet, einem Publikum gegenüber die Verantwortung zu haben, kommunikative Virtuosität darzustellen […]. In diesem Sinne von Performance ist also der Akt des Ausdrucks an sich als Darstellung formuliert: zum Objekt gemacht, zu einem gewissen Grad aus seiner kontextuellen Umgebung gelöst und sowohl in Bezug auf seine inhärenten Qualitäten als auch seine assoziativen Resonanzen der interpretativen, wertenden Prüfung des Publikums ausgesetzt […]. Die spezifischen semiotischen Mittel, mit denen der Performer den Rahmen der Performance bestimmen kann, das heißt, die meta-kommunikative Botschaft „hier bin ich“ ist von Ort zu Ort und von historischem Zeitpunkt zu historischem Zeitpunkt unterschiedlich […]. Die kooperative Beteiligung des Publikums ist – und das soll betont werden – eine integrale Komponente der Performance als interaktive Leistung.185

181 Ebd. 182 Auslander 2006, 28. 183 Ebd., 23. 184 Ebd., 28. 185 Ebd., 27 f. Auslander bezieht sich auf: Bauman 2004, 9.

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Aus der Gegenüberstellung der Definition Baumans mit Acconcis Photo-Piece schließt Auslander, dass Acconci durch die Akte der Dokumentation und Präsentation die Verantwortung dem Publikum gegenüber übernehme.186 Dies ist im Hinblick auf die Performances von Natalia LL und Grigorescu, die wie Acconci allein für eine Kamera performten, eine interessante Beobachtung. Auslanders Konzept der Verantwortung während der Performance findet sich beispielsweise in etwas abgewandelter Form in Interview-Aussagen von Grigorescu wieder. Im Zusammenhang mit seinen Performances für eine Kamera spricht Grigorescu von einer Unterrichtsstunde oder Lektion (lesson)187, die jedoch in beide Richtungen stattfindet. Jeder Ausdruck ist bei ihm Teil eines Unterrichts, einer Lektion für den Anderen. Dabei ist er sein eigener Zensor. Gleichzeitig ist der Künstler derjenige, der, während er performt, einer Unterrichtsstunde zuhört.188 3.4.9 Die somatische Affizierung der Betrachtenden Die Medienwissenschaftlerin Anke Zechner arbeitet in ihrer Publikation Die Sinne im Kino (2013) für die Wahrnehmung von Film heraus, dass meist eine Privilegierung des Sehsinns stattfinde: In der abendländischen Hierarchie der Sinne werden die Nahsinne, wie der Geruchssinn, der Tastsinn, das Schmecken, als niedere Sinne aufgefasst. Vor allem der Geruchssinn wird gering geschätzt […]. Film wird zumeist als rein audiovisuelles Medium verstanden, das allein durch die Fernsinne, Auge und Ohr, zugänglich sei.189

Zechner spricht sich im Gegensatz dazu dafür aus, dass die Theoretisierung von Filmwahrnehmung den jeweiligen Aufführungsort, den Körper der Zuschauenden und alle Sinne berücksichtigen müsse.190 Eine Blicktheorie, die den Zuschauenden einen distanzierten Voyeurismus zuschreibe und dabei weder den Körper des Films noch die der Betrachtenden berücksichtige, hält sie auf das Kino angewendet für zu einseitig.191 Da die visuelle Wahrnehmung immer multisensorisch sei, können andere Sinne wie der Tastsinn oder der Geruchssinn durch Bilder angeregt werden. Die Reizung eines Sinnes stimuliere dabei die anderen Sinne mit.192 Zechner bezieht sich in ihren Ausführungen auf 186 Auslander 2006, 28. 187 Aussagen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 188 Aussagen Grigorescus ebd. 189 Zechner 2013, 116. 190 Ebd., 116. 191 Ebd., 97. 192 Ebd., 127. Zechner bezieht sich hier auf die Untersuchung von Marks 2000, 148.

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Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1966): „Wir nehmen vermittelt über unseren Leib immer mit allen Sinnen gleichzeitig wahr, ein reines Sehen oder Hören ist ein künstlich erzeugter Zustand und entspricht nicht der natürlichen Wahrnehmung.“ 193 Auch die Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack betont, dass in der Teilnahme der Zuschauenden an der verkörperten Wahrnehmung des Films immer ihr ganzer Körper mit allen Sinnen eingebunden sei: „We are, in fact, all synaesthetes – and thus seeing a movie can also be an experience of touching, tasting, and smelling it.“ 194 Auch wenn also die Hierarchisierung und Enthierarchisierung, die Identifizierung und die Eröffnung der performativen Situation über den Blick eingeleitet und überwiegend von ihm getragen werden, bedeutet das nicht, dass die Beziehungen innerhalb der Situation ausschließlich durch den Blick funktionieren. Wie beim Film wird auch bei der Performance über den Sehsinn der gesamte Körper in die Rezeption miteinbezogen. Über den Hör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn werden die Körper der Betrachtenden sinnlich angesprochen. Der Blick, der kulturgeschichtlich eine Distanz zum Objekt suggeriert, ist dabei nicht nur rational und kontrolliert. Die Betrachtenden ergeben sich auch dem Blick, geben sich ihm hin, lassen sich abtasten, fühlen die Körperlichkeit in der Wiederaufführung. Geräusche und Gerüche in der filmischen Wiederaufführung der Arbeit Konsum-Kunst entsprechen nicht der Aufführungssituation in der Live-Performance. Dennoch werden in der Arbeit von Natalia LL der Geschmacks- und Geruchssinn in einer solchen Weise angesprochen, dass von einer somatischen Affizierung der Betrachtenden gesprochen werden kann. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch hat es in ihrem Aufsatz Was machen Filme mit uns, was machen wir mit ihnen? – Oder was lassen wir die Dinge mit uns machen? (2011) folgendermaßen formuliert: Wenn wir in einer eindrucksvollen Großaufnahme die fröstelnde Gänsehaut einer Person sehen, werden wir zwar nicht das Fenster schließen, aber vielleicht doch die Jacke enger an den Körper ziehen, ohne dass uns dies als bewusste Handlung deutlich würde. Im Sinne einer somatischen Affizierung können wir also von einer performativen Kraft filmischer Bewegungsbilder sprechen, die in der Affizierung unserer Wahrnehmung liegt. In diesem Sinn macht uns ein Film weinen, lachen, zusammenzucken, schreien etc.195

Der Pudding, der in der Arbeit Konsum-Kunst aus dem Mund der Performerin läuft, kann sowohl an Ejakulat als auch an hervorgewürgte oder ausgespuckte Nahrung, wie zum Beispiel den Brei bei Kleinkindern, erinnern. Das Austreten der Flüssigkeiten kann bei den Betrachtenden also unterschiedliche Reaktionen auslösen und sowohl Ekel 193 Zechner 2013, 128. 194 Sobchack 2004/II, 70. 195 Koch 2011, 243.

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hervorrufen als auch sexuell erregend wirken. Die Mimik der Performerin ist während der Performance eher kindlich als lasziv. Wenn sie beispielsweise den Pudding wieder aus ihrem Mund herauslaufen lässt, so fühlen sich die Betrachtenden gleichzeitig angezogen und abgestoßen von diesem abjekten Schauspiel. Wie die Literaturtheoretikerin und Philosophin Julia Kristeva in ihrem Buch Powers of Horror. An Essay on Abjection (1982) beschreibt, könne eine körperliche Flüssigkeit erst dann zu etwas Abjektem und damit zu etwas Ekligem werden, wenn sie den Körper verlasse und von ihm getrennt erscheine.196 Den Ekel vor Nahrungsmitteln beschreibt Kristeva als „perhaps the most elementary and most archaic form of abjection“ 197. Dies hängt mit der Entwicklung des Kleinkindes zusammen, das mit dem Ausspucken von Nahrung sein Streben nach Trennung äußere: Mit dem Ausspucken behauptet sich das Kind, das noch nicht spricht, sondern körperlich agiert, als nicht mehr nur passiv aufnehmendes, sondern als bereits getrenntes, eigenständiges Wesen.198

Das Abjekte ist das, was unsere Identität stört, unsere Ordnung, unser System; es ist das, was unsere Grenzen missachtet, unsere Position, die Regeln.199 Vom lateinischen abicere (wegwerfen, fallenlassen) und vom französischen abjection (Abscheu) beziehungsweise abject (abscheulich, ekelhaft, niederträchtig) abgeleitet, bezeichnet das Abjekte ein „unfaßbares Etwas, das sich gleichsam mit der Entwicklung des Ich herausbildet, dessen dunkler Schatten. Es ist noch nicht Objekt, aber schon Nicht-Ich“ 200. Die Konfrontation mit dem Abjekten als dem Verworfenen, vom Körper abgespaltenen, rufe meist körperliche Reaktionen hervor. Kristeva betont jedoch, dass diese Reaktion kein rein körperlicher, biologischer Reflex sei, sondern eine gesellschaftlich vermittelte Reaktionsweise. Der heftigen Abscheu entspreche darum eine ebenso starke Faszination.201 In der Arbeit von Natalia LL können wir diesen Widerspruch beobachten: Der aus dem Mund hervortretende Brei steht im Widerspruch zur Mimik der Performerin. Während des Hervorbringens der Flüssigkeit lächelt der Mund weiterhin, was die Betrachtenden, bei denen dieser Anblick Assoziationen zu ekligen Substanzen auslöst, irritiert. Dieser Appell an die Sinne steigert sowohl die erotische Anziehungskraft als auch die abstoßende Wirkung des Bildes und bezieht die Körper der Betrachtenden mit ein. Auf diese Weise sind der Performerinnenkörper (imaginär) und der in der Rezeption aktivierte Betrachtendenkörper sinnlich erlebbar in der (Wieder-)Aufführung des Films präsent. 196 Vgl. Kristeva 1982, 3 f. 197 Vgl. ebd., 2. 198 Suchsland 1992, 123. 199 Vgl. Kristeva 1982, 4. 200 Suchsland 1992, 123. 201 Vgl. ebd.

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Erika Fischer-Lichte schreibt in ihrem Aufsatz Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung (2003), dass die Zuschauenden von einer Aufführung in einen Zustand versetzt werden können, der sie von ihrer täglichen Umwelt, den in ihr gültigen Normen und Regeln entfremdet, ohne ihnen immer Wege zu weisen, wie sie zu einer Neuorientierung gelangen können.202 Dieser Zustand kann als quälend und lustvoll zugleich empfunden werden und „geht mit entsprechenden starken körperlichen Reaktionen wie physiolo­ gischen, affektiven, energetischen und motorischen Reaktionen einher“ 203. Fischer-Lichte spricht hier vom Gegenwartstheater, beschreibt jedoch das Auftreten einer körperlichen Affiziertheit der rezipierenden Subjekte anhand der Performance Lips of Thomas von Marina Abramović, die 1974 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck aufgeführt wurde. Sie geht davon aus, […] daß die Gefühle von Faszination, Schrecken, Entsetzen, Ekel, Angst, Scham u. a. und die damit einhergehenden physiologischen, energetischen und motorischen Veränderungen, in denen sie sich artikulieren, nicht als biologische Reflexe sozusagen aufgrund eines spezifischen Reizes entstehen, sondern vielmehr im Bedeutungssystem des Zuschauers ihren Ausgang nehmen.204

Als den Zuschauenden während der Performance von Abramović der Atem stockte, war das kein physiologischer Reflex, sondern eine Reaktion auf ein gesellschaftliches Tabu. Sie waren schockiert, dass die Künstlerin sich selbst verletzte, und wollten nicht wahrhaben, was sie sahen. Andererseits waren sie jedoch auch fasziniert, weil es sie an Strafe, Folter und andere Tabus erinnerte. Die Zuschauenden waren dabei schockiert und fasziniert zugleich von ihrer eigenen Neugierde, da sie den geltenden kulturellen Normen nach Ekel und Abscheu hätten empfinden müssen. Dieser Kontext bestimmter kulturell und biografisch bedingter Bedeutungen war den Zuschauenden nicht unbedingt bewusst gewesen oder ihnen vielleicht erst bewusst geworden, als der Atem stockte.205 FischerLichte fasst zusammen: Affektive, physiologische, energetische sowie motorische Veränderungen und Veränderungen des Bedeutungssystems stehen also im Prozeß der ästhetischen Erfahrung in einem engen Wechselverhältnis zueinander, ja vollziehen sich nahezu gleichzeitig.206

202 Fischer-Lichte 2003, 149. 203 Ebd. 204 Ebd., 151. 205 Ebd., 151 f. 206 Ebd., 152.

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Die Frage der Priorität scheint ihr daher wenig sinnvoll. Die Zuschauenden erleben nicht nur Veränderungen, „die [sie] als lebendigen Organismus betreffen, oder solche, die auf [ihre] Imagination und [ihren] Intellekt zielen, sondern vor allem Transformationen, in denen und durch die [sie] sich als ‚embodied mind‘ [erfahren]“ 207. Auch wenn FischerLichte sich hier nicht mit den Medien Film und Fotografie auseinandersetzt, so lassen sich ihre Beobachtungen zur „Schwellenerfahrung“ auch auf die Rezeption von Werken anderer Kunstgattungen anwenden.208 Für die vorliegende Analyse ist Fischer-Lichtes Beobachtung insofern interessant, als sie auf die Transformation hinweist, die sich während der Performance in den Betrachtenden vollzieht, und betont, dass die somatische Affizierung dabei eine zentrale Rolle einnimmt. Wie bereits zu Beginn des Kapitels dargelegt wurde, beschränken sich die von Fischer-Lichte beschriebenen Prozesse nicht nur auf Live-Situationen, sondern können auch in einer Performance für die Kamera und im darauffolgenden Prozess der Wiederaufführung ebendieser Performance aufgespürt werden. Werden die Betrachtenden bei Natalia LL abwechselnd angezogen und abgestoßen von der Performance, so ist es bei Grigorescu eher ein Nachvollziehen der Handlung, das sich während der Rezeption in den Betrachtenden abspielt, sowie die Verkörperung einer überwachenden Instanz. Haben die Betrachtenden bei Natalia LL die Wahl, ob sie das Blickregime steuern oder sich ihm ausliefern wollen, so verstärkt sich bei Grigorescu die Neigung der Betrachtenden, durch das Auge der Kamera einen voyeuristischen Blick einzunehmen. Was der Künstler dem entgegenzusetzen hat, ist die Alltäglichkeit seiner Handlungen, der einfache Ablauf der Gesten und die Überführung der morgendlichen Rituale ins Absurde. Doch auch hier werden die Körper der Betrachtenden angesprochen, wenn das (vermutlich kalte) Wasser an Gesicht und Händen des Künstlers herabläuft (Waschen; Abb. 29). Ein halbes Brötchen im Mund blickt er direkt in die observierende Kamera, die den Innenraum noch kleiner erscheinen lässt, als er ist, er salutiert und kauert sich dann im Schlafanzug auf seinen Stuhl. Im Unterschied zu Natalia LL, die mit der alltäglichen Geste des Essens spielt, indem sie daraus ein Ereignis macht und Assoziationen an erotische Darstellungen aufruft, verschließt Grigorescu mit dem Brot seinen Mund. Dies macht ihn zwar mundtot, aber nicht stumm: Was folgt, ist eine nonverbale Form der Kommunikation – ohne Worte, aber über Gesten. Sowohl die Filme von Natalia LL als auch die von Grigorescu sind ohne Ton. Die fotografischen Arbeiten werden ebenfalls nicht von Ton begleitet. Trotzdem sind die Geräusche Teil der (bewegten) Bilder. Wir sehen die Performerin oder den Performer eine bestimmte Tätigkeit ausführen und vollziehen diese innerlich nach: Wie hört es 207 Ebd. 208 Fischer-Lichte stellt im Ausblick ihres Aufsatzes die Frage, ob sich die von ihr definierte „Schwellenerfahrung“ auch auf die Rezeption von Werken anderer Kunstgattungen anwenden lässt, kann dies jedoch zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres Aufsatzes nicht beantworten. Ebd., 160 f.

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sich an, ein Stück von einer schmalen Gebäckstange abzubeißen (Konsum-Kunst)? Wie klingt es, mit beiden Händen Wasser aus einer Schüssel zu schöpfen und es sich über das Gesicht laufen zu lassen, damit es anschließend wieder zurück in die Schüssel fließt (Waschen)? Die Geräusche sind dem überwiegenden Teil der Betrachtenden nicht fremd, sie kennen sie aus den eigenen alltäglichen Abläufen und haben sie während des Bilderbetrachtens im Ohr. Der Blick der Kamera und damit auch jener der Betrachtenden auf den vor der Kamera performenden Körper kann in den Arbeiten von Grigorescu einer Berührung gleich­gesetzt werden. Besonders gut wird dies in der Filmperformance Masculin/Feminin sichtbar (Abb. 30). Langsam tastet das Kameraauge den Körper ab, fährt die Gliedmaßen entlang, dringt in verborgene Winkel, zerstückelt den Körper in seine einzelnen Teile. Dabei zoomt die Kamera so nah an die Haut des Künstlers heran, dass ein Gefühl der Nähe erzeugt wird. Fast meinen die Betrachtenden, den Geruch und die Wärme wahrnehmen zu können, die von den einzelnen Körperpartien ausgehen. Körperspannung und -schwellungen, Muskelstränge und Hautfalten, die sich in Bewegung befinden, werden sichtbar. Wie Zechner erläutert, könne das Auge bei der haptischen Wahrnehmung durch eine Kombination aus taktilen, kinästhetischen und propriozeptiven Funktionen selbst zum Tastorgan werden. Tastempfindungen können dabei „nicht nur dem ertasteten Gegenstand zugeschrieben werden, sondern sind immer auch Teil des tastenden Körpers“ 209. Dadurch werde die Hierarchie der Sinne aufgehoben.210 Wie die Filmwissenschaftlerin Laura Marks bemerkt, führe die in der visuellen Darstellung erreichte Nähe dazu, dass die Betrachtenden körperlich auf das Bild reagieren und das Dargestellte nicht aus der visuellen Distanz heraus identifizieren 211: „Haptic images encourage the viewer to get close to the image and explore it through all of the senses, including touch, smell, and taste.“ 212 In einer Sequenz bohrt Grigorescu in der Nase, was einerseits abstoßend wirkt und andererseits das Gefühl von Intimität verstärkt. Wenn Grigorescu hier die Hüllen fallen lässt, so ist damit nicht nur die Kleidung gemeint, sondern ein Sich-Entblößen, das darüber hinausgeht. Damit gewährt er uns einen Einblick in intime Körpertechniken, überschreitet aber zugleich auch eine Grenze. Indem er in unser „Territorium“ 213 eindringt, offenbart er uns vielmehr unsere eigene Verletzlichkeit.214 Im Folgenden wird die Macht, die die Künstlerin oder der Künstler im Prozess der Performance und der anschließenden Wiederaufführung über die Betrachtenden gewinnt, genauer beschrieben.

209 Zechner 2013, 130. 210 Ebd., 131. 211 Ebd., 131. Zechner bezieht sich hier auf einen Aufsatz von Marks 1998, 332. 212 Marks 2002/II, 118. 213 Goffman 1974 [1971], 54. Vgl. hierzu Kapitel 2.5.1 in dieser Arbeit. 214 Vgl. hierzu den Abschnitt zu den „Territorien des Selbst“ bei Goffman in Kapitel 2.5.1 in dieser Arbeit.

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3.4.10 Aktivität und Macht der Künstlerin oder des Künstlers Die Performerin in der Arbeit von Natalia LL ist der Kamera nicht gänzlich ausgeliefert, sondern sie scheint Spaß an der Performance zu haben. Sie lächelt in die Kamera und ist scheinbar selbstvergessen in ihre Tätigkeit versunken. Dabei wirkt sie jedoch nicht abwesend, sondern sehr präsent. Seit dem Einsetzen der feministischen Rezeption des Werkkomplexes in den 1970er Jahren werden die Gesten in der Arbeit Konsum-Kunst mit Oralsex-Praktiken und die Banane mit einem Phallus assoziiert. Piotr Piotrowski hebt die Aktivität der Performerin hervor: „the model did not consume the phallus but a penis, and did so with pleasure and sensual abandon“ 215. Der Mann ist in diesem Spiel absent oder wird vielmehr instrumentalisiert: „It is the woman who controls the situation and experiences pleasure; she uses the man without any scruples.“ 216 Diese Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen verkehrt zugleich die Konventionen der traditionellen und heterosexuellen erotischen Darstellung in ihr Gegenteil. Der Blick der Kamera wurde im Verlauf der westeuropäischen Kulturgeschichte oft mit einem als männlich beschriebenen Blick gleichgesetzt. Diesem wurde dabei die dominante Rolle zugeschrieben, dem betrachteten Objekt die passive Rolle. Meist wurden die betrachteten Objekte weiblich dargestellt und auch als solche rezipiert oder es wurden ihnen weiblich konnotierte Attribute zugeordnet.217 In ihrem Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino, den die Filmtheoretikerin Laura Mulvey 1975 erstmals veröffentlichte, fokussiert sie den Filmzuschauer, der ihrer Meinung nach immer implizit ein männlicher Zuschauer ist und der die Frau, das Objekt seiner visuellen Lust, auf der Leinwand betrachtet.218 „Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird.“ 219 In der ihnen zugeschriebenen Rolle werden die Frauen „gleichzeitig angesehen und zur Schau gestellt“ 220. Die Konzentration der Kamera auf weibliche Körperteile bietet die Frau dem Blick des männlichen Betrachters dar.221

215 Piotrowski 2009/III, 353. Piotrowski bezieht sich hier auf Jakubowska 1997. 216 Piotrowski 2009/III, 353. 217 So wurden zum Beispiel auch außereuropäische oder jüdische Subjekte feminisiert und zum Objekt gemacht. Zu Weiblichkeit und Judentum vgl. Schössler 2008, 41 f. Zum imperialen, vom westlichen weißen Mann dominierten Blick vgl. Schössler 2008, 155. 218 Vgl. Weissberg 1994/II, 22. Sowohl Mulvey als auch Mary Ann Doane verwenden die Bezeichnungen „Mann“ und „Frau“ unreflektiert und verharren in der Dichotomie von männlich und weiblich. Dies ist jedoch der Zeit geschuldet, in der die beiden Texte veröffentlicht wurden. Heute verwenden die Queer Studies diese Begriffe weitaus differenzierter und versuchen Binaritäten wie Mann – Frau weitgehend zu vermeiden. Für die Argumentation bei Doane vgl. Doane 1994 [1985]. 219 Mulvey 1994 [1975], 55. 220 Ebd. 221 Weissberg 1994/II, 22.

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Als Voyeur kontrolliert er das Bild.222 Mulvey weist darauf hin, dass das Schauen selbst geschlechtlich bestimmt ist.223 In ihrem Aufsatz zeigt sie, dass Kinobesucherinnen und -besucher meist den Blick der männlichen Helden einnehmen, „so daß die Macht des Protagonisten, der das Geschehen kontrolliert, mit der aktiven Macht des erotischen Blicks zusammenfällt“ 224. Mulvey erläutert dies wie folgt: „Um die ‚Weiblichkeit‘ auf der Leinwand genießen zu können, muß sich die Frau den ‚männlichen‘ Blick aneignen, die Zuschauerin muß zum Zuschauer werden.“ 225 Spätere Schriften feministischer Filmtheoretikerinnen und auch Mulvey selbst haben diese Theorien hinterfragt und erweitert: Soll die Unterscheidung zwischen Filmzuschauerin und -zuschauer sowie dem männlichen und dem weiblichen Blick auf die Leinwand überhaupt gemacht werden?226 Der Filmtheoretikerin Mary Ann Doane geht es in ihrem Aufsatz Film und Maskerade. Zur Theorie des weiblichen Zuschauers (1982) um die identifikatorische Aneignung des Bildes. Dabei ist Distanz für Doane die notwendige Bedingung für die Subjektposition der Frau. Sie spricht der Zuschauerin ihre Passivität ab und gesteht ihr zu, dass sie das weibliche Bild in dieser Distanz selbst entwerfen oder ändern kann.227 In ihrer Kritik an Mulveys Aufsatz und in Antwort auf Joan Rivieres theoretischen Entwurf von „Weiblichkeit als Maskerade“ (1929)228 erkennt Doane die Wirksamkeit der Maskerade in dem „Vermögen, eine Distanz zum Bild herzustellen, eine Ungewißheit zu erzeugen, in der das Bild manipulierbar, produzierbar und für Frauen lesbar gemacht wird“ 229. Sie kritisiert zudem die Tendenz der „Verdrängungstheorien“ 230, Produktivität und Positivität von Macht auszublenden, und betont, dass „Weiblichkeit […] sehr präzise als Position innerhalb eines Geflechts von Machtbeziehungen produziert“ 231 wird. Natalia LL ist die erste Betrachterin der während der Performance entstandenen Fotografien und Filme: Sie installiert die Kamera, schaltet sie ein und betrachtet anschließend die entstandenen Fotografien beziehungsweise den Film. Auf diese Weise nimmt sie eine Rolle ein, die traditionell dem Mann zugeschrieben wurde: Women were traditionally „presented“ to a man. They were passive and appeared; the manmade decisions about their fate, holding in his hand (and his eye) the power to judge.

222 Ebd., 23. 223 Ebd., 22. 224 Mulvey 1994 [1975], 57. 225 Weissberg 1994/II, 23. 226 Ebd., 22 f. 227 Ebd., 24. 228 Riviere 1994 [1929]. 229 Doane 1994 [1985], 86. 230 Ebd., 86. 231 Ebd.

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Voyeurism, understood as a form of viewing from a safe location and a source of sexual pleasure (and therefore power), was reserved for men.232

Die Kamera dient Natalia LL also nicht nur zur Spiegelung und zur Bewusstwerdung oder zur Ausbildung einer eigenen Identität. Genauso wenig ist sie der Kamera völlig ausgeliefert und reines Objekt des betrachtenden Kameraauges. Während ihrer Performance vor der Kamera wird sie zu der den Blick der Kamera auslösenden und steuernden Instanz. Die Kunsthistorikerin Lina Džuverović beschreibt dies in ähnlicher Art und Weise: Unlike pornography, in Consumer Art the models are given agency, their actions teetering between seduction and humour, as they gaze back, reversing the dynamics from objects of male gaze and consumption, to being active protagonists in control of the situation.233

In einer der Fotografien aus der Serie Pyjama von Grigorescu ist zu sehen, wie der Künstler den Selbstauslöser bedient (Abb. 28). Dies weist darauf hin, dass er wie Natalia LL der Kamera nicht schutzlos ausgeliefert ist, sondern sie als Instrument zur schonungslosen Selbsterforschung nutzt. Er beobachtet sich selbst und seine Reaktionen auf die Kamera und dokumentiert sie. Seine privaten Räume sind dabei der letzte Rückzugsort, an dem eine solche mediale Selbstanalyse möglich ist. Da der Künstler in den 1970er Jahren in der Sozialistischen Republik Rumänien nicht mit der Möglichkeit rechnen konnte, seine Werke öffentlich zu zeigen, blieben potentielle Zuschauer bei ihm zunächst ein Wunsch, den er durch die Medialisierung seiner Performances formulierte, und der Dialog, den er durch seine Arbeiten initiierte, konnte erst in einer damals noch unbestimmten Zukunft fortgesetzt werden. Grigorescu selbst beschreibt sein Verhältnis zur Aufnahmetechnik in den 1970er Jahren als eine magische Anziehungskraft, die von der Technologie ausging. Der voyeuristische Blick durch einen Spion faszinierte ihn. Bald stellte er jedoch fest, dass die versprochene Kommunikation eine Illusion blieb und dass die Technologie ihn in die Isolation führte.234 Mit seinen Performances für die Kamera ließ der Künstler sich auf eine Beziehung mit ihr ein, von der er noch nicht wissen konnte, wohin sie führen und ob er jemals eine Antwort auf seine Gesten bekommen würde. Dem Künstler kann zwar nicht der Wunsch nach Kommunikation mit seinen unmittelbaren Zeitgenossen unterstellt werden. Die Geste der filmischen und fotografischen Aufzeichnung seiner Arbeiten initiiert jedoch eine soziale Situation, die dann allerdings erst viel später in 232 Piotrowski 2009/III, 353. 233 Džuverović 2015, 203. 234 Cios 2011, 74.

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der Interaktion mit den Betrachtenden zu einer „Gesamtsituation“ 235, wie Goffman sie beschreibt, zusammengesetzt wird. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung könnte man hier von einer potentiellen sozialen Situation sprechen. Die Performenden sind Betrachtende und Betrachtete, Subjekt und Objekt zugleich. Durch den Akt des Filmens und Fotografierens kontrollieren sie den Beginn, Verlauf und scheinbar auch das Ende der Situation. In dem hier vertretenen Verständnis einer „sozialen Situation“ 236 nach Goffman löst die oder der Performende die Situation zwar aus, sie wird jedoch erst im Rezeptionsprozess wieder aufgegriffen und vollendet. Unabhängig davon, ob die Filme und Fotografien einer größeren oder einer sehr kleinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden oder ob sie bis in die 1990er Jahre niemand zu sehen bekam, ist im Akt der Performance mit der Kamera und in dem Dialog des Künstlerkörpers mit dem Auge der Kamera eine potentielle soziale Situation bereits angelegt. Wie in der Einleitung zu diesem Kapitel angesprochen wurde, bleibt eine Analyse der Werke ohne die Einbettung in den jeweiligen historischen Kontext unvollständig. Im Folgenden werden daher die Arbeitsbedingungen Natalia LLs und Grigorescus näher erläutert und zueinander in Bezug gesetzt. Es schließen sich weitere Überlegungen zur Interpretation der jeweiligen Werke in Bezug auf den spezifischen historischen Kontext an.

3.5 Vergleich der A r beitsbedingungen unter Einbezug der spezifischen histor ischen Kontexte 3.5.1 Ausstellungsmöglichkeiten Natalia LLs in der Volksrepublik Polen Die Schwierigkeiten, die Natalia LL zu Beginn ihrer Ausstellungstätigkeit in der Volksrepublik Polen mit der Zensur hatte, muten im Vergleich zu den Einschränkungen, mit denen Künstlerinnen und Künstler in anderen Ländern des sogenannten Ostblocks konfrontiert waren, harmlos an. Lediglich die erste Ausstellung der Künstlerin mit dem Titel Fotografia intymna (Intime Fotografie, 1971) wurde geschlossen. Natalia LL ergänzt, dass die Ausstellung für ein ausgewähltes Publikum in einem Club zugänglich war: „Polish Office for Press, Publications and Shows Control allowed me for one short show of my exhibition Intimate Photography and only in the club that was not opened for a wide public.“ 237 Die Ausstellung zeigte in mehreren Nahaufnahmen Fragmente der Körper von Natalia LL und ihrem damaligen Ehemann Andrzej Lachowicz beim Geschlechtsverkehr. Hier arbeitete Natalia LL nicht mit einem Modell, sondern performte selbst 235 Vgl. hierzu Kapitel 2.5.1. 236 Goffman 22001 [1982], 55. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.5 in dieser Arbeit. 237 Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II.

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vor der Kamera. Die in einer kleinen Kabine zur ungestörten Betrachtung ausgestellten Fotografien wurden von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als provokativ empfunden. Bei späteren Ausstellungen hatte Natalia LL keine Probleme mit der Zensur. Sie fügt jedoch hinzu, dass ihre Arbeiten von den damals renommierten polnischen Kunstkritikerinnen und Kunstkritikern zerrissen wurden.1 Natalia LL hat dies vermutlich als eine andere Form der Zensur empfunden. Nach eigener Aussage wurde sie nicht vom Staat unterstützt und hatte Schwierigkeiten, einen Pass für Auslandreisen zu bekommen, weshalb sie zu Beginn der 1970er Jahre trotz ihrer internationalen Erfolge nur wenige Ausstellungen im Ausland realisieren konnte.2 Bereits ab 1964 war Natalia LL jedoch Mitglied im Verband polnischer Kunstfotografen. Im Jahre 1977 ermöglichte ein Stipendium der Kościuszko Foundation in New York der Künstlerin und Andrzej Lachowicz, für drei Monate in die USA zu gehen. Die Erfahrungen, die sie dort machte, und die Kontakte, die sie dort knüpfte, beeinflussten ihre weitere Arbeit sowie die darauffolgende Rezeption ihrer Arbeiten insofern, als sie deren Lesart für einige Jahrzehnte festlegten.3 3.5.2 Galerie und Künstlergruppe PERMAFO Der Werkzyklus Konsum-Kunst entstand im neoavantgardistischen Umfeld der Galerie und Künstlergruppe PERMAFO 4, die im Jahre 1970 durch Zbigniew Dłubak, Antoni Dzieduszycki, Natalia LL selbst und Andrzej Lachowicz begründet wurde. Dieser Zusammenschluss hatte den Zweck, gemeinsame Ausstellungen zu organisieren und die Werke der einzelnen Künstlerinnen und Künstler zu publizieren und bekannt zu machen. Die Gruppenmitglieder bildeten jedoch kein Kollektiv und produzierten keine gemeinsamen Kunstwerke.5 Konsum-Kunst wurde zum ersten Mal 1973 in der Galerie PERMAFO in Breslau und 1975 in der Galerie Współczesna (Zeitgenössische Galerie) in Warschau gezeigt. Im Filmarchiv (filmoteka) des Muzeum Sztuki Nowoczesnej (Museum für Moderne Kunst) in Warschau befindet sich eine anderthalbminütige Filmsequenz von der Ausstellungseröffnung

1 Interview Kühn – Natalia LL I. 2 Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II. 3 Vgl. Jakubowska 2007/I und Jakubowska 2011/III, 331. 4 PERMAFO bedeutet bezeichnenderweise „Permanente Formalisierung“ oder „Permanente Fotografie“ (poln.: permanentna formalizacja oder permanentna fotografia). Pijarski 2013, 97; Jakubowska 2007/ II , 241. Jakubowska erwähnt auch die Absenz weiblicher Künstlerinnen im neoavantgardistischen Zirkel um die Galerie PERMAFO. Natalia LL bildete eine Ausnahme. Die Künstlergruppe und die Galerie bestanden bis 1981. Siehe: Jakubowska 2011/III, 330. Siehe auch die Webseite von Natalia LL: http://www.nataliall.com/works/19 [Zugriff am 15. 5. 2020]. Zu der Künstlergruppe allgemein vgl. Ausst. Kat. Wrocław 2012/II. 5 Interview Kühn – Natalia LL I.

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in der Galerie PERMAFO.6 Im Hintergrund sind Stellwände mit den seriellen Fotoarbeiten Natalia LLs zu sehen, im Vordergrund das Publikum der Vernissage. Dieses kurze Filmdokument bezeugt, dass die Künstlerin in der Öffentlichkeit präsent war. Sie war nicht gezwungen, im Untergrund zu agieren, und hatte die Möglichkeit, ihre Arbeiten öffentlich auszustellen. Das im Film gezeigte Publikum ist jung, besteht jedoch, soweit erkennbar, nicht ausschließlich aus Studentinnen und Studenten. Am Ende des Films ist Natalia LLs Gesicht in Großaufnahme zu sehen, bevor der Film abrupt abbricht. In diesem kurzen Filmdokument wird die Aufspaltung der Künstlerin in mehrere Identitäten erneut thematisiert und umgesetzt. Während der Vernissage mischt sie sich unter das Publikum, an einer Stelle winkt sie in die Kamera. In der letzten Sequenz blickt sie kurz und frontal in die Kamera, trägt dort jedoch eine vollkommen andere Frisur als in den Aufnahmen von der Vernissage, was nahelegt, dass diese Schlusssequenz früher oder später entstanden sein muss. Natalia LLs Porträt in dieser Sequenz ist beinahe mit den Aufnahmen von dem Gesicht des Modells in der Arbeit Konsum-Kunst identisch – die im Galerieraum im Hintergrund des Bildes undeutlich zu erkennen sind. Natalia LL spielt hier also mit den verschiedenen Identitäten, die sie abwechselnd annimmt, ausfüllt und vergibt – um sie sich anschließend wieder anzueignen. 3.5.3 Natalia LL im Kontext der feministischen Kunst(-Geschichte) 3.5.3.1 Die Rezeption in den USA Die Rezeption von Konsum-Kunst innerhalb der damaligen feministischen Diskurse in Westeuropa und in den USA beeinflusste sowohl die weitere Arbeit Natalia LL s als auch die Wahrnehmung ihres Werkes, weil dieses ab dem Zeitpunkt mit dem Label feministische Kunst und Natalia LL mit dem der feministischen Künstlerin versehen wurden.7 Heute gilt Natalia LL als eine der ersten feministischen Künstlerinnen in der damaligen Volksrepublik Polen, die entsprechende Diskurse erstmals aufzeigte, in ihr Werk integrierte, dort verhandelte und damit viele nachfolgende Künstlerinnen inspirierte. Spätestens über die Rezeption von Konsum-Kunst durch die feministische Bewegung kam Natalia LL in Kontakt mit den feministischen Diskursen in der Kunst Westeuropas und der USA , die in der Volksrepublik Polen zu diesem Zeitpunkt wenig bekannt waren.8 Natalia LL beschäftigte sich bereits in den 1970er Jahren mit psychoanalytischer und feministischer Literatur: „In my youth I have heard and read much 6

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Vollständige Werkangaben: Sztuka konsumpcyjna – Wernisaż w Galerii PERMAFO (Konsumkunst – Vernissage in der Galerie PERMAFO), 1973, 1’18’’, 16mm, ohne Ton. Das Video ist auf der Seite des Museums für Moderne Kunst in Warschau zugänglich: https://artmuseum.pl/pl/filmoteka/praca/ ll-natalia-sztuka-konsumpcyjna-wernisaz-w-galerii-permafo [Zugriff am 17. 1. 2020]. Siehe dazu: Jakubowska 2007/I und Jakubowska 2011/III, 331. Stasiowski 2012, 1.

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about Freud. I had some knowledge about Lacan since the 80-ties and information about feminism reached me in the 70-ties.“ 9 Kurz nach dem Entstehen der Arbeit Konsum-Kunst wurde Natalia LL international bekannt. Ihr Werk wurde in verschiedenen (feministisch ausgerichteten) Ausstellungen 10 in West-, Ost- und Südeuropa gezeigt und von – teils explizit an feministischen Themen interessierten – Kritikerinnen und Kritikern, wie zum Beispiel Ursula Krinzinger (Frauen Kunst – Neue Tendenzen, Innsbruck 1975), Giancarlo Politi (Flash Art) und Gislind Nabakowski (Heute Kunst), sowie von Künstlerinnen und Künstlern in verschiedenen Ländern bejubelt.11 Im Jahre 1971 bekam Natalia LL einen Brief von der US -amerikanischen Schriftstellerin und Kunsttheoretikerin Lucy Lippard zugesandt, der ein feministisches Manifest enthielt.12 Im Jahre 1975 erschienen Reproduktionen von Konsum-Kunst und von Post-Konsum-Kunst auf der Einladung und dem Poster der internationalen Ausstellung Frauen Kunst – Neue Tendenzen 13 in Innsbruck und im selben Jahr auf den Titelblättern der Kunstzeitschriften Flash Art und Heute Kunst.14 Als die Künstlerin 1977 das Stipendium der Kościusko Foundation erhielt, um nach New York zu gehen, knüpften sie und Andrzej Lachowicz bereits im Vorfeld Kontakte zu Galerien und Künstlerinnen oder Künstlern, die sie interessant fanden. In New York angekommen traf Natalia LL Galeristinnen und Galeristen wie Leo Castelli, Ileana Sonnabend und John Gibson sowie die Künstlerinnen und Künstler Dennis O ­ ppenheim, Hans Haacke, Joseph Kossuth und seine damalige Partnerin Sarah C ­ harlesworth, Carolee Schneemann, Anthony McCall und Colette. Zudem 9

Aussage der Künstlerin in: Interview Kühn – Natalia LL II . Die Rechtschreibung wurde von der Autorin angepasst. 10 Internationale Ausstellungen der 1970er Jahre, an denen Natalia LL teilnahm und die feministische Kunst oder ausschließlich Kunst von Frauen zeigten: Frauen Kunst – Neue Tendenzen, Galerie Krinzinger, Innsbruck 1975; Magma in Brescia 1975; Ausstellung zusammen mit Marina Abramović und Gina Pane, Galerie Arte Verso, Genua 1976; Frauen machen Kunst, Galerie Magers, Bonn 1976; Frauen machen Kunst, Schloss Wolfsburg, Wolfsburg 1977; Women’s Art, Galerie Jatki, Breslau 1978 (organisiert von Natalia LL ; teilnehmende Künstlerinnen: Carolee Schneemann, Noémi Maidan, Suzy Lake; anschließende Wanderung der Ausst. nach Lausanne); Feministische Kunst Internationale, Gemeentemuseum, Den Haag 1979; Feministische Kunst, De Appel Galerie, Amsterdam 1979. Vgl.: http://www.nataliall.com/works/19 [Zugriff am 15. 5. 2020]. Jakubowska 2007/II , 243. 11 Vgl. Jakubowska 2007/II, 243. 12 Leider ging der Brief von Lucy Lippard im Jahre 1997 verloren, als Natalia LLs privates Archiv durch ein Hochwasser zerstört wurde. Vgl. Interview Kühn – Natalia LL I. Lucy Lippard schickte nach einer Aussage von Carolee Schneemann hunderte dieser Briefe an Orte rund um die Welt. Sie waren also nicht an bestimmte Personen, sondern vielmehr an ein Massenpublikum gerichtet. Vgl. Szcześniak 2012, 3. 13 Es existiert eine Ausstellungsbroschüre: Ausst. Kat. Innsbruck 1975. 14 Jakubowska 2007/II, 243. Jakubowska erwähnt hier auch das Cover von Flash Art aus dem Jahre 1974.

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reiste sie nach Toronto, besuchte die Künstlerin Suzy Lake und nahm an einem Seminar von Lucy Lippard teil. Der Künstler Karol Radziszewski nahm 2012 im Rahmen eines Kunstprojekts Kontakt zu einigen der genannten Galeristinnen und Galeristen, Künstlerinnen und Künstlern sowie zu einigen Kunstkritikerinnen und -kritikern auf und befragte sie zu Natalia LL und zur Atmosphäre in der Kunstszene New Yorks im Jahre 1977.15 Die von Radziszewski Befragten erinnerten sich durchaus an Natalia LL und berichteten von der Begegnung mit ihr. Aus ihren Kommentaren lässt sich jedoch ablesen, dass ihre Arbeit von Natalia LL s Werken nicht entscheidend beeinflusst oder geprägt wurde. Natalia LL war eine von vielen Kunstschaffenden, die aus Europa nach New York kamen, eine kurze Zeit blieben und dann wieder abreisten. Trotzdem scheint die polnische Künstlerin mit ihrem Werk Konsum-Kunst einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben, da sich einige der Befragten, wie zum Beispiel AA Bronson und Marina Abramović 16, gut an das Werk und die Künstlerin erinnern und teilweise, wie zum Beispiel die Performance-Künstlerin Carolee Schneemann, sehr anerkennend von ihr sprechen.17 Natalia LL brachte Konsum-Kunst, Post-Konsum-Kunst und Künstliche Fotografie (1975)18 mit in die USA. Sie berichtet, dass Konsum-Kunst in New York bereits bekannt gewesen sei, als sie dort eintraf.19 Der Kunsthändler Leo Castelli urteilte bei der Betrachtung der Werke: „America is not ready for this.“ 20 Doch welches Amerika war damit gemeint? Der Kunsthistoriker Wojciech Szymański konstatiert in seinem Essay New York, New York (2012), dass es nicht ein Amerika, sondern mehrere Amerikas gegeben habe.21 Der Künstler AA Bronson und der Galerist Antonio Homem kommen in dem Film von Radziszewski zu dem Schluss, dass zwar Castelli möglicherweise noch nicht bereit gewesen sei für die Arbeiten der jungen polnischen Künstlerin – die New Yorker Kunstszene jedoch durchaus.22

15 Vgl. hierzu den Film von Radziszewski: Radziszewski 2012/II. 16 Marina Abramović traf Natalia LL nicht in New York, sondern 1975 in Innsbruck. Anschließend korrespondierten sie, und Abramović erinnert sich, dass Natalia LL nach New York ging, während sie selbst erst zu einem viel späteren Zeitpunkt zum ersten Mal dort war. Vgl. hierzu die Aussage von Abramović im Interview mit Radziszewski in: Radziszewski 2012/II. 17 Vgl. hierzu die Aussage von Carolee Schneemann im Interview mit Radziszewski ebd. 18 Sztuczna Fotografia (Künstliche Fotografie), 1975, Farbfotografie, 100 × 125 cm. Vgl. die Werkangaben auf der Webseite Natalia LLs: http://www.nataliall.com/works/15 [Zugriff am 15. 5. 2020]. In Künstliche Fotografie arbeitete Natalia LL nicht mit einem Modell und performte selbst vor der Kamera. Vgl. hierzu den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 493. 19 Vgl. hierzu die Aussage von Natalia LL im Interview mit Radziszewski in: Radziszewski 2012/II. 20 Stasiowski 2012, 1. Vgl. hierzu auch die Aussage von Natalia LL im Interview mit Radziszewski in: Radziszewski 2012/II. 21 Szymański 2012, 5. 22 Vgl. hierzu die Aussagen von AA Bronson und Antonio Homem im Interview mit Radziszewski in: Radziszewski 2012/II.

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Der Performance-Künstler Vito Acconci, den Radziszewski ebenfalls befragt hat, ist der Meinung, dass die Zeit der provokativen Performances, an der er Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre maßgeblich beteiligt war, im Jahre 1977 bereits vorbei und Castelli deshalb nicht an Natalia LLs Arbeiten interessiert gewesen sei.23 Der Kunstkritiker Douglas Crimp, der in Radziszewskis Film ebenfalls zu Wort kommt, ergänzt, dass 1977 in New York zwar viel über Sexualität geredet worden sei, sexuell explizite Bilder jedoch nicht verbreitet und nicht unbedingt Teil des Diskurses gewesen seien.24 Natalia LL bewegte sich während der drei Monate ihres New York-Aufenthalts ­zwischen den Polen von Erotik und Politik, zwischen der Emanzipation von Schwulen und Lesben und der Sublimierung des Sinnlichen.25 Während ihres Aufenthaltes nahm Natalia LL an einer Demonstration teil, bei der auf die Rechte sexueller Minderheiten aufmerksam gemacht wurde. Fotografien zeigen die Künstlerin, wie sie mit einem ihrer Werke vor den Ständen mit Plakaten posiert (Taf. 6 und 7). Szymański beschreibt die Szene als schizophren: […] the artist is posing with her explicitly erotic pictures, for which, however, America was not ready, and she is doing so against the backdrop of the other America, which has stepped onto the streets to demand an end to the violation of their rights.26

Crimp resümiert im Interview mit Radziszewski, dass diese Demonstrationen in New York über die Jahre – etwa um 1977 – weniger militant und immer partyähnlicher geworden seien. Sie bewegten sich von Midtown nach Downtown und die gesamte Christopher Street, von der Hudson Street bis zum Fluss, sei ein einziges großes Festival gewesen, es habe etwas zu Essen, Drinks, Bier und Bars gegeben und die verschiedenen Interessengruppen und -organisationen hätten einen eigenen Stand gehabt. Natalia LL berichtet rückblickend, dass sie die lesbischen und schwulen Demonstrationen in ihrem Kampf für ihre Rechte unterstützen wollte: Sie habe ihre Arbeit Konsum-Kunst mit auf die Straße genommen, um dadurch ihr Einverständnis und ihre Solidarität auszudrücken.27 Natalia LL konnte ihre Werke 1977 in New York nicht ausstellen. Dies überrascht, denn trotz der Zensur waren ihre Werke bereits in öffentlichen Galerien in der Volksrepublik 23 Vgl. hierzu die Aussage von Vito Acconci im Interview mit Radziszewski ebd. Auch Abramović sagt im Interview mit Radziszewski, dass Castelli damals mit weitaus provokativeren Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet habe, als Natalia LL es gewesen sei, wie zum Beispiel Chris Burden, Vito Acconci, Dennis Oppenheim, Gina Pane, Terry Fox, Charlemagne Palestine und Simone Forti. Vgl. ebd. 24 Vgl. hierzu die Aussage von Douglas Crimp im Interview mit Radziszewski ebd. 25 Vgl. Szymański 2012, 5. 26 Ebd. 27 Vgl. hierzu die Aussage von Natalia LL im Interview mit Radziszewski in: Radziszewski 2012/II.

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Polen gezeigt worden.28 Carolee Schneemann begründet dies in einem Interview mit Radziszewski (2012) folgendermaßen: […] all gallery dealers, including Sonnabend, identified with the male artists that were young and dynamic. Those galleries were all also discouraging my work. […] In the beginning tradition was inflexible. […] When Natalia came here and had those consistent rejections – they were part of everything I knew.29

Schneemann beschreibt die Privatgalerien im damaligen New York als „completely traditional and commercial“ 30. Die dort präsentierte Kunst habe sich in erster Linie gut verkaufen sollen. Während Natalia LL in der damaligen Volksrepublik Polen die Zensur im Blick behalten und auf Ausstellungsmöglichkeiten in öffentlichen Institutionen sowie im Ausland lange warten musste, wurde sie in den USA mit anderen Formen der Marginalisierung und Exklusion konfrontiert. Die erotische Art und Weise der Künstlerin eine Banane zu essen, wurde in den USA zwar unter anderen Vorzeichen rezipiert als in der Volksrepublik Polen, dies änderte jedoch nichts an ihrem Status als marginalisierte Künstlerin. In der Volksrepublik Polen oszillierte die Rezeption der Arbeit Konsum-Kunst in den 1970er Jahren zwischen der „morphologischen Erkundung der Fähigkeiten eines Zeichens und der Eigenschaften des Mediums“ und einem „explizit erotischen Werk“ 31. Im Folgenden wird diese zweigeteilte Rezeption vorgestellt und untersucht, inwiefern in dem Werkkomplex bereits zwei unterschiedliche Interpretationsschichten angelegt sind. 3.5.3.2 Die Rezeption in der Volksrepublik Polen Während Natalia LL s Arbeiten in New York hauptsächlich im Kontext einer Debatte um eine feministische Kunst(-Geschichte) rezipiert wurden, spielten die feministischen Implikationen auch nach ihrer Rückkehr aus den USA in der Rezeption in Polen kaum eine Rolle. Die gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau galt in den sogenannten Ostblockstaaten als realisiert. Die Vollbeschäftigung von Frauen und die durchorganisierte außerfamiliäre Kinderbetreuung sollten dies belegen. 32 Feminismus wurde als unnötiger Import aus westlich von Polen gelegenen Ländern betrachtet: „It was considered unnecessary since the ‚women’s question‘ had already been resolved through the ideology of egalitarianism.“ 33 Die visuelle Kultur des Sozialistischen Realis28 Vgl. Radziszewski 2012/I, 7. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Siehe: Jakubowska 2007/I, 88. 32 Altmann 2009, 242. 33 Pejić 2010/II, 21.

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mus propagierte während der 1950er Jahre Bilder von Frauen, die in Männerberufen arbeiteten.34 Die sozialistische Emanzipation funktionierte jedoch im Alltag keineswegs so reibungslos und Frauen stießen im Spannungsfeld von Beruf und Familie ständig an ihre Grenzen. Die Thematisierung dieser Umstände galt jedoch als Tabu, das erst allmählich unter anderem von dem zunehmend kursierenden Begriff der „Doppelbelastung“ 35 in Frage gestellt wurde. Die sogenannte Dreifachbelastung (Familie, Beruf, aktive sozialistische Bürgerin) verschlechterte die Position der Frau je nach Lesart sogar signifikant. Gleichwohl bestand in den kommunistischen Gesellschaften nicht nur ein einziges Gender-Regime, wie die Kunsthistorikerin Bojana Pejić hervorhebt. Im Gegenteil: Socialist gender arrangements themselves varied significantly over time and space. Indeed, socialist regimes were often characterized by contradictory goals in their policies toward women: They wanted workers as well as mothers, token leaders as well as quiescent typists.36

Feministische Kunstkritik existierte nicht, obgleich Schriften ausländischer feministischer Kritikerinnen wie Lucy Lippard bekannt waren.37 Auch wenn es in Osteuropa Künstlerinnen gab, die aus einer feministischen Position heraus agierten und arbeiteten, existierte laut der Kunsthistorikerin Martina Pachmanová kein theoretischer Diskurs zu Geschlechterrollen oder -politiken in der visuellen Kunst des östlichen Europas, der das Schaffen dieser Künstlerinnen hätte begleiten oder untermauern können.38 Auch nach Meinung von Agata Jakubowska existierten in der Volksrepublik Polen zu Beginn der 1970er Jahre weder Feminismus noch Frauenkunst.39 Nach ihrer Rückkehr aus New York begann Natalia LL ab 1977 Ideen in der Volksrepublik Polen zu verbreiten, die sie durch feministisch engagierte Künstlerinnen und Theoretikerinnen in den USA und in Kanada kennen gelernt hatte. So organisierte sie beispielsweise die erste vom Feminismus inspirierte Ausstellung in der Volksrepublik Polen „Women’s Art“ in der Galerie Jatki PSP in Breslau und hielt Vorträge zu von ihr als feministisch bezeichneten Fragestellungen. Mit diesen in der Volksrepublik Polen zu dem Zeitpunkt noch unbekannten Ideen stieß sie jedoch auf Unverständnis. Sie stellte ihre Aktivitäten wieder ein und distanzierte sich von dem Thema Feminismus.40 Jakubowska beschreibt die Beziehung Natalia LL s zum Feminismus aus diesem Grund als zufällig und 34 35 36 37 38 39 40

Pachmanová 2010, 39, Anm. 7. Altmann 2009, 242. Gal/Kligman 2000/II, 5 f. Pejić 2010/II, 21. Pachmanová 2010, 40. Jakubowska 2007/II, 243. Jakubowska 2011/III, 331.

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oberflächlich.41 Die Künstlerin bewertet ihre Rolle in und ihren Beitrag zu den unterschiedlichen Diskursen in einem Interview im Jahre 2012 wie folgt: There were a few feminist groups who took interest in my art and stated that my work had feminist themes. In Consumer Art they found a struggle with the phallus, which I can’t agree with entirely. I used to be invited to their exhibitions and symposiums. […] artists like Valie Export, Ulrike Rosenbach, Katharina Sieverding or Carolee Schneemann; some of them are already dead like Gina Pane. […] European and American feminists were fighting for art made by women to be shown in museums, for women artists to be exhibited in the best galleries. […] I researched the Polish market and realized that Polish museums were also buying more works by men. That’s why I organized an exhibition in Wroclaw in 1978 on feminist art, and I invited Carolee Schneemann, Suzy Lake and Noemi Maidan. I gave talks supporting women’s art.42

Der Kunsthistorikerin Izabela Kowalczyk zufolge sei die feministische Kritik in den Werken Natalia LL s zwar von Anfang an enthalten gewesen, war von ihrem Umfeld jedoch nicht erkannt worden: [T]he non-existent background of feminist theory in art in that period rendered reading of the criticism inherent to the works impossible, the questions taken up by artists were frequently not reflected in the realities of Poland in those days and finally the ways artists distanced themselves from feminism, preferring to be classified in the field of „women art“ […], sometimes denouncing feminism (Natalia LL) or writing about their own disappointment with feminism […].43

Dem widerspricht die Meinung Jakubowskas, dass die Kritik nicht unbedingt im Werk von Natalia LL enthalten gewesen, sondern nur von den als westlich bezeichneten Kriti­ kerinnen und Kritikern hineininterpretiert worden sei. Vielmehr sei es Natalia LL um formalistische und modernistische Fragen gegangen.44 Auf den ersten Blick scheint sich das Werk mit feministischen Fragestellungen zu beschäftigen und es wurde von westlichen Kritikerinnen und Kritikern in den Jahren nach seiner Entstehung dementsprechend eingeordnet und interpretiert. Unter der Oberfläche folgt es jedoch den damaligen (formalistischen) Diskursen um die Moderne und ist in diese eingebettet. Wie Piotrowski zeigt, implizierte die Neoavantgarde in der 41 42 43 44

Jakubowska 2007/II, 243. Natalia LL 2013, 120. Kowalczyk 2003, o. S. Zit. nach: Pejić 2010/II, 22. Jakubowska 2007/II.

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Volksrepublik Polen keine Kritik am Wertesystem der Moderne: „[…] artists routinely combined a postmodern visuality and poetics with a modernist discourse.“ 45 Eingebettet in modernistische Diskurse konzentrierten sich die Werke von Künstlerinnen und Künstlern wie Natalia LL auf die Morphologie des fotografischen Bildes.46 Eine einfache Übertragung der westeuropäischen und US-amerikanischen Diskurse dieser Zeit auf die Situation in der Volksrepublik Polen greift nach Jakubowska deshalb zu kurz.47 Bojana Pejić hebt hervor, wie der Modernismus während des Kalten Kriegs zu einer universellen Sprache stilisiert und anschließend im sozialistischen Kontext etabliert wurde. Im kommunistischen Osten wurde abstrakte Kunst als ein westlicher Import abgewertet. Die Schwierigkeit war, das politische System mit einer autonomen Kunstsprache zu verbinden. In einigen Ländern, wie in der ehemaligen DDR, waren Abstraktion und Formalismus nicht erwünscht. In anderen Ländern, etwa in der Volksrepublik Polen, wurden diese Kunstrichtungen akzeptiert. Das Regime nahm an, dass freie und apolitische Kunst das staatlich autorisierte Kunstkonzept nicht gefährdete.48 Jakubowska betont ebenfalls die Ambiguität der Arbeiten Natalia LLs aus den 1970er Jahren: On the one hand, she inscribed the photographic images in a rigorous structure, stressing the rationality of the research act, an analysis of the morphology of signs. On the other hand, the very subject of those images referred the viewer to the, highlighted, physical body.49

Ähnlich wie Piotrowski erkennt sie zwei Bedeutungsschichten, die einander überlagern: die serielle Anordnung und die sukzessive Struktur stellt sie in einen Zusammenhang mit rationalen wissenschaftlichen Experimenten, wohingegen der Performerinnenkörper im Bild die physischen Körper der Betrachtenden adressiert und aktiviert. Im Folgenden wird dieses duale Deutungsschema, das Jakubowska und Piotrowski aufgestellt haben, aufgebrochen und erweitert, indem Bezüge zur US-amerikanischen Pop Art sowie zur westeuropäischen und US-amerikanischen Konsumkultur hergestellt werden. Anschließend wird eine weitere Deutungsebene im Sinne einer „anderen Produktion“ 50 nach Michel de Certeau vorgeschlagen.

45 Piotrowski 2010 [1998], 129. Piotrowski bezieht sich hier auf Robakowski 1981. [Der Aufsatz von Piotrowski wurde zum ersten Mal im Jahre 1998 veröffentlicht.] 46 Jakubowska 2007/II, 244. Jakubowska bezieht sich hier auf Piotrowski 2005/I. 47 Jakubowska 2007/II , 244. Jakubowska erwähnt auch die Unwissenheit der von ihr als westlich bezeichneten Kritikerinnen, was die Situation der polnischen Künstlerinnen anging. Sie sahen im Sozialismus (fälschlicherweise) ein Modell der Gleichberechtigung von Mann und Frau. 48 Vgl. Pejić 2010/II, 19 f. 49 Jakubowska 2011/I, 27. 50 De Certeau 1988, 13.

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3.5.4 Natalia LL zwischen Konsum und Produktion Die ersten Jahre der 1970er Jahre markierten den Beginn einer neuen Ära in der Volksrepublik Polen. Zum ersten Mal kam so etwas wie Konsum auf.51 Piotrowski legt überzeugend dar, dass das Konzept des „Posttotalitarismus“, das 1978 von Václav Havel formuliert wurde, eine ziemlich passgenaue Charakterisierung der 1970er Jahre in der Volksrepublik Polen liefert. Er ist sogar der Meinung, dass Havels Konzept die Situation in der Volksrepublik Polen unter dem Gierek-Regime viel akkurater beschreibt als die in der Tschechoslowakei unter dem Husak-Regime.52 Havel hebt die charakteristischen Züge des Posttotalitarismus im Unterschied zum klassischen Totalitarismus hervor: Die tiefgreifenden Unterschiede – in Hinsicht auf den Charakter der Macht – zwischen unserem System und dem, was wir uns traditionell unter dem Begriff Diktatur vorstellen, Unterschiede, die […] auch bei diesem ganz oberflächlichen Vergleich sichtbar sind, provozieren mich dazu, für dieses System […] eine besondere Bezeichnung zu wählen. Ich werde es posttotalitäres System nennen, freilich im vollen Bewußtsein, daß es wohl kein voll zutreffender Begriff ist – ein besserer fällt mir jedoch nicht ein. Durch das Wörtchen „post“ will ich jedoch nicht sagen, daß es sich um ein System handle, das nicht mehr totalitär ist, ich will nur sagen, daß es auf eine grundsätzlich andere Art totalitär ist als die „klassischen“ Diktaturen, mit denen wir üblicherweise den Begriff der Totalität verbinden.53

Havel nennt mehrere Schlüsselunterschiede zwischen der klassischen Diktatur und dem Posttotalitarismus. Der erste ist die Funktion des Systems unter den Bedingungen einer gewissen sozialen Stabilität, genau genommen bezüglich seiner eigenen Tradition und bezüglich der Akzeptanz durch die Gesellschaft. Das System ist nicht mehr neu, sondern es entwickelt eine gewisse Kontinuität und funktioniert innerhalb eines zuvor definierten politischen Territoriums. Der zweite Unterschied ist verbunden mit der Überzeugung, dass das funktionierende System keine Insel, keine Enklave ist, die von der Weltordnung abgekoppelt ist – im Gegenteil, es ist in diese Ordnung eingeschrieben und ein integraler Teil der globalen Struktur. Das Verschwinden der Identifikationsmarker der Differenz, die in der heroischen Phase der Diktatur in ideologischen Forderungen wurzeln, bewirkt das allmähliche Verschwinden der Ideologie. In der posttotalitären Phase funktioniert die Ideologie als Alibi, eine Überzeugung, die die Herrschenden in

51 Nach Meinung des Historikers Andrzej Paczkowski hatte der ökonomische Aufschwung in der Volksrepublik Polen in den Jahren 1973 – 75 seinen Höhepunkt. Vgl. Paczkowski 1994, wiederabgedr. in: Fik/Friszke/Głowiński 1996, 46. Zit. nach: Toniak 2011, 4. 52 Vgl. Piotrowski 2009/III, 287 f. 53 Havel 1989 [1978], 13.

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der Kommunikation mit den Beherrschten verwenden. Es ist ein kommunikatives Ritual. Diese rhetorische Ritualisierung verbirgt den Pragmatismus der Macht, die ungeschriebene Übereinstimmung zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft, die die Stabilität garantiert. Die posttotalitäre Gesellschaft gibt das Recht auf Demokratie auf und dadurch das Recht zu herrschen. Im Gegenzug garantiert das System ökonomische Sicherheit. Die Ritualisierung der Ideologie ersetzt die Metaphysik der Revolution und maskiert die wahren Werte der neuen Ordnung, die die der westlichen Konsumkultur spiegeln.54 Havel schreibt: Charakteristisch für die „klassische“ Diktatur ist die Atmosphäre des revolutionären Enthusias­ mus, des Heroismus, der Opferbereitschaft und der enthusiastischen Gewalt auf allen Seiten – im Sowjetblock sind die letzten Reste einer solchen Atmosphäre verflogen. Dieser Block ist nämlich schon seit langem keine Enklave, die vom Rest der zivilisatorisch entwickelten Welt isoliert und gegenüber den Prozessen in dieser Welt immun wäre; im Gegenteil, er ist ein fester Bestandteil dieser Welt, der das globale Schicksal teilt und mitformt. Das bedeutet konkret, daß sich in unserer Gesellschaft im Grunde dieselbe Hierarchie der Lebenswerte wie in den entwickelten westlichen Ländern unvermeidlich durchsetzt […]. Das heißt, dass es sich hier de facto nur um eine andere Form der Konsum- und Industriegesellschaft handelt, mit allen sozialen und geistigen Folgen, die damit verbunden sind.55

Piotrowski weist darauf hin, dass diese Veränderung des Machtsystems eine Veränderung der sozialen Kontrolle mit sich bringt: Das System von „Befehl und Strafe“ wird durch ein System von „Disziplin und Überwachung“ abgelöst.56 Nach Piotrowski ist die Volksrepublik Polen in den 1970er Jahren ein perfektes Beispiel für ein posttotalitäres System. Das damalige Regime ritualisierte die Ideologie und praktizierte panoptische Überwachung, während die Gesellschaft sich über die aufkommende Konsumkultur freute. Sogar eine politische Opposition wurde bis zu einem gewissen Grad toleriert. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurden die Dissidentenzirkel eher infiltriert als eliminiert. Die Unterdrückung nahm – mit signifikanten Ausnahmen – eher die Form der Schikane als die des Terrors an. Gesellschaftliche Freiheit war präzise definiert und limitiert. Auch im kulturellen Feld waren die Spielregeln klar vorgegeben. Künstlerische Freiheit wurde jedoch beinahe ausschließlich und nur bis zu einem gewissen Grad im Bereich formaler Experimente gewährt. Preis dieser Freiheit war der vollständige Rückzug aus der Politik. Das Regime erwartete von Künstlerinnen und Künstlern Neutralität, Verzicht auf Kritik und die Einhaltung linguistischer Konventionen, aktive Produktion, formale Experimentierfreudigkeit und 54 Vgl. Piotrowski 2009/III, 287. 55 Havel 1989 [1978], 13. 56 Vgl. Piotrowski 2009/III, 288. Piotrowski bezieht sich hier auf Foucault 1976.

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die Nutzung moderner statt postmoderner Ansätze. Das Regime der 1970er Jahre brauchte keinen Sozialistischen Realismus mehr für Propagandazwecke. Es verlangte moderne und zugleich unkritische Kunst, die den Status Quo nicht anzweifelte und die posttotalitäre Sozialordnung respektierte, die beides war: totalitär und konsumorientiert.57 Unter der Führung von Edward Gierek zu Beginn der 1970er Jahre ritualisierte das Regime seine Ideologie und praktizierte panoptische Überwachung, während die Gesellschaft erste Ausprägungen von Konsum begrüßte – bei gleichzeitiger extremer Knappheit an Konsumgütern.58 Jakubowska nennt es einen ärmlichen Konsum, der in der Möglichkeit bestanden habe, sich überhaupt etwas kaufen zu können.59 Auch Pejić merkt an, dass das Verlangen nach Konsumgütern von Land zu Land in unterschiedlichem Grad, jedoch niemals ganz gestillt werden konnte.60 Eine Banane blieb trotz allem ein Konsumartikel, genauso wie die Würste, die Natalia LL in Konsum-Kunst verwendete – mit dem Unterschied, dass die Letztgenannten nicht mit dem Westen in Verbindung gebracht wurden.61 Duzan Brosman behauptet sogar: „Eine Banane war damals in Polen kaum aufzutreiben […].“ 62 In jedem Fall weist die Verwendung einer Banane und der Würste in ihrem Kunstwerk die Künstlerin Natalia LL als einer privilegierten Gruppe zugehörig aus: „[…] at the beginning of the 70s, bananas were a deficient commodity in Poland. They were appearing only at certain moments […] and only in some places […].”63 Es war jedoch ein sehr limitiertes Privileg, wie Jakubowska anmerkt: Die Künstlerin habe nicht unendlich viele Bananen zur Verfügung gehabt, sondern lediglich zwei.64 Sie verschwendet kein Essen – im Gegenteil, sie wendet sich ihm in voller Hingebung zu und widmet ihm all ihre Aufmerksamkeit. Die Frage, ob die Arbeit Konsum-Kunst auch ein Spiel mit der von ihr als westlich bezeichneten Popkultur gewesen sei, verneint Natalia LL: These works had a different reception in Poland. It’s not a critique of western consumerism. You can’t categorize it as pop art. It ridicules the reality of the communist Poland; there was nothing on the shop shelves. Bananas had to be imported. Sausages were bought from under the counter.65

57 Vgl. Piotrowski 2009/III, 288 f. 58 Ebd., 288. 59 Jakubowska 2007/II, 246. 60 Pejić 2010/II, 22. 61 Jakubowska 2007/II, 246. 62 Duzan Brosman behauptet, Natalia LL habe die Banane aus der BRD mitgebracht. Siehe Brosman 1995, 14. 63 Jakubowska 2007/II, 246. 64 Ebd., 246 f. In der Arbeit Künstliche Realität hat Natalia LL jedoch mehr als zwei Bananen zur Verfügung. 65 Natalia LL 2013, 120.

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Dieses Zitat verdeutlicht die ambivalente Haltung, die von polnischen Künstlerinnen und Künstlern der als westlich bezeichneten Konsumkultur und der US -amerikanischen Pop Art gegenüber eingenommen wurden. Die verspätete Ankunft der Konsumkultur in Ostmitteleuropa wurde argwöhnisch beobachtet: Einerseits erhoffte man sich eine Befreiung von der staatlichen Masseninformationsverbreitung und andererseits fürchtete man eine Fortsetzung ebendieser alten Systeme unter neuen Vorzeichen.66 Pop Art und Popkultur wurden durch ihre Dialektik – ihre Fähigkeit, mit der Welt der Waren zu verschmelzen und gleichzeitig eine Sprache der Massenanreize bereitzustellen, mit der ebendiese kritisiert und negiert wurde – von zeitgenössischen Beobachtenden als Komplizen der dominanten Machtstrukturen gesehen.67 Pop Art stellte jedoch auch eine Einführung in die Praxis der Appropriation dar und ermöglichte eine Hinterfragung und Widerlegung der Slogans der modernen Kunst: Selbstausdruck, Originalität und Individualität.68 An dieser Stelle ist ein Vergleich mit den Arbeiten Eat (1963), Mario Banana 1 (1964) und Mario Banana 2 (1964)69 des Künstlers Andy Warhol aufschlussreich.70 Warhols 16mm-Filme entstanden etwas früher als die Arbeiten Natalia LLs. Es ist also möglich, dass sie diese Filme während ihres New York-Aufenthalts gesehen hat. In Eat verspeist der Künstler Robert Indiana, der heute zu den Vertretern der Pop Art gezählt wird, einen Pilz. Der Film entstand in Indianas Atelier und hat eine Länge von 39 Minuten. Durch diese Dauer und durch die Projektion mit 16 Bildern pro Sekunde statt 2471 erscheint der Verzehr des Pilzes wie in Zeitlupe. Die neun Filmrollen à drei Minuten wurden ohne Rücksicht auf chronologische Reihenfolge aneinander montiert, so dass der Pilz im Verlauf des Films an mehreren Stellen plötzlich wieder beinahe so groß und vollständig erscheint wie zu Beginn. Wie Natalia LL die Banane, so konsumiert Indiana hier einen Pilz. Die Art und Weise, in der er das Gemüse langsam verspeist, ist zwar sinnlich, jedoch nicht so erotisch aufgeladen wie Natalia LLs Spiel mit verschiedenen 66 Vgl. Morgan 2015, 25. 67 Vgl. ebd., 27. 68 Vgl. Crowley 2015, 33. 69 Die beiden Filme unterscheiden sich insofern, als es sich bei Mario Banana 1 um einen Farbfilm, bei Mario Banana 2 um einen Schwarzweißfilm handelt. 70 Auch Radziszewski vergleicht in seinem Film „America is not Ready For This“ Natalia LLs Arbeit Konsum-Kunst mit Mario Banana von Andy Warhol und interviewt Mario Montez zur Entstehung des Films. Vgl. hierzu die Aussagen von Montez im Interview mit Radziszewski in: Radziszewski 2012/II. 71 „Warhols Regieanweisung an den Darsteller für diesen Film war: ‚Eat this one mushroom‘ – und das 9 Filmbänder, also rund 30 Minuten lang. Dass der Film letztendlich 45 Minuten dauert, hängt mit der besonderen Projektionsweise zusammen: Die Filmaufnahmen (im Format 16 mm ohne Ton) wurden von Warhol verlangsamt projiziert, auf 16 statt 24 Bilder pro Sekunde gedrosselt, so dass ein Zerdehnungseffekt – aber noch keine Zeitlupe – entsteht.“ Weingart 2004, 176 f.

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(phallusartigen) Lebensmitteln. Viel eher mit Natalia LLs Film vergleichbar sind daher die beiden Filme Mario Banana 1 und Mario Banana 2, in denen die Drag Queen Mario Montez die Hauptrolle spielt. In beiden filmischen Versionen verspeist Montez während des Films sehr langsam eine Banane und leckt an ihr. In einem Interview im Jahre 2013 erinnert er sich an die Entstehung der Szene: Ich erinnere mich noch ziemlich gut daran, als mich Jack Smith das erste Mal mit zu Warhol mitnahm, der mit mir ein paar Probeaufnahmen machen wollte. Ich packte zwei Kostüme und eine schwarze Perücke ein, borgte mir eine gelbe, perlenbesetzte Handtasche und packte alles in Einkaufstüten. Wir fuhren also zur Factory, und ich schminkte mich in diesem winzigen Badezimmer, in das gerade mal eine Person passte. Als ich mit meinem Make-up fertig war, machte Andy erste Aufnahmen von mir in einem schwarzen Kleid vor einer der silbern gestrichenen Backsteinwände. Ich tanzte zu „Tequila“ von den Champs vor einem seiner Blumenbilder. Danach nahm ich meine Katze White Pussy und meine Handtasche und legte mich auf die Couch. White Pussy lief dann aber davon. Also öffnete ich die Handtasche, holte eine Banane heraus und begann sie sehr langsam zu schälen.72

Montez tritt in Warhols Filmen in einer Rolle auf, die er sonst nicht ausfüllen kann. In seinem bürgerlichen Leben arbeitet er als ein Büroangestellter. Seine Familie weiß nichts von seiner Identität als Drag Queen.73 Der queere Raum in Warhols Factory sowie der, den Warhols Kamera produziert, geben ihm den Raum, den er für die Ausübung der Rolle und die Aufführung seiner Identität benötigt. Der durch die Kamera eröffnete Raum ist ein geschützter und öffentlicher zugleich. Geschützt deshalb, weil es anscheinend keine Überschneidungen zwischen der damaligen Kunstszene um Warhol und dem Privatleben von Montez gab – im Jahr 2012 gab er an, dass seine Familie niemals von seinen Auftritten als Drag Queen erfahren habe.74 Da der Film jedoch von Warhol und mit dem Einverständnis von Montez öffentlich gezeigt wurde, zeugt sein Auftritt vor einer Kamera von erheblichem Mut. Indem er sich vor dem Kameraauge exponierte, setzte er sich den Blicken der Öffentlichkeit aus und wurde auf diese Weise zum Vorbild für nachfolgende Drag Queens. Trotz der formalen Ähnlichkeiten der Gesten Natalia LLs und Montez’ müssen die beiden Arbeiten vor ihrem jeweiligen Hintergrund gelesen werden. Beide wollten auf gewisse Art und Weise provozieren, erzielten jedoch in ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld unterschiedliche Ergebnisse. Die Konsumgesellschaften, in

72 Ashraf 2012. Das Gespräch entstand im Februar 2012 in Berlin. Montez erhielt damals am Rande der Berlinale einen Ehren-Teddy für sein Lebenswerk. In Radziszewskis Film erzählt Montez die Entstehungsgeschichte in nahezu denselben Worten. Vgl. Radziszewski 2012/II. 73 Vgl. Ashraf 2012. 74 Vgl. ebd.

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denen Natalia LL und Montez sich jeweils bewegten, und die Symbolik, die die Banane darin erhielt, waren grundverschieden. Auch wenn die ostmitteleuropäischen Bürgerinnen und Bürger im Alltag mit Mangel in den Geschäften und Anstehen zu kämpfen hatten – wie Natalia LL sagt –, kannten sie durchaus Konsumgüter. Dieses Wissen konnte unter der kommunistischen Herrschaft sowohl eine Quelle der Fantasie als auch der Frustration sein. Konsumgüter und Bilder vom Konsum, die aus dem sogenannten Westen kamen, erhielten unter diesen Umständen besondere Bedeutung. Nicht nur aufgrund ihrer Rarität, sondern auch aufgrund der unbekannten Materialien und verführerischen Formen schürten sie die Fantasien von einer kapitalistischen Gesellschaft. Die Frustration ergab sich aus der Kluft, die zwischen der Erwartung – hervorgerufen durch die Versprechen der Sowjetunion, den Westen einzuholen – und der tatsächlichen Erfahrung klaffte.75 Auch Pornomagazine waren nicht leicht zugänglich.76 Natalia LL schildert ihre ersten Berührungen mit pornografischen Magazinen in einem Interview mit Radziszewski (2012): The first time I came across porn magazines was in the sixties in Denmark, which was then famous for its porn industry. […] I often brought these magazines to Poland. During Martial Law our flat was searched; they took our typewriters – we had about four of them – but also our pornographic materials from Denmark. They wanted to confiscate my works as well, but I didn’t let them. The typewriters were returned after one month, but I never got the porn magazines back.77

Die Werbung für Konsumgüter (Autos, Haushaltsgegenstände, Möbel) war jedoch häufig an den (oftmals nur halb bekleideten) weiblichen Körper geknüpft.78 Interessant ist Natalia LLs Umgang mit Konsumgütern und pornografischem Material: Sie konsumiert im Sinne Michel de Certeaus und ist dabei nicht passiv, sondern aktiv. Sie konsumiert sowohl die Banane als auch erotische Bilder. Während sie konsumiert, „fabriziert“ 79 oder produziert sie gleichzeitig etwas, und zwar durch ihre „Umgangsweise“ 80 mit den Produkten und Bildern. Die „andere Produktion“ 81 ist jedoch quasi-unsichtbar, „da sie sich kaum durch eigene Produkte auszeichnet […], sondern durch die Kunst

75 Vgl. Crowley 2015, 33. 76 Jakubowska 2007/II, 246. 77 Natalia LL 2013, 119 f. 78 Pejić 2010/II, 22. 79 De Certeau 1988, 13. 80 Ebd. 81 Ebd.

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des Gebrauchs derjenigen Produkte, die ihr aufgezwungen werden“ 82. De Certeau charakterisiert die andere Produktion mit Bezug auf den Widerstand der sogenannten „indianische[n] Bevölkerung“ 83 gegen die spanischen Kolonisatoren ausdrücklich als eine subversive Praktik. Er schildert sie als eine Möglichkeit der subversiven Affirmation 84: Innerhalb des Kolonialsystems, das sie äußerlich „assimilierte“, blieben sie Fremde; ihr Gebrauch der herrschenden Ordnung war ein Spiel mit deren Macht, welche sie nicht abweisen konnten; sie entflohen dieser Ordnung, ohne sie zu verlassen. Die Kraft ihrer Differenz lag in der Art und Weise ihres „Konsums“.85

De Certeau bezieht sich anschließend auf die Sprechakttheorie und verweist auf den „Gebrauch, den bestimmte Volksschichten von den Kulturen machen, die ‚Eliten‘ als Sprachproduzenten verbreiten und aufzwingen“: Das Vorhandensein und die Verbreitung einer Vorstellung […] gibt keinerlei Aufschluß darüber, was diejenigen, die sie gebrauchen, davon halten. Man muß darüber hinaus untersuchen, wie sie von den Benutzern gehandhabt wird, die sie nicht gemacht haben. Nur so kann man die Unterschiedlichkeit oder Ähnlichkeit ermessen zwischen der Produktion eines Vorstellungsbildes und der sekundären Produktion, die in den Anwendungsweisen verborgen ist.86

Ein Vorstellungsbild, das Natalia LL verwendet, wäre zum Beispiel das erotische Bild einer kindlichen Frau, die gleichzeitig als Verführerin auftritt. Gleichzeitig wird sie durch ihre Art und Weise der Verwendung selbst zu einer primären Produzentin, da sie Vorstellungsbilder erschafft, die wiederum in den Diskurs eingehen. 3.5.5 Arbeits- und Ausstellungsbedingungen in der Volksrepublik Rumänien (ab 1948) und in der Sozialistischen Republik Rumänien (ab 1965) Im Gegensatz zu Natalia LL, die im Jahre 1970 die Künstlergruppe und gleichnamige Galerie PERMAFO mitbegründete, mit deren Mitgliedern sie sich Atelier- und Ausstellungsräume teilte, arbeitete Grigorescu isoliert und stellte seine performativen Arbeiten in den 1970er Jahren nicht aus. Im Vergleich zu anderen Ländern im sogenannten Sowje­ tischen Block nahm die Volksrepublik Rumänien ab 1948 und ab 1965 die Sozialistische

82 Ebd., 81. 83 Ebd. 84 Zur Definition der „subversiven Affirmation“ vgl. Kapitel 2.3.1. 85 De Certeau 1988, 14. Vgl. hierzu auch ebd., 81. 86 Ebd., 14. Vgl. hierzu auch ebd., 82.

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Republik Rumänien bis 1989 eine spezielle politische Rolle ein: Eine 25 Jahre währende Diktatur, die vornehmlich an die Person Nicolae Ceauşescus gebunden war, führte das Land schließlich in vollkommene Isolierung.87 Das Jahr 1968 brachte kurzzeitig eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Öffnung, als sich Ceauşescu gegen die Invasion in der Tschechoslowakei aussprach, womit er sich gegen die Sowjetunion und den größten Teil ihrer Satellitenstaaten stellte, was ihm die Sympathie einiger westeuropäischer Länder einbrachte. In den 1980er Jahren hingegen, als es in den übrigen Ländern zu tauen begann 88, verschlechterte sich die politische, ökonomische und kulturelle Situation in der Sozialistischen Republik Rumänien.89 Piotrowski beschreibt, wie nach einer kurzen Phase der Liberalisierung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die frühen 1970er Jahre von Versuchen geprägt gewesen seien, das soziale Leben der Bevölkerung strikt zu kontrollieren. Dabei wurde das System der Polizeikontrolle von extremer Prüderie und einer Festlegung sexueller Verhaltensmuster begleitet, die von der lokalen Bevölkerung überwacht wurden.90 Wie in vielen anderen sozialistischen Staaten wurde auch in Rumänien das kulturelle Leben zensiert oder es wurde „von der herrschenden Partei als Instrument der politischen Bildung im Sinne sozialistischer Ideale verstanden“ 91. Werner Klein unterscheidet zwei Hauptströmungen, die den damaligen Kulturbetrieb kennzeichneten: Die eine verherrlichte das Regime, ihre Arbeit wird heute als weitgehend bedeutungslos angesehen, die andere Strömung versuchte trotz Zensur eine kulturell wertvolle Kunst zu schaffen. […] Viele mussten überwacht vom Geheimdienst Securitate oder gar unter Hausarrest arbeiten.92

Auch Pintilie betont die schizoide Doppelung der künstlerischen Szene während des Kommunismus. Sie teilt die Kunst dieser Zeit in „‚official‘ art“ und „‚underground‘ art“

87 Vgl. Pintilie 2014, 86. 88 Die langsame politische Öffnung der Sowjetunion in den 1980er Jahren wird „Perestroika“ genannt (russ.: perestrojka; dt.: Umbau, Umgestaltung, Umstrukturierung). Der Prozess stand in engem Zusammenhang mit der Aufhebung der Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit in der Sowjetunion unter dem Schlagwort „Glasnost“ (russ.: glasnost’; dt.: Offenheit, Redefreiheit, Informationsfreiheit). Zudem wird diese Zeit oft wie alle vorhergehenden Phasen der kurzen Auflockerung als „Tauwetter-Periode“ bezeichnet (russ.: ottepel’; dt.: Tauwetter). Dieser Begriff geht auf eine nach dem Tod Stalins von der Sowjetunion ausgehende Periode der Auflockerung und größeren Freiheit der inneren Kultur in den Staaten des Ostblocks zurück. 89 Vgl. Pintilie 2014, 86. 90 Piotrowski 2009/III, 384. 91 Klein 2014, 84. 92 Ebd.

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ein.93 Sie betont jedoch auch, dass die Grenze zwischen beiden Bereichen fließend war und oft zufällig gezogen wurde. Beide waren gleichermaßen davon betroffen, dass eine Ausstellung unbemerkt blieb, von Beginn an überwacht, Änderungen vorgenommen wurden oder sie ganz abgesagt wurde. Ausstellungen oder andere Kunstereignisse, die sich gegen die Norm des Sozialistischen Kultur- und Bildungsrats wandten, wurden geschlossen oder an ungeeignete Orte verlagert.94 Auch die Möglichkeiten, künstlerische Fotografie auszustellen, waren in der Sozialis­ tischen Republik Rumänien begrenzt; experimentelle fotografische Arbeiten auszustellen war beinahe unmöglich. In der Öffentlichkeit zeigte Grigorescu Familienbilder oder Landschaften. Allein die Räumlichkeiten des offiziellen Künstlerverbands „Union der bildenden Künstler in Rumänien“ (Uniunea Artiștilor Plastici din România; Abk.: U. A. P.) standen als Ausstellungsfläche zur Verfügung. Im Künstlerverband gab es jedoch keine Sektion für Fotografie, da dieses Medium als niedrige Kunstform oder als ein Handwerk angesehen wurde. Professionelle Fotografie von hoher Qualität wurde in der Grafik, zur Illustration von geografischen Büchern oder zu Propagandazwecken eingesetzt. In den späten 1970er Jahren wurden fotografische Vorlagen für die Anfertigung von Präsidentenportraits in Öl verwendet.95 Aufgrund dieser Schwierigkeiten organisierte Grigorescu beispielsweise Sammelausstellungen im „Friedrich Schiller“-Kulturhaus.96 Diese Institution spielte eine Schlüsselrolle für Amateurkünstlerinnen und -künstler, da die rumänische Zensur hier nur begrenzt griff. Die künstlerische Fotografie hatte dort aufgrund ihrer langen Tradition in Deutschland einen höheren Stellenwert.97 Filmprojektionen, Performances und kleinere Ausstellungen, die experimentelle Medien zeigten, konnten fast ausschließlich in privaten Räumlichkeiten stattfinden.98 Interaktionen im öffentlichen Raum waren während der 1970er Jahre undenkbar, und es gab nur im Jahre 1968 ein Ereignis, das auf einer belebten Straße im Zentrum Bukarests durchgeführt wurde: eine Performance des Aktionskünstlers Paul Neagu.99 Dies bedeutete, dass der Zugang zu neueren Kunstformen einem breiteren Publikum verwehrt blieb, da die von der Zensur als verdächtig eingestufte Kunst systematisch aus öffent­ lichen Ausstellungen entfernt wurde. Performances fanden daher in der Intimität eines Schlafzimmers, vor einem Spiegel und in Anwesenheit einer Kamera, auf dem Land

93 Vgl. Pintilie 2014, 86. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 96 Vgl. hierzu die Chronik in: Şerban 2013, 337, und Kreuger 2013, 283. 97 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 98 Einige wenige Ausstellungen konnten im Foyer des Instituts für Architektur oder im Deutschen Kulturzentrum stattfinden. Vgl. Pintilie 2014, 86. 99 Vgl. ebd., 87.

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oder in abgelegenen Stadtgebieten statt.100 Die angespannte Atmosphäre erzeugte unter den Künstlerinnen und Künstlern eine solche Verschwiegenheit, dass unkonventionelle visuelle Ereignisse an privaten Orten nur vor wenigen Kennerinnen und Kennern, denen die Brisanz bewusst war, aufgeführt wurden.101 Rumänische Performance-Künstlerinnen und -Künstler waren also weder innerhalb der Sozialistischen Republik Rumänien vernetzt noch waren ihre Arbeiten den Performance-Künstlerinnen und -Künstlern in anderen ostmitteleuropäischen Ländern oder darüber hinaus international bekannt.102 3.5.6 Vernetzungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Sozialistischen Republik Rumänien Auch Grigorescu berichtet, dass er zu jener Zeit kaum Austausch mit anderen Künstlerinnen und Künstlern gehabt hätte, die mit Fotografie oder Film arbeiteten. Er hatte damals zwei bis vier enge Freunde, mit denen er über seine experimentelle künstlerische Arbeit sprechen konnte. Wie Kovanda betont auch er die Vertrautheit, die Voraussetzung für einen solchen Austausch gewesen sei: „Friends, not people!“ 103 Die Situation in der Sozialistischen Republik Rumänien in den 1970er Jahren ähnelt auf mehreren Ebenen eher derjenigen in der Tschechoslowakei als der in der Volksrepublik Polen, wo Experimente im künstlerischen Bereich in bestimmten Räumen und in einem begrenzen Rahmen möglich waren und auch öffentlich präsentiert werden konnten. Wie Grigorescu sich an die Situation im Bukarest der 1970er Jahre erinnert, waren sich die Beteiligten selbst bei Besprechungen im kleinsten Kreis nie sicher: Ist dies nun erlaubt oder verboten? Sogar ein Treffen von zwei oder drei Freundinnen oder Freunden musste schon als öffentlich angesehen werden: eine Öffentlichkeit im Privaten.104 Solche Treffen erweckten sofort den Anschein eines Komplotts gegen die sozialistische Gesellschaft. Grigorescu erwähnt, dass er nie wusste, ob der Geheimdienst (rumän. Departamentul Securității Statului; Abk.: Securitate) über die Zusammenkünfte Bescheid wusste oder nicht.105 Die Einschränkung und Eliminierung des privaten Raums und des Rechts auf individuelle Intimität

100 Vgl. ebd., 86. 101 Vgl. ebd. 102 Vgl. ebd., 87. 103 Aussage Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin. Vgl. hierzu die Aussage Kovandas in Kapitel 2.4.1.2 in dieser Arbeit, Seite 85. 104 Aussage Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin. Vgl. hierzu den Sammelband zur „Zweiten Öffentlichkeit“. Knoll 1999. 105 Bisher hat Grigorescu nicht den Wunsch verspürt, die ihn betreffenden Geheimdienstakten einzusehen. Er möchte nicht wissen, wer ihn damals bespitzelt oder sogar verraten hat. „It was the time“, ist seine abschließende Bemerkung dazu. Aussage Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin.

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durch massive Überwachung seitens der Securitate sowie die Kontrolle des Körpers über beispielsweise eine strikte Pro-Geburten-Politik und ein strenges Abtreibungsverbot waren wirksame Instrumente der rumänischen Diktatur für die Erschaffung des Neuen Menschen (the new man)106, ein furchtbarer Hybrid, in dem persönliche und kollektive Erinnerung ausgelöscht wurde.107 Trotz der beschriebenen Isolation und der Selbstzensur gab es in der Zeit nach 1968 für Grigorescu mehrere Möglichkeiten, sich mit der internationalen zeitgenössischen Kunstszene, die von den Entwicklungen in den USA und in Westeuropa dominiert wurde, bekannt zu machen. Im Jahre 1969 fanden zwei große Ausstellungen in Bukarest statt: ­ ainting after Zum einen The Disappearance and Reappearance of the Image. American P 1945 (Sala Dalles) – sie zeigte zum ersten Mal Pop Art in Rumänien – und zum anderen Paul Klee (Rumänisches Kunstmuseum).108 In der Bibliothek des offiziellen Künstlerverbands und des Rumänischen Nationalmuseums in Bukarest konnte G ­ rigorescu neu erschienene Kunstkataloge und Kunstzeitschriften einsehen, unter anderem Art and Artists, Artforum, Projekt, Kunstforum, Dance and Dancers und Lettres Françaises.109 Durch das Studium dieser Kataloge lernte er nach und nach Experimentalfilm, Minimalismus, Konzeptkunst, Kinetische Kunst, Performance-Kunst und Land Art kennen. Ganz besonders interessierte Grigorescu der Katalog zur documenta 5, die 1972 in Kassel stattfand. Er erinnert sich vor allem an seine damalige Beschäftigung mit Autismus und Schizophrenie in der Kunst sowie der daraus hervorgehenden Notwendigkeit des Ausdrucks, mit experimentellem Theater und mit Kitsch.110 Die Heirat mit Marica, einer Kunsthistorikerin und Kuratorin am Rumänischen Kunstmuseum, im Jahre 1969 ermöglichte Grigorescu einen noch direkteren und unkomplizierteren Zugang zu aktueller Kunstliteratur.111 Im Jahre 1977 reiste Grigorescu zum ersten Mal ins westliche Ausland. Eingeladen hatte ihn der Pariser Maler Bernard Rancillac.112 Grigorescu besuchte Budapest 113,

106 Pintilie 2014, 89. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. hierzu die Chronik in: Şerban 2013, 329, sowie die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin. 109 Vgl. hierzu die Chronik in: Şerban 2013, 329. 110 Vgl. hierzu die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin. 111 Vgl. hierzu die Chronik in: Şerban 2013, 329, sowie die Ausführungen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin. 112 Bernard Rancillac war im vorausgehenden Jahr in Bukarest gewesen, auf der Suche nach militanter Kunst. Vgl. die Chronik in: Şerban 2013, 337. 113 In Budapest besuchte Grigorescu Verwandte. Vgl. die Aussagen Grigorescus in: Interview Kühn/ Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin.

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Zürich 114, Basel 115, Paris und Karlsruhe und traf die Künstler Christian Boltanski und Jean Le Gac 116. In Paris besuchte Grigorescu ein Festival für experimentellen Film im Centre Georges-Pompidou und ein weiteres in einer Privatgalerie. Grigorescu hat mehrfach seine Schwierigkeiten beschrieben, die er während seines Aufenthalts im Westen Europas hatte und wegen derer er sich entschied, nach Bukarest zurückzukehren. Die Freiheit, die scheinbare Unbegrenztheit aller Möglichkeiten in der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland machten ihm zu schaffen: „What to do there in liberty! All is permitted there!“ 117 Außerdem sah er seinen Lebensmittelpunkt weiterhin in Rumänien: „I had here [in Bucharest] kind of a position, a family. All my projects were here, not there [in the West].“ 118 In einem Vortrag in Stuttgart 2009 beschrieb er die Zerrissenheit der damaligen Zeit wie folgt: The people of the two systems thought they were living in completely different worlds. Those who had left, the émigrés, didn’t want to return even to visit. Boltanski told me, didactically and at the same time skeptically, that the history of art was being made there (in the West). It is true that it would not have been possible for me to participate at all in the artistic life of the other world unless I renounced living in my own country, which I could not accept; I didn’t want to break with my beginnings.119

Im Vergleich zu dem USA -Aufenthalt von Natalia LL kann festgestellt werden, dass ­Grigorescu sehr viel distanzierter von seinen Erfahrungen berichtete. Er zeigte sich skeptisch gegenüber der propagierten Freiheit in Westeuropa und wies im Rückblick vor allem auf die Nachteile hin, die eine Emigration für ihn gehabt hätte. Trotzdem waren die Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst in Westeuropa und den USA zur damaligen Zeit wichtige Bezugspunkte für ihn, und er schöpfte seine Inspiration aus der Beschäftigung mit diesen künstlerischen Positionen, die er vor allem über Publikationen, 114 In Zürich traf Grigorescu einige sehr junge Schweizer Malerinnen und Maler, die er von seiner Restaurierungstätigkeit kannte. Vgl. hierzu auch Tóts ersten längeren Aufenthalt im westlichen Ausland, den er in Genf verbrachte. Vgl. Kapitel 2.3.2. 115 In Basel sah sich Grigorescu verschiedene Museen an. Vgl. die Aussagen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin. 116 Jean Le Gac hatte mit dem rumänischen Künstler Andrei Cădere an dem „Walking to Kassel“-Projekt zusammengearbeitet, einem inoffiziellen Beitrag zur documenta 5. Vgl. die Chronik in: Şerban 2013, 337. 117 Vgl. die Aussagen Grigorescus in: Interview Kühn/Valentini – Grigorescu. 118 Vgl. die Aussagen Grigorescus ebd. 119 Ion Grigorescu, Subversive Art as Viewed in Eastern European Romania, Auszug aus einem Vortrag, der im Rahmen der Ausstellung Subversive Praktiken. Kunst unter Bedingungen politischer Repression. 60er–80er / Südamerika / Europa 2009 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart gehalten wurde. Zit. nach der Chronik in: Şerban 2013, 337.

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seltener über Ausstellungen rezipierte. Anders als Natalia LL eröffnete ihm seine Reise durch Ungarn, die Schweiz, Frankreich und Deutschland jedoch weniger Kooperationen und Ausstellungsmöglichkeiten. Er arbeitete weiterhin zurückgezogen und bekam erst nach dem Zusammenbruch des Regimes Gelegenheiten im In- und Ausland auszustellen. Welche Konsequenzen dieses zurückgezogene Arbeiten für sein künstlerisches Werk hatte, wird abschließend noch einmal beleuchtet. 3.5.7 Agieren in privaten Räumen Die fotografischen Serien zeigen den Künstler in seiner Wohnung, in seinem Arbeitsumfeld bei einer alltäglichen Handlung. Sie verdeutlichen einen Bewegungsablauf, der in dieser Form täglich in diesem Interieur stattfinden könnte. Der private Rückzugsort wird hier zur letzten Möglichkeit, sich auszudrücken. Pintilie führt aus: Die Fotografie, aber auch der Film wurden für Grigorescu zu einer autonomen Bildsprache, mithilfe derer er in häufig zufälligen Bildern authentische Szenen aus dem Leben, vor den Augen der Zuschauer „gelebtes Leben“, einfangen konnte.120

Das Private wird in diesen Fotografien politisch. Die alltäglichen Handlungen werden aufgezeichnet und dokumentieren Situation und Arbeitsweise des Künstlers. Dabei handelt der Künstler aus einer Einstellung heraus, die man als das bezeichnen könnte, was Havel den „Versuch in der Wahrheit zu leben“ 121 nannte. Er meinte damit das Heraustreten aus den „Spielregeln“ des „posttotalitären Systems“, das den äußeren „Schein“ des „Lebens in Lüge“ entlarve und so zur Grundbedrohung für das System werde.122 Grigorescu dokumentiert seine Aktivitäten nicht, um damit später Ruhm in der Kunstwelt zu erlangen. Er zeichnet lediglich seine Experimente, die er während der 1970er Jahre mit seinem eigenen Körper und mit den Medien Film und Fotografie macht, auf, um Zeugnis abzulegen. Zunächst tut er das nur für sich selbst und betont damit seine Eigenständigkeit, seine Freiheit, Entscheidungen zu treffen und individuell – in diesem Fall nonkonform – zu handeln. Wie Pintilie bemerkt, spiegeln die privaten Themen, die Grigorescu aufgreift, nichtsdestotrotz die politische Lage des Landes wider: Der Künstler setze sich mit dem menschlichen Körper auseinander, weil dieser den elementarsten Bezugspunkt von „Individualität und Intimität in Konfrontation zum politisch vergifteten öffentlichen Leben [darstellt], worin sich eine kritische Rezeption der politischen Verhältnisse manifestiert […]“ 123. 120 Pintilie 2009, 184. 121 Havel 1989 [1978]. 122 Ebd., 27 f. Vgl. Kapitel 4.2.1 in dieser Arbeit. 123 Pintilie 2009, 180.

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3.6 Zw ischenfazit In der Interaktion mit der Kamera und den zukünftigen Betrachtenden verhandeln Natalia LL und Grigorescu Rollen- und Körperbilder, die in Beziehung zur damaligen polnischen respektive rumänischen Gesellschaft stehen. Während der Performance werden diese Bilder wiederholt und variiert, produziert, reproduziert und anders produziert. Die Vervollständigung der sozialen Situation durch die Betrachtenden öffnet die zunächst private Konstellation hin zu einer Form der Öffentlichkeit, die die Aktion zu einer politischen macht. Der private Raum wird zum öffentlichen Raum – sowohl während der Aufführung als auch während der Wiederaufführung zu einem späteren Zeitpunkt. Die im ersten und im zweiten Kapitel beschriebenen und analysierten Medialisierungsstrategien bewirken eine Hinterfragung und Auflösung des traditionellen Werkbegriffs, bei dem dem Endprodukt des künstlerischen Schaffensprozesses der größte Wert beigemessen wird. Künstlerinnen und Künstler, wie zum Beispiel Zofia Kulik und Przemysław Kwiek im Künstlerduo KwieKulik, nutzen diese Medialisierungsstrategien ebenso wie kollektiv konzipierte Produktionsprozesse gezielt, um den herkömmlichen Werkbegriff zu erweitern. Durch komplexe theoretische Überlegungen, durch Rückgriffe auf Praktiken der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie durch eine enge Verzahnung von Kunst und Alltag entwickeln sie Formen, die von künstlerischem Widerspruch bis hin zu offenem künstlerischem Protest reichen. Ihr Ziel war nichts Geringeres, als den Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzugestalten. Wie sie dies genau durchführten, wird im folgenden Kapitel näher beleuchtet und analysiert.

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Taf.  1 – 3  Endre Tót, Zero-Demonstration, Köln 2015.

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Taf. 4  Natalia LL, Sztuka postkonsumpcyjna (Post-Konsum-Kunst), 1975, sechs Schwarzweißfotografien, je 50 × 60 cm.

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Taf. 5  Ion Grigorescu, Naşterea (Geburt), 1977, 8 Farbfotografien aus einer Serie von 14 (produziert 2014), 40 × 30 cm (ungerahmt).

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| Tafelteil Taf. 6 und 7  Natalia LL auf einer Demonstration zur Verteidigung der Rechte sexueller Minderheiten, New York 1977.

Tafelteil | Tafel.  8a – c  KwieKulik, Gra na twarzy aktorki (Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin), Filmstills aus dem Film Forma otwarta – Gra na twarzy aktorki (Offene Form – Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin), 1971, 35 mm, 2’39’’, Farbe, Ton.

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| Tafelteil Taf.  9a – c  KwieKulik, Gra na Wzgórzu Morela (dt.: Spiel auf dem Morel-Hügel), Treffen der Jungen Kreativen Werkstatt, Elbląg 1971, 15’23’’, Farbfotografien und Dias.

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Taf. 10  Fenster in KwieKuliks Wohnung, Teil eines Fensterrahmens, den die Künstlerin und der Künstler in der Installation Das logische Fenster in der Galerie Studio benutzten. Die Fensteröffnung wurde für die Zeit der Ausstellung mit Sperrholz zugenagelt. Karol-Wójcik-Straße, Warschau 1973.

Taf. 11  KwieKulik, Das logische Fenster (wegen des großen Scheinwerfers, der die Installation beleuchtete, auch Die logische Lampe genannt), Galerie Studio 1973.

Taf. 12  KwieKulik, Das logische Fenster, Detail: Negativtreifen von Diafilmen wurden zwischen die Scheiben eines Fensters geklemmt, das aus der Wohnung KwieKuliks entfernt worden war.

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| Tafelteil Taf. 13  Marian Konieczny, Nike, den ‚Helden Warschaus 1939–1945‘ gewidmet, 1964 aufgestellt (in den 1990er Jahren umgestellt), Warschau.

Taf. 14  Andrzej Kasten/Bronisław Chyliński, Pomnik Kościuszkowców (Kościuszkowcy-Denkmal), 1985 errichtet, Bronze, Wybrzeże Szczecińskie Straße, Warschau.

Taf. 15  Stanisław Kulon, Chwała saperom (Ehre den Pionieren), 1975, Detail, errichtet, Beton, Stahl, Bronze, Granit, Warschau.

4 Die Erweiterung des Werkbegriffs durch Medialisierungsstrategien und kollektive Prozesse im Werk von KwieKulik 4.1 Einleitung, kur zer Forschungsstand, These und Aufbau des K apitels: Das Künstler-Duo Kw ieKulik (1971 –  1987) Zofia Kulik (*1947) und Przemysław Kwiek 1 (*1945) lernten sich 1961 im Młodzieżowy Dom Kultury (Jugendkulturzentrum, Łazienkowska Straße, Warschau) bei einem Bildhauerkurs kennen und trafen sich dann während ihres Bildhauerstudiums in den 1960er Jahren an der Akademia Sztuk Pięknych (Akademie der Schönen Künste; Abkürzung: ASP ) in Warschau wieder, wo Kwiek seit 1963 und Kulik seit 1965 studierte.2 Sie wurden ein Paar und lebten und arbeiteten jahrelang sehr eng zusammen.3 Von 1967 bis 1968 studierten sie im Atelier von Jerzy Jarnuszkiewicz, Professor für Bildhauerei.4 In künstlerischer Hinsicht wurden Kulik und Kwiek ebenso durch den zweiten charismatischen Professor der Fakultät, Oskar Hansen, geprägt, dessen Kurse sie von 1967 bis 1973 besuchten. Hansen hatte die Theorie der Forma Otwarta (Offenen Form) entwickelt, die er sowohl in seiner eigenen künstlerischen Praxis, unter anderem als Architekt, Stadtplaner und Maler, als auch als Hochschullehrer einsetzte.5 Da seine Ideen in der Volksrepublik Polen der Nachkriegszeit als zu radikal empfunden wurden, 1 Im Folgenden wird der Nachname „Kwiek“ stellvertretend für Przemysław Kwiek verwendet. Wenn sein Bruder Paweł Kwiek gemeint ist, wird der Vorname mitgenannt. 2 Teile dieses Kapitels basieren auf den Ergebnissen der Magisterarbeit der Autorin, Kühn 2008, sowie auf dem 2012 publizierten Aufsatz: Kühn 2012. Allgemeine Vorarbeiten zu den Aktionen KwieKuliks wurden in folgendem Aufsatz veröffentlicht: Kühn 2011. 3 Aufgrund ihrer eng miteinander verflochtenen Lebens- und Arbeitsweise sind KwieKulik mit dem Künstlerduo Abramović/Ulay vergleichbar. Katarzyna Michalak verglich die beiden Künstlerduos in einem Aufsatz unter besonderer Berücksichtigung von Gender-Fragen miteinander. Vgl. Michalak 1999. Weitere Künstlerpaare, die in ähnlicher Weise Kunst und Leben miteinander verbanden und ihre Beziehung in ihre Kunst integrierten, sind zum Beispiel Gilbert & George, die vor allem zu Beginn ihrer Karriere öffentlich als Künstlerduo performten, sowie Eva & Adele. Zu Gilbert & George vgl. Janecke 2004/II; Bismarck 2004; Green 2001. Zu Eva & Adele vgl. beispielsweise den Ausstellungskatalog Ausst. Kat. Paris 2016. 4 Die Kunsthistorikerin Maryla Sitkowska beschreibt Jarnuszkiewicz als eine anziehende Persönlichkeit, der den Studierenden vor allem seine Lebensphilosophie vermittelte, die sich in hohem Maße durch Empathie und Gemeinschaftsgefühl auszeichnete. Vgl. Sitkowska 2012, 530. Jarnuszkiewicz schenkte der Allgemeinbildung seiner Studierenden große Aufmerksamkeit und fragte sie oft nach ihren literarischen und musischen Interessen. Vgl. Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 31. 5 Vgl. Sitkowska 2012, 530.

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konnte Hansen seinen Beruf als Architekt nicht ausüben und nahm 1952 eine Stelle an der Akademie der Schönen Künste in Warschau im Fachbereich Innenarchitektur an. 6 Später leitete er die Pracownia Kompozycji Brył i Płaszczyzn (Atelier für die Komposition von Körpern und Ebenen) im Fachbereich Skulptur, ebenfalls an der Akademie der schönen Künste in Warschau.7 Die Theorie der „Offenen Form“ richtete sich in radikaler Art und Weise gegen traditionelle Konzepte und Rahmenbedingungen, die die Rolle der Künstlerin oder des Künstlers, die Natur des Kunstwerks und den Status der Rezipierenden definierten.8 Kulik und Kwiek entwickelten ihre Arbeitstechniken und Konzepte zunächst innerhalb und in Gemeinschaft mit einer Gruppe von Studierenden, die ebenfalls bei Hansen lernten. Später, von 1971 bis 1987, bildeten Kulik und Kwiek das feste Künstlerduo KwieKulik. Das Werk KwieKuliks ist von den untersuchten Positionen bisher am besten erforscht. Dazu hat die Künstlerin Zofia Kulik einen erheblichen Beitrag geleistet. In jahrelanger, sorgfältiger Archivarbeit hat sie den Inhalt des Künstlerarchivs KwieKuliks geordnet, beschrieben und verschlagwortet. Dabei hat sie die einzelnen Ereignisse miteinander sowie mit ihrem jeweiligen Kontext in Beziehung gesetzt.9 Der Kunsthistoriker Axel Wieder und der Künstler und Autor Florian Zeyfang haben 2014 einen Sammelband zur Werkstatt und zur Theorie der „Offenen Form“ von Hansen sowie zu dessen Umfeld und Nachfolge herausgegeben, in dem sich mehrere Beiträge zum Werk von KwieKulik finden.10 Einen substanziellen Beitrag zur Performance-Kunst in Polen und speziell zum Werk KwieKuliks hat 2014 außerdem Amy Bryzgel veröffentlicht.11 Die Arbeiten des Künstlerduos sind besonders interessant, da sowohl in ihren Arbeiten als auch in den kollektiven Aktionen, die in ihrem Umfeld entstanden, künstlerische Praktiken der historischen Avantgarde sowie des Sozialistischen Realismus aufgegriffen, transformiert und angeeignet wurden. Mit leichten Verschiebungen wurden sie zu Strate­ gien und Taktiken der Neoavantgarde: 6 Amy Bryzgel weist darauf hin, dass in den ehemaligen sogenannten Ostblockstaaten im Bereich des Designs und der Angewandten Kunst künstlerische Experimente gewöhnlich toleriert wurden. Die hohen Künste, wie Malerei und Skulptur, waren gezwungen, der Doktrin des Sozialistischen Realismus zu folgen. In Polen ging diese Phase jedoch nur bis 1956. Vgl. Bryzgel 2014, 21, Anm. 21. 7 Vgl. ebd., 10. 8 Sitkowska weist darauf hin, dass Hansen den „recipient“ als „paticipant“ bezeichnete, und zählt diesen Begriff zu den Schlüsselbegriffen seiner Theorie. Vgl. Sitkowska 2012, 530. 9 Die Ergebnisse von Zofia Kuliks Archivarbeit wurden in Form eines KwieKulik-Werkverzeichnisses publiziert, das von Łukasz Ronduda und Georg Schöllhammer herausgegeben wurde: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II . Es bietet mit den darin enthaltenen wissenschaftlichen Beiträgen, unter anderem von Łukasz Ronduda, Georg Schöllhammer, Luiza Nader und Klara Kemp-Welch, eine ausgezeichnete Basis für weitere Forschung. 10 Wieder/Zeyfang 2014. 11 Bryzgel 2014.

Das Künstler-Duo KwieKulik (1971 – 1987)  |

1.  Kunst als Mittel zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsform 2.  Kollektive Formen der Zusammenarbeit 3.  Die Erweiterung des Werkbegriffs (całostka [Separierte Ganzheit]; działanie [Handeln, Tätigkeit, (Ein-)Wirkung; Plural: działania]; „Offene Form“) 4.  Die Verbindung von Kunst und Leben 5.  Nutzung neuer Medien wie Fotografie und Film / Medien der Kommunikation 6.  Kunst als Protest und Ausdruck von Widerstand (Nutzung der Provokation und des Schocks) Das zunächst ohne politische Intentionen agierende und vornehmlich auf ästhetische Fragen konzentrierte Künstlerduo politisierte sich nach und nach, woraufhin auch frühe Kunstwerke, die ursprünglich nicht im Sinne eines Protests konzipiert worden waren, reinterpretiert und umgedeutet wurden. Der Kontext, in dem KwieKulik lebten und arbeiteten, funktionierte dabei als Katalysator, seine Akteurinnen und Akteure regten die künstlerische Produktion aktiv an und formten das Werk KwieKuliks maßgeblich mit. Die künstlerische Arbeit KwieKuliks stellte eine permanente Auseinandersetzung mit der sozialistischen Lebenswelt dar. In frühen 1970er Jahren war ihre Arbeit geprägt von der Auseinandersetzung mit traditionellen Kunst- und Werkbegriffen (die auch im Sozialis­ tischen Realismus Anwendung fanden), der Ausarbeitung neuer künstlerischer Konzepte und der unmittelbaren Anwendung dieser Konzepte. Die von KwieKulik entwickelten neuen Kunstformen und Begriffsbestimmungen brachten das Künstlerduo in Konflikt mit dem posttotalitären polnischen Staat. Die Beziehung war einerseits geprägt von Repressionen wie einem Reiseverbot und der Überwachung durch die Geheimpolizei. Auf der anderen Seite forderten KwieKulik die ihnen ihrer Meinung nach zustehende Unterstützung vom Staat ein und zogen ihn als Geldgeber und Finanzierungsmöglichkeit in Betracht. Der Eingriff des Staates und der Kulturpolitik in KwieKuliks Neubestimmungen eines ihrer Meinung nach ebenfalls sozialistischen Kunstbegriffs, den sie auch mit „Neue Rote Kunst“ (poln. „Sztuka Nowej Czerweni“, auch oft in englischer Sprache verwendet: „New Red Art“) betitelten, transformierte ihr künstlerisches Werk. Stand in den frühen 1970er Jahren die Überwindung eines traditionellen Kunstbegriffs im Zentrum, so waren die späten von der Auseinandersetzung des Künstlerduos mit staatlichen Institutionen, deren Entscheidungen und Maßnahmen geprägt. Im Folgenden steht die These im Mittel­ punkt, dass sich das Werk KwieKuliks in Auseinandersetzung mit dem sozialistischen polnischen Staat von einer zunächst gegen einen traditionellen Kunstbegriff gerichteten, künstlerischen Bewegung hin zu einer gegen staatliche Institutionen gerichteten Kritik entwickelte, die sich als künstlerischer Protest artikulierte. Zu Beginn des Kapitels werden zwei kollektive Aktionen vorgestellt, die unter Mitwirkung des Künstlerduos entstanden. Die Analyse der beiden Aktionen zeigt die sukzessive Erweiterung des Kunst- und Werkbegriffs im Umfeld von KwieKulik sowie die

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Implementierung und Erweiterung des Konzepts Forma Otwarta. Zudem werden die Ideale und Ziele der Künstlerinnen und Künstler erläutert, die sich unter der Bezeichnung „Neue Rote Kunst“ zusammenschlossen und zu denen auch KwieKulik gehörten. Es folgt eine Darstellung ihrer ökonomischen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie der sich daraus ergebenden Konflikte mit dem Ministerstwo Kultury i Sztuki (Ministerium für Kunst und Kultur; Abk.: MKiS) und der Überwachung durch den Slużba Bezpieczeństwa (Sicherheitsdienst; Abk.: SB). Anschließend werden sowohl (Selbst)-Definitionen als auch von KwieKulik neuentwickelte Begriffe und Konzepte vorgestellt und ihre Anwendung anhand eines Beispiels (Działania z Dobromierzem [Aktivitäten mit Dobromierz], 1972) verdeutlicht, das zugleich die enge Verbindung von Kunst und Alltag im Leben des Künstlerpaars zeigt. Darauf folgt eine Untersuchung der künstlerischen Strategien des Künstlerduos, die sich teilweise aus den Lebens- und Arbeitsbedingungen ergaben, teilweise in direkter Antwort auf politische Entscheidungen in Form von Protestaktionen entstanden. Zunächst wird das Künstlerarchiv und -atelier KwieKuliks vorgestellt, das eng mit dem kontinuierlich von ihnen erweiterten Kunst- und Werkbegriff verknüpft war. Daran anschließend wird erläutert, was KwieKulik unter der Strategie einer unterbrochenen Aufführung (interrupted projection)12 verstanden, und es wird die aus den Konflikten erwachsende künstlerische Protestaktion (Pomnik bez paszportu [Denkmal ohne Reisepass], 1978) diskutiert.

4.2 „Neue Rote Kunst“: Kollektive Aktionen um Kw ieKulik Obwohl die kollektiven Aktionen viele Autorinnen und Autoren haben, werden sie zu KwieKuliks frühen Aktionen gezählt.13 Kulik formuliert ihre damaligen Ziele wie folgt: […] wir glaubten an die Möglichkeit einer reibungslosen Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, an die Möglichkeit des kollektiven Arbeitens, ohne dem Problem der Autorschaft und der Sorgen „was von wem“ kommt und „wer was“ tat. Ein Künstler sollte frei und selbstlos sein, und das „Neue“ dort entstehen, wo Ich-und-der-Andere sich treffen, in Interaktion.14

Die Kunstkritikerin und Kuratorin Karen Archey bezeichnet die kollektiven Aktionen auch als „interaktive Performances“ oder als „Spiele“ mit einer „Ruf-Antwort-Struktur“.15 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Aktionen „übertrugen dem ‚Publikum‘ 12 Kwiek in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 13 Archey 2013, 74. 14 Kulik zit. nach: ebd. 15 Ebd.

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Verantwortung, schufen einen Rahmen für Resonanz oder kreierten Feedback-Loops zwischen verschiedenen Gruppen“ 16. Im Folgenden werden zwei dieser kollektiven Aktionen analysiert. 4.2.1 Offene Form – Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin (Frühjahr 1971) Eine besondere Form der Interaktion von Kollektiv, Kamera und Betrachtenden findet sich in der folgenden Aktion: Zwischen dem 8. und dem 14. Februar sowie am 20. April 1971 realisierte eine Gruppe von Studierenden der Kunst- und Filmakademien in Warschau und Łódź einen Film in neun Sequenzen mit dem Titel Forma otwarta (Offene Form, Taf. 8a–c). Teilnehmende, Ko-Autorinnen und -Autoren waren Studierende, Absolventinnen und Absolventen des Fachbereichs Skulptur der Akademie der Schönen Künste in Warschau (Zofia Kulik, Przemysław Kwiek, Jan S. Wojciechowski, Bartłomiej Zdrojewski), Studierende der Państwowa Wyższa Szkoła Filmowa, Telewizyjna i Teatralna im. Leona Schillera w Łodzi (Staatliche Film-, Fernseh- und Theaterhochschule Leon Schiller in Łódź; Abk.: PWSFTViT) im Fachbereich Kamera (Paweł Kwiek, Tatiana Dębska, Jacek Zalewski) sowie eine Schauspielstudentin der PWSFTV iT (Ewa Lemańska).17 Kulik beschreibt den Arbeitsprozess mit der Kamera rückblickend wie folgt: And as far as teamwork is concerned, „Open Form“ came next after the „Excursion“. What was the team work about? A general premise was not to make a film but to work with a ­camera. We had seven days. We knew that we would have the camera for only seven days, so we divided that period in such a way that we were to work in a different situation, pre-­ arranged by ourselves each day. We had chosen the following situations: a table with food, a school, Moses’s edifice library, tv studio, Hansen’s studio, the Palace of Culture, an actress’s face, open air. […] Two months later we went for one day’s shooting Lodz Film School. There, Paweł Kwiek filmed our activities on slides that had been performed simultaneously with a film and that contained images not present on the film.18

Der Film Offene Form wurde nie vollständig editiert und verblieb in einem Stadium der Unvollendetheit.19 Amy Bryzgel ergänzt: „It continues to be re-edited to include shots of it being screened, thus ‚deconstructing the cinematographic narrative‘ and rendering the consumption of the artwork simultaneously with its production.“ 20 Eine der neun

16 Ebd. 17 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 54. 18 Kulik in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 19 Vgl. Bryzgel 2014, 13. 20 Ebd.

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Sequenzen des Films ist mit Forma otwarta – Gra na twarzy aktorki (Offene Form – Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin; 1971)21 betitelt (Taf. 8a–c). Da sich an ihr besonders gut die Interaktion von Kamera, Modell, unsichtbaren Performenden und zukünftigen Betrachtenden sowie die Umsetzung des Konzepts der „Offenen Form“ im Prozess des kollektiven Agierens zeigen lässt, wird diese Sequenz im Folgenden genauer beschrieben und analysiert. Ein zentrales Motiv in der Performance ist das der Gewalt. Während der gesamten Sequenz ist auf dem Bildschirm ausschließlich das Gesicht der Schauspielerin Ewa Lemańska 22 in Nahaufnahme zu sehen. Sie ist leicht geschminkt und hat die blonden Haare zum Zopf zurückgebunden. Von den übrigen Teilnehmenden sind nur die Hände zu sehen, die im Verlauf der Sequenz verschiedene Spielzüge auf dem Gesicht der Schauspielerin durchführen, indem sie es bearbeiten, modifizieren und traktieren. Dazu benutzen die Akteurinnen und Akteure verschiedene Requisiten wie Tesafilm, Schnur und Papier, buntes Krepppapier in Form von Rollen, Streifen und kleinen Schnipseln, Kleister, rote Flüssigkeit, die an Tomatensaft erinnert, ein Nest trockener Reisnudeln, Reiskörner, kleine Stöckchen in Rot, Weiß und Blau, ein grünes Blatt, ein Stück bunt bedruckten Vorhang, Modelliermasse, einen Pinsel, ein Stück von einer Glasscheibe, eine Zigarettenkippe, ein Messer und eine Brille. In zwei Einstellungen wird ein rotes beziehungsweise rosafarbenes Tuch senkrecht hinter den Kopf der Schauspielerin gehalten und dadurch der Hintergrund verändert. Während des Prozesses spiegeln sich auf dem Gesicht der Schauspielerin starke Emotionen. Sind ihre Augen zu Anfang der Sequenz noch geschlossen, stehen bald darauf Tränen in ihren Augen und es sieht aus, als finge sie jeden Moment an zu weinen. Außer in den Einstellungen, in denen ihr Gesicht verdeckt ist oder in denen sie ihren Kopf in den Nacken legt, schaut sie direkt in die Kamera. Während der Aktion verläuft nach und nach die schwarze Schminke um ihre Augen und der rote Saft trieft über ihr Kinn. In einer der letzten Einstellungen lässt sie, nachdem ein Schwall der roten Flüssigkeit aus ihrem Mund gequollen ist, erschöpft und kraftlos den Kopf zur Seite hängen. In einer

21 Vollständige Werkangaben: Forma otwarta – Gra na twarzy aktorki (Offene Form – Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin), 1971, 35 mm, 2’39’’. Vgl. hierzu die Angaben im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau in: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/kwiekulik-forma-otwartagra-na-twarzy-aktorki [Zugriff am 17. 1. 2020]. Der Film kann in der Filmdatenbank unter dem angegebenen Link gesichtet werden. 22 Die Schauspielerin Ewa Lemańska wurde Anfang der 1970er Jahre als Maryna, die Verlobte des Haupthelden der Fernsehserie Janosik, sehr berühmt. Vgl. die Beschreibung von Ronduda im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/­kwiekulikforma-otwarta-gra-na-twarzy-aktorki [Zugriff am 15. 5. 2020]. Vgl. hierzu auch den Eintrag im ­KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II , 54. Die TV -Serie Janosik von Jerzy Passendorfer von 1973 wurde ein Jahr später für das Kino verfilmt. Vgl. hierzu den Eintrag im Kontext-Glossar ebd., 489.

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Einstellung etwa in der Mitte des Films deutet sich ein Lächeln an, das jedoch sogleich wieder einem verstörten Gesichtsausdruck weicht. Nicht nur aufgrund der Emotionen, die über das Gesicht der Schauspielerin wandern, sondern auch aufgrund der Art der Requisiten und der Unsichtbarkeit der Akteurinnen und Akteure sowie der Passivität der Schauspielerin fehlt der Situation das Spielerische, das der Titel suggeriert. Die Handlungen in den folgenden Einstellungen sind vielmehr gewalttätig: Bei dem in Papier verpackten und mit einer Schnur verschnürten Kopf der Schauspielerin wird auf Augenhöhe ein Loch in das Papier geschnitten. Das Stück einer Glasscheibe steckt mit der vermutlich scharfen Kante zwischen ihren Lippen, darauf liegt eine Zigarettenkippe. Für einen kurzen Moment weht Zigarettenrauch an ihrem Gesicht vorbei. Zudem trägt die Hand einer der Täterinnen oder eines der Täter einen Handschuh, der Täterin oder Täter zusätzlich zur Unsichtbarkeit anonymisiert. Um den Prozess zu ergänzen oder zu beschleunigen, benutzt die Schauspielerin in drei Einstellungen ihre eigenen Hände: Zu Beginn der Sequenz nimmt sie ihre Ohrringe ab. Sie trinkt selbst aus der Flasche mit der roten Flüssigkeit und steckt sich anschließend die zwischen ihren Lippen zerberstenden und sich mit dem roten Saft vermischenden Reisnudeln in den Mund. In einer Einstellung wird sie aktiv, indem sie die bunten Krepppapierstreifen, die über ihren Kopf und über ihr Gesicht gelegt werden, isst – das heißt, ihre Lippen so bewegt, dass die Streifen Stück für Stück in ihren Mund hineingezogen werden. Diese Aktivitäten der Schauspielerin sind jedoch im Unterschied zu den Handlungen des Modells, das Natalia LL in ihrer Arbeit Konsum-Kunstverwendet 23, keine Selbstermächtigung (vgl. Abb. 27). Lemańska hat keine Handlungsmacht, sie reagiert lediglich auf die Impulse aus dem Off und agiert die Handlungen der unsichtbaren Akteurinnen und Akteure aus. Das Modell Natalia LL s spielt mit der Geste des Essens. Sie leckt an den Lebensmitteln und lässt den Pudding langsam zwischen ihren Lippen hervorquellen. Die Dinge erfahren durch diese Behandlung eine Zweckentfremdung und symbolische Aufladung. Die Performance wird zu einer sinnlichen Erfahrung, die sich auf die Betrachtenden überträgt. Bei Lemańska fehlt dieser Aspekt des Genießens. Auch wenn die kollektive Aktion mit „Spiel“ betitelt wird, so ist der Umgang des Modells mit den eingesetzten Gegenständen nicht spielerisch wie in der Arbeit Natalia LL s. Die Schauspielerin ist dem Geschehen ausgeliefert und die Tränen auf ihrem Gesicht sind weder Freudentränen noch Effekt einer Katharsis, sondern können als Zeichen der Trauer und des Schmerzes, hervorgerufen durch Gewalt und Unterdrückung, interpretiert werden. Das Gesicht der Schauspielerin kann in der Aktion als geschlossene Form angesehen werden, die durch die unterschiedlichen Gegenstände und Materialien manipuliert wird. 23 Vgl. Kapitel 3.

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Die spontanen Spielzüge wurden von den Teilnehmenden in gute und schlechte Spielzüge eingeteilt: Schlechte waren begrenzend und führten in eine Bewegungssackgasse, gute Spielzüge eröffneten neue Möglichkeiten.24 Nach und nach wurde der Effekt der Manipulationen auf dem Gesicht der Schauspielerin sichtbar und an einer Stelle fing sie an zu weinen.25 Die beschriebene kollektive Aktion, die in die Filmsequenz Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin mündete, war eine Zusammenarbeit von Film-, Skulptur- und Schauspielstudentinnen und -studenten. Verschiedene künstlerische Medien, mit denen diese sich während ihres Studiums beschäftigten, wurden in der Sequenz miteinander verwoben. Das Gesicht der Schauspielerin wurde als vermeintlich neutrale Fläche oder Leinwand genutzt, die bemalt, modelliert, ergänzt oder verdeckt wurde. An einer Stelle legte die Schauspielerin den Kopf nach hinten und der Bereich unterhalb ihres Kinns wurde zu einer weißen Fläche, die von den Akteurinnen und Akteuren mit Pinsel und flüssigem Ton bemalt wurde (Taf. 8c). Zuvor wurden auf ihrem in dieser Sequenz beinahe waagerecht liegenden Gesicht senkrecht kleine Säulen und Klumpen aus Ton platziert. Teile des Schauspielerkörpers wurden auf diese Weise als Material eingesetzt, um ein Gemälde oder eine lebende Skulptur zu schaffen. Gleichzeitig wurde der Körper der Schauspielerin mediatisiert, das heißt, er wurde selbst zum Medium, das die sich an ihm abspielenden Prozesse reflektierte und Emotionen ausdrückte. Ihr Körper wurde zum Medium der durch sie kollektiv agierenden und über ihren Körper miteinander kommunizierenden Gruppe. Zeitgleich wurde die kollektive Aktion auf 35mm-Filmmaterial aufgezeichnet und anschließend wurden 26 Einstellungen zu einem Film mit einer Gesamtdauer von 2:39 Min. zusammengeschnitten. Die (Mit-)Spielerinnen und -Spieler befinden sich außerhalb des Filmkaders. Ihre Aktivität wird nur durch den Prozess, der sich auf der Gesichtsfläche der Schauspielerin abspielt, und durch die in das Bild hineingreifenden Hände sichtbar. Die nonverbale Kommunikation, die ohne Worte auf Augenhöhe stattfindet, verweigert die Festlegung auf eine Autorschaft, die einer einzelnen Person zugeschrieben wird.26 Auf der einen Seite hängt dieser Verzicht auf Autorschaft mit dem neuen Verständnis der Künstlerin beziehungsweise des Künstlers zusammen, das die Rolle der einzelnen Teilnehmenden als Kollaborateurinnen und Kollaborateure im Schaffensprozess betont und sich von dem Glauben an ein geborenes Künstlergenie, wie er seit dem späten 18. Jahrhundert existiert, verabschiedet. Vor dem Hintergrund des künstlerischen Lebens und Arbeitens in einer Diktatur bringt der Verzicht auf Autorschaft jedoch auch noch eine zweite Lesart mit sich. Das auf den ersten Blick autorenlos wirkende Handeln in der Aktion hat 24 Zoller 2011, 176. Zoller bezieht sich hier auf Ronduda 2009/II, 180. 25 Zoller 2011, 176. 26 Vgl. Bryzgel 2014, 12.

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eindeutig gewalttätige Züge und greift unmittelbar in die Privatsphäre und den Körper einer zur Schau gestellten Person ein. Dabei handelt es sich um eine Ausübung von Gewalt ohne Akteurinnen und Akteure beziehungsweise durch viele Akteurinnen und Akteure, die in einer gesichtslosen Masse verschwinden. Die Kamera verbündet sich hier mit dem unsichtbaren Kollektiv und scheint die Kommunikation zu verweigern. Die für die Betrachtenden unsichtbaren Künstlerinnen und Künstler des Kollektivs agieren aus dem Off heraus – nur ihre Hände sind im Bild zu sehen. Aus den Aktivitäten, deren Impulse außerhalb des sichtbaren Bildfeldes liegen, entsteht das filmische Bild. Die statische Kamera und das Fehlen des Tons nähern das filmische Off hier einem fotografischen Off an. Der Filmtheoretiker und Semiotiker Christian Metz hat die Beziehung zwischen den Betrachtenden und dem fotografischen Off wie folgt beschrieben: Der Betrachter weiß nichts über das Off der Bilder (es sei denn, er wäre bei den Aufnahmen dabei gewesen), und dennoch kann er nicht verhindern, sich das Off vorzustellen, es zu halluzinieren und von der Form dieser Leere zu träumen […]. Das nicht dokumentierte, immaterielle und projizierte Off fasziniert um so mehr. Es ist subtil, aber es ist gelegentlich von großer Wirkung: Jeder hat beobachten können, daß in der Kunst der Fotografie, die kein Off kennt, die Wirkung des Off eine große Intensität besitzt: Das ausgeschlossene Off ist, in Dubois’ Definition für immer durch die Aufnahme, den Ausschnitt ausgeschlossen und dennoch gegenwärtig, nachgerade (hypnotisch) anziehend, es besteht als Ausgeschlossenes weiter durch die Kraft seiner Abwesenheit, die selbst innerhalb des Rahmens spürbar wird.27

Das Off kann somit als Motor des Bildes gesehen werden. Die Betrachtenden nehmen während der Rezeption nicht nur das filmische Bild wahr, sondern indirekt auch den im Bild nicht sichtbaren Raum um das Bild herum, in dem sich die übrigen Teilnehmenden befinden. Zum einen findet eine Interaktion zwischen dem Gesicht der Schauspielerin und den Betrachtenden statt, die durch den direkten Blick der Schauspielerin in die Kamera ermöglicht wird. Zum anderen findet eine Interaktion zwischen Betrachtenden und den Künstlerinnen und Künstlern im Off statt: Über das Gesicht der Schauspielerin kommunizieren die Akteurinnen und Akteure im Off mit der Kamera und somit mit den imaginierten Betrachtenden. Diese wiederum machen sich ein Bild jener, die im Off tätig sind, und stellen Vermutungen über sie an. Das Gesicht von Lemańska wird demnach nicht nur zu einer Fläche, die bearbeitet und bemalt, malträtiert oder penetriert wird, sondern auch zu einer Fläche, in der sich die Betrachtenden spiegeln können. Dieser Identifikationsprozess ähnelt demjenigen, der schon in Kapitel 3 diskutiert wurde. Die Betrachtenden sehen in das Gesicht der Schauspielerin. Sie schwanken dabei zwischen Identifikation mit dem Bild und Abgrenzung von demselben. Die 27 Metz 2003, 222 f. [Hervorh. im Orig.].

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Einwirkungen von Gewalt und die daraus resultierenden Emotionen, die sich auf dem Gesicht der Schauspielerin abspielen, lösen bei den Betrachtenden wechselnde Gefühle aus. Wenn sie sich mit der Schauspielerin identifizieren, können sie sich in ihre Gefühle hineinversetzen und Mitgefühl zeigen. Distanzieren sie sich von ihr, können sie sich mit den Akteurinnen und Akteuren außerhalb des Bildes identifizieren oder sich als Betrachtende mit ihnen verbünden. Ein solcher Pakt mit den Performenden im Off macht die Betrachtenden zu Mittäterinnen und Mittätern. Es kann passieren, dass das Mitgefühl mit der Schauspielerin nicht ihre einzige Reaktion auf das Geschehen ist, sondern dass sie ihr gegenüber eine aggressive Haltung einnehmen und somit etwas ausagieren, was den Tätigkeiten, die die Handelnden außerhalb des Bildrahmens vollziehen, zu entspringen scheint. Diese widerstreitenden Gefühle der Betrachtenden können einen inneren Konflikt in ihnen auslösen. Die Krise, in die sie hier geraten, ist vergleichbar mit der Krise der Zuschauenden in der Performance Lips of Thomas von Marina Abramović, aufgeführt am 24. Oktober 1975 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck, die Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen beschreibt.28 Ausgelöst werde die Krise dadurch, dass die Zuschauenden während der Performance in eine Situation „zwischen die Normen und Regeln von Kunst und Alltagsleben, zwischen ästhetische und ethische Postulate“ 29 versetzt werden, in der sie nicht auf allgemein anerkannte Verhaltensmuster zurückgreifen können, so Fischer-Lichte. Die Erfahrung dieser Krise bewirke, dass sich die Zuschauenden in Akteurinnen und Akteure verwandeln.30 Auch wenn Fischer-Lichte explizit eine Live-Situation beschreibt, können Teilaspekte ihrer Argumentation auf die hier vorliegende medialisierte Situation in der Performance übertragen werden. Die Tatsache, dass es sich bei Lemańska um eine damals dem TV -Publikum gut bekannte und äußerst beliebte Persönlichkeit handelt, macht aus dem Gesicht der Schauspielerin auch ein public face, das Gesicht einer Person des öffentlichen Lebens. Es ist ein Gesicht, das nicht mehr ausschließlich Lemańska gehört, sondern sich in dem Moment, in dem es zu Werbezwecken eingesetzt wird, in ein Produkt verwandelt, das vermarktet wird. Das Bild des Gesichts gehört nicht mehr zur privaten Sphäre, sondern ist Teil des öffentlichen Lebens, an dem jede oder jeder teilhaben und über das jede oder jeder bis zu einem gewissen Grad auch verfügen kann. Zu Beginn der 1970er Jahre ist das Gesicht von Lemańska vor allem das Gesicht der Rolle „Maryna“ in der TV-Serie Janosik.31 Auch wenn den Betrachtenden dieser Kontext heute nicht mehr geläufig ist, so wird diese Komponente in der Rezeption der 1970er Jahre eine entscheidende Rolle gespielt haben. 28 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 9 – 42. 29 Ebd., 11. 30 Vgl. hierzu ebd. 9 – 42, besonders 11 – 12. 31 Vgl. hierzu den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 54.

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Im KwieKulik-Archiv findet sich ein Cover der Zeitschrift Ekran (Leinwand; Bildschirm) mit dem Gesicht Lemańskas, das das Changieren des Gesichts zwischen scheinbar neutraler Fläche und aufgeladenem Fetisch verdeutlicht.32 Durch die Zusammenarbeit mit der damals populären Schauspielerin bezieht das Kollektiv also eine weitere Ebene des öffentlichen Lebens in seine Arbeit mit ein und fragt nach dem Umgang mit Bildern im öffentlichen wie im privaten Raum. Wie weit dürfen die Akteurinnen und Akteure im Off gehen? Gehört das Gesicht Lemańska, gehört es den Performenden außerhalb des Bildraums oder gehört es den Betrachtenden? Wer hat teil an der Produktion des Bildes und an seiner Ausbeutung? Entbindet die Unsichtbarkeit der Akteurinnen und Akteure im Off sie von ihrer Verantwortung? Und sind die Betrachtenden mitverantwortlich für das vor ihren Augen entstehende Szenario? Hier lässt sich noch einmal eine Verbindung zu Goffmans Begriffen der „Fassade“ und der „Darstellung“ sowie zu seinem Konzept der „Vorder- und Hinterbühne“ ziehen.33 Die „Fassade“ hat Lemańska für ihre „Darstellung“ in den öffentlichen Medien gewählt. Je mehr die Schauspielerin während der Performance aus der Fassung gebracht wird, desto weniger gelingt es ihr, ihre Darstellung und somit ihre Fassade zu kontrollieren. Sie ist in ihrer Rolle nicht mehr geschützt. Der Moment, in dem sie zu weinen beginnt, ist ein Moment, der normalerweise nur auf der Hinterbühne geschieht. Die Performenden im Off zwingen die Schauspielerin dazu, diesen privaten Bereich der Hinterbühne preiszugeben und sich den (möglichen) Verletzungen durch die Betrachtenden auszuliefern. Ob diese Mitgefühl zeigen oder sich mit den Performenden im Off verbünden, bleibt offen und liegt außerhalb der Kontrolle sowohl der Schauspielerin als auch der Akteurinnen und Akteure im Hintergrund. Nach Archey erzählt das RufAntwort-Modell der kollektiven Aktionen auch „von der Verantwortung der Menschen füreinander, aber auch der fehlenden Verantwortung des kommunistischen Polens für das Wohl seiner Bürger“ 34. Wie bereits in Kapitel 3 dargestellt wurde, charakterisierte Havel das posttotalitäre System 1978 als eines, das bereits eine gewisse Stabilität erlangt hatte und Teil der globalen Strukturen geworden war. Die Ideologie funktionierte nur noch als Alibi und wurde zum kommunikativen Ritual. Durch die Ritualisierung der Ideologie wurde der Pragmatismus der Macht verborgen. Die Gesellschaft verzichtete auf ihr Recht auf Demokratie und erhielt im Gegenzug ökonomische Sicherheit. Die neue Ordnung, die entstand, spiegelte die Werte der dem sogenannten Westen zugeordneten Konsumkultur, die jedoch maskiert wurden.35 Laut Havel handele es sich „de facto nur um eine andere Form 32 Vgl. hierzu den Eintrag ebd., 60. 33 Zur Definition der „Vorder- und Hinterbühne“ vgl. Kapitel 3.4.8. 34 Archey 2013, 74. 35 Vgl. Piotrowski 2009/III, 287.

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der Konsum- und Industriegesellschaft […], mit allen sozialen und geistigen Folgen“.36 Piotrowski vertritt in seiner Publikation In the Shadow of Yalta (2009) die These, dass das Konzept des posttotalitären Systems, wie Havel es charakterisiert hat, sich sehr gut auf die polnische Gesellschaft der 1970er Jahre übertragen lasse.37 Wie bereits dargestellt wurde, läutete die Regierungszeit Giereks Anfang der 1970er Jahre in der Volksrepublik Polen eine Art Tauwetter 38 ein. Die Gesellschaft freute sich über die aufkommende Konsumkultur, während die Regierung das System der Überwachung ritualisierte. Die Opposition wurde bis zu einem gewissen Grad toleriert, die Dissidentenzirkel vornehmlich infiltriert. Im Bereich der Kunst waren gewisse Experimente erlaubt, solange sie sich mit formalen Fragen beschäftigten und unpolitisch blieben. Um sich diese Freiheit zu erhalten, flüchteten sich viele Künstlerinnen und Künstler in eine neutrale Haltung und verzichteten auf Kritik. Solange das posttotalitäre System, das sowohl totalitär als auch konsumorientiert war, von den Kunstschaffenden anerkannt wurde und der Status Quo erhalten blieb, gab es keine Konflikte.39 Die Künstlerinnen und Künstler um das Künstlerduo KwieKulik formulierten ihre Kritik am System unter den Vorzeichen einer neuen künstlerischen Bewegung, die sie „Neue Rote Kunst“ nannten. Bevor jedoch etwas genauer auf deren Ziele und Ideale eingegangen wird, wird eine weitere kollektive Aktion vorgestellt. Die Experimente mit kollektiver Autorschaft, Prozessualität, Interaktion von Kamera, Performenden und Betrachtenden sowie Mediatisierung und Medialisierung, die in der Aktion Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin stattfanden, wurden etwas später in dem Spiel auf dem Morel-Hügel (1971) weiter fortgeführt und ausgeweitet, wie in der nun folgenden Beschreibung deutlich wird. 4.2.2 Spiel auf dem Morel-Hügel (Winter 1971) Am 12. Dezember 1971 ergab sich aus den Spotkania Młodego Warszatatu Twórczego (Treffen der Jungen Kreativen Werkstatt)40 in Elbląg heraus folgende Aktion mehrerer Studierender der PWSFTViT in Łódź und der ASP in Warschau (Fachbereich Skulptur), 36 Havel 1989 [1978], 13. 37 Vgl. Piotrowski 2009/III, 287. 38 Zu der Bezeichnung „Tauwetter“ vgl. Kapitel 3.5.5. 39 Vgl. Piotrowski 2009, 288 f. Vgl. hierzu Kapitel 3 in dieser Arbeit. 40 Organisiert vom Haus der Kultur und der Galerie EL in Elbląg. Vgl. Ronduda/Schöllhammer 2012/ II , 94. Zofia Kulik nennt im Interview mit Sitkowska folgende Organisatorinnen und Organisatoren: „[…] however, in the same year we paid the already mentioned visit to Elblag at the Meetings of the ‚Young Creative Workshop‘ (‚Spotkania Młodego Warszatatu Twórczego‘) organised by Anastazy and ourselves with Hansen, Kowalski, students, and the playing at the hill Wzgorze Morela.“ Siehe: Kulik/ Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995.

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ihrer Professoren und weiterer Beteiligter (Taf. 9a-c).41 Der Auslöser für die Aktion war eine Diskussion, die während des Treffens in Elbląg drohte, die Gruppe zu spalten. Przemysław Kwiek schlug vor, den Streit am folgenden Tag auf freiem Feld in Form einer visuellen Kommunikation und anstelle von Worten mit Hilfe einer visuellen Taktik zu performen. Die Aktion, die später Gra na Wzgórzu Morela (Spiel auf dem Morel-Hügel)42 genannt wurde, fand auf einem Hügel in der Nähe von Elbląg statt.43 Ein weißes Team aus sieben Personen und ein schwarzes Team aus fünf Personen wurden gebildet, später kam – von den Schwarzen und Weißen unerwartet – eine rote Gruppe von acht Personen hinzu: „The Reds was a group from The Workshop of Film Forms (Warsztat Formy Filmowej) with Anastazy and his red flags. They butted into the game entirely by chance.“ 44 Zudem gab es bei dieser Aktion zum ersten Mal eine zuvor bestimmte

41 Teilnehmende: 1. die Weißen: Oskar Hansen, Przemysław Kwiek, Zofia Kulik, Waldemar Dziekański, Jacek Byczewski, Czesław Tumielewicz, Jacek Niedbał; 2. die Schwarzen: Grzegorz Kowalski, Jan Stanisław Wojciechowski, Barbara Falender, Wiktor Gutt, Zbigniew Mrozek.; 3. die Roten: Józef Robakowski, Andrzej Różycki, Edward Wasilewski, Wacław Antczak, Wojciech Bruszewski, Anastazy B. Wiśniewski, W. Leszczyński, Roksana Sokołowska; 4. Dokumentaristen: Paweł Kwiek (Dias), Jacek Łomnicki (Schwarzweißfotografien), Marian Rumin (Text). Vgl. Ronduda/Schöllhammer 2012/ II, 94. Im Interview mit Sitkowska nennt Kulik bei der Aufzählung der Dokumentaristen zusätzlich noch Jacek Niedbał. Siehe: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 42 Das dokumentarische Material wurde 2006 im Rahmen der Ausstellung „1,2,3… Avant-Gardes. Film/Art between Experiment and Archive“ (Centrum Sztuki Współczesnej in Warschau/Künstlerhaus Stuttgart/ Sala Rekalde Bilbao) von KwieKulik zu einer Diashow montiert und kommentiert. Diese Diashow ist online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum. pl/en/filmoteka/praca/kwiekulik-gra-na-wzgorzu-morela-akcja-grupowa [Zugriff am 15. 5. 2020]. Zur Dokumentation der Ausstellung siehe: Ausst. Kat. Warszawa 2007. 43 Der Hügel ist nach dem polnischen Bildhauer Henryk Morel benannt, der 1967 im Rahmen der II. Biennale Form Przestrzennych (II. Biennale Räumlicher Formen) in Elbląg auf der Kuppe dieses Hügels eine monumentale, sieben Meter hohe Skulptur errichtete. 44 Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. Die Warsztat Formy Filmowy (Werkstatt für Filmform; Abk.: WFF) war ein Kollektiv aus Filmemacherinnen und Filmemachern in Łódź zwischen 1970 und 1977. Das Kollektiv wurde von Studierenden und Absolventinnen sowie Absolventen der Fakultät für Regie und Kinematografie der PWSFTV iT gegründet. Nach und nach traten auch Künstlerinnen und Künstler hinzu, die nicht aus dem Filmbereich stammten. Die WFF war „Central Europe’s largest collective devoted to experimental film, rejecting traditional filmic narrative on behalf of analysing and studying the audiovisual arts on the basis of recent trends in contemporary art. The WFF artists did away with cinematographic illusionism characteristic of feature films and, inspired by the avantgarde visual arts, alluded to Polish and Soviet constructivism of the first half of the 20th century […]. Another important influence was the structuralism and conceptualism of the 1960s and 1970s. The Workshop’s practice included films, TV broadcasts, audio shows, visual-art exhibitions and artistic interventions, as well as theoretical and critical work. KwieKulik were particularly closely associated with the Workshop through the person of Paweł Kwiek, with whom they did many projects together.“ Siehe den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 506. Vgl. hierzu auch Joseph-Hunter/Ronduda/Zippay 2004 und Kuc/O’Pray 2014.

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Dokumentationsgruppe von drei Personen, die das Geschehen fotografierte (Dias und Schwarzweißfotografien) und schriftlich dokumentierte. Als Requisiten dienten mehrere anderthalb Meter lange Holzstäbe, eine weiße, 12 Meter lange und einen Meter breite Tuchbahn sowie rote Stoffstücke in verschiedenen Größen. Während ein Team sich bewegte, sah die andere Gruppe zu und reagierte anschließend auf die Bewegung. Insgesamt wurden 14 Bewegungseinheiten innerhalb von drei Stunden durchgeführt. Die folgende Beschreibung stützt sich auf den während der Performance entstandenen Text des Kunsthistorikers Marian Rumin, der von Zofia Kulik überarbeitet und im ­KwieKulik-Werkverzeichnis publiziert wurde.45 Zunächst hämmerten die sogenannten Weißen einige lange Holzstäbe in die Erde, um den Charakter des Geländes zu markieren, was durch die sogenannten Schwarzen als eine Hervorhebung der Landschaft aufgefasst wurde.46 Sie fragten sich: Ist die Anzahl der Stäbe relevant? Als Reaktion darauf trieben sie ebenfalls einen Stab in die Erde und sagten zu sich: „Die ‚Weißen‘ werden das ebenfalls interpretieren.“ Anschließend näherten sie sich den Weißen, während sie zischartige Geräusche (sch… sch… sch…) machten. Eine Person löste sich von der Gruppe und bewegte sich, das Vaterunser rezitierend, in Richtung eines Kirchturms, der sich kaum sichtbar in der Ferne abzeichnete. Die vier übrigen Schwarzen fuhren fort sich zu verbeugen. Rezitation und Geräusche bildeten eine akustische Reaktion auf die visuelle Aktion. Zusammengenommen erzeugten Gesten und Äußerungen eine polemische Situation. Die Landschaft wurde betont und Bewegung und Ton hinzugefügt. Die Weißen interpretierten dies wie folgt: Die Kirche spielt – im Sinne einer altmodischen Tätigkeit – eine Rolle, während eine neue Gottheit das Vaterunser rezitiert. Sie sahen es als eine Einladung, sich physisch zu betätigen und begannen, Fetzen weißen Stoffs an den Stöcken zu befestigen. Auf diese Weise kamen sie auf ihre Eröffnungsbewegung zurück, die ihrer Meinung nach von den Schwarzen fehlinterpretiert wurde. Die Schwarzen lasen diese Aktion als einen Hinweis auf den Wind, während die Leere der Landschaft hervorgehoben wurde. Die Schwarzen entfernten fünf der Stäbe, die die Weißen in ihrem ersten Zug auf dem Hügel platziert hatten. Jede der fünf Personen trug einen der Stäbe, die Arme weit entlang des Stabes ausgebreitet, wodurch sie an eine Kreuzigungsfigur erinnerte (Taf. 9a). In dieser Haltung gingen die Schwarzen den Hügel hinab und verschwanden im Tal. Nach einer Weile kehrten sie aus unterschiedlichen Richtungen und mit Stücken von rotem Stoff zurück, wobei sie rote Flecken auf dem schneebedeckten Hügel und zwischen den übrigen Stäben hinterließen (Taf. 9b). Die Weißen interpretierten dies im Sinne einer mystischen Tradition und als 45 Vgl. Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 94 – 97. Zu Marian Rumin vgl. den Eintrag im KontextGlossar in: ebd., 500. 46 Im Folgenden werden die Bezeichnungen „die Weißen“ und „die Schwarzen“ analog zu der Beschreibung der Aktion durch KwieKulik verwendet. Vgl. ebd., 94 – 97.

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eine Art Wiederaufführung des Kreuzwegs. Das ausgeglichene Wechselspiel zwischen Schwarz und Weiß wurde durch den aggressiven Einsatz des roten Stoffes unterbrochen und verändert. Die Weißen schnitten und rissen den weißen Stoff in Quadrate, gingen den Hügel hinab und postierten sich in gleichmäßigen Abständen vor dem Hintergrund des Landschaftspanoramas. Auf ein Kommando holten sie die weißen Stoffstücke hervor und zeigten sie den Schwarzen. Rennend tauschten sie ihre Plätze und zeigten erneut ihre weißen Stoffstücke vor. Wie Tarnfarben fungierten die weißen Flächen über den dunklen Silhouetten vor der schneebedeckten Landschaft: Die Menschen verschmolzen mit dem Hintergrund. Die diskrete Verwendung der weißen Farbe wies kontrastierend auf die rote Ausschreitung der schwarzen Gruppe hin. Die Schwarzen beobachteten diese Thematisierung der Figur in der Landschaft und die Betonung des Gegensatzes zwischen mechanisch fabrizierten Stoffstücken und organischen Landschaftsformen. Auf Basis der gemeinsamen Aktion erschien ihnen die Performance der Weißen als ein spiritueller Ausgleich. Auf diese Aktion antwortend, gingen sie geschlossen den Hügel hinab und spannten, mit dem Wind kämpfend, eine lange weiße Stoffbahn zwischen sich auf. Die weiße Gruppe passierend legten sich die Schwarzen auf die Erde und bedeckten ihre Körper mit der weißen Stoffbahn, wobei die horizontale Welle im Tuch die Unebenheit des Geländes betonte. Die Weißen interpretierten dies als eine Darstellung der Landschaft durch Bewegung mit einem erneuten Hinweis auf den Wind. Indem sich die Schwarzen unter dem Tuch auf dem Boden verbargen, ergänzten sie die Aktion der weißen Gruppe, welche sich in den Büschen versteckten, wodurch ihre Gestalten ebenfalls mit dem Hintergrund verschwammen. Daraufhin wickelte sich die weiße Gruppe, eng beieinanderstehend, ganz in die lange weiße Stoffbahn ein, auf diese Weise eine Kugel formend (Taf. 9c). Die weiße Farbe der Kugel zeichnet sich dabei vor dem dunklen Hintergrund der Büsche ab. Diese Komposition vor dunklem Hintergrund interpretierten die Schwarzen als ein Zusammenkommen nach dem Auseinanderdriften. Nach Meinung der Schwarzen fand dadurch zum ersten Mal eine Integration der Menschen in den Ort statt, auch wenn ihnen die weiße Gruppe so kalt erschien wie der Rest der schneebedeckten Landschaft. Mit jeweils etwas Schnee in den Händen gingen die Schwarzen zu den Weißen hinüber. Sich an den Händen haltend umkreisten sie die Weißen. Diese Bewegung war eine Reaktion der Schwarzen auf die als kalt empfundene Kugelform der Weißen. Um sie zu wärmen, legten sie die Arme um die Weißen und zeigten ihnen den schmelzenden ‚Schnee‘. In ihrer Aktion schwang Bedauern darüber mit, dass die Weißen mehr mit der Landschaft als mit den Menschen (d. h. den Schwarzen) agiert hatten. Die Weißen fühlten sich missverstanden und sahen ihre Intentionen zerstört. Durch ihre Umarmung hatten die Schwarzen die Uniformität der weißen Kugel zerstört. Den schmelzenden Schnee imitierend und als symbolische Revanche schob sich die weiße Gruppe weiße Stofffetzen unter ihre Oberbekleidung. Einige Teilnehmende der schwarzen Gruppe

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waren besorgt wegen des ‚Schnees‘ unter den Hemden, deuteten die Aktion jedoch auch als Zeichen der Güte der Weißen. Ohne Vorbereitung und ohne Zögern begannen die Schwarzen Gesten durchzuführen, als ob sie Geige spielen würden. Die Weißen erlebten diese spontane Reaktion der Schwarzen als etwas Geplantes und nicht als unmittelbare Reaktion auf ihre Aktion. Sie missverstanden die Geste des Geigenspieles daher als Spott und verurteilten die in ihren Augen vorgespielte Emotionalität. Unter Abfeuern von Bolzengewehren und Schwenken roter Fahnen tauchte wie aus dem Nichts plötzlich eine rote Gruppe auf. Dies wurde von Weiß und Schwarz als brutaler Eintritt in das Gelände und in das schwarzweiße Feld erlebt. Eine feurige, von Patriotismus durchtränkte Rede des Teilnehmenden Wacław Antczak war die Hauptaktion der roten Gruppe. Die theatralische Aktivität ignorierte nach Meinung der Weißen und Schwarzen die Stimmung des Ortes, zerstörte die Idylle und brachte Realismus ins Spiel. Nach einer Weile entfernte sich die rote Gruppe wieder. Weiß und Schwarz wendeten sich wieder den mit weißen Stofffetzen versehenen Stäben zu. Die Weißen fügten rote Stofffetzen hinzu und versteckten sich erneut im Gebüsch. Der subtile Einsatz der Farbe Rot bildete hier einen Gegensatz zur brutalen Intervention der Roten. Als ein Versuch, die Schwarzen und ihre Wärme zu integrieren, nahmen die Weißen rote Handschuhe, die der schwarzen Gruppe gehörten, und stülpten sie über die Spitzen zweier Stäbe. Die Schwarzen waren negativ überrascht und sandten umgehend eine weibliche Person aus ihrer Gruppe, um die roten Handschuhe zurückzuholen. Die Abgesandte passierte jedoch die Stäbe, ohne sie zu beachten, kehrte zu ihrer Gruppe zurück und wurde erneut zu den Stäben zurückgeschickt. Die Aussendung einer Person überraschte die Weißen. Sie nahmen die orange, fast rote Jacke der Frau als brutale Intervention wahr. Zudem wurde die Ausrichtung auf die eigenen Handschuhe statt auf die Stäbe, als g­ emeinsames Objekt der Aktion, missbilligt. Dennoch schüttelten die Weißen anschließend den Schwarzen die Hände und versöhnten sich. Die Schwarzen akzeptierten die Geste und es fand ein allgemeiner Zusammenschluss statt. Das Ende der Aktion bildete die Rückkehr in die Stadt. In Kapitel 2 wurden die Aktionen und Interventionen im öffentlichen Raum der Künstler Tót und Kovanda mithilfe eines Modells aus vier ineinandergreifenden Ebenen analysiert. Auch für die Analyse der hier beschriebenen kollektiven Aktion um das Künstlerduo KwieKulik bietet sich das Modell an: a) (inter)agierende Körper b) der öffentliche/halböffentliche private Raum c) interagierende Kameras, Medien, Objekte d) historischer Kontext Zu den (inter)agierenden Körpern zählen sowohl jene der einzelnen Individuen als auch die der unterschiedlichen Gruppen, die aus mehreren Individuen bestehen. Innerhalb

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der Aktion treten eine sogenannte weiße, eine schwarze und eine rote Gruppe sowie die Aktion dokumentierende Personen (auch Dokumentationsgruppe genannt) auf. Die Körper der Teilnehmenden bewegen sich im Raum und äußern sich sowohl durch diese Bewegungen als auch durch bestimmte Gesten und ihre Stimme. Diese kommt zum Einsatz, um Laute hervorzubringen, Texte zu rezitieren und Reden vorzutragen. Die Aktion findet in einem Naturraum statt, der zeitweise von einem religiösen Raum sowie von einem imaginierten Klassenraum (der Künstlerklasse) durchdrungen oder überlagert wird. Der Raum, in dem die Körper sich bewegen, ist vornehmlich der Morel-Hügel, nach dem die Aktion benannt ist. An einigen Stellen ist er mit Büschen und kleineren Bäumen bewachsen. Da die Aktion im Winter stattfindet, tragen die Büsche und Bäume keine Blätter und es liegt Schnee auf dem Hügel, der von den Teilnehmenden als künstlerisches Material verwendet wird. Der Hügel wiederum ist nach dem polnischen Bildhauer Henryk Morel benannt, der 1967 im Rahmen der II. Biennale Form Przestrzennych (II. Biennale Räumlicher Formen) in Elbląg auf der Kuppe dieses Hügels eine monumentale, sieben Meter hohe Skulptur errichtete (Taf. 9a). Von dem Hügel aus ist in der Ferne ein Kirchturm zu sehen, der zum einen die Nähe anderer Menschen suggeriert und zum anderen von den Akteurinnen und Akteuren mit kultureller und religiöser Bedeutung aufgeladen wird und somit ein Gegenstück zum Naturraum bildet. Darüber hinaus kann der in die Natur verlegte Klassenraum (der Künstlerklasse) als weiterer Raum gelten, in dem die Beteiligten sich bewegen und den sie während ihrer Aktion virtuell aufrufen können. In der Aktion werden sowohl natürliche Objekte und Materialien, die sich auf dem Hügel befinden (wie zum Beispiel Büsche, Bäume und Schnee) als auch mitgebrachte Objekte (wie Stäbe, Stoffstücke, Fahnen und Kleidungsstücke) verwendet. Hinzu kommen neue und alte Aufzeichnungsmedien wie Foto-Kameras (Dias und Schwarzweißfotografien), Notizblock und Stift. Der gesellschaftliche Kontext, in dem die Aktion stattfindet, ist das posttotalitäre Polen der 1970er Jahre. Zu ihm gehören die Institutionen, an denen die an der Aktion Teilnehmenden lehren und lernen. Dies ist zum einen die Akademie der Schönen Künste in Warschau und zum anderen die Staatliche Film-, Fernseh- und Theaterhochschule Leon Schiller in Łódź. Wichtig ist hierbei das Konzept der „Offenen Form“ des Hochschullehrers Oskar Hansen, das die Lehre in seiner Klasse an der Kunstakademie Warschau maßgeblich prägt. Das Treffen in Elbląg ist ein Treffen der Jungen Kreativen Werkstatt, organisiert vom Haus der Kultur und der Galerie EL in Elbląg. Weitere Kontexte, die für die Bestimmung der künstlerischen Strategien KwieKuliks und ihres Umfelds eine Rolle spielen, sind modernistische Diskurse, Vorbilder der historischen Avantgarde sowie die Präsenz sozrealistischer Skulpturen im öffentlichen Raum. Um die Kommunikation innerhalb der Gruppe sowie die Reaktionen der Gruppen aufeinander genauer zu fassen, werde ich im Folgenden noch einmal Goffmans Begriff des „Ensembles“ aufgreifen. Wie bereits im Kapitel 3 erläutert wurde, versteht

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Goffman unter „Ensemble“ eine Gruppe von Individuen, die gemeinsam eine Rolle aufbauen.47 Goffman betont, dass nicht jede Gruppe ein Ensemble ist. Ihm zufolge gibt es viele Mittel, außer der dramaturgischen Kooperation […], durch die eine Handlungsgruppe ihre Ziele erreichen kann. Jede anderen Mittel, wie Gewaltanwendung oder Verhandlungsstärke, können durch gezielte Manipulation des Eindrucks verstärkt oder geschwächt werden, aber die Möglichkeit, gemeinsam Gewalt oder Verhandlungsstärke anzuwenden, ist für eine Anzahl an Personen der Anlaß, eine Gruppe zu bilden, was nichts damit zu tun hat, daß die so gebildete Gruppe gelegentlich im dramaturgischen Sinne als Ensemble behandelt wird.48

Um die Bestimmung einer gegebenen Situation aufrechtzuerhalten, müssen die Mitglieder eines Ensembles eng zusammenarbeiten. Dabei ist der Bezugsrahmen des Ensembles weniger eine soziale Struktur oder Organisation. Das Verständnis der Gruppe etabliert sich vielmehr in Bezug „auf eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen, in denen es um die relevante Definition der Situation geht“ 49. Wenn ein Austausch zwischen zwei Ensembles stattfindet, fungiert eine der beiden Gruppen meist als „Darsteller“, die andere als „Zuschauer“: Wenn wir Interaktion als einen Dialog zwischen zwei Ensembles behandeln, wird es in manchen Fällen geboten sein, ein Ensemble als „die Darsteller“ und das andere als „die Zuschauer“ oder „das Publikum“ zu bezeichnen und vorübergehend außer acht zu lassen, daß auch dies Publikum eine Ensembledarstellung bietet.50

Interessant an der Übertragung von Goffmans Begriffen auf die Performance um KwieKulik ist, dass bei näherer Betrachtung nicht nur die interagierenden Gruppen (weiß, schwarz und rot) in den kollektiven Aktionen Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin und Spiel auf dem Morel-Hügel jeweils Ensemble bilden, die sich in ihren Rollen als Darstellende und Zuschauende abwechseln, sondern dass auch die zukünftigen Betrachtenden, denen das während der Aktion entstandene Material zu einem späteren Zeitpunkt vorgeführt wird, als ein Ensemble angesehen werden können (Taf. 8a – c, 9a–c). Wie im Verlauf des Kapitels noch erläutert werden wird, bezogen KwieKulik dieses (zukünftige) Publikum immer in ihre Aktionen mit ein und somit hat das Publikum als interagierende Einheit am dynamischen Prozess der Situation teil. 47 48 49 50

Goffman 122013 [1956], 75. Ebd., 79 f. Ebd., 96. Ebd., 86.

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Wie Goffman hervorgehoben hat, spielen Blicke in der Kommunikation einer Gruppe eine besondere Rolle: „Sie stellen mit Hilfe eines Rituals die erklärte Bereitschaft für verbale Äußerungen her und erhöhen die Bereitschaft für Handlungen auf beiden Seiten.“ 51 Hat eine Reihe von Personen einander bekundet, dass sie sich wechselseitig zur Verfügung stehen, so herrscht eine gemeinsame Definition der Situation vor. Es entwickelt sich ein „‚Arbeitskonsensus‘, der ein gewisses Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme, Sympathie und ein Dämpfen von Meinungsverschiedenheit bedeutet“ 52 sowie „ein gesteigertes Gefühl von moralischer Verantwortung für die eigenen Handlungen“ 53, das in einem „Wir-Prinzip“ 54 gipfelt. In der Aktion Spiel auf dem Morel-Hügel geht es einerseits um das Auftreten und Wahrgenommen-Werden als Gruppe und andererseits um die Handlungsmacht als Gruppe. Zentral für das Selbstverständnis der Gruppe während der Performance ist die Interaktion zwischen Gruppe und Natur: Die Identifikation mit der Natur scheint durch das Verschmelzen mit ihr auch für die Gruppe konstitutiv zu sein. Das Zusammenspiel der einzelnen Einheiten verläuft jedoch keineswegs reibungslos, wie die Beschreibung Rumins verrät, in der nicht nur über die einzelnen Spielzüge, sondern auch über die Interpretation der jeweils anderen Gruppe berichtet wird. Obwohl die Roten, Weißen und Schwarzen die ganze Zeit miteinander kommunizieren, missverstehen sie sich permanent, wodurch die Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen den Teilnehmenden dargestellt wird. Am Ende der Aktion steht zwar ein Konsens (der Handschlag), aber kein Ergebnis – es geht vielmehr um den Prozess. Eine Betrachtung der Aktion in ihren spezifischen historischen Zusammenhängen führt zu einer mehrdeutigen Lesart der Szenerie. Die Interaktionen wirken nicht nur spielerisch, sondern auch wie ferngesteuert. Beim Blick auf die beiden Gruppen auf dem Hügel, die aufeinander reagieren, drängt sich die Vermutung auf, dass diese nicht eigenmächtig entscheiden, sondern von einer unsichtbaren Macht gelenkt werden. Hinter den Akteurinnen und Akteuren in der Performance könnten wiederum unsichtbare und unbekannte Drahtzieherinnen und Drahtzieher stehen, die die Entscheidungen treffen. Während der Performance wechselten sich Gesten aus dem Bereich der Politik (Fahnenschwingen, Agitation) und der Religion (Imitation eines Kruzifixes, Beten) mit pantomimischen und theatralischen Gesten (Geige spielen, Formation eines ‚Schneeballs‘; Taf. 9c) sowie alltäglichen Gesten (Verstecken, Verbeugen, Hände schütteln) ab. Die Bewegungen bauten aufeinander auf und setzten sich zu einer visuellen Sprache zusammen. Aus den Stäben und Tüchern entstanden kurzzeitige Installationen in der 51 Goffman 2009 [1963], 106. 52 Ebd., 109 f. 53 Ebd., 111. 54 Ebd.

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Landschaft. Jeder Schachzug, jede Äußerung beeinflusste die nächste und modifizierte so die Ursprungssituation. Die Regel war, aufeinander zu reagieren und auf diese Weise die Möglichkeiten der anderen zu erweitern oder einzuschränken.55 Spiel auf dem MorelHügel gehört zu den „visuellen Spielen“, die KwieKulik unter dem Begriff „Intuitive Interaktion“ wie folgt zusammenfassten: Like Visual Games Intuitive Interaction were a result of complex (non-verbal) communication acts performed by artists (or other persons) remaining in a mutual, synchronous interaction. Particular emphasis was put on Intuitive Interaction with the idea that the representatives of various artistic disciplines are learning to communicate with each other. The element of subjectivity that is, of artistic individualism, was played down. The artists wanted to objectivize their own actions during the interactions in order to better adapt them to the sphere of communication.56

Besonders deutlich wird hier die Ablehnung einer subjektiven Künstlerpersönlichkeit als Autorin oder Autor einer Performance oder Aktion sowie die Betonung der kollektiven Autorschaft. Zudem wird hier der Wunsch hervorgehoben, die einzelnen Aktionen während eines „visuellen Spiels“ zu objektivieren. Diese „Verwissenschaftlichung“ der künstlerischen Aktionen findet sich auch in den Aktivitäten mit Dobromierz, mit denen KwieKulik im Jahre 1972 begannen und die in Kapitel 4.4.1.3 beschrieben werden. Das Feld war von Schnee bedeckt, so dass sich die Bewegungen der Gruppen deutlich vom Hintergrund abhoben. Die Landschaft diente sowohl als Hintergrund als auch als Material und wurde in die Aktion miteinbezogen. Die Gruppen symbolisierten bestimmte Eigenschaften: Während die Teilnehmenden mit den Weißen Rationalismus, Präzision und Pragmatismus verbanden, ordneten sie den Schwarzen Impulsivität, Spiritualität und Verträumtheit zu. Die unerwartet mit roten Fahnen in das subtile Spiel mit den Formen hereinplatzenden Roten brachten laut Kulik „a certain dose of realism“ 57 in die Situation hinein. Vorher agierten die beiden Gruppen ihrer Meinung nach wie auf einer Bühne. 55 Vgl. die Beschreibung von Ronduda im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/pl/filmoteka/praca/kwiekulik-forma-otwarta-gra-na-twarzy-aktorki [Zugriff am 15. 5. 2020]. Vgl. auch die Beschreibung im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/I, 54. 56 Siehe den Eintrag „Intuitive Interaction“ im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/ II, 466 f. 57 Aussage von Kulik im Off-Kommentar der 2006 erstellten digitalisierten Diashow zu Spiel auf dem Morel-Hügel (1971). Die Diashow ist online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/kwiekulik-gra-na-wzgorzu-morela-akcja-grupowa [Zugriff am 15. 5. 2020].

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Die Aktion Spiel auf dem Morel-Hügel wurde von einer Dokumentationsgruppe aufgezeichnet. Es existieren Schwarzweißfotografien von Jacek Łomnicki und Farb-Dias von Paweł Kwiek sowie eine Beschreibung der Ereignisse in Textform von Marian Rumin. Die verschiedenen Gruppen interagierten nicht nur miteinander, sondern auch jeweils mit den beiden Kameras. Die Dokumentaristen sowie die Dokumentationsmittel und -medien wurden in die Aktion miteinbezogen und sind ein Teil von ihr. Aktion und Aufzeichnung fanden simultan statt. Das Dokumentationsmaterial ging in das Archiv KwieKuliks ein und wurde für die Präsentation in Ausstellungen sowie für unterbrochene Aufführungen weiterbearbeitet. Wie sich diese Aufführungen gestalteten, wird in Kapitel 4.4.2.2 ausführlich erläutert. Im Jahre 2006 stellen KwieKulik aus dem Dokumentationsmaterial der Aktion in Elbląg eine digitale Diashow zusammen, die aus dem Off von Kulik und Kwiek kommentiert wird. Sie blicken darin auf die Ereignisse zurück, erläutern den Ablauf und identifizieren die einzelnen Personen auf den Dias und Schwarzweißfotografien. Im Vorspann wird erwähnt, dass KwieKulik das Dokumentationsmaterial bereits in den 1970er und 1980er Jahren in Form von Diashows aufführten. Durch die erneute Aufbereitung des Materials 2006 entsteht eine neue Fassung des Werks, dessen Autorin und Autor Kulik und Kwiek sind. Im Falle dieser Aktion sind die Fotografen bekannt und werden im Vorspann genannt. Die Zusammenstellung und Interpretation des Materials geschieht jedoch im Nachhinein durch das Künstlerduo. 4.2.3 Forma otwarta: Das Spiel mit der „Offenen Form“ KwieKuliks Aktionen wurden durch den Hochschullehrer Oskar Hansen an der Akademie der Schönen Künste in Warschau inspiriert.58 Im Umfeld seiner Werkstatt entwickelte sich eine regelrechte Schule, die später durch den Hansen-Schüler Grzegorz Kowalski fortgesetzt und weiterentwickelt werden sollte. Den Grundgedanken der Lehr- und Arbeitsweise Hansens bildete das Konzept der „Offenen Form“. Der Kunsthistoriker Marcin Lachowski beschreibt die Werkstatt Hansens im Fachbereich Skulptur (Atelier für die Komposition von Körpern und Ebenen) als eine, die zwar auf dem traditionellen Modell künstlerischer Didaktik 59 basierte und sich mit räumlichen Verhältnissen und visuellen Strukturen befasste, innerhalb dieser Tradition jedoch neue Herangehensweisen entwickelte.60 Als Grundzüge „traditioneller Modelle künstlerischer Didaktik“ nennt Lachowski das Festhalten an alten Konventionen sowie die Auffassung, dass Talent und 58 Dort lehrte Hansen von 1950 bis 1983 als Professor in verschiedenen Fachbereichen. Vgl. Bryzgel 2014, 10. 59 Vgl. Lachowski 2009, 217. 60 Vgl. ebd.

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Virtuosität angeboren seien. Durch den Rückgriff auf avantgardistische Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, wie zum Beispiel die konstruktivistische Wchutemas 61 oder das Weimarer Bauhaus, wurden traditionelle Begriffe aus dem Bereich der akademischen Didaktik in Frage gestellt und durch demokratischere Ausbildungsmodelle ersetzt.62 Die Beschäftigung mit überzeitlichen künstlerischen Problemen wurde durch eine Fokussierung der künstlerischen Tätigkeit auf den sozialen Kontext abgelöst. Die Ausbildung sollte die Künstlerinnen und Künstler auf die Berufsrealität und auf ihre Tätigkeit in den visuellen beziehungsweise medialen Sphären des gesellschaftlichen Lebens vorbereiten. Der universelle Charakter der Theorie der „Offenen Form“ erlaubte es, sie nicht nur auf architektonisch-urbane Probleme, sondern auch auf solche der Skulptur anzuwenden.63 Hansen ging von einer grundsätzlichen Skalierbarkeit aus, die auf der Idee basiert, dass dieselbe Technik auf verschiedene Objekte und Situationen, vom öffentlichen Raum auf die Skulptur und auf menschliche Wesen übertragen werden kann.64 Bryzgel nennt zwei essentielle Prinzipien der Lehrtätigkeit Hansens: Erstens fokussierte sie den Schaffensprozess und wendete sich vom fertigen Produkt dieses Schaffensprozesses ab. Zweitens führte Hansen seine Werkstatt in einer nicht-hierarchischen Art und Weise, was sehr ungewöhnlich für die damalige akademische Lehre war, da sich Lehrende und Lernende im Lernprozess gewöhnlich nicht auf Augenhöhe begegneten.65 Hansen bevorzugte die offene Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden und betonte in einem Interview seine Ablehnung der traditionellen Lehre, wie sie damals an der Kunstakademie praktiziert wurde: [I] was strongly opposed to the „chapel“ model in which a professor „preached“ to the students. This is a materialistic burden – Closed Form. Such a model is harmful above all for the students, because the professors should be a servicing zone for them, not a serviced one.66

Eine weitere Methode, die von Hansen gelehrt wurde, war die der Provokation. Eine gegebene Situation wurde unterbrochen, um sie zu analysieren und dann ihre Bedeutung

61 Wchutemas (Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten; russ.: Вхутемас, Abk. von Высшие художественно-технические мастерские) war eine von 1920 bis 1927 bestehende staatliche Kunsthochschule in Moskau. Sie hatte sich den Ideen der russischen Avantgarde verschrieben. Im Zuge der Zurückdrängung der Avantgarde durch den sozialistischen Realismus wurde sie 1930 aufgelöst. Alexander W. Stepanow vergleicht die Lehrmethoden der Wchutemas mit denjenigen des Bauhauses: Stepanow 1983. 62 Marcin Lachowski verweist hier auf Duve 2005. Vgl. Lachowski 2009, 217. 63 Vgl. ebd., 217 f. 64 Zoller 2011, 176. Zoller bezieht sich hier auf Ronduda 2009/II, 180. 65 Bryzgel 2014, 10. 66 Hansen im Interview mit Maryla Sitkowska. Siehe Sitkowska 2005, 158.

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eventuell zu ändern 67: „The technique of camera provocation consisted of the following steps: observation of existing situation – provocation – observation of the provocation and analysis of its effects – new situation.“ 68 Wie Hansen praktizierte auch Jerzy Jarnuszkiewicz, Bildhauer und Professor an der Akademie der Schönen Künste, den nicht-hierarchischen Ansatz in seiner Lehre. Er legte die Betonung auf Prozess und Aktivität und entfernte sich auf diese Weise von der Fokussierung auf ein fertiges Endprodukt. Sein Interesse am Prozess drückte sich auch in einem zusätzlichen Element seines Lehrangebots aus: der Fotodokumentation. 69 Ronduda beschreibt die Funktion der Kamera in diesem Zusammenhang: [The camera] was initially used as an auxiliary tool, for documenting the effects of formal exercises. Gradually it began to be used to document the successive stages of material transformations and to record ever more complex processual practices based on activities and interactions. Those practices culminated in activities performed specifically for the photo or movie camera and in multimedia installations.70

Nachdem KwieKulik bei Jarnuszkiewicz studiert hatten, setzten sie die Kamera bewusst als feste Komponente in ihren Performances und Aktionen ein. Kulik berichtet, dass Jarnuszkiewicz gezielt Übungen und Aufgaben stellte, die die Studierenden sofort und mit den in diesem Moment verfügbaren Materialien lösen sollten, wodurch der Lehrer Spontaneität und instinktive Reaktionen hervorzurufen trachtete. Hansen hingegen gab seinen Studierenden eine Sprache, um zum einen über die Aktivitäten und ihre Arbeit zu sprechen und zum anderen, um zusammenzuarbeiten und als Künstlerinnen und Künstler miteinander zu kommunizieren.71 Die Kunsthistorikerin Maryla S­ itkowska nennt als ein Hauptmerkmal der Weiterentwicklung und Umsetzung der Theorie Hansens im Umfeld der Galerie Repassage 72 die Behandlung der Prozesse des Lebens als ­Werkstoff. Die 67 Zoller 2011, 176. Zoller bezieht sich hier auf Ronduda 2009/II, 180. 68 Ronduda 2009/II, 180. Zofia Kulik betont, dass Hansen mit den Filmexperimenten nicht direkt zu tun hatte, dass seine Schüler jedoch seine Ideen in das Medium einbrachten. Vgl. die Email-Korrespondenz der Autorin mit Wiktoria Szczupacka, Mitarbeiterin der Kulik-KwieKulik Foundation, vom 3. 6. 2020. 69 Bryzgel 2014, 11. 70 Ronduda zit. nach: Bryzgel 2014, 11. 71 Vgl. Bryzgel 2014, 11. 72 Die Galerie Repassage wird beschrieben als „[a] gallery on the Warsaw University campus, administered by the Socialist Union of Polish Students (SZSP) and active 1973 – 81. It replaced ‚Galeria‘ (a. k. a. Muzeum Zero), run by Paweł Freisler. Following elections for new management, won by the Elżbieta and Emil Cieślar, the gallery changed its name to Repassage. […] Repassage was managed by the Cieślars as well as, initially, Włodzimierz Borowski (1973 – 77), Krzysztof Jung and Grażyna Schmidt (1978 – 79, as Repassage 2), Roman Woźniak (1980 – 81, as ReRepassage), and Jerzy ‚Słoma‘ Słomiński (in autumn 1981). The gallery, particularly active during the student strike in the autumn of 1981,

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­ ünstlerinnen und Künstler verstanden sich als Initiatoren und Regulatoren dieser K Abläufe. Viele von ihnen lehnten eine künstlerische Materialisierung in Form eines Objekts ab. Die Theorie der „Offenen Form“ war der Hintergrund, vor dem die Schüler Hansens agierten, das Skelett, das sie mit eigenen Inhalten füllten.73 Sie war von Anfang an als gesellschaftliches Programm formuliert.74 In einem kurzen Text mit dem Titel Forma Otwarta 75 von 1959 beschreibt Hansen seine Vision: Sie [die „Offene Form“] wird ein Gefühl der Notwendigkeit eines jeden von uns schaffen, sie wird uns helfen, uns zu bestimmen und uns in der Zeit und dem Raum, in denen wir leben, wiederzufinden. Sie wird ein Raum sein, der unserer komplizierten und noch unbekannten Psyche entspricht. Dies wird geschehen, weil wir als organische Elemente dieser Kunst in Erscheinung treten. Wir werden in sie eintauchen und ihr nicht ausweichen.76

Diese „Offene Form“, als deren Hauptzüge er in seinem Text Prozesshaftigkeit, Ereignishaftigkeit und fortwährende Lebendigkeit herausarbeitet, stellt er der „Geschlossenen Form“ gegenüber, die er als steif, lebensfremd, passiv und unkommunikativ charakterisiert.77 Er schreibt: „Die geschlossene Form […] steht neben der Aktion.“ 78 Marcin Lachowski fasst zusammen: Die „Geschlossene Form“ assoziierte Hansen mit Dominanz, Hierarchie, Apodiktik, einer unkontrollierbaren Umwandlung der Natur und dem Patriarchat. Die „Offene Form“ verband er mit Egalitarismus, Ökologie, Partnerschaft und Matriarchat.79 Kulik und Kwiek entwickelten die Gedanken Hansens in ihrer künstlerischen Praxis weiter. Ihre Aktivitäten, Interaktionen und visuellen Spiele beschäftigten sich mit nonverbaler Kommunikation, integrierten Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Disziplinen und involvierten die Betrachtenden, indem sie ihnen die Möglichkeit boten, aktiv zur Erzeugung von Feedback in der Kommunikation beizutragen.80 Die Öffnung der polnischen Neoavantgarde hin zur Realität, zur Gesellschaft und zum täglichen Leben zeichnete sich durch partizipative, kommunale und politische Aktionen aus. Diese Tendenzen, die sich auf die „Offene Form“ Hansens bezogen, strebten danach, was closed down under martial law. The Repassage program encompassed non-traditional media and practices, such as actions, interventions, and performance art; and, in the final period, reggae music concerts accompanied by body painting sessions and performances.“ Siehe den Eintrag im KontextGlossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 481. 73 Sitkowska 1993, 11. 74 Vgl. Lachowski 2009, 218. 75 Hansen 1959. Wiederabdruck in: Lachowski/Linkowska/Sobczuk 2009. 76 Hansen 1959, 5. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Lachowski 2009, 218 f. 80 Vgl. Załuski 2012, 532.

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das exklusive Feld der Kunst in ein Feld der sozialen Kommunikation zu verwandeln, indem sie die bisher lediglich Zuschauenden mobilisierten und die Unterscheidung zwischen vermeintlichen Expertinnen oder Experten und Amateurinnen oder Amateuren verschwimmen ließen.81 Kulik hebt in einem Interview, das Sitkowska von 1986 bis 1995 in Warschau mit KwieKulik führte, die politische Aussagekraft der „Offenen“ beziehungsweise „Geschlossenen Form“ hervor: „The form can function politically, despite everything. It can simply be a tool of power, e. g. a typical closed form: The Palace of Culture.“ 82 Anschließend zitiert sie ihre Notizen aus dem April des Jahres 1970: 1) A totalitarian Open Form is impossible. 2) Open Form abolishes a frontal, one-directional approach to any magnitude (work of art, deity), 3) Open Form is fulfilled in the conditions where a man and the other side mutually influence each other, are in a movement, and yield place in favour of the other side.83

So wie die „Geschlossene Form“ ein politisches Statement darstellen kann – als Beispiel nennt Zofia Kulik den Pałac Kułtury i Nauki (Kultur- und Wissenschaftspalast; Abk.: PKiN)84, einen monumentalen Bau im Stil des Sozialistischen Klassizismus im Zentrum von Warschau 85 – so untergräbt die „Offene Form“ die Doktrin dieser „Geschlossenen Form“ durch ihre spezifischen Eigenschaften, weicht sie auf und stellt ihr etwas Neues gegenüber, das deren Gültigkeit in Frage stellt. Die apodiktische, aus ihrer Umgebung herausgelöste und hermetisch komponierte „Geschlossene Form“ wird mit einer in ständiger Bewegung befindlichen, mit dem Leben in Kontakt stehenden und mit ihrer Umwelt kommunizierenden „Offenen Form“ konfrontiert.86 81 Vgl. Ronduda 2012/II, 528. 82 Vgl. die Aussage von Kulik im Sitkowska-Interview in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 83 Vgl. ebd. 84 Vgl. ebd. 85 Der Kultur- und Wissenschaftspalast wurde als ein sogenanntes Geschenk der damaligen Sowjetunion an das polnische Volk in der Warschauer Innenstadt errichtet und daher gemeinhin mit der Person Joseph Stalins assoziiert. Das Gebäude wurde 1952 bis 1955 gebaut und folglich erst nach dessen Tod fertiggestellt. Die architektonische Gestaltung des sowjetischen Architekten Lev Rudnev war inspiriert von ähnlichen Gebäuden in Moskau und stellt eine Mischung aus Sozialistischem Realismus und polnischem Historizismus dar. Der Palast hat 42 Stockwerke und ist – ohne die Spitze – 160 m hoch. Das kontroverse Gebäude wurde als Symbol der Unterdrückung und des kommunistischen Regimes wahrgenommen und war vom Abriss bedroht, bis es 2007 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 497. 86 Vgl. Hansen 1959, 5. In dem Ausstellungskatalog Zobaczyć Świat (Die Welt sehen) von 2005 nennt ­Hansen als Beispiele für die geschlossene Form das Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa (MarszałkowskaWohnviertel; Abk.: MDM) in Warschau, die Osiedle Nowotki im Stadtteil Muranów in Warschau (beides Sozrealistische Architektur) und das Pomnik Bohaterów Getta (Denkmal der Helden des Ghettos) in Warschau. Er beschreibt diese Manifestationen als monumental. Vgl. Ausst. Kat. Warszawa 2005/II, 44.

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Auch der Philosoph Paweł Mościcki sieht in den frühen Aktivitäten des Künstlerduos KwieKulik einen Versuch, kommunistische Ideale mit Hilfe von Methoden zu materialisieren, die das Duo in der Auseinandersetzung mit Hansens „Offener Form“ entwickelte.87 Kollektive Aktionen wie Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin und Spiel auf dem Morel-Hügel basierten auf Hansens Gedanken zur „Offenen Form“ (Taf. 8a–c, 9a–c). Sie transformierten sie jedoch und entwickelten sie weiter, indem sie die Theorie in der Praxis anwandten und aus dem Bereich der Architektur und des Designs in den Bereich der Aktionskunst überführten. 4.2.4 Die subversive Affirmation des Kollektivkörpers, die Farbe Rot und eine neue Kunst für eine neue Gesellschaft Die Künstlerinnen und Künstler greifen in der Aktion Spiel auf dem Morel-Hügel auf die spezifische Formensprache, die Praxis der Dynamisierung geometrischer Formen sowie auf die Farbpalette der osteuropäischen Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts zurück. Durch den Einsatz roter und weißer Tücher sowie der Gruppierung der Akteurinnen und Akteure auf dieser Fläche wird die schneebedeckte Landschaft zur Leinwand, auf der sich geometrische Figuren formieren, auflösen und wieder neu zueinander in Beziehung setzen. Der Morel-Hügel steht für das Feld der Kunst, auf dem Konflikte ausgetragen werden können. Andererseits verweisen die roten Fahnen der roten Gruppe und die mit patriotischer Rhetorik aufgeladene Rede Antczaks auf den Sozialistischen Realismus, in dessen Bildprogramm „die rote Fahne als übergreifendes Symbol für den Kampf der Arbeiterklasse und den Sieg des Sozialismus […] einen zentralen Platz ein[nimmt]“ 88. Wie von Ronduda im Zusammenhang mit weiteren Aktivitäten KwieKuliks festgestellt wurde, lässt die rote Farbe „ein Gefühl der Allgegenwärtigkeit von Ideologie aufkeimen“ 89. Formalismus und Realismus werden im Verlauf des Spiels von den interagierenden Gruppen hinterfragt und aufgebrochen. Das Zwischenspiel der roten Fahnen bleibt ergebnislos, die roten Tücher tauchen im Laufe des Spiels in Form von schmalen roten Stofffetzen als zerstückelte Fahne wieder auf. Die Agitation wird durch das Frage-und-Antwort-Spiel und die daraus entstehende Kommunikation untergraben. Die geometrischen Elemente wiederum sind Teil des Spiels, in dem sie als entleerte Zeichen zu reinen Auslösern der Performanz werden.

87 Mościcki 2012, 520. 88 Steinkamp 2011, 371. 89 Ronduda 2007, 191. Die rote Farbe taucht 1971 auch in den Arbeiten Odmiany czerwieni“ ­(Varianten von Rot) und Droga Edwarda Gierka (Der Weg des Edward Gierek) sowie in den Aktivitäten mit Dobromierz (1972 – 1974) des Künstlerduos auf. Für die beiden ersten Arbeiten vgl. den Eintrag im KwieKulikWerkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 100.

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Neben dem ambivalenten Einsatz roter Fahnen und agitatorischer Gesten wird eine weitere sozrealistische Praktik, die Bildung eines Kollektivkörpers, übernommen und im Sinne von Inke Arns und Sylvia Sasse subversiv affirmiert.90 Wie bereits in Kapitel 2 dargestellt wurde, verstehen die Autorinnen unter „subversiver Affirmation“ eine künstlerische beziehungsweise politische Taktik, die den Künstlerinnen und Künstlern oder den Aktivistinnen und Aktivisten erlaube, an bestimmten sozialen, politischen oder ökonomischen Diskursen teilzunehmen und sie sich anzueignen oder sie zu konsumieren, während sie sie gleichzeitig unterminieren. Simultan dazu finde eine Distanzierung statt, eine Enthüllung dessen, was affirmiert werde. Bei der subversiven Affirmation gebe es immer einen Überschuss, der die Affirmation destabilisiere und in ihr Gegenteil verkehre.91 Die miteinander agierenden Körper der drei Gruppen in der Aktion um KwieKulik bilden strukturell jeweils einen Kollektivkörper. Die Aufführung dieses Kollektivkörpers ermöglicht den Teilnehmenden die körperliche Erfahrung kollektiven Agierens. Wie Arns und Sasse zeigen, entlarvt diese Taktik der „estranging participation“ oder „involving alienation“ 92 die Funktionsweise des jeweiligen Diskurses – in diesem Fall des Kollektivismus-Diskurses.93 Die Gesten der Kollektivkörper treten sowohl miteinander als auch mit den geometrischen Flächen und Formen sowie mit der Landschaft in einen Dialog. Es eröffnet sich ein Kommunikationsraum. Die interagierenden Gruppen sind nicht statisch und sie sind nicht hierarchisch organisiert. Die Bewegungen sind ungeplant und spontan. Alle Teilnehmenden sind gleichberechtigt, das Individuum verschwindet nicht in der Masse. Die künstlerische Arbeit der Kollektive ist nicht auf Produktion ausgerichtet, das heißt es soll kein Werk im Sinne eines materiellen Endprodukts entstehen. Vielmehr sollen Prozesse dargestellt und aufgezeichnet werden. Das Spiel ist Selbstzweck. Die Aktion entsteht zwar aus einer Dissonanz heraus und soll anfangs deren Auflösung dienen, im Laufe der Aktion tritt jedoch die visuell-performative Kommunikation in den Vordergrund, ohne dass ein Konsens angestrebt wird. Der sich im Wirkungsbereich von Hansens „Offener Form“ manifestierende erweiterte Kunstbegriff stellte die Universalität des traditionellen Kunstbegriffs sowie die Autonomie der Kunst in Frage. Soziale Aspekte der Kunst traten in den Vordergrund. Ziel der Künstlerinnen und Künstler war eine Durchdringung von Kunst und Leben und eine darauffolgende Transformation der Gesellschaft. Sie sahen ihre Rolle dabei jedoch nicht als Manipulatorinnen oder Manipulatoren der Gesellschaft und auch nicht

90 Vgl. Arns/Sasse 2006, 447. 91 Arns/Sasse 2006, 445. Der Begriff der „subversiven Affirmation“ wurde in Kapitel 2 dieser Arbeit ausführlich diskutiert. 92 Arns/Sasse 2006, 446. 93 Der Kollektivismus lässt den Einzelmenschen nur als Teil des gesellschaftlichen Kollektivs gelten und spricht ihm seine unverfügbare Eigenständigkeit ab. Vgl. Spieker 1987, 570.

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als Ingenieurinnen oder Ingenieure eines Neuen Menschen 94, sondern wollten als in dieser Gesellschaft lebende und an ihr teilhabende Kunstschaffende ihre Entstehung und Entwicklung mitgestalten und -prägen. Ronduda beschreibt diese neue Kunstauffassung folgendermaßen: Ihr Ziel war eine neue avantgardistische Kunst, die sich unmittelbar für gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und politische Belange einsetzte. […] Grundlage der avantgardistisch-politischen Kunst sollte die Verbindung „neuer künstlerischer Ausdrucksformen“, etwa Prozessualität, Minimalismus, Happening, Konzeptualismus, Interaktivität, Partizipation, Kollektivität, strukturales Kino […], mit der Politik sein.95

Ronduda teilte die polnische Kunst der 1970er Jahre in seiner Publikation Polish Art of the 70s 96 in drei Kategorien ein. Als erste identifizierte er „abstrakte ‚postessentialistische‘ Kunst“, die sich ausschließlich mit der Form beschäftige und daher vom Leben isoliert bleibe. Nach Ronduda war die Warschauer PSP -Galerie Foksal 97, die in der Kunstgeschichte als Geburtsort der polnischen Konzeptkunst galt, in Wirklichkeit ein goldener Käfig, indem sie einen rein formalen, neutralen und sicheren Diskurs förderte. Die zweite Gruppe der „postessentialistischen“ Künstlerinnen und Künstler (wie zum Beispiel Ewa und Andrzej Partum, Natalia LL und Krzysztof Zarębski) kritisierte die Intellektualisierung und Institutionalisierung der Kunst durch die Galerie Foksal. Obwohl ihre Kunst abstrakt und autonom war, wurde sie von dem Wunsch angetrieben, eine direkte Verbindung zwischen Kunst und Leben herzustellen und die Kunst mit Poesie, Sinnlichkeit und einem geheimen Sinn zu durchziehen. Als dritte Kategorie identifiziert Ronduda „pragmatische Kunst“. Er schrieb: The artists I refer to as pragmatists focused on the detail, a specific fragment of reality, the here and now; on studying, exposing and deconstructing the limits of their own perception, imagination and consciousness; and on analyzing the structures and relationships governing reality. […] Unlike the post-essentialists, the pragmatists tried to intensify the processes of the world’s „disenchantment“, to infiltrate reality in order to modernize it, albeit in a fashion that was different from the officially promoted model of modernization. […] The former wanted to free themselves of materiality, to isolate themselves from physical reality; the latter, conversely, wanted to infiltrate, penetrate, cocreate, and change it.98 94 95 96 97

Vgl. hierzu beispielhaft Haring 2016. Ronduda 2007, 187. Ronduda 2009/II. PSP ist die Abkürzung für die staatlichen Pracownia Sztuk Plastycznych (Werkstatt Bildender Künste) in Warschau, vgl. hierzu Kapitel 4.3.1. 98 Ronduda 2009/II, 12. Zit. nach: Zoller 2011, 172.

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Polnische avantgardistische Kunst um 1970 wurde entweder durch die Partei finanziert, um das Land als modernen progressiven Staat zu fördern, oder sie besetzte eine pragmatische Position, die die Kluft zwischen staatlicher Ideologie und künstlerischer Autonomie zu überbrücken versuchte. Das Erbe des Wissenschaftler-Künstlers wurde unter einem sogenannten liberalen Kommunismus weiter tradiert, den der erste Partei­sekretär Gierek initiiert hatte, was in neuen Kunstbewegungen mit Namen wie „Neuer Sozialistischer Realismus“ (Zygmunt Piotrowski), „Soz-Art“ oder „Neue Rote Kunst“ (KwieKulik) resultierte.99 Diese neue künstlerisch-politische Arbeit wurde von KwieKulik unter den Begriffen „Neue Rote Kunst“ zusammengefasst und „mit einer für sie attraktiven Utopie der maximalen Annäherung der Kunst an die gesellschaftlich-politische Praxis“ assoziiert.100 Unter den Begriff subsummierte eine Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern ihr Engagement und ihre Bereitschaft, die Wirklichkeit der 1970er Jahre in der Volkrepublik Polen zu reformieren. Ihr Ziel war es, eine neue Avantgarde zu schaffen, die direkt in die soziale, ökonomische, kulturelle und politische Realität eingebunden sein sollte. Ihr Markenzeichen war der innovative Einsatz der Farbe Rot, übernommen und angeeignet aus offiziellen, vom Staat beanspruchten Zusammenhängen, der diese Farbe in der Tradition eines politischen und historischen Symbolismus für sich beanspruchte.101 KwieKulik stellten sich in der sozialen Hierarchie auf die gleiche Ebene mit den Arbeiterinnen und Arbeitern im sozialistischen Staat und publizierten deshalb mit der Galerie EL in Elbląg das Notatnik Robotnika Sztuki (Notizbuch eines Arbeiters der Kunst; 1972 – 73).102 Auf der Grundlage einer neuen Sprache der Neoavantgarde strebte die Bewegung „Neue Rote Kunst“ eine zeitgenössische Form politischer Kunst an, die sowohl den damals immer noch gegenwärtigen als auch den historischen Sozialistischen Realismus miteinbezog. Auf der einen Seite waren die Künstlerinnen und Künstler sich der Verfehlungen des Sozialistischen Realismus, der zu einem Synonym für Kitsch und Opportunismus verkommen war, bewusst; auf der anderen Seite verbanden sie die Ideen dieser Kunstrichtung mit der utopischen Vision einer engen Verbindung von Kunst und soziopolitischer Praxis, die ihnen äußerst attraktiv erschien.103 Der Morel-Hügel in Elbląg steht somit nicht nur für das Feld der Kunst, sondern auch für die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit. Die Aktion entwirft ein Modell für eine neue Gesellschaftsform und befragt die Rolle von Künstlerinnen und Künstlern innerhalb dieser Gesellschaft. Im kollektiven Agieren versichern sich die Teilnehmenden gegenseitig ihrer Solidarität und zeigen ihre 99 Zoller 2011, 172. 100 Ronduda 2007, 198 f. Ronduda bezeichnet KwieKulik auch als „Utopisten und Idealisten, die an eine mögliche Reform des sozialistischen Systems […] glaubten.“ Siehe ebd., 193. 101 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 467. 102 Rottenberg 1999, 212. 103 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 467.

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Zugehörigkeit zu einer neuen Denk- und Lebensweise. Insofern hat die Aktion auch eine identitätsstiftende Funktion. Was das Regime vor allem fürchtete, war direkte politische Kritik, wie sie die Bewegung „Neue Rote Kunst“ anstrebte. Deren Vertreterinnen und Vertreter fanden sich in einer Situation doppelter Exklusion: Auf der einen Seite schloss das Regime sie von der linksorientierten, politisch engagierten Kunst aus. Auf der anderen Seite wiesen sie die zeitgenössischen Kunstinstitutionen ab, die eine sichere modernistische Utopie sowie die Autonomie des Kunstwerks bevorzugten, um einer Einmischung der Regierung in die künstlerische Praxis vorzubeugen.104 Auch Archey erwähnt die soziale Isolierung KwieKuliks, „sowohl von den staatlich sanktionierten Künstlern wie von der polnischen Neoavantgarde (ihre Arbeit war den anspruchsvollen Konzeptualisten nicht sexy oder zeitgemäß genug)“.105 Ronduda beschreibt die Problematik, dass die Soz-Art-Künstlerinnen und -Künstler von der Regierung unbeachtet blieben: „Die Aktionen der SozArt-KünstlerInnen wurden vom offiziellen Polen und seinen Regierenden verschwiegen, die KünstlerInnen selbst hatten unter Repressalien zu leiden.“ 106 Er weist auf die Ambivalenz der Kritik hin, die die Kunst der Neoavantgarde in der Volksrepublik Polen der 1970er Jahre auszeichnete. Die Künstlerinnen und Künstler nahmen eine subversive Position ein und formulierten ihren kritischen Kommentar von einem Standpunkt aus, der sich innerhalb des Systems befand.107 Mit Bezug auf Grzegorz Dziamski charakterisiert ­Ronduda die Position der Künstlerinnen und Künstler als „imitating, amost identifying with the object of criticism, and then, slightly shifting emphasis. […] this is not a direct, straightforward kind of criticism, but one that is full of ambiguity“ 108. Zu Beginn ihrer gemeinsamen künstlerischen Tätigkeit hatten Kulik und Kwiek kein Interesse daran, sich gegen die aktuelle Politik zu wenden oder durch ihre Arbeit Kritik am bestehenden System zu äußern. Ganz im Gegenteil wollten sie staatlich anerkannte Kunst machen und assoziierten sich teilweise mit den Werten, die durch die offizielle Sprache der Institute der kommunistischen Ära in der Volksrepublik Polen propagiert wurden. Schritt für Schritt entfernten sich die beiden Künstler dann von dieser Ideologie: Von einer anfangs lediglich kritischen Position bewegten sie sich über den Protest gegen das System hin zu vielfältigen Formen des politischen Kampfes.109

104 Vgl. Ronduda 2012/I, 526. 105 Archey 2013, 79. 106 Vgl. Ronduda 2007, 197 und 200. 107 Ronduda 2009, 242. 108 Dziamski 2001, 13. Zit. nach: Ronduda 2009, 242. 109 Mościcki 2012, 520.

Konflikte mit staatlichen Institutionen sowie Überwachung durch den Staat  |

4.3 Der Kontext als K atalysator: Konflikte mit sta atlichen Institutionen sow ie Überwachung durch den Sta at Ursachen für die Konflikte mit dem Staat, in die KwieKulik gerieten, waren einerseits ökonomische Bedingungen sowie durch kulturpolitische Entscheidungen verursachte Einschränkungen, unter denen das Künstlerduo litt. Auf der anderen Seite bewirkte ihr ästhetischer Standpunkt und der Umgang der staatlichen Zensur mit einem Vorfall in Malmö, Schweden, dass Kulik und Kwiek das Recht zu Reisen abgesprochen wurde. Im Folgenden werden zunächst die finanziellen Grundlagen KwieKuliks, ihre Unzufriedenheit mit der Kulturpolitik und die darauffolgende Überwachung durch die Geheimpolizei dargestellt. In den anschließenden Unterkapiteln werden die Reaktionen des Künstlerduos sowie die von ihnen entwickelten Strategien genauer untersucht. 4.3.1 Finanzierung der künstlerischen Arbeit Um ihre Arbeit zu finanzieren, fertigten Kulik und Kwiek regelmäßig Auftragsarbeiten für die Pracownia Sztuk Plastycznych (dt.: Werkstatt Bildender Künste; Abk.: PSP) in Warschau an (Abb. 34). Die PSP koordinierte zentral alle staatlichen Aufträge im Bereich der Freien und der Angewandten Kunst. Sie besaß das nationale Monopol, Aufträge für alle Arten von Projekten im Bereich der Bildenden Kunst im öffentlichen Raum zu erteilen, von der Schaufensterdekoration bis hin zu monumentalen Denkmälern. Die Aufträge wurden ausschließlich an Künstlerinnen und Künstler vergeben, die Mitglieder im Związek Polskich Artystów Plastyków (Verband der Polnischen Bildenden Künstler; Abkürzung: ZPAP ) waren.110 Während der kommunistischen Zeit waren alle Personen, die sich nach ihrem Akademieabschluss entschieden, hauptberuflich als Künstlerinnen und Künstler zu arbeiten, in finanzieller Hinsicht auf die Aufträge der PSP angewiesen. Der Kunstmarkt war in der Volksrepublik Polen nur rudimentär ausgebildet und die Möglichkeiten, als Lehrperson an (Kunst-)Schulen zu arbeiten, waren begrenzt. Weitere legale Möglichkeiten, als Künstlerin oder Künstler seinen Lebensunterhalt zu verdienen, gab es kaum.111 In den Jahren zwischen 1971 und 1981 übernahm das Künstlerduo KwieKulik mehrere Dutzend Auftragsarbeiten, davon fünf von privaten Auftraggebern. Von staatlichen Auftraggeberinnen und Auftraggebern wurden zumeist Modelle für Gedenktafeln, Medaillen 110 Vgl. Ronduda 2012/I, 525. Vgl. hierzu auch den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II, 508. 111 Vgl. Ronduda 2012/I, 525. In der Publikation Ronduda 2009, 247, findet sich eine Abbildung mit der Organisationsstruktur der PSP.

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Abb. 34  KwieKulik bei Auftragsarbeiten in ihrem Küchen-Dielen-Dunkelraum, 1979.

oder Dekorationen für staatliche Feiertage bestellt, die die Corporate Identity der Volksrepublik Polen gewährleisten sollten. Bei den Aufträgen für private Auftraggeber handelte es sich beispielsweise um ein Gipsmodell für eine Vase, die später in Massen produziert und in Geschäften verkauft wurde (Abb. 34). Kulik und Kwiek stellten sowohl ihre eigenen Kunstwerke als auch die Auftragsarbeiten zu Hause in ihrer Küche her, die gleichzeitig als Dunkelkammer und als Vestibül zum Atelier für Aktionen, Dokumentation und Verbreitung diente.112 KwieKulik nannten diese Art von Nebenjobs, die sie

112 Vgl. Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 327 und 484.

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lediglich ausführten, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, chałtura.113 Diese Arbeiten zählte das Künstlerduo nicht zu seinem eigentlichen Œuvre. In der polnischen Sprache bezeichnet dieses Wort eine Arbeit von geringer Qualität, die unbeholfen durchgeführt wird. Kulik und Kwiek zählten dazu vor allem Arbeiten, die sie für die PSP anfertigten.114 Bei den meisten Aufträgen, die durch die PSP vergeben wurden, handelte es sich um traditionell ausgerichtete Malerei- oder Skulpturprojekte und von Hand geschriebene oder als Relief herausgearbeitete Lettern für Gedenktafeln. KwieKulik forderten jedoch, ihren Lebensunterhalt durch Arbeiten verdienen zu können, die mit ihrer Qualifikation als Künstlerin beziehungsweise Künstler übereinstimmten und in ihrer bevorzugten Technik (Neue Medien) ausgeführt werden konnten.115 Die bereits erwähnte, von Mościcki entdeckte Doppelstruktur der działania findet sich auch in den Arbeiten, die unter dem Begriff chałtura versammelt wurden. In diesem Fall war die erste Aktivität die Arbeit Kwieks und Kuliks innerhalb des staatlichen Systems. Dieses Basis-Material, für den Broterwerb produziert, wurde zum Rohmaterial für weitere Handlungen. Ziel war es, die Dynamik zu analysieren, wie künstlerische Gesten situiert werden können, die innerhalb des Systems geschaffen und kontrolliert wurden. Die Arbeiten drückten den Wunsch aus, vom vorgegebenen Pfad abzuweichen und zumindest ein Detail hinzuzufügen, das den Sinn des gesamten Projekts änderte.116 4.3.2 Konflikte mit dem Ministerium für Kunst und Kultur Beinahe ein Jahrzehnt lang rangen KwieKulik in einem schriftlichen Dialog mit dem Ministerium für Kunst und Kultur um staatliche Unterstützung. Im Jahre 1974 stellten sie beim Ausschuss des Entwicklungsfonds für künstlerische Kreativität, der 1973 vom Ministerium ins Leben gerufen worden war, einen Antrag zur Finanzierung einer sogenannten Autorengalerie (author’s gallery).117 Die Galerie sollte als Basis für ihre wissenschaftliche Forschung dienen, die sie dem widmen wollten, was sie „documented activities“ 118 nannten. Als Ort für diese Galerie schlugen sie das zweite Zimmer in ihrer Wohnung vor. Die Einrichtung sollte anderen Künstlerinnen und Künstlern den Zugang zu dokumentarischem Material, dokumentarischer Ausrüstung, einer Bibliothek sowie 113 „Our definition of a hackwork: a hackwork is a work made for profit, but only such in which someone or something (regulations) limits the scope of our competence.“ Siehe Kulik/Kwiek 2012/I [1973], 439. 114 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 484. 115 Vgl. ebd., 484, 498 und 505. 116 Mościcki 2012, 521. 117 Vgl. hierzu auch Dziamski 1992. Mit der Autorengalerie meinten KwieKulik ihr Wohnatelier, das zugleich als Galerie und Archiv diente. 118 Zofia Kulik und Przemysław Kwiek: Brief an den Ausschuss des Entwicklungsfonds für künstlerische Kreativität, 9. März 1974, PDDiU. Zit. nach: Kemp-Welch 2012, 515.

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zum Archiv ermöglichen. Sie war dazu bestimmt, spontane und verstreute Aktivitäten zu organisieren und Informationen über andere polnische Institutionen zu vermitteln (unter anderem wurde ein Fotokopierer beantragt). Zudem war beabsichtigt, Ratschläge und Erfahrungen in Zusammenhang mit diesen neuen Kunstformen an Künstlervereinigungen und Bildungsinstitutionen weiterzugeben. Die Langzeitplanung zielte auf eine spätere Umwandlung der Autorengalerie in eine besondere Abteilung des Museums für Moderne Kunst in Warschau ab. Das eingereichte Konzept sah zwei Vollzeitstellen vor, die Kulik und Kwiek einnehmen sollten. Der Antrag wurde jahrelang zwischen den Institutionen hin und her geschoben, die Korrespondenz von Seiten der Behörden dabei mehrmals unterbrochen.119 Eine ähnliche Erfahrung machten Kulik und Kwiek mit der Beantragung ihrer Partei­mitgliedschaft in der Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiter­partei; Abkürzung: PZPR ) im Jahre 1975.120 Als Begründung für die Antragsstellung gab Kulik rückblickend an: „The only legal path to private action seemed to be the Party.“ 121 Der Antrag blieb jedoch in einer ähnlichen Schleife der Verzögerung hängen. Weder wurde ihnen die Mitgliedschaft erteilt noch verweigert.122 Nichtsdestotrotz betrachteten KwieKulik ihren Kampf mit den Institutionen als einen sehr wichtigen Teil ihrer künstlerischen Arbeit.123 4.3.3 Überwachung durch den Sicherheitsdienst Im Jahre 1975 leitete der Sicherheitsdienst, seit 1956 die Geheimpolizei im kommunistischen Polen 124, die Operation „Letraset“ gegen die beiden Künstler Marek Konieczny und Przemysław Kwiek ein.125 Die Operation wurde zwar gegen Kwiek und ­Konieczny durchgeführt, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsdienstes richtete sich jedoch auf die Aktivitäten, die Kulik und Kwiek als Künstlerduo durchgeführt hatten, und somit auch auf die Tätigkeit Kuliks. Als Bedrohung wurde der Protest gesehen, den die Künstler gegen die PSP organisiert hatten.126 Dieser richtete sich gegen die N ­ ichtberücksichtigung 119 Vgl. Kemp-Welch 2012, 515. 120 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 499. 121 „Jedyną legalną ścieżką aktywności nieprywatnej wydawała się partia.“ Turowicz 2005. Das englische Interview ist online zugänglich unter: http://kulikzofia.pl/en/archiwum/bunt-neoawangardowejartystki/ (Zugriff am 14. 5. 2020). Eine gekürzte polnische Version des Interviews wurde publiziert in: Opcje. Kwartalnik Kulturalny 3/56 (2004), 54 – 61. Übers. zit. nach: Kemp-Welch 2012, 516. 122 Vgl. Kemp-Welch 2012, 516. 123 Vgl. Bryzgel 2014, 13, Anm. 54. Vgl. hierzu auch den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II, 467. 124 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar ebd., 501. 125 Vgl. Ronduda 2012/I, 525. 126 Vgl. ebd.

Konflikte mit staatlichen Institutionen sowie Überwachung durch den Staat  |

avantgardistischer Positionen bei der Vergabe von Aufträgen. Die von der PSP vergebenen Aufträge konnten nur in den tradierten Formaten Malerei, Zeichnung, Sgraffito, Mosaik, Monumentalskulptur, Flachrelief oder Medaille ausgeführt werden. Jedes dieser Medien hatte einen festen Platz in der Preisliste der PSP . Bezahlt wurde pro Quadratmeter – je breiter und höher das Werk, desto besser wurde es bezahlt.127 Aus diesem Grund stellte die Erteilung und Entlohnung von Aufträgen, die mit neuen Medien und in Kunstformaten wie Konzeptkunst, Multimediaprojektionen oder Performance arbeiteten, für die PSP eine Herausforderung dar.128 Seit den frühen 1970er Jahren forderten KwieKulik daher einer „New Media Section“ innerhalb des Verbands der Polnischen Bildenden Künstler. Ein weiteres Hindernis war jedoch die Tatsache, dass alle Anträge von einem Komitee begutachtet wurden, das aus Künstlerinnen und Künstlern zusammengesetzt war, die in den traditionellen Kunstgattungen arbeiteten. Dieses Komitee entschied auch über die Vergütung der Aufträge.129 Die Einleitung einer Operation gegen Kwiek und Konieczny durch den Sicherheitsdienst zeigt die Bedeutung der PSP für das Regime. Wie das Fernsehen waren die PSP ein strategischer, strikt kontrollierter Teil der Propagandamaschine und boten eine künstlerische Verpackung für ideologische Botschaften des Regimes. Kwiek und Konieczny wurden überwacht, ihre Telefone abgehört, ihre Briefe gelesen. Besonders wichtig erschien die Identifizierung der internationalen Kontakte der beiden Künstler. Zu diesem Zweck wurden mehrere geheime Informanten im Bekanntenkreis Kwieks und Koniecznys aktiviert, die Berichte abzuliefern hatten. Nachdem die Künstler ihren Protest jedoch nicht weiter fortführten, schloss der Sicherheitsdienst den Fall nach einigen Monaten. Die Staatssicherheit kam zu der Erkenntnis, dass die Beweggründe Kwieks und Koniecznys nicht politischer, sondern lediglich ökonomischer Natur gewesen und aus der Unzufriedenheit der beiden Künstler mit der Auftragsvergabe der PSP entstanden waren.130 Der Kontext, in dem KwieKulik sich bewegten, spielte eine aktive Rolle im Werk des Künstlerduos. Wie im Folgenden gezeigt wird, wirkte er gleichsam als Katalysator und motivierte Kulik und Kwiek zu weiteren Aktionen. Die Konflikte mit Akteurinnen und Akteuren der Kulturpolitik sowie die staatlichen Repressionen führten schließlich zu einer eindeutigen Politisierung der Kunstpraxis KwieKuliks und damit zu einer Transformation ihres Werkes. 127 Wie Ronduda berichtet, verfügten die PSP zu der damaligen Zeit über ein beträchtliches Budget. Ein großer Auftrag, wie zum Beispiel ein Denkmal, wurde mit einem Honorar in Höhe des Kaufpreises eines Autos vergütet. Einige Aufträge wurden mit mehr als 100.000 Złoty für Konzept und Ausarbeitung vergütet. Der durchschnittliche Monatslohn in den frühen 1970er Jahren betrug um die 1.500 Złoty. Vgl. ebd., 526. 128 Vgl. ebd., 525. 129 Vgl. ebd., 526. 130 Vgl. ebd., 525.

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4.4 Definitionen, Werkbegr iff, mediale Str ategien und politische Aktionen als A nt wort auf sta atliche R epr essionen In Reaktion auf das politische und soziale Umfeld, in dem KwieKulik sich bewegen, mit dem sie interagieren und streiten, von dem sie sich abgrenzen und über das sie sich definieren, entwickeln sie (mediale) Strategien und Taktiken, um ihre künstlerischen Konzepte umzusetzen. Ihr Ziel ist es zunächst, die unmittelbaren Bedingungen für ihr künstlerisches Schaffen zu verbessern. Darüber hinaus streben sie jedoch auch eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse an, in denen sie leben und arbeiten. Im Folgenden werden die Strategien und Taktiken näher erläutert. 4.4.1 (Selbst-)Definitionen und der erweiterte Kunst- und Werkbegriff bei KwieKulik 4.4.1.1 Działania KwieKulik zogen es vor, ihre Performances und Aktionen mit dem polnischen Begriff działanie (Handeln, Tätigkeit, (Ein-)Wirkung; Plural: działania) zu benennen. Sie übersetzten dies im Englischen mit activity – nicht mit action.131 Die działania umfassten Performance-Aufführungen, Aktionskunst und andere ephemere Kunstformen, die zunächst vor wenigen Leuten aufgeführt, mittels Film oder Fotografie festgehalten und anschließend über Mail Art verbreitet wurden.132 Im Vergleich zur gewöhnlichen Schreibweise mit kleinem Anfangsbuchstaben sollte die Großschreibung des Wortes die Spezifik ihrer Aktivitäten hervorheben.133 Indem Kulik und Kwiek ein anderes Wort wählten und es sich aneigneten, um ihre Arbeiten zu beschreiben, unterschieden sie ihre Arbeiten von zeitgenössischen Formen der Aktionskunst wie der der Wiener Aktionisten.134 Działania verstanden Kulik und Kwiek als eine Vielzahl von Aktivitäten, deren Bestandteile Dokumentation, Verbreitung, kritische Analyse und über die jeweilige Aktivität hinausgehende mögliche Effekte waren.135 Die Aktionen konnten öffentlich oder nicht öffentlich stattfinden. Planung und Vorbereitung der Aktivitäten sowie die Beschreibung der Bedingungen waren ebenfalls Teil der działania:

131 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 498. 132 Vgl. Rottenberg 1999, 212. 133 Vgl. Bryzgel 2014, 12. 134 Vgl. ebd. 135 Mościcki 2012, 522.

Definitionen, Werkbegriff, mediale Strategien und politische Aktionen  |

We do public and not public, documented Działania; the plan of Działanie and the description of its conditions are parts of the documentation – mostly the description of conditions is not recorded, it has the form of a spoken commentary during presentation of the documentation.136

Wichtig war für das Künstlerduo die Überschreitung der traditionellen Gattungsgrenzen, die sie zwar als Ausgangspunkt nutzten – beide studierten zunächst Bildhauerei an der Akademie – durch die sie sich jedoch eingeschränkt fühlten. Was für sie immer wichtiger wurde, war das Verhalten in bestimmten Situationen: „[…] behaving effectively in specific existential/artistic, social, political, material, or spatial situations. […] The full name of our Activities is: documented material-temporal-spatial-existential Activities“ 137. Jede działanie besteht aus mindestens drei Bestandteilen, die im Kunstverständnis von KwieKulik für das Werk konstitutiv sind: 1. Planung und Vorbereitung, 2. Produktionsprozess, 3. Dokumentation und Verbreitung. In ihrer Aufführungspraxis versuchten Kulik und Kwiek die Teile der Performance, die den Augen der Betrachtenden normalerweise verborgen bleiben – also vor allem die Vorbereitung sowie die Dokumentation der Aktion –, zu enthüllen und mit in die Aufführung zu integrieren. 4.4.1.2 Całostka (Separierte Ganzheit) Ein Schlüssel für das Verständnis der Arbeiten ist das Konzept całostka (Separierte Ganzheit) 138. Die Idee wurde 1978 von Kulik und Kwiek in einem Text skizziert und international präsentiert. Das Künstlerduo erklärte, dass die Performance an sich, die beispielsweise auf einem Festival oder in einer Ausstellung einem Publikum präsentiert wird, nur ein Teil des Kunstwerks sei. Die Vorbereitung der Aktion und die Dokumentation des Ereignisses – genauer den gesamten Schaffensprozess – betrachteten sie ebenfalls als einen konstitutiven Teil des Kunstwerks.139 Separierte Ganzheit beschrieben sie sowohl als „a system of events“ als auch als „a notation of a system of events“.140 Sie definierten drei Typen solcher Ereignisse: A-Events waren Notwendigkeiten wie zum Beispiel die Teilnahme an bestimmten Ereignissen als Teil der Gesellschaft. B-Events ergaben sich aus dem Verhalten in diesen notwendigen Ereignissen. C-Events waren Ereignisse, die durch freies Verhalten in verschiedenen Situationen produziert wurden.141

136 Kulik/Kwiek 2012/II [1978], 453. 137 Zitat KwieKulik. Siehe den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 465. 138 Im Englischen wird der Begriff mit „Separate Whole“ übersetzt. 139 Vgl. Bryzgel 2014, 12. 140 Ebd. 141 Vgl. ebd. Vgl. hierzu Kulik/Kwiek 2012/II [1978], 455.

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Unterschiedliche Formen von Praktiken in diversen Tätigkeitsfeldern (existentiell, alltäglich, beruflich, familiär, politisch, gesellschaftlich) wurden von Kulik und Kwiek gleichwertig behandelt. Die Erscheinungsform einer Separierten Ganzheit konnte von Ausstellung zu Ausstellung, von Situation zu Situation wechseln: One possible static representation (exhibition) of a Separate Whole is, for instance, an aggregate, a composed conglomerate of photographs, films, notes recordings, drawings, paintings, etc., even with an accompanying „live“ part. Among the concepts of a Separate Whole is, for instance that of Multiperformance.142

Das Konzept ermöglichte es KwieKulik, ihr alltägliches Leben und Ereignisse aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben in ihre Kunst zu integrieren, einfach indem sie einen zeitlichen Rahmen festlegten, der kennzeichnete, wann und wo das Kunstwerk begann und endete.143 […] the collage of different experiences and events, everything that happened to them, however banal or lofty, would become a piece of art through the signifying act. A Separate Whole consisted of a clearly designated timeframe. KwieKulik had previously decided that from a given moment, everything that happened to them would be part of an art project and would create a specific narrative until the decision to terminate the piece.144

Dieser „signifying act“ war in vielen Fällen das Ein- und Ausschalten der Foto- oder der Filmkamera. Die Verwendung eines aufzeichnenden Mediums kennzeichnete oftmals Beginn und Ende der jeweiligen Aktion. Die Aktivitäten des Künstlerduos unterlagen einem doppelten Arbeitsrhythmus. Zunächst wurden die Aktionen für die Kamera performt und auf Foto- oder Dia-Film gebannt. Anschließend verhinderten KwieKulik durch die Weiterbearbeitung des entstandenen Materials eine eindeutige Einordnung in bestimmte Diskurse. Die Materialien wurden mehrfach und auf unterschiedliche Weise arrangiert; bestimmte Sequenzen wurden bearbeitet und modifiziert.145 Mościcki erklärt, dass die Aktivität hier in der Aufhebung der automatischen Adaption des Bildes durch eine dominierende Narration 142 Siehe den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 468. Eine „Multiperformance“ ist das Ergebnis einer Kombination aus Elementen vorhergehender Performances von KwieKulik. Siehe den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: ebd, 467. 143 Vgl. Bryzgel 2014, 12. 144 Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 197. Es wird hier ein konkretes Kunstwerk als Beispiel genannt: Całostka: Malczewski i POP (Separierte Ganzheit: Malczewski and POP, 1975). 145 Vgl. Mościcki 2012, 521.

Definitionen, Werkbegriff, mediale Strategien und politische Aktionen  |

bestehe und ein Experimentieren mit den Möglichkeiten, eine vollkommen andere Nutzung für das Bild zu finden, darstelle.146 Das von KwieKulik entwickelte Kunstverständnis und die in diesem Zusammenhang definierten Begriffe und Methoden setzte das Künstlerduo unmittelbar in seiner alltäglichen Arbeit um. Künstlerische und alltägliche Praktiken näherten sich dabei im Zusammenleben von Kulik und Kwiek so weit an und überlappten sich, dass sie teilweise identisch waren. Dieses Zusammenfallen von Kunst und Leben war einerseits durch die finanziellen Umstände erzwungen, andererseits war die Verbindung von Kunst und Leben auch eines der avantgardistischen Ideale, denen KwieKulik nacheiferten. Wie dieses gemeinsame Leben und Arbeiten aussah, lässt sich am besten anhand der Aktion Aktivitäten mit Dobromierz nachvollziehen, die im Folgenden beschrieben wird. 4.4.1.3 Die Verbindung von Kunst und Leben: Działania z Dobromierzem (Aktivitäten mit Dobromierz, 1972 – 1974) Die Aktivitäten mit Dobromierz führten KwieKulik in den Jahren von 1972 bis 1974 durch (Abb. 35). Über zwei Jahre hinweg veranstalteten sie mehrere Sessions mit ihrem kleinen Sohn, Dobromierz, der am 3. Oktober 1972 geboren wurde. Die Aktivitäten führten sie in ihrer Wohnung in Warschau und auf Spaziergängen an der Weichsel durch. Während der Aktionen entstanden ungefähr 700 Farbdias und 200 Schwarzweißfotografien, die diese dokumentieren.147 Die Arbeit ist ein weiteres Beispiel für den Versuch KwieKuliks, „Logik und Mathematik mit Ontologie zu verbinden“ 148. Auf den Fotografien und Dias ist der Sohn des Künstlerpaars zu sehen. Er sitzt inmitten von Zwiebeln, Messern, Gabeln und Eisblöcken aus dem Wasser der nahe gelegenen Weichsel. Trotz „unvermeidliche[r] Komik und […] ungewollte[m] Pathos“ 149 wirken Motive wie das Kind mit einem Eimer über dem Kopf oder scharfe Gegenstände in der Umgebung des Kindes bedrohlich und weisen voraus auf spätere Protestaktionen KwieKuliks, in denen ihre Köpfe ebenfalls in Eimern stecken und in denen potentiell gefährliche Gegenstände verwendet werden.150 Archey beobachtet einen starken Gegensatz zwischen den emotionalen und manchmal beunruhigenden Bildern und dem trockenen und konzeptuellen Aspekt der Aktion.151 Auch die Filmwissenschaftlerin Maxa Zoller ist der Meinung, dass die Aktivitäten mit

146 Vgl. ebd. 147 Vgl. Maud 2007. 148 Archey 2013, 79. 149 Wilson 2005, 93. 150 Vgl. hierzu die verdeckten Köpfe in: „Działania na głowę, trzy odsłony“ (1978) im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 294, die Aktion „Działanie na gliniane głowy“ (1981), ebd., 349 und die Aktion „Banan i granat“ (1986), ebd., 390. 151 Archey 2013, 79.

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Abb. 35  KwieKulik, Działania z Dobromierzem (Aktionen mit Dobromierz), 1972 – 1974, Schwarzweißfotografie.

Dobromierz leicht verstörend auf sensible Betrachtende wirken können.152 Und Sarah ­Wilson sieht hier sogar „Untertöne eines kontrollierten potentiellen Sadismus oder zumindest das beunruhigende Schauspiel, das aus der Verunsicherung der Unschuld entsteht“ 153. Die Konstellationen, in denen der kleine Junge sowie unterschiedliche Alltagsgegenstände auf dem Boden arrangiert werden, stellen verschiedene mathematisch-logische Funktionen dar: „ein Ereignis, das X widerfahren kann (in diesem Fall Dobromierz), ein Ereignis, das X widerfahren könnte und ein Ereignis, das X sehr wahrscheinlich nicht widerfahren wird.“ 154 In dem Archiv KwieKuliks finden sich genaue Anleitungen für die Aktivitäten mit Dobromierz. Im Gegensatz zu späteren Aktionen, die eher spontan verliefen, waren die Aktivitäten mit dem Kleinkind bis ins Detail vorbereitet und genau durchdacht. Nicht nur die zu verwendenden Gegenstände und spezifischen Orte 152 Zoller 2011, 176. 153 Wilson 2005, 93. 154 Archey 2013, 79.

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wurden genau beschrieben und aufgelistet, sondern auch die Medien, mit denen die Aktion aufgezeichnet werden sollte, sowie die genaue Anwendung und die Häufigkeit der Auslösung oder Betätigung des Mediums in der jeweiligen Situation. Zudem wurde zu jedem Gegenstand Herkunft und Geschichte angegeben, wie zum Beispiel ob und wo KwieKulik den Gegenstand erworben oder ob sie ihn als Geschenk erhalten hatten und von wem. Die Abstände, die die Objekte in der jeweiligen Situation zueinander haben sollen, sind zentimetergenau vorgegeben. So findet sich beispielsweise folgende Beschreibung vom 3. 12. 1972 im Archiv: Conditions: Dobromierz’s birthday, 2 months UK 18 Orwo Color, 1/30 s. p. 2.8; 36 photographs, 1500 W, 1000 W at the distance of 1,5 m from D. 3. 12. 1972, AT HOME Objects: Dobromierz. Tangerines bought in Katowice by the mother and given to us for him. Red canvas 60 × 100 cm, part of the red sack in which in Elbląg, at EDK, A. Wiśniewski took photographs of himself and into which he threw his prints. Room in K. Wójcik Street. Situations: Naked Dobromierz on the floor next to the bed. D. naked on the floor in a circle of tangerines (c. 20 cm distance between the tangerines). D. naked on the red canvas on the floor. III + tangerine o D.’s forehead. IV + tangerine on the body. V + wrapping D. with the red canvas. Remarks: In the red sack there were slides and leaflets from Anastazy, which he’d sent the day after the Proagit 2 spectacle at Współczesna Gallery.155

Ein weiteres Dokument hebt hervor, dass die Durchführung jeder einzelnen im Zusammenhang mit den Aktivitäten mit Dobromierz verfassten Anleitungen nicht zwingend notwendig gewesen sei. 155 Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 131 [Hervorh. im Orig.].

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[…] It’s good that not all ideas were carried out. It’s good that they’re noted down. It is a record in words. In the presentation of the subject concerning Dobromierz, the record needs to be equal to the slides. Someone who reads the words: D. wearing makeup, and not seeing it on the screen, will get the same satisfaction as when they see a slide showing D. wearing make-up. […] It can result in an even greater satisfaction: the record in words will allow them to create their own image associations. It’s probable that someone among the viewers will carry out on his own; making-up their own kid, dog etc. Or will merge this record with an image seen in an entirely different place.156

Kulik und Kwiek heben hier die Teilhabe der Betrachtenden hervor, die mittels ihrer Assoziationskraft das Werk vervollständigen und sogar Teile desselben realisieren können, die von KwieKulik nicht realisiert wurden. Die Fotografien und Dias der Serie Aktivitäten mit Dobromierz wurden seit den 1970er Jahren auf unterschiedliche Weise präsentiert. Im Jahre 1973 stellten KwieKulik die Arbeit in der Galerie Studio in Warschau aus: Die Dia-Negative wurden zwischen zwei Fensterscheiben gezeigt, die sie in ihrer Wohnung aus den Angeln gehoben hatten (Taf. 10 – 12). Der Titel des Werkes lautete Okno logiczne (Logisches Fenster). In die Präsentation waren politische Kommentare integriert, wie zum Beispiel „PSP poniża!“; „Do roboty! Do roboty! Wróg jest szybszy!“; „Jeśli jesteś młodym, zdolnym artystą, to nikt ci nie pomoże!“ („PSP demütigt!“; „Zur Arbeit! Zur Arbeit! Unser Feind ist schneller!“; „Wenn du ein junger, begabter, neugieriger Künstler bist, dann wird dir niemand helfen!“).157 Im Jahre 1975 wurden die Aktivitäten mit Dobromierz in Malmö (Schweden) gezeigt: Die Dias wurden ungerahmt auf von unten beleuchteten Tischen ausgestellt. Als Diashow präsentierte Kulik die Arbeit zum ersten Mal 2007 im Courtauld Institute in London. 2008 produzierte Kulik eine digitale Dreikanal-Diashow der Aktivitäten mit Dobromierz.158 Aus der natürlichen Routine alltäglicher Aktivitäten, die mit der Beaufsichtigung eines kleinen Kindes verbunden sind, ergab sich das Material der Performance. Mościcki weist darauf hin, wie KwieKulik von dieser Grundlage aus die Frage nach einer anderen Kindheit stellten, der Kindheit anderer Lebensformen, deren Grammatik durch künstlerische Aktivität offengelegt wird. Paradoxerweise führt das Kind, das ein lebendes Zeugnis der physisch bedingten Natur Kwieks und Kuliks ist und als ein neues menschliches Wesen seinen Eltern oft Kompromisse abverlangt, zur Erfahrung der wiederholten Entdeckung einer ontologischen Fähigkeit, die Welt zumindest teilweise, aus sich selbst heraus, im Sinne eines Reenactment wiederaufzuführen. Die Dokumentation der Aktionen in der 156 Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis: ebd., 134 [Hervorh. im Orig.]. 157 Vgl. ebd., 160. 158 Vgl. ebd., 131.

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Wohnung des Künstlerduos zeigt, dass die Performance nicht nur ein Ausagieren der Unmöglichkeit war, sich öffentlich zu äußern. Mościcki verweist auf den Philosophen und Naturforscher Aristoteles, der das Haus (griech. oikos) als einen Bereich behandle, der von der Politik ausgeschlossen sei und ausschließlich der Arbeit diene. Bei KwieKulik erhalte dieser Bereich den Charakter einer wahren Agora: Er war Galerie und Werkstatt zugleich sowie ein Ort für Debatten, internationale Treffen und Vorträge. Die kleine Wohnung bot Schutz für einen politischen Hotspot und war ein Labor für neue künstlerische und nichtkünstlerische Formen der Zusammenarbeit.159 Einen überzeugenden Interpretationsansatz, der den politischen Kontext miteinbezieht, verfolgt Archey, indem sie aufzeigt, dass Dobromierz in den Aktionen einerseits für „den gewöhnlichen Menschen in mannigfachen möglichen Zuständen“ 160 stehe, die er selbst nicht kontrollieren könne, was die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten im kommunistischen Polen widerspiegele. Auf der anderen Seite verkörpere Dobromierz „das Neue und den Beginn des Lebens voller Potenziale, Möglichkeiten des Handelns und der Entwicklung.“ 161 Ein Ziel der beiden Künstler war es, Alltag und Kunst miteinander zu verbinden.162 Kulik lehnt einen psychologischen Hintergrund ab und gibt ein mathematisches und abstraktes Konzept als Ursprung für die Aktionen an.163 Der Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis beschreibt dies wie folgt: They believed that almost the same operations that mathematicians, logicians, sculptors (that is, themselves) do, could also be done by means of various forms of visual aids and with the help of registered images (slides). Activities with Dobromierz attempted to relate mathematics and logic operations (which use the intangible characters, e. g. x, y, z) to similar artistic operations but using material forms (objects, textures, colors), including the already existing particular condition of life.164

Zusätzlich kombinierten KwieKulik die Aktivitäten mit Dobromierz mit der linguistischen Typologie der Raumpräpositionen.165 Ihre Aktionen sollten unter anderem die

159 Mościcki 2012, 521 [Hervorh. im Orig.]. 160 Archey 2013, 79. 161 Ebd. 162 Das Ziel, Kunst und Alltag miteinander zu verbinden, nennt Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde als Voraussetzung für eine avantgardistische Kunst. Er untersucht die Avantgarden und Neo-Avantgarden in Westeuropa und den USA und kommt zu dem Schluss, dass es ihnen nicht gelungen sei, Kunst und Leben miteinander zu verbinden. Vgl. hierzu: Bürger 1974, 72 f. und 75. 163 Wilson 2005, 93. Im Vergleich dazu sind Mary Kellys Arbeiten aus derselben Zeit interessant, die von der Psychoanalyse beeinflusst sind. Vgl. hierzu Maud 2007. 164 Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 131. 165 Vgl. ebd.

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Anwendbarkeit der mathematischen Logik, der Kybernetik sowie der linguistischen Zeichentheorie auf die Kunst erforschen.166 Die Aktivitäten mit Dobromierz belegen das Interesse des Künstlerduos an der Formalisierung künstlerischer Aktivitäten und den Versuch, bestimmte strukturell-generative Modelle und Algorithmen in ihnen anzuwenden.167 Indem sie Kunst und Wissenschaft einander annäherten, strebten KwieKulik die Transformation der sozialen Identität und des Status von Künstlerinnen und Künstlern an, deren Aktivitäten das politische Regime der damaligen Ära gerne auf die Ausführung propagandistischer Auftragsarbeiten beschränken wollte.168 KwieKuliks Behandlung sowohl menschlicher Wesen als auch wertvoller Kunstwerke als bloße Objekte, frei von Emotionen und ohne kulturellen Wert, verweist auf die Theorien des Philosophen Tadeusz Kotarbiński und seine Ideen zur Praxeologie.169 Im Jahre 1971 besuchten Kulik und Kwiek zwei seiner Seminare: „Sprawność i jej odmiany“ (Effizienz und ihre Variationen) und „Współdziałanie wielopodmiotowe“ (Multisubjektive Kooperation). Die Auffassung Kotarbińskis von Praxeologie als „science of effectiveness, describing and formalizing the conditions, mechanisms and effects of effective action in general“ 170 harmonierte mit dem künstlerischen und existentialis­tischen Ethos KwieKuliks: It was an ethos of the artist-experimenter, learning and analyzing the mechanisms of effective action – both within the field of art and without it – as well as involving himself or herself in streamlining the specific manifestations of human activity in the surrounding reality.171

Das Ethos fasst der Kulturwissenschaftler Tomasz Załuski als „Let’s Get More Efficient!“ zusammen. „Kunst“ wurde darin durch einen allgemeineren Begriff von Kreativität oder durch schöpferische/generative Aktivität ersetzt. Den Begriff der „Aktivität“ definierten KwieKulik dabei als „continuous, efficient behavior in specific existential artistic, social, political, mental, material or spatial situations“ 172. Zoller betont in ihrem Aufsatz KwieKulik’s Open Form Film: Polish Expanded Cinema? (2011)173 mehrfach die Unumgänglichkeit der Einordnung der Aktionen Kuliks und Kwieks in ihren sozialhistorischen Kontext. Auf den ersten Blick scheinen die Aktivitäten KwieKuliks den Theorien Kotarbińskis zu widersprechen: Ihre Aktivitäten und Diashows bemühen sich um eine äußerst ineffiziente Produktion absurder Bildkonstellationen. Im 166 Schöllhammer 2007, 92. 167 Vgl. Załuski 2012, 533. 168 Vgl. ebd. 169 Zoller 2011, 176. 170 Załuski 2012, 532. 171 Ebd. 172 KwieKulik in: Kalejdoskop 7 – 8, 1979. Zit. nach: Załuski 2012, 532. 173 Zoller 2011.

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polnischen Kontext jedoch können diese „constellations-in-progress“ 174 als eine positive Aneignung der Praxeologie gelesen werden: Indem sie ein Maximum an Bildern durch ein Minimum an Material produzieren, beschäftigten sich KwieKulik ernsthaft mit Kotarbińskis Theorie der effizienten Aktion.175 4.4.2 Mediale Strategien und Taktiken KwieKuliks 4.4.2.1 Das Archiv als Kunstwerk: Atelier für Aktivitäten, Dokumentation und Verbreitung Im Jahre 1971 gründeten KwieKulik das Atelier für Aktivitäten, Dokumentation und Verbreitung (Pracownia Działań, Dokumentacji i Upowszechniania; Abk.: PDDiU), das auch ein Archiv beinhaltete.176 Archiv und Atelier betrieben sie zunächst in ihrer Wohnung in Praga und später in ihrem Haus in Łomianki bei Warschau, da die Regierung ihre Bewerbung um einen Galerieraum abgelehnt hatte.177 In ihrem Archiv dokumentierten und sammelten KwieKulik ihre eigenen działania sowie die Arbeiten anderer – sowohl polnischer als auch internationaler – Künstlerinnen und Künstler. Neben der Bewahrung des Ephemeren ging es ihnen darum, künstlerische Phänomene, die außerhalb des Interessengebiets des ideologischen Kunstgeschichtsapparats der damaligen Zeit lagen, zu bewahren und zugänglich zu machen. Von Anfang an wurde das Material katalogisiert, mit einem Index versehen und verschlagwortet.178 Informelle Netzwerke und private Künstlerarchive, die oftmals mit Autorengalerien verbunden waren, bildeten im Polen der 1970er Jahre Handlungsplattformen und Treffpunkte für künstlerisch Tätige und andere Intellektuelle. Autorengalerien stellten als private, informelle Ausstellungsräume eine Alternative zu staatlich unterstützten Institutionen dar.179 Die Verwendung neuer Medien ermöglichte den Künstlerinnen und Künstlern, unabhängig von staatlich geförderten offiziellen Kulturinstitutionen zu agieren, um alternative soziale Räume für den künstlerischen Austausch zu schaffen.180 Netzwerke wie Fluxus 181 und Mail 174 Ebd., 177. 175 Ebd. 176 Vgl. Rottenberg 1999, 212. 177 Vgl. Carr 1987, 93. 178 Vgl. Nader 2012, 523. 179 Vgl. Dziamski 1992. Dennoch erhielten die meisten Autorengalerien staatliche Unterstützung, sei es durch die PSP oder durch Studentenorganisationen. (Für diesen Hinweis danke ich Wiktoria Szczupacka, Mitarbeiterin der Kulik-KwieKulik Foundation.) 180 Teilweise wurde eine Neo-Avantgarde, die sich mit Medien statt mit Politik befasste, auch vom Staat begrüßt. Darüber hinaus erzwangen neue Medien die Zusammenarbeit mit dem Staat in gewisser Weise: Privat ließ sich keine Kamera oder keine Filmkamera kaufen. Vgl. die Email-Korrespondenz der Autorin mit Wiktoria Szczupacka, Mitarbeiterin der Kulik-KwieKulik Foundation, vom 3. 6. 2020. 181 Für einen Überblick über das Fluxus-Netzwerk in Osteuropa vgl. Ausst. Kat. Berlin 2007.

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Art 182 funktionierten über den Postweg und ermöglichten über Briefe den internationalen Austausch künstlerischer Theorien und Konzepte. Das PDDiU fungierte als ein solcher Treffpunkt beziehungsweise Plattform sowohl für ostmitteleuropäische als auch internationale Künstlerinnen und Künstler. Während der zwölf Jahre, in denen KwieKulik das Atelier betrieben, organisierten sie vier Ausstellungen und eine große Anzahl von Präsentationen für Freunde und Gäste aus dem In- und Ausland. Die meisten dieser Treffen beinhalteten Vorführungen von Dia-Projektionen und dauerten mindestens zwei Stunden. Gäste blieben über Nacht oder für einige Tage.183 In der Aktions- und Archivierungspraxis KwieKuliks spielte die Dokumentation eine zentrale Rolle. Ziel war die unabhängige Distribution von Informationen sowie Provokation. Als Studierende Hansens suchten sie nach angemessenen Arten der Dokumentation visueller Kommunikation, die zu einem integralen Teil der Aktion werden und nicht bloß als deren Echo erscheinen sollte. In den 1970er Jahren unterschieden KwieKulik zwischen Performances für die Kamera und dokumentierten Aktionen. Ihr Verständnis von Performances für die Kamera erklären sie wie folgt: From the very beginning we were aware […] that those pioneering spontaneous, ephemeral, one-off forms of artistic expression, whether by us or by other people, needed to be preserved/documented, which we immediately confirmed […] through practice. In 1967 – 68, Kwiek made the discovery that one can work exclusively for the „camera eye“ and from 1971 we started referring such methodology as „Activities for a Camera“. Our documentation is not mechanical. We don’t do non-documented Activities, and since 1971 we have been documenting other artists’ actions as well.184

Von den Performances für eine Kamera unterschieden KwieKulik dokumentierte Aktionen. Diese unterschiedlichen Definitionen sind jedoch in der Analyse ihrer Arbeiten nicht aufrecht zu erhalten, da sich die beiden Modi häufig überschneiden. 182 Zur Mail Art vgl. Kapitel 2.6.4. 183 Ausländische Gäste und Kritikerinnen sowie Kritiker, die das PDD iU besuchten: Charles ­Ahearn, László Beke, Ulrich Bernhardt, Uta Brandes, Jan Brand, Shirley Cameron, Ulisses Carrion, Robert ­Crozier, Michael Erlhoff, Hans Eykelboom, Tomislav Gotovac, Frank Gribling, Sigurdur ­Gudmundsson, Davis Hall, Werner Herterich, Wolf Kahlen, Alison Knowles, Jiří Kovanda, Dirk Larsen, Michael Leaman, Marga van Mechelen, Karel Miler, Roland Miller, Jan Mlčoch, Floris ­Neusüss, Neša Paripović, G ­ iancarlo Politi, Thom Puckey, Robert Rehfeldt, Ruth Wolf, Iain Robertson, Gerrit Jan de Rook, Guy Schraenen, Jürgen Schweinebraden, Jean Sellem, Ernesto de Sousa, Petr Štembera, Goran Trbuljak, Jiří Valoch, Peter van Beveren, Aart van Barnevald, Albert van der Weide, Peter Weibel u. a. Siehe den Eintrag zum PDD iU im Werkverzeichnis von KwieKulik: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II , 408. 184 Siehe hierzu den Eintrag zu „Activities for a Camera or Documented Activities“ im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 465.

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KwieKulik dokumentierten und sammelten ihre Werke eigenständig und ohne die Hilfe offizieller Institutionen. Ihre Bemühungen, das PDD iU zu institutionalisieren, scheiterten und ihre Sammel- und Ausstellungsaktivitäten verblieben im halböffentlichen Raum. Ihr Kampf, den sie diesbezüglich mit dem Ministerium für Kunst und Kultur ausfochten, wurde im vorhergehenden Unterkapitel bereits beschrieben. Das Archiv des PDDiU zeichnete sich durch Inklusivität, Undeterminiertheit und Nicht-Hierarchie aus und versammelte Materialien sowohl spektakulärer als auch erfolgloser Events. Aufgrund der unendlichen Möglichkeiten, verschiedene Verbindungen zwischen den einzelnen Events zu ziehen, hatte das Archiv das Potential, die Geschichte zu horizontalisieren, große Narrative zu meiden und viele polysemantische alternative Geschichten zu schreiben. Das Konzept der horizontalen Geschichte hat Piotrowski entwickelt.185 Es verneint die Dichotomie von Zentrum und Peripherie, macht die Subjekte und die von ihnen produzierte Kunst an einem spezifischen Ort fest und betrachtet die Relationen zwischen ihnen als instabil und offen.186 Das Archiv KwieKuliks ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein solcher horizontaler Ansatz auf einer künstlerischen Ebene funktionieren und auf diese Weise die Geschichtsschreibung nachhaltig beeinflussen kann. Die Kunsthistorikerin Luiza Nader identifiziert drei Modi des Nachdenkens über Dokumentation im Polen der 1970er Jahre: 1.  Dokumentation als interventionistische Kommunikationsform 2.  Dokumentation als komplexes performatives Statement 3.  Dokumentation als Sammelaktivität, die die Möglichkeit einer Horizontalisierung beinhaltet.187 Der erste Modus bezieht sich auf künstlerische Praktiken, die auf Dokumentation basierten, auf die institutionell unabhängige Distribution von Informationen, wie zum Beispiel durch Mail Art, auf Provokation als künstlerisches Mittel und auf unterschiedliche Techniken der Appropriation.188 Der zweite Modus kann als ein Raum beschrieben werden, in dem die Probleme der Dokumentation im Kontext einer radikalen Neudefinition des skulpturalen Mediums erforscht wurden. Ein solcher Raum war das Atelier von Hansen und Jarnuszkiewicz an der Warschauer Akademie der Schönen Künste.189 Die dort Lehrenden und Studierenden, 185 Vgl. hierzu die Kapitel 1.4.2.1 in dieser Arbeit sowie die folgenden Publikationen: Piotrowski 1994. – Piotrowski 2005/II. – Piotrowski 2006. – Piotrowski 2008. – Piotrowski 2009/II. – Piotrowski 2009/III. 186 Vgl. Nader 2012, 524. Nader bezieht sich hier ebenfalls auf das von Piotr Piotrowski entwickelte Konzept der horizontalen Geschichte. Vgl. Piotrowski 2009/IV. 187 Vgl. Nader 2012, 523. 188 Vgl. ebd. 189 Vgl. ebd.

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zu denen auch KwieKulik gehörten, interessierten sich für den Übergang nutzungsorientierter Dokumentation sukzessiver Stationen im Produktionsprozess eines skulpturalen Objekts zum unbestimmten Prozess als solchem. Sie fragten nach Rolle und Nutzen der Fotografie in der Konstruktion von Form und vertieften sich in intermediale und intersubjektive Aktionen, Spiele und Konversationen. Die an den Experimenten Beteiligten diskutierten adäquate Dokumentationsmodi visueller Kommunikation und suchten nach Modi, die einen integralen Teil statt eines bloßen Echos bildeten.190 Der dritte von Nader definierte Modus bezieht sich auf Künstlerinnen und Künstler, die ihre Arbeiten selbst archivierten, Fotografinnen und Fotografen, die das künstlerische Milieu dokumentierten sowie avantgardistische und neoavantgardistische Galerien von unterschiedlichem institutionellem Status, in denen die Dokumentation in Bezug auf die aufgezeichneten Praktiken als indexikalisch betrachtet wurde.191 Wie Nader feststellt, nutzten KwieKulik in ihrem Archiv die Techniken und Taktiken der ersten beiden Modi. Das KwieKulik-Archiv nahm jedoch einen vollkommen anderen Stellenwert als die sogenannten Autorengalerien im Feld der Kunst ein. Das Archiv war von Anfang an ein privates Unternehmen. Wie in Kapitel 4.3.2 bereits dargestellt wurde, scheiterten alle Versuche, es zu institutionalisieren. Nader macht darauf aufmerksam, dass das KwieKulik-Archiv sich, ähnlich wie die avantgardistischen Institutionen im post-revolutionären Russland, mehr auf ein wissenschaftliches als auf ein künstlerisches Ethos bezog. Das Künstlerduo fokussierte den Prozess des Forschens und versuchte theoretische Reflektion und künstlerische Praxis zu vereinen.192 Nach Mościcki dokumentierte und verbreitete das PDD iU KwieKuliks nicht bloß reine Fakten oder Aktionen, sondern auch deren Möglichkeiten, weshalb er es als „bank of aesthetic possibilities“ 193 bezeichnete. Seiner Meinung nach sei das Politische der Arbeiten KwieKuliks in der Problematisierung der Art und Weise lokalisierbar, wie Bilder in der vorherrschenden Norm verankert seien. Die künstlerische Praxis KwieKuliks ermögliche es, die Codes zu erkennen, die durch die herrschende Macht produziert und vorgegeben werden.194 Mit dem PDDiU schufen KwieKulik ein einzigartiges Archiv von Aktivitäten. Erstens ist das Archiv eine Ansammlung von Versuchen, den Raum des sozialen Austauschs zu beeinflussen. Es demonstriert die Möglichkeit, ein alternatives Netzwerk der Relationen und Konstellationen aufzubauen – sowohl visuell als auch sozial. Alles sollte für alle verfügbar sein und zu einer Fortführung der Experimente außerhalb des Ateliers ermutigen. Zweitens war das Archiv Ausgangspunkt für Aktionen und notwendiger 190 Vgl. ebd. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. Nader 2012, 524. 193 Mościcki 2012, 521. 194 Ebd.

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Vermittler zwischen Kunstschaffenden und öffentlicher Sphäre. Nicht nur die Erzeugung eines Effekts durch Bilder war das Ziel KwieKuliks, sondern zugleich die Produktion von Bildern und die Neubestimmung ihrer Nutzung.195 Für die Veröffentlichung und Verbreitung ihrer künstlerischen Arbeit nutzten KwieKulik eine bestimmte Form der Mail Art, die sie „Mail-Outs“ nannten: Leaflets and invitations sent out since 1973 in various quantities (from a few to several dozen copies). KwieKulik presented their views on current issues, criticized negative phenomena and attitudes to the so-called artistic life – more than twenty such publications have been issued. In the People’s Republic of Poland, mechanical reproduction of printed matter without the official censor’s permission was impossible. KwieKulik used a photographic method instead: a template (typed text plus graphics) was photographed and then copies on photographic paper were produced using an enlarger in the darkroom. Additionally, other artists also approached KwieKulik when they wanted to duplicate and distribute a document.196

Die Behörde in der Volksrepublik Polen, die die staatliche Zensur ausübte und kontrollierte hieß Główny Urząd Kontroli Prasy, Publikacji i Widowisk (Hauptbüro für Presse-, Publikations- und Aufführungskontrolle; Abk.: GUKPPiW). Sie wurde 1945 gegründet und überprüfte die Inhalte von Pressepublikationen, Radio- und TV-Sendungen, Theater­ vorstellungen und anderen Aufführungen sowie von Ausstellungen im Hinblick auf ihre Konformität mit der aktuellen Staats- und Parteipolitik. Die Verbreitung illegaler Inhalte war ein kriminelles Vergehen. Das staatliche Monopol wurde durch das Aufkommen illegaler Verleger untergraben, die für ihre Publikationen einfache, selbstgebaute Geräte nutzten. Da es bis auf die Vervielfältigung in Form weniger Kopien verboten war, Drucksachen privat zu veröffentlichen, fertigten KwieKulik oftmals fotografische Reproduktionen ihrer „Mail-Outs“ an, um dieses Verbot zu umgehen.197 Nachdem das Reiseverbot 198 gegen KwieKulik aufgehoben worden war, unternahmen Kulik und Kwiek vom 3.5. bis zum 14. 6. 1981 eine Reise durch Europa und besuchten unterschiedliche Kunst- und Kulturinstitutionen in Belgien, Holland, West- und Ostdeutschland und Polen.199 Sie reisten mit ihrem Auto, Zelt und Campingausrüstung und führten künstlerische Materialien, Dias, einen Projektor sowie eine Fotografieausrüstung mit sich. Dies gab ihnen die Möglichkeit, ihre Dokumentationen unterwegs zu präsentieren und ihr 195 Ebd., 522. 196 Siehe hierzu den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 467. 197 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: ebd., 475. 198 Zum Reiseverbot gegen das Künstlerduo vgl. Kapitel 4.4.3.1. 199 Alle Reisestationen sowie die Begegnungen mit Akteurinnen und Akteuren im Kunstbetrieb sind fotografisch dokumentiert und befinden sich im KwieKulik-Archiv. Vgl. Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 338 – 341.

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Archiv und Atelier PDDiU quasi mobil mit sich zu führen. In Düsseldorf präsentierten sie ihr Material vor dem Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner und Kunsttheoretiker Joseph Beuys in seiner Free International University an der Kunstakademie. Beuys erinnerte sich an die „correspondence performance“ 200 des Künstlerduos im Zusammenhang mit dem Festival in Arnheim 1978 und empfing sie daher in seiner Wohnung am Drakeplatz. Anschließend lud er sie ein, ihr Material an der Kunstakademie zu präsentieren, woraufhin sie eine ihrer Routine-Diashows vorführten. Beuys reagierte überschwänglich und bestätigte seine Begeisterung auf Wunsch des Künstlerduos schriftlich, so dass ihr Besuch bei ihm sowie seine Reaktion auf ihre Arbeiten in einem Dokument belegt sind.201 4.4.2.2 Die unterbrochene (Wieder-)Aufführung KwieKulik führten ihre Aktionen zu Hause in ihrer Wohnung oder im Rahmen von Künstlerfestivals durch. Die Anzahl der Zuschauenden bei den Performances variierte. Meist waren es nur wenige Leute, die durch Hörensagen von der geplanten Aufführung erfahren hatten. In ihrer Wohnung organisierten KwieKulik auch Ausstellungen, zu der sie Besucherinnen und Besucher einluden. Sonst führten sie die działania in ihrer Wohnung nur für die Kamera durch.202 Bei Festivals waren um die 50 Zuschauerinnen und Zuschauer anwesend.203 Diese größeren Festivals für junge Künstlerinnen und Künstler, plenery (Freiluftveranstaltungen) genannt, wurden zu Beginn der 1960er Jahre als vom Staat gelenkte Initiativen eingeleitet, einerseits um die „kulturelle Bewirtschaftung der West- und Nordgebiete“ 204 anzukurbeln und dort leerstehende Industrieanlagen zu nutzen, andererseits um die Offenheit Polens gegenüber der internationalen Künstlergemeinde und Jugend zu demonstrieren. Außerhalb der anerkannten städtischen Zentren der Kunst organisierte die Staatsmacht landesweit künstlerische Ereignisse unter dem Motto „Bündnisse der Welt der Arbeit mit der Kultur und Kunst“ 205. Auch Künstlerinnen und Künstler, die die offizielle Kulturpolitik ablehnten, nahmen an diesen vom Staat unterstützten Freiluftveranstaltungen teil, die eine Illusion künstlerischer Freiheit schufen und wie eine Art Kurzurlaub Erholung von der Stadt boten.206 Im Jahre 1961 begründete der Künstler Gerhard Jürgen Blum-Kwiatkowski die Galerie EL in Elbląg, die sich das Potential der 200 Die Aktion wird in Kapitel 4.4.3.1 genauer beschrieben. Vgl. hierzu auch den Eintrag im KwieKulikWerkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 337. 201 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: ebd., 337 – 341. 202 Kulik in: Interview Kühn – Kulik I. 203 Przemysław Kwiek zu der Anzahl der Besucherinnen und Besucher bei PDD iU-Aufführungen: „[…] For 300 invitations, 50 people – that is normal, unfortunately.“ In: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 204 Rottenberg 1999, 210. 205 Ebd., 211. 206 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 498.

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Metallwerke Zamech zu Nutze machte: Sie organisierte dort regelmäßig die Biennale Form Przestrzennych (Biennale Räumlicher Formen).207 Im Jahre 1963 rief man zwei weitere Veranstaltungen ins Leben: das Festiwal Złotego Grona (Festival des Goldenen Kreises) in Zielona Góra und die Koszalińskie Plenery, Freiluftveranstaltungen in Osieki. Kurze Zeit später wurde der Zjazd Marzycieli (Kongress der Träumer) in den Stickstoffwerken in Puławy initiiert, an dem im September 1971 auch KwieKulik teilnahmen.208 Die Popularität dieser Festivals übertraf die Erwartungen der Staatsmacht bei weitem. Endlich hatten Avantgardekünstlerinnen und -künstler aus allen Landesteilen die Möglichkeit, sich zu treffen. Außer den künstlerischen Aktivitäten fanden hier auch Diskussionen und wissen­schaftliche Symposien statt, an denen die besten polnischen Kunstkritikerinnen und -kritiker, Literaturkennerinnen und -kenner sowie Komponistinnen und Komponisten zeitgenössischer Musik teilnahmen. Das Festiwal Studentów Szkół Artystycznych (Festival der Studierenden von Kunsthochschulen) vom 25. bis 30. 6. 1971 in Nowa Ruda beispielsweise war ein wichtiges Forum, auf dem sich die junge Avantgardegemeinschaft Polens präsentierte. Für die Teilnehmenden bot die Veranstaltung Möglichkeiten, Kontakte zu einer größeren Künstlergemeinschaft zu knüpfen und potentielle Verbündete im Ringen um eine neue Avantgardekunst zu finden. Die Mehrheit der Künstlerinnen und Künstler hielten in den darauffolgenden Jahren den aktiven Kontakt zueinander. Die Zeit der Freiluftveranstaltungen endete mit dem Sympozjum Plastyczne Wrocław ’70 (Künstlersymposium Wrocław ’70).209 Kurze Zeit später entstand ein Netz unabhängiger Galerien.210 Bereits in den 1970er und 1980er Jahren führten KwieKulik das während ihrer Performances und Aktionen entstandene Dokumentationsmaterial in Form von Diashows auf. Oft waren diese Diashows Mehrkanalprojektionen, bei denen Filme und Dias parallel auf drei Leinwände projiziert wurden. Im Elbląski Dom Kultury (Kulturhaus Elbląg; Abkürzung: EDK )211 wurde zum Beispiel im November 1971 eine Multimediaprojektion aufgeführt: Auf die Leinwand neben dem Film Offene Form wurden synchron Dias projiziert. Die Begleitmusik aus dem Film Woodstock (USA 1970)212 kam von einem 207 Vgl. Rottenberg 1999, 211. Die Zamech-Werke waren nicht nur Kooperationspartner, sondern unterstützten die Biennale auch in materieller Form: „[…] the local ship turbine manufacturing plant, Zamech, which provided material and technical support.“ Siehe den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 472. 208 Vgl. Rottenberg 1999, 211. Vgl. hierzu auch den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 85 – 87. 209 Vgl. Gromadzka 2015. 210 Vgl. Rottenberg 1999, 211. 211 In der Volksrepublik Polen gab es ein Netzwerk von Kulturhäusern in Groß- und Kleinstädten. Sie waren zuständig für Anregung und Kontrolle des künstlerischen Lebens in der jeweiligen Region. Vgl. hierzu den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 477. 212 Vgl. hierzu die Beschreibung der Aktion von Kovanda in Kapitel 2, bei der er einen Song von Bob Dylan vom Kassettenrecorder abspielte.

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Kassettenrecorder, der unter der Leinwand platziert war. Die Projektion wurde im Rahmen eines Polnischunterrichts einem Publikum vorgeführt, das unter anderem aus Oberstufenschülerinnen und -schülern bestand. Nach der Veranstaltung wurden diese gebeten, Fragebögen auszufüllen und später im Unterricht, Essays über die gesehenen Projektionen zu schreiben.213 KwieKulik bezeichneten diese Vorführungen auch als „interrupted projections“ 214. In den Pausen wollten sie das Publikum aus seiner Passivität herausreißen und zu eigenen Aktivitäten – ähnlich denen auf der Leinwand – anregen: Our basis was to have a continuation of what had been going on the screen during the breaks – filmed activities with the public, namely „a provocation with a camera“. In other words – provoking the audience to do something instead of only watching passively what the artist had done. We also planned to have some live activities with various materials, something that today is called „performance“. Finally – the projection on a screen, besides the film, corresponding slides from three projectors, that is a multiprojection.215

Während des Festivals in Nowa Ruda zeigten Kulik, Kwiek und Jan Wojciechowski eine Projektion des Films Offene Form und zwei Diashows synchron auf drei Leinwänden. Hier wandten sie zum ersten Mal ihr Konzept der unterbrochenen Aufführung (interrupted projection)216 an: „[T]hey suddenly stopped the projection of a film, turned on the lights in the cinema, and initiated a collaboration with the audience (which was filmed by the Newsreel).“ 217 Wie ein Kommentar Kuliks zu der Aufführung in Nowa Ruda am 26. Juni 1971 nahelegt, sollten die Filme und Dias nicht das Endprodukt darstellen, sondern ihre unterbrochene Projektion einen weiteren Raum für Aktivitäten eröffnen: Having watched this film, one could think that our goal was what was recorded on c­ amera. Meaning a film. This is not the case. […] Our goal is to show work as it happens, recorded by the camera in the first place. These notes constitute the capital which we draw on (in the second place). Treating it as the beginning of something happening after the projection was

213 Vgl. den Werkeintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 88. 214 Kwiek in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 215 Aussage von Kulik ebd. 216 Aussage von Kwiek ebd. 217 Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkkatalog in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 80. Siehe hierzu auch die Aussagen Kwieks im Interview mit Sitkowska: „We did so called ‚interrupted projections‘. The first public projection took place at the Festival of Art School Students in Nowa Ruda in the June of 1971 […] we presented the film ‚Open Form‘ as an interrupted projection combined with the presentation of Zosia’s slides on three screens.“ Siehe: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. [Zosia ist eine Koseform von Zofia.]

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interrupted, the lights were turned on, and there was a transition from the two-dimensional plane of the activity on the screen into a three-dimensional solid in reality […].218

Passivität war für KwieKulik ein typisches Merkmal der Rezeption im „Closed Form culture model“ 219. Einige der in ihren Augen zu vermeidenden Eigenschaften des „Closed Form communication model“ 220 identifizierten sie in der Praxis einer gewöhnlichen Kinovorführung. Im Rahmen einer viertägigen Veranstaltung in der Galerie Współczesna (Zeitgenössische Galerie)221 in Warschau vom 30.11. bis 4. 12. 1971 führten Zofia Kulik, Przemysław Kwiek, Jan S. Wojciechowski, Paweł Kwiek, und Jacek Łominski eine Serie von Aktionen durch, die sie Film, Przeźrocza, Działania, Teoria (Film, Dias, Aktivitäten, Theorie) nannten. Alle Begegnungen wurden in einer interaktiven Art und Weise durchgeführt.222 Die Künstlerinnen und Künstler luden junge Leute ein, an den Aktivitäten teilzunehmen. Eine Gruppe junger Menschen formierte sich zum Beispiel zu einer Leinwand, auf die unter anderem Szenen aus dem Film Offene Form projiziert wurden.223 Die Zuschauenden bei den Vorführungen auf Festivals waren vornehmlich junge Leute: „[…] those festivals attracted mostly art students and mostly they were the viewers at all presentations, so – strictly speaking – it was also a professional milieu.“ 224 Die Reaktionen auf die Multiprojektionen KwieKuliks sahen unterschiedlich aus. Kulik erinnert sich an die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler in Elbląg: However, in Elblag [sic] we made presentations for the grammar school pupils and – I do not want to say young workers, but it is a fact that they were young working people. We presented them our works which, at that time, did not manage to reach the circles of official art. Actually these works do not reach them today either! It was the film „Open Form“, the

218 Auszug aus einer Erklärung Kuliks auf einem Flyer mit der Ankündigung einer „interrupted projection“ im Kino des Nowa Ruda-Kulturzentrums (NOK) am 26. Juni 1971. Siehe: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 80 [Hervorh. im Orig.]. 219 Zoller 2011, 173. 220 Ebd. Zoller bezieht sich hier auf Ronduda 2009/II, 12. 221 Diese Galerie wurde damals geleitet von Maria und Janusz Bogucki. Siehe den Eintrag im KwieKulikWerkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 90. 222 Zoller hat die Multimediaprojektionen KwieKuliks in Zusammenhang mit dem Begriff „Expanded Cinema“ untersucht. Einerseits wiesen die „interrupted projections“ viele Ähnlichkeiten mit künstlerischen Arbeiten aus Westeuropa und den USA auf, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden. Andererseits weist Zoller auf die Gefahr der Fehlinterpretation hin, wenn englische Begriffe aufgrund formaler Ähnlichkeiten global verwendet werden, obwohl die Praktiken in unterschiedlichen soziopolitischen Kontexten lokalisiert sind. Vgl. Zoller 2011, 173. 223 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 90. 224 Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995.

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slides – everything with background music and all these, as some people called them, „bits of fun“ that we presented to school pupils in an organised way, e. g. during their Polish lessons. We got their reaction in the form of questionaires and essays in which, as far as I remember, there were only a few original interpretations, yet, they were the free and spontaneous observations of those young non-professionals. So, the pupils noticed apparently unimportant things, some details totally beyond the „serious“ field of interpretation.225

Wie das Zitat Kuliks zeigt, ging die künstlerische Intention teilweise an den Rezipientinnen und Rezipienten vorbei, doch es gab auch Veranstaltungen, bei denen KwieKulik ihr Ziel erreichten, nämlich die Routinemuster in bestimmten Milieus zu dekonstruieren: „It is connected with a certain ethos of counterculture art: to provoke the destruction of routine patterns in some milieux.“ 226 Nach einer Aussage von Przemysław Kwiek seien einige Teenager nach der Rezeption dieser Diashows „hippies and punks“ geworden, da sie ihnen die alltägliche Routine vor Augen führte, in der sie sich befanden: With the teenagers at school, this worked out ideally! In Elblag and with those kids from the „Open Form“. After our presentation, they became, if I may oversimplify, hippies and punks. They just saw for a moment in what routine they are submerged.227

KwieKulik sahen es als ihre Aufgabe, die Reaktionen der unterschiedlichen Publika zu antizipieren. Assoziationen im Bewusstsein der Rezipientinnen und Rezipienten ihrer Werke, die sie nicht voraussehen konnten, nannten sie „Wilde Assoziationen“ (wild associations)228 und definierten sie als: Activities, that are not consistent with the intentions or assumptions of the work’s or Activitiy’s author. A wild association can even arise in the mind of the author, an interpretative appropriation of the work. The author should foresee the type and number of possible Wild Associations.229

Die Betrachtenden werden von Kwiek explizit als Teilnehmende an den verschiedenen Aktionen genannt: 225 Aussage Kuliks ebd. Vgl. hierzu auch den Abdruck von vier Essays von Schülerinnen und Schülern, die die Projektionen in Elbląg gesehen hatten, im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/ Schöllhammer 2012/II, 89. 226 Aussage Kwieks in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 227 Aussage Kwieks ebd. 228 Siehe den Eintrag zu „Wild Associations“ im KwieKulik-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 469. 229 Ebd.

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A person acting in our interchangeable Dzialania and games like in „Open Form“ (on Ewa’s face in the tv studio) or during a game with the public in Torun 1972 gained one or many active companions who co-operated with the person either positively or negatively. In „Activities upon the head“ („Dzialania na głowe“), or to the head, the active subject had a partner who was passive but co-experiencing. All this might happen with the third co-experiencing party: the viewers.230

Nach Ronduda war es die Aufgabe der Künstlerin oder des Künstlers: [to create] a „frame“, using a specific method, a „context of work“, into which the viewer is invited […] so that in the course of his own creativity, the viewer participates in the making of the work.231

Spätere politisch-propagandistische Aktionen der Künstlerinnen und Künstler, wie beispielsweise „Proagit 2“, die am 25. 6. 1972 in der Galerie Współczesna in Warschau stattfand, waren als geschlossene Veranstaltungen konzipiert, zu denen vor allem „Partei- und Verwaltungsfunktionäre und weniger KunstkennerInnen“ 232 eingeladen wurden: „The ‚spectacle‘ was a closed show with invitations sent only to the political and administrative officials and other people from the art world.“ 233 4.4.3 Künstlerisch-politische Protestaktionen 4.4.3.1 Kunst als Protest: Pomnik bez paszportu (Denkmal ohne Reisepass) (1978) In den Jahren von 1974 bis 1979 wurde Kulik und Kwiek das Recht zu reisen entzogen, da sich die polnische Regierung durch Werke beleidigt fühlte, die sie in der Ausstellung 7 Young Poles vom 25.8. bis 9. 9. 1975 in der Kunsthalle in Malmö ausgestellt hatten. Noch als Studierende hatten Kulik und Kwiek 1968 eine „geradezu plakativ symbolische Figur“ 234 mit dem Titel Człowiek – Kutas (Der Mensch – ein Schwanz) geschaffen (Abb. 36). Es handelte sich dabei um eine Plastik in Gestalt eines Phallus mit menschlichem Unterkörper. Die Figur stellte laut Rottenberg eine Anspielung auf den Charakter von Personen in Führungspositionen dar.235 Tatsächlich wurde jedoch nicht die Plastik an sich, sondern ihre Kombination mit einem zweiten Motiv im Ausstellungskatalog als problematisch angesehen, die allerdings von den Grafikdesignerinnen und -designern des Katalogs und nicht von KwieKulik hergestellt worden war: Eine Reproduktion des 230 Aussage Kwieks in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 231 Ronduda 2006. 232 Vgl. Ronduda 2007, 197 und 200. 233 Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 116. 234 Rottenberg 1999, 212. 235 Ebd.

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Abb. 36  KwieKulik, Człowiek – Kutas (Der Mensch – ein Schwanz), 1968.

Definitionen, Werkbegriff, mediale Strategien und politische Aktionen  |

„Schwanz-Menschen“ wurde direkt neben einer Fotografie abgebildet, auf der im Hintergrund der polnische Adler zu sehen war.236 Das Künstlerduo reagierte auf das Reiseverbot 237 mit der Aktion Pomnik bez paszportu w Salonach Sztuk Pięknych (Denkmal ohne Reisepass in den Salons der Schönen Künste) auf der Ogólnopolskie Biennale Sztuki Młodych (Gesamtpolnische Biennale Junger Künstler) in Sopot im Oktober 1978 (Abb. 37). Im September 1978 waren KwieKulik zum Behavior Workshop 238 im Rahmen des International Festival of the Arts (IFAA)239 in Arnheim nach Holland eingeladen worden.240 Nach dem Vorfall in Malmö bekamen sie jedoch keine Reisepässe mehr ausgestellt: Es war ihnen verboten zu reisen und ihr Heimatland im Ausland zu repräsentieren. Weil sie nicht an dem Festival in Arnheim teilnehmen konnten, schlugen KwieKulik eine „correspondence performance“ 241 vor. Sie schickten an alle anderen Teilnehmenden dieses Workshops einfache Postkarten, auf die sie die Passfotos, die sie ursprünglich für ihre Reisepässe gemacht hatten, in besonderer Art und Weise klebten: „[…] on a postcard-size sheet of paper, they stuck their passport photos face down, so that they could only be seen against strong light.“ 242 Die Organisatorinnen und Organisatoren des Festivals führten daraufhin eine von KwieKulik konzipierte Performance durch: Während der Zeit, die ein Topf Wasser braucht um zu kochen und wieder abzukühlen, schrieben die Teilnehmenden Grüße an KwieKulik auf zuvor verteilte Postkarten. Die Anleitung lautete wie folgt: […] one of the organizers will sit at a large table. He will put the kettle on. When the water boils, he will turn it off. As the water begins to cool down, he will invite those who have met KwieKulik personally to sit at the table and, possibly answer the questions of those that have not met them.243

236 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 208 f. 237 Vgl. Carr 1987, 93. – Rottenberg 1999, 212. – Ausst. Kat. Wrocław 2009, 255. 238 Der Behavior Workshop in Arnheim wurde von zwei englischen Künstlern, bekannt als Reindeer Werk, kuratiert. Reindeer Werk hatten kurz zuvor das Archiv-Atelier KwieKuliks in Warschau besucht. Der Einladungstext lautete: „[…] the idea was to invite several artists working ‚in‘ and ‚with‘ human behavior“. An dem Treffen nahmen u. a. Joseph Beuys, Marina Abramović und Ulay teil. Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 289. 239 „The focus of the 1978 festival was on experimental art: theatre, music and the visual arts. The visual arts section featured another edition of the ‚Behavior Workshop‘, held for the first time during Documenta 6 in Kassel in 1977. The section curators were Thom Puckey and Dirk Larsen of the Reindeer Werk duo.“ Siehe den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 472. 240 Vgl. Ausst. Kat. Wrocław 2009, 53. 241 Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 289. 242 Ebd. 243 Teilnehmende waren u. a.: Thom Puckey, Dirk Larsen, Ulisses Carrion, Aggy Smeets, Jan Brand, Marga van Mechelen, Albert van der Weide und Hans Eykelboom. Vgl. ebd.

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Abb. 37  KwieKulik, Pomnik bez paszportu (Denkmal ohne Reisepass), Aktion im Rahmen der Gesamtpolnischen Biennale Junger Künstler, Sopot 1978.

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Die Teilnehmenden schrieben ihre Postkarten „to raise the spirits of the Polish artists“ 244. Mit dem Abkühlen des Wassers im Kessel endete die Performance. In der Erstausgabe des Katalogs des Behavior Workshops, von dem es zwei Editionen gab, veröffentlichte das Künstlerduo außerdem eine poetische Version des Textes über ihr Konzept całostka.245 Nach der Aktion empfingen KwieKulik über 20 Postkarten mit dem Festivalstempel. Etwas später folgte eine Postkarte von Beuys.246 Die darauffolgende Aktion Pomnik bez paszportu (Denkmal ohne Reisepass) im Oktober 1978 in Sopot gehörte zu einer Serie von Aktionen mit dem Titel Działania na głowę (Einwirkungen auf den Kopf )247 und gestaltete sich folgendermaßen: Zunächst wurden die Zuschauenden in zwei Gruppen geteilt: 1. Freunde und Bekannte des Künstlerduos, 2. alle Teilnehmenden, die KwieKulik nicht kannten. Die erste Gruppe betrat den Saal und sah Kulik auf einem niedrigen Podest sitzend, während ihr Kopf aus dem Loch der Platte eines Tisches ragte, der über ihr stand. Kulik las ihren und Kwieks Brief an die Organisatoren in Arnheim vor, indem beide erklärt hatten, warum sie nicht an dem Behavior Workshop teilnehmen konnten. Anschließend betraten auch alle übrigen Teilnehmenden den Saal und sahen Kulik vornübergebeugt, den Kopf noch immer in der Tischplatte steckend, so dass sich die nun senkrechte Tischplatte in eine Projektionsfläche verwandelte. Das Licht erlosch. Auf die Tischfläche mit dem daraus hervorragenden Kopf wurden Dias von der gesamtpolnischen Freiluftausstellung Młoda Rzeźba (Junge Skulptur) in Legnica von 1971 projiziert. Währenddessen ertönten aus einem Kassettenrekorder auf dem Fußboden English Lessons. Mit dem Ende der Diashow wurde das Licht wieder eingeschaltet. Kulik bewegte sich, weiterhin mit dem Kopf in der Tischplatte, etwas näher zum Publikum und setzte sich auf den Boden. Kwiek baute eine flache rechteckige Kiste, in die er Kuliks Füße stellte und goss Gips hinein, den er mit Werg verstärkte. Kopf und Füße der Künstlerin waren nun bewegungsunfähig. Als die Gipsmasse fest war, entfernte Kwiek sowohl den Holzrahmen als auch den Tisch. Kuliks Füße steckten fest in der Gipsmasse, die einen schmalen Sockel formte, der Kopf war jedoch wieder befreit. Einer der Zuschauer (Daniel Wnuk) half Kwiek, Kulik zurück auf das Podest zu tragen. Anschließend streckte Kulik ihre Hand nach oben, in der sie eine Mappe mit dem Titel „POMYSŁY NA ARNHEM “ (Ideen für Arnheim) hielt. Kwiek durchschnitt ein Band, das um eine an der Wand 244 Ebd. 245 Vgl. ebd. 246 Beuys schreibt seine Postkarte erst einige Zeit nach dem Event, bezieht sich jedoch darauf: „Düsseldorf, 30.10.78, Dear friends, it was nice and stirring to have received your message. Joseph Beuys, with love“. Siehe ebd. 247 Vgl. hierzu die Aktion Działania na głowę, trzy odsłony (1978) im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 294, außerdem die Aktion Działanie na gliniane głowy (1981), ebd., 349, sowie die Aktion Banan i granat (1986), ebd., 390.

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hängende Papierrolle gewunden war, und enthüllte so die Inschrift „POMNIK BEZ PASZPORTU W SALONACH SZTUK PLASTYCZNYCH “ (Denkmal ohne Reisepass in den Salons der Bildenden Künste). Nun setzte Kwiek sich auf einen Stuhl, der neben Kulik stand. Der Gipssockel, in den die Beine des Stuhls eingelassen waren, war mit dem Sockel verbunden, in dem Kuliks Füße steckten. Kwieks Hände lagen auf seinen Knien, sein Blick blieb gesenkt. In dieser denkmalartigen Situation verharrten die Künstler für etwa 12 Minuten wie eingefroren.248 Im KwieKulik-Archiv befindet sich eine Skizze (Text und Zeichnungen) zu der Aktion, die auf den 2. Oktober 1978 datiert ist. Zudem findet sich dort eine ausführliche Beschreibung der Performance. Einzelne Sätze daraus wurden später zusammen mit den Fotografien ausgestellt, die die Performance dokumentierten.249 Innerhalb der Performance gab es bereits mehrere Medialisierungsebenen: Zum einen wurden in der Aktion Dias verwendet, die eine Medialisierung des zuvor stattgefundenen Mail Art-Austausches darstellten. Zum anderen wurde die Aktion in Sopot durch mehrere Schwarzweißfotos dokumentiert. Meist jedoch wird stellvertretend für die gesamte Aktion nur die Fotografie publiziert, auf der Kulik, die Füße einbetoniert, die Hand mit den „Ideen für Arnheim“ in die Luft streckt, während Kwiek neben ihr auf dem Stuhl sitzt. Diese Fotografie wurde zu Ende der soeben beschriebenen Aktion von der Seite aufgenommen. Die Fotografin oder der Fotograf stand etwas tiefer als Kulik und Kwiek. Dadurch wurden die beiden Figuren monumentalisiert. Der Schatten Kuliks an der hinteren Wand dramatisierte die Szene. Oft wiederholten KwieKulik die Aktion direkt nach der Aufführung noch einmal ohne Publikum nur für die Kamera. Bei anderen Events drückte das Künstlerduo seine Kamera befreundeten Künstlerinnen oder Künstlern in die Hände, die dann die Aktion dokumentierten. Die Rechte an diesen Fotografien besitzen jedoch KwieKulik. Kulik betont, dass sie sich immer als Autorin und Autor oder Schöpferin und Schöpfer der gesamten Situation gesehen haben. Für Kulik und Kwiek war immer die Aktion das eigentliche Kunstwerk. Die Fotografien haben für sie keinen von ihrer eigenen Arbeit unabhängigen künstlerischen Wert und die Fotografin oder der Fotograf wird – auch wenn er bekannt ist – nie genannt.250

248 Die Beschreibung der Performance endet mit den Worten: „The situation lasted less than 20 minutes. The end.“ Ich beziehe diese Zeitangabe auf die Performance insgesamt. In dem Eintrag zur Aktion im KwieKulik-Werkverzeichnis findet sich nämlich ebenfalls eine Zeitangabe für den letzten Teil der Performance, in dem Kulik ihre Hand in die Luft streckt: „This monument like situation was then held in this static pose for a dozen or so minutes.“ Siehe ebd., 291 f. 249 „Separate phrases of the description were printed on consecutive photographs documenting the performance.“ Siehe ebd., 292. 250 Kulik in: Interview Kühn – Kulik I.

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4.4.3.2 Der Körper als Skulptur: Bezüge zum und Abgrenzung vom Sozialistischen Realismus Da sowohl die totalitären Systeme in Ostmitteleuropa als auch die Performance- und Aktionskünstlerinnen und -künstler den Körper in den Mittelpunkt stellten, boten Performances und Aktionen eine Möglichkeit, den Totalitarismus zu kritisieren. ­Katarzyna Michalak hebt, sich auf Pejić beziehend, besonders die Körpermetaphern in der politischen Sprache hervor: The communist system, as all totalitarian systems, appealed to the metaphor of the body. „This language contained many biologistic metaphors such as the body of the institution, state organs or the hand of justice“ […]. It is significant that both totalitarian discourse and performance artists use the metaphor of the body. For the former the body is a universal but abstract model of society, while the latter insist on their own individual and concrete bodies.251

Für die totalitären Systeme stellte der starke und gesunde Körper demnach ein abstraktes Modell für die ideale Gesellschaft dar – er symbolisierte beispielsweise den Kollektivkörper oder den Volkskörper. Performance- und Aktionskünstlerinnen und -künstler hingegen betonten nach Michalak ihren eigenen, individuellen und konkreten Körper. Wie in der Beschreibung von Denkmal ohne Reisepass bereits angeklungen ist, nehmen KwieKulik in ihrer Aktion Bezug auf Denkmäler im Stil des Sozialistischen Realismus (Abb. 37). An der Stelle, an der Kwiek Kuliks Füße in Gips fixiert, findet ein Umschwung statt: von der Penetration des Körpers mit Bildern hin zu einer Umwandlung des Körpers in eine Skulptur.252 Die Füße von Kulik sowie die Beine des Stuhls, auf dem Kwiek zum Schluss der Aktion sitzt, sind einbetoniert und unbeweglich. Kulik streckt ihre Hand in einer triumphierenden Geste nach oben. Beide – Kulik und Kwiek – verharren regungslos. Das Paar aus Mann und Frau, das die arbeitende Klasse personifiziert, indem es Harmonie und dynamische Einheit der neuen Gesellschaft ausdrückt, hat eine lange Geschichte im Sozialistischen Realismus.253 Modelle für dieses Paar konnten in Form schematischer Figuren auf Postern, Briefmarken und Erinnerungsmedaillen in der gesamten ehemaligen Sowjetunion gefunden werden. Vorbilder fanden sich auch in Malerei und Skulptur der offiziellen Kunst in der Sowjetunion in Form heroischer Allegorisierungen von Frau und Mann, die die Ikonografie des Paares in der russischen Kunst der späten 1920er und der 1930er Jahre bildeten.254 Die Kunsthistorikerin Ewa 251 Michalak 1999, 16. 252 Ausst. Kat. Wrocław 2009, 53. 253 Vgl. Franus 2010, 75 f. 254 Vgl. ebd., 76.

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Franus beschreibt zwei Beispiele von männlich-weib­lichen Paaren aus dieser frühen Phase des Sozialistischen Realismus, bevor sie zu Vera Muchinas Rabočij i kolchoznica (russ. Рабочий и колхозница [Arbeiter und Kolchosbäuerin] ) von 1937 für die Pariser Weltausstellung kommt: „The sculpture is definitely the climax of the tendency to adjust gender difference to the ideology of the unity of the nation, state, and working class.”255 Muchinas Skulptur war auch außerhalb der Sowjetunion sehr bekannt: Eine Reproduktion des Werkes eröffnete jeden Film, den die russische Filmgesellschaft Мосфильм (Mosfilm) produzierte.256 Auch Ronduda vergleicht die Aktion Denkmal ohne Reisepass mit Denkmälern im sozrealistischen Stil, die in den 1960er bis 1980er Jahren von der Werkstatt Bildender Künste in Warschau in Auftrag gegeben und errichtet wurden (Taf. 13 – 15).257 Auch wenn in Polen der Sozialistische Realismus bereits seit 1955 nicht mehr vorgeschrieben war, so war er dennoch allgegenwärtig: In Warschau standen auf allen zentralen Plätzen Denkmäler im monumentalen Stil und auch die Fassaden trugen in weiten Teilen der Stadt Reliefs mit Heldinnen und Helden im sozrealistischen Stil. Die Aktion KwieKuliks stellte, wie auch der Titel verrät, eine ironische Referenz an diese im Auftrag der PSP produzierten Denkmäler dar.258 Beim Vergleich der Fotografien der Aktion Denkmal ohne Reisepass mit den sozrea­ listischen Denkmälern fällt zunächst die triumphierende und kämpferische Geste auf, mit der sowohl Kulik als auch die Nike und der Kościuszko-Soldat ihren Arm in die Luft strecken (Taf. 13, 14).259 In der Aktion sind es jedoch keine idealisierten Statuen, keine steinernen Heldinnen oder Helden, sondern echte lebendige Menschen, denen das Reiseverbot erteilt wird, es ist ein „lebendes Monument“.260 Kuliks Füße sind zwar einbetoniert, aber sie wird etwas geschwankt haben während der Performance, um das Gleichgewicht zu halten. Kwiek hat die Augen gesenkt. Seine Hände liegen zwar gemessen auf seinen Knien, doch er blickt nicht zielgerichtet nach vorne. Die Fotografie dokumentiert die Aktion, fängt jedoch nur einen Augenblick ein und hält ihn fest. Ähnlich wie ein Denkmal hat sie etwas Statisches. Die extreme Gegensätzlichkeit des in Bronze gegossenen Denkmals und des durch reale Körper nachgestellten Denkmals in der Aktion lässt sich bei Betrachtung der Fotografien erahnen: Durch die Überführung der Geste aus einem gegossenen Denkmal in eine Performance stellen KwieKulik die traditionelle Gattung Skulptur in Frage und erweitern den Kunstbegriff. Ihre Aktion kann auch als Anklage verstanden werden, 255 Ebd., 76 f. 256 Vgl. ebd., 77. 257 Vgl. Kapitel 4.3.1. 258 Vgl. Ronduda 2009/II, 255. 259 Beide Denkmäler wurden zu Ehren von Warschauer Aufständischen errichtet. 260 Ronduda 2009/II, 255.

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dass traditionell arbeitende Künstlerinnen und Künstler, die Denkmäler im Auftrag der PSP entwarfen, vom Staat unterstützt wurden, experimentell arbeitende Künstlerinnen und Künstler jedoch keine Chance hatten, im offiziellen Kunstsystem anerkannt zu werden und Karriere zu machen.261 Durch den Einsatz der Dias, die zu Beginn der Aktion auf die Tischplatte mit Kuliks Kopf projiziert werden, und die Anspielung auf Denkmäler stellen KwieKulik hier auch die Repräsentationsweisen der Staatsmacht in Frage.262 Wie Kulik erwähnt, verwendeten Kwiek und sie die Körpersprache der Propaganda damals bewusst, um die offizielle Kultur mit ihren eigenen Mitteln zu konterkarieren: „like a broken mirror“ 263. Kulik und Kwiek übernahmen einerseits die Körpersprache, in der sich das im sozialistischen Regime propagierte Menschenbild manifestierte, nämlich dasjenige des starken und gesunden Menschen, der seine eigenen Interessen dem Wohl der Gemeinschaft unterordnet und für sein Vaterland arbeitet, kämpft und sich vermehrt. Die Frau wurde in der Staatskunst vor allem als Mutter und Arbeiterin verherrlicht, der Mann wurde als heroischer Volksheld, kräftiger Arbeiter, muskulöser Athlet oder ruhmreicher Kämpfer glorifiziert. Doch KwieKulik transformierten dieses Menschenbild auch: Anstatt selbst ein solches Denkmal in Stein zu hauen – sie sind beide ausgebildete Bildhauer – stellten sie ein solches nach (Abb. 37). Dabei verwiesen sie in der Aktion direkt auf die Unterdrückung, die sie selbst durch das Reiseverbot erfuhren: Kuliks Gesicht wurde bedeckt mit den Grüßen der Teilnehmenden des Workshops aus Arnheim, doch sie konnte sich nicht rühren. Es war ihr somit unmöglich, die Grüße zu erwidern. Anschließend reckte sie mit stolz erhobenem Kopf die Mappe mit den „Ideen für Arnheim“ in die Luft. Dies war zwar eine Geste, die auch in Denkmälern des Sozialistischen Realismus verwendet wurde, doch hier wurde sie von Kulik subversiv affirmiert. Was sie hoch hielt, war kein Lorbeerkranz für die Mutter Heimat und kein Schwert, um dieselbe zu verteidigen. Es waren scheinbar nutzlose Entwürfe für künstlerische Aktionen – nutzlos deshalb, weil KwieKulik die Ausreise verweigert wurde. Doch gleichzeitig zeugten diese Entwürfe von künstlerischer Kreativität sowie der Fähigkeit und dem Willen zum eigenständigen Denken und Handeln. In dieser Aktion ging es also auch um die Funktion und die Stellung der Künstlerin oder des Künstlers in der sozialistischen Gesellschaft. In allen Aktionen, die zu der Serie Einwirkungen auf den Kopf gehören, wurde der verdeckte und malträtierte Kopf zum Symbol für den unterdrückten Menschen. Eine der Aktionen aus dieser Serie trägt den Titel Działania na głowę: trzy odsłony

261 Vgl. Kapitel 4.3.2 und 4.3.3. 262 Ausst. Kat. Wrocław 2009, 53. 263 Kulik in: Interview Kühn – Kulik I.

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(Einwirkungen auf den Kopf: drei Akte)264 und wurde im Oktober 1978265 bei dem internationalen Treffen Performance and Body in der Galerie Labirynt in Lublin aufgeführt 266 (Abb. 38a–c): Before coming into the room audience members are asked to put a small red flag behind their left ear (as if a cigarette). SHE and HE are laying on the floor with their heads coming out of chair seats facing the audience. A paper curtain opens up the second scene. SHE is sitting on the floor with her head in a bowl. HE pours water into the bowl and washes his face and feet. Afterwards HE pours in more water so that SHE can breathe only through her nose. HE laughs cynically at her inability to say anything. The next paper curtain opens up the third and last scene. SHE and HE are sitting on chairs. Buckets (with holes in the bottom) are put on their heads. Assistants fill the buckets with trash.267

In der dreiteiligen Performance steckten die Köpfe von Kwiek und/oder Kulik in den Sitzflächen von Stühlen, in einer Schüssel voll Wasser oder in zwei Eimern voll Müll. Katarzyna Michalak, die den polnischen Titel im Englischen mit „Activity on the head“ übersetzt, bemerkt: „the term [the title] is an allusion to political indoctrination in Poland.“ 268 Im KwieKulik-Werkverzeichnis findet sich eine erweiterte Beschreibung der Aktion mit dem Zusatz: Kwiek wandte sich, nachdem er Kulik mit Zurufen wie „Komm schon, sag etwas, du Hure, sprich […], du kannst nicht, was […]?!“ 269 bombardiert hatte, zum Publikum um und erklärte, dass die Performance eine Antwort darauf sei, der Redefreiheit beraubt worden zu sein. Er verglich die Situation mit ähnlichen Situationen in anderen Ländern wie zum Beispiel Chile.270 In dieser Aktion könne man laut der Dokumentarfilmerin, Kunsthistorikerin und Kuratorin Joanna Turowicz „the feminine aspect of the acted-out and externalized subjugated role“ 271 gar nicht übersehen. Sie weist jedoch auch darauf hin, dass die zweite Feminismus-Welle, die in den 1970er Jahren in Westeuropa und den USA eine große Wirkung entfaltete, die Volksrepublik Polen nicht erreichte.272 Es ist deshalb schwierig, den 264 Im KwieKulik-Archiv befindet sich eine Vorzeichnung zu der Performance. Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 294. 265 Diese Protestaktion fand ebenfalls im Oktober, jedoch einige Tage nach der Aktion Denkmal ohne Reisepass statt. Vgl. ebd. 266 Vgl. Jappe 1993, 188. 267 Text von KwieKulik, abgedr. in: Ausst. Kat. Ljubljana 1998, 128 [Hervorh. im Orig.]. 268 Michalak 1999, 16. 269 „No powiedz coś, kurwo, powiedz…, nie możesz, co…?!“ Siehe den Eintrag im KwieKulik-Werkverzeichnis in: Ronduda/Schöllhammer 2012/I, 294. 270 Vgl. ebd. 271 Turowicz 2005, o. S. 272 Ebd. Vgl. hierzu Kapitel 3.5.3.2.

Definitionen, Werkbegriff, mediale Strategien und politische Aktionen  |

Abb.  38a – c  KwieKulik, Działania na głowę: trzy odsłony (Einwirkungen auf den Kopf: drei Akte), 1978, Aktion, aufgeführt bei dem internationalen Treffen Performance and Body in der Galerie Labirynt in Lublin.

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Aktionen, die Kulik mit ihrem damaligen Partner ausführte, im Nachhinein eine feministische Haltung zuzuschreiben. Kulik jedenfalls verneint, dass die damaligen Aktionen aus einer solchen heraus entstanden seien. Wie sie selbst betonte, dachte sie pragmatisch und assoziierte mit dem Begriff Feminismus eher nicht-künstlerische Kontexte.273 In der zuvor analysierten Aktion Denkmal ohne Reisepass steckt Kuliks Kopf zu Beginn in einer Tischplatte, auf die Dias projiziert werden. Auf diese Weise wird ihr Kopf zum körperlichen Werkzeug, um Identität auszudrücken, die vom System erniedrigt, verunreinigt und ausgelöscht oder manipuliert wird. Die unterdrückende Macht wird zwar nicht direkt dargestellt, die eingesetzten Requisiten deuten jedoch auf Dominanz, Kontrollmechanismen und Gehirnwäsche hin.274

4.5 Zw ischenfazit: Sichtbar-Wer den in Zw ischenr äumen Der Filmwissenschaftler Claus Löser, der zum experimentellen Film in der ehemaligen DDR forscht, sieht gerade in der Aufführung der Filme – oder in diesem Fall der DiaProjektionen – das Politische. Der bewusste Schritt, das Private öffentlich zu machen, könne als politischer Akt gewertet werden.275 Die projizierten Werke werden durch die Wahrnehmung und Bewertung der Rezipientinnen und Rezipienten einer oftmals nur halben oder zweiten Öffentlichkeit wirksam. Löser betont: „Dieser Wahrnehmungskreis kann auch ein sehr kleiner gewesen sein […].“ 276 Das subversive Potential der kollektiven Aktionen um KwieKulik liegt demnach sowohl in der Entwicklung und Anwendung eines erweiterten Kunstbegriffs, der sich quer zum offiziellen positioniert, als auch im Umgang mit dem entstehenden Material. Für die Dokumentation wählten sie neue Medien, die sich gut archivieren und verbreiten lassen. Für die Archivierung nutzten KwieKulik ihr Privatarchiv an den Rändern des Kunstsystems, in dem sich die künstlerisch-politischen Handlungen in Form der dort gesammelten Dokumente abbildeten und in dieser Verdichtung eine besondere Sprengkraft entwickelten. Der Literaturwissenschaftler Uwe Jochum bestimmt das Archiv als einen Ort, der durch die dort gesammelten Dokumente auf ein Handeln verweise, das den Raum der Politik konstituiere.277 Für die Verbreitung der Materialien wählten KwieKulik das Netzwerk der Mail Art, „ein von staatlichen und kommerziellen Institutionen unabhängiges internationales Kommunikationssystem“ 278, 273 Turowicz 2005, o. S. 274 Vgl. Piotrowski 1999; Piotrowski 2009/III , 292 f.; zur Gender-Thematik in dieser Arbeit vgl. Lajer-Burchardt 1996; Wilson 1999. 275 Vgl. Löser 2011, 17. 276 Ebd. 277 Vgl. Jochum 2004, 45. 278 Vgl. Röder 2008, 173.

Zwischenfazit: Sichtbar-Werden in Zwischenräumen  |

das eine dezentrale und nicht-hierarchische Struktur aufwies. Eine wichtige Rolle spielten die Aufführungsorte. Sowohl bei dem Morel-Hügel in der Nähe von Elbląg als auch bei den Freiluftveranstaltungen handelte es sich um Treffpunkte außerhalb der städtischen Kunstzentren. Diese Orte waren zwar Teil der kulturpolitischen Machtstrategien – die West- und Nordgebiete sollten durch die kulturelle Bewirtschaftung in eine polnische Nationalkultur eingebunden werden –, boten jedoch durch ihre Lage und Geschichte gewisse Freiräume und Möglichkeiten zum Experiment. Sie lagen einerseits innerhalb der Reichweite staatlicher Kontrollen, andererseits entzogen sie sich ihnen. Aufgrund ihrer Geschichte ermöglichten sie Um- und Neucodierung sowie Re-Aktivierung alter Codes. Auch wenn es aufgrund mangelnder Dokumentation schwierig ist, die Reaktionen der unterschiedlichen Publika bei diesen Veranstaltungen im Rückblick zu ­rekonstruieren, ist anzunehmen, dass junge Künstlerinnen und Künstler sowie Schülerinnen und Schüler eher begeistert waren von dem, was sie sahen – vielleicht wurden einige von ihnen sogar nachhaltig in ihrem Denken beeinflusst. Gut zurückverfolgen lässt sich jedoch die Reaktion der staatlichen Institutionen des Kunstsystems auf die Aktivitäten von KwieKulik: Sie reagierten mit Passivität, Ablehnung bis hin zu Verständnislosigkeit 279 und – in späteren Fällen – mit Repressionen.280 Auf Goehrs Frage zurückkommend 281, ob eine Botschaft dadurch, dass sie versteckt sei, entweder subversiver oder aber weniger effektiv werde, lässt sich feststellen, dass die Neoavantgarde auf der einen Seite zwar von der repressiven Gesellschaft kontrolliert und „underground“ 282 gehalten wurde, sich auf der anderen Seite aber auch gezielt Räume und Kanäle suchte, mittels derer sie auf horizontaler Ebene hierarchische Machtstrukturen unterwanderte und hinterfragte, und dissidente Praktiken wie die der subversiven Affirmation anwandte. Ihre politische Wirkung entfalteten die Aktivitäten durch ihr Sichtbar-Werden in der (Wieder-)Aufführung des Materials. Entscheidend ist dabei, dass dies in den Räumen zwischen offizieller und inoffizieller Sphäre, zwischen öffentlichem und privatem Raum geschah und die Botschaft der agierenden Körper damit weder Gefahr lief, vom Zentrum absorbiert und aufgesaugt zu werden und durch diese Einschreibung und (Re-)Codierung ihr subversives Potential zu verlieren, noch in den privaten Wohnräumen der Künstlerinnen und Künstler ohne Zuschauende und damit unsichtbar zu bleiben.

279 Vgl. Kemp-Welch 2012. 280 Vgl. Ronduda 2009/II, 255. 281 Vgl. das Zitat von Goehr in der Einleitung sowie in: Goehr 2008, 694. 282 Ebd.

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5 Schlusswort und Ausblick 5.1 Zusa mmenfassung und Thesen Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, sind Performance und Aktionskunst keine künstlerischen Phänomene, deren Aufkommen ausschließlich in den USA und in Westeuropa zu lokalisieren sind. An fünf ausgesuchten Beispielen aus der – jeweils ehemaligen – Volksrepublik Ungarn, der Tschechoslowakei, der Volksrepublik Polen, der Sozialistischen Republik Rumänien wurde dargestellt, wie performative künstlerische Praktiken etwa zehn Jahre später auch in ostmitteleuropäischen Ländern zu beobachten waren und welche Rolle sie in den jeweiligen Gesellschaften einnahmen. Einige der analysierten Gesten und Praktiken weisen starke formale Ähnlichkeiten zu denjenigen auf, die wenige Jahre früher in westeuropäischen oder US -amerikanischen Performances und Aktionen verwendet wurden. Da jedoch bei jeder künstlerischen Äußerung, so die zu Beginn der Arbeit vorgestellte These, der Kontext mitberücksichtigt werden muss, sind die entsprechenden Arbeiten immer in ihrem spezifischen Entstehungsumfeld zu interpretieren. Die künstlerischen Phänomene können also nicht losgelöst von ihrem historischen sozialpolitischen Hintergrund betrachtet und beurteilt werden. Eine Geste, die in den 1970er Jahren vor laufender Kamera in einer Küche in Bukarest durchgeführt wurde, ist anders zu lesen als jene, die in den 1960er Jahren in einer New Yorker Galerie stattfand. Wie die untersuchten Beispiele zeigen, entwickelten die agierenden Körper in den ostmitteleuropäischen Performances und Aktionen vor dem jeweiligen historischen sozialpolitischen Hintergrund ein subversives Potential. Selbst wenn die Arbeiten nicht politisch intendiert waren, so bekamen sie durch die Tatsache, dass sie in diesem spezifischen Kontext stattfanden, eine politische Aussage. Es gibt zwar Performances und Aktionen, wie zum Beispiel die działania des Künstlerduos KwieKulik 1, die als offener Protest formuliert wurden, dies war jedoch nicht die Regel. Viel öfter fanden die Performances und Aktionen im Verborgenen statt oder wurden sogar ausschließlich für die Kamera aufgeführt. Die subversive Aussage des jeweiligen Werkes lag in diesen Fällen nicht in einer aktiven politisch ­engagierten Haltung der Künstlerin oder des Künstlers, sondern beispielsweise in der Art der Medialisierung, in der Erweiterung des Kunstbegriffs oder im Netzwerkcharakter der jeweiligen Arbeit. Die beschriebenen Strategien und Taktiken können somit als widerständige Praktiken im Sinne einer „Taktik“ 2 oder einer „anderen Produktion“ 3 bei Michel de Certeau 1 Vgl. hierzu Kapitel 4. 2 De Certeau 1988, 23. Vgl. hierzu auch ebd., 89. 3 Ebd., 13.

Zusammenfassung und Thesen  |

identifiziert werden. Sie sind dabei jedoch nicht immer eindeutig im „Underground“ 4 und in einem Milieu, das unmittelbar der Dissidenz zugerechnet wurde, zu verorten. Oftmals bewegten sich sowohl die Künstlerinnen und Künstler als auch die von ihnen produzierten Fotografien, Filme und Dokumente in Räumen, die zwischen offizieller und inoffizieller Sphäre oszillierten und in vielen Fällen absichtlich mit diesem ambivalenten Status spielten. Im ersten Analysekapitel wurden aus einer vergleichenden Perspektive die Aktionen und Interaktionen der beiden Künstler Endre Tót und Jiri Kovanda im öffentlichen Raum Ungarns, der Tschechoslowakei sowie Westeuropas in den 1970er Jahren untersucht. In den künstlerischen Arbeiten Tóts wurden die „Überidentifikation“ 5 sowie die „subversive Affirmation“ 6 als Strategien identifiziert, die besonders in totalitären Systemen ihre untergrabende Wirkung in Bezug auf die herrschende Ideologie zeigen. Mit Bezug auf Vilém Flussers Phänomenologie der Gesten 7 wurden Gesten des Zögerns, des Wartens und der Verneinung herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, dass die wiederholte Aufführung und Medialisierung dieser Gesten im öffentlichen Raum und ihre Dissemination über alternative Netzwerke die scheinbar gescheiterte Interaktion in eine Kommunikation mit einem von mir als zukünftiges bezeichnetes Publikum transformieren. Der Begriff des zukünftigen Publikums wurde in Abgrenzung zu einem „Publikum der Dokumentation“ 8 bei Auslander und einem „sekundären Publikum“ 9 bei Bishop gewählt. Die gewählten Gesten verwandelten dabei den „Raum“ in einen „Ort“.10 Es wurde ein Analyseinstrumentarium entwickelt, das vier Ebenen aufweist und zentrale Begriffe der Interaktionstheorie Erving Goffmans wie die „soziale Situation“ 11 integriert. Die Vernetzung der Neoavantgarden wurde als eine Verflechtungsgeschichte identifiziert und der Transfer an mehreren Knoten- und Kontaktpunkten – wie zum Beispiel an Akteurinnen und Akteuren im Netzwerk der Mail Art oder am Künstleratelier und -archiv des Künstlerduos KwieKulik – festgemacht. Im Fokus des zweiten Analysekapitels standen die Performances für die Kamera der polnischen Künstlerin Natalia LL und des rumänischen Künstlers Ion Grigorescu in den 1970er Jahren, die ohne die Anwesenheit eines Live-Publikums stattfanden. In der Analyse wurden die Produktions- und Rezeptionsprozesse untersucht und miteinander verglichen. Ausgehend von den Überlegungen Lacans zum Spiegelstadium wurden die 4 5 6 7 8 9 10 11

Goehr 2008, 692 – 697. Žižek 1992, 49. Vgl. hierzu auch Arns/Sasse 2006. Arns/Sasse 2006. Flusser 1991, 8. Auslander 2006, 29. Bishop 2012, 149. De Certeau 1988, 217 f. Goffman 22001 [1982], 55.

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|  Schlusswort und Ausblick

Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei wurde gezeigt, dass während der Produktion und Rezeption einer Performance für die Kamera eine (imaginäre) Ko-Präsenz von performenden Körpern und betrachtenden Körpern geschaffen wird. (Geschlechtliche) Körper und (geschlechtliche) Identitäten wurde dabei mit Bezug auf Austin 12, Butler 13 und Fischer-Lichte 14 als etwas betrachtet, das durch die stilisierte Wiederholung bestimmter Gesten und Bewegungen performativ hervorgebracht wird. Bestimmte „historisch-kulturelle Möglichkeiten“ 15 werden auf diese Weise verkörpert und „sowohl der Körper als historisch-kulturell markierter wie auch Identität“ 16 erzeugt. Die beschriebene Fähigkeit des sich bewegenden Körpers birgt ein besonderes Potential: Trotz gesellschaftlicher Einschränkungen und Sanktionen können durch (alltägliche) Handlungen Möglichkeiten realisiert und aktualisiert werden, die einen Freiraum eröffnen und die Performenden mit Handlungsmacht ausstatten. Konzepte wie die „Hinterbühne“ 17, „Face“ und „Image“ 18, „Fassade“ 19, „Rolle“ und „Rollendistanz“ 20 bei Goffman, die Frage nach der „Verantwortung“ 21 bei Auslander, die „somatische Affizierung“ 22 und der Begriff des „Abjekten“ 23 bei Kristeva sowie die „Maskerade“ 24 wurden als maßgebliche Faktoren für die Etablierung und Hinterfragung wechselseitiger Machtverhältnisse und Kommunikationsstrukturen innerhalb der Konstel­lation Performende – Kamera – Betrachtende herausgearbeitet. In der Analyse wurde gezeigt auf welche Art und Weise die in der (Wieder-)Aufführung (re-)produzierten, kontrollierten und wiederangeeigneten Körper und Körperbilder vor der Folie eines staatlich entworfenen, verordneten und kontrollierten Körperbildes in ihrem jeweiligen Kontext ein subversives Potential entwickeln. Einige der Gesten Natalia LL s wurden als eine andere Form des Konsums und eine „andere Produktion“ 25 im Sinne de Certeaus und somit als widerständige Gesten identifiziert. Die Erkenntnis aus dem ersten Analysekapitel, dass in der Performance-Situation bereits imaginär ein zukünftiges Publikum anwesend ist, wurde 12 Austin 1972 [1962]. 13 Butler 1988. 14 Fischer-Lichte 2004. 15 Ebd., 38. 16 Ebd. 17 Goffman 122013 [1956], 104. 18 Abels 2007, 166. 19 Goffman 122013 [1956], 23. 20 Abels 2007, 168. 21 Auslander 2006, 28. 22 Koch 2011, 243. 23 Kristeva 1982, 3 f. 24 Vgl. hierzu die Ausführungen zur „Maskerade“ in Kapitel 3.4.10 in dieser Arbeit sowie Riviere 1994 [1929]. 25 De Certeau 1988, 13.

Zusammenfassung und Thesen  |

aufgegriffen und erweitert. Zur Erläuterung wurden weitere Begriffe und Konzepte Erving Goffmans eingeführt und ihre Weiterentwicklung in der neueren soziologischen Forschung 26 für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht. Die Gesellschaften, in denen die ausgewählten Beispiele produziert wurden, wurden in Anlehnung an Havel und Piotrowski als „posttotalitäres System“ 27 beschrieben. Das dritte Analysekapitel widmete sich den kollektiven Aktionen um das Künstlerduo KwieKulik sowie der alltäglichen Zusammenarbeit und den Protestaktionen des Künstlerduos in der Volksrepublik Polen in den 1970er Jahren. In künstlerischer Kollaboration und kollektiven Prozessen wurde von den Beteiligten durch das Spiel mit der „Offenen Form“ 28 und durch die „subversive Affirmation“ 29 avantgardistischer Strategien, wie beispielsweise die Verbindung von Kunst und Leben, ein erweiterter Kunst- und Werkbegriff erarbeitet sowie das Verhältnis von Kunstschaffenden und Gesellschaft neu verhandelt. Interaktion fand hier ebenfalls zwischen Akteurinnen oder Akteuren und verschiedenen Kameras sowie dem zukünftigen und dem Live-Publikum statt, es kam jedoch die Interaktion der Akteurinnen und Akteure untereinander hinzu. Es wurde gezeigt, dass das dokumentarische Material in eigens von KwieKulik ent­ wickelten, unterbrochenen (Wieder-)Aufführungen 30 und Multimedia-Projektionen, die die Aktivität und Partizipation unterschiedlicher Publika intendieren, in halböffentlichen Räumen sichtbar und zugänglich gemacht wird. In diesem Kapitel wurde auch die Vernetzung der Neoavantgarde nochmals mit einem Schwerpunkt auf der Volksrepublik Polen thematisiert und ihre Komplexität aufgezeigt. Kulik und Kwiek fanden sich innerhalb einer Bewegung wieder, die sich „Neue Rote Kunst“ 31 nannte und sich durch ihr künstlerisches Schaffen aktiv an einem Umbau und einer Neustrukturierung der sozialistischen Gemeinschaft beteiligen wollte. KwieKulik bündelten und verteilten dabei als zentrale Figur der kollektiven Aktionen sowie als Gründer und Betreiber ihres Ateliers für Aktivitäten, Dokumentation und Verbreitung eigene und internationale subversive Positionen und wirkten somit als Multiplikatoren innerhalb der ostmitteleuropäischen Neoavantgarde. Ihr Archiv war dabei nicht nur Kontakt- und Knotenpunkt, sondern wurde selbst als ein Kunstwerk betrachtet. Zu der Plattform ihres Atelier-Archivs traten theoretische Texte und Manifeste sowie neuerfundene Begriffe wie działania 32 und całostka 33 hinzu, mit denen das Künstlerduo seinem Werk 26 Vgl. beispielhaft Hahn/Stempfhuber 2015. 27 Havel 1989 [1978] und Piotrowski 2009/III, 288 f. 28 Hansen 1959, 5. 29 Arns/Sasse 2006. 30 Kwiek in: Kulik/Kwiek/Sitkowska 1986 – 1995. 31 Vgl. Ronduda 2007. 32 Vgl. den Eintrag im Kontext-Glossar in: Ronduda/Schöllhammer 2012/II, 498. 33 Vgl. den Eintrag im KwieKulik-Glossar in: Ebd., 468.

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­ edeutung verlieh und dessen Interpretation steuerte. Ihr Werk bewegte sich im Laufe B ihrer langjährigen Zusammenarbeit von subtilen Kommentaren zur politischen Situation immer mehr hin zu Aktionen, die explizit als politischer Protest konzipiert waren und als solcher wirksam wurden, was unmittelbare Sanktionen durch staatliche Behörden nach sich zog und in einen zähen Kampf des Künstlerduos mit den kommunistischen Machthabern mündete.

5.2 Ergebnisse und Beant wortung der Hauptfr agestellung Es gelang, im Rahmen dieser Forschungsarbeit vor allem in den folgenden vier Hauptpunkten, neue Forschungsansätze zu generieren und Lücken zu schließen: 1.  Die Arbeit leistete Grundlagenforschung. Das Material wurde erfasst und es erfolgte eine erste Einordnung, die eine Basis für zukünftige Untersuchungen bildet. 2.  Da im Bereich der ostmitteleuropäischen Performance- und Aktionskunst bisher nur äußerst wenige vergleichende Arbeiten mit transnationalem Ansatz vorliegen, konnte eine Leerstelle gefüllt werden. Durch Vergleiche innerhalb der drei Analyse­ kapitel konnten verflechtungsgeschichtliche Zusammenhänge deutlich gemacht werden, die die begrenze Diskussion innerhalb nationaler Grenzen ergänzen und erweitern. Dies ist unbedingt notwendig für eine Revision der bisherigen Kunstgeschichtsschreibung(en) in Ostmitteleuropa und für die Erarbeitung einer neuen, multiperspektivischen Kunstgeschichte, wie sie in der Einleitung mit Bezug auf Piotr Piotrowskis „Critical Geography“ 34 und das Kunstprojekt „East Art Map“ 35 gefordert wurde. 3.  Die Medialisierung von Performances und Aktionen wurde in der Kunst- und Kulturgeschichte bisher kaum untersucht. Mit Hilfe der ab den späten 1950er Jahren von Erving Goffman geprägten Begriffe und Theorien wurde ein Forschungsansatz entwickelt, um die Prozesse der Medialisierung zu beschreiben und begrifflich zu fassen. 4.  Eine methodische Herangehensweise, um die medialisierten Performances und Aktionen zu analysieren, fehlte bisher in der Forschung. Für die Analyse der ephemeren Phänomene wurde daher ein praxeologischer Zugriff vorgeschlagen und die Herangehensweise in drei Analysekapiteln am Beispiel von fünf künstlerischen Positionen exemplifiziert. Für die Werkanalysen wurde ein Vier-Ebenen-Modell entwickelt, mit dessen Hilfe die einzelnen Werkkomponenten sowie die Produktions- und Rezeptionsprozesse synchron und diachron untersucht werden können. 34 Piotrowski 2005, 153. 35 Irwin 2006.

Ergebnisse und Beantwortung der Hauptfragestellung  |

Die in der Einleitung formulierte Hauptfragestellung „Worin genau liegt die Subversivität des agierenden Körpers und der untersuchten künstlerischen Praktiken?“ wurde durch die drei Analysekapitel hindurch verfolgt. Mittels des Vergleichs der fünf verschiedenen künstlerischen Positionen sowie der gesellschaftlichen Kontexte in vier unterschiedlichen Ländern unter Einbezug einer transnationalen Perspektive können als Antwort auf die leitende Forschungsfrage sieben Kernaussagen formuliert werden: 1.  Das Verhältnis von Handlung und Kontext ist ausschlaggebend für die subversive Wirkung. 2.  Identitätsbildende Praktiken, die multiple und ambivalente Identitäten befördern, sind in einem totalitären System unerwünscht und finden unter den entsprechenden Bedingungen entweder ganz im Verborgenen, in Zwischenräumen oder als offener Protest statt. 3.  Durch den Einsatz neuer Medien und des Körpers, durch kollaborative beziehungsweise kollektive Praktiken sowie die Verbindung von Kunst und Leben wird der Kunst- und Werkbegriff erweitert. 4.  Dokumentarische Praktiken erhalten unter totalitären Bedingungen oder in repressiven Systemen einen besonderen Stellenwert. 5.  Die Medialisierung findet auf verschiedenen Ebenen statt und trägt ihrerseits zu der Entstehung dieser Ebenen bei, weshalb sich ein praxeologisch informierter Ansatz für die Analyse besonders gut eignet. 6.  Die Medialisierung produziert unterschiedliche Öffentlichkeiten und kann bewirken, dass entweder ein privater Raum zum öffentlichen Raum wird oder dass ein öffentlicher Raum ein Ort für die Ausführungen privater Handlungen wird. 7.  Die Medialisierung adressiert und multipliziert unterschiedliche Publika. Auch wenn diese sieben Kernaussagen oder Thesen das subversive Potential der agierenden Körper in ostmitteleuropäischen Performances und Aktionen hervorheben, muss an dieser Stelle betont werden, dass die einzelnen Werke meist keine politische Aussage formulierten, sondern in ihren Äußerungen zwischen Anpassung und Widerstand changierten. Diese Ambivalenz stellte jedoch keine Schwäche dar, sondern kann als Stärke der betrachteten Arbeiten gewertet werden. Die „Taktiken“ 36 im Sinne de Certeaus sind nicht, wie von Lydia Goehr befürchtet „weniger effektiv“ 37 und laufen auch nicht ins Leere. Sie werden bei De Certeau auch als eine „Kunst des Schwachen“ 38 bezeichnet und entwickeln gerade aufgrund ihrer scheinbaren Unsichtbarkeit eine umso stärkere Wirkung. 36 De Certeau 1988, 23. Vgl. hierzu auch ebd., 89. 37 Goehr 2008, 694. 38 De Certeau 1988, 89.

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5.3 Ausblick: Aufgaben der zukünftigen Forschung In der Kunstgeschichte Ostmitteleuropas gibt es weitere Performance- und Aktionskünstlerinnen und -künstler, deren Werk noch gar nicht oder nur ansatzweise erforscht ist. Viele Dokumente und Materialien lagern weiterhin in den Privatarchiven von Künstlerinnen und Künstlern und warten darauf, wissenschaftlich erschlossen und der internationalen Forschung zugänglich gemacht zu werden. Auch die Archivbestände kleinerer Autorengalerien, die nach 1989 nicht mehr weitergeführt wurden, deren Bestände jedoch auch nicht in die Sammlung einer größeren Institution aufgenommen wurde, bieten einen reichen Fundus an aufschlussreichen Materialien. Staatliche Archive, die zum Beispiel die Überwachung einzelner Künstlerinnen und Künstler dokumentieren, wurden bisher nur in einigen wenigen Fällen von der kunsthistorischen Forschung mitberücksichtigt 39 und auch hier wäre ein transnationaler Vergleich lohnenswert, wodurch das ambivalente Verhältnis von staatlicher und nichtstaatlicher, offizieller und inoffizieller Kunst und Kultur deutlicher hervorgehoben werden könnte. Interessant wäre auch, die Rolle von Künstlerinnen und Künstlern in politischen Prozessen genauer zu beleuchten. Darüber hinaus wäre eine eingehende Erforschung der Verbindungen und Austauschprozesse zu Künstlerinnen und Künstlern in Regionen in Osteuropa wie Russland oder dem ehemaligen Jugoslawien interessant sowie die tiefergehende Erforschung der darüberhinausgehenden Kontakte in internationalen Künstlernetzwerken. Ein weiteres Desiderat stellt die Erforschung der Interdependenzen von Musik, Literatur und Kunst dar sowie die Zusammenarbeit von Kunstschaffenden aus diesen Disziplinen. Schlussendlich sind die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen in den 1980er Jahren auf die Künste sowie umgekehrt die des künstlerischen Schaffens auf die Umbrüche von 1989 noch nicht hinreichend erforscht. Ein Vergleich aus transnationaler Perspektive steht noch aus. Darüber hinaus scheint die vergleichende Betrachtung der Kunstgeschichtsschreibung vor und nach 1989 interessant sowie die Untersuchung des Rezeptionswandels osteuropäischer Kunst nach 1989. Ziel eines solchen Forschungsprojektes wäre die Erprobung alternativer Kunstgeschichtsschreibungen und die Förderung der Multiplizität von Kunsthistoriografien.

39 Ronduda untersuchte zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen staatlicher Überwachung durch die Geheimpolizei und dem künstlerischen Schaffen KwieKuliks. Vgl. Ronduda 2012/I.

Übertragung des theoretischen Ansatzes auf andere Forschungsbereiche und Themenkomplexe  |

5.4 Übertr agung des theor etischen A nsatzes auf ander e Forschungsber eiche und Themenkomplex e Die in der vorliegenden Arbeit erarbeiteten theoretischen und methodischen Ansätze lassen sich in vielfältiger Art und Weise auf andere Themenbereiche übertragen. Das vorgestellte Vier- Ebenen-Modell kann nicht nur auf ostmitteleuropäische Performance und Aktionskunst angewendet werden, sondern auf alle ephemeren Phänomene, bei denen der Schwerpunkt auf dem Prozess liegt und der Einbezug verschiedener (belebter und unbelebter) Akteurinnen und Akteure, Medien und Praktiken in den Medialisierungsprozess eine zeitlich und räumlich versetzte Kommunikation zwischen Akteurinnen und Akteuren zur Folge hat. Ein praxeologischer Zugriff ist also nicht nur für die Performance- und Aktionskunst im Allgemeinen denkbar, sondern auch für andere Bereiche der Kunst und Kunstgeschichte. Ein Vergleich mit den staatlich geförderten sowie den nicht von staatlichen Institutionen unterstützen oder sogar verbotenen Kunstformen und -praktiken in anderen Ländern mit sozialistischen Diktaturen in Süd- und Mittelamerika oder auf dem afrikanischen Kontinent 40 erscheint ebenfalls sehr vielversprechend. Gibt es auch dort widerständige oder subversive Praktiken? Sind die entwickelten Strategien und Taktiken in allen Ländern unter kommunistischer Herrschaft ähnlich? Oder bestehen signifikante Unterschiede? Tauchen bestimmte Motive vermehrt auf? Die in der vorliegenden Arbeit generierten Erkenntnisse bilden eine Ausgangsbasis für weiterführende Forschungsfragen. Zuletzt wäre die Übertragung der Erkenntnisse in die kuratorische Praxis fruchtbringend. Durch die Berücksichtigung der verfolgten methodischen Ansätze im Ausstellungswesen könnten die Forschungsergebnisse praktisch angewandt und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden.

40 Die Ausstellung Red Africa. A season on the legacy of cultural relationships between Africa, the Soviet Union and related countries during the Cold War in der Calvert 22 Foundation in London thematisierte vom 4. Februar bis zum 3. April 2016 sozialistische Kunst und Kultur in afrikanischen Ländern. Es wäre lohnenswert zu erforschen, inwiefern sich dort ähnliche nonkonforme und subversive Kunstformen im sogenannten Underground wie in Ostmitteleuropa entwickelten und ob sie denen im sowjetischen Einflussgebiet in Europa vergleichbar sind. Artikel und kurze Aufsätze zur Ausstellung wurden in einem „Special Report“ im Calvert Journal veröffentlicht, zugänglich unter: http://calvertjournal.com/ features/show/5324/red-africa-special-report [Zugriff am 15. 5. 2020].

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6 Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Interv iew ver zeichnis Bosbach/Kühn – Nieslony: Interview der Autorin mit Boris Nieslony am 6. 2. 2015 in Köln (gemeinsam mit Lisa Bosbach; Sprache: dt.), abgedruckt in: Bosbach/Kühn 2016. Bosbach/Kühn – Perneczky: Interview der Autorin mit Géza Perneczky am 6. 4. 2016 in Köln (gemeinsam mit Lisa Bosbach; Sprache: dt.). Kemény/Kühn – Tót: Interview der Autorin mit Endre Tót am 7. 3. 2012 in Köln (gemeinsam mit Réka Kemény; Sprache: dt.). Kühn – Kovanda: Interview der Autorin mit Jiří Kovanda am 18. 8. 2015 in Berlin (Sprache: engl.). Kühn – Kulik I: Interview der Autorin mit Zofia Kulik am 12. 11. 2010 in Łomianki bei Warschau (Sprache: engl.). Kühn – Kulik II: Interview der Autorin mit Zofia Kulik am 29. 04. 2012 in Łomianki bei Warschau (Sprache: engl.). Kühn – Natalia LL I: Interview der Autorin mit Natalia LL am 31. 10. 2011 in Breslau (Sprache: poln./engl.). Kühn – Natalia LL II: E-Mail-Interview der Autorin mit Natalia LL am 3. 1. 2013 (Sprache: engl.). Kühn – Partum: Interview der Autorin mit Ewa Partum am 20. 11. 2011 in Berlin (Sprache: dt.). Kühn – Stötzer: Interview der Autorin mit Gabriele Stötzer am 25. 9. 2012 in Utrecht (Sprache: dt.). Kühn – Tót: Interview der Autorin mit Endre Tót am 28. 9. 2015 in Köln (Sprache: dt.). Kühn/Valentini – Grigorescu: Interview der Autorin mit Ion Grigorescu am 22. 5. 2014 in Bukarest (gemeinsam mit Francesca Valentini; Sprache: engl.).

6.2 Film- und Videover zeichnis BWA Wrocław Galeria Sztuki Współczesnej (Hg.): Natalia LL, DVD-Compilation, Wrocław 2006. Goertz, Rudolf/Galerie Mathias Güntner: Endre Tót, zer0 demo Hamburg, 8. 9. 2015. Dokumentarfilm, schwarzweiß, Ton. 8’54’’. Online abrufbar unter: https://vimeo.com/141171533 [Zugriff am 17. 1. 2020]. Kellmann, Marion: Endre Tót – zer0demo – Cologne, 17. 4. 2015. Dokumentarfilm, Farbe, Ton. 3’28’’. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=W8CRQ0dMQKo [Zugriff am 17. 1. 2020]. Kellmann, Marion: Endre Tót: I’m glad if I’m happy, 2017. In Zusammenarbeit mit Kristóf Szabó. Dokumentarfilm. Ungarisch, englisch untertitelt. 55’.

Film- und Videoverzeichnis  |

Heinrich Schmidt/Vernissage tv: Jiří Kovanda: Kissing through glass. Le Mouvement – Performing the City, 12th Swiss Sculpture Exhibition 2014, Biel/Bienne, Switzerland. Performance, 30. 8. 2014. Dokumentarfilm, Farbe, Ton. 3’48’’. Online abrufbar unter: https:// www.youtube.com/watch?v=WsapiuF7WXk [Zugriff am 17. 1. 2020]. KwieKulik: Forma otwarta – Gra na twarzy aktorki [Offene Form – Spiel auf dem Gesicht einer Schauspielerin]. 1971. 35 mm, Farbe, ohne Ton. 2’39’’. Online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/ kwiekulik-forma-otwarta-gra-na-twarzy-aktorki [Zugriff am 17. 1. 2020]. KwieKulik: Gra na Wzgórzu Morela [Spiel auf dem Morel-Hügel]. 1971. Animierte Diashow, Farbe, Ton. 15’23’’. Online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/kwiekulik-gra-na-wzgorzu-morela-akcjagrupowa [Zugriff am 17. 1. 2020]. Natalia LL: Sztuka konsumpcyjna [Konsumkunst]. 1972. 16mm, schwarzweiß, ohne Ton. 7’36’’. In: BWA Wrocław Galeria Sztuki Współczesnej 2006. Online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/ praca/ll-natalia-sztuka-konsumpcyjna?age18=true [Zugriff am 14. 5. 2020]. Natalia LL: Sztuka konsumpcyjna – Wernisaż w Galerii PERMAFO [Konsumkunst – Vernissage in der Galerie PERMAFO]. 1973. 16mm, ohne Ton. 1’18’’. Online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: https://artmuseum.pl/pl/filmoteka/ praca/ll-natalia-sztuka-konsumpcyjna-wernisaz-w-galerii-permafo [Zugriff am 17. 1. 2020]. Natalia LL: Sztuczna rzeczywistość [Künstliche Realität]. 1975/1976. 15’29’’. 16mm, Farbe, ohne Ton. Online zu sichten im Filmarchiv des Museums für Moderne Kunst in Warschau: http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/ll-natalia-sztuczna-rzeczywistosc?age18=true [Zugriff am 17. 1. 2020]. Landsberg, Krzysztof/Mazanek, Agnieszka: Forma jest faktem społecznym. KwieKulik [Form ist ein gesellschaftlicher Fakt. KwieKulik]. 2009. Dokumentarfilm, Farbe, Polnisch. 15’22’’. Online abrufbar unter: http://ninateka.pl/film/kwiekulik-forma-jest-faktem-spolecznym [Zugriff am 17. 1. 2020]. Radical Egal: endre tot zer0 demo. Köln 17. 4. 2015. Dokumentarfilm, Farbe, Ton. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=WRFDc_w59T4 [Zugriff am 17. 1. 2020]. [Radziszewski 2012/II]: Radziszewski, Karol: America Is Not Ready For This. 2012. 67’. Dokumentarfilm, HD, Farbe, Englisch/Polnisch, englisch/polnisch untertitelt. Tót, Endre: Zero-Demonstration. Oxford 1991. Dokumentarfilm, Farbe, Ton. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=nKdi7MN7lCQ [Zugriff am 17. 1. 2020]. Tót, Endre: Videostatement auf der Plattform The Central European Art Database (CEAD). Dokumentarfilm, Farbe, Ungarisch, englisch untertitelt. Online abrufbar unter: http://cead. space/index.php/Detail/people/id:49/view/videos [Zugriff am 17. 1. 2020]. Turowicz, Joanna/Zakrzewska, Anna: KwieKulik. 2011. Dokumentarfilm, HD, Farbe, Polnisch. 48’.

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|  Quellen- und Literaturverzeichnis

6.3 Liter aturver zeichnis 6.3.1 Ungedruckte Quellen (ohne Interviews) Kühn, Corinna: ‚The Human Motif‘. Überlegungen zur Darstellung des Körpers und des Menschenbildes in Zofia Kuliks Fotomontagen, unveröff. Magisterarbeit Köln 2008. Michel, Eva: Inventing Tradition. Die Rezeption der Alten Meister und das ‚Barocke‘ in der österreichischen Malerei des 20. Jahrhunderts. Topos und künstlerische Strategie, unveröff. Dissertation Wien 2009. Wasiak, Patryk: Kontakty kulturalne pomiędzy Polską a Węgrami, Czechosłowacją i NRD w latach 1970 – 1989 na przykładzie artystów plastyków [Kulturelle Kontakte zwischen Polen und Ungarn, Tschechoslowakei und DDR in den Jahren 1970 – 1989], unveröff. Diss. ­Warszawa 2009.

6.3.2 Gedruckte Quellen Ausst. Kat. Aarau 1995: Mit Haut und Haar. Körperkunst der 70er Jahre. Marina Abramovič, Valie Export, Natalia LL und Friderike Petzold. Aarau, Forum Schlossplatz, 27.5. – 30. 7. 1995. Hg. v. Meili Dschen. Aarau 1995. Ausst. Kat. Berlin 1980: Unvollständige Dokumentation/Some Documentary. 1961 – 1979. Berlin, Galerie ARS VIVA!, 17.2. – 22.3.80. Hg. v. Milan Knížák und Wieland Schmied. Berlin 1980. Ausst. Kat. Berlin 1991: Außerhalb von Mittendrin. Bildende Kunst, Theater, Musik, Literatur und Film. Kunst von Frauen aus der ehemaligen DDR. Berlin, Neue Gesellschaft für bildende Kunst, 8.5. – 23. 6. 1991. Hg. v. Beatrice Stammer. Berlin 1991. Ausst. Kat. Berlin 1994: Der Riss im Raum. Positionen der Kunst seit 1945 in Deutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien, Bd. 2. Berlin, Martin-Gropius-Bau 13.3. – 18. 4. 1995 u. a. Hg. v. Matthias Flügge. Berlin/Dresden 1994. Ausst. Kat. Berlin 1997: Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere, 1970 – 1989. Berlin, Deutsches Historisches Museum, 4.9. – 16. 12. 1997. Hg. v. Paul Kaiser und Claudia Petzold. Berlin 1997. Ausst. Kat. Berlin 2000: Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa, die 60er bis 80er Jahre. Berlin, Akademie der Künste, 10.9. – 9. 10. 2000, Hg. v. Ivo Bock. Bremen 2000. Ausst. Kat. Berlin 2003: Biały Mazur [Weiße Masurka]. Berlin, Neuer Berliner Kunstverein u. a., 6. 9. 2003 – 19. 10. 2003. Hg. v. Anda Rottenberg. Berlin/Warszawa 2003. Ausst. Kat. Berlin 2007: Fluxus East. Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa. Berlin, Künstlerhaus Bethanien u. a. 27.9.– 4. 11. 2007. Hg. v. Petra Stegmann. Berlin 2007. Ausst. Kat. Berlin 2009: Und jetzt … Künstlerinnen aus der DDR. Berlin, Künstlerhaus Bethanien, 27.11. – 20. 12. 2009. Hg. v. Angelika Richter. Nürnberg 2009.

Literaturverzeichnis |

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Bildnachweis Soweit nicht anders angegeben liegen die Bildrechte sowie das Copyright bei den Künstlerinnen und Künstlern. Abb. 1 – 10, 17, 20, 21, 24 – 26: © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 und Endre Tót Abb. 23a und b: © Kulik-KwieKulik Foundation und Jiří Kovanda Abb. 29: Courtesy Galerie Gregor Podnar (Berlin)/Ion Grigorescu; © Ion Grigorescu Abb. 34 – 38, Taf. 8a–c, 9a–c, 10 – 12: © Kulik-KwieKulik Foundation Taf. 1 – 3, 13: © Corinna Kühn Taf. 14, 15: © Łukaz Ronduda

Dank Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2017 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Ich möchte an dieser Stelle allen, die an seiner Entstehung beteiligt waren und mir während meiner Forschungstätigkeit zur Seite gestanden haben, herzlich danken. An erster Stelle möchte ich meine Erstbetreuerin Ursula Frohne nennen, die die Arbeit mit Motivation, Begeisterung für das Thema und großem Vertrauen in meine wissenschaftlichen Fähigkeiten begleitet hat. Für ihre uneingeschränkte fachliche und persönliche Unterstützung sowie zahlreiche wertvolle Ratschläge und Denkanstöße bin ich ihr sehr verbunden. Bodo Zelinsky fungierte nicht nur als Zweitgutachter, sondern trug mit vielfältigen hilfreichen Hinweisen zur Entstehung der Arbeit bei. Anne-Marie Bonnet hat freundlicherweise das Drittgutachten übernommen. Für die Aufnahme meines Buches in die Reihe „Das östliche Europa: Kunst- und Kulturgeschichte“ möchte ich mich bei den Herausgeberinnen und dem Herausgeber bedanken. Mein besonderer Dank gilt Elena Mohr für das sorgfältige Korrektorat sowie Julia Beenken, Kirsti Doepner und Bettina Waringer für ihre kompetente, geduldige und freundliche Unterstützung bei der Drucklegung. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Schroubek Fonds Östliches Europa haben die Drucklegung dieses Buches durch einen Druckkostenzuschuss großzügig unterstützt. Die a. r. t. e. s. Graduate School for the Humanities Cologne hat die Arbeit mit einem dreijährigen Promotionsstipendium und durch die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes für die gesamte Promotionszeit gefördert. Meine Forschungstätigkeit in Polen, Rumänien und Ungarn wurde durch ein Stipendium des DHI Warschau sowie Reisekostenstipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der a. r. t. e. s. Graduate School ermöglicht. Das Center for German and European Studies der University of Minnesota, Minneapolis, hat mir 2009 ein Graduiertenstipendium für das Trans-Atlantic Summer Institute in European Studies in Krakau gewährt. Dank eines Stipendiums des Deutschen PolenInstituts in Darmstadt konnte ich 2011 an dessen Sommerakademie teilnehmen. Ich möchte mich darüber hinaus ganz besonders bei den Künstlerinnen und Künstlern sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bedanken, ohne deren Schaffen meine Arbeit nicht möglich gewesen wäre und mit denen ich – oftmals mehrere – Interviews führte: Ion Grigorescu, Jiří Kovanda, Zofia Kulik, Natalia LL, Claus Löser, Boris Nieslony, Ewa Partum, Géza Pernecky, Gabriele Stötzer und Endre Tót. Sie beantworteten mir bereitwillig meine Fragen, nahmen mich gastfreundlich auf, führten mich in ihre privaten Archive ein und stellten Bildmaterial und Sichtungskopien bereit.

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| Dank

Eine ganze Reihe von Fachexpertinnen und -experten, insbesondere Constance Krüger, Luiza Nader, Piotr Piotrowski, Barbara Piwowarska, Seraina Renz und Patryk Wasiak, haben mir unveröffentlichte Forschung zur Verfügung gestellt, wichtige Impulse gegeben oder wertvolle Kontakte vermittelt. Kornelia Röder hat mich in das Mail ArtArchiv im Staatlichen Museum Schwerin eingeführt und mich an ihrem breiten Wissen zum Thema teilhaben lassen. Réka Kemény hieß mich in Budapest willkommen und besuchte mit mir das Artpool Archive. Bei meiner Recherche in der Galerie Gregor Podnar in Berlin stand Kasia Lorenc mir kompetent mit Fachwissen zur Seite. Besonderer Dank gebührt Wiktoria Szczupacka von der Kulik-KwieKulik Foundation für ihre Unterstützung. Klaudia Rachubińska und Antoni Michnik sowie Julia Staszewska haben mich sehr freundlich in Warschau aufgenommen. Marta Konkel danke ich für eine wunderbare Zeit in Danzig. Für ihre Gastfreundschaft in Breslau danke ich ganz besonders Irena Kurasz. Mein Forschungsprojekt hat von Beginn an von der vielfältigen Unterstützung durch meine Freundinnen und Freunde und Fachkolleginnen und -kollegen in Köln profitiert. Ohne sie wäre mein Buch in seiner jetzigen Form nicht denkbar, und ich möchte ihnen allen für unzählige anregende Gespräche danken. Besonders herzlich möchte ich mich bei den Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen vom Kunsthistorischen Institut, der Kunsthochschule für Medien in Köln sowie den unterschiedlichen Arbeitsgruppen und Lesezirkeln bedanken, die das Entstehen meines Buches fast von Beginn an mit größter fachlicher Expertise, wertvollen praktischen Ratschlägen und Freundschaft begleitet, Teile der Arbeit – oder sogar die ganze Arbeit – gelesen und intensiv mit mir diskutiert haben. Namentlich sind das vor allem: Anina Baum, Kathrin Barutzki, Franziska Bolz, Lisa Bosbach, Julia Crispin, Jennifer Crowley, Steffen G ­ oldbecker, Dirk Grün, Philipp Fernandes do Brito, Lilian Haberer, Jee-Hae Kim, Martha Martens, Sarah Maupeu, Stephanie Sarah Lauke, Pavla Ralcheva, Stefanie Schrank, Judith Schulte und Christiane Wanken. Maßgeblich zum Gelingen der Arbeit haben auch meine Freundinnen und Freunde sowie Kolleginnen und Kollegen der a. r. t. e. s. Graduate School for the Humanities Cologne beigetragen – durch zahlreiche Diskussionen meiner Arbeit in unterschiedlichen Stadien in Kolloquien, inspirierende Gespräche in Küche oder Flur, gemeinsame Mittagsund Kaffeepausen, nette Bürogemeinschaften und kreativen Input. Einige Verbindungen entwickelten sich zu langjährigen Freundschaften, die mir sehr viel bedeuten. Mein Dank geht hier insbesondere an meine Wegbegleiterinnen Stefanie Coché, Cornelia Kratz, Jule Schaffer, Britta Tewordt und Francesca Valentini, an die ehemalige a. r. t. e. s.-Klasse 2 „Dynamische Netzwerke der Moderne“, deren Klassenleiter Rudolf Drux sowie alle, die während meiner Promotionszeit das Büro mit mir geteilt haben. Darüber hinaus möchte ich Artemis Klidis-Honecker, Andreas Speer und dem gesamten a. r. t. e. s.-Team für ihre Unterstützung meinen Dank aussprechen.

Dank |

Für inspirierende Diskussionen und wertvolles Feedback danke ich außerdem dem Doktorand*innen-Netzwerk Gender und Queer der Universität zu Köln, hier insbesondere Judith Arnau, Manon Diederich, Lisa Krall und Christina Lammer. Nur schwer in Worte fassen lässt sich schließlich der Dank an meine Familie und – sofern sie nicht bereits genannt sind – meine Freundinnen und Freunde. Sie haben mir stets unterstützend in Wort und Tat zur Seite gestanden, sich für meine Themen begeistert, mich motiviert und ermutigt, an mich geglaubt und schwierige Phasen sowie meine Erfolge mit mir geteilt. Hiermit danke ich meinen Großeltern, meiner Tante und meinen Patentanten für ihre Unterstützung während der Promotionszeit. Meinen Geschwistern Theresa Stauch, Florian Kühn, Lukas Kühn und Paul Kühn möchte ich für emotionalen Rückhalt, Füreinander-Da-Sein und ihr Verständnis danken. Ganz besonders danke ich Alexander van Wickeren für seine Wertschätzung meiner Arbeit, seinen Humor und Enthusiasmus, seine Zuversicht und sein Vertrauen. Großer Dank gilt meinen Eltern Axel und Sabine Kühn, die meine Ausbildung mit all ihren Umwegen vorbehaltlos, geduldig und ermutigend in jeder erdenklichen Form unterstützt haben. Ihnen widme ich dieses Buch. Köln, im Januar 2020

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Personenregister A Abels, Heinz  167, 169 – 171 Abramović, Marina  54, 117, 123, 156, 159, 179, 188 – 190, 217, 226, 273 Acconci, Vito  97, 123, 175 – 176, 190 Aczél, György  124 Ahearn, Charles  262 Antczak, Wacław  229, 232, 242 Archey, Karen  220, 227, 246, 255, 259, Armleder, John M.  66 – 67, 129 Arndt, Agnes  29 – 31 Arns, Inke  63 – 66, 243 Auslander, Philip  16, 147 – 149, 164, 175 – 176, 285 – 286 Austin, John L.  16, 145 – 147, 286 B Bader, Lena  32 Badovinac, Zdenka  36 Bal, Mieke  12 – 13, 16, 148 – 149 Barnevald, Aart van  262 Bátorová, Andrea  38 Bauman, Richard  175 – 176 Baxandall, Michael  12, 23 Beckmann, David  49 Beke, László  124, 262 Bereś, Jerzy  135 Bernhardt, Ulrich  262 Beuys, Joseph  266, 273, 275 Białostocki, Jan  27 Bishop, Claire  41, 51, 60, 105, 285 Blum-Kwiatkowski, Gerhard Jürgen  266 Bogucki, Janusz  287 Bogucki, Maria  287 Boltanski, Christian  206 Borowski, Włodzimierz  239 Bourdieu, Pierre  20 Brand, Jan  262 Brandes, Uta  262, 273 Brecht, George  126 – 127, 130 Brežnev, Leonid Il’ič  116

Bronson, AA  189 Brosman, Duzan  197 Bruszewski, Wojciech  229 Bryzgel, Amy  40, 218, 221, 238 Burden, Chris  117, 123, 190 Bürger, Peter  17, 259 Butler, Judith  16, 20, 96 – 97, 117, 145 – 147, 286 Byczewski, Jacek  229 C C, Richard  130 Cădere, Andrei  206 Cameron, Shirley  262 Carrion, Ulisses  262, 273 Castelli, Leo  188 – 190 Ceauşescu, Nicolae  165, 202 Chalupecký, Jindřich  115 Charlesworth, Sarah  188 Chruščëv, Nikita Sergeevič  116 Cixous, Hélène  136 Coleman, James  148 Colette 188 Cottingham, Laura  15 Crimp, Douglas  190 Crozier, Robert  262 Czirak, Adam  155 D De Rook, Gerrit Jan  262 De Sousa, Ernesto  262 Dębska, Tatiana  221 De Certeau, Michel  57 – 58, 110 – 111, 131, 194, 200 – 201, 284, 286, 289 Dimitrijević, Braco  54 Dłubak, Zbigniew  186 Dmitrieva-Einhorn, Marina  28 Doane, Mary Ann  182 – 183 Dubček, Alexander  116 Dušková, Dagmar  37 Dylan, Bob  94 – 97, 267 Dziamski, Grzegorz  246

Personenregister |

Dzieduszycki, Antoni  186 Dziekański, Waldemar  229 Džuverović, Lina  184 E Elias, Friederike  19 Engelbach, Barbara  16 Erlhoff, Michael  262 Eva & Adele  217 Export, Valie  193 Eykelboom, Hans  262, 273 F Fähnders, Walter  18 Falender, Barbara  229 Filliou, Robert  126 Fischer-Lichte, Erika  16, 145 – 147, 149, 179 – 180, 226, 286 Flusser, Vilém  77 – 79, 97 – 98, 285 Forgacs, Eva  38 Forti, Simone  190 Foucault, Michel  162 Fowkes, Maja  38 Fox, Terry  190 Franus, Ewa  278 Franz, Albrecht  19 Freisler, Paweł  239 Freud, Sigmund  162, 188 G Gaier, Martin  32 Gantenbein, Gabriela  135 Gibson, John  188 Gierek, Edward  195, 197, 228, 245 Gilbert & George  217 Goehr, Lydia  10 – 11, 283, 289 Goffman, Erving  21, 44 – 45, 66, 80, 98 – 104, 136, 147, 166 – 167, 169 – 174, 181, 185, 227, 233 – 235, 285 – 286, 288 Goldberg, RoseLee  15 Gotovac, Tomislav  122, 262 Gribling, Frank  262 Grigorescu, Ion  30, 43 – 44, 80, 132 – 136, 141 – 145, 149 – 153, 156 – 158, 160, 162 – 165,

168, 170 – 174, 176, 180 – 181, 184 – 185, 201, 203 – 208, 211, 285 Grigorescu, Octav  141 Gudmundsson, Sigurdur  262 Gutt, Wiktor  229 H Haacke, Hans  188 Häberlen, Joachim C.  29 – 30 Hahn, Kornelia  102 – 103 Hall, Davis  262 Hansen, Oskar  217 – 218, 221, 228 – 229, 233, 237 – 243, 262 – 263 Havel, Václav  109, 115, 117, 195 – 196, 207, 227 – 228, 287 Havlík, Vladimír  109 Havránek, Vít  89, 105 Herterich, Werner  262 Higgins, Dick  126 Hladík, Lumír  121 Hock, Beata  38 Homem, Antonio  189 Hoptman, Laura  36 I Indiana, Robert  198 J Jakubowska, Agata  37, 186, 188, 192 – 194, 197 Jappe, Elisabeth  36 Jarnuszkiewicz, Jerzy  217, 239, 263 Jaworski, Rudolf  28 Jochum, Uwe  282 Johnson, Ray  130 Jung, Krzysztof  239 K Kahlen, Wolf  262 Kellmann, Marion  49 Kelly, Mary  259 Kemény, Réka  44, 53 Kemp-Welch, Klara  39 – 40, 51, 60 – 61, 81, 88, 97, 115, 123 – 124, 218 Klein, Werner  202

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| Personenregister

Knížák, Milan  38, 118, 126 Knowles, Alison  262 Koch, Gertrud  177 Kocman, Jiří  126 Koller, Július  122 Konart, Tomasz  120 Konieczny, Marek  250 – 251 Konieczny, Marian  216 Kossuth, Joseph  188 Kotarbiński, Tadeusz  260 – 261 Kovanda, Jiří  30,43 – 44, 46 – 47, 50 – 52, 58, 61, 66, 70 – 101, 103 – 111, 113 – 115, 118 – 123, 125 – 126, 131, 204, 232, 262, 267, 285 Kowalczyk, Izabela  193 Kowalski, Grzegorz  228 – 229, 237 Krauss, Rosalind  16 – 17, 160 – 161 Krinzinger, Ursula  188 Kristeva, Julia  178, 286 Krüger, Constance  44 Kulik, Zofia  15, 37, 41 – 43, 45, 118, 120 – 122, 208, 217 – 218, 220 – 221, 228 – 230, 234, 236 – 237, 239 – 241, 246 – 255, 258 – 260, 265 – 266, 268 – 271, 275 – 280, 282, 287 Kundera, Milan  61 Kwiek, Maksymilian Dobromierz  121, 255 – 259 Kwiek, Paweł  217, 221, 229, 237, 269 Kwiek, Przemysław  15, 37, 118, 120 – 121, 208, 217 – 218, 220 – 221, 229, 240, 246 – 253, 255, 258, 260, 262, 265 – 266, 268 – 271, 275 – 280, 287 KwieKulik  15, 30, 36 – 37, 41 – 42, 45, 63, 83, 120 – 123, 208, 213 – 215, 217 – 222, 226 – 230, 232 – 234, 236 – 237, 239, 241 – 243, 245 – 285, 287, 290 L Lacan, Jacques  151, 154 – 156, 162, 188, 285 Lach, Edward  138 Lach-Lachowicz, Natalia  siehe LL, Natalia Lachowicz, Andrzej  185 – 186, 188 Lachowski, Marcin  237 – 238, 240 Lake, Suzy  188, 193 Landwehr, Achim  23 Larsen, Dirk  262, 273 Latour, Bruno  20

Laube, Stefan  173 Leaman, Michael  262 Le Gac, Jean  206 Lemańska, Ewa  221 – 223, 225 – 227 Lenin, Vladimir Il’ič  60, 62, 65, 116 Leszczyński, W.  229 Licoppe, Christian  102 Lippard, Lucy  188 – 189, 192 LL, Natalia  43 – 44, 54, 80 – 81, 132 – 133, 136 – 138, 140 – 141, 145, 149, 151 – 152, 156, 159 – 160, 162 – 166, 168, 170 – 171, 173, 176 – 178, 180, 182 – 194, 197 – 201, 206 – 207 – 208, 210, 212, 223, 244, 285 – 286 Łomnicki, Jacek  229, 237 Lorenc, Kasia  142 Löser, Claus  44, 282 M M., Ela  138 Maidan, Noémi  188, 193 Maier, Tobi  114 Mandič, Dušan  34 Marica 205 Marioni, Tom  117 Marks, Laura  181 McCall, Anthony  188 Merleau-Ponty, Maurice  146, 177 Michalak, Katarzyna  217, 277, 280 Miler, Karel  71, 89, 122 – 123, 262 Miller, Alexei  28 Miller, Roland  262 Mintz, Sidney Wilfred  31 Mlčoch, Jan  89, 95, 122 – 123, 262 Mlynarčik, Alex  38 Mohar, Miran  34 Montez, Mario  198 – 200 Morel, Henryk  229, 233 Morganová, Pavlína  15 – 16, 37 – 38, 51, 106, 110, 117 Mościcki, Paweł  242, 249, 254, 258 – 259, 264 Mrozek, Zbigniew  229 Muchina, Vera  278 Mulvey, Laura  154 – 155, 182 – 183 Murmann, Henning  19

Personenregister |

N Nabakowski, Gislind  188 Nader, Luiza  37, 44, 218, 263 – 264 Neagu, Paul  203 Neusüss, Floris  262 Niedbał, Jacek  292 Nieslony, Boris  42 – 43 O Obrist, Hans-Ulrich  51 Oppenheim, Dennis  188, 190 Orišková, Maria  40 P Pachmanová, Martina  192 Paczkowski, Andrzej  195 Pál, Pátzay  62 Palach, Jan  109 Palestine, Charlemagne  190 Pane, Gina  188, 190, 193 Paripović, Neša  262 Partum, Andrzej  121, 244 Partum, Berenika  125 Partum, Ewa  43 – 44, 121, 125, 132, 244 Passendorfer, Jerzy  222 Pejić, Bojana  192, 194, 197, 277 Perneczky, Géza  42, 44 Pinińska-Bereś, Maria  132 Pintilie, Ileana  15 – 16, 38, 133, 144 – 145, 162, 164, 202, 207 Piotrowski, Piotr  24, 32 – 34, 39 – 40, 44, 135, 182, 194 – 196, 202, 228, 263, 287 – 288 Piotrowski, Zygmunt  245 Piwowarska, Barbara  44 Politi, Giancarlo  188, 262 Pospiszyl, Tomáš  36, 51, 89 Puckey, Thom  262, 273 Puttkamer, Joachim von  26, 28 R Raab, Jürgen  169 Radziszewski, Karol  159, 189 – 191, 198 – 200 Rancillac, Bernard  205 Reckwitz, Andreas  20

Rehfeldt, Robert  262 Reinecke, Christiane  29, 30 Renz, Seraina  44 Riviere, Joan  183 Robakowski, Józef  43, 229 Robertson, Iain  262 Röder, Kornelia  42, 44 Rogoff, Irit  33 Ronduda, Łukasz  25, 37, 42, 218, 222, 236, 239, 242, 244 – 246, 251, 271, 278, 290 Rosenbach, Ulrike  97, 193 Rottenberg, Anda  37, 271 Różycki, Andrzej  229 Rudnev, Lev  241 Rumin, Marian  229 – 230, 235, 237 S Sasse, Sylvia  63 – 66, 243 Savski, Andrej  34 Schmidt, Grażyna  239 Schneemann, Carolee  188 – 189, 191, 193 Schöllhammer, Georg  37, 42, 133, 135, 218 Schraenen, Guy  262 Schulz, Josef  106 Schwarz, Isabelle  43 Schweinebraden, Jürgen  262 Sellem, Jean  262 Ševčík, Jiří  37 – 38 Sieverding, Katharina  54, 193 Sikorski, Tomasz  119 – 121 Sitkowska, Maryla  217 – 218, 228 – 229, 238 – 239, 241 268 Słomiński, Jerzy  239 Smeets, Aggy  273 Smith, Jack  199 Smolik, Noemi  51, 106 Sobchack, Vivian  177 Sokołowska, Roksana  229 Sonnabend, Ileana  188, 191 Stalin, Iosif Vissarionovič  115 – 116, 202, 241 Stallschus, Stefanie  16 Štembera, Petr  89, 95, 115, 117, 122 – 123, 126, 262 Stempfhuber, Martin  102 – 103

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| Personenregister

Stepanow, Alexander W.  238 Stiles, Kristine  40, 136, 163 Stötzer, Gabriele  44 Szymański, Wojciech  189 – 190 T Toniak, Ewa  132 Tót, Endre  24, 30, 42, 44, 46 – 71, 78, 90 – 92, 94, 98, 104 – 106, 110 – 116, 124 – 131, 206, 209, 232, 285 Trbuljak, Goran  262 Troebst, Stefan  27 Tuč, Pavel  73 – 76, 80, 82 – 84, 87, 89 – 90, 107, 114, 120 Tumielewicz, Czesław  229 Turowicz, Joanna  280 U Ulay  123, 217, 273 Uranjek, Roman  34 V Vacík, Ivan  121 Valoch, Jiří  126, 262 Van Beveren, Peter  262 Van den Berg, Hubert  18 Van der Weide, Albert  262, 273 Van Mechelen, Marga  262, 273 Vautier, Ben  126 Verwoert, Jan  133 Vogelnik, Borut  34

W Warburg, Aby  32 Warhol, Andy  198 – 199 Wasiak, Patryk  25, 40 Wasilewski, Edward  229 Weibel, Peter  38, 262 Weiner, Lawrence  126 Weiser, Ulrich Wilhelm  19 Widmer, Peter  151 Wieder, Axel  218 Wirth, Uwe  16 Wiśniewski, Anastazy B.  229, 257 Wojciechowski, Jan S.  221, 229, 268 – 269 Wolf, Falk  32 Wolf, Ruth  262 Woźniak, Roman  239 Z Zabel, Igor  109 Zajíc, Jan  109 Zalewski, Jacek  221 Załuski, Tomasz  260 Zarębski, Krzysztof  244 Zdrojewski, Bartłomiej  221 Zechner, Anke  176, 181 Zeyfang, Florian  218 Žižek, Slavoj  63 – 65