Maximilian Kaller - Bischof der wandernden Kirche: Flucht - Vertreibung - Integration - Brückenbau 340215711X, 9783402157114


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Table of contents :
Title
Inhalt
Vorwort
Thomas Flammer: Bischof Maximilian Kaller und der katholische Seelsorgsdienst für die „Wandernde Kirche“
Rainer Bendel: Maximilian Kaller – Grundanliegen des „Vertriebenenbischofs“
Karolina Lang-Vöge: Maximilian Kaller als Deuter der ermländischen Glaubensgemeinschaft nach Flucht und Vertreibung
Alfred Penkert: Die Alltagssituation der Ermländer 1945-1947 im Spiegel ihrer Korrespondenz mit Bischof Maximilian Kaller
Michael Hirschfeld: Impulse Maximilian Kallers für die Vertriebenenseelsorge und Erfahrungen an der Basis. Das Fallbeispiel des Oldenburger Landes
Mathias Beer: ‚Flüchtlingsforschung’. Anmerkungen und Thesen
Markus Leniger: Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und SS-Umsiedlungspolitik. Zur Vor-Geschichte von Flucht und Vertreibung
Gregor Ploch: Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im besetzten Polen und ihre Auswirkungenauf das deutsch-polnische Verhältnis nach 1945
Hans-Jürgen Karp: Die Reaktion des deutschen Episkopats auf die Verfolgung der polnischen Kirche in den eingegliederten Ostgebieten des Deutschen Reiches
Hans-Jürgen Bömelburg: Flucht und Vertreibung in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit. Zwischen Medienereignis und dem Scheitern einer europäischen Erinnerung an die Zwangsmigrationen
Gerd Fischer: Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945. Reflexionen eines Geschichtslehrers
Biogramm Maximilian Kaller
Ortsregister
Personenregister
Autorenverzeichnis
Karten
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Maximilian Kaller - Bischof der wandernden Kirche: Flucht - Vertreibung - Integration - Brückenbau
 340215711X, 9783402157114

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Die Herausgeber Dr. Thomas Flammer, geb. 1975, seit 2004 Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für die Geschichte des Bistums Münster (WWU Münster) und Geschäftsführer des Instituts für religiöse Volkskunde in Münster, seit 2005 Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte an der Universität Kassel. Dr. Hans-Jürgen Karp, geb. 1935, zuletzt stellv. Direktor des HerderInstituts für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg, Vorsitzender des Historischen Vereins für Ermland.

ISBN 978-3-402-15711-4

Maximilian Kaller – Bischof der wandernden Kirche Flammer | Karp (Hgg.)

Der Sammelband würdigt das Wirken des ermländischen Bischofs Maximilian Kaller (1880–1947). Zugleich behandelt er die Frage, wie sich die nationalen und internationalen Diskussionen über Zwangsumsiedlungen von Bevölkerungen, die Eingliederung der Vertriebenen in die Aufnahmeländer und das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern entwickelt haben. Für Kallers pastorales Wirken war das ab Ende 1933 entwickelte neuartige Seelsorgemodell der Wandernden Kirche kennzeichnend, das den durch staatliche Binnenwanderung aus ihrer gewohnten Umgebung gerissenen Katholiken weiterhin eine kirchliche Anbindung ermöglichen und sie in einem weiteren Schritt zur religiösen Mündigkeit führen sollte. Zwei Regionalstudien zeigen, welche Impulse von den heimatvertriebenen Katholiken ausgegangen sind und welche seelsorglichen Konzepte für deren Betreuung und Integration maßgebend waren. Weitere Themen sind die NS-Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten im Osten als Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, die deutschpolnischen Kirchenbeziehungen während des zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit sowie der jüngere, national überformte und von Diktaturen beeinträchtigte geschichtspolitische Diskurs in Deutschland und Polen über Flucht und Vertreibung. Eine Brückenfunktion können von Vertreibungserfahrungen geprägte Bevölkerungsgruppen – die polnischen wie die deutschen Vertriebenen – einnehmen. Ob künftig eine europäische Erinnerung möglich sein wird, entscheidet sich maßgeblich im fortdauernden deutsch-polnischen Dialog.

Maximilian Kaller Bischof der wandernden Kirche

Flucht und Vertreibung – Integration – Brückenbau Herausgegeben von Thomas Flammer und Hans-Jürgen Karp

Aschendorff Verlag

Maximilian Kaller – Bischof der wandernden Kirche

Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands

Beiheft 20

Maximilian Kaller Bischof der wandernden Kirche Flucht und Vertreibung – Integration – Brückenbau

Herausgegeben von Thomas Flammer und Hans-Jürgen Karp

Umschlagfoto: Bischof Maximilian Kaller mit seinem Sekr etär Dr. Gerhard Fittkau in seiner Frankfurter Einzimmerwohnung am 23.12.1946. © Archiv des Visitators Ermland, Münster Abbildung auf dem Schmutztitel: Motiv einer Meldekarte des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche aus dem Jahr 1937. © Bistumsarchiv Hildesheim

© 2012 Aschendor ff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist ur heberrechtlich geschützt. Die dadur ch begründeten Rechte, insbesonder e die der Übersetzung, des N achdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem W ege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser V erwertung, vorbehalten. Die V ergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 Ur hG werden durch die V erwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG,Münster Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-15711-4 ISSN 0342-3344

Inhalt Vorwort ....................................................................................................................... 001

I Thomas Flammer Bischof Maximilian Kaller und der katholische Seelsorgsdienst für die „Wandernde Kirche“ ................................................................................................ 005 Rainer Bendel Maximilian Kaller – Grundanliegen des „Vertriebenenbischofs“ ..................... 023 Karolina Lang -Vöge Maximilian Kaller als Deuter der ermländischen Glaubensgemeinschaft nach Flucht und Vertreibung.................................................................................... 055 Alfred Penkert Die Alltagssituation der Ermländer 1945-1947 im Spiegel ihrer Korrespondenz mit Bischof Maximilian Kaller .......................................... 066 Michael Hirschfeld Impulse Maximilian Kallers für die Vertriebenenseelsorge und Erfahrungen an der Basis. Das Fallbeispiel des Oldenburger Landes .............................................................. 077 Mathias Beer ‚Flüchtlingsforschung’. Anmerkungen und Thesen ............................................. 091

II Markus Leni ger Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und SS-Umsiedlungspolitik. Zur Vor-Geschichte von Flucht und Vertreibung ................................................ 105 Gregor Ploch Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im besetzten Polen und ihre Auswirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis nach 1945........ 128 Hans-Jürgen Ka rp Die Reaktion des deutschen Episkopats auf die Verfolgung der polnischen Kirche in den eingegliederten Ostgebieten des Deutschen Reiches ............................................................................................. 158

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Hans-Jürgen Bömelburg Flucht und Vertreibung in der deutschen und in der polnischen Öffentlichkeit. Zwischen Medienereignis und dem Scheitern einer europäischen Erinnerung an die Zwangsmigrationen ......................................... 173 Gerd Fischer Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und der polnischen Literatur nach 1945. Reflexionen eines Geschichtslehrers ................................. 188 Biogramm Kaller ....................................................................................................... 201 Ortsregister ................................................................................................................. 202 Personenregister .......................................................................................................... 207 Autorenverzeichnis ................................................................................................... 210 Karten Ansiedlung von Deutschen im besetzten Polen (1939-1944) ............................. 212 Evakuierung und Flucht der deutschen Bevölkerung nach Westen (Juli 1944 – Mai 1945 ) ............................................................................................... 213 Zwangsaussiedler aus Polen in die Besatzungszonen Deutschlands (1945 – 1949 ) .............................................................................................................. 214 Deutsche Zwangsaussiedler aus Polen, nach Wojewodschaften (Regionen) (August 1945 – 1947) ................................................................................................. 215

Vorwort Im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine systematische Erforschung der Integration der katholischen Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland ist die Bedeutung, die dem Wirken Maximilian Kallers (1880-1947) als Hirte der Ermländer in der Vertreibung seit September 1945 und in seiner Funktion als Päpstlicher Sonderbeauftragter für die heimatvertriebenen Deutschen 1946/47 zukommt, bisher nicht hinreichend erforscht und gewürdigt worden. Zugleich stellt sich im Rückblick auf die letzten sechs Jahrzehnte die Frage, wie sich die nationalen und internationalen Diskussionen über Zwangsumsiedlungen von Bevölkerungen, die Eingliederung der Vertriebenen in die Aufnahmeländer und das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern entwickelt haben. Mit diesen Themen beschäftigte sich aus Anlass des 60. Todestags des Bischofs von Ermland Maximilian Kaller eine vom Historischen Verein für Ermland in Verbindung mit dem Institut für die Geschichte des Bistums Münster veranstaltete Tagung, die am 8. September 2007 in der Akademie Franz-HitzeHaus in Münster stattfand. Die Vorträge wurden zum Teil für den Druck ausgearbeitet und werden hier zusammen mit drei weiteren Beiträgen veröffentlicht, welche die vielschichtige Thematik vertiefen. Schon dem jungen Priester Maximilian Kaller wurde eigenständige Verantwortung in der Seelsorge übertragen – auf schwierigstem Terrain, als Seelsorger auf Rügen 1905 bis 1917. Die Diaspora, die Sorge um die Badegäste und für die polnischen Schnitter prägten seine Aufbauarbeit; seine Erfahrungen waren entscheidend für die weiteren Stationen seiner Arbeit: als Pfarrer von St. Michael in Berlin, als Apostolischer Administrator in Schneidemühl, als Bischof von Ermland in der Zeit der NS-Dikatur und schließlich als Vertriebenenbischof. Für Kallers pastorales Wirken waren zwei Modelle kennzeichnend, die von Papst Pius XI. ins Leben gerufene „Katholische Aktion“ und der „Seelsorgsdienst für die Wandernde Kirche“. So konnte er seinen ermländischen Diözesanen ihr Vertreibungsschicksal deuten und sie zu aktivem Einsatz für Kirche und Gesellschaft ermuntern. Das ab Ende 1933 entwickelte neuartige Seelsorgemodell der Wandernden Kirche sollte den durch staatliche Binnenwanderung aus ihrer gewohnten Umgebung gerissenen Katholiken weiterhin eine kirchliche Anbindung ermöglichen und sie in einem weiteren Schritt zur religiösen Mündigkeit führen. Insbesondere auf die Initiative Bischof Kallers ist es zurückzuführen, dass mit der der 1934 eingerichteten Berliner Geschäftsstelle „Katholischer Seelsorgedienst für die Wandernde Kirche“ erstmals ein gesamtdeutsches Seelsorgeprojekt der damaligen Bischofskonferenzen ins Leben gerufen wurde, welches sich mit einer mobiler werdenden Gesellschaft auseinandersetzte. Die Spannung zwischen Integration und Bewahrung der regionalen und kulturellen Identität der verschiedenen Gruppen der katholischen Heimatvertriebenen ist auch mehr als sechs Jahrzehnte nach Kriegsende eine bisweilen heftig diskutierte Frage. Wie Bischof Kaller den Heimatverlust gedeutet, wie er das Heimatbewusstsein der Vertriebenen zu festigen versucht, sie zugleich zur vorbehaltlosen

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Vorwort

Integration in ihre neue Umwelt bewegt und zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung ermahnt hat: All das spiegelt sich in seiner überaus umfangreichen Korrespondenz der Jahre 1945-1947. Ob und ggf. welche Impulse für Umbrüche in Kirche und Gesellschaft von den heimatvertriebenen Katholiken ausgegangen sind und welche seelsorglichen Konzepte für deren Betreuung und Integration maßgebend waren, lässt sich an Regionalstudien, beispielsweise an der Situation im Oldenburger Land zeigen. Eine Bilanz der bisherigen Integrationsforschung mit dem Schwerpunkt auf der Region Südwestdeutschland und die daraus entwickelten Thesen zu ihren Perspektiven können als ein Modell für ein Forschungsprogramm auch über andere Regionen angesehen werden kann. „Die Phase der geistigen Auseinandersetzung mit dem Vertreibungsgeschehen ist nicht abgeschlossen“ – so Weihbischof Gerhard Pieschl in seiner Darstellung der Entwicklung der Vertriebenenseelsorge.1 Dabei ist es in Gegenwart und Zukunft besonders wichtig, diese Fragen im Vergleich und im Dialog mit den von Zwangsmigrationen betroffenen Ländern und Völkern zu erörtern. Maximilian Kaller hat in den scharfen nationalpolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen als Apostolischer Administrator in Schneidemühl und als Bischof von Ermland – entsprechend den Erwartungen – eine herausragende Bedeutung erlangt. Richtschnur ist für ihn der gemeinsame katholische Glaube seiner Diözesanen gewesen, waren sie nun Deutsche, Polen oder anderer Nationalität. Unermüdlich hat er sich den damit verbundenen Herausforderungen gestellt, Versuchen politischer Vereinnahmung für nationalpolitische Interessen von deutscher wie polnischer Seite konsequent widerstanden und sich beharrlich für die Gewährleistung einer Seelsorge in der Muttersprache eingesetzt – für Wünsche der Mehrheitsnation der Deutschen, soweit sie berechtigt waren, ebenso wie für die Rechte der ethnisch-sprachlichen Minderheiten. Deshalb widmete sich die Tagung in einem zweiten Teil der Problematik der durch das Vertreibungsgeschehen belasteten deutsch-polnischen Beziehungen, und zwar einerseits mit einem Rückblick auf die Vorgeschichte der Vertreibung und ihre Auswirkungen auf die gegenseitigen Beziehungen der Kirchen beider Länder in der Nachkriegszeit und andererseits auch mit dem Versuch einer Bewertung des aktuellen Standes der Beziehungen im kollektiven Bewusstsein der beiden Gesellschaften. Im innerdeutschen Diskurs haben neuere Forschungen zur Erkenntnis geführt, dass die Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus Polen und der Tschechoslowakei letztlich nur die Fortführung einer von Hitler und Himmler ausgelösten Westwanderung deutscher Minderheiten war. Der für diesen Band zur Verfügung gestellte Beitrag behandelt die im Rahmen der angestrebten „Germanisierung des Ostens“ betriebene nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und SSUmsiedlungspolitik, die in der damaligen Öffentlichkeit immer wieder als „gewaltigste staatsgelenkte Völkerwanderung aller Zeiten“ apostrophiert worden ist, als Vor-Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten in Ostmitteleuropa. In diesen Zusammenhang ist auch die Rolle Maximilian Kallers als Referent der Fuldaer Bischofskonferenz für die katholische ländli-

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GERHARD PIESCHL, Entwicklung der Vertriebenenseelsorge in der Katholischen Kirche der Bundesrepublik Deutschland. In: Kirche und Heimat. Die katholische Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge in Deutschland. Bonn 1999, S. 11-26, hier S. 12.

Vorwort

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che Siedlung und sein Wirken für die von Umsiedlung betroffenen Menschen im Rahmen der „Wandernden Kirche“ neu einzuordnen. Ein nicht unerheblicher Faktor, der den deutsch-polnischen zeitgeschichtlichen Diskurs nach wie vor bestimmt, betrifft gerade die katholische Kirche beider Seiten und kann ihr gegenseitiges Verhältnis weiterhin belasten. Es geht – wie Robert Żurek meint2 – um die aus der Sicht der Deutschen diametrale Diskrepanz in der gegenseitigen Haltung in den Kriegsjahren und nach dem Kriegsende. Sie zeige sich in der Auffassung der meisten Deutschen, die deutsche Kirche habe sich im Krieg nach Kräften für die verfolgten Polen eingesetzt, wohingegen die polnische Kirche nach 1945 an der Verfolgung der deutschen Katholiken in den Oder-Neiße-Gebieten beteiligt gewesen sei. Die deutschen Historiker hätten vielmehr – beklagt Żurek – in den wenigen vorhandenen Werken zur Kirchengeschichte im Zweiten Weltkrieg den deutsch-polnischen Fragen nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwei Beiträge suchen diese Lücke zu füllen. Der Überblick über den Stand der Forschung zur Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im besetzten Polen wird mit der Frage verbunden, wie sich die antideutsche Stimmung in Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch im kirchlichen Raum bemerkbar gemacht und wie sich die polnische Kirchenführung dazu verhalten hat. Das Urteil darüber, ob der deutsche Episkopat unter Berücksichtigung eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten auf die Verfolgung der katholischen Kirche in Polen angemessen reagiert hat, bleibt umstritten. Jedenfalls wird aber die besondere persönliche Note in den Aktionen des Seelsorgebischofs Maximilian Kaller angesichts der komplizierten politischen Rahmenbedingungen in seinem Zuständigkeitsbereich sichtbar. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen und politischen Diskussion über Flucht und Vertreibung im jüngeren geschichtspolitischen Diskurs zwischen Deutschland und Polen steht die Frage, unter welchen Bedingungen die emotionale Erinnerung an nationale Zwangsmigrationen in eine weniger konfliktträchtige, offene europäische Erinnerung überführt werden kann. Die deutsche und die polnische Gesellschaft waren in besonders starkem Maße von Zwangsmigrationen betroffen, und im kollektiven Bewusstsein beider Gesellschaften ist eine Täterrolle wie eine Opfererinnerung vorhanden. Die verschiedenen Etappen der Erinnerung an die Zwangsmigrationen sind stark national überformt und von Diktaturen (Volksrepublik Polen, DDR) beeinträchtigt. Seit 1990 kennzeichnen verpasste Chancen das deutsch-polnische Nebeneinander: Die polnische Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung in den 1990er Jahren ist in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden, und seit 2002 wurde der Dialog durch eine populistische Politisierung des Themas insbesondere in Polen erschwert, in der auch die Massenmedien eine unrühmliche Rolle spielten. Ob eine europäische Erinnerung möglich sein wird, entscheidet sich maßgeblich im fortdauernden deutschpolnischen Dialog. In einer transnationalen europäischen Erinnerung nehmen von Vertreibungserfahrungen geprägte Bevölkerungsgruppen – die polnischen wie die deutschen Vertriebenen - potentiell eine Brückenfunktion ein, da die Familienerinnerung und das Bewusstsein des Heimatverlusts auch für Opfer anderer Bevölkerungs2

ROBERT ŻUREK, Die Haltung der katholischen Kirche in Deutschland gegenüber den polnischen Katholiken im Zweiten Weltkrieg. In: INTER FINITIMOS 3 (2005), S. 11-51.

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Vorwort

gruppen sensibilisieren können. Diese Brückenfunktion kommt jedoch durch den tradierten Erzählrahmen der nationalen Erinnerung in Polen (Opferrhetorik) und die Beschwörung traditioneller Stereotypen in deutschen Medien („polnische Nationalisten“) nicht zum Tragen. Eine neuere wissenschaftliche Untersuchung, welche die ganz unterschiedlichen Konstruktionen der Vergangenheit Ostpreußens nach 1945 in der deutschen und polnischen Literatur beschreibt und analysiert, greift das Paradigma der Brückenfunktion auf. Die Literatur wird als Träger des kulturellen Gedächtnisses gesehen, die die kollektive Erinnerung entscheidend mitgestaltet. Die Veränderungen in den polnischen und deutschen Gedächtniskulturen nach 1989 haben die Bedingungen für einen freien – ,europäischen’ - literarischen Erinnerungsdiskurs über Ostpreußen geschaffen. Diese einmalige Chance gilt es kreativ zu nutzen. Die Herausgeber geben der Hoffnung Ausdruck, dass der vorliegende Sammelband mit seinen Beiträgen zu ausgewählten Aspekten einer vielschichtigen Thematik nicht zuletzt für die historisch-politische Bildungsarbeit auf einem bisher eher unzureichend berücksichtigten Feld von Nutzen sein wird. Unser Dank für Korrekturen und Mithilfe gilt den Mitarbeitern/innen des Instituts für die Geschichte des Bistums Münster, Irmin Brocker, Sven Kathmann und Rebecca Syma. Besonders sei an dieser Stelle Anne Grüßing erwähnt, die kompetent und ausdauernd die Gestaltung dieses Tagungsbandes übernommen hat. Herzlichen Dank! Marburg und Münster, im Sommer 2012 Thomas Flammer Hans-Jürgen Karp

Bischof Maximilian Kaller und der katholische Seelsorgsdienst für die „Wandernde Kirche“ THOMAS FLAMMER „Unser Volk ist unterwegs, Millionen Deutsche wandern! Nicht so sehr über die Grenzen, sondern im Raume ihres weiten Vaterlandes. Junge Menschen fahren hinaus ins Leben, zur Ausbildung, zum Dienst, zum Broterwerb, Familien wechseln Wohnung und Stellung. Hunderttausende folgen dem Rufe des Staates im Arbeitseinsatz, zu Arbeits- und Wehrdienst, Landdienst, Landhilfe, Landjahr, Pflichtjahr. Unser Volk wandert, schichtet sich um, mit ihm wandert auch die Kirche. Millionen Christen wandern. Wandernde Kirche!“1

Das Thema Kaller und die „Wandernde Kirche“ führt mitten in den seit den 1960er Jahren bevorzugten Komplex „Katholizismus und Nationalsozialismus“ der katholischen Zeitgeschichtsforschung.2 Hierbei kam in den letzten Jahren neben der sozialen und politischen Gestalt der Kirche zunehmend die „gesellschafts- und alltagsprägende Kraft des ‚Religiösen’ in den Blick; auch und gerade bezogen auf den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess.“3 Von besonderer Relevanz ist diesbezüglich die Milieuforschung, die wichtigste Ergebnisse für ein erweitertes Bild des Katholizismus liefert.4 Die zunehmende Anzahl der Veröffentlichungen zum genannten Arbeitsfeld zeigt eindeutig, dass das Thema keinesfalls „abgearbeitet“ ist und sich weiterhin immer wieder neue Fragestellungen finden lassen. Ein Beispiel hierfür ist die bislang kaum erforschte Arbeit des „Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche“, der von den Deutschen Bischöfen zunächst zur seelsorglichen Betreuung von durch nationalsozialistische Pflichtdienste betroffenen Jugendlichen im Jahre 1934 gegründet wurde. Hierbei ging es um die Suche nach neuen

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Hirtenwort von Maximilian Kaller an die Gläubigen über die kirchliche Sorge für die wandernden Katholiken vom 24.11.1940. In: KATHOLISCHES AMTSBLATT FÜR DAS BISTUM ERMLAND [KABE] 70 (1939) Nr. 12 vom 1.12.1940, S. 195-198, hier S. 195. Hierzu CHRISTOPH KÖSTERS, Katholische Kirche im nationalsozialistischen Deutschland. Aktuelle Forschungsergebnisse, Kontroversen und Fragen. In: ETHICA. JAHRBUCH DES INSTITUTS FÜR RELIGION UND FRIEDEN 2003, S. 228-240. Die Katholiken und das Dritte Reich. Hrsg. von KARL-JOSEPH HUMMEL und MICHAEL KISSENER. Paderborn u. a. ²2010. ULRICH VON HEHL, Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Versuch einer Standtortbestimmung. In: ZUR DEBATTE 2004, Heft 2, S. 13-15, hier S. 14. Da der Begriff des „katholischen Milieus“ mittlerweile in zeitgeschichtlichen Studien zum Standard zählt, sei an dieser Stelle lediglich auf den Forschungsstand verwiesen: Konfession, Milieu und Moderne. Konzeptionelle Positionen und Kontroversen zur Geschichte von Katholizismus und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von JOHANNES HORSTMANN und ANTONIUS LIEDHEGENER. Schwerte 2001. ANDREAS HENKELMANN, Caritasgeschichte zwischen katholischem Milieu und Wohlfahrtsstaat. Das Seraphische Liebeswerk (1889-1971) (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe B, Forschungen, 113). Paderborn u. a. 2008, S. 18-24. Grundlegend: ARBEITSKREIS FÜR KIRCHLICHE ZEITGESCHICHTE (AKKZG), Münster, Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe. In: WESTFÄLISCHE FORSCHUNGEN 43 (1993) S. 588-654. AKKZG, Münster, Konfession und Cleavages. Ein Erklärungsmodel zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland. In: HISTORISCHES JAHRBUCH 120 (2000), S. 358-395.

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Thomas Flammer

Seelsorgeformen, genauer nach einer „mobilen Pastoral“ jenseits der traditionellen Pfarrseelsorge. In den bisherigen zeitgeschichtlichen Studien finden sich kaum Darstellungen über die von der Binnenwanderung betroffenen Katholiken, dem für sie eingerichteten „Katholischen Seelsorgsdienst“ und die Organisation der Seelsorge vor Ort. Konkret sind die bislang umfassendsten und von einer eher „subjektiven“ Wahrnehmung gekennzeichneten Arbeiten fast ausschließlich in den mitunter mehr als siebzig Jahren zurückliegenden Publikationen von Hermann Joseph Schmitt zu finden.5 Darüber hinaus existieren lediglich einige folienhafte und mit jüngerem Datum knapper werdende Beiträge in Nachschlagewerken und Lexika, die hauptsächlich nur auf die Jugendarbeit des Seelsorgsdienstes eingehen.6 Ähnliches gilt für die Erwähnungen zur „Wandernden Kirche“ in einschlägigen Monographien.7 Wegweisend sind die Darstellungen über die Organisation der Seelsorge der „Wandernden Kirche“ auf der Ebene der Diözesen Aachen und Hildesheim.8 Allen Publikationen gemeinsam ist das Bedauern über die bisher fehlende 5

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Vgl. Die Wandernde Kirche. Praktische Winke für Seelsorger, Eltern und Seelsorgshelfer über Arbeitsdienst, Landhilfe, Landjahr, Wanderarbeiter, Stadtrand- und Streusiedlung. Hrsg. vom Katholischen Seelsorgsdienst. Berlin ²1935. HERMANN JOSEPH SCHMITT, Von der „Wandernden Kirche“. In: THEOLOGIE UND GLAUBE 31 (1939), S. 307-326. DERS., Die Binnenwanderung innerhalb der katholischen Kirche als moraltheologisches und pastoraltheologisches Problem. Eine moraltheologische und soziologische Untersuchung (Diss. masch.). Tübingen 1942. DERS., Binnenwanderung und katholische Kirche (Wandernde Kirche). In: KIRCHLICHES HANDBUCH FÜR DAS KATHOLISCHE DEUTSCHLAND 22 (1943), S. 220-238. DERS., Der „Katholische Seelsorgsdienst“ für die „Wandernde Kirche“. Eine Einrichtung der Deutschen Bischöfe zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Die Kirche und ihre Ämter und Stände. Festschrift für Joseph Kardinal Frings. Hrsg. von WILHELM CORSTEN, AUGUSTINUS FROTZ und PETER LINDE. Köln 1960, S. 600-636. KONRAD ALGERMISSEN, Art. Wandernde Kirche. In: LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND KIRCHE 10 (1938), Sp. 748-749. KONRAD WINKLER, Art. Wandernde Kirche. In: LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND KIRCHE 10 (1965), Sp. 953 f. ERWIN GATZ, Art. Wandernde Kirche. In: LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND KIRCHE 10 (³2001), Sp. 974. CHRISTOPH KÖSTERS, Katholische Verbände und moderne Gesellschaft. Organisationsgeschichte und Vereinskultur im Bistum Münster 1918 bis 1945 (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe B, Forschungen, 68). Paderborn u. a. 1995, S. 487494. HANS-GEORG ASCHOFF, Diaspora. In: Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die katholische Kirche, Bd. 3: Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung – Missionsgedanke. Hrsg. von ERWIN GATZ. Freiburg i. Br. u. a. 1994, S. 39-142, hier S. 104-107. GERHARD REIFFERSCHEID, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich (ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS, Beiheft 1 = BONNER BEITRÄGE ZUR KIRCHENGESCHICHTE, 7). Köln-Wien 1975, S. 85-96. HANS-GEORG ASCHOFF, Diaspora in Deutschland von der Säkularisation bis zur Gründung der Bundesrepublik. In: Diaspora: Zeugnis von Christen für Christen. 150 Jahre Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken. Hrsg. von GÜNTER RISSE und CLEMENS A. KATHKE. Paderborn 1999, S. 253-273, bes. S. 263 f.. ERWIN GATZ, Die Pfarrei unter dem Einfluß des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. In: Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die katholische Kirche, Bd. 1: Die Bistümer und ihre Pfarreien. Hrsg. von ERWIN GATZ. Freiburg i. Br. u. a. 1992, S. 123-138, hier S. 128 f. MANFRED GÖBEL, Katholische Jugendverbände und Freiwilliger Arbeitsdienst (1931-1933) (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe B, Forschungen, 103). Paderborn u. a. 2005, S. 286-310. AUGUST BRECHER, Sorge um die „Wandernde Kirche“ im Bistum Aachen 1934-1945. In: Geschichte des Bistums Aachen. Hrsg. vom Geschichtsverein für das Bistum Aachen e.V. Bd. 2. Kevelaer 1994, S. 317-410. THOMAS SCHARF-WREDE, Caritas und „Wandernde Kirche“ – Seelsorge vor Ort. In: Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen. Hrsg. von HANS OTTE und THOMAS SCHARF-WREDE (VERÖFFENTLICHUNGEN DES LANDSCHAFTSVERBANDES HILDESHEIM e.V., 12). Hildesheim u. a. 2001, S. 291-307. THOMAS FLAMMER, Na-

Kaller und die Wandernde Kirche

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grundlegende Darstellung des Katholischen Seelsorgsdienstes, was mit der kriegsbedingt vernichteten Überlieferung der Zentralstelle in Berlin zusammenhängen dürfte. Anfragen an die deutschen Diözesanarchive ergaben jedoch ein neues Bild der Quellenlage zum Katholischen Seelsorgsdienst. In fast sämtlichen Archiven finden sich einschlägige Faszikel, so dass trotz fehlender Zentralüberlieferung in einer kritischen Zusammenschau von mehreren Diözesan- und Staatsarchiven mittlerweile ein aussagekräftiger Quellenbestand zusammengetragen werden konnte, der eine weitestgehend komplette Rekonstruktion der Tätigkeiten des Seelsorgsdienstes ermöglichen dürfte. In Vorbereitung ist eine kommentierte Edition der vom Seelsorgsdienst verfassten und an die einzelnen Diözesen versandten Jahres- und Lageberichte über den Stand der Seelsorge an der „Wandernden Kirche“, die gemeinsam mit Hubert Wolf (WWU Münster) herausgegeben wird. Im Folgenden soll die Arbeit des Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche mit seiner aus damaliger Sicht „neuzeitlichen“ Form der Seelsorge, unter besonderer Berücksichtigung der Persönlichkeit des ermländischen Bischofs Maximilian Kaller, kurz dargestellt werden.9

1. Die Gründung des „Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche“ Während die Binnenwanderung vom Land in die expandierenden Städte und Industrieregionen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekanntlich für einen grundlegenden Strukturwandel im damaligen Deutschen Reich sorgte, kam es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu Migrationsbewegungen, deren Umfang völlig neu war. Ein wesentlicher Unterschied bestand vor allem darin, dass gegenüber den bisherigen Wanderbewegungen, die meist aufgrund freier Entscheidungen stattfanden, nunmehr eine durch staatliche Planung und Steuerung initiierte Migrationsbewegung einsetzte.10 Neben der gezielten Vermittlung von Arbeitskräften in Regionen mit Arbeitskräftemangel führte insbesondere die Einführung von Pflichtdiensten wie unter anderem dem Arbeitsdienst, dem Pflichtjahr, der Landhilfe, dem Landjahr etc. zu einer gänzlich neuen Art und Qualität der Binnenwanderung. Aus Sicht der damaligen Machthaber war die Migration von größter Bedeutung. So sollten die Pflichtdienste „eine Säule des zukünftigen Staates, eine Erziehungsschule ohnegleichen“ werden, wobei aus volkserzieherischer Sicht vier

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tionalsozialismus und katholische Kirche im Freistaat Braunschweig 1931-1945(VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe B, Forschungen 124). Paderborn u. a. 2012 (im Druck). Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich inhaltlich ergänzt auf die Beiträge: THOMAS FLAMMER, Migration und Milieu – Die Auswirkungen von Migration auf Kirche und Gläubige am Beispiel der Arbeit des „Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche“ (19341943). In: Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945. Hrsg. von KARL-JOSEPH HUMMEL und CHRISTOPH KÖSTERS. Paderborn u. a. 2007, S. 399-418 sowie DERS., Katholische Kirche im nationalsozialistischen Deutschland am Beispiel des Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche. In: RELIGIONSUNTERRICHT AN HÖHEREN SCHULEN 50 (2007), S. 95-103. Bericht über die Arbeit „Die Binnenwanderung innerhalb der katholischen Kirche als moraltheologisches und pastoraltheologisches Problem“. Historisches Archiv des Erzbistums Köln [AEK], Nachlass [NL] Schmitt 27, Bl. 2.

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Thomas Flammer

Punkte im Vordergrund standen, nämlich „Arbeit, Dienst, Kameradschaft, neuer Lebensraum.“11 Diese staatlich gelenkte Wanderbewegung wirkte sich natürlich auch auf den katholischen Bevölkerungsteil des damaligen Reichsgebiets aus, und man kann aus der Retrospektive sogar von einer staatlich intendierten Zerstreuung des katholischen Volksteils sprechen. So wurden insbesondere Jugendliche aus geschlossenen katholischen Gebieten bewusst in Regionen mit Mehrheiten der evangelischen Konfession eingesetzt und umgekehrt. Bereits Ende Mai/Anfang Juni 1933 berieten die Mitglieder der Bayerischen und der Fuldaer Bischofskonferenz auf ihrer ersten gemeinsamen Konferenz in Fulda über die geplanten Pflichtdienste, den drohenden Verlust des bisher freiwilligen Arbeitsdienstes – an dem sich auch die katholischen Jugendverbände in größerem Umfang beteiligten – und über die Notwendigkeit der künftigen Seelsorge in den Arbeitslagern. Noch im Juli 1933 fand in Berlin eine Tagung über die zukünftige Seelsorge in Arbeitsdienstlagern statt, deren Ergebnisse wiederum auf der folgenden Plenarkonferenz der Bischöfe im August 1933 diskutiert wurden.12 Nicht zuletzt auf Drängen von Maximilian Kaller kam es schließlich am 13. Oktober 1933 in Berlin unter seinem Vorsitz zu einer weiteren Tagung zur Frage „Landhelfer und ihre seelsorgliche Betreuung“, auf der er seine Ziele und Visionen vortrug und den Begriff der „Wandernden Kirche“ prägte.13 Hintergrund für den Vorstoß Kallers waren die Wanderungsprognosen für Ostpreußen und somit auch für die Diözese Ermland. So ging Kaller aufgrund der ihm vorliegenden staatlichen Angaben davon aus, dass die Bevölkerung Ostpreußens binnen weniger Jahre „von 2,3 Millionen auf 4 Millionen gebracht werden“ könnte.14 In der Absicht, „mit Vertrauen auf die verschiedenen staatlichen Stellen“ zuzugehen und um deren Mithilfe bei der Erfassung der verschickten Katholiken zu bitten, wollte Kaller zunächst erreichen, dass das jeweilige „Arbeitsamt der Entsendegebiete […] einem damit beauftragten Geistlichen über Ankunfts- und Unterbringungsort von Landhelfern Nachricht geben“15 sollte. Mit Blick auf die ihm zur Verfügung stehenden Geistlichen seines Bistums forderte Kaller für die Seelsorge an der Wandernden Kirche die Freistellung von hauptamtlichen Seelsorgern der Entsendegebiete, wobei er für Ostpreußen von mindestens zwölf benötigten Priestern ausging16, die in den drei ostpreußischen Arbeitsgauen „OstpreußenNord mit Königsberg und Gumbinnen, Ostpreußen-Süd mit Allenstein und Ost-

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Landhelfer- und F.A.D.-Seelsorge. Bericht über die Tagung zu Biesdorf bei Berlin vom 17.-19. Januar 1934. Vorgelegt vom Beauftragten der Fuldaer Bischofskonferenz, Bistumsarchiv Trier [BAT], Abt. B III 14,1. Bd. 5V. , S. 48. Vgl. hierzu auch GÖBEL (wie Anm. 7), S. 288. SCHMITT, Katholischer Seelsorgsdienst (wie Anm. 5), S. 606. Protokoll über die Tagung betr. „Religiöse Betreuung der Landhelfer usw.“ am 13.X.1933 in Berlin. AEK, Dienstakten Lenné 184. Tatsächlich blieb die Zahl relativ konstant: 1918: 327.277 Katholiken und rund 2 Millionen Nichtkatholiken, 1931: 342.783 Katholiken und 1.916.000 Nichtkatholiken, 1935: 367.062 Katholiken und 1.990.375 Nichtkatholiken, 1940: 375.394 Katholiken und 2.084.241 Protestanten. Vgl. KIRCHLICHES HANDBUCH FÜR DAS KATHOLISCHE DEUTSCHLAND 22 (1943), S. 352. ALFRED PENKERT, Auf den letzten Platz gestellt? Die Eingliederung der geflüchteten und vertriebenen Priester des Bistums Ermland in die Diözesen der vier Besatzungszonen Deutschlands in den Jahren 1945-1947. Münster 1999, S. 3-15. Protokoll über die Tagung betr. „Religiöse Betreuung der Landhelfer usw.“ am 13.X.1933 in Berlin, Wohlfahrtshaus. AEK, Dienstakten Lenné 184. Ebd.

Kaller und die Wandernde Kirche

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preußen-West mit Elbing“ für mehr als 120 Dienstlager seelsorglich zuständig sein sollten. 17 Bis Ende 1933 stellte Kaller selbst drei Geistliche seiner Diözese für diese Art der Seelsorge frei, die „jedoch nur ein[en] kleine[n] Teil“ der Pflichtdienstler erfassen konnten.18 Schon im Januar 1934 fand – wiederum auf Initiative Kallers – die nächste Tagung zur Landhelferproblematik in Berlin-Biesdorf statt, zu der nunmehr bereits 13 Diözesen Delegierte entsandten und mit insgesamt 43 Geistlichen, einer Vertreterin des Mädchenschutzvereins und zwei Referenten der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes vertreten waren. Hier trat Kaller nochmals an die „Bischöfe des Westens mit der Bitte heran […], Geistliche und deren Besoldung zur Hilfe zu senden, so dass in jedem Arbeitsamtsbezirk ein junger Geistlicher hauptamtlich“ bereitstehen konnte. Zunächst sollten dabei die Arbeitsamtsbezirke Goldap, Lyck und Tilsit, in denen damals die meisten Landhelfer untergebracht waren, berücksichtigt werden.19 Kallers Anliegen fand Unterstützung. Bischof Clemens August von Galen entsandte drei Geistliche aus der Diözese Münster, Köln stellte zwei und Trier einen Priester in Aussicht, während Paderborn immerhin eine Diözesankollekte zusagte.20 Darüber hinaus verfestigte sich bei den Teilnehmern der Tagung die Überzeugung, dass vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen zügig eine kirchliche Organisationsform geschaffen werden musste, um die ansteigenden Zahlen von wandernden Katholiken „im Einflussbereich der katholischen Kirche“ zu halten.21 Als Ziel galt es fortan, die von der Binnenwanderung betroffenen Katholiken davor zu bewahren, in eine „religiös gleichgültige“ und „oftmals auch [...] ablehnende, ja direkt christentums- u[nd] glaubensfeindliche Umgebung“ zu kommen. Die Katholiken sollten vor der „Gefährdung des Glaubens“ geschützt werden.22 Im Juni 1934 beschloss die Plenarkonferenz der deutschen Bischöfe in Fulda schließlich die Gründung einer sogenannten „Zentralstelle für die außerordentliche Seelsorge“23, welche fortan die territoriale Seelsorge koordinieren sollte. Auf Weisung des Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Adolf Kardinal Bertram von Breslau, nahm bereits im September des Jahres 1934 in der Reichshauptstadt Berlin die Geschäftsstelle „Katholischer Seelsorgsdienst für den Deutschen Arbeitsdienst, Landhilfe und Landjahr“ ihre Arbeit auf. Diese Einrichtung firmierte bald nur noch unter der Bezeichnung „Katholischer Seelsorgsdienst für die Wandernde Kirche“.

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Landhelfer- und F.A.D.-Seelsorge. Bericht über die Tagung zu Biesdorf bei Berlin vom 17.-19. Januar 1934. Vorgelegt vom Beauftragten der Fuldaer Bischofskonferenz, BAT, Abt. B III 14,1. Bd. 5V., S. 48 f. Ebd. S. 54. Ebd. Ebd. Kaller an Staatssekretariat vom 18.5.1934. Città del Vaticano. Archivio Segreto Vaticano ASV], Archivio degli Affari Ecclesiastici Straordinari [AA.EE.SS], Germania, Scatole fasc. 40, Bl. 26. ALGERMISSEN (wie Anm. 6), Sp. 748. SCHMITT, Binnenwanderung (wie Anm. 5), S. 74. Vgl. Errichtung einer zentralen Geschäftsstelle „Kath. Seelsorgsdienst für DAD (RAD), Landhilfe u. Landjahr“ 1934. Bistumsarchiv Osnabrück [BAO], 04-63-07-10 (fr. AZ A-168). Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Bd. 1: 1933-1934. Bearb. von BERNHARD STASIEWSKI (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 5). Mainz 1968, S. 679-681, Nr. 155/II. Ebd.

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Während der Seelsorgsdienst anfänglich nur für die Jugendlichen im Arbeitsdienst, in der Landhilfe, im Landjahr und im hauswirtschaftlichen Anlerndienst gedacht war, kamen in den folgenden Jahren stetig weitere Gruppierungen hinzu, für welche der Seelsorgsdienst verantwortlich zeichnete, wie beispielsweise der Landdienst des Studentenbundes und der Hitlerjugend, das weibliche Pflichtjahr, Wanderarbeiter und Dienstverpflichtete im Rahmen des Vierjahresplans und nicht zuletzt nach Ausbruch des Krieges auch Kriegsgefangene. Den bis 1943 vorliegenden Archivalien der Zentralstelle zufolge gehörten zwischen 1934 und 1943 ohne die Gruppe der Kriegsgefangenen weit über 6,5 Millionen Katholiken für kurze oder längere Zeit zur „Wandernden Kirche“.24

2. Die Aufgaben und die Struktur des Seelsorgsdienstes Zu den primären Aufgaben des Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche gehörten – ganz im Sinne Kallers – die gezielten Verhandlungen mit übergeordneten Reichsbehörden über konkrete Möglichkeiten der Seelsorge sowie die Gewährleistung eines zeitnahen Informationsaustausches unter den deutschen Bistümern über den Stand und die rechtlichen Möglichkeiten der Seelsorge. Ferner die seelisch-mentale Vor- und Nachbereitung der von der Binnenwanderung betroffenen Katholiken und Gemeinden auf die religiösen Gefahren in der Diaspora und auf das Leben in einer glaubensfeindlichen Umgebung, wie auch die möglichst genaue Erfassung der wandernden Katholiken mit Hilfe eines Meldesystems, durch welches die betroffenen Personen und Pfarreien verpflichtet werden sollten, jeden Zu- und Abgang umgehend anzuzeigen. Nicht zuletzt koordinierte der Seelsorgsdienst die speziell für die Wandernden freigestellten Priester und insbesondere die erstmals in großem Umfang eingesetzten alleinverantwortlichen Seelsorgshelferinnen. Binnen weniger Monate entstand somit nach 1934 auf kirchlicher Seite ein bis dahin einzigartiges Projekt einer zentralen kirchlichen Instanz, die sich im Auftrag des Episkopats als Verbindungsstelle über die Diözesan- und Verbandsebenen hinweg mit den aus der ganz neuen Qualität von staatlich gelenkter Binnenwanderung resultierenden seelsorglichen Herausforderungen auseinander-setzte. Die Zentralstelle operierte reichsweit und sollte die ordentliche Seelsorge der von den Pflichtdienstzeiten betroffenen Katholiken regeln und neue Pastoralkonzepte entwickeln. Als Hauptverantwortlicher für diese Arbeiten der Berliner Verbindungsstelle zwischen Episkopat und Reichsregierung zeichnete sich bald der ehemalige Generalsekretär der Katholischen Arbeitervereine Deutschlands und ehemalige Reichstagsabgeordnete Hermann Joseph Schmitt25 aus. Der aktuelle Entwicklungsstand der „Wandernden Kirche“ wurde durch den Seelsorgsdienst mit Hilfe regelmäßiger Rundbriefe, ausführlicher Berichte auf den Fuldaer Bischofskonferenzen wie auch durch die jährlich in Berlin-Biesdorf angesetzten Tagungen an die Bischöfe und Mitarbeiter weitergegeben.

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Zu den Zahlen: Bericht des Katholischen Seelsorgsdienstes über die Arbeitstagung am 6./7. April 1943 zu Berlin, S. 2, AEK, Dienstakten Lenné 184. Vgl. auch SCHMITT, Der Katholische Seelsorgsdienst (wie Anm. 5), S. 636. Zu ihm: THOMAS FLAMMER, Art. Hermann Joseph Schmitt. In: BIOGRAPHISCHBIBLIOGRAPHISCHES KIRCHENLEXIKON 20 (2002), Sp. 1286-1290.

Kaller und die Wandernde Kirche

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Die Koordination der Seelsorge vor Ort lag hingegen im Zuständigkeitsbereich der einzelnen Bistümer, die ab 1935/36 fast flächendeckend Diözesanbeauftragte und Dekanatsreferenten ernannten, mit denen wiederum die Zentralstelle in Berlin im engsten Kontakt stand. Personell wurde der Seelsorgsdienst von „allen deutschen Diözesen, besonders den großen Heimatdiözesen der Wandernden unterstützt“, indem diese Priester und Seelsorgshelferinnen ganz oder teilweise für den Dienst an den Gliedern der „Wandernden Kirche“ freistellten. 26 Hauptamtlich arbeiteten bald mehr als zwei Dutzend Priester und über fünfzig Seelsorgshelferinnen27 flexibel und mobil, „gesund und kräftig, beweglich und anpassungsfähig“ als „Jagdhunde des Herrn“ für den Seelsorgsdienst.28 Im Nebenamt waren mehr als 360 Geistliche und 130 Seelsorgshelferinnen im Einsatz 29, wobei die Finanzierung dieser Mitarbeiter, die entstehenden Fahrtkosten, Ausgaben für Arbeitsmaterialien oder auch die Anmietung von Gottesdienststationen seit 1934 durch reichsweit angesetzte Kollekten wie auch durch Mittel der Caritasverbände und des Bonifatiusvereins getragen wurden. Da sich aber schon wenige Monate nach Gründung des Seelsorgsdienstes abzeichnete, dass sich die erhoffte Kooperation mit den staatlichen Stellen verschlechterte und man bald von den Arbeitsämtern keine verlässlichen Zahlen und Daten über die Einsatzgebiete der Migranten erhielt, sollte durch ein einfaches „kirchliches Meldewesen“ dafür gesorgt werden, dass die Entsendepfarreien die Aufnahmegebiete nachrichtlich über den Zuzug von Katholiken informierten, um diese alsbald seelsorglich erfassen zu können. Um Gläubige und Seelsorger für die Frage der Migration zu sensibilisieren, gab die Fuldaer Bischofskonferenz in den Jahren 1937 und 1939 „Richtlinien für den kirchlichen Meldedienst“ und „Praktische Anweisungen“ heraus.30 Der Erfolg dieser Maßnahme blieb jedoch hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück und lag je nach entsendender Diözese zwischen zwei und 20 % der wandernden Katholiken. Immerhin wurden zwischen 1935 und 1942 rund eine Million Meldungen verschickt. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erweiterte sich der Zuständigkeitsbereich des Seelsorgsdienstes – vor allem im Zuge der großen nationalsozialistischen Bauvorhaben des sogenannten Vierjahresplans wie den Reichswerken „Hermann Göring“ – dramatisch zu einer „gewaltige[n] Wanderung, Umschichtung und Umsiedlung des Volkes und damit der ganzen Kirche in Deutschland“31. Zu dieser Zeit wurden folgende Gruppierungen innerhalb der Wandernden Kirche unterschieden: - Der „Strom der vorübergehenden, außerordentlichen Wanderung“, wie Reichsarbeitsdienst, Landjahr, Landhilfe, die Saison- und Wanderarbeiter, 26 27 28 29

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MAXIMILLIAN KALLER, Wachsende Sorge um die „Wandernde Kirche“. In: HEFT DES BONIFATIUSVEREINS 15 (1940), S. 3-14, hier S. 5. SCHMITT, Der Katholische Seelsorgsdienst (wie Anm. 5), S. 633 f. (Tabellen).

PRIESTERJAHR-

Bericht über die Tagung des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche am 14./15. Dezember 1937 im Exerzitienhaus zu Berlin-Biesdorf, S. 36 f., AEK, GEN I 4.31. BRECHER (wie Anm. 8), S. 326. Im Bischöflichen Erlass über den „Katholischen Seelsorgsdienst für Reichsarbeitsdienst, Landhilfe und Landjahr“ vom 21.10.1937 nennt Bischof Kaller die Zahl von „366 Geistliche[n], die nebenamtlich tätig sind“. KABE 69 (1937) Nr. 11 vom 1.11.1937, S. 102 f., hier S. 103. Vgl. Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Bd. 4: 1936-1939. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 30). Mainz 1985, S. 312-314, Nr. 399/IIg und S. 682-685, Nr. 510/IIg. KALLER (wie Anm. 26), S. 6.

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die volksdeutschen Arbeiter aus dem Osten, aus der Ostmark, dem Sudetenland und die ausländischen Saisonarbeiter, die sämtlich „durch besondere Maßnahmen und Gesetze des Staates vorübergehend ihre Heimat verlassen“ mussten. - Die „von der normalen Binnenwanderung Erfassten“, vor allem diejenigen, „die infolge der Erweiterung des Arbeitseinsatzes immer wieder Wohnung und Stellung wechsel[te]n.“ - Die Volksteile, „die durch die gewaltigen Umsiedlungsprojekte der Landwirtschaft im Osten und neuerdings im Westen und der Industrie in Mitteldeutschland betroffen werden. Hier entstehen ganz neue Volksräume.“32 Zudem wäre dieser Einteilung nach Kriegsbeginn noch die Gruppe der Kriegsgefangenen und der im Reich befindlichen katholischen Ausländer zuzuordnen, für die sich der Seelsorgsdienst auch zuständig gefühlt33 und unter anderem Geistliche vermittelt hat34.

3. Einblicke in die Organisation der „Wandernden Kirche“ in Ostpreußen Während man sich in Frauenburg im Jahr 1933 noch „eine gute Vorbereitung“ des „kommenden Wirkens in diesen Lagern“ versprach und „Exzellenz Kaller in Audienz“, nicht nur in „inoffiziellen“ und „losen“ Treffen katholische Führer der Arbeitsdienstler empfing, sondern sich auch die Landratsämter, Landjäger und die Landesarbeitsämter Ostpreußens zunächst bei der Feststellung der Konfession und des Aufenthaltsortes der Migranten als kooperativ erwiesen35, war sich der Bischof von Ermland spätestens im Mai 1934 darüber im Klaren, dass die Einrichtung der Pflichtdienste letztlich nur einem Ziel diente, nämlich „der Schulung

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Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche vom 12. Dezember 1939, BISTUMSARCHIV HILDESHEIM [BAH], Generalia II Neu 702. KALLER, Wachsende Sorge (wie Anm. 26). Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche vom 11. Dezember 1940. BAH, Generalia II Neu 701. Referat Kallers über die „Wandernde Kirche“. In: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 19331945. Bd. 5: 1940-1942. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 34). Mainz 1983, S. 136-141, Nr. 578/IIh, S. 138. Vgl. hierzu das Referat Kallers im Rahmen der Jahrestagung des Seelsorgsdienstes im Dezember 1939: „Das ursprüngliche Aufgabengebiet (Arbeitsdienst, Landhilfe und Landjahr) des Seelsorgsdienstes ist durch neue Gruppen von Wandernden vergrößert worden. Die Zahl der weiblichen Arbeitsdienstlager ist gestiegen, die Binnenwanderung hat große Ausmaße angenommen, die in Mitteldeutschland im Aufbau begriffene Industrie zieht Zehntausende von Menschen an sich; hinzu kommen noch Wanderarbeiterinnen, Industrie (M)-Arbeiterinnen, volksdeutsche Arbeiter und Mädchen aus Polen, der Ostmark und dem Sudetenland; Italiener, Slowaken, Tschechen und viele Kriegsgefangene. Die Zahl der Rückwanderer geht in die Hunderttausende, im Osten stehen wir vor einer Umsiedlung von nie gekanntem Ausmaße. Unter diesen Wandernden befinden sich viele Katholiken, die der Sorge des guten Hirten bedürfen. […] Der Katholische Seelsorgsdienst muß hierbei mit allen möglichen Mitteln helfen.“ Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche vom 12. Dezember 1939, S. 1, BAH, Generalia II neu 702 Vgl. Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche vom 11. Dezember 1940, BAH, Generalia II Neu 701. Landhelfer- und F.A.D.-Seelsorge. Bericht über die Tagung zu Biesdorf bei Berlin vom 17.-19. Januar 1934. Vorgelegt vom Beauftragten der Fuldaer Bischofskonferenz, BAT, Abt. B III 14,1 Bd. 5V, S. 50, S. 53

Kaller und die Wandernde Kirche

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in der nationalsozialistischen Weltanschauung“36. Zwischenzeitlich zeichnete sich nämlich auch in Ostpreußen immer deutlicher ab, dass seitens der staatlichen Stellen „auf die religiösen Bedürfnisse in keiner Weise Rücksicht genommen wurde“37. Konkret zeigte sich dies nicht allein in den immer spärlicher werdenden Informationen über die Einsatzorte der katholischen Pflichtdienstler, sondern auch in der zunehmenden Beschränkung der Seelsorgemöglichkeiten vor Ort, „da die Seelsorge und die Abhaltung des Gottesdienstes in den Lagern durch die staatlichen Stellen verboten” wurde. In Folge dessen mussten „die umwohnenden Pfarrer oder besonders beauftragte Seelsorger auf jede nur mögliche Weise dafür Sorge tragen, dass den Lagerinsassen eine Möglichkeit des Gottesdienstes und Sakramentenempfanges geboten” werden konnte.38 Wie mühsam sich die Arbeit für die Seelsorger dabei konkret gestalten konnte, mag folgender Kurzbericht von Ende 1936 beispielhaft verdeutlichen: „Entsprechend der Sonderbeschaffenheit des ostpreußischen Diasporagebietes war die Seelsorgsarbeit in der wandernden Kirche besonders schwierig, teilweise bitter und enttäuschend. Unsere Landhelferpfarrer haben unter großen persönlichen Opfern die Mitglieder der wandernden Kirche auf zum Teil unwegsamen Straßen in den Wohnungen der Dörfer und einsamen Gehöfte und in den Lagern aufgesucht, um sie für den Gottesdienst zu gewinnen. Das war nur möglich durch Benutzung des Autos, Zuges oder Fahrrades. Der Gottesdienst wurde werktags und sonntags abgehalten. [...] Das hl. Opfer wurde gefeiert in Kirchen, Kapellen, Schulen, Gasthäusern, Privathäusern und Scheunen, auch unter freiem Himmel. [...] Schwierigkeiten bezw. Hindernisse für den Gottesdienstbesuch waren, wie schon in früheren Jahren, die weiten Entfernungen, oft unpassierbare Wege, die Armseligkeit des Gottesdienstortes und des Gottesdienstes selbst.”39

Für die Seelsorge an den durchschnittlich zwischen 15.000 und 35.000 zur Wandernden Kirche gehörenden und im Bistum Ermland „stationierten” Katholiken40 waren ab 1934 acht bis zehn vom Seelsorgsdienst in Berlin finanzierte hauptamtliche Priester, bis zu 20 nebenamtlich eingesetzte Geistliche, bis zu zehn Diakone und zwei Seelsorgshelferinnen im Einsatz.41 Koordiniert wurde die Pastoral zwischen 1934 und 1940 von dem in Ludwigsort lebenden Pfarrer Nikolaus Schwinden42 (gleichzeitig zuständig für die Wandernde Kirche der Regionen um Fischhausen, Königsberg, Heiligenbeil, Pr. Eylau), der als zuständiger Diözesanbeauftragter den Kontakt zum Seelsorgsdienst nach Berlin und in die einzelnen 36 37 38 39 40

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Kaller an Staatssekretariat vom 18.5.1934. ASV. AA.EE:SS: Germania, Scatole fasc. 40, Bl. 24 f. Ebd. Hirtenwort Kallers Katholischer Seelsorgsdient für DAD (Deutscher Arbeitsdienst) Landhilfe und Landjahr vom 3.10.1934. In: ERMLÄNDISCHES KIRCHENBLATT 3 (1934) Nr. 47 vom 25.11.1934, S. 641 f. Bericht über die Tagung des Katholischen Seelsorgsdienstes am 15./16. Dezember 1936 im Exerzitienhaus zu Berlin-Biesdorf. BAT, Abt. B III, Nr. 14, 2, Bd. 15V, S. 24. Beispielhaft seien an dieser Stelle die Zahlen des Jahres 1936 genannt: Landhelfer 5.300, Arbeitsdienstler 1.960, Landjahr 1.200, Reichsautobahnarbeiter 2.000, Werksarbeiter 1.600, Gruppenlandhilfe 220, Landarbeiterfamilien 1.200, Erholungskinder 2.000. Ebd., S. 23. Ebd. Vgl. auch den Bericht des Katholischen Seelsorgsdienstes für RAD, Landhilfe und Landjahr 1936/1937, S. 2. Archiv des Erzbistums München und Freising (AEM), NL Faulhaber 6125. * 10.12.1903 in Habscheid/Eifel, † 5.6.1978, 3.8.1930 Priesterweihe in Trier; 1931 Ensdorf/Saar; 1934 beurlaubt in die Diözese Ermland; 1936 Lyck; 1936 Königsberg; 1938-1939 Wehrmachtspfarrer in Königsberg; 1937-1940 Kuratus in Ludwigsort; 1940 Pfarrer in Schafbrücke/Saarbrücken; 1955 Dechant in St. Wendel/Saar; 1973 Rückkehr in die Heimatgemeinde Habscheid bei Prüm. LOTHAR PLOETZ, Fato profugi. Vom Schicksal ermländischer Priester 1939-1945-1965. Kiel 1965, S. 64.

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Dekanate des Bistums hielt und jährlich bis zu vier „Landhelferseelsorgerkonferenzen” einberief, an denen fast immer auch Maximilian Kaller teilnahm. Nicht zuletzt koordinierte er die Finanzierung der Pastoral an der Wandernden Kirche, wofür er für das Bistum jährlich zwischen 10.000 bis 57.000 Reichsmark seitens der Zentralstelle zugewiesen bekam. Ferner wurden vom Seelsorgsdienst u. a. folgende Priester finanziert: Johannes Quint43 (Zuständigkeitsgebiete: Marienburg, Elbing, Marienwerder), Joseph Hüttermann44 (Tilsit-Ragnit), Ulrich Schikowski45 (Ebenrode, Schloßberg, Gumbinnen), Heinrich Lüpschen46 (Johannisburg, Lötzen, Ortelsburg, Sensburg), Gerhard Simons47 (Mohrungen, Rosenberg, Neidenburg, Osterode), Heinrich Wenning48 (Angerburg, Bartenstein, Rastenburg), Alfons Mende49 (Angerapp, Gerdauen, Goldap, Insterburg), Ägidius Wolf50 (LyckTreuburg), Hubert Strunz51 (Labiau, Niederung, Wehlau).52

4. Die Sorge Kallers um die „Wandernde Kirche“ und die Konsequenzen für die Ausrichtung der Pastoral „Es muß das Ziel unserer Seelsorge sein, die Gläubigen dazu fähig zu machen, aus Objekten bewahrender Hirtensorge Menschen zu erziehen, die auf Gottes und der Kirche Anruf selbst zu antworten fähig sind, Menschen der Entscheidung und Entschiedenheit. Nie werden wir der Welt begegnen können, wenn wir nicht unsere Ideale in unabdingbarer 43

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* 12.12.1900 in Danzig, 7.2.1927 Priesterweihe; 1928-1930 Studium in Rom; 1931-1934 Hofkaplan und Bischöflicher Sekretär; 1933 Domvikar; 1932-1945 Diözesansekretär des Bonifatiusvereins; 1932-1940 Dekan der Wandernden Kirche; 1940-1945 Reservelazarett-Pfarrer; 1945 Aholming/Niederbayern; 1946 Religionslehrer in Starnberg; 1958 Professor in Tutzig/Oberbayern. Ebd. S. 53. * 30.6.1899 in Oberhausen-Sterkrade, 22.12.1928 Priesterweihe in Münster; 1928 Kaplan in Gladbeck St. Marien; 1933 beurlaubt in die Diözese Ermland; 1934 Tilsit; 1937-1940 Kuratus in Ragnit; 1940 Kaplan in Altlünen; 1944 Seelsorger in Berchtesgaden; 1946 Pfarrer in Rheine. Ebd. S. 33. * 4.8.1907 in Bischofsburg, 28.2.1932 Priesterweihe; 1936 Studium in Rom; 1938 Dr. phil.; 1938 Kuratus in Schlossberg; 1939 Studium in Königsberg; 1942 Pfarrer in Tiedmannsdorf, 27.1.1945 von Russen erschossen. Ebd. S. 60. * 9.12.1898, 5.3.1925 Priesterweihe in Aachen; 1934 beurlaubt in die Diözese Ermland; 1939 Wehrmacht, Kriegspfarrer; 1945 Pfarrer in Düren. Ebd. S. 43. * 11.8.1903 in Kapellen, 3.3.1928 Priesterweihe in Münster; 1928 Kaplan in Gelsenkirchen; 1934 beurlaubt in die Diözese Ermland; 1940 Kaplan in Recklinghausen; 1943 Pfarrrektor in Deuten; ab 1950 Pfarrer in Griethausen/Kleve. Ebd. S. 57. * 5.11.1905 in Beckum, 20.12.1930 Priesterweihe in Münster; 1931 Kaplan in Recklinghausen; 1934 beurlaubt in die Diözese Ermland; 1940 Kaplan in Duisburg; 1943 Rektor im St.-BarbaraHospital in Gladbeck; 1951 Pfarrer in Rheinhausen-Bergheim; 1953 Pfarrer in Wolbeck. Ebd. S. 69. * 28.1.1907, 1.2.1931 Priesterweihe in Breslau; 1939 Rückkehr als Wehrmachtspfarrer nach Breslau. Ebd. S. 45. * 13.1.1909 in Köln, † 27.8.1976 in Meßbach, 16.2.1934 Priesterweihe in Köln; 1934 Beurlaubung in die Diözese Ermland; 1940 Kuratus in Angerapp und Standortpfarrer von Suwalki; 1945 Beurlaubung für die Arbeit als Flüchtlings-Seelsorger in Meßbach, Diözese Rottenburg. Ebd. S. 72. Nähere Angaben konnten nicht verifiziert werden. Nach Ausbruch des Krieges beriefen die Diözesen Münster, Paderborn und Trier, die für die Diözese Ermland beurlaubten Seelsorger infolge der steigenden Zahl von Einberufungen zurück. In den folgenden Jahren wurden als Ersatz acht hauptamtliche ermländische Diözesanpriester für die Wandernde Kirche im Bistum freigestellt. Die Namen der betreffenden Geistlichen konnten nicht verifiziert werden. Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche am 11. Dezember 1940 im Ordinariat zu Berlin, S. 3. BAH, Generalia II Neu 701. Bericht des Kath. Seelsorgsdienstes für RAD, Landhilfe und Landjahr 1940/1941, S. 2. BAH, Generalia II Neu 701.

Kaller und die Wandernde Kirche

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Fülle leben und lehren. Das ist jetzt die Aufgabe, gegenüber einer Situation, aus der wir keinen Ausweg sehen.“53

Während die fehlenden finanziellen und personellen Mittel recht zufriedenstellend durch die Zentralstelle des Seelsorgsdienstes in Berlin überbrückt werden konnten, zeigte sich alsbald jedoch ein weitaus tiefgreifenderes Problem. Die Kontaktaufnahme mit den Migranten wurde nämlich nicht nur durch äußere Umstände (weite Entfernungen, Verbot von Gottesdiensten durch staatliche Stellen, strikte Lagerordnungen etc.)54, sondern zusätzlich durch „eine große Zahl“ der Migranten erschwert, die kaum oder kein Interesse mehr an einer kirchlichen Anbindung zeigten.55 Eine Feststellung, die auf den ersten Blick verwundern mag, kamen die Katholiken doch meist aus katholischen Gebieten des Reiches56, in denen das sogenannte katholische Milieu oder die katholische Teilgesellschaft stark ausgeprägt war und lediglich „an den Rändern […] durch den national-sozialistischen Außendruck […] zu bröckeln“ begann, ja, „gemessen an der Intensität dieses Drucks […] bemerkenswert stabil“ blieb.57 Gerade unter diesem Vorzeichen sollte man vermuten, dass aus dem Milieu stammende katholische Migranten sich mit dem Verlust der Heimat wenigstens die kirchliche Anbindung erhielten. Dies war jedoch nur bei einem kleinen Teil der Fall.58 Vielmehr handelte es sich bei der beginnenden Erosion des katholischen Milieus um ein generelles Problem, das durch die rapide ansteigenden Migrationszahlen in Deutschland über die katholische Kirche hineinbrach. Allerdings ist dieses Phänomen bisher eher für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht worden.59

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Bericht über die Tagung des Katholischen Seelsorgsdienstes am 15./16. Dezember 1936 im Exerzitienhaus zu Berlin-Biesdorf, S. 9. BAT, Abt. B III, Nr. 14, 2, Bd. 15V. Vgl. zur Problematik der Lagerseelsorge auch das Kapitel „Die gesetzlichen Bestimmungen, die einzelnen Gruppen der WK. betreffend“ in der Materialsammlung „Kirchliche Sorge für die wandernden Katholiken“ aus dem Jahr 1941. AEK, Dienstakten Lenné 78 und REIFFERSCHEID (wie Anm. 7), S. 95 f. Bericht „Thiede-Steterburg (Braunschweig) eine neue Vikarie in den Reichswerken von Hermann Göring“. AEM, NL Faulhaber 5671. Laut Bericht über die Tagung des Seelsorgsdienstes am 15./16. Dezember 1936 im Exerzitienhaus zu Bln.-Biesdorf kamen „die größten Kontingente für die wandernde Kirche in Ostpreußen” aus den „Diözesen: Breslau, Köln, Münster und Trier. Ein verschwindend kleiner Teil [...] aus Polnisch-Oberschlesien”, S. 23. BAT, Abt. III, Nr. 14,2, Bd. 15V. WILHELM DAMBERG, Moderne und Milieu 1802-1998 (GESCHICHTE DES BISTUMS MÜNSTER, 5). Münster 1998, S. 281. Laut Kösters lag das Milieu „quer zur politisch-sozialen Praxis der Nationalsozialisten […], bestehende ständische und konfessionelle Traditionen und Normen aufzulösen.“ KÖSTERS (wie Anm. 2), S. 232. Vgl. hierzu die positiven Erfahrungen einiger Landhelferseelsorger. REIFFERSCHEIDT (wie Anm. 7), S. 92 f. WILHELM DAMBERG, „Auch für das Land ist eine neue Zeit angebrochen …“. Formierung und Erosion des katholischen Milieus in Deutschland. In: St. Agatha – Alverskirchen. Eine Pfarrgemeinde im Münsterland. Hrsg. von der Pfarrgemeinde St. Agatha. Münster 2002, S. 106-115. DERS., Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 19451980 (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe B, Forschungen, 79). Paderborn u.a. 1997. ROSEMARIE SACKMANN, Zuwanderung und Integration. Theorien und empirische Befunde aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Wiesbaden 2004.

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a) Der Verlust des heimatlichen Glaubens Im Jahre 1940 beschrieb Maximilian Kaller vor dem Hintergrund seiner gesammelten Erfahrungen mit der Wandernden Kirche die sich durch die Migration abzeichnende Entwicklung innerhalb der deutschen katholischen Kirche. 60 Kaller zufolge war „die ‚Wanderung‘, der Weg von der alten zu einer neuen Heimat, […] nicht eine harmlose, nur äußerliche Angelegenheit, sondern eine sehr ernste, die für das religiöse Leben der einzelnen Gläubigen wie der ganzen Kirche in Deutschland immer mehr von einschneidender Bedeutung wird.“ Mehr noch: der Bischof konnte „sich sogar des Eindrucks einer religiösen Katastrophe kaum erwehren.“ Nach den Erfahrungswerten Kallers drohte die Wanderung die Katholiken und damit die Kirche ins Mark zu treffen. Ihm schien es, als ob „die Mehrzahl derer, die ihre Heimat verlassen, […] dem heimatlichen Glauben verloren zu gehen und dem völlig säkularisierten Geist zu erliegen [drohten], der vielfach gerade dort herrscht, wo der heißeste Pulsschlag der Gegenwart hämmert.“ Und weiter: „Entscheidend für dieses niederschmetternde Bild ist noch nicht einmal das ‚geradezu notorische Versagen’ der aus geschlossenen katholischen Gebieten in die Großstädte und in die Diaspora Zuwandernden. Diese sind mit ihrer Religion schnell zu Ende, wenn sie nicht mehr von dem ‚ruhigen Atmosphärendruck der heimatlichen Umwelt‘ [...] gehalten werden. Noch trauriger ist das langsame Erliegen, die Aufsaugung auch bester katholischer Substanz in katholischer Gegend von der Übermacht der glaubensfremden bezw. feindlichen Umwelt. Viele bisher überwiegend mit traditionell religiösem Geist gesättigte Gebiete verlieren immer mehr ihre Geschlossenheit und ihren Gehalt. Wie lange wird es noch dauern, bis es nur ein großes Diasporagebiet über ganz Deutschland gibt?“61

Letztlich war es eine mehr als dramatische Einschätzung der damaligen Lage und eine düstere Zukunftsprognose, getroffen von einem Bischof, der für seine abgewogene und nüchterne Art bekannt war. Übertrieb der Bischof des Ermlandes in diesem Fall? Wie stand es um das „kirchlich-religiöse Resistenzpotential“62 der wandernden Katholiken? Freilich gibt es eine Reihe von Argumenten, welche die Stagnation durchaus rechtfertigen könnten, wie die bereits genannten äußeren Hemmnisse. Doch auch dort, wo es prinzipiell für jeden Katholiken möglich gewesen wäre, eine Kirche zu besuchen, ließ der Besuch von Gottesdiensten und das Interesse an Seelsorgeangeboten zu wünschen übrig.63 Der Blick in die Berichte des Seelsorgsdienstes offenbart somit ein grundsätzlicheres Problem, welches jenseits jeder staatlichen Repression verortbar ist: das „große religiöse Versagen der breiten Masse der Wandernden“. Doch worin lag dieses angebliche „Versagen“ begründet? Folgt man einmal mehr den Ausführungen Kallers, dann waren „die meisten […] nicht gerüstet für die Bewährung ihres Glaubens“. Mehr noch: Sie verloren „mit der Heimat allen inneren, religiösen Halt. Ihr Glaube war ihnen geläufig als eine Summe von Pflichten und Gebräu60

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KALLER (wie Anm. 26). Den im Priesterjahrheft des Bonifatiusvereins veröffentlichten Aufsatz trug Kaller auch leicht modifiziert im Rahmen der Fuldaer Bischofskonferenz vor: Referat Kallers (wie Anm. 32). KALLER (wie Anm. 26), S. 7 f. KÖSTERS (wie Anm. 2), S. 232. Bericht über die Konferenz des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche am 11. Dezember 1940 im Bischöflichen Ordinariat zu Berlin, S. 13. BAH, Generalia II neu 701.

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chen und Übungen, die sie noch eben ‚mitmachten‘, mehr drückendes Gesetz als freimachende Frohbotschaft von dem Sieg, der die Welt überwindet. Sie bringen keine innere Kraft mit, die ihren Glauben zusammenhält, wenn sie plötzlich allein stehen, keinen Schwung und Stolz, sondern eine große Unsicherheit. Das gilt vor allem für das jugendliche Hauptkontingent der Wandernden Kirche.“64 Insgesamt, so Kaller, hatten sie „es nicht in der Heimat gelernt, ernst und fest und froh katholisch zu sein.“65 In der Tat ziehen sich die hier vorgestellten Einschätzungen wie rote Fäden durch alle ausgewerteten Akten des Seelsorgsdienstes.66 In sämtlichen Bistümern, die mit der Wandernden Kirche zu tun hatten, finden sich Berichte, in denen von fehlender „Diasporareife“, mangelnder „Opferwilligkeit“, Lauheit und Kirchenmüdigkeit der Binnenwanderer die Rede ist.67 Mitunter wird die fehlende „Massensuggestion“ beklagt, die sich dahingehend auswirke, „dass der wirklich kümmerliche Gottesdienst“ in der Diaspora dem „einseitig gepflegte[n] gefühlsmäßige[n] religiöse[n] Unterbau [...] kein[en] Ersatz [biete] für die prächtigen Kirchen und Andachten der Heimat“, weshalb die Katholiken schließlich kaum noch zum Gottesdienst kämen, sie eben „nur in der Heimat katholisch“ seien.68 Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, versuchte der Katholische Seelsorgsdienst spätestens ab 1937, Geistliche und Gläubige mit gezielter Vor- und Nachbereitung wie auch durch Pastoralanweisungen für die Problematik der Wandernden Kirche zu sensibilisieren.69 Die Gläubigen der sogenannten Entsendegebiete sollten bereits vor dem Verlassen ihrer Heimatgemeinden von den je64 65 66

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KALLER (wie Anm. 26), S. 9. Vgl. Referat Kallers (wie Anm. 32), S. 138. In einem Referat eines Priesters aus Wolfenbüttel zum Thema „Neuzeitliche Diasporafragen und Pflichten“ vor dem Rheinisch-Westfälischen Edelleuteverein in Münster heißt es beispielsweise: „Es ist in sehr vielen Fällen so, dass die Gläubigen in ihrer alten Heimat unter altgewohnten, liebgewordenen Umständen brav und bieder ihren religiösen Pflichten nachgekommen sind, nun aber unter ganz anderen, viel schwierigeren Verhältnisse den Anschluss nicht mehr halten. […] [D]as völlige Fehlen des ganzen gewohnt gewesenen kirchlich-religösen Milieus, andere Melodien, andere Lieder, da bleibt wenig mehr übrig, was Sympathien und Erinnerungen weckt an die bisherige religiöse Betätigung. Und an all diesen Dingen, wenn sie auch im Grunde nur Äußerlichkeiten sind, hängen die Menschen doch sehr, ja sie hängen, wie man hier festhalten muss, in der Masse geradezu von ihnen ab.“ Protokoll der ordentlichen Generalversammlung des Rheinisch-Westfälischen Vereins katholischer Edelleute am 10. April 1940 zu Münster i. W. Stadtarchiv Lingen (Ems), Dep. 3 (Haus Beversundern), Nr. 66a (Verein katholischer Edelleute). In einem Bericht über die Landhelferseelsorge im Bistum Hildesheim heißt es entsprechend: „Nur teilweise und vereinzelt ergehen an uns die Meldungen über die Zugezogenen von den Heimatpfarrern über den kath. Seelsorgsdienst in Berlin. [...] Es gehören in der Diaspora große Opfer dazu, wenn man seinen religiösen Pflichten nachkommen will. Vor allem muss der Katholik in der Diaspora von dem Gedanken des Apostolates beseelt sein. Und diese Dinge sind denen, die aus der kath. Tradition herauskommen, durchweg fremd.“ Bericht über die Seelsorge im Bistum Hildesheim von Sr. Luise Dorothea Tonner 1938/1939. BAT, B III, Nr. 14, 1 Bd. 5 IV, Bl. 146. Greve an Machens vom 16. September 1938. Pfarrarchiv St. Petrus Wolfenbüttel, Reichswerke. Greve an das Generalvikariat Hildesheim vom 22. Mai 1938. BAH, Ortsakten Woltwiesche, Gottesdienst und Seelsorge. Lehne an das Generalvikariat Hildesheim vom 20. Januar 1934. BAH, Ortsakten Gifhorn, Kirchliche Statistik. Vgl.. auch den Bericht über die Tagung des Katholischen Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche am 14./15. Dezember 1937 im Exerzitienhaus zu Berlin-Biesdorf, S. 23. AEK, GEN I 4.31. Vgl. hierzu auch die Hirtenworte und Seelsorgsanweisungen Kallers: KABE 66 (1934) Nr. 11 vom 1. November 1934, S. 224 f. KABE 68 (1936) Nr. 10 vom 1. Oktober 1936, S. 270 f. KABE 68 (1936) Nr. 11 vom 1. November 1936, S. 281 f. KABE 69 (1937) Nr. 11 vom 1. November 1937, S. 102 f.

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weiligen Ortsgeistlichen eingehend auf die künftige Situation in der Diaspora vorbereitet werden. Das Interesse blieb jedoch gerade in den katholisch geprägten Entsendegebieten weiterhin eher gering und wurde seitens der Verantwortlichen des Seelsorgsdienstes entsprechend beklagt: „Es genügt nicht die Kollekte, die gewiss notwendig ist, um die äußere Organisation des Seelsorgsdienstes zu ermöglichen. Seine [des Priesters] Mitarbeit beginnt mit der seelsorglichen Vorbereitung der Abwandernden; sie ist auch weiter notwendig während der Abwesenheit in der schriftlichen Aufrechterhaltung der Verbindung und endet erst mit der feierlichen Wiederaufnahme in seine Gemeinde. Es ist Aufgabe des katholischen Hinterlandes, das Christentum mehr aus einer Angelegenheit der sozialen Gewöhnung zu einer Sache der persönlichen Entscheidung werden zu lassen. Obwohl beachtet werden muss, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, und daher auch der sozialen Hilfe bedarf, muss doch die Erziehung daraufhin abzielen, den Christen krisenfest zu machen, ihn auf Widerspruch und Opfer bewusst vorzubereiten, ihn so zum selbständigen, mündigen Charakter zu gestalten.“70

b) Die Erziehung des Christen zur „geistigen Selbstständigkeit und Mündigkeit“ als Konsequenz für die Seelsorge Bereits Anfang 1934 stand fest, dass die Seelsorge für die Katholiken der Wandernden Kirche nicht allein in der allgemein üblichen Form der Pfarrseelsorge stattfinden konnte, zumal ein erheblicher Anteil der Pflichtdienstler in Diasporaregionen eingesetzt wurden, in denen es an einer entsprechenden kirchlichen Infrastruktur mangelte. So plädierte auch Kaller schon vor der eigentlichen Gründung der Berliner Zentralstelle für möglichst modern und unkonventionell ausgerichtete Seelsorgsmethoden.71 Während die Verantwortlichen des Seelsorgsdienstes jedoch noch anfänglich davon ausgingen, mit den in Scheunen, im Freien oder in Privatwohnungen gehaltenen Gottesdiensten, Gruppenstunden und Gesprächsangeboten zumindest einen guten Prozentsatz der Wandernden Katholiken zu erreichen und auf entsprechenden Bedarf und Interesse zu stoßen, zeichnete sich zunehmend die beschriebene Schwierigkeit ab. Als Reaktion auf die „mangelnde Diasporafähigkeit“ finden sich ab 1936 verstärkt Forderungen, die auf ein Umdenken der Seelsorge in den Entsendegebieten hinzielten. In einem richtungsweisenden Referat forderte Bischof Kaller für die Zukunft eine Neuausrichtung in der Pastoral, ein Umdenken im Selbstverständnis der Geistlichen und insbesondere mehr Eigenverantwortung der Gläubigen: „So muss die Seelsorge allen in ihrer jeweiligen Besonderheit dienen. Sie kann nicht in zeitlosen Formen einhergehen, sie muß Anschluß suchen an die seelische Eigenart der Menschen, an der Blut und Boden, Bildung des Geistes und Charakters, individuelle und soziale Lebensformen mitgearbeitet haben. […] Wir müssen allen alles werden, soweit wir das vermögen. Die Seelsorge an allen Glaubensgenossen ist uns aufgegeben. […] Der Priester muß es auch ertragen, aus einer sozialen Ordnung herauszutreten, die er von altersher innehatte, denn nicht eine Stellung in der Welt zu besitzen, sondern das Reich Gottes zu su70 71

Bericht der Tagung des Seelsorgsdienstes für die Wandernde Kirche am 13./14. Dezember 1938, S. 14 f. Archiv des Erzbistums Bamberg, Sig. Rep. 4/2, 4140/3,5. „Jede Zeit verlangt von der Kirche, die das Amt hat zu lehren, zu führen und zu heiligen, ihr zugepasste Methoden der Seelsorge. Die Zeit steht über den Institutionen. Daher ist ihr Verlangen verpflichtender als das der jeweiligen Formen.“ Landhelfer- und F.A.D.-Seelsorge. Bericht über die Tagung zu Biesdorf b. Berlin vom 17.-19. Januar 1934, S. 67. BAT, Abt. B III 14,1 Bd. 5V.

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chen, ist seine erste Aufgabe. So groß der Verzicht auch sein mag, der dadurch gefordert wird. [...] Es muß das Ziel unserer Seelsorge sein, die Gläubigen dazu fähig zu machen, aus Objekten bewahrender Hirtensorge Menschen zu erziehen, die auf Gottes und der Kirche Anruf selbst zu antworten fähig sind, Menschen der Entscheidung und Entschiedenheit. Nie werden wir der Welt begegnen können, wenn wir nicht unsere Ideale in unabdingbarer Fülle leben und lehren. Das ist jetzt die Aufgabe, gegenüber einer Situation, aus der wir keinen Ausweg sehen.“72

Ähnlich argumentierte der Leiter der Zentralstelle in Berlin, Hermann Joseph Schmitt, der sich im Rahmen seiner Ende der 1930er Jahre verfassten Promotion mit den Erfahrungen des Seelsorgsdienstes auseinandersetzte und ebenfalls eine Neuausrichtung der Seelsorge propagierte. Die Herausforderungen der Migration für die Katholiken – wie beispielsweise das Kennenlernen des Volkes als Ganzes und der Gemeinschaft oder das Kennenlernen der Diaspora – bewertete Schmitt zwar grundsätzlich positiv; als negativ sah er jedoch die Vereinsamung des Menschen und die bislang unzureichende Konzeption der Pastoral an. Er forderte deshalb aufgrund seiner Erfahrungen mit der „Wandernden Kirche“ die Erziehung des Christen zur „geistigen Selbständigkeit“.73 Der einzelne Katholik sollte und musste mündig werden, wollte er in der christentumsfeindlichen Umgebung überleben: „Der Mündige führt das Wort in eigenem Namen, er braucht keinen Bürgen mehr, hat das Recht der Selbstverteidigung und ist eigenverantwortlich. [...] Leider ist es eine Tatsache, dass in der Vergangenheit, wenigstens im kirchlichen Raum, diese Selbständigkeit nicht in dem erforderlichen Maße angestrebt worden ist. Oft ist der Selbständige im Denken, Urteilen und Handeln von kirchlichen Kreisen, zumal wenn er den breiten Schichten angehörte, wenig geschätzt, meist aber gering beurteilt worden.“74

Schmitt und Kaller sahen die Zukunft der Seelsorge letztlich in der Erziehung „zur Diasporareife des Christen“.75 Als Zielvorstellung galt die Erziehung des Christen vom „stationären Typ der Vergangenheit“ hin zum „mobilen Typ der Zukunft“76 mit einer Abwendung der Seelsorge von dem bisherigen Dreiklang „Heimat, Familie, Pfarrei“ und einer Zuwendung zur inneren Ausrichtung und Reife des Katholiken. Dieser sollte wissen, warum er katholisch ist, was ihn in seinem Glauben hält, wie Kaller bereits 1940 festhielt: „Alle seelsorgliche Arbeit muss in viel stärkerem Maße als bisher auf die Tatsache der kommenden Wanderung ausgerichtet und von ihr geformt werden. Wir müssen darauf ausgehen, Christen zu erziehen, die nicht von dem Halt ihrer Umgebung, sondern von der Kraft ihrer eigenen Entscheidung für Christus leben.“77 72 73 74 75 76 77

Bericht Katholischer Seelsorgsdienst 15./16. Dezember 1936, S. 3, S. 9. Vorhebung im Original. BAT, Abt. B III 14,1 Bd. 5V. SCHMITT, Binnenwanderung (wie Anm. 5). Bericht des Katholischen Seelsorgsdienstes über die Arbeitstagung am 6./7. April 1943 zu Berlin, S. 7 f. AEK, Dienstakten Lenné 184. Ebd. S. 15. Ebd. S. 18. Vgl. auch SCHMITT, Von der „Wandernden Kirche“ (wie Anm. 5), S. 321. KALLER (wie Anm. 26), S. 11 f. Ähnlich forderte es auch Pastor Greve im Rahmen des genannten Referates vor den westfälischen Edelleuten: „Selbständigkeit und bewußte Verantwortlichkeit der einzelnen Katholiken und größere Vereinheitlichung der Lieder und Gebete deutscher Zunge, bezw. größere Nutzbarmachung und Verbreitung gerade des überall in deutschen Gauen bekannten und eingewurzelten religiösen Sprachgutes oder Schaffung eines solchen sind demnach wichtige Zukunftsaufgaben zur Meisterung der seelsorglichen Aufgaben der Zeit.“ Protokoll der ordentlichen Generalversammlung des Rheinisch-Westfälischen Vereins katholischer Edelleute

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Dieses Ziel sollte durch Schulung und Mutmachung der Priester, Schulung in den Gemeinden und organisatorisch durch Hilfen des Meldedienstes, bewegliche Seelsorger, flexible Seelsorgevorschriften (zum Beispiel Dispens von der Nüchternheit vor dem Empfang der Kommunion, Nachmittagsgottesdienste etc.) erreicht werden.78 Wie wichtig dem ermländischen Bischof dieses Anliegen war, konnte man in der Folgezeit in mehreren Hirtenbriefen sehen, in denen er in deutlichen Worten auch die Eltern ermahnte, ihre Kinder zu „Selbstständigkeit und Mündigkeit“ zu erziehen: „Man hat früher oft gemeint, in der Erziehung komme es vor allem darauf an, die Kinder vor schädlichen Einflüssen zu bewahren. Sorgte man dann noch dafür, daß das Kind in einer Lebensgemeinschaft heranwuchs, die von echter christlicher Frömmigkeit erfüllt war, so glaubte man alles getan zu haben, den Erfolg sicher zu stellen. Dabei wurde aber nur zu oft vergessen, daß das Ziel der Erziehung der selbständige und mündige Mensch ist. Das will nicht besagen, die Kinder oder Jugendlichen sollten zu ungebundener Freiheit und Selbstherrlichkeit erzogen werden, oder Gehorsam und Zucht hätten ihre Rolle in der Erziehung ausgespielt. Das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Die Heranwachsenden müssen vielmehr fähig und bereit gemacht werden, alle ihnen von Gott auferlegten Pflichten, und wären sie noch so schwer, aus innerer Überzeugung und in eigener Verantwortung vor ihrem Gewissen, die Stimme Gottes in ihrem Herzen, zu erfüllen. Sie müssen Menschen werden, die sich nicht imponieren lassen von falschen Ideen und schillernden Phrasen, die die Menschenfurcht nicht kennen, die aber auch vor den Anlockungen, die aus ihrem eigenen Inneren kommen, nicht feige zurückweichen: aufrechte Christen, die auf jedem Posten, auf den sie gestellt werden, und in jeder Umgebung, in die sie das Leben bringt, sich in unerschütterlicher Treue bewähren. Kurz, wir müssen unserer Kinder zu mündigen Menschen erziehen, die ohne unsere Hilfe und Bevormundung ihren Lebensweg zu gehen imstande sind, besonders wenn sie nicht mehr in der Hut des Elternhauses leben. Wie viele von den Jugendlichen gehören heute zur ,wandernden Kirche!’ […] Nur wenn man das Kind schon früh auf eigene Füße stellt, wenn man es anleitet, von innen heraus Gottes Willen zu tun, wird es auch in lauer oder glaubensfeindlicher Umgebung Gott die Treue halten. Sonst mag man ihm vielleicht eine gewisse äußere Lebensform aufprägen. Aber was nützt die, wenn das innere Wachsen und Reifen kaum berührt wird? Solche Kinder werden leicht reine Gewohnheitsmenschen oder Kreaturen ihrer Umgebung. Kein Wunder, wenn sie sich in einer andersgearteten Umweilt nicht zurecht finden, wenn sie, sobald die äußeren Hilfen und Stützen fallen, alles, was nur Hülle ohne echten, lebenskräftigen Kern war, abstreifen. Sie treten unvorbereitet ins Leben, passen sich der neuen Umgebung an und werden bald wie ihre neuen Freunde und Kameraden. Die traurigen Erfahrungen, die man oft mit Menschen macht, die aus einer sogenannten gut katholischen Familie in die Diaspora kommen, sprechen eine leider nur zu beredte Sprache. Die Erziehung zur rechten Selbständigkeit und Mündigkeit verlangt von den Eltern und Erziehern ein hohes Maß an selbstloser Liebe.“79

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am 10. April 1940 zu Münster i. W. StA Lingen (Ems), Dep. 3 (Haus Beversundern), Nr. 66 a (Verein katholischer Edelleute). Referat Kallers (wie Anm. 32), S. 139 - 141. Hirtenwort Kallers an die Gläubigen vom 20.3.1941. KABE 73 (1941) Nr. 5 vom 1.5.1941, S. 37 f. Ähnlich auch die Predigt von Kaller am Pfingstfeste 1943: „Hinzu kommt, daß die so gänzlich umgestalteten Verhältnisse der Gegenwart mit ihrer ständig wechselnden Durcheinanderwürfelung der Menschen aus allen Gauen auch das Kernland unserer Diözese mit fremder Lebensart so durchsetzen, daß es selbst in größter Gefahr schwebt, in absehbarer Zeit zu Diaspora zu werden. Jedenfalls eröffnet die angedeutete Durcheinanderwürfelung ein neues wichtiges Arbeitsfeld, dessen Schwierigkeiten – menschlich betrachtet – fast unüberwindbar erscheinen, das aber doch gebieterisch sorgfältige Bearbeitung im Geiste Gottes fordert. Ich habe die sog. Wandernde Kirche im Auge, die Tatsache also, daß ununterbrochen Glieder der Gemeinden, zumeist in jungem, unausgereiftem und ungefestigtem Alter, aus der schützenden und wärmenden Mitte ihrer Familien herausgenommen und in neue Umgebung gebracht werden, in der ihr geistliches

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5. Ausblick Die Umsetzung der hier kurz vorgestellten Forderungen zweier Protagonisten der Wandernden Kirche wurde nach 1943 nicht nur durch den verheerender werdenden Krieg erschwert, sondern auch dadurch, dass die Arbeit für die „Wandernde Kirche“ noch nicht „von der ganzen Kirche in Deutschland als eine umfassende Aufgabe der Gesamtseelsorge begriffen“ wurde.80 Dennoch bleibt festzuhalten, dass der verstärkte Blick für die Seelsorge der Zukunft zunehmend von einem „Bewahren vor“ hin zu einem „Bewähren unter“ ging. Wenngleich kriegsbedingt ab 1943 die Überlieferung der Zentralstelle für die Wandernde Kirche in Berlin abreißt81, finden sich in der ersten Nachkriegszeit durchaus noch Stimmen, die weiterhin die von Schmitt und Kaller geäußerten Sorgen sowie die Ideale des Seelsorgsdienstes vertraten, wie es sich beispielhaft an den Aussagen der münsterschen Bischöfe von Galen und Keller zeigen ließe.82

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Leben zumeist vergebens nach Stütze, Schutz und Halt sucht. Diasporanot und Wandernde Kirche stellen den Seelsorger und die christliche Familie vor ganz neue Aufgaben, die nur in unerschütterlichem Vertrauen auf Gottes allmächtige Hilfe und durch opferfreudige Aufbietung aller Kraft ihrer Erfüllung zugeführt werden können: beharrliche Pflege lebendigen Glaubensgeistes in Familien und Gemeinden ist hierfür unentbehrliche Vorbedingung. Seht, geliebte Diözesanen, das sind so einige vordringliche Sorgen, die unsere Freude am Gedenktage der Begründung unserer Diözese zwar nicht trüben sollen, die aber gerade in unserer Festesstimmung in uns wach erhalten werden müssen, wenn unsere Freude christlich echt und Gott wohlgefällig bleiben soll. Nur so können wir hoffen, uns unserer Väter würdig zu zeigen.“ KABE 75 (1943) Nr. 7 vom 1.7.1943, S. 69-72. KALLER (wie Anm. 26), S. 6. Auch in den Akten deutscher Bischöfe seit 1945 finden sich kaum noch Hinweise auf die Wandernde Kirche. Vgl. Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Westliche Besatzungszonen 1945-1947. Bearb. von ULRICH HELBACH (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 54), 2 Bde. Paderborn u. a. 2012. So wendet sich Bischof von Galen am 10. Mai 1945 mit folgender Bitte an seinen Klerus: „Wir wollen Katholiken zur ‚Mündigkeit‘ erziehen, sie ‚Diasporareif‘ machen, damit sie befähigt sind, als ‚Glieder des hierarchischen Apostolats‘, die ‚Herrschaft des Heiligen‘ zu fördern und durchzusetzen“. Ebenso sah sein Nachfolger, Bischof Michael Keller, den „Massenabfall von Christus“ und prognostizierte den Aufbruch hin „zu einer Einheitszivilisation und einer Einheitskultur“, der sich kein Dorf mehr entziehen könne. Nach Keller sollte sich die Seelsorge gerade auf dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Jahre auf diese neuen Zeiten einstellen, denn „das Land hat aufgehört, für sich zu sein. Räumlich und geistig! Die modernen Verkehrsmöglichkeiten holen die entlegendste Bauernschaft hinein in die Unruhe der großen Welt [...] Auch für das Land ist eine neue Zeit angebrochen; es ist endgültig und unwiderruflich seiner Abgeschlossenheit, die in vieler Hinsicht ein großer Vorteil war, entrissen und weitgehend hineingestellt in das Getriebe und Gewoge einer stürmisch sich entwickelnden Weltzivilisation.“ Eindringlich warnte Keller davor, sich nicht von der scheinbar „heilen Welt“ der Gemeinden blenden zu lassen: „In unserer Gemeinde ist noch alles in Ordnung. [...] Ist wirklich noch alles in Ordnung? Vergleichen wir einmal die innere Haltung unserer Gemeinde, wie sie vor 50 Jahren sein mochte, mit heute. Waren damals Glauben und Leben noch eine Einheit? Ist es heute auch noch? [...] Wie wirken sich die Hitlerzeit und der Krieg aus? Arbeitsdienst, Soldatenzeit? Früher durfte man hoffen, dass die jungen Leute, die in die Heimat zurückkehrten allmählich wieder ganz hineinwuchsen in die damals noch vollständig vom Glauben geformte Umwelt. Heute auch noch? [...] Täuschen wir uns nicht! Auch in unseren katholischen Gemeinden beginnt es ganz bedenklich abzubröckeln.“ Wie Wilhelm Damberg schon festhielt, sah Keller den „säkularen Trend“ und den „Abfall von Christus […] durch die Niederlage des Nationalsozialismus nicht nur nicht gestoppt […], sondern mittelbar über die Migrationswelle noch begünstigt“. Vgl. Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933-1946. Bearb. von PETER LÖFFLER (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 42). 2 Bde. Pader-

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Ganz ähnlich sahen es auch zeitgenössische Analysen zur damaligen kirchlichen Situation, die gerade im Zusammenhang mit der Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen die Gefahr einer „Erhaltungsseelsorge“ (Otto B. Roegele), den Geist der Restauration (Stefan Augsten) und das Missionsland Deutschland (Ivo Zeiger SJ) befürchteten, auf die hohe Zahl bloßer Taufscheinchristen hinwiesen und davor warnten, untergegangene Seelsorgsformen neu aufleben zu lassen. 83

Im Grunde wurde die „Brauchbarkeit des Milieus […] unüberhörbar in Frage gestellt“; bei den Trägern der Seelsorge dominierte jedoch „der Drang zum ‚Wieder’-Aufbau des zerstörten, nicht die Phantasie, die einen Neuanfang in der Nachkriegszeit hätte bewirken können.“84 Vielleicht wurde deshalb auch nach dem Krieg die Arbeit des Seelsorgedienstes nicht wieder aufgenommen. Seine Akten und Konzepte verschwanden größtenteils in den Archiven. Für Bischof Maximilian Kaller dürften jedoch die Erfahrungen und Beobachtungen im Rahmen seiner Tätigkeit für den Seelsorgsdienst wichtig gewesen sein für seine neue Aufgabe, der Sorge um die „Wandernde Kirche Ermlands“ und um alle Heimatvertriebenen nach 1945.85

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born u. a. ²1996, Bd. 2, S. 1128, Nr. 460. Vgl. auch DAMBERG (wie Anm. 59), S. 111. Rundschreiben an den Klerus vom 25. Februar 1948 zitiert nach ebd., S. 124-127. OTTO B. ROEGELE, Der deutsche Katholizismus im sozialen Chaos. Eine nüchterne Bestandsaufnahme. In: HOCHLAND 41 (1948/49) S. 205-233. FRANZ XAVER ARNOLD, Das Schicksal der Heimatvertriebenen und seine Bedeutung für die katholische Seelsorge. In: CHRIST UNTERWEGS 2 (1947) Nr. 6, S. 2. STEFAN AUGSTEN, Der restaurative Charakter der kirchlichen Arbeit seit 1945. In: LEBENDIGE SEELSORGE 2 (1951) S. 14-24. IVO ZEIGER, Um die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland. In: STIMMEN DER ZEIT 141 (1947/1948) S. 241-252. Hierzu auch JOACHIM KÖHLER, RAINER BENDEL, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente? Zur Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Anfragen an die und Impulse für die Katholizismusforschung. In: Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hrsg. von JOACHIM KÖHLER und DAMIAN VAN MELIS (KONFESSION UND GESELLSCHAFT, 15). Stuttgart u. a. 1998, S. 199-228. KÖHLER/BENDEL, wie Anm. 83, S. 213. In diese Richtung deuten die Aussagen Kaller im Rahmen seiner Neujahrsansprache 1945, in der er ein klares Erkennen der Wirklichkeit forderte, vor einer „ecclesia dormiens […], die erst erwacht, wenn mit allen Glocken Sturm geläutet wird“, und vor der „bisher gläubig behütete[n] Fiktion von ganz katholischen Ländern oder Gegenden“ warnte: „Ich fürchte, daß wir auch in unserm Ermland, so sehr wir auch unser katholisches Leben rühmen dürfen, doch noch zu sehr an der Fiktion des katholischen Ermlandes festhalten.“ ASV, AA.EE.SS, Germania, Scatole fasc. 40, Bl. 58-60, hier Bl. 59.

Maximilian Kaller – Grundanliegen des „Vertriebenenbischofs“ RAINER BENDEL Maximilian Kaller als ein zentraler Propagator der ‚Katholischen Aktion‘ in Deutschland begegnet am häufigsten als „Seelsorgebischof“. Vom Großstadtseelsorger in der Diasporaumgebung bis zum Päpstlichen Sonderbeauftragten für die Vertriebenen wird daher der Fragenkreis des vorliegenden Beitrags gezogen. Kallers Grab in Königstein, nahe dem „Vaterhaus der Vertriebenen“, wurde zu einem Identifikationsort für viele katholische Vertriebene. Kaller als „Vater der Vertriebenen“ wahrzunehmen und zu bezeichnen, ist ohne Zweifel authentischer als von Königstein als dem „Vaterhaus der Vertriebenen“ zu sprechen – nicht zuletzt, wenn man den Briefwechsel im Archiv des Ermlandhauses vor Augen hat: die breite Palette an Sorgen, die die Vertriebenen zum Bischof trugen. Alfred Penkert hat das weite Themenfeld dankenswerterweise durchgearbeitet und einen Überblick zusammengestellt.1 Der Vater der Vertriebenen ist wohl das stärkste Bild in der Erinnerung der Nachwelt, daher soll dieser Aspekt in der vorliegenden Untersuchung den breitesten Raum einnehmen.2

1. Herkunft und Prägung Maximilian Josef Johannes Kaller wurde am 10. Oktober 1880 in Beuthen/OS als zweites Kind einer Kaufmannsfamilie geboren; bis zum Tod der Mutter 1895 wurden fünf weitere Geschwister geboren. Aus der zweiten Ehe des Vaters gingen nochmals zwei Kinder hervor. Nach dem Besuch des Städtischen Katholi1

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ALFRED PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal. Ostdeutsche – insbesondere ermländische – Flüchtlinge und Heimatvertriebene im Briefwechsel mit Bischof Maximilian Kaller in den Jahren 1945-1947. Münster 2004. In überarbeiteter Fassung auch in: ALFRED PENKERT, Höhere Mächte haben entschieden. Flucht, Vertreibung und Ankommen ostpreußischer Katholiken im Spiegel ihres Briefwechsels mit Bischof Maximilian Kaller. Mit einem Abriß der ermländischen Nachkriegsgeschichte (BEITRÄGE ZU THEOLOGIE, KIRCHE UND GESELLSCHAFT IM 20. JAHRHUNDERT, 15). Berlin 2008. Der vorliegende Beitrag will keine erschöpfende und fertige Biographie, kein wohlgeordnetes, erbauliches Lebensbild liefern, dafür ist die Materie, die Person Kallers und vor allem die Zeit in die sie gestellt ist, viel zu vielschichtig und schwierig. Der Beitrag formuliert seine Fragen aus dem heutigen Kontext, bemüht sich freilich, nicht am heutigen Erkenntnisstand sein Urteil zu bilden, sondern mit dem vergleichenden Seitenblick auf zeitgenössische Positionen. Ein wichtiger Zugang zur Fülle der Aspekte kann angesichts der vielfach und von allen Seiten getroffenen Bezeichnung Kallers als Seelsorgebischof die Untersuchung der Geschichte der Seelsorge sein. Als Selbstvollzug der Kirchen, als Wirken der Kirchen nach außen, ist Seelsorge die Realisierung des möglichen Miteinanders von Kirche und Gesellschaft. Seelsorge umgreift die gesamte Lebensund Alltagswelt der Menschen. Seelsorge steht im Spannungsfeld von Gesellschaft, Kirche und Religiosität. LYDIA BENDEL-MAIDL, RAINER BENDEL, Katholische Theologie – Kultur – Geschichte. Positionen und Optionen zu einer schwierigen Begegnung. In: DAS MITTELALTER 5 (2000) S. 49-67. JOACHIM EIBACH, Neue Historische Literatur. Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung. In: HISTORISCHE ZEITSCHRIFT 263 (1996) S. 681-715, hier S. 692.

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schen Gymnasiums in Beuthen immatrikulierte sich Kaller 1899 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau. Am 20. Juni 1903 wurde er von Kardinal Kopp zum Priester geweiht. Von 1903 bis 1905 war er Kaplan in Groß-Strehlitz. Die folgenden zwölf Jahre war Kaller Seelsorger in Bergen auf Rügen, zuerst als Pfarradministrator, dann als Pfarrer. Von 1917 bis 1926 leitete er die Michaelsgemeinde in Berlin. 1926 wurde er als Apostolischer Administrator der Freien Prälatur Tütz/Schneidemühl berufen und 1930 zum Bischof der Diözese Ermland gewählt.

Religiöser und geistiger Hintergrund - Was bedeutet „schlesischer Katholizismus“? „Überdenkt man noch einmal die Ursprünge des Quickborn, wäre zunächst darauf hinzu-

weisen, daß er im deutschen Osten entstanden ist. Seine Menschen suchen in der Mystik den Urgrund der Dinge, sind mitgeprägt von der Innerlichkeit als slawischem Erbe. Sie kennen Toleranz, auch im religiösen und besitzen als Bewohner einer Grenzregion ein waches Gefühl für geistige und politische Bewegungen. Wären später nicht das kritische und revolutionäre Erbgut des deutschen Westens und die römische Klarheit hinzugekommen, Quickborn hätte zu einer schwärmerischen Bewegung werden können.“3

In diesem Zitat aus Johannes Binkowskis autobiographischem Rückblick ist deutlich das Gemüthafte des schlesischen Katholizismus angesprochen; es war in der Tat ein zentrales Charakteristikum. Das zeigt sich in den Wallfahrten, die vor allem auch als eine Reaktion auf aufklärerische Impulse zu Beginn des 19. Jahrhunderts im weiteren Verlauf eine Blütephase erlebten und als ein wichtiges Erbgut der vertriebenen katholischen Schlesier in den gesamtdeutschen Katholizismus eingebracht wurden. Das Gemüthafte des schlesischen Katholizismus zeigt sich in den Liedern, zeigt sich auch etwa in der Maiandacht, die ihre Wurzeln wiederum im schlesischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts hat. Das Gemüthafte wurde intensiviert im Mystischen bis hin zum Schwärmerischen und wird dann als Gefahr wahrgenommen. Es gab in der Tat sehr viele „Bewegungen“ im schlesischen Katholizismus, auch hin zum sektiererischen. Dieses Phänomen manifestierte sich ganz deutlich im Jahrhundert der Reformation, lässt sich aber auch im 19. Jahrhundert nachvollziehen, etwa wenn man an den Deutschkatholizismus des Johannes Ronge denkt oder auch an den Erfolg des Altkatholizismus im schlesischen Raum. Vielleicht trug auch die sprichwörtliche schlesische Toleranz dazu bei, dass sich diese kleinen Gruppen entsprechend entwickeln und halten konnten. Die Schlesier sind Bewohner einer Grenzregion, nicht nur im geographischen, auch im sprachlichen, im kulturellen Sinn. Das Breslauer Rituale kennt eine lange Tradition der Mehrsprachigkeit in der Sakramentenspendung. Auf die Muttersprache in der Religionsausübung wurde immer ein großer Wert gelegt. Als „Grenzler“ haben die Schlesier ein waches Gefühl für geistige und politische Bewegungen, ein entsprechendes Sensorium. Gab es dann in diesem Grenz- und Brückenraum mit diesen vielfältigen kulturellen, nationalen Einflüssen so etwas wie ein Milieu, einen abgeschlossenen und sich abschließenden Raum katholischer religiöser Praxis? Es mag sie sicher gegeben haben, diese Milieus, etwa im ober3

JOHANNES BINKOWSKI, Jugend als Wegbereiter. Der Quickborn von 1909 bis 1945. Stuttgart und Aalen 1981, S. 58.

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schlesischen Katholizismus. Aber sie prägen nicht allein und vorrangig das Bild des schlesischen Katholizismus, sondern er ist in der Tat auch offen und aufbruchsbereit. Er ist auch urban. Er kennt die Impulse, die aus konfessionell gemischten Gebieten immer wieder kommen und er ist sensibel für bestimmte pastorale Konsequenzen, die in einem mehrsprachigen Bistum notwendig sind. Aus dieser Buntheit, aus dieser Vielfalt heraus sind die Impulse zu verstehen: von der Abstinenzbewegung des 19. Jahrhunderts über die neuen Orden und Kongregationen, die sich vielfältiger sozialer Notlagen angenommen haben, bis hin zur Liturgischen Bewegung. Wieviel hat Kaller von solchen Impulsen aufgegriffen? Auffallend ist sein lang anhaltendes und breites Engagement in der Abstinenzbewegung und auch für weibliche Orden und Kongregationen. Kaller orientierte sich in seinem Selbstverständnis als Seelsorger deutlich an seinem Diözesanbischof Adolf Bertram, dessen langjähriger Sekretär er in der Fuldaer Bischofskonferenz war. Bertrams seelsorgerliche Intentionen zielten, so etwa in seinem Hirtenbrief zum Sarkander-Jubliäum4, auf eine Stärkung der kirchlichen Autorität, der die Gläubigen ihre Treue bewahren sollten, auf eine Vertiefung des Glaubens durch die Kraft des Gebetes, des Bußsakramentes und der Eucharistie.

Die Situation an der Universität in Breslau Wichtige Impulse gingen auch von der Katholisch-Theologischen Fakultät in Breslau aus. Diese Fakultät mag im 19. Jahrhundert kein Ruhmesblatt der schlesischen Kirche gewesen sein, wie es Kleineidam in seiner Fakultätsgeschichte herausgearbeitet hat. Sie hat ihre Blütephase an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebt und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielfältige Impulse in das theologische Denken des deutschen Katholizismus einbringen können. Natürlich denkt man hier zuerst an die Breslauer kirchenhistorische Schule, im Wesentlichen zurückgehend auf Max Sdralek und seine Rezeption historisch kritischen Arbeitens in der Kirchengeschichte, die wahrlich schulbildend wirkte.5 Die Enge der neuscholastischen Entwicklung in der Theologie seit den 1870er Jahren von innen aufzubrechen, versuchte der Philosophiehistoriker Clemens Baeumker durch seine historischen Mittelalterforschungen, indem er durch seine Arbeiten die scheinbar monolithische Geschlossenheit des Mittelalters sprengte und die Vielfalt des geistigen Lebens mittelalterlicher Philosophie und Theologie unterstrich.6 Damit wurden auch die Argumente, die sich unter Berufung auf die mittelalterliche Geschlossenheit das Ziel einer einheitlichen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert gesetzt hatten, ad absurdum geführt.

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Vgl. WERNER MARSCHALL, Ein Hirtenbrief Kardinal Bertrams zum Jubliäum des seligen Johannes Sarkander. In: Frieden durch Menschenrechte. Festschrift für Herbert Czaja. Dülmen 1984, S. 189-203. ERICH KLEINEIDAM, Die katholisch-theologische Fakultät der Universität Breslau 1811-1945. Köln 1961, v. a. S. 86-88. Zu Sdralek zuletzt RAINER BENDEL, Max Sdralek als Begründer der Breslauer kirchenhistorischen Schule. In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 55 (1997) S. 11-38. LYDIA BENDEL-MAIDL, Beginn einer historisch-kritischen Philosophiegeschichtsforschung in Breslau: Clemens Baeumker. Ebd. S. 39-68.

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Nicht nur Kirchengeschichte und Philosophie wurden durch die Ergründung der Tradition des eigenen Faches und durch den Austausch mit anderen Wissenschaften auf Augenhöhe mit den anderen wissenschaftlichen Disziplinen der Zeit gebracht, auch in der Exegese wurden große Anstrengungen unternommen, die Ergebnisse der protestantischen Bibelwissenschaft zu rezipieren, nicht zuletzt durch den Alttestamentler Johannes Nikel und den Exegeten des Neuen Testamentes, Aloys Schäfer, der sein Fach bis 1903 an der Breslauer Fakultät vertrat.7 Schäfer hat die Einleitungswissenschaft in das Neue Testament intensiv gepflegt, also gerade die historische Dimension seines Faches. Er hat sich in seiner Publikation „Der Klerus und die soziale Frage“ auch mit praktischen, die engen Grenzen seines Faches übersteigenden Fragen auseinandergesetzt. Überhaupt wird er als ein Exeget gesehen, der mit seinen Kommentaren nicht nur den Studierenden, sondern gerade den Priestern eine Orientierung an die Hand geben wollte; er hat für die Praxis geschrieben. Wenn Eugenio Pacelli als Berliner Nuntius meinte, an der Breslauer Fakultät dieser Jahre habe man nur eine mangelhafte Ausbildung erhalten können, kann dieses Urteil fast nur damit erklärt werden, dass der spätere Papst als Zögling der römischen Studienanstalten allein diese für fähig hielt, künftige Bischöfe zu bilden. In seinen Informationen über die einzelnen Diözesanbischöfe Deutschlands formulierte er über den Apostolischen Administrator von Schneidemühl: „Obwohl seine philosophisch-theologische und kirchenrechtliche Bildung, da er seine Studien einzig an der theologischen Fakultät Breslau betrieb, an den Mängeln dieser Ausbildung leidet, gleicht er dies dennoch durch seine Frömmigkeit, seinen Eifer, seine tiefe Ergebenheit gegenüber dem Hl. Stuhl und der Nuntiatur aus.“8 Trotzdem wünschte er Kaller als Prälaten für Schneidemühl, weil er ihm besondere Fähigkeiten für die „Grenzlandseelsorge“ zutraute, die er für die künftige Gestaltung der kirchlichen Landschaft im Osten als besonders wichtig erachtete.9

2. Großstadtseelsorge Das Berlin der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde vielfach als ein „Laboratorium der Moderne“ bezeichnet. Als Hauptstadt war es nach dem Fall der Monarchie der Ort, um demokratische Formen zu erproben. Zugleich wurde mit der Verwaltungsreform Groß-Berlin geschaffen; ein rasantes Bevölkerungswachstum ist zu verzeichnen: Berlin übte einen Sog auf das weite Umland aus, nicht nur weil Stadtluft frei machte, sondern auch weil das kulturelle Leben faszinierte.

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INGRID PETERSEN, Der Neutestamentler Aloys Schäfer (1853-1914). In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 57 (1999) S. 19-32. EUGENIO PACELLI, Die Lage der Kirche in Deutschland 1929 (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 50). Bearb. von HUBERT WOLF und KLAUS UNTERBURGER. Paderborn u. a. 2006, S. 255. Vgl. dazu HANS-JÜRGEN KARP, Der Apostolische Administrator Maximilian Kaller und die polnische Minderheit in der Grenzmark Posen-Westpreußen. Mit einem Aktenanhang. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 50 (2009) S. 35-76, hier S. 39.

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Berlin-Kreuzberg, wo Kallers Pfarrei St. Michael situiert war, war damals bereits ein sozialer Brennpunkt.10 Die meisten Gemeindemitglieder gehörten dem unteren Mittelstand an oder waren Arbeiter. Für die Pastoral verschärfte sich die Not durch die exorbitante Größe der Gemeinde und durch die extreme Diasporasituation der Katholiken in Berlin: St. Michael hatte knapp 17.000 Katholiken bei einer Bevölkerungszahl von ca. 150.000 Menschen auf dem Gemeindegebiet. Dem 1917 aus der riesigen Pfarrei Bergen auf Rügen nach Berlin versetzten Oberschlesier Maximilian Kaller begegnen in St. Michael eine extrem hohe Mobilität – 4.000 Umzüge im Jahr in der Kirchengemeinde St. Michael –, eine große Zahl an Alleinstehenden, ein enormer Rückgang der Geburtenrate, eine hohe Zahl an Mischehen. Die Diagnose Kallers unterstreicht vor allem die niedrige Rate der sonntäglichen Gottesdienstbesucher (etwa 40 %) und die geringe Zahl der Kommunikanten; dazu kam die erwähnte soziale Konfliktlage. Welche pastoralen Formen Kaller aus dieser Problemlage heraus in den neun Jahren seiner Tätigkeit in St. Michael entwickelte, hat er in seinem 1925 erstmals erschienen Buch „Unser Laienapostolat in St. Michael“ vorgestellt. Dort sind die Ansätze und Initiativen des Praktikers, der Kaller war, festgehalten; kein Buch großartiger Reflexionen, sondern ein Impuls für Seelsorger, der auch den geistigen Hintergrund aufzeigt: Kaller orientierte sich an dem 1909 erschienen Buch des Wiener Pastoraltheologen Swoboda über die Großstadtseelsorge. Kallers Großstadtpastoral erschöpfte sich nicht in der Katechese und Liturgie, sondern griff intensiv die sozialen Probleme auf und suchte nach Hilfestellungen. Weite Problemfelder wurden besetzt, die Zuständigkeitsbereiche der Seelsorge sehr ausgedehnt – also eine intensive, nachgehende Seelsorge, die in vielem an das Wohnviertelapostolat erinnert, wie es Heinrich Swoboda, seit 1895 Professor der Pastoraltheologie und Katechetik in Wien und Förderer der Wiener Katechetischen Bewegung, für Wien entwickelt hat.11

3. Bischof von Ermland Maximilian Kaller12, seit 1926 Prälat der Freien Prälatur Schneidemühl, wurde 1930 zum Nachfolger von Augustin Bludau gewählt.13 Die Wahl Kallers zum ermländischen Bischof erfolgte erst nach drei Wahlgängen mit dem Ausschlag der 10

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„Die weitaus meisten Pfarrangehörigen wohnen im Seitenflügel oder Quergebäude eines Hinterhauses, meist in den obersten Stockwerken oder im Keller. In manchen Straßen wohnen besonders viele Ledige, die nur eine Schlafstelle inne haben. Es gibt Häuser, in denen sogar 23 verschiedene katholische Parteien (Familien oder Ledige) wohnen. In den Straßen, in denen fast nur kleine Leute wohnen, haben die Katholiken auch die Vorderseite der Häuser inne. Die Armut ist also charakteristisch für die Gemeinde.“ MAXIMILIAN KALLER, Unser Laienapostolat. Was es ist und wie es sein soll. Leutesdorf am Rhein 1925; hier wird zitiert nach der zweiten, erweiterten Auflage Leutesdorf 1927, S. 27. HEINRICH SWOBODA, Großstadtseelsorge. Regensburg 1909. Für einen charakterisierenden Überblick über den Forschungsstand HANS-JÜRGEN KARP, Zum Stand der historischen Forschung über Maximilian Kaller (1880-1947). In: Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland in der Nachkriegszeit. Hrsg. von RAINER BENDEL. Köln, Weimar, Wien 2008. GERHARD REIFFERSCHEID, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich (BONNER BEITRÄGE ZUR KIRCHENGESCHICHTE, 7 = ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS, Beiheft 1), S. 12-14.

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Stimme des Dompropstes Sander, weil von Rom gewollt. Die Bischofsweihe am 28. Oktober 1930 wurde nicht in Frauenburg, sondern noch in Schneidemühl vorgenommen. Auf den gelehrten Professor Augustin Bludau folgte der Pragmatiker und unermüdliche Aktivist. Bekannt sind die Anfangsschwierigkeiten Kallers im Ermland, seine wenig glückliche Hand in der Auswahl der Mitarbeiter, seine Unsicherheiten und manchmal auch Eigenwilligkeiten in Verwaltungs-vorgängen und bei Ämterbesetzungen, im Umgang mit Menschen und auch im liturgischen Raum. Bekannt ist das offene Haus des Bischofs, das in den Augen mancher Zeitgenossen für die eigene Familie zu lange und zu weit offen stand. Aber hier sollen nicht Situationen nachgezeichnet und Anekdoten rekonstruiert werden – die freilich auch aussagekräftig sind, sondern hier seien für Kallers 15 Jahre als Bischof von Ermland drei Aspekte herausgegriffen, die in der jüngeren Forschung und Diskussion immer wieder als Parameter für Anpassung oder Widerstand dienten.

Die Haltung gegenüber der neuen Bewegung des Nationalsozialismus Bekannt ist die deutliche Ablehnung des Nationalsozialismus durch die Bischöfe bis zum Akt von Potsdam und zum Konkordat.14 Bekannt ist die folgende Begeisterung mancher Theologen für die neue Bewegung von Adam bis Schmaus über Lortz und Eschweiler und Andere.15 Bekannnt ist die teils begeisterte Aufnahme, die das Thema ‚Aufbruch, Erneuerung‘ nach dem 30. Januar 1933 in kirchlichen Kreisen, nicht zuletzt bei Kaller, gefunden hat. „Die Jugend soll neu gestaltet werden. Wir wissen, dass die neuen Machthaber auf der Religion aufbauen wollen. Es ist unsere heilige Pflicht, mitzuarbeiten und die Grundsätze der christlichen Erziehung ins helle Licht zu setzen. [...] Der Staat will die religiösen Kräfte ausgewertet wissen. Wir wollen nicht zögernd zurückhalten. [...] Wir leben in einer großen, Halbheiten verabscheuenden, ganz radikalen Zeit. Auch wir müssen radikal sein, radikalkatholisch. Aktivisten wollen wir sein. [...] das Vaterland wartet auf uns.“16

So Maximilian Kaller über den Katholizismus im neuen Staat, ein Artikel, der vielfach mit geringen Veränderungen in katholischen Presseorganen abgedruckt worden ist. „Kaum politisches Gespür“, attestierte ihm deswegen Wolfgang Knauft.17 Parallele Verwendung von Vokabular, Hinweise auf mögliche parallele Strukturen zeigen sich ebenso deutlich in Kallers Predigt zur Wallfahrt nach Dietrichs-

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Dazu z. B. HEINZ HÜRTEN, Deutsche Katholiken 1918 bis 1945. Paderborn u.a. 1992, S. 178315. LUDWIG VOLK, Der bayerische Episkopat und der Nationalsozialismus 1930-1934 (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE BEI DER KATHOLISCHEN AKADEMIE IN BAYERN, Reihe B, Forschungen, 1). Mainz 1965. REIFFERSCHEID, S. 18-34. REIFFERSCHEID, S. 37-51. RAINER BENDEL, LYDIA BENDEL-MAIDL, Geschichte und Theologie in der Krisis. „Vergangenheitsbewältigung“ bei Joseph Bernhart und Michael Schmaus. In: MÜNCHNER THEOLOGISCHE ZEITSCHRIFT 55 (2004) S. 168-181 (weitere Lit.). MAXIMILIAN KALLER, Unsere katholischen Aufgaben von heute. In: ERMLÄNDISCHES KIRCHENBLATT 2 (1933) Nr. 17 vom 23.4.1933, S. 206 f. WOLFGANG KNAUFT, Konrad von Preysing. Anwalt des Rechts. Der erste Berliner Kardinal und seine Zeit. Berlin 1998, S. 50.

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walde 1934.18 Gleichzeitig wird in dieser Wallfahrtspredigt vom 9. September 1934 unmissverständlich deutlich – wie vorher bereits in der von Heiligelinde19 – dass der eigentliche Führer allein der Priester, der Bischof sein kann.20 Als „wahrer Führer“ warnte der Bischof im Sommer 1934 unüberhörbar vor den Irrlehren, nicht des, sondern im Nationalsozialismus.21 Die Auseinandersetzung wird als ein weltanschaulicher Konkurrenzkampf wahrgenommen und geführt.

Der Bischof und der Krieg Man merkt Kallers Hirtenwort zur Kriegszeit vom 3. September 1939 eine gewisse Verlegenheit an. Kaller hielt das Hirtenwort sehr kurz, nicht mehr Worte als unbedingt notwendig schrieb er, die freilich, ohne ein Körnchen Zweifel oder Kritik zu streuen. Patriotismus ist nach wie vor angesagt – und eine militärische Sprache auch in geistlichen Dingen: „Ehe ihr dem Rufe zu den Waffen folget, habt ihr die Waffenrüstung Gottes angezogen. Ich weiß, daß die meisten von euch durch die hl. Sakramente gereinigt und gestärkt sind.“22 Das ist die traditionelle Vorstellungswelt, die hier bemüht wird: man muss die Dinge so annehmen, wie sie mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit kommen, und man muss die Betroffenen mit den klassischen Medien der Seelsorge stützen; in dem Kontext waren offensichtlich keine Fragen denkbar. „Mit der Kraft Gottes werdet ihr euch einsetzen für Führer und Volk, werdet ihr bis zum Letzten eure Pflicht tun zur Verteidigung unseres geliebten Vaterlandes, zum Schutze unserer Heimat. [...] Fürchtet euch nicht, denn der Herr ist mit euch!“23 Die Daheimgebliebenen, so versicherte der Bischof den Soldaten, werden für sie beten.24 Mit keinem Wort wird die Berechtigung des Krieges thematisiert, mit

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„Wir spüren alle, daß wir in einer großen Zeit leben, in der Entscheidungen fallen, die für das ganze deutsche Volk und in besonderer Weise für uns Katholiken von größter Bedeutung sind. Entscheidungen, zu denen wir von unserem Gewissen aus Stellung nehmen müssen, Entscheidungen, die nicht nur unser persönliches, unser körperliches Wohl angehen, sondern in besonderer Weise unser seelisches Heil gestalten; und nicht nur das unserer Seelen, sondern das Heil der uns von Gott anvertrauten Seelen. Ihr spürt, geliebte Diözesanen, die ganze Schwere und Wucht der Stunde, und deshalb kommt ihr an diesen Ort der Gnade, um hier zu beten. Ihr kommt, um euch gegenseitig Mut zu machen. Ihr kommt und ruft nach Euren geistlichen Führern. Ich höre Euren Ruf: [...] Bischof, führe uns, wir wollen Dir folgen!“ ERMLÄNDISCHES KIRCHENBLATT 3 (1934) Nr. 38 vom 23.9.1934, S. 496-499, Zitat S. 496 und S. 498. Ebd. Nr. 27 vom 8.7.1934, S. 353 f. „Katholisches Volk, du hast ein Recht darauf, Führer zu fordern, die Christus ganz gehören. Ein Führer muß mit seinem Volke aufs innigste verbunden sein. Deshalb geht der Priester keine irdischen Bande ein, er verzichtet auf Weib und Kind, um frei zu sein für sein Volk.“ KNAUFT (wie Anm. 17), S. 498. „Geliebte Diözesanen! Die Zahl der Irrlehren in unseren Tagen ist groß. Mit Schmerz stellen wir fest, daß gerade im letzten Jahr Strömungen und Bewegungen in unserem Vaterland aufgetreten sind, welche sich gegen die Grundwahrheiten der katholischen Kirche wenden und auf eine neue Religion, eine deutsche Nationalkirche hinzielen, die begründet werden soll mit dem Mythos des Blutes und der Rasse. Dieser neue Glaube hat nichts mehr zu tun mit dem, was die ewige göttliche Wahrheit uns gelehrt hat.“ Ebd. S. 497. KATHOLISCHES AMTSBLATT FÜR DAS BISTUM ERMLAND [KABE]71 (1939) Nr. 10 vom 1.10.1939, S. 77. Ebd. „Uns alle spannt der Krieg in seinen harten Dienst. Wir alle müssen Opfer, schwere und schwerste Opfer bringen. Niemand darf sich seiner Pflicht entziehen. Wir werden leiden müssen,

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keinem Wort auf die Gegenseite geschaut! Die Hörer mussten davon ausgehen, dass der Bischof die Rechtmäßigkeit von Hitlers Krieg anerkannte. Kaller hatte sich wohl an einen auf der Fuldaer Bischofskonferenz vereinbarten Tenor in seinem Hirtenschreiben gehalten. Darin findet man nicht mehr das nationale Pathos der Hirtenbriefe von 1914, aber der Gehorsam gegen Führer und Obrigkeit wurde eingeschärft. Sehr viel Wohlwollen steckt hinter dem Urteil von Christoph Kösters, der unterstreicht, dass bei den katholischen Bischöfen Zurückhaltung überwogen habe. Gleichzeitig räumt er ein: „Alles in allem blieb für die katholische Kirchenführung die Haltung zum Krieg bis zuletzt geprägt von spannungsreichem Nebeneinander von Patriotismus und Friedenswille.“25 Kallers Diktion war weit zurückhaltender als die des Feldbischofs Franz Justus Rarkowski, der Hitler als das leuchtende Vorbild eines wahrhaften Kämpfers, als ersten und tapfersten Soldaten des Großdeutschen Reiches vor Augen gestellt hatte. Deutlich distanzierter als Kaller formulierte der Berliner Bischof Preysing, der in seinem Hirtenbrief zum Kriegsbeginn die Fuldaer Vorgaben nicht aufgriff.26 Er benutzte keine den Krieg bejahenden Formulierungen, er sprach nicht vom Kampf für Volk und Vaterland. Er forderte die Gläubigen auf zum Gebet für „alle, die draußen stehen, alle Notleidenden und Bedrängten.“ Man kann Missalla zustimmen, wenn er Preysings Hirtenbrief vom September 1939 als ebenso mutig bezeichnet wie Galens Predigten vom Juli und August 1941.27

Drohendes Kriegsende Einordnung und Deutung der nationalsozialistischen Katastrophe Künftige Aufgaben Im September 1944 schrieb Kaller ein Hirtenwort zur Pflege des Gebetslebens im Vertrauen auf die Göttliche Vorsehung. Darin sprach er von einer schweren Prüfungszeit, brachte sein Mitfühlen mit den Leiden und Sorgen der Menschen zum Ausdruck. Not und Bedrängnis kommen nach seiner Wahrnehmung der letzten Kriegsmonate vor allem von furchtbaren feindlichen Fliegerangriffen. Der Bischof spricht vom heldenmütigen Kampf der Soldaten, die in vorbildlicher Tapferkeit für das Vaterland kämpfen. Er lobt die acies bene ordinata, meint damit die Treue des Klerus gegenüber dem Oberhirten. Gleichzeitig charakterisierte er die aktuelle Situation als eine Krisis, die bislang latente Defizite offenkundig mache, so dass man „durchaus von einer Krise des Christentums reden kann. Viele Übel, die lange im Verborgenen gewuchert haben, sind offen aufgebrochen. Die Saat der Aufklärung, des Rationalismus, des Darwinismus, des Materialismus und des Marxismus ist aufgegangen und zerstört die bisher gläubig gehütete Fiktion, die schon sehr lange abgetan sein müßte. Ich fürchte, dass wir auch in unserem Ermland, so sehr wir auch unser katholisches Leben

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aber wir dürfen nicht jammern und klagen, sondern müssen uns gegenseitig helfen, die Not zu ertragen, in der Kraft und Gnade unseres christlichen Glaubens.“ Ebd. CHRISTOPH KÖSTERS, Kirche und Glaube an der „Heimatfront“. Katholische Lebenswelt und Kriegserfahrungen 1939-1945. In: Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945. Hrsg. von KARLJOSEPH HUMMEL und CHRISTOPH KÖSTERS. Paderborn u.a. 2007, S. 363-398, hier S. 365. Vgl. dazu KNAUFT (wie Anm. 17), S. 111 f. HEINRICH MISSALLA, Für Volk und Vaterland. Königstein 1979.

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rühmen dürfen, doch zu sehr an der Fiktion des katholischen Ermlandes festhalten. [...] Freie Rechte der Persönlichkeit und das Gewissen werden nicht mehr geachtet, sodass die Menschheit ihre Seele und ihre Würde verliert.“28

Die Argumente der neuzeitlichen Verfallsstruktur werden auch hier aufgegriffen, gleichzeitig aber wird vor dem zu großen Vertrauen in die Tragfähigkeit des Milieus gewarnt (Kaller spricht von der Fiktion des katholischen Ermlandes) und werden die Verletzungen der Rechte der Persönlichkeit und der Würde der Menschheit (zwar noch abstrakt, auf der Wesensebene gedacht, Kaller formuliert noch nicht „Menschenwürde“) angesprochen; damit bereitet der pragmatische Seelsorger, der noch nicht restlos über den Schatten der Theologie seiner Studienzeit springen kann, einen Ansatz vor, aus der moralisierenden Interpretation der neuzeitlichen Geschichte als eines kontinuierlich sich verstärkenden Abfalls vom Christentum seit dem Nominalismus über Luther bis hin zu den Gipfeln in Nietzsche und Hitler auszubrechen.29 Kaller macht vor allen Dingen Erziehungsaufgaben fest, in erster Linie soll der Klerus Adressat von Vorträgen sein; besonderes Augenmerk gilt in dieser Situation der Caritas. Kaller spricht zu Kriegsende von der apokalyptischen Dimension der gegenwärtigen Situation; jedes Anrecht auf bürgerliche Behaglichkeit wird zerstört; Jahre härtester Entbehrung werden ertragen werden müssen; gewaltige Anstrengungen werden nach dem Krieg bei allen Völkern nötig sein. Der Priester in christlicher Einfachheit wird gefragt sein, nur er wird überzeugend in den Entbehrungen stärken und sie deuten können; in der priesterlichen Lebenshaltung müssen Schlichtheit und Einfachheit zu erkennen sein – keine opulenten Gastmähler können mehr gefeiert werden. „Alkohol und Tabak müssen aus diesem Grunde sicher gerade im katholischen Pfarrhaus in Zukunft eine weit geringere Rolle spielen als das bisher üblich war.“30 Der wegweisende Seelsorger und Wahrer christlicher Kultur ist in den Augen des Bischofs nötig. „Eine Periode hemmungsloser Diesseitigkeit ruft gebieterisch nach den Kräften der Übernatur. Eine Zeit des Verlorenseins an Genußgüter heischt Taten des Opfers, des Verzichtes, fordert eine Haltung, die bewußt aus dem Jenseits lebt und diesen neuen Geist im Alltag einleuchtend darstellt.“31

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Ansprache Kallers vor dem Domkapitel und dem Frauenburger Klerus am Neujahrstag 1945. Kaller an Pius XII. vom 2.1.1945. Città del Vaticano. Archivio Segreto Vaticano. Archivio degli Affari Ecclesiastici Straordinari. Germania, Scatola, fasc. 40, 58 r-v, Anlage: 59 r-60 r, Zitat 59 v. Schreibmaschinenabschrift auch im Archiv des Visitators Ermland, Münster [künftig: AVE]. Auf die Angabe von Signaturen wird verzichtet, da das Archiv neu verzeichnet wird. Das Hirtenwort zur Pflege des Gebetslebens in: KABE 76 (1944) Nr. 10, S. 177-179. Vgl. dazu RAINER BENDEL, LYDIA BENDEL-MAIDL, Christliche Mystik als Zugangsweise zu Nietzsche. Joseph Bernhart und Theodor Steinbüchel im Vergleich. In: Theodizee im Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion. Hrsg. von ULRICH WILLERS. Münster 2002, S. 131-159. Richtlinien für die Seelsorge betr. christliche Gestaltung der Lebenshaltung. Juli 1944. Archiwum Archidiecezjalne Wrocław I. A. 25 – 6137. 12 S., hier S. 11. Ebd. S. 12.

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4. Der Seelsorger der Flüchtlinge und Vertriebenen Kallers Beziehung zu seinen Diözesanen und vor allem zu seiner Diözese war innig. Nur auf Befehl der Gestapo war er bereit, im Februar 1945 sein Bistum zu verlassen. Er fand Aufnahme in Halle. Er berichtete den Bischöfen und dem Papst im Mai und Juni 1945 von seiner zentralen Hoffnung, wieder in sein Bistum zurückkehren zu können32 – mit amerikanischer Hilfe. Auch wenn ihm die Verhältnisse in Ostpreußen vollständig unbekannt sind. Auch wenn er von einem eisernen Vorhang zwischen Ost und West spricht. Auch wenn er nicht mehr weiß, wie viele Deutsche überhaupt noch im Bistum Ermland sind, wie viele Priester die Diözese verlassen mussten oder freiwillig verlassen haben. Auch wenn er von den Bestrebungen weiß, Ostpreußen zu kolonisieren, steht an oberster Stelle seine Hoffnung, weiterhin als Bischof im Ermland tätig sein zu dürfen. Notfalls auch für eine polnische Bevölkerung. Er unterstreicht, dass er Polnisch soweit kann, dass er ohne Mühe polnisch predigen und sich polnisch unterhalten kann.33 Er kann sich auch vorstellen, nach Königsberg in den russisch besetzten Teil Ostpreußens zu gehen und dort die Katholiken zu betreuen. Der Einsatz für seine Diözesanen und seine Diözese brachte ihn im Sommer 1945 dazu, noch einmal nach Ostpreußen zurückzukehren und die Sorge für sein Bistum vor Ort wieder zu übernehmen. Erst als er vom polnischen Kardinal Hlond zum Verlassen seines Bistums gezwungen wurde, sah Kaller ein, dass er seine angestammte Aufgabe nicht länger wahrnehmen konnte. Er kehrte zurück zum Mutterhaus der Grauen Schwestern in Halle. Erst an zweiter Stelle kommt für ihn der Vorschlag, dass er sich zusammen mit seiner Bevölkerung aussiedeln lässt – wohin auch immer – und er dafür sorgt, dass möglichst alle zusammenbleiben. Freilich sieht er es sehr realistisch, dass in dem Fall, dass die Katholiken nach dem Westen Deutschlands ausgesiedelt werden, er bei seinen Diözesanen nicht bleiben könne, dass die Ermländer sich dann auf die verschiedenen Diözesen verteilen und allmählich in die neuen Gebiete einleben müssten. In diesem Sommer 1945 erwog er also bereits sehr klar die Möglichkeit, dass alle Deutschen aus Ostpreußen ausgesiedelt werden – ohne Hoffnung auf Rückkehr. Diese realistische Sicht wird ihn auch immer wieder dazu bringen, die Vertriebenen zu mahnen, in ihrer neuen Bleibe Wurzeln zu fassen, sich zu integrieren und nicht irgendwelchen Sehnsüchten nach einer fernen Rückkehr nachzugeben.34 Schon im September 1945 richtete er einen Hirtenbrief an die versprengten Ermländer, dessen oberstes Ziel in zwei Richtungen ging: zum einen sollten sie in ihrer Liebe zur Heimat bestärkt werden, sollten die Prägung, die religiöse Eigenart des Ermlandes nicht aufgeben. Zum anderen sollten sie desillusioniert werden. „Unsere Heimat ist uns verloren. Das ist hart, aber an harten Tatsachen dürfen wir nicht vorübergehen und unsere Trauer um die verlorene Heimat muss sich trösten und aufrichten lassen.“35 Kaller formulierte den Appell, neue Heimat zu 32 33 34

35

Vgl. z. B. Kaller an Pius XII. vom 28.6.1945. AVE. Ebd. Vgl. Hirtenbrief Kallers an die Ermländer im September 1945. Druck in: Bischof Kaller spricht. Hirtenbriefe des Flüchtlingsbischofs Maximilian Kaller. Gesammelt und hrsg. von Pfarrer PAUL KEWITSCH. Lippstadt i. Westf., S. 5-8. Ebd. S. 5.

Maximilian Kaller – Grundanlieben des „Vertriebenenbischofs“

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suchen, zu finden und zu bilden, neu anzufangen; den Appell, Gemeinschaft untereinander zu halten, alte Netze wieder herzustellen, in Gerechtigkeit und christlicher Liebe. Eigentum solle gebildet werden, aber ohne Habgier und mit gutem Gewissen. „Fragt nicht nur nach kommunalen und kirchlichen Hilfsstellen! Richtet nach Möglichkeit mit euren Seelsorgern solche Stellen selbst ein! Helft mit, wenn sie schon vorhanden sind! Ich erwähne nur in aller Kürze: Volkskirchen, Nähstuben, Kindergärten, Waschküchen, Notwerkstätten für Handwerker, Übernachtungsheime, Fürsorgestellen für heimkehrende Soldaten, Bahnhofsmission, Stellenvermittlung für katholische Mädchen, Kinder- und Jugendfürsorge, Krankenhilfe, Altersheime oder Einzelhilfe für Gebrechliche und Alte, Fürsorge für Gefährdete. [...] Diese caritativen Aufgaben sind riesenhaft gewachsen.“36

Dieses Spektrum an Aufgaben, das wie eine Litanei hier aufgezählt wird, beschäftigte Kaller in den folgenden Monaten neben seiner Predigt und Wallfahrtstätigkeit, und doch blieb er auf der Suche nach einem neuen, nach einem ihm offiziell zugewiesenen Aufgabenfeld. Sollte er als Bischof seine Kollegen in der Sowjetischen Besatzungszone unterstützen? Doch hier stieß er bei vielen Stellen, ähnlich wie Weihbischof Ferche von Breslau37, der später nach Köln ging, auf Zurückhaltung bis Widerstand. Wo also sollte sein neues Aufgabenfeld liegen?38 In einem Brief an den Papst bat Kaller am 6. September 1946 um eine Klärung dieser Frage. Es war ein längerer Bericht über den Zustand des Bistums, wie er ihn bei seiner kurzen Rückkehr ins Ermland angetroffen hatte. Es war ein Bericht über die Begegnung mit Kardinal Hlond, die seinen Amtsverzicht zur Folge hatte, und es war die Versicherung, dass er sich dem Papst im vollen Umfang zur Verfügung stelle, und auch eine Bitte um Klärung seiner künftigen Wirkungsbereiche.39 Zunächst also aufgrund seines Schicksals als Vertriebener aus dem Ermland nimmt er sich der Vertriebenenseelsorge an und wird aufgrund seines vielfältigen Engagements und seiner Stellung als Bischof zu einem der Mitinitiatoren zentraler Instrumente der Vertriebenenseelsorge: Da ist zuvorderst an die Wallfahrten zu denken, Kundgebungen des Glaubens, Ausdruck der Suche und der Pilgerschaft, Möglichkeiten des Wiedersehens und des Gedankenaustausches im Rahmen der Kirche, der den Vertriebenen sonst von den Besatzungsmächten in diesem Umfang verboten war. Da ist die Sorge um die Diözesanen und die Vertriebenen insgesamt in seinen Predigten und Hirtenbriefen, in seinen zahlreichen Einzelschreiben. Da ist drittens die Sorge um die vertriebenen Geistlichen und die vertriebenen Theologiestudenten. Gerade dieser dritte Bereich wurde zu einer seiner zentralen Aufgaben. In einer oftmals sehr schwierigen und spannungsvollen Kooperation mit dem Leiter des Reichsverbands für die Katholischen Auslandsdeutschen Prälat Albert Büttner und dem Prager Hochschulprofessor Adolf Kindermann schuf Kaller den

36 37 38 39

Ebd. S. 7. Zu Ferche vgl. SEBASTIAN HOLZBRECHER, Weihbischof Joseph Ferche (1888-1965). Seelsorger zwischen den Fronten. Münster 2007. Vgl. zu diesen Problemen beispielsweise Kaller an Piontek vom 28.3.1946. AVE. Kaller an Pius XII. vom 6.9.1945. AVE.

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Grundstock für das theologische Zentrum der Vertriebenen in Königstein, das später den Titel „Vaterhaus der Vertriebenen“ erhalten sollte.40

Der Wallfahrer und Prediger – die Deutung des Vertriebenenschicksals In den Monaten seines Aufenthaltes bei den Grauen Schwestern in Halle war Kaller die Seelsorge für die Flüchtlingslager ein wichtiges Anliegen. Er zelebrierte Sonntag für Sonntag dort die Messe und predigte, spendete Sakramente und Trost und legte eine umfassende Kartothek für die Provinz Sachsen an, um versprengte Familienangehörige bei Anfrage wieder zusammenführen zu können. In der kurzen Zeit dieses Wirkens konnte er ungefähr 18.000 Anschriften sammeln. Kallers Hirtenworte, ob geschrieben als Hirtenbriefe oder als Predigten vorgetragen, sind gesättigt vom Wissen um die oftmals desolate Situation der Vertriebenen in der Ankunftszeit. Es sind Trostworte in schwerer Zeit, in franziskanischem Geist verfasst. Er greift die Sorgen der vertriebenen Katholikinnen und Katholiken auf. Er hebt sie ins Wort, er nimmt sie ernst. Er spricht die Konsequenzen an und malt sie aus: die Verzweiflung, die Versuchung, bitter zu werden, die Versuchung, mit Gewalt die Verhältnisse zu ändern. Wenn er in diesem Kontext vor radikalen Bestrebungen warnt, weil sie nur die Gegensätze verschärften, das Leben noch schwerer machen, dann trägt er in einer gewissen Weise zur Entspannung der Situation bei. Er beruhigt, wenn er das Recht auf Heimat unterstreicht und den Papst hier als Kronzeugen anführt. Er würdigt den Gestus des Papstes, dass er ihn, Kaller, zum Sonderbeauftragten für die Vertriebenen zum Vertriebenenbischof gleichsam berufen hat, wenn er auch vorher in Briefen an befreundete Geistliche das lange Schweigen des Papstes beklagt hatte. „Wir danken dem Heiligen Vater für diesen Beweis seiner väterlichen Sorge für uns. Er steht mit seiner Liebe und mit seiner Kraft auf unserer Seite. Das ist uns Trost und Hoffnung zugleich. Durch seine Hand wird Gott auch uns wieder ein Tor in eine erträglichere Zukunft öffnen, das uns jetzt niemand öffnen kann.“41

Es ist kein blinder Optimismus, den Kaller verbreitet, denn er verhehlt nicht, dass viele Schwierigkeiten vor den Vertriebenen stehen, und er unterstreicht auch, dass sein neues Sonderamt in der Betreuung der Vertriebenen auf nichts anderem aufbauen könne als auf einem unerschütterlichen Vertrauen auf Gottes Beistand und Hilfe. In dieser Situation kommt regelmäßig die Interpretation, Gott habe diese Not zugelassen, damit die Menschen begreifen, dass sie nur mit ihm und nicht ohne ihn leben können, dass sie sich nicht zu stark auf sich selbst und auf ihren Besitz, auf ihre Stellung verlassen dürfen. Die Vertreibung wird also als Prüfung, als Krisis gedeutet. Das persönliche wie das gesellschaftliche Leben müsse neu nach dem Gesetz Gottes in der Nachfolge Christi, des Gekreuzigten, geordnet werden. Damit erhält das Schicksal Vertrei40

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RAINER BENDEL, Aufbruch aus dem Glauben? Katholikinnen und Katholiken in den gesellschaftlichen Transformationen der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 34). Köln, Weimar, Wien 2003, hier vor allem S. 131-137. Hirtenbrief Kallers an die Ermländer, 29. September 1946. Bischof Kaller spricht (wie Anm. 33), S. 16-19, hier S. 17.

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bung eine Sendung, eine Botschaft an alle – eine Chance, die Seligpreisungen zu realisieren.42 Auch wenn sie in der neuen Umgebung kalt empfangen, abgelehnt werden, sind die Vertriebenen nicht Verstoßene und Verlassene, sondern in diesem Interpretationskontext Gesandte Gottes. Sie sollen Boten seiner Liebe werden. Die zentrale Frage ist die nach der Prüfung des Glaubens durch die konkrete Situation. Sie durchzieht in ihrem franziskanischen Zungenschlag viele Hirtenbriefe und Predigten Kallers. Dadurch tun sich auch viele Parallelen zur theologischen Argumentation Sladeks auf. Kaller variiert diese Grundgedanken seiner Haltung als Vertriebenenbischof bei vielen Gelegenheiten, so z. B. auch in der Predigt an die Heimatvertriebenen anlässlich der Wallfahrt der Ostvertriebenen nach Werl am 29. Juni 1947.43 Diese Predigt ist ein Dokument für die Haltung Kallers gegenüber seinen Diözesanen aus dem Ermland: Er freut sich ausdrücklich und herzlich, dass er anlässlich dieser Wallfahrt wieder einmal mit ihnen zusammen sein kann. Er versichert, dass die gegenseitige Liebe fortbestehe und dies auch bleiben werde. Er versichert die Vertriebenen, woher immer sie auch kommen, dass der Papst dadurch, dass er ihm diese Sonderaufgabe übertragen hat, ganz besonders Anteil nehme an den Nöten und Sorgen der Vertriebenen. Er berichtet in dieser Predigt von seiner Audienz beim Papst im November 1946, in der er ihm über die Nöte der Heimatvertriebenen geschildert hat. Er berichtet von der Zusage des Papstes, dass er in großzügigster Weise für die Vertriebenen sorgen wolle. Die Hauptargumentation liegt auch in dieser Wallfahrtspredigt auf dem Appell, das Kreuz geduldig zu ertragen, das den Heimatvertriebenen auferlegt ist und die Liebe nicht abhängig zu machen von der Liebe der anderen, also der Klage nicht Raum zu geben, dass die Vertriebenen nicht das nötige Verständnis finden, dass sie so wenig Liebe spüren. Sie sollten daran denken, zuerst Liebe zu schenken.

Zentrale Aufgaben des Sonderseelsorgers für die Vertriebenen Die Sorge um die Priester Als besondere Aufgaben formuliert Kaller vor allem jene an den Priestern. Es ist die Sorge um ca. 1.800 Flüchtlingspriester, die erfasst werden müssen, die in der Seelsorge untergebracht sein wollen, deren Besoldung und Jurisdiktion geklärt werden muss. Es ist die Sorge um die Pensionäre, um die Ausstattung der Priester mit allem Notwendigen – vom Brevier bis zu den Paramenten – und es ist die Sorge um den Priesternachwuchs, die ihn umtreibt. Ein drittes Feld der Sorge um die Priester ist die Diaspora. An erster Stelle nennt er hier die Not in der sowjetischen Zone in den Diözesen Berlin, Meissen, Breslau und in den drei Diözesanteilen Thüringen, Sachsen und Mecklenburg, die zu Fulda, Paderborn und Osnab42

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„Nicht Verfluchte, Entrechtete, Gottverlassene seid Ihr liebe Diözesanen, sondern Auserwählte und Gesandte des Reiches Gottes. In Armut, Not und Fremde seid Ihr berufen, das Kreuz mit Christus zu tragen, zu sühnen für eigene und fremde Schuld und mit unverschuldetem und freiwillig angenommenen Leid, die Auferstehung auch unseren darniederliegenden Volkes vorzubereiten.“ Ebd. S. 18. Ebd. S. 28-31.

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rück gehören. Die große Priesternot in weit ausgedehnten Pfarrgemeinden bedrückt ihn, in vielen Schulen kann kein Religionsunterricht erteilt werden, keine Transportmittel zur Erleichterung der Seelsorge stehen zur Verfügung. Nicht zuletzt während seines Aufenthaltes in Halle 1945 war ihm die Größe und Schwierigkeit der Aufgabe der Vertriebenenbetreuung durch die Kirche in der sowjetischen Besatzungszone klar bewusst. Wie viele Briefe schrieb er an die Ordinarien und an Priester und Priesteramtskandidaten, sich für den Einsatz in der mitteldeutschen Diaspora freistellen zu lassen und die wenigen und völlig überlasteten Seelsorger zu unterstützen und zu entlasten. Erforderlich seien Konvikte, Gymnasien, Priesterbildungsanstalten, Laienhelfer, Ordensschwestern und vor allem Priester.44 Freilich übersieht er dabei nicht die Diasporagebiete in der britischen und amerikanischen Zone, wo auch ein katastrophaler Mangel an religiösen und katechetischen Mitteln herrsche, wo die caritative Betreuung der Gläubigen nicht im erforderlichen Ausmaß durchgeführt werden könne, wo Gottesdiensträume fehlten.

Die Siedlungsfrage Im Kontext der Reflexion seiner Aufgaben als Seelsorger für die Vertriebenen taucht wiederholt der Gedanke der Überseesiedlung auf: „Die Aufgabe meiner Stelle würde sein, die Erziehung zu einer echt katholischen Gemeinschaftssiedlung durchzuführen und im Verein mit dem deutschen Caritasverband die Verhandlungen mit den Behörden und die Belehrung des Volkes in dieser Hinsicht zu übernehmen. Das Flüchtlingsproblem ist so gewaltig, dass die ganze Kirche Deutschlands zu seiner Lösung tätig sein muss. Neben dem deutschen Volk, dessen eigene Möglichkeiten mehr als begrenzt sind, muss sich auch die Weltkirche als acies bene ordinata in den Dienst dieser Arbeit stellen.“45

Immer wieder trieb Kaller im Sommer 1946 die Idee einer geschlossenen Ansiedlung, also einer Übersiedlung der Ermländer nach Übersee um. Man spürt, dass Kaller das Referat der „Wandernden Kirche“ der Fuldaer Bischofskonferenz geleitet hatte. Nicht zuletzt in einem Schreiben an Papst Pius XII. vom 11. November 1946 formulierte er als eine Möglichkeit zur Abhilfe der Flüchtlingsnot die Unterbringung von drei bis vier Millionen Flüchtlingen in den südamerikanischen Staaten, deren Bevölkerungsdichte um vieles niedriger sei als in Europa. Aber er formuliert auch die Möglichkeit, eine größere Zahl von Flüchtlingen in den USA oder in Frankreich anzusiedeln. Dass sich alle in die Gesellschaft Restdeutschlands eingliedern lassen, scheint aussichtslos. Wenn die vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen scheitern sollten, würden nur ein zwangsweises Hinsiechen und Massensterben in Deutschland bleiben.46 Weiter konkretisiert wurden diese Überlegungen nicht, wenn auch offensichtlich viele Vertriebene, sich in der Verzweiflung und Ausweglosigkeit der ersten Monate und oft auch Jahre an jeden Strohhalm klam44

45 46

Vgl. Memorandum Kallers über die Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen und über die Aufgaben des Sonderamtes des Flüchtlingsbischofs, Pius XII. überreicht bei der Audienz am 11.11.1946. AVE. Ebd. Ebd.

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mernd, meinten, Kallers Pläne einer Übersiedlung seien der Realisierung viel näher gekommen, und sich gern einer Aussiedlung angeschlossen hätten.

Möglichkeiten und Grenzen kirchlicher Hilfe – der Vertriebenenbischof als Moderator Kaller formulierte als eine wichtige Aufgabe seines Amtes, auf die Aufnahmediözesen, auf Priester und Gläubige einzuwirken, da oft bei aller vorhandenen Hilfsbereitschaft der echte Geist der Liebe fehle, gerade bei solchen, die noch kein Opfer an Hab und Gut gebracht hätten. Priesterkonferenzen würden hier Verständnis schaffen. Er müsse in diesem Amt die Flüchtlingsinteressen beim Heiligen Stuhl, bei der Bischofskonferenz, bei einzelnen Diözesen, bei den Organisationen wie Caritas, Bonifatiusverein, Jugendwerk usw. vertreten. Die Tätigkeit all dieser Ämter, Organisationen und Stellen müsse einheitlich angeregt und koordiniert werden. Schließlich sieht er sich in der Aufgabe, die Flüchtlingsinteressen beim Alliierten Kontrollrat und bei den Militärregierungen zu vertreten.47 Er verweist zusammen mit dem Berliner Bischof Konrad von Preysing auf die bisher bereits früher formulierten Eingaben, die elternlose und verlorene Kinder aus Ostpreußen und Schlesien nach Deutschland herausführen, die Flüchtlingsfrauen aus Dänemark zurückholen sollten, die die Flüchtlingsinteressen bei Länderregierungen und Flüchtlingskommissaren vertraten und die den Flüchtlingen im Ausland durch Rundfunk und Presse Stimme gegeben hatten. Caritative Hilfe und soziale Maßnahmen allein könnten das Flüchtlingselend beim besten Willen nicht in den Griff bekommen. Es gebe materiell gesehen keine Überwindung der Not. Hilfe müsse also von außen kommen und auch einen Ausweg nach außen aufzeigen. Die Kirche könne allein durch religiöse und sittliche Kräfte zur Lösung des Problems beitragen, und genau in diesen Kontext verortete er dann auch sein Sonderamt als Flüchtlingsbischof. Kaller versteht sein Amt als eine Vermittlungs- und Ausgleichsstelle, die religiöse Betreuung der Vertriebenen formuliert er als vordringlichste Aufgabe. Er müsse auch als Vertriebenenbischof die persönliche Fühlungnahme mit den Flüchtlingen und Vertriebenen suchen und sie zu einem einfachen christlichen Leben hinführen.

Das Armutsideal und die Akzeptanz der eigenen Notlage Die Geisteserneuerung am Ideal der Armut sollte inhaltlich Kallers Arbeit und Predigt prägen. Er fordert die Ergebenheit in den Willen Gottes als die einzig weiterführende Grundhaltung, um Rache und Hass nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.48 Die Vertriebenen seien, wenn sie sich diesem Willen beugten und das 47

48

Preysing und Kaller an den Alliierten Kontrollrat vom 3.9.1945. In: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche. Bd. 6. 1943-1945. Bearb. von LUDWIG VOLK. (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 38). Mainz 1985, Nr. 1034, S. 726-729. „Das ist unser großer Beitrag zum Frieden meine lieben Heimatvertriebenen, die wir am schwersten von den Folgen des Krieges betroffen sind: im demütigen, bußfertigen Beten wollen wir in die Zulassungen Gottes einwilligen. Durch betende Teilnahme am heiligen Opfer unseres

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zugefügte Unrecht freiwillig erlitten, in der besonderen Nachfolge Jesu. Sie sühnten die furchtbare Anhäufung von Schuld in dieser Welt. Nur in dieser Haltung könne die Macht des Bösen in der Welt gebrochen werden. Gebet und Sühne führten zur lebendigen Verwirklichung des Friedens, und zwar des inneren Friedens von Familie und Volk, der eben abhängt von der Versöhnung im Geist der Buße und dem gegenseitigen Vergeben der Schuld. Schließlich formuliert er in seinem Schreiben an den Papst einen dritten weiten Aufgabensektor, nämlich die Aufgaben allgemein sozialer Natur.49 Er könne als Vertriebenenbischof zwar nicht die Tätigkeit sozialer Stellen ganz oder teilweise übernehmen, er sieht sich aber sehr wohl in der Pflicht, anzuregen und gewisse Probleme in das Blickfeld des Interesses zu ziehen.

Das weite Themenfeld der sozialen Aufgaben Zu diesen Problemen gehört, dass Flüchtlinge in der Gefahr standen, als Arbeiter niederen Ranges herabgedrückt, also in die Tradition der Ostarbeiter eingereiht zu werden. Damit die Vertriebenen nicht allein die Lasten des Krieges tragen müssen, muss ein Lastenausgleich erstrebt werden. Das krasse Unrecht, dass die Vertriebenen ihre Rechte auf Sparkonten, Krankenkassengelder, Lebensversicherungen und ähnliches verloren haben, muss beseitigt werden. Die Vertriebenen müssen beruflich eingegliedert werden und Wohnungen bekommen. Durch eine Bodenreform muss Binnensiedlung ermöglicht werden. Damit formulierte Kaller grundlegende Wünsche und radikale Aufgaben, die der Krisensituation in der deutschen Gesellschaft und auch in der deutschen Kirche gerecht werden sollten, die das Bewusstsein für die kritische Situation wecken wollten. Dahinter steckte die bisherige Erfahrung, die Kaller mit seinen Mitbrüdern im bischöflichen Amt machen musste, litt er doch nicht wenig darunter, dass viele von ihnen das Gespür für die Größe der Aufgabe vermissen und ihn allein vor diesem gewaltigen Berg an Aufgaben stehen ließen. Eine Konkretion einer dieser grundlegend formulierten Aufgabenbereiche bringt der Hirtenbrief an die Ermländer zur Fastenzeit 1947.50 Kaller formuliert dort die geistliche Begründung für den Lastenausgleich und mahnt die Vertriebenen, nicht der Unzufriedenheit zu verfallen. Er spürt, dass die einen im dritten Jahr ihrer Vertreibung zunehmend mutlos, die anderen radikal und kämpferisch werden. Im Zentrum steht die bange Frage nach der Sorge um die Heimat, nach der Möglichkeit zur Rückkehr. Die Frage kreist um die materiellen Grundlagen, die geschaffen werden, und um die Perspektiven, die den Vertriebenen eröffnet werden müssen. Kaller warnt die Vertriebenen davor, sich völlig dem Gefühl der Hilflosigkeit und Preisgegebenheit hinzugeben. Gerade die Mahnungen des Heiligen Vaters, der immer wieder den Staatsmännern ins Gewissen geredet hat, dass

49 50

Herrn finden wir immer wieder die Kraft, unser Herz mit seinen bösen Leidenschaften, mit Habsucht und Neid, mit Rachsucht und Hass zu kreuzigen, finden wir die Kraft, unseren eigenen Willen unter Gottes Heilsratschluss zu beugen.“ Hirtenbrief zur Fastenzeit 1947. Bischof Kaller spricht (wie Anm. 34), S. 24-27, hier S. 25. Wie Anm. 44. Wie Anm. 48.

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der Friede ein Werk der Gerechtigkeit und Völker versöhnenden Liebe, nicht der Machtgier und Rachsucht sein dürfe, könne den Vertriebenen zu Hilfe kommen. Die Forderung nach Lastenausgleich wird verbunden mit der Forderung an die Vertriebenen, ihr Glück nicht vom Besitz abhängig zu machen, nicht gewaltsam den Ausgleich herbeiführen zu wollen. Diese Haltung dürfe nicht eine bloße Sonntagshaltung sein, sondern sie müsse alle Tage des Lebens der Vertriebenen durchdringen. „Wie frei fühlen wir uns oft denen gegenüber, die noch krampfhaft am unverdient verwahrt gebliebenen Besitz hängen und innerlich versklavt in ständiger Versuchung sind, sich gegen die ausgleichende Gerechtigkeit und gegen die Nächstenliebe zu verfehlen. Aber wie leicht verfallen auch wir der gleichen Sklaverei des Herzens dem Neid, wenn wir die Armut nicht als Gottes barmherzige Gabe in dieser Stunde der Prüfung erkennen.“51

Individualseelsorge durch Briefe In dem weit gespannten Briefwechsel zeigt sich, wie sehr Kirche und kirchliche Amtsträger den Vertriebenen in den ersten Nachkriegsjahren Heimat und Neuorientierung bieten konnten. In vielen Briefen an Kaller wird die enge Bindung und Wertschätzung des Bischofs bei den Ermländern deutlich. Ihm wurde diese Form der Individualseelsorge, auch wenn sie ihm ein reiches Maß an Arbeit bescherte, nicht lästig. Er stand in brieflichem Kontakt zu vielen Ermländern und Vertriebenen aus anderen Regionen und setzte sich für sie ein. „Und so sage ich Euch: auch Ihr seid berufen, Apostel zu sein! Gerade Ihr Heimatlosen, Ihr sollt Apostel sein! Ich will Euch einen Beweis dafür geben, dass schon so manche unter Euch Apostel sind: Vor einigen Wochen hatte ich Gelegenheit sowohl mit dem hochwürdigsten Herrn Erzbischof von Paderborn, als auch mit dem hochwürdigsten Herrn Bischof von Osnabrück zu sprechen. Sie kamen beide von Firmungsreisen aus der Diaspora zurück und sprachen mit Bewunderung davon, wie so manche Katholiken in der Diaspora wunderbare Apostel sind. Wie sie die ganze Gemeinde neu aufbauen: Wie sie neues katholisches Leben in diese Gemeinden hineinbringen. Dort, wo früher nicht ein Hauch von Glauben und nicht ein Hauch von Liebe zu spüren war! Durch die Heimatlosen wurde in der Diaspora dieser Glaube und die Liebe gebracht.“52

Gerade in der Diaspora sollten sie ihre Rolle als Apostel wahrnehmen und ihren Glauben zeigen. Es ist der Appell an das Laienapostolat, den Kaller in diesem Kontext vorbringt. Vor allem die Jugend ruft er dazu auf, Apostel zu sein. Der Einsatz für seine Diözesanen des Ermlands zeigt sich nirgends deutlicher als in dem umfangreichen Briefwechsel, den Kaller mit vielen Priestern und mit vielen Laien führte. Alfred Penkert hat diesen Briefwechsel aufgearbeitet – erhalten sind etwa 6.000 Briefe und Karten von Laien, die Kaller in seinen beiden Jahren als Vertriebenenbischof geschrieben hat; er hat weit mehr verschickt. Kaller erweist sich hier als ein Samariter des Alltags. Persönliche Grüße und Segenswünsche, Erinnerungen, sind ihm ebenso wichtig wie Fragen nach Anschriften, nicht zuletzt von Eltern, die über das Schicksal ihrer Kinder, die im polnisch verwalteten Gebiet in Ostpreußen zurückgeblieben sind, Auskunft haben wollen, wie auch das Hilfeersuchen in materiellen Notlagen, in der Arbeitssuche, in der Woh51 52

Ebd. S. 28. Predigt bei der Wallfahrt in Werl am 29.6.1947. Bischof Kaller spricht (wie Anm. 34), S. 30.

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nungssuche, bei Schul- und Studienproblemen, oder die Bitte um Entlastung im Entnazifizierungsverfahren, oder die vielen Anfragen nach den Möglichkeiten, den Plan, in Übersee neu anzusiedeln, zu verwirklichen. Den größten Teil der persönlichen Korrespondenz bilden die persönlichen Anfragen, die Bitten um Hilfe (etwa ein Drittel der Briefe, die an Kaller gerichtet waren) und die Fragen zur Auswanderungsproblematik. Etwa 10% machten die Bitten um Hilfe für die Entnazifizierung aus. Standpunkt und Themen in den Antwortschreiben an diejenigen, die persönlich bei ihm Hilfe suchten, die ihm ihre Notlagen schilderten und nicht selten wortreich klagten, sind vergleichbar mit den in den Hirtenbriefen und Predigten geschilderten. Es ist der Appell, die Situationen anzunehmen, wie die Vertriebenen sie vorfinden, sich in das Schicksal zu fügen, in franziskanischer Gesinnung die Mittellosigkeit anzunehmen; nicht der Resignation und auch nicht der falschen Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat zu verfallen, sondern dort, wo Gott sie hingestellt hatte, sollten die Vertriebenen ihr Leben neu aufbauen. Vielen Ermländern tat es offensichtlich gut, ihre teils schrecklichen Erlebnisse in Flucht und Vertreibung aussprechen zu können und die Teilnahme des Oberhirten zu finden. So wird auch von vielen Seiten bezeugt, dass die Ermländer eine besondere Liebe zu ihrem Bischof zum Ausdruck brachten. Man kann von einem guten leiblichen Vater nicht besser sprechen als die Ermländer von ihrem Bischof, den sie ganz ins Herz geschlossen hätten und umgekehrt genauso.53 Auch als Vertriebenenbischof wollte Kaller doch zuallererst Bischof von Ermland bleiben, nicht nur dem Titel nach, sondern mit dem Herzen.

Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsperspektive des Glaubenden Bereits in den frühen Predigten Kallers nach der Kapitulation des Nationalsozialismus findet sich eine intensive Reflektion der Situation der Geflüchteten und Vertriebenen. In dieser Reflektion werden auch die Ursachen klar benannt. Es sind die geistigen Verwirrungen der vorangegangenen zwölf Jahre. Es setzt bereits in diesen frühen Predigten so etwas wie eine Vergangenheitsbewältigung ein, was man in der Extensität und Intensität bei den eingesessenen Katholiken nicht findet. Vielleicht war sie auf Vertriebenenseite vom Schicksal erzwungen. Man konnte die eigene Situation nicht ignorieren. Sie wollte erklärt sein, um halbwegs akzeptiert werden zu können, und für diese Erklärung reichte die einfache Parallelsetzung mit biblischen Bildern und Situationen in der Regel nicht aus. Die Menschen fragten radikaler. So predigte Kaller zur Caritassammlung in der Herz-Jesu-Oktav am 10. Juni 1945 zu der Frage „Wer baut die Brücken?“54 Das Bild der gesprengten Brücke wurde zum Sinnbild und Gleichnis für die abgebrochene und zerstörte Verbindung zwischen Menschen und Völkern. Das Verhältnis des Menschen zum Menschen sei an der Wurzel vergiftet und verdorben. „Es ist nicht nur das alte, ewig gleiche Lied von der Vergeltung und Rache. Das Neue ist: Man hat daraus eine Lehre, ein Ideal, ja ein neues Evangelium gemacht. Man hat den Hass gepredigt wie eine Erlösungslehre. Man hat Mitleid und Erbarmen als eine Schwäche hin-

53 54

PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal (wie Anm. 1), S. 30. Vgl. Predigt zur Caritassammlung in der Herz-Jesu-Oktav. 10.6.1945. AVE.

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gestellt, deren man sich schämen und die man überwinden muss und dafür den brutalen und rücksichtslosen Willen zur Macht heilig gesprochen. Das war eine furchtbare Irrlehre, die das Verhältnis des Menschen zum Menschen an der Wurzel vergiftet und verdirbt.“55

Kaller unterstreicht, dass sich die ermländischen Katholiken nicht vorwerfen müssten, sie hätten dieser Irrlehre und Verführung nicht sofort mit aller Deutlichkeit widersprochen. Deutlicher aber und wirkungsvoller als dieser Widerspruch im Wort sei der Anschauungsunterricht der Wirklichkeit, der von Gott gegeben worden sei. Diese Situation wird also als ein Fingerzeig Gottes, als ein Eingreifen Gottes in diese verhängnisvolle Entwicklung gedeutet. Gott habe die Saat des Hasses und der Lüge zur Reife und zur Ernte kommen lassen und damit den Menschen gezeigt, dass Hass und rücksichtslose Selbstsucht nicht nur den anderen, sondern auch die eigene Seele zerstörte. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen kehrt der Prediger zurück zu dem Bild der zerstörten Brücke und fragt nach den Menschen, die bereit sind zum Wiederaufbau. Zu dieser schwierigen Aufgabe, die schon bei der Brücke aus Stein zu aufwändig sei und noch viel schwieriger und schwerer, wo es um Brücken zwischen Menschen und Völkern geht. Das Gift der Zerstörung werde nicht durch Worte überwunden, sondern nur durch ein Heilwerden von der Wurzel her. Und so skizziert er den Brückenbauer der Gegenwart und der Zukunft: „Er sieht, dass etwas ganz Neues und ganz anderes beginnen müsste im Verhältnis vom Menschen zum Menschen, wenn er nicht überhaupt am Menschen irre werden und am Leben verzweifeln soll. Er ist ohne Glauben aufgewachsen, aber hat das Verlangen nach dem Wahren und Guten in sich bewahrt.“56

Kaller nimmt die fortschreitende Dechristianisierung wahr und präsentiert in seinen Ausführungen die Skizze eines nicht mehr christlich sozialisierten Menschen, der vom Christentum nur dem Namen nach gehört hat, der die Kirchen als überlebte geschichtliche Größe wahrnimmt und für die Zukunft nichts mehr von ihr erwartet. Dann tritt die Wende durch den Eingriff des Schicksals ein. Im Krieg kommt ihm ein Neues Testament in die Hand. Er blättert und liest darin aus Langeweile zunächst und dann mit wachsendem Interesse. Er liest die Bergpredigt, er liest vom Liebesgebot, er liest vom wahren Herrschenden und Dienenden und dabei wächst in ihm die Sehnsucht, mit solchen Menschen zusammenzuleben, die sich nach diesen Weisungen richten.57 Mit dieser Skizze erinnerte Kaller die Gläubigen daran, dass sie die Aufgabe haben, diese Botschaft aktuell glaubwürdig werden zu lassen, Zeugnis zu geben, damit solche Suchenden nicht enttäuscht werden und sich wieder abwenden. Der Neuanfang müsse bei den Einzelnen in kleinen Schritten ansetzen. Kirche und Gemeinde seien geschenkt zu einem neuen Anfang, zu einem neuen Verhältnis zum Menschen, zu einer neuen intensiven Form der Bruderliebe.

55 56 57

Ebd. Ebd. „Und so sucht er mit großer innerer Erwartung die nächste Gelegenheit, mit solchen Menschen in Verbindung zu kommen. Er sucht einen Ort, wo solche Menschen zusammenleben und zusammenkommen. Er sucht eine katholische Gemeinde auf; und denken wir, er käme zu uns wird der finden, was er sucht. Wird er etwas von dem ganz Neuen im Verhalten der Menschen zum Menschen finden, von denen er gelesen hat?“ Ebd.

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Grundlage und Impuls für diesen Neuanfang hat Kaller in seiner Pfingstpredigt 1945 skizziert. Der Geist Gottes mit seiner Schöpfertätigkeit beginnt nicht beim Wiederaufbau der Häuser und Städte, sondern kümmert sich zuvorderst um die Zerstörung in den Herzen der Menschen. Kaller griff in seinen theologischen Bildern und Argumentationsgängen die verheerenden Wirkungen der Kriegserfahrungen auf, wenn er von den grauenhaften Trümmerfeldern in den Herzen sprach.58 Ohne es überinterpretieren zu wollen: Kaller spricht hier von der Notwendigkeit des Krieges, die er damit offensichtlich nicht grundsätzlich anzweifelt, auch nicht dieses Zweiten Weltkrieges. Was er anprangert, ist das, was über das vom Krieg her geforderte Maß an Grausamkeit hinausgeht. Es ist das, was die Menschen aus diesem Krieg gemacht haben. Nicht eine grundsätzliche Infragestellung der Politik in der zweiten Hälfte des Dritten Reiches. Er fragt, was aus einem Volk gemacht werden kann durch Zwang und Verlockung mannigfacher Art. Im nächsten Atemzug spricht er vom Schuldigwerden aller. Wo ist da die Verantwortlichkeit und die Verantwortung des Einzelnen, der hätte deutlicher widersprechen oder Widerstand leisten können, und wie weit greift er in seiner Klage und seinem Bedauern über das Zerstörte, auf der materiellen und auf der humanen Ebene, über das eigene Volk hinaus? „Es ist schon so: So traurig der Anblick der Ruinen der Stätten des Wohnens und der Arbeit

uns stimmen mag, so sehr wir trauern mögen vor den Trümmern ehrwürdiger Kirchen und verehrungswürdiger Stätten deutscher Kultur und deutscher Geschichte – sie sind doch nur wie ein Gleichnis, wie ein Schatten und Spiegelbild der Zerstörung, die am Menschen geschehen ist!“59

Kaller spricht grundsätzlich von der Zerstörung am Menschen. Wie weit hat er dabei die Menschen anderer Völker, wie weit hat er dabei die in den Vernichtungslagern getöteten Menschen im Blick? Wie weit wagt er es, diese Dimension von schuldhafter Vergangenheit auszusprechen und die Gläubigen damit zu konfrontieren? Bei jedem Einzelnen müsse der Neuanfang in den Herzen geschehen, denn die Zerstörung reiche zu tief, als dass sie nur mit der einen oder anderen äußeren Maßnahme behoben werden könne, denn die Ursachen und Anfänge liegen nicht nur in den zwölf Jahren der NS-Diktatur. Diese war ja auch Frucht und Ergebnis anderer Ursachen und Entwicklungen. „Es ist billig, nun alle Schuld auf wenige Menschen zu laden, so schwer ihre Schuld gewesen sein mag, oder auf eine Partei, so groß ihr Anteil auch gewesen ist. Und es ist auch nicht so, dass nur Deutschland an allem Schuld ist, so schwer die Schuld ist, an der wir alle tragen und von der sich niemand ausschließen kann (und es ist sehr wichtig, dass wir unsere Schuld nicht wegreden und nicht abwälzen, sondern ehrlich eingestehen und in ihren Folgen ehrlich mittragen!). Aber im Tiefsten liegt die Schuld doch darin, dass in allen Völ-

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„Krieg ist immer etwas Furchtbares und bringt Furchtbares mit sich – aber nicht das war das eigentlich Schreckliche und Erschreckende, was durch die Notwendigkeit des Krieges gefordert war, sondern das, wessen der Mensch fähig ist ohne alle Notwendigkeit! Was der Mensch dem Menschen antut über alle Notwendigkeit, ja Zweckmäßigkeit hinaus in sinnloser Grausamkeit, in Freude am Schmerz des anderen, in rücksichtsloser Selbstsucht und Brutalität oder was oft noch schlimmer sein kann: in kalten, unberührbaren Gleichgültigkeit! Und wir haben mit Schrecken erfahren, was der Mensch aus dem Menschen machen kann und was aus einem Volk gemacht werden kann durch Zwang und Verlockung mannigfacher Art. Und wir alle sind mit davon betroffen, sind daran beteiligt, sind mit daran Schuld.“ Pfingstpredigt 1945. AVE. Ebd.

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kern nicht mehr der Heilige Geist […], sondern der eigenherrliche Geist des Menschen, der Geist dieser Welt der führende war.“60

Letztlich schließt Kaller sich hier der Argumentation von der Verfallsphase seit dem Spätmittelalter, kulminierend zum einen in der Reformation, dann in der Aufklärung und schließlich eben in den Entgleisungen des 20. Jahrhunderts, an. Es ist die negative Sicht auf die Entwicklungen der Neuzeit, der Moderne, die die katholische Kirche damals weitgehend prägten, die Kaller hier vermutlich nicht weiter reflektiert übernahm. Ein zweiter Aspekt verbindet ihn sehr eng mit einer weitreichenden Argumentation seiner Zeit in Anbetracht der Schwere der Schuld, nämlich die Dämonen, den Satan als Erklärungsmuster heranzuziehen.61 Denn rein politisch, rein militärisch, rein irdisch überhaupt lasse sich alles gar nicht begreifen, auch nicht „die Geheimnisse der Bosheit, Grausamkeit und menschlichen Verlogenheit“.62 Mehrfach streifte Kaller in dieser Pfingstpredigt die Klippen einer starken Relativierung der Schuld der Deutschen: „Mag es so sein oder nicht, dass wir Deutschen die meiste Schuld tragen – jedenfalls erfahren wir mit am tiefsten und schwersten die Folgen der Schuld.“63 Er mag es zum Trost gesagt haben, dass darin eine Gnade liegen könne, indem nämlich die Deutschen durch diese radikale Erfahrung der Folgen der Schuld auch zuerst zur Erkenntnis, zur Besserung, zur Buße, zur Heilung würden kommen können. Er sucht in der Katastrophe nach den positiven Aspekten. Er vergleicht mit anderen Völkern, die auch von diesem Gift befallen seien, vielleicht aber, weil sie die radikale Erfahrung noch nicht gemacht haben, noch länger bräuchten, um dieses Gift wieder auszuscheiden, um die Krankheit überwinden zu können. „Und dass wir so in aller äußeren Erniedrigung vor Gott doch den Vorsprung haben!“64 Wenn er dann weiter die Opfer bedenkt, so sind es die Opfer der Deutschen, die Opfer des Krieges, also die Gefallenen und auch die Leiden der Überlebenden. Er fragt nach deren Sinn. Es folgt kein Blick über den Zaun des eigenen Volkes hinaus, sondern es folgt der Appell, der Ruf an die Gläubigen zur Umkehr, gerade auch im Alltag, in den Kleinigkeiten. Sie sollten nicht zuvorderst klagen und anklagen sowie die Schuld auf andere schieben. Sie sollten nicht aufgehen in den irdischen Sorgen, in den Fragen nach Essen, Trinken und Bekleidung, sondern nach all dem, was sie erlebt haben, etwas Neues beginnen lassen – im konkreten Alltag.65 60 61

62 63 64 65

Ebd. RAINER BENDEL, LYDIA BENDEL-MAIDL, ANDREAS GOLDSCHMIDT, Vergangenheitsbewältigung in theologischen Schriften Joseph Bernharts, Romano Guardinis und Alois Winklhofers. In: KIRCHLICHE ZEITGESCHICHTE 13 (2000) S. 138-177. Pfingstpredigt (wie Anm. 58). Ebd. Ebd. „Ich meine nicht außergewöhnliche und verstiegene Dinge! Ich weiß, wie schwer auf uns allen die Aufgaben und Sorgen des alltäglichen Lebens lasten. Wie viel Kraft heute die primitiven Lebensbedürfnisse fordern, wie bedrückend für alle die Sorge und Ungewissheit um die nächsten Menschen ist. Ich kann mitfühlen, was es für eine Familie bedeutet, wenn sie nicht weiß, ob sie heute oder morgen ihre Wohnung verlassen muss und was der immer neuen und anderen Sorgen und Ängste noch mehr sein mögen. Ich weiß, wie müde und belastet wir alle sind, aber in all dem könnte doch das wachsen und lebendig sein, was die Apostelgeschichte im Anschluss an den Bericht über das Pfingstereignis schlicht und einfach über das Leben der ersten christlichen Gemeinde sagt.“ Ebd.

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Zukunft für Gemeinde und Kirche Die apostolische Gemeinschaft der Urkirche als Heimat empfahl Kaller den Menschen in einer Predigt zum Kirchweihfest 1945. Wieder wollte er nichts wegreden von der Bitternis der Heimatlosigkeit. Er kannte die Erfahrung am eigenen Leibe, aber er wollte alles Irdische im Kontext dieser Erfahrungen als ein Gleichnis und eine Verheißung nehmen. Er appellierte an die Gläubigen, sich als Wanderer zwischen zwei Welten zu verstehen und das irdische Haus lediglich als ein Zelt oder eine Herberge zu sehen. Der Mensch muss immer wieder aufbrechen und weiterwandern. Letztlich ist es die Unruhe und die Sehnsucht des Menschen, die sie sich bewahren sollten, die Vorläufigkeit aller irdischen Heimat, die ihre Verheißung erst in der Wohnung bei Gott erfüllt sieht. „Aber schon auf der Wanderschaft ist die katholische Kirche und die katholische Gemeinde ein Anfang solch heiliger Heimat.“ Die ganze Vielfalt an theologischen Bildern zog Kaller heran: Er sprach von der „heiligen Stadt“, vom „Bau aus den lebendigen Steinen“, vom „Zelt Gottes unter den Menschen“, vom „Volk Gottes“, vom „Familientisch und gemeinsamen Mahl“. All diese Bilder sollten die Heimat mit Gott ausmalen, zu den Menschen sprechen lassen. „Mehr als in anderen Jahren ist in diesem Jahr am heutigen Tage unser Herz von Dank erfüllt, dass uns der Ort solch heiliger Heimat erhalten geblieben ist. Größer und tiefer muss unser Dank sein, weil die Gefahr größer war als je zuvor und zugleich, weil wir tiefer und lebendiger erfahren haben, was sie uns bedeutet.“66 Die Menschen haben in der Notsituation tiefer als gewöhnlich erfahren, was ihnen Kirche und Gemeinde bedeuten. Kaller nennt an vielen Stellen beide Begriffe parallel und denkt dabei wohl vor allem an die pfingstliche Gemeinde und die Gemeinden der frühen Kirche. Diese Gemeindeatmosphäre ist es in seinen Augen, die Heimat spendet.67 Nicht zuletzt: Die Kirche ist Heimat, weil sie in den Zeiten der Irrungen die Wahrheit gehütet hat. Sie hat Orientierung gegeben, wo alle Gewichte und Maßstäbe gefälscht waren. „Wir haben keine politischen Predigten gehalten, wir haben nicht zu den immer neuen Einzelheiten und Tagesfragen Stellung genommen, wir haben es auch gewagt, an all den Vorwürfen und Verleumdungen gegen Glauben und Kirche stillschweigend vorbeizugehen und sie zu überhören. Wir hatten das Vertrauen: Wenn wir nur das Licht in unsere Tage und in unsere Welt deutlich hineinleuchten lassen, werdet Ihr selbst unterscheiden, was weiß und schwarz ist; wenn wir Euch die rechten Gewichte und Maßstäbe mitgeben ins Leben, werdet Ihr selbst messen und wiegen und unterscheiden, was groß und klein, was richtig und unrichtig ist. Wir wollten Euch nicht unsere menschliche Meinung geben, sondern Mund der Kirche Christi sein.“68

Die Kirche wird als eine Gegenwelt, als ein Korrektiv zum Nationalsozialismus gezeichnet. Wahrheit gegen Irrtum, Liebe, auch wenn es Missfälligkeiten und 66 67 68

Kirchweihpredigt 1945. AVE. Dazu RAINER BENDEL, Heimat in der Religion schafft Identität in der Fremde? In: SUDETENLAND 50 (2008) S. 386-399. Wie Anm. 66.

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Lieblosigkeiten innerhalb der Kirche gibt, gegen die Atmosphäre der Gehässigkeiten und der Verhetzung. „Sie [die Kirche] ist uns Heimat gewesen dadurch, dass wir uns in ihr vor Gottes Angesicht versammeln konnten als sein Volk vor dem Angesicht des großen und heiligen und gütigen Vaters, als seine Söhne und Töchter, in Gemeinschaft mit Christus als unseren großen Bruder. Wie tat es uns gut, dass wir hier einmal wegschauen konnten von den Bildern des Grauens und Entsetzens, einmal wegdenken konnten von unseren Sorgen und Ängsten und hineinschauen in ein großes und reines Licht in Gottes Größe und Schönheit und Herrlichkeit.“69

Kirche erscheint als Gegenwelt, als heilige Heimat, nicht zuletzt der Caritas wegen, die grenzen- und unterschiedslos ist und auch den Menschen aus den anderen Ländern Europas als Heimat diente, die während des Krieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt waren. Sie waren draußen ausgesetzt der Missachtung und auch der Misshandlung, in den Gemeinden aber sind sie wie Geschwister aufgenommen worden. Dort hatten sie ein Heimrecht, dort hatten sie Würde und Ehre. Kirche und Gemeinde sind den Menschen als Heimat geblieben, ja neu geschenkt worden. So sollen sie zu einem Ort der Erneuerung des inneren Aufbaus, des neuen Lebens im Volk werden. Alle sollen hier Heimat finden und nicht nur Gäste und Fremdlinge sein, auch die, die nur für kurze Zeit in der Gemeinde sind, die auf der Wanderschaft sind. So lange sie in der Gemeinde sind, haben sie Heimatrecht und sollten sich dort zu Hause fühlen. Ein Seitenblick: Kaller hielt im Oktober 1945 bei den Schwestern des Heiligen Karl Borromäus in Halle Exerzitien. Er hat dabei die Exerzitien reduziert, konzentriert auf vier Tage. Es erscheint bei dem vorliegenden Text weniger relevant, ob dem Bischof dabei eine Vorlage geliefert wurde, ob er diesen Text selbst erstellt oder ganz übernommen hat. Er hat die Exerzitien gehalten und sich damit auch hinter den Text gestellt. Darum soll er hier angeführt werden. In den Predigt- und Betrachtungstexten ist ein halbes Jahr nach der Kapitulation viel von Sünde und Schuld die Rede, aber ganz im Geiste der klassischen Exerzitien von der Sünde des Einzelnen, die im Kontext der Ursünde, der Erbsünde, wie es hier heißt, steht und somit ein klassisches Erklärungsmuster findet. Der zeitgenössische Kontext ist fast ganz ausgeblendet. Liegt das am Adressatenkreis? Oder daran, dass Kaller die Texte weitgehend übernommen hat?

Kaller als Mitorganisator der außerordentlichen Vertriebenenseelsorge Die Predigttätigkeit im Rahmen der ordentlichen Seelsorge und auf Wallfahrten ist bereits angesprochen worden. Kallers Sorge um die vertriebenen Priester ebenfalls, auch sein Bemühen, für die sowjetisch besetzte Zone ausreichend Seelsorger zu finden und entsprechend im Westen und Süden anzuwerben, ein Bemühen, das ihn bis zu seinem Tod beschäftigte und doch wenig Erfolg zeitigte. Speziell als Organisator erwies sich Kaller in der Verteilung der Flüchtlingshilfe aus dem Vatikan und nicht zuletzt in der Sorge um die vertriebenen Priester und den Priesternachwuchs in Königstein. In einem Schreiben an Pius XII. vom 21. Juni 1946 wies er Rom auf die Notwendigkeit materieller Unterstützung hin. 69

Ebd.

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Die Caritas müsse gestärkt werden, gerade angesichts der Unterstützung, die der Flüchtlingsausschuss des Weltkirchenrates am 15. Juni 1946 gefordert hatte. Kaller zitierte das Verlangen des Weltkirchenrates, die zehn Millionen heimatlos gewordenen Deutschen zu unterstützen, weil sich sonst die Gefahr eines sozialen Zusammenbruchs in Mitteleuropa im hohen Maß verschärfe.70 Die katholische Kirche müsse den Vorsprung des evangelischen Hilfswerkes auszugleichen, ja womöglich überflügeln zu versuchen. Kaller hielt es für das Wichtigste, dass in Rom eine Zentralstelle für die katholische Deutschlandhilfe geschaffen werde, weil allein der Vatikan das Ansehen habe, Verhandlungen mit Regierungsstellen zu führen und Wege für Hilfssendungen auszuloten. Allein der Vatikan habe die Möglichkeit, die Weltöffentlichkeit über die Not der deutschen Katholiken aufzuklären. Durch die römische Zentralstelle sollten Länderhilfskomitees geschaffen werden. „Die Erfahrungen aus der bisherigen katholischen Hilfswerkstätigkeit in Deutschland haben gezeigt, dass die materielle Rückständigkeit unserer Hilfsorganisationen nicht zuletzt daher rührt, dass wir in dem in vier Besatzungszonen aufgeteilten Deutschland, dessen regionale Grenzen nur mit alliierten Interzonenpässen überschritten werden können, keine überzonale und überdiözesane katholische Hilfswerkszentrale besitzen, die die notwendigen Hilfsmaßnahmen zentral lenken und planen könnte. Wohl ist der deutsche Caritasverband eine Einheit, aber jede einzelne Diözese ist in sich auch in caritativer Hinsicht selbständig und macht Versuche, Hilfe aus dem Ausland zu erhalten, so dass eine einheitliche, straffe Durchführung und Verteilung von Mitteln nicht gewährleistet ist. Das Ausland weiß bei den vielen Verhandlungsstellen der Caritas nicht, wer bei uns eigentlich zentral zuständig ist.“71

Die Caritas reiche organisatorisch nicht aus, um die außergewöhnlichen Notstände wie die Flüchtlingshilfe und die Betreuung der Opfer des Faschismus zu schultern. Es solle zwar in engster Verbindung mit dem Caritasverband eine Zentralstelle geschaffen werden, die den Belangen der Verfolgten des Nationalsozialismus und der Ostflüchtlinge im Inland gerecht werden kann. Als ein zweites großes Aufgabengebiet skizziert Kaller das Siedlungs- und Auswanderungsproblem. Es begegnet die bekannte Argumentation, dass Rumpfdeutschland nicht ausreichend Platz habe für die Bevölkerung, die in etwa auf dem Vorkriegsstand bestehen blieb, und dass vor allem die bäuerlich geprägte Bevölkerung der Ostflüchtlinge kein Land zu Ansiedlungszwecken finden könne. Diese Vorschläge wurden nicht eins zu eins umgesetzt, wohl aber wurde Kaller dann als päpstlicher Sonderbeauftragter für die Ostflüchtlinge mit der Verteilung der Sendungen aus dem Vatikan betraut, daneben freilich auch Prälat Büttner, der Leiter des Reichsverbands für die katholischen Auslandsdeutschen. Die Zuständigkeiten wurden also letztlich nie wirklich eindeutig geklärt; diesen Umstand trifft man wieder bei der Initiative in Königstein: Büttner, Kaller und Kindermann stehen für den Anfang. Spannungen mit sehr eigenwilligen, auch verletzlichen Menschen waren vorprogrammiert. Die Auseinandersetzungen zwischen Büttner und Kindermann führten schließlich zum Rückzug Büttners aus den Königsteiner Initiativen. Die Schwierigkeiten zwischen Kaller und Büttner wurden mehrfach in der Umgebung Kallers festgehalten. Er selbst hat sich wohl nicht explizit dazu geäußert, sondern versuchte in zahlreichen Anläufen, Büttner 70 71

Kaller an Pius XII. vom 21.6.1946. Schreibmaschinendurchschrift mit eigenhändiger Unterschrift. 8 S. AVE. Ebd. S. 5.

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entgegenzukommen und ihn positiv zu motivieren, doch auf entsprechende Kompromissvorschläge und Regelungen einzugehen. Das Dickicht der Unklarheiten, von wem letztlich die Initiative für Königstein ausging, ob von Kindermann oder Büttner oder Kaller, kann auch in diesem Kontext nicht letztlich geklärt werden. Es ist verständlich, dass Maria Labonté Idee und Initiative dem Prälaten Albert Büttner zuschreibt. Stellungnahmen von Professoren der ersten Stunde an der Königsteiner Hochschule hingegen unterstreichen das Verdienst und das Engagement Kindermanns viel stärker. Auffallend ist jedenfalls, dass Kaller in dem hagiographisch anmutenden Rückblick Labontés auf Leben und Wirken Albert Büttners nur einen relativ bescheidenen Raum einnimmt. Damit wollte Labonté vor allem die Kooperation von Büttner und Kaller herausstellen und den Stimmen aus ermländischen Kreisen, die von einer Demütigung Kallers durch Büttner sprechen, den Wind aus den Segeln nehmen. Labonté unterstreicht, dass es Büttners Idee war, die 2.400 heimatlosen deutschen Priester aus vielen Diözesen, die mit den Flüchtlingen nach Deutschland gekommen waren, einer übergeordneten bischöflichen Autorität zu unterstellen. Büttner hatte am 26. Februar 1946 bereits der Konferenz der bayerischen Bischöfe, die im April 1946 in Eichstätt tagten, Kaller oder den Prälaten der Freien Prälatur Schneidemühl, Dr. Franz Hartz, vorgeschlagen. Die deutschen Bischöfe sollten einen Bischof oder Prälaten beauftragen und bevollmächtigen, die Jurisdiktion über die Priester einer zentralen Stelle zu übertragen. Dieser Vorschlag wurde auch Pater Ivo Zeiger von der vatikanischen Mission in Kronberg unterbreitet. Büttner unterstrich seinen Vorstoß mit dem Argument, dass damit ein besserer Einsatz der Priester erreicht werden könne und so die Fürsorge für die Priester wie auch für die Vertriebenen erhöht würde. Gerade Kaller, der durch die Vertreibung seine Diözese verloren habe, sei prädestiniert für diese Aufgabe, da er durch sein eigenes Schicksal den Problemen dieses Aufgabenfeldes sehr nahe stehe. Büttner unterbreitete diesen Vorschlag auch anderen Diözesanbischöfen. Ob nun Kallers Schilderungen seiner Diözese und seiner eigenen Situation in Rom oder die Vorschläge zur Errichtung einer zentralen Hilfsstelle beim Papst den Ausschlag gaben oder Büttners Vorschlag, mag dahingestellt bleiben. Ergebnis war jedenfalls, dass Kaller am 24. Juni 1946 zum „Päpstlichen Sonderbeauftragten für die heimatvertriebenen Deutschen“ ernannt wurde. Die Reaktion Büttners war, dass er Kaller gegenüber in einem sehr amtlich gehaltenen Schreiben seine Freude zum Ausdruck brachte. Durch die Beauftragung wurden die Vorbedingungen für eine planmäßige Lösung aller Seelsorgsfragen für die Flüchtlinge und Ausgewiesenen geschaffen. Von Spannung zwischen Kaller und Büttner wird bei Labonté an dieser Stelle nicht berichtet.72 Der Papst hatte sich entschieden, Kaller diese Sonderaufgabe an den Vertriebenen zumindest für eine erste Zeit zu übertragen und ihn nicht – auch das ein Vorschlag Kallers an den Heiligen Vater – mit der Mission unter den deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich zu betrauen. „Es handelt sich um die Betreuung der katholischen Ostflüchtlinge. Nicht als ob eine quer über die deutschen Diözesen sich erstreckende Sonderseelsorge mit eigener Jurisdiktion 72

MARIA LABONTÉ, Albert Büttner. Ein Leben für Glaube und Kirche in der Fremde. Mainz 1978. Zu Kaller als Flüchtlingsbischof vor allem die Seiten 111-113.

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Rainer Bendel für sie geschaffen werden sollte. Sie werden vielmehr am Ort ihrer Unterkunft von der zuständigen Pfarrei und Diözese von selbst erfasst werden, und Wir hören zu Unserem großen Trost, dass sich die Bischöfe und Priester der Auffangdiözesen alle erdenkliche Mühe geben, um ihrer Aufgabe an den neu hinzugekommenen Gläubigen gerecht zu werden. Indes ist ein Sonderamt, das zwischen den Ostflüchtlingen und den Ordinarien der Auffanggebiete vermittelt, doch wohl notwendig, wenigstens für die erste Zeit. Der Gegenstand der Obsorge dieses Sonderamtes wäre vor allem der aus den verlassenen Ostgebieten nach dem deutschen Westen und Süden kommende Klerus, seine Erfassung und seine Verteilung in die Auffangdiözesen; sodann die Sorge für die unter den Ostflüchtlingen sich findenden Priesterberufe, falls sie nicht ohne weiteres in die kirchlichen Priesterbildungsanstalten der Auffangdiözesen aufgenommen werden; endlich wird – besonders in den Fällen, wo katholische Ostflüchtlinge am Ort Unterkunft finden, an denen bis dahin weder eine katholische Kirche noch ein Priester waren – eine Reihe von seelsorglichen und caritativen Fragen auftauchen, die eine besondere Vermittlung zwischen den Angekommenen und dem Ordinarius loci wünschenswert, wenn nicht notwendig, machen.“73

Der Papst unterstrich, dass er dieses Sonderamt Kaller anvertrauen wolle, weil der Klerus und Gläubige des katholischen deutschen Ostens von seiner schlesischen Heimat, von der jahrzehntelangen Tätigkeit in Berlin, in Schneidemühl und in der Diözese Ermland her kenne und weil sein erprobter Eifer in Seelsorgefragen, seine guten Beziehungen zu den anderen deutschen Oberhirten ihn dafür besonders geeignet erscheinen ließen. Der Papst betonte, dass die kirchliche Hilfsstelle unter der Leitung von Albert Büttner der Oberleitung des Päpstlichen Beauftragten unterstehe. Das Aufgabenfeld dieses Sonderamtes umschrieb und begründete Kaller in einem Brief an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den Erzbischof von Köln, Josef Kardinal Frings74, vom 4. August 1946, der diktiert ist von der Sorge, dass das Thema Vertriebene und Flüchtlinge auf der Bischofskonferenz zu wenig Raum finden könnte.75 Kaller schilderte die Lage, trug die statistischen Angaben vor, umriss die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Eingliederung in Landwirtschaft, in Industrie und Handel und machte Vorschläge zur Überwindung der Not. Vor allem für den Bereich Seelsorge referierte er die Vorschläge der Pfingsttagung für katholische Flüchtlingsseelsorge, die unter der Leitung der katholischen Osthilfe in Lippstadt 1946 stattgefunden hatte. Die dortigen Forderungen richteten sich auf die Förderung des Priesternachwuchses und der begabten höheren Schüler – es wurde von einem Theologenkonvikt in Frankfurt gesprochen.76 Die Schaffung einer zentralen katholischen Hilfsstelle in Rom wurde thematisiert, soziale Aufgaben wurden skizziert, zu deren vordringlichen die Stadtsiedlung, der Wohnungsbau, die landwirtschaftliche Siedlung und die Auslandssiedlung gehörten. Die Frage nach dem Lastenausgleich in den Bereichen, die den Grundbesitz übersteigen, wurde in diesem Kontext nicht aufgeworfen. Erst im Juli 1946 hatte Kaller Halle verlassen. Er hielt sich ab Ende September, Anfang Oktober in Frankfurt/Main auf, dem Sitz der kirchlichen Hilfsstelle 73 74

75 76

Pius XII. an Kaller vom 24.6.1946. Original. AVE. Zu Frings NORBERT TRIPPEN, Josef Kardinal Frings (1887-1978). Band I. Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe B, Forschungen, 94). Paderborn u. a. 22003, zur Vertriebenenseelsorge siehe vor allem S. 164-194. Kaller an Frings vom 4.8.1946. Schreibmaschinendurchschrift mit eigenhändiger Unterschrift. AVE. Ebd.

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für die Vertriebenen, deren Geschäftsführung Prälat Büttner innehatte und die er gemäß seinem päpstlichen Sonderauftrag zu leiten hatte. Freilich betrachtete er die Frankfurter Wohnung nur als eine Übergangswohnung, weil er seinen Amtssitz in Königstein aufschlagen wollte, wo Kindermann im Sommer 1946 begonnen hatte, einen zentralen Sitz für die Vertriebenenbetreuung, speziell für die Betreuung vertriebener Priester, zu erwerben. „Natürlich wird Professor Dr. Dr. Adolf Kindermann, der Prager Kirchenrechtler, als der Motor der Königsteiner Aktivitäten und der eigentliche Begründer der Anstalten angesehen. Auch Kaller hat das immer dankbar anerkannt, niemals griff er selbstmächtig in die verschiedenen Leitungsgremien des Kollegs ein. Bei Anfragen verwies er stets auf die jeweils zuständigen Regenten – doch seinen oberhirtlichen Bemühungen war letzten Endes das Haus anvertraut. Er vertrat seine Interessen und Ziele nicht nur vor der Deutschen Bischofskonferenz, sondern vor der gesamten deutschen Öffentlichkeit. Er musste werbend für Königstein eintreten und das bedeutete nicht zuletzt, der westdeutschen, hiesigen Bevölkerung klarzumachen, dass das Königsteiner Seminar tagtäglich großzügiger materieller Hilfen bedurfte.“77

Ein weiterer wichtiger Schritt zur Begründung der Königsteiner Studienanstalten war der Transfer der Bücherei des deutschen Theologenseminars in Prag durch Kindermann nach Königstein am 14. August 1946. Fast gleichzeitig hatte die Tagung von über 100 heimatvertriebenen deutschen Seelsorgern vom 6. bis 8. August 1946 in Eichstätt78 eine Eingabe an die Deutsche Bischofskonferenz formuliert mit der Bitte, die ostdeutschen Theologen in einem gemeinsamen Seminar in Königstein zu sammeln, damit diese Theologen nach den Bedürfnissen der verschiedenen Diözesen für die Diasporaseelsorge und ggf. für eine spätere Auswandererseelsorge besonders geschult werden. Eine inhaltliche Füllung der Hilfsmaßnahmen, die von einem Zentrum für die vertriebenen Seelsorger ausgehen sollten, brachte die Stiftung des „Opus Confraternitatis“, ein Hilfswerk priesterlicher Bruderliebe, das letztlich seinen Grundstock durch einen Bittbrief Büttners vom Josefstag 1946 erhalten hatte, der an die Priester im Ausland gerichtet war: Sie sollten im Geiste des Grenzen, Staaten und Völker überschreitenden Priestertums die Liebe über den Hass siegen lassen und den deutschen Priestern und Theologiestudierenden helfen – in erster Linie mit Büchern, wissenschaftlichen Werken, mit Kleidung und Lebensmitteln und Geldspenden. Nicht zuletzt für die Seelsorger in der sowjetisch besetzten Zone konnten tonnenweise Liebesgaben verschickt werden. Im November 1946 konnten in Königstein die ersten zwei Abiturientenkurse für Kriegsteilnehmer eingerichtet werden. Aus diesen erwuchs in der Folgezeit das humanistische Gymnasium St. Albert, die spätere Bischof Neumann-Schule. Auf einer Sitzung eines Seminarrates am 4. Februar 1947, bestehend aus mehreren Bischöfen und Kardinal Frings als Vorsitzendem, setzen Maximilian Kaller und Albert Büttner die Einrichtung eines philosophischen Kurses für die Theologen aus den Ostgebieten durch. Im Sommer 1947 konnte in Königstein das erste Semester mit über 50 Studenten eröffnet werden. Kurz nach dem Tod des Limburger Bischofs, Ferdinand Dirichs, am 27. Dezember 1948, der sich für den Ausbau Königsteins stark engagiert hatte, wurde am 28. April 1949 die Philoso77 78

PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal (wie Anm. 1), S. 59. RAINER BENDEL, Quellen zur Vertriebenenseelsorge. Teil II. Tagung ostdeutscher Priester Bayerns in Eichstätt vom 6. bis 8. August 1946. In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 60 (2002), S. 9-85.

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phisch-Theologische Hochschule in Königstein eingeweiht, wenn auch die Bedenken und Friktionen sich bis in die Eröffnungsveranstaltung hinein auswirkten.

Ein Fazit Die vorausgegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass der Anteil Kallers an der praktischen Hilfe, an dem spontanen seelsorgerlichen Einsatz unbestritten ist. Überall ist die Seelsorge caritativ ausgerichtet und sprengt die Mauern von sozialen Schichten oder ethnischen Gruppen. Wie sehr sich Kaller als Seelsorger der sozial Randständigen, der Saisonarbeiter, derer, die nicht selbstverständlich mit der Pfarrei in Kontakt kamen, verstand, hat er in seinem Engagement auf Rügen und in Berlin deutlich zum Ausdruck gebracht. Kein Aufgabenbereich war ihm zu abgelegen oder für ihn undenkbar. So ist auch seine Reaktion auf eine Feststellung des Nuntius zu verstehen: Am 27. Februar 1942 schrieb Kaller an den Apostolischen Nuntius, dass er bislang keinen Seelsorger für die katholischen Nichtarier finden konnte. Ihm war aber ein Satz des Nuntius, dass offensichtlich die Zeit der großen Opferbereitschaft vorbei sei, so nachgegangen, dass er in dem Schreiben den Wunsch formuliert: „Ich möchte der Priester sein, der die Seelsorge an den nichtarischen Christen übernimmt. Hierbei setze ich selbstverständlich voraus, dass ich mich jeder Entscheidung, wie sie auch ausfallen möge, bedingungslos füge, da mir ein Befehl oder auch ein Wunsch meiner kirchlichen Oberen heilig ist.“79 Reifliche Überlegung ging der Formulierung dieses Wunsches voraus. Orsenigo formulierte in seiner Antwort an Kaller am 3. März: „Ihren Brief habe ich erhalten und seine Lektüre war für mich ein Genuss, fast als ob ich einen echten Brief des hl. Franziskus vor mir gehabt hätte.“ Orsenigo lehnte das Angebot ab.80 Kaller konnte mitfühlen, mit der Lage und der Sorgen, den Zweifeln und Ängsten, mit den oft rückwärts gerichteten Hoffnungen der Vertriebenen, und er nahm diese Befindlichkeit ernst, nahm die Vertriebenen quasi an der Hand und versuchte, ihre Hoffnungen nach vorn zu richten. Zu erörtern bleibt der Beitrag Kallers zu den konzeptionellen Überlegungen für die kirchliche Sorge um die Vertriebenen. Im Grunde sah er eine seiner Hauptaufgaben in der Koordination der vertriebenen Priester und in der Ermöglichung des Weiterstudiums der Theologiestudenten. Diese Sorge trug er sowohl dem Papst wie auch seinen Kollegen im Bischofsamt wiederholt vor, ohne dass konkrete Lösungsvorschläge für diese Aufgabe fassbar wären. Die kamen wohl in der Tat in Bezug auf Königstein vom Prälaten Büttner. Die andere Hauptaufgabe, ohne die die Konzepte letztlich wirkungslos bleiben würden, sah Kaller in der Sensibilisierung seiner Bischofskollegen im In- und im Ausland für die Nöte der Vertriebenen und Flüchtlinge. Das dokumentieren sein ausführliches Schreiben an Frings, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, am 4. August 1946 und das Schreiben an den Papst vom 11. November

79 80

Entwurf in Kurzschrift. AVE. AVE.

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1946 wie auch seine Rundfunkansprache im Vatikansender vom 12. November 1946. All diese Initiativen manifestieren den Eifer, den guten Willen, die Offenheit für die Probleme der Menschen. Aber wie sind diese Initiativen einzuschätzen im Vergleich mit dem Weitblick, mit der konzeptionellen Fähigkeit etwa eines Pater Paulus Sladek81. Übernimmt Kaller hier nur Vorstellungen aus Arbeitsbereichen, die er vor der Vertreibung bereits schwerpunktmäßig geleitet hat, wie die „Wandernde Kirche“, die Auseinandersetzung und Adaption der „Katholischen Aktion“, wie weit modifiziert er solche Vorstellungen? Schließlich bleibt auch die Frage nach der Schärfe und der Stimmigkeit der Situationsanalyse zu klären, und damit nach der Adäquatheit der angewandten oder vorgeschlagenen Mittel. Kaller forderte in seinem Schreiben an Frings eine klare Struktur, einen einheitlichen Aufbau der Diözesanhilfsstellen, die Zusammenfassung der Initiativen und Strukturen der Vertriebenenseelsorge unter einem Bischof als Referenten der Bischofskonferenz, also einen Bischof an der Spitze der deutschen Zentralstelle zur Durchführung der caritativen und sozialen Aufgaben und zur Vertretung in Rom und im Ausland. Er trug grundsätzliche Gedanken vor, wie die Notlage zu verändern sei: „Die Lösung des Flüchtlingsproblems ist die vordringlichste und schwierigste Aufgabe der Kirche in Deutschland, zugleich auch ihre große Chance. Nach der Prüfung des Glaubens in der nationalistischen Zeit steht vor uns die schwerer Forderung der Bewährung der christlichen Liebe und wahrhaft katholischen Haltung. Das durch die Not erzwungene Zusammenleben der Einheimischen und der Fremden muss eine christliche Begegnung der Liebe werden, soll den einen Heimat geschenkt, den anderen diese erhalten werden. Mitten in dieser Begegnung steht das Kreuz, an dem beide Teile mittragen müssen.“82

Die Wendung der Not darf nicht allein einer Organisation wie der Caritas übertragen und auf diese abgeschoben werden. Sie muss von jedem persönlich mitgetragen werden. An erster Stelle muss die praktische Abhilfe der Not stehen. Das heißt vor der Konzeption muss die caritative Fürsorge stehen. Kaller unterstrich, dass in allen deutschen Diözesen manches zur Linderung der äußeren Not getan worden sei. Diözesane und überpfarrliche Hilfsstellen waren entstanden, meist im Rahmen des Caritasverbandes, die Heimatlosenfürsorge in Hamburg, die kirchliche Hilfsstelle in Frankfurt und München. Aber all diese Organisationen hätten nur Notverbände auf die klaffenden Wunden legen können. „Sie stehen nun in einer Krise, da sie auf sich gestellt die wachsenden Probleme nicht bewältigen können. Weder die unbedingt notwendigen seelsorglichen und caritativen Maßnahmen zu Behebungen und Milderungen der gegenwärtigen Not, noch die gewaltigen sozialen Aufgaben können durchgeführt und gelöst werden mit den bisherigen Hilfsstellen und Hilfsmitteln.“83

Bei der Formulierung der Vorschläge konkreter Maßnahmen zur Nothilfe stützte Kaller sich weitgehend auf die Flüchtlingsseelsorgertagung an Pfingsten 81 82 83

Dazu RAINER BENDEL, Pater Paulus Sladek. Menschlich und wissenschaftlich – Impulse der Vertriebenenseelsorge. In: SUDETENLAND 45 (2003) S. 386-400. Kaller an Frings vom 4.8.1946. Schreibmaschinendurchschrift mit linkshändiger Unterschrift. AVE. Ebd.

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1946 in Lippstadt. Dort wurden Perspektiven entwickelt, um die Not auf weitere Sicht hin zu beheben. All diese Forderungen nahm Kaller in sein Schreiben auf. Es ist nicht ersichtlich, dass er eigene Überlegungen hinzufügte. In erster Linie führte die Orientierung am Vorbild des an ähnlichen Zielen orientierten Evangelischen Hilfswerkes die Feder. Dass sich Kaller vor allem als Interessenvertreter und weniger als eine konzeptionelle Figur sah, kann man auch dem Schreiben an Pius XII. vom 11. November 1946 entnehmen, wo er quasi als Antwort auf seine Ernennung zum Sonderbeauftragten die Aufgaben seines Amtes inhaltlich konkretisierte. Konzeptionell fällt die Formulierung der Grundoption der religiösen Betreuung der Vertriebenen auf: es sei notwendig, eine persönliche Fühlungnahme mit den Flüchtlingen herzustellen. Der Individualseelsorge kommt in den Augen des Bischofs ein hoher Stellenwert zu. Zentrale Intention dieser Seelsorge ist die Formung einer bestimmten Haltung: die Vertriebenen sollen zu einem einfachen christlichen Leben hingeführt werden. Das franziskanische Ideal der Armut soll einen wichtigen Beitrag leisten zur Erneuerung des Geistes und des tätigen Glaubenslebens. Mit den Aufgaben allgemein sozialer Natur, die sein Auftrag auch mit sich bringe, die mit den Flüchtlingsproblemen im engsten Zusammenhang stünden, formulierte er auch die Forderung eines Lastenausgleiches. Er unterstrich, dass es nicht im Sinne seines Amtes liege, die Tätigkeit sozialer Stellen ganz oder teilweise zu übernehmen, wohl aber müsse er anregen und gewisse Probleme in das Blickfeld des Interesses ziehen. Ein Vergleich mit einem anderen zentralen Initiator und Ideengeber der Vertriebenenseelsorge, nämlich mit Pater Paulus Sladek (1908-2002), dem Leiter der kirchlichen Hilfsstelle in München, liegt nahe. Wenn man auch fairerweise nicht aus den Augen verlieren darf, dass Kaller nur knappe zwei Jahre in der Vertriebenenbetreuung, in seinem Sonderamt nicht einmal ein volles Jahr für seine Aufgaben gegeben waren, während Sladek über mehr als drei Jahrzehnte hinweg die Vertriebenenarbeit der katholischen Kirche entscheidend prägte und mittrug: Paulinische Glut, augustinische Unruhe des Herzens, die prophetische und aufrüttelnde, neue Wege weisende Stimme, der Mut, auch heiße Eisen anzufassen, zu Fehlern zu stehen – mit diesen Farben, die Franz Haibach in sein Bild von Pater Paulus Sladek eingetragen hat, lassen sich auch beinahe fünfzig Jahre später die Konturen eines Seelsorgers zeichnen, der in seiner Sorge um die Menschen zum Wegweiser aus ausweglos erscheinendem Chaos wurde und in dieser Charakterisierung so viele Parallelen aufweist mit dem Vertriebenenbischof Kaller. Die Konturen werden noch deutlicher – heute, da wir das Thema Vertriebenenbetreuung zu historisieren beginnen, uns mit wissenschaftlichem Interesse und Fragestellungen der Situation nach 1945 den Erfahrungen, den Konzepten auch anzunähern versuchen. Sladeks Initiativen unmittelbar nach der Vertreibung waren getragen von der akuten Sorge um die neu angekommenen Vertriebenen und Flüchtlinge. Das waren in vieler Hinsicht entwurzelte Menschen. Diese mussten aufgefangen werden. Man musste ganz pragmatisch eine Bleibe für sie finden. Ihnen die einfachsten Lebensgrundlagen sichern. Konzentriert zum Ausdruck kommen diese Bemühungen im Weihnachtsbrief von 1945, den Pater Paulus Sladek an seine Freunde aus der böhmischen Jugendbewegung in Staffelstein verschickte und mit dem er seine Schicksalsgefährten sammeln und so ein Stück Heimat für sich und für seine unmittelbare Umgebung bewahren und weiterführen wollte. In der aktu-

Maximilian Kaller – Grundanlieben des „Vertriebenenbischofs“

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ellen Notlage erschien ihm der Zusammenhalt der Gemeinschaft dringender denn je. Diese Gemeinschaft wird mit der Erinnerung an eine Erfolgsgeschichte in dieser verschworenen Gemeinschaft zusammengehalten, mit der Erinnerung an den Idealismus gegenüber Volk und Heimat und an religiöse Erneuerung. Dieser „ideologische“ Hintergrund fehlt Kaller, weil er immer als Deutscher in einem deutschen Staat leben konnte. Bei ihm ist es letztlich allein der Argumentationskontext aus dem franziskanischen Ideal der Armut. Ansonsten begegnen sich Sladek und Kaller in ihrem Bemühen, sofort praktische Nothilfe zu leisten. Beide Theologen – Kaller der Seelsorger und Amtsträger, Sladek der habilitierte Dogmatiker, Thomaskenner, akademische Seelsorger, der die sudetendeutsche katholische Jugendbewegung mitinitiiert hat – stellen die konkrete Erfahrung von Vertreibung in einen geistesgeschichtlichen und theologischen Argumentationskontext. Schuld und Prüfung Gottes werden zu Leitgedanken dieses Argumentationsganges.84 Für beide ist eine entscheidende Frage nicht nur, ob Religion in der Fremde Heimat geben kann, sondern auch wie sich der Glaube im Exil wandelt, wie der Glaube radikale Konsequenzen einfordert.85 84

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Viel deutlicher als bei Kaller aber rückt bei Sladek das Versagen der Deutschen in Böhmen in den Mittelpunkt. Die Vertriebenen sühnen. Dieser Sühnegedanke kommt auch im Sühnegebet und im Gelöbnis der Heimatlosen zum Ausdruck, die Pater Paulus Sladek bereits 1945 erfasst hatte. In breitere Vertriebenenkreise wurden sie 1946 bei der Vertriebenenwallfahrt nach Altötting getragen. Dort wurde das Sühnegebet gebetet. Die Eichstätter Erklärung der Sudetendeutschen 1949 ist in dieser Tendenz abgefasst, die sich dann auch in der Charta der Vertriebenen 1950 niedergeschlagen hat. Bereits in dem Weihnachtsbrief 1945 zeigen sich bei Sladek die enge Verknüpfung von religiösem Leben und sozialen Forderungen. Die Forderung der gerechten Lastenverteilung, der Überprüfung des Eigentums, aber auch der Brauchtums- und Kulturpflege, der pragmatischen Hilfe in der Vermittlung von Arbeitsplätzen, von Wohnraum usw. Grundsätzlich versuchte Sladek immer wieder darauf hinzuweisen, dass die unmittelbare Vertreibungssituation, die Situation der Hoffnungslosigkeit ein Krisispunkt sei, der nicht in die Verzweiflung, sondern in das Hören des Rufes Gottes einmünden müsse. Das Hören müsse zu einem praktischen Christentum führen, müsse sich auf ein tätiges Apostolat der Glaubensverbreitung und des Glaubenslebens auswirken. Auch darin zeigen sich deutliche Parallelen zu der Argumentation Maximilian Kallers. Nur, die Forderungen gehen radikaler weiter, denn diese umfassende Neuorientierung, so Sladek, muss gepredigt und muss vorgelebt werden. Diese Zielsetzung fordert ein Neudurchdenken der Seelsorgskonzepte, eine Überprüfung bisheriger selbstverständlicher religiöser Praxis und ein prophetisches Präsent- und Tätigsein der Christen in der Gesellschaft. Insofern ist es selbstverständlich, dass Sladek auch das besondere, apostolische Engagement der Laien anspricht und einfordert, die durch Taufe und Firmung dazu befähigt und in der Diasporasituation gerade dazu verpflichtet sind. Die Laien sollen Sauerteig und Mittelpunkt für eine Neuordnung in der Gesellschaft sein, für eine Intensivierung des religiösen Lebens, das sie gemeinschaftlich im Gebet geistlicher Lesung, gegenseitigem Trost und Schriftlesung pflegen sollen. Auf diesen Zweck hin sah Sladek seine ganzen schriftstellerischen Bemühungen im Rahmen der kirchlichen Hilfsstelle Süd in München ausgerichtet. Den Laien müsse im praktischen wie im religiösen Bereich die Hilfe zur Selbsthilfe gewiesen werden. Um einen Multiplikatorenkreis in weite Bereiche der Laien hinein zu schaffen, gründete er zusammen mit anderen Gefährten am 13. Januar 1946 bereits die Ackermann-Gemeinde. Der Akzent liegt hier weniger auf der vom Kleriker getragenen und geleisteten Seelsorge, als vielmehr in der Hilfestellung durch den Kleriker für die Laien. Das Laienengagement erhält einen höheren Stellenwert und eine größere Selbständigkeit als bei Kaller, weil Sladek vermutlich auch die geistige und geistliche Krisis noch tiefer reichen sah, als Kaller sie konstatierte. Caritas ist für Sladek nicht nur bürgerliche Anständigkeit und eine Wohltat punktueller Natur, sondern hat ihre Dimension in der sozialen Gerechtigkeit, im Ernstnehmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Sladeks Argumentation in der scharfen Formulierung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist unterfüttert mit den Ausführungen Thomas von Aquins in der Summa theologiae. In der Position des Thomas fand Sladek die einzige Möglichkeit zur Behebung der sozialen

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Der Sühnegedanke wurde also nicht nur retrospektiv formuliert, sondern er hatte auch eine Gegenwarts- und Zukunftsdimension und insofern war er ein Stachel, das Bewusstsein und die Wahrnehmung zu schärfen und unverblümt die entsprechenden Handlungskonsequenzen zu ziehen. Wenn Sladek die Notlage als Chance zur Neuorientierung, auch zur Radikalisierung wahrnahm, als Chance bis zum Grund des christlichen Glaubens vorzustoßen und so das Fassadenhafte abzustoßen, die Gewohnheiten in Frage zu stellen und wegzuräumen, dann war er sich einig mit führenden Vertretern katholischer Geistlichkeit und Laien nach 1945, wie etwa Pater Ivo Zeiger oder auch Otto B. Roegele und traf sich mit Gedanken Kallers, die dieser in einer Predigt am 10. Juni 1945 formulierte und einen neuen Anfang im Heiligen Geiste einforderte86, ein neues Verhältnis zum Menschen.87

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Schieflage der Gegenwart, letztlich die Formulierung eines Brückenweges zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die Klärung der Soziallehre gerade im Vertriebenenbereich war für Sladek wichtig, weil er auch soziologisch dachte und die Gefahr sah, dass die Proletarisierung der Vertriebenen sich auch in religiöser Hinsicht zersetzend auswirken werde. Er befürchtete eine gesellschaftliche Anarchie, sollten nicht angemessene Maßnahmen für die Vertriebenen ergriffen werden. In der aktuellen Situation sei die Besitzverteilung in Deutschland unerträglich geworden. Notwendig seien strukturelle, soziale Veränderungen, die das gesamte soziale Leben des Volkes umgestalten. Die fundamentale Neuorientierung des religiösen und gesellschaftlichen Lebens würden manches neu werden lassen. Zu diesem Neuwerdenlassen wollte er gerade die Einheimischen ermutigen. Wer baut die Brücken. Predigt zur Caritas-Sammlung in der Herz-Jesu-Oktav. AVE. JOACHIM KÖHLER, RAINER BENDEL, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente? Zur Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. In: Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hrsg. von JOACHIM KÖHLER und DAMIAN VAN MELIS (KONFESSION UND GESELLSCHAFT, 15). Stuttgart 1998, S. 199-229.

Maximilian Kaller als Deuter der ermländischen Glaubensgemeinschaft nach Flucht und Vertreibung KAROLINA LANG-VÖGE In den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren Bischof Kaller und seine beiden Nachfolger, die Kapitularvikare Arthur Kather und Paul Hoppe, die führenden Interpreten und verantwortlichen Manager der ermländischen Glaubensgemeinschaft in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.* Sie formulierten die lebensweltlichen Deutungen, bauten das Organisationsgerüst auf und sorgten für die Tradierung der rituellen Kultur.1 Bischof Maximilian Kaller war ein Charismatiker Weberschen Schlages2, ein geistiger Führer, zu dem die Ermländer aufblickten und dem sie folgten.3 Seine verzehrte, getriebene und „ehrfurchtsgebietende Gestalt“4 war eine authentische Externalisierung seines Wahlspruchs5 „Die Liebe Christi drängt mich!“6 Mittels seiner charismatischen Ausstrahlung erhob sich Bischof Kaller über das Leid der ihn umgebenden Zeit und motivierte seine traumatisierten und perspektivlosen Gläubigen. Die von Kaller gerne zitierten Bibelstellen entsprachen diesem kraftvollen, aufbrechenden Geist, der auf der Basis von Gottesvertrauen aufzubauen und mitzureißen suchte: „Wenn ich zu diesem Berg spreche: ,Tu dich hinfort von hier!’, so hebt sich der Berg und wird sich forttun.“7 Bischof Kaller teilte mit seinen Diözesanen in zweierlei Hinsicht die gleichen Erfahrungen: Ebenso wie sie musste er das Ermland unter Druck verlassen und ebenso wie sie erfuhr er einen ‚sozialen Abstieg’. Letzteres deshalb, weil er in Westdeutschland als Bischof ohne Jurisdiktionsgebiet, ohne gesicherte Finanzmittel und vorerst ohne eine klar um*

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Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um ein Kapitel aus KAROLINA LANG, Regionale versus nationale Identität? Zur Frage der Identitäts- und Heimatkonstruktionen der Ermländer in der Gesellschaft des westlichen Nachkriegsdeutschland von 1945 bis 1960 (VERÖFFENTLICHUNGEN ZUR GESCHICHTE ERMLANDS, 1). Hamburg 2009, S. 37-50. PETER LÖSCHE, FRANZ WALTER, Katholiken, Konservative und Liberale: Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts. In: GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT 26 (2000), 3, S. 471-492, hier 473. MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl. Studienausgabe. Tübingen 1985, S. 140. Zu Bischof Kallers Persönlichkeit und Werdegang siehe BRIGITTE POSCHMANN, Maximilian Kaller (1880- 1947). In: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von JÜRGEN ARETZ, RUDOLF MORSEY und ANTON RAUSCHER. Bd. 7. Mainz 1994, S. 49-62. Bischof Kaller spricht. Hirtenbriefe des Flüchtlingsbischofs Maximilian Kaller. Hrsg. von PAUL KEWITSCH. Lippstadt 1951, S. 3. 2 Kor. 5,14. Siehe hierzu die Photographie Bischof Kallers aus dem Jahre 1947, die anlässlich der Werler Wallfahrt der Ostvertriebenen gemacht wurde, auf dem Deckblatt zu der Publikation: Werl 1947. Wallfahrt der Ostvertriebenen. Lippstadt 1947. Ansprache Kallers auf der Wallfahrt der Ostvertriebenen in Werl am 29.6.1947. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 29.

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rissene Aufgabe ankam. Die abstrakte, amtliche Dignität als Bischof war sicherlich gewahrt worden, realpolitisch entsprachen seine Möglichkeiten selbst als „Päpstlicher Beauftragter für die heimatvertriebenen Deutschen“8 nicht dem bischöflichen Titel, den er weiterhin führte. Umso mehr war Bischof Kaller auf die ihm verbliebenen Autoritätsressourcen angewiesen, die sich im Hinblick auf die Vertriebenen aus seinem Teilhaben an ihrem Schicksal, aus der Bewunderung seiner tatkräftigen Persönlichkeit und der volksfrömmigen Gläubigkeit der Ermländer speisten. Der Bischof rief auch ganz bewusst seine Authentizitätsressource ab, indem er sich wiederholt als ihr „Heimatbischof“9 präsentierte, der gleich ihnen ein „aus der Heimat Vertriebener“10 sei. Kaller selbst legte damit den Grundstein für eine Rezeption seiner Person als Hypostase der Heimat. Seine Haltung in der Gebietsfrage des deutschen Ostens war von Ambiguität gekennzeichnet. Als „Päpstlicher Sonderbeauftragter für die heimatvertriebenen Deutschen“ war er darum bemüht, Gesichtspunkte wie den Raum- und Nahrungsmangel sowie die mangelnden Erwerbschancen der deutschen Vertriebenen ins Bewusstsein der nationalen und internationalen Öffentlichkeit zu rücken.11 In dieser Funktion artikulierte er wiederholt, dass die Vertriebenen ein Anrecht12 auf ihre Heimatgebiete hätten und dass zudem die „Rückgabe eines Teils unserer Ostgebiete […] einige Millionen, die früher dort lebten“13, retten könnte. Dagegen ist es erstaunlich, dass er als Bischof bereits im September 1945 seine ermländischen Diözesanen wissen ließ, dass das Ermland für sie irreversibel verloren sei.14 Sie seien aus ihrer Heimat herausgerissen worden, was es zu akzeptieren und dem es in Form von neuem Heimisch-Werden zu begegnen gälte.15 Heimat wäre dort, wo dem Menschen Liebe und Geborgenheit entgegengebracht würden.16 Die Begründung eines Zuhauses in der „Fremde“17 müsse umso entschlossener verfolgt werden, je „geringer die Hoffnung ist, wieder in die Heimat zurückzukehren“.18 Das „Heimatrecht“19 sei gleichzeitig Geschenk und Anforderung Gottes an den Menschen, da er in der Lage sein müsste, sich immer wieder einen Platz zu 8 9

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POSCHMANN, S. 61. Entwurf eines Hirtenbriefes Kallers an die Ermländer. Maschinenschrift mit handschriftlichen Änderungen. 9.6.1946. 7 S., hier S. 7. Archiv des Visitators Ermland [AVE] A 35, 246: Kaller. Hirtenbriefe, Rundschreiben an den Klerus, Rundfunkansprachen. Der Bischof von Ermland. Beauftragt durch den Hl. Vater mit der Sorge für die aus der Heimat Vertriebenen. Meine lieben von der Heimat vertriebenen Brüder und Schwestern! Druck. Frankfurt/Main. Oktober 1946, 8 S., hier S. 1. AVE, wie Anm. 9. Rundfunkansprache des Päpstlichen Sonderbeauftragten für die heimatvertriebenen Deutschen am Neujahrstag 1947. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 20-23. Fastenhirtenbrief über den Beitrag der Heimatlosen zum Frieden. Druck. Lippstadt 1947. 2 S., hier S. 1. AVE, wie Anm. 9. (Unter dem Titel „Gib uns Frieden“ auch in: Bischof Kaller spricht, S. 24-27.) Rundfunkansprache des Päpstlichen Sonderbeauftragten für die heimatvertriebenen Deutschen, des Bischofs Maximilian Kaller, am Vatikansender am 12. November 1946. Maschinendurchschrift. 3 S., hier S. 2. AVE, wie Anm. 9. „Unsere Heimat ist uns verloren. Das ist hart. Aber an harten Tatsachen dürfen wir nicht vorübergehen. Unsere Trauer um die verlorene Heimat muß sich trösten und aufrichten lassen.“ Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 5. Ebd. S. 6. Wie Anm. 10, hier S. 6. Wie Anm. 9, hier S. 2. Ebd. Wie Anm. 12, S. 1.

Kaller als Deuter der ermländischen Glaubensgemeinschaft

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finden. Diese gleichsam klaren wie fordernden Worte mutete Bischof Kaller seinen Diözesanen zu, um sie zur vorbehaltlosen Integration in der neuen Umwelt zu bewegen. Die Artikulierung eines unwiederbringlichen Verlustes diente dem Ziel, den Ermländern die Alternativlosigkeit des Einfindens unmissverständlich nahezubringen. Sie sollten weder in materiellen noch geistigen Provisorien die Rückkehr herbeisehnen, sondern sich in der neuen Lebenswelt einfinden und etablieren.20 Als grundsätzliche Beheimatung der Ermländer sah Kaller die Beheimatung in Gott, im praktizierten Glauben und in den Pfarrgemeinden. Sie sollten ein „frommes katholisches Volk bleiben“21 und sich ebenso umgehend wie fest an die örtlichen Kleriker und Pfarreien anschließen.22 Vor allem sollten sie christliche Gemeinschaft halten, die Glaubenspraxis pflegen und sich für die lokale Selbsthilfe engagieren, indem sie etwa beim Aufbau von Volksküchen, Krankenhilfen und Kindergärten mithalfen.23 Wenn man sich vor Augen hält, dass die meisten Deutschen nach 1945 von ihren Leitfiguren vor allem moralische und materielle Entlastung suchten,24 kann es auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, dass Bischof Kaller ‚seine’ Ermländer so früh mit der Artikulierung des Heimatverlustes konfrontieren konnte. Für die meisten müssen das überaus schmerzliche Botschaften gewesen sein, und nicht alle dürften 1945 tatsächlich fest damit gerechnet haben, dass sie nicht wieder ins Ermland zurück könnten.25 Es stellt sich die Frage, warum Kaller dies ‚ungestraft’ artikulieren konnte und dabei nicht wie jene scheiterte, die der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zuviel abverlangt hatten. Die einfache Antwort wäre die, dass ein Priester kein Politiker ist und nicht mittels Wahlen abzustrafen oder abzusetzen ist. Eine geistige Abkehr der Gläubigen wäre aber als negative Reaktion möglich gewesen. Dennoch konnte Bischof Kaller seinen Diözesanen diese Wahrheiten verkünden, ohne dass sie Autoritätsverlust oder Distanzierung nach sich gezogen hätten. Warum? Weil er als Priester, als ‚Funktionär des Heilands’ über eine Ressource verfügte, die sich der materiellen Begrenztheit und menschlichen Verifizierung entzog: das absolute Heilsversprechen Gottes, welches einem jeden kreuztragenden Menschen sicher sei. Politische Argumente können früher oder später einer Überprüfung unterzogen werden, die sie ex post verifiziert oder falsifiziert, so dass ihre Deutungskraft kritikfähig und endlich ist. Auf dem Transzendenten basierende Heilsversprechen sind all dies nicht und deshalb so kraftvoll, wenn an sie geglaubt wird. Die Ermländer glaubten und Bischof Kaller deutete. Er deutete die Vertreibungserfahrung als Offenbarung Gottes, die wie alles, was seinem Willen entspringt, anzunehmen sei.26 Der gläubige Mensch solle mittels dieser Glaubensprüfung seiner eigenen Vervollkommnung zugeführt werden27, indem er das 20 21 22 23 24

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„Nun gilt es, neue Heimat zu suchen, zu finden, zu bilden.“ Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 6. Ebd. Wie Anm. 10, hier S. 6. Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 7. Zur patriarchalischen Entlastung durch Adenauer und der diesbezüglichen Weigerungshaltung Schumachers vgl. FRANZ WALTER, Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte. Berlin 2002, S. 133. Zumal die Älteren sich noch an die Zeit des Ersten Weltkrieges erinnern konnten, in der sie z. T. vor den Russen westwärts geflohen waren und nach wenigen Wochen ins Ermland zurückkehren konnten. Vgl. BRUNO RIEDIGER, Die Russen im Ermland 1914. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 47 (1994) S. 121-142. Wie Anm. 9, hier S. 2 f. Wie Anm. 10, hier S. 2.

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ihm auferlegte Kreuz trägt28 und Gottes Willen entspricht.29 Diese Zeit der „Buße und des Leidens“30 solle die verschüttete Demutshaltung reaktivieren31, um in der Fremde die Hinwendung zu Gott sowie eine lebendige, sendungsstarke Glaubenspraxis einzuleiten.32 Die Vertriebenen seien daher das „auserwählte Volk Gottes“33, da sich in der Vertreibungserfahrung wahre Gottesnähe manifestiere und offenbare.34 Damit reihte Bischof Kaller das Vertreibungsschicksal in den großen Kontext der Heilsgeschichte ein und verdeutlichte den sühnenden und unmittelbar zu Gott führenden Charakter dieser Erfahrung.35 Neben der Forderung, dass die Gläubigen die Vertreibung als gottgewolltes Kreuz begreifen und auf sich nehmen müssten, bot er gleichsam eine theologisch fundierte Aufwertung der Vertriebenen an. Indem er das Leid seiner Schutzbefohlenen mit demjenigen der unter Nero verfolgten Christen36 oder des auserwählten Volkes Gottes verglich37, enthob er sie ihres täglichen Flüchtlingsdaseins. Durch die Betonung der Exklusivität der vertriebenen, kreuztragenden Menschen sprach er diesen eine avantgardistische Rolle unter den Gläubigen zu, dernach sie nicht „Verfluchte, Entrechtete, Gottverlassene“38 seien, sondern „Gesandte des Reiches Gottes“39, die die „Auferstehung auch unseres darniederliegenden Volkes vorzubereiten“40 hätten. Bischof Kaller stabilisierte also die Ermländer, indem er ihnen Verantwortung für ihre Umwelt, ja, sogar für die Zukunft des deutschen Volkes zuschrieb und gleichzeitig das göttliche Heil als erreichbare Zielperspektive in Aussicht stellte. Die Verweigerung des Kreuzes, das Hadern mit dem Vertreibungsschicksal deutete Kaller als Sünde wider Gott. Seine theologischen Interpretationen und glaubenspraktischen Hinweise waren auch deshalb in der Lage, die Ermländer in der „Fremde“ zu erden, weil sie in Kontinuität zur Haltung des Bischofs vor 1945 standen. So schloß die Aufforderung Kallers, sie sollten sich im Sinne des Laienapostolats engagieren41, an das massiv von ihm betriebene Laienapostolatswesen im Ermland an. Dieses war der seelsorgerische Kern der „Katholischen Aktion“ gewesen und war so angelegt, dass die wirkenden Laien dabei gleichsam einen Sendungsauftrag erfüllten wie Glaubenspflege in eigener Sache betrieben.42 28 29 30 31 32 33 34

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Fastenbrief Kallers an die Ermländer 1946. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 15. Wie Anm. 9, hier S. 2. Ebd. S. 4. Wie Anm. 10, hier S. 5. Wie Anm. 9, hier S. 4. Wie Anm. 12, hier S. 2. „Begreifen wir im Angesicht des Kreuzes Christi, dass auch unsere Not, unsere Heimatlosigkeit von Gott dem Vater zugelassen sind, um uns seinem Sohne ähnlich zu machen und uns teilnehmen zu lassen an seinem Erlöserberufe?“ Wie Anm. 10, hier S. 2. Wie Anm. 9, hier S. 3. „Uns geht es wie einst den ersten Christen in der Verfolgung des Kaisers Nero.“ Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 12. „Uns geht es wie einst dem israelitischen Volk in der babylonischen Gefangenschaft.“ Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 5. Wie Anm. 10, hier S. 3. Ebd. Ebd. Ansprache Kallers auf der Wallfahrt der Ostvertriebenen in Werl am 29. Juni 1947. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 31. GERHARD FITTKAU, Kaller, Maximilian (1880- 1947). In: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/ 1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Hrsg. von ERWIN GATZ. Berlin 1983, S. 357-361, hier S. 358 f.

Kaller als Deuter der ermländischen Glaubensgemeinschaft

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Einen Anschluss suchte Bischof Kaller auch in Bezug auf die alte Geschlossenheit von Kurie und Gläubigen herzustellen, indem er beiden Gruppen seine Anteilnahme, moralische Aufbauarbeit und praktische Hilfestellung angedeihen ließ. Er vergewisserte sowohl den Laien43 als auch dem ermländischen Klerus44, dass er Kenntnis von ihrer problematischen Situation habe und als ebenfalls Vertriebener Anteil an ihrem Schicksal nähme. Zudem schweißte er sie durch die Hervorhebung der geteilten Vertreibungserfahrung zusammen, die laut Kaller zukünftig ein noch stärkeres, gemeinschaftsstiftendes Band zwischen Priestern und Gläubigen darstellen würde.45 Den Letzteren versicherte er, dass die Kleriker ihnen dieselbe „Liebe und Treue“46 entgegenbringen würden, die sie von ihren Diözesanen empfingen, und dass sie auf ihrem Weg in der „Fremde“ auf deren seelsorgerische Unterstützung bauen könnten.47 Damit sollte das Isolationsgefühl des einzelnen Gläubigen ebenso aufgebrochen werden wie es die Gemeinschaft konsolidieren sollte. Die Situation der Seelsorge durch ermländische Priester stellte sich in der Realität denkbar schlecht dar: Von den 1945 in der Diözese Ermland tätigen 370 Priestern waren bis Dezember 1945 nur 141 in Westdeutschland oder Dänemark, 86 noch im Ermland und 143 waren verstorben oder verschollen.48 Die „stark verminderte Schar“49 der ermländischen Priester, die in Westdeutschland tätig war, hatte (ähnlich den Laien) materielle und berufliche Probleme. Es fehlten Stellen und wenn ostvertriebenen Priestern doch welche angeboten wurden, dann vielerorts nur als Hilfsgeistliche.50 Bischof Kaller hatte mit den meisten ermländischen Klerikern, die in Westdeutschland waren, Briefkontakt und wusste daher um ihre Lage.51 Seine Aufbauarbeit war folglich dringend nötig und er leistete sie, indem er eine gleichsam fordernde wie trostspendende Mobilisierungsstrategie verfolgte. Zunächst versicherte er den Klerikern die christliche Liebe, die ihnen seitens der Gläubigen zuteil würde.52 Diese Liebe würde auch den Zustand materieller Armut aufheben, weil man reich an Mitgefühl und Zuneigung sei.53 Er betonte ferner, dass der Heilige Vater, der deutsche Episkopat und er selbst fortwährend für die ostvertriebenen Priester im Einsatz wären.54 Gleichzeitig erinnerte er sie an 43 44

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„Durch viele persönliche Begegnungen und durch den brieflichen Verkehr mit Euch bin ich mit Euren Anliegen und Sorgen auf das innigste vertraut.“ Wie Anm. 27, S. 1. „Ich verstehe Ihre Lage und Ihre Schwierigkeiten, da ich ja selbst das Los der Heimatlosigkeit mit Ihnen teile.“ Rundschreiben an den ermländischen Klerus. 17.12.1946. Königstein 1946. Hektographie. 1 S. AVE, wie Anm. 9. Zum ersten Adventssonntag 1945 an die Ermländer. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 9. Ebd. Ebd. Rundschreiben Kallers an den Klerus vom 20. Dezember 1945. Maschinenschrift und Hektographie. Halle 1945. 6 S., hier S. 5. AVE, wie Anm. 9. Wie Anm. 27, hier S. 8. Zu der Situation der ermländischen Priester in den ersten drei Jahren nach 1945 in Westdeutschland vgl. ALFRED PENKERT, Auf den letzten Platz gestellt? Die Eingliederung der geflüchteten und vertriebenen Priester des Bistums Ermland in die Diözesen der vier Besatzungszonen Deutschlands in den Jahren 1945- 1947. Münster 1999, S. 102-116. Penkerts Auswertung der Korrespondenz zwischen Kaller und den ermländischen Priestern zufolge hatte Kaller zu 75 % seiner Kleriker brieflichen Kontakt. Vgl. ebd. S. 106. Wie Anm. 48, S. 4. „Sind wir arm? Wir sind reich durch die Liebe, die unsere Diözesanen und Pfarrkinder uns entgegenbringen.“ Wie Anm. 48, hier S.3. Wie Anm. 44.

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ihre Zugehörigkeit zur Priesterschaft, also zur „Fahne Christi“55, die auch die volle „Hingabe an Christus in der Armut“56 impliziere. Man könnte diese Argumentationslogik mit ‚Aufbau durch Verantwortung’ paraphrasieren, wobei Kaller die „Losschälung von allem Irdischen, besonders von der „Ichsucht“57 sowie die „vorbehaltlose Übergabe unserer ganzen Person an Christus“58 als Voraussetzung anmahnte. Im Zusammenhang mit der von Bischof Kaller propagierten Demutshaltung, Annahme der Armut in der Nachfolge Christi sowie dem Laienapostolat steht auch die Tatsache, dass der Bischof offenbar die Ideen des Dritten Ordens des Heiligen Franziskus59 zu reaktivieren gedachte.60 Mittels der Kommunikation seines tröstenden Verständnisses und seines Wissens um die problematische Situation holte er die ermländischen Priester zunächst ab, um sie in einem zweiten Schritt zur Einlösung ihrer seelsorgerischen Verantwortung und zur Entwicklung eines seelsorgerischen „Ansporns“61 zu motivieren. Damit trat er als „Kümmerer“, als Schutz- und Dienstherr in Erscheinung, der sich für seine Priester verantwortlich zeichnete. So informierte er sie über Priesterstellen in Sachsen, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Hannover und Thüringen, die unbesetzt seien und ermutigte sie zu entsprechenden Bewerbungen. Für die alters- oder kriegsbedingt nicht mehr arbeitsfähigen Kleriker trug er in Form von Rentenzahlungen Sorge. 62 Für die berufliche Zukunft der Jüngeren sollte vor allem das Ende 1946 bezugsfertige Priesterseminar in Königstein theologische Bildungs- und Arbeitsoptionen erschließen.63 Zunächst nur aus dem St. Albertus-Gymnasium mit Internat bestehend, wurden 1947 ein Seminar und 1949 eine philosophisch-theologische Hochschule für ostdeutsche Theologiestudenten eingerichtet, die zukünftig als Seelsorger in der Diaspora arbeiten sollten.64 In Bezug auf die ostvertriebenen Kleriker war das Engagement Bischof Kallers von zentraler Bedeutung65, sowohl für ihre 55 56 57 58 59

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Wie Anm. 48, hier S. 3. Ebd. S. 2. Ebd. S. 3. Ebd. Dieser Orden hatte sich den Idealen der materiellen Bescheidenheit und christlichen Nächstenliebe verschrieben. Er zeichnete sich v. a. durch die asketische Lebenshaltung seiner Ordensmitglieder aus, die auch Laien sein konnten. Auf dem ehemaligen Territorium der ermländischen Diözese hatte es eine Reihe von Gruppen des Dritten Ordens gegeben. Siehe die Auflistung aus dem Jahre 1931 in: Katholische Caritas und katholisches Vereinswesen in der Diözese Ermland. Hrsg. von der Geschäftsstelle des Diözesan-Caritasverbandes. Braunsberg 1931, S. 124. P. NOTKER GUNKEL OFM, Entwurf zu einem Hirtenbrief [Bischof Kallers] an die Heimatvertriebenen über „Die Erneuerung des Dritten Ordens aus dem Geiste des Hl. Franziskus.“ Maschinenschrift mit handschriftlichen Korrekturen. 1947. 5 S. AVE, wie Anm. 9. Ferner DERS., Entwurf zu einem Fastenhirtenbrief des hochwürdigsten Bischofs Dr. M. Kaller an die Heimatvertriebenen in der „Zerstreuung“. Maschinenschrift mit handschriftlichen Korrekturen. 1947. 8 S. Ebd. Wie Anm. 44. Wie Anm. 48, S. 4. MAXIMILIAN KALLER, Meine lieben ermländischen Diözesanen! Hirtenbrief Kallers vom 29. September 1946. Lippstadt 1946. AVE, wie Anm. 9. ALFRED PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal. Ostdeutsche – insbesondere ermländische – Flüchtlinge und Heimatvertriebene im Briefwechsel mit Bischof Maximilian Kaller in den Jahren 1945- 1947. Münster 2004, S. 56. So betont auch Hirschfeld die „besondere Vertrauensstellung“ der Heimatordinarien gegenüber den vertriebenen Klerikern und nimmt aus diesem Grund gar eine höhere Kontaktdichte in Westdeutschland als in der heimatdiözesanen Vergangenheit an. Der Heimatbischof sei von zentraler Bedeutung „bei der Wiederaufnahme mitbrüderlicher Beziehungen“ gewesen. MICHA-

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langfristige Etablierung inmitten des einheimischen Klerus, als auch für ihre Vernetzung untereinander und mit den ermländischen Laien. Kaller trieb die Vernetzung des Klerus an, indem er ihnen seine Hirtenworte und Adressenverzeichnisse zukommen ließ, in denen alle von ihm aufgespürten Kleriker geführt wurden.66 Ferner bat er die Priester nachdrücklich um Mitteilung über den Verbleib von Ermländern, da er zwecks Zusammenführung eine Kartothek angelegt hatte.67 Diese vernetzende Vorgehensweise beruhte zum einen auf dem von Kaller geprägten Seelsorgekonzept der „Wandernden Kirche“, in deren Zentrum die Erfassung der Zu- und Abwanderungen von Gemeindemitgliedern seitens der Pfarrgemeinden stand. Diese Erfassung sollte in Zeiten zunehmender Bevölkerungsmobilität die Anbindung der Gläubigen an eine Gemeinde sichern sowie ihre Diasporafähigkeit positiv begleiten.68 Beim Aufbau der Kartothek konnte Kaller daher auf praktischen Erfahrungswerten aus seiner früheren Pfarrleitung aufbauen69, was sicherlich dazu beigetragen hat, dass er im Zeitraum August bis Dezember 1945 bereits mehrere Tausend Namen und Adressen gesammelt hatte.70 Angesichts grundlegender Probleme wie mangelnder Druck- und Vervielfältigungsmöglichkeiten, dürfte es sich in Bezug auf die Organisation und Vernetzung positiv ausgewirkt haben, dass die Ermländer eine verhältnismäßig kleine Vertriebenengruppe waren. Der Bischof unterhielt eine Vielzahl von Briefkontakten und hatte auf dieser Basis einen guten Überblick über die Notsituation ‚seiner’ Ermländer.71 In Einzelfällen hatten Bischof und Klerus sogar Einfluss auf die materielle Situation der Ermländer72, in größerem Umfang konnte er seinen Diözesanen HIRSCHFELD, Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes 1945-1965 (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 33). Köln 2002, S. 434. Wie Anm. 48, S. 5. „Es ist von größter Wichtigkeit, die Ermländer […] karthotekmäßig zu erfassen, um Versprengte miteinander in Verbindung zu bringen. Ich bitte, mich bei meinen Bestrebungen in der Erfassung zu unterstützen und mir die Anschriften mit Heimat- und jetziger Anschrift zu übersenden.“ Ebd. Zum Pastoralkonzept Kallers siehe überblicksartig RAINER BENDEL, Aufbruch aus dem Glauben? Katholische Heimatvertriebene in den gesellschaftlichen Transformationen der Nachkriegsjahre 1945-1965 (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 34). Köln 2003, S. 329-333. THOMAS FLAMMER, in diesem Band, S. 5-22. So gab es etwa zur Zeit von Kallers pastoraler Tätigkeit in der Berliner St. Michaels-Gemeinde ein differenziertes Karteisystem. Dieses gliederte sich in eine Hauptkartothek sowie in Vereins-, Wohlfahrts- und Apostolatskarthoteken und verzeichnete mehrere tausend Namen, Adressen und Schriftstücke. Vgl. MAXIMILIAN KALLER, Unser Laienapostolat in St. Michael Berlin. Was es ist und wie es sein soll. Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 1926. Eingeleitet und neu herausgegeben von HANS JÜRGEN BRANDT. (DOCUMENTA MAXIMILIANI EPISCOPI WARMIENSIS. 1.) Paderborn 1997, S. XI, sowie im gleichen Band, S. 53-61, die Angaben Kallers zu dem damaligen Karteisystem. Bedauerlicherweise quantifizierte Bischof Kaller nicht, wie viele Namen es genau waren. Wie Anm. 66, hier S. 5 f. Penkert gibt an, dass Kaller bereits im Sommer 1945 über eine Kartothek mit 18.000 verzeichneten Flüchtlingen verfügte. Angesichts der fehlenden Quellenangabe ist dieser Zahl jedoch mit Vorsicht zu begegnen. Vgl. PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal (wie Anm. 64), S. 64. Wie Anm. 10, S. 1, sowie PENKERT (wie Anm. 64) S. 30-62. So bat etwa die „Volkshilfe“ um eine Vorauswahl derjenigen Familien von ehemals Lebensversicherten, denen in Fällen „dringender Not eine Beihilfe“ geleistet werden sollte. Als erste Prüfungsinstanz fungierten die ermländischen Ortsgeistlichen, die abschließenden Stellungnahmen wurden der Versicherungsgesellschaft von Bischof Kaller zugeleitet. Die Versicherten selbst sollten „von Fall zu Fall“ über diese Option einer Lebensprämienauszahlung informiert werden. EL

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in Form von Leumundszeugnissen Hilfestellung leisten. Seine diesbezügliche Entscheidung machte er davon abhängig, ob die Betreffenden tatsächlich seine Diözesanen gewesen waren und (falls nicht) ob nach eingehender Prüfung ein solches Zeugnis bedenkenlos ausgestellt werden konnte. Festzuhalten ist, dass Bischof Kaller im Zusammenhang des Entnazifizierungsverfahrens73 eine Vielzahl von Leumundszeugnissen ausgestellt hatte und dies auch ein Stück ‚Wegbegleitung’ seiner Gläubigen darstellte.74 Es kann subsumiert werden, dass Bischof Kaller offensichtlich eine Persönlichkeit war, die den Menschen Geborgenheit stiftete. Sein Wesen eines „Kümmerers“ und Beschützers wird an vielen Stellen deutlich, ob es nun als eine umgebende und ausstrahlende Aura75 beschrieben wird oder sich in konkreten Handlungen des „Volksbischofs im wahrsten Sinne des Wortes“ manifestierte.76 Der Wert dieser Geborgenheit muss vor dem Hintergrund der virulenten Angst gesehen werden. Wenn der eigene Besitz verloren ging oder gebrandschatzt wurde77, man von einem Tag auf den anderen sein Haus zu verlassen hatte78, Vergewaltigungen sehen oder ertragen musste79, Kinder und Ehemänner an das Chaos oder den Tod verlor, Hunger erlitten hatte80, in einer Flüchtlinsbaracke lebte, als „eine Art ständiger Gast“81 gesehen oder vom Ortspfarrer ungern beim Gottesdienst gesehen wurde: Dann hatte man Angst. Sicherlich werden nicht alle Ermländer diese Erfahrungen gemacht haben, aber die meisten. Bischof Kaller hatte genaue Kenntnis von all dem, was hinter ihnen lag und ebenso von allem, was sie in der Realität des Nachkriegs erfuhren. Er wusste um die Tatsache, dass sie (wenn überhaupt) in inadäquaten Beschäftigungsverhältnissen waren, dass sie sich vielerorts mit drängender Armut und Raumknappheit zu arrangieren hatten und er wusste um die „Härte und Verständnislosigkeit der Umgebung“.82 Sein Bemühen war darauf gerichtet, diese schwierigen Lebensumstände der Ermländer insbeson-

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Rundbrief Kallers an die Geistlichen der Diözese Ermland mit Abschrift eines Schreibens der Volkshilfe. Maschinenschrift. Frankfurt M.-Süd [Ohne Datierung]. 3 S. , hier S. 3. AVE, wie Anm. 9. Zum Verlauf der Entnazifizierung in den drei westlichen Besatzungszonen siehe ROLF STEININGER, Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden. Band 1: 19451947. Frankfurt a. M. 2002, S. 129-141. Als prägnanten Beitrag zu den Verfahren in allen vier Besatzungszonen siehe GUIDO THIEMEYER, Gescheiterte Säuberung? Entnazifizierung in den vier Besatzungszonen. In: INFORMATION FÜR DIE TRUPPE 1995. Nr. 5, S. 48-52. PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal (wie Anm. 64), S. 158-185. Siehe die Beschreibung der Oberin, in deren Krankenhaus in Halle er im Frühjahr 1945 Obdach fand. In: ERMLANDBRIEFE. Weihnachten 1951. Nr. 18, S. 3. Dank Bischof Kaller erhielt der Autor eine Unterkunft in Halle. Siehe OTTO THAMM, Erinnerung an Bischof Maximilian vor zehn Jahren. In: ERMLANDBRIEFE. Sommerbrief 1955. Nr. 33, S. 5. IRMGARD ROHRA, „Das Leben ging recht und schlecht weiter“. In: Nachkriegsalltag in Ostpreußen. Erinnerungen von Deutschen, Polen und Ukrainern. Hrsg. von HANS-JÜRGEN KARP und ROBERT TRABA (ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS, Beiheft 16). Münster 2004, S. 324-331, hier S. 324. ALOIS KARL DOMANOWSKI, Brückendorf – Solec Kujawski, ebd. S. 126-143, hier S. 126. OSWALD MAßNER, Verfolgungen, ebd. S. 241-247. ERNST LANGKAU, Klassenkampf, ebd. S. 174-181, hier S. 175. ROHRA, (wie Anm. 77), S. 325. HANS PREUSCHOFF, Kirche und Heimatvertriebene. In: SOMMERBRIEF DER ERMLÄNDER (13). 1950, S. 6. Ansprache Kallers auf der Wallfahrt der Ostvertriebenen in Werl am 29.6.1947. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 29.

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dere und der katholischen Ostvertriebenen im Allgemeinen zu mildern und ihnen zu einer Besserung zu verhelfen. Im Zentrum dieses Bemühens stand sein seelsorgerisches Engagement, wie es sich in der Abhaltung von Wallfahrten und der Pflege der Marienverehrung manifestierte. Damit knüpfte er an zwei Kerntraditionen der ermländischen Glaubenspraxis an, da es im Ermland eine Reihe von Gnadenbildern der Mutter Gottes gegeben hatte und dass Wallfahrten zu jenen den Stellenwert eines ‚Volkssports’ einnahmen.83 So wurde diese Tradition auch in Westdeutschland fortgesetzt, etwa in Altötting84 oder Werl85. Der westfälische Gnadenort Werl ist unter Bischof Kaller zum Zentrum der Wallfahrten katholischer Ostvertriebener avanciert. Neben den Wallfahrten für die Gesamtheit der Vertriebenen zelebrierten dort die Ermländer, Schlesier und Sudetendeutschen ihre eigenen Wallfahrten.86 Alle Gruppierungen unter den katholischen Ostvertriebenen wiesen ein hohes Bedürfnis nach Wallfahrten und der Auffindung geeigneter Gnadenorte auf, die den heimischen ähnlich sein sollten.87 So berichteten auch Ermländer, dass sie während der westdeutschen Wallfahrten im Geiste zu den Marienstätten im Ermland pilgerten.88 Die Tatsache, dass diese Pilgerfahrten relativ zügig nach dem Kriegsende einsetzten und mit zunehmender Frequenz stattfanden, verweist auf die große Resonanz, die sie fanden.89 So konnte Kaller bis zum Sommer 1947 mehrere Wallfahrten in Werl, Bochum-Stiepel, Walldürn und Altötting abhalten.90 Es dürfte kein Zufall sein, dass er diese baldmöglichst ansetzte und damit der Sammlung der Ermländer Vorschub leistete. Die Funktion dieser Veranstaltungen als Instrument seelsorgerischer Betreuung, derer die Vertriebenen besonders in den ersten Jahren des Nachkriegs stark bedurften, stellte einen wichtigen Grund für ihre Abhaltung dar. Daneben wird Bischof Kaller auch um die Erosionsgefahr gewusst haben, die die Unterbrechung eines Rituals birgt. Das Ritual kann seine identitätsstiftende Kraft lediglich auf der Basis von Wiederholung entwickeln, besonders längere Unterbrechungen vermögen seine ‚magische Wirkung’ zu zerstören und damit 83

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So waren im September 1934 50.000 Ermländer nach Dietrichswalde gepilgert. Am gleichen Ort waren es 1936 40.000 Wallfahrer. Als Überblick der Wallfahrten von 1933 bis 1938 siehe FITTKAU, Zehn Jahre Katholische Aktion, S. 300 f. Vgl. Die ermländischen Wallfahrtsorte. Braunsberg: Nova Zeitungsverlag G.m.b.H 1938 [= www.visitator-ermland.de. Virtueller Ordner: Das Ermland - Ermländische Wallfahrtsorte]. ANNELIESE TRILLER, Zur Entstehung und Geschichte der ermländischen Wallfahrtsorte. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 29, 2 (1957) S. 312-321. Die Schwarze Madonna von Altötting wurde seit 1490 von Wallfahrern aufgesucht und stellt eines der ältesten Heiligenbilder auf deutschem Gebiet dar. Wie Anm. 82, S. 28. FRANZ LORENZ, Die katholische Vertriebenenseelsorge. In: Aus Trümmern wurden Fundamente. Vertriebene. Flüchtlinge. Aussiedler. Drei Jahrzehnte Integration. Hrsg. von HANS JOACHIM VON MERKATZ. Düsseldorf 1979, S. 247-261 hier 251. Vgl. GEORG R. SCHROUBEK, Wallfahrt und Heimatverlust. Ein Beitrag zur religiösen Volkskunde der Gegenwart (SCHRIFTENREIHE DER KOMMISSION FÜR OSTDEUTSCHE VOLKSKUNDE IN DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR VOLKSKUNDE E. V. 5). Marburg 1968, S. 242. Die schlesischen Ostvertriebenen des Oldenburger Landes pilgerten schwerpunktmäßig zum Marienheiligtum Bethen bei Cloppenburg. HIRSCHFELD (wie Anm. 65), S. 130. Ermland = Marienland. In: ERMLANDBRIEFE. Ostern 1954. Nr. 27, S. 3-4, hier S. 3. Penkert berichtet von einer Veranstaltung Kallers speziell für die Ermländer in Itzehoe (Schleswig- Holstein) im September 1946, an der 15.000 Ermländer teilgenommen haben sollen. ALFRED PENKERT, Ermland in der Zertreuung. Die ostpreußischen Katholiken nach ihrer Flucht und Vertreibung aus der Heimat. Münster 2000, S. 14 und 25. In beiden Fällen fehlt ein Beleg. Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4).

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eine schleichende Fragmentierung der Gemeinschaft einzuläuten.91 In Gestalt des Rituals konnte sich die Gemeinschaft selbst interpretieren und darstellen, der ostentative, performative und dramatische Charakter92 wirkte mittels der Gesänge93 und feierlichen Liturgie als ein ‚Highlight’ auf die Gläubigen. Die katholische Kirche war seit Anbeginn eine virtuose Beherrscherin von Ritualen und wusste sie so zu gestalten, dass sie qua fester und repetitiver Struktur zu einem atavistischen Charakteristikum der Glaubenspraxis wurden, das den Sinn medial beförderte. Zu den Hochämtern gehörten neben der Auslegung der Heiligen Schrift genauso der Weihrauch, die festlichen Gewänder der Priester, das Liedgut sowie ästhetisch gestaltete Kirchenräume. Diese Attribute des Glaubenslebens traten während der Wallfahrten in Erscheinung und erlaubten eine Glaubenserfahrung, die sich neben der religiösen auch auf einer sinnlichen Ebene vollzog und dadurch ihre Wirkungskraft entfalten konnte. Zudem konnten im Rahmen von Wallfahrten Glaubens- und Wissenssätze abgerufen bzw. vertieft werden.94 Vor allem aber bot das ‚Inszenierungsereignis Wallfahrt’ eine breit zugängliche Plattform, mittels derer der hoffnungsstiftende, tröstende Charakter des Glaubens zur Geltung kommen konnte. In Form der Erlösungsideologie wurde Entlastung angeboten und eine Gegenwelt entworfen95, zu der sich der (ansonsten exkludierte) Vertriebene qua seiner Glaubenshaltung zugehörig fühlen konnte. Die episkopale Zusicherung, dass Gott als Kraftquelle96 besonders in der Not omnipräsent sei und dem Menschen sein hoffnungsvolles Heilsversprechen nicht entzöge97, wog die Gläubigen in seinem Schutz; dies in einer Situation, in der sie vielfach obdach- und mittellos waren und keine (deutsche) amtliche Autorität zu erkennen war, die ihnen ein Gefühl von Stabilität oder Ordnung hätte vermitteln können. In diesem Zusammenhang ist auch die Kontinuität der Marienverehrung zu verorten, da die Mutter Gottes als die trostspendende Beschützerin der Schwachen und Wehrlosen galt und gilt. Zudem war sie über Generationen die geistige ‚Ikone’ der ermländischen Glaubensgemeinschaft, da ihr im Jahre 1243 die Diözese geweiht worden war.98 Wenn Bischof Kaller die Ermländer dem „Schutze der schmerzhaften Muttergottes, der Trösterin der Betrübten“99 empfahl, ließ er sie 91 92

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CHRISTOPH WULF, Einleitung. In: Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Hrsg. von CHRISTOPH WULF u. a. Opladen 2001, S. 8. Heimbrock versteht den Gottesdienst als ein Ritual, dessen Kraft sich vor allem aus seinem „darstellenden Handeln“ speist. Vgl. HANS-GÜNTER HEIMBROCK, Gottesdienst: Spielraum des Lebens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zum Ritual in praktisch- theologischem Interesse. Weinheim 1993, S. 7-8. So berichtete auch eine Ermländerin von dem Erlebnis der traditionellen Kirchengesänge, die sie als junge Frau im Rahmen einer Wallfahrt kennenlernte: „Und die haben immer gesungen und gesungen…auswendig! Ich dachte…was ist denn das hier? Aha…[Erstaunen in der Stimme] das ist also die ermländische Vesper.“ Interviewtranskripte. Bearb. von KAROLINA LANG. PrivatArchiv Lang. Bd. I, S. 26. Die Heftchen, die begleitend zu solchen Wallfahrten herausgegeben wurden, beinhalteten z. B. kleine Unterweisungen zu Glaubensbildern und anderen Glaubenssymbolen. Vgl. Die Geschichte des marianischen Gnadenbildes in Werl in: Werl 1947, wie Anm. 6, S. 41. HEIMBROCK (wie Anm. 92), S. 8. Wie Anm.9, S. 7. Zum ersten Adventssonntag 1945 an die Ermländer. In: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 9. „Wir haben ja einen Herrn, der uns nicht enttäuscht hat, wir haben Hoffnungen, die uns aufgeleuchtet sind wie Sterne in dunkler Nacht, wir haben Quellen der Kraft, die nicht versiegt sind.“ Wie Anm. 9, hier S. 5. Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 8. Wie Anm. 19, S. 2.

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mithilfe dieser Anrufung zeitweilig die Zäsur der Vertreibung überwinden und stellte eine historische Kontinuität zur ehemaligen Heimat her. Die sanfte Mahnung, dass die „Treue“ zur Muttergottes auch jenseits der alten Diözese zu halten sei100, sollte die Tradierung dieser Verbindungslinien zu Glauben und Heimat sichern. Die Wallfahrten und Gottesdienste erfüllten neben der Glaubenstradierung und Hilfsleistung bezüglich der Bewältigung von Grenzsituationen auch soziale Funktionen.101 Sie boten den Ermländern Raum für Soziabilität und einen Austausch ‚unter sich’. Ihre Zerstreuung wurde für die Dauer der Wallfahrt aufgehoben, sie befanden sich konzentriert am gleichen Ort, so wie sie im Ermland permanent unter sich gelebt hatten. Zudem diente das Erkennen des Anderen der Selbstvergewisserung. Dieses Gegenüber war (im Gegensatz zu den sie umgebenden ‚Einheimischen’) durch seine ermländische Herkunft ähnlich, unter anderem in Bezug auf die Konfession, die Sozialisation, den Wertehorizont und auf die Mundart. Überdies wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl durch das gemeinsame Singen von traditionellen, allen gut bekannten Kirchenliedern gefestigt. Durch diese Begegnungen wurde Glauben praktiziert und Heimatbewusstsein gemeinsam verfertigt, gestärkt und tradiert. Die Öffentlichkeit des Gottesdienstes ermöglichte zudem eine soziale Orientierung an positiven Vorbildern, wie z. B. an Klerikern oder an Laien, die sich im Kirchenraum engagierten.102 Dieser Funktion kommt vor dem Hintergrund einer weitgehenden Verstrickung der gesellschaftlichen Eliten mit dem Nationalsozialismus eine besondere Bedeutung zu; soziale Modelle waren im Nachkriegsdeutschland rar gesät. Diese Treffen gingen folglich auf die Bedürfnislagen der Vertriebenen ein und integrierten sie in einen strukturierten, sinnstiftenden Rahmen. Damit wurde mittels des Rituals des Gottesdienstes Gemeinschaft gestiftet und das Leid ebenso kanalisiert wie abgedämpft.103 Das Bemühen Bischof Kallers, für die ermländische Gemeinschaft aktiv zu sein, endete am 7. Juli 1947.104 Als eine Gestalt, die schon zu Lebzeiten verehrt wurde, mündete diese Verehrung nach seinem Tod in einer Glorifizierung. So wurde er als „geistiger Leiter“105 und „Hüter des ewigen Heimwehs nach Gott“106 verherrlicht und gar mittels biblischer Vergleiche in einer überirdischen Sphäre verortet.107 Die ihm zu Lebzeiten innewohnende Autorität wurde anhand von Konstatierungen eines Vaterverlustes deutlich108 und lässt sich auch aus der Absicht herauslesen, ein Buch über sein Lebenswerk zu verfassen.109 100 101 102 103 104 105 106 107 108

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Wie Anm. 98. HEIMBROCK (wie Anm. 92), S. 14. URSULA NUBER, Kirche statt stilles Kämmerlein. In: PSYCHOLOGIE HEUTE 21 (2005), Heft 3, S. 23. HEIMBROCK (wie Anm. 92), S. 10. Nach Kallers Tod existierte das Amt des Flüchtlingsbischofs weiter und wurde mit Bischof Ferdinand Dirichs von Limburg besetzt. LORENZ (wie Anm. 86), S. 253. Werl 1947 (wie Anm. 6), unpaginierte erste Seite. Ebd. Zur Wallfahrt nach Werl wurde beispielsweise formuliert, dass er „einem Moses auf dem Berge Nebo gleichend“ gewirkt hätte. Ebd. „Wenn wir sein Bild sehen oder seinen Namen hören, leuchten unsere Augen auf und schlagen unsere Herzen schneller. […] Er lebt weiter in unseren Herzen als der gütige und freundliche Vater, dem unsere Herzen entgegenschlugen in Liebe und Verehrung.“ Bischof Kaller spricht (wie Anm. 4), S. 3. „Wir sind es dem Andenken unseres heiligmäßigen Bischofs schuldig, nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, was heute noch lebendig ist.“ ERNST LAWS, Um unsern Bischof Maximilian. In: ERMLANDBRIEFE. Weihnacht 1956. Nr. 38, S. 12.

Die Alltagssituation der Ermländer 1945-1947 im Spiegel ihrer Korrespondenz mit Bischof Maximilian Kaller ALFRED PENKERT In der aktuellen Notlage helfen, die Gläubigen der eigenen Diözese zusammenhalten, ihre Gruppenidentität auch in fremder Umgebung und in der räumlichen Trennung konservieren und weiter entwickeln und die Integration im Aufnahmegebiet begleiten und unterstützen – der Aufgabenbereich der Seelsorger für die Vertriebenen und Flüchtlinge wies eine enorme Spannbreite auf. Viele Vertriebene sahen in ihrem Seelsorger eine wichtige Vertrauensperson, einen Ombudsmann, der ihre Befindlichkeiten wahrnahm, vielleicht auch Auswege wusste, Brücken schlagen konnte, mindestens aber Teilnahme zeigte und Trost zusprach. Der Nachfolger Bischof Kallers Kapitelsvikar Arthur Kather schrieb im Juli 1947 in seinem ersten Grußwort an die Ermländer: „Und wenn wir auch alles verloren haben, den Glauben halten wir fest.“ Festhalten am Glauben bedeutete ihm konkret zunächst einmal, Kontakt behalten untereinander und Kontakt behalten mit den Heimatgeistlichen – soweit sie sich hier in Restdeutschland aufhielten – und natürlich auch in Verbindung bleiben mit dem kirchlichen Oberhirten, so wie viele Ermländer Kontakt gehalten hatten mit Bischof Kaller, dessen Tätigkeit bekanntermaßen im Wesentlichen in den Jahren 1945 bis 1947 in einem weit gespannten Briefapostolat bestand und das von anfangs 30 Briefen täglich bis zu 150 Sendungen pro Tag angeschwollen war. Ein Großteil dieser Korrespondenz befindet sich heute im Archiv des Apostolischen Visitators Ermland im Ermlandhaus in Münster, so dass gerade auch von hierher ein anschauliches Nachkriegsbild über die Ermländer in jener Notzeit aufgezeigt werden kann1. Rund 200.000 ostpreußische Katholiken hatten 1945/46 in Restdeutschland Aufnahme gefunden, unter ihnen zur Jahresmitte 1946 ebenfalls 170 ermländische Priester, die Bischof Kaller in einer von ihm notierten Klerikerstatistik namentlich nennt. Erste amtliche Zahlen allerdings zur Vertriebenensituation insgesamt in 1

Die folgenden Ausführungen basieren auf zwei Untersuchungen: ALFRED PENKERT, Auf den letzten Platz gestellt? Die Eingliederung der geflüchteten und vertriebenen Priester des Bistums Ermland in die Diözesen der vier Besatzungszonen Deutschlands in den Jahren 1945-1947. Eine Untersuchung anhand des Quellenmaterials im Archiv des Apostolischen Visitators Ermland zu Münster. Münster 1999 und ALFRED PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal. Ostdeutsche - insbesondere ermländische - Flüchtlinge und Heimatvertriebene im Briefwechsel mit Bischof Maximilian Kaller in den Jahren 1945-1947. Münster 2004. Beide Werke wurden von der Bischof-Maximilian-Kaller-Stiftung e.V. herausgegeben, ebenso wie ein dritter Band: ALFRED PENKERT, Ermland in der Zerstreuung. Die ostpreußischen Katholiken nach ihrer Flucht und Vertreibung. Münster 2000. Überarbeitete Neuauflage der Veröffentlichungen in einem Band: ALFRED PENKERT, Höhere Mächte haben entschieden. Flucht, Vertreibung und Ankommen ostpreußischer Katholiken im Spiegel ihres Briefwechsels mit Bischof Maximilian Kaller. Mit einem Abriß der ermländischen Nachkriegsgeschichte (BEITRÄGE ZU THEOLOGIE, KIRCHE UND GESELLSCHAFT IM 20. JAHRHUNDERT, 15). Berlin 2008.

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Deutschland lieferte die gesamtdeutsche Volkszählung vom 29. Oktober 1946. Danach lebten hier 11,2 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, sechs Millionen von ihnen waren katholisch. Auf die einzelnen Besatzungszonen verteilt ergab sich das folgende Bild: 2,3 Millionen Katholiken in der amerikanischen, 2,0 Millionen in der sowjetischen, 1,5 Millionen in der britischen und 0,2 Millionen in der französischen Zone. Unter diesen 6 Millionen katholischen Vertriebenen befanden sich 2.300 Geistliche, von denen sich jedoch nur ca. 500 in der sogenannten Ostzone aufhielten, obwohl dort ein Drittel der katholischen FlüchtlingsGläubigen untergekommen war.2 Viele ermländische Diözesanen und 159 der 170 im Reich 1946 lebenden Ermland-Priester – also 95 % – wandten sich brieflich an ihren Bischof. Inhaltlich lassen sich diese noch erhaltenen mehrere tausend Briefe in fünf große Sachgebiete aufteilen: 1. Persönliche Angelegenheiten, 2. Suchanfragen bzw. Anschriftenanfragen, 3. Hilfeersuchen der verschiedensten Art, 4. Bitten um bischöfliche Referenzen im Rahmen der Entnazifizierung, 5. Anfragen bzw. Anmeldungen zur beabsichtigten Auswanderung.3 Den umfangreichsten Teil – jeweils etwa ein Drittel – umfassen die Suchanfragen sowie die Hilfeersuchen, wobei anzumerken ist, dass Letztere natürlich nur sehr begrenzt erfüllt werden konnten, da Bischof Kaller als Flüchtling selber äußerst hilfsbedürftig war, es sei denn, gute Menschen hatten ihm gerade etwas zugesteckt, was er in der Regel niemals für sich verwandte, so dass er ein paar Reichsmark in den Antwortbrief legen konnte, wobei er grundsätzlich in dem Bewusstsein handelte, dass nicht die Größe der Gabe, sondern die Art des Gebens im Wesentlichen die erbetene Hilfe ausmachten. Tatsächlich dankten nicht wenige der Beschenkten gerade für diese liebenswerte Weise des sparsamen, aber herzlichen Beschenkt-Werdens. In vielen der so zahlreichen Bitt- und Bettelbriefen beklagten die Heimatvertriebenen überdies das Stigma ihrer Isolation, verbunden mit der Klage über eine häufig anzutreffende individualistisch-egoistisch geprägte Atmosphäre, in der die neuen „Landsleute“ allzu sehr vom gegensätzlichen „Ihr“ und nur höchst selten vom erwarteten „Wir“ bestimmt seien. Im Grunde also eine Feststellung, die auch kirchlicherseits dann und wann wenigstens geäußert worden ist.4 Es gab keinesfalls nur private Aversionen, auch im öffentlichen Raum ereigneten sich erschreckende Ablehnungen der ungebetenen „Gäste“. Im Oktober 1945 richteten beispielsweise die Südschleswiger eine Bittschrift an den britischen Feldmarschall Montgomery, worin sie baten, er möge doch den 2 3 4

PENKERT, Auf den letzten Platz gestellt, S. 45 f. = PENKERT, Höhere Mächte, S. 55. PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal, S. 20 = PENKERT, Höhere Mächte, S. 170. So stellte beispielsweise der Freiburger Erzbischof Conrad Groeber in seinem Hirtenbrief vom 26.12.1945 mit Betroffenheit fest, dass die Vertriebenen nicht selten lediglich als feindliche Brüder und keinesfalls als notleidende Mitmenschen aufgenommen worden wären. Archiv des Visitators Ermland. Münster [AVE]. A 35/247. Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Westliche Besatzungszonen 1945–1947. Bearb. von ULRICH HELBACH (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A: Quellen, 54). Paderborn [u. a.] 2011, Nr. 71, S. 323 - 332. – Bischof Graf Galen von Münster schrieb in seinem Adventshirtenbrief 1945: „Kein Platz in der Herberge! Dieses Wort preßt mit Zentnerlast mein Herz, wenn ich an jene denke, die gezwungen wurden, jetzt, nach dem Ende der blutigen Kampfhandlungen, ihre Heimat im Osten unseres Vaterlandes zu verlassen.“ AVE, A 35/247. CLEMENS AUGUST VON GALEN, Akten, Briefe und Predigten 1933 - 1946. Bearb. von PETER LÖFFLER. Teil: 2. 1939 – 1946 (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A: Quellen, 42). Paderborn 1988, Nr. 517, S. 1252. HEIMAT UND GLAUBE 49 (1997) Nr. 12, S. 2.

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Flüchtlingsstrom stoppen, denn „dieser Strom von Fremden aus den Ostgebieten droht unseren angestammten nordischen Charakter auszulöschen und bedeutet die seit Jahrhunderten ernsthafteste Gefahr für unser Volk, preußisch zu werden.“ Ein anderes Beispiel lieferte ein bayerischer Flüchtlingskommissar im Februar 1946: „Es geht bereits soweit, daß in verschiedenen Städten und Dörfern Flugblätter, die auf Vervielfältigungsmaschinen gedruckt werden, verbreitet werden und zum Hinauswurf der Preußen, Schlesier u.s.w. auffordern. Die bayerische Bevölkerung steht eben auf dem Standpunkt, daß sie unbedingt Herr im eigenen Haus bleiben will und sich zunächst einmal gegen jede Verschmelzung mit den aufgezwungenen Flüchtlingen auflehnt. Es ist eine Haltung, die wohl allgemein auch aus früheren Jahren bekannt sein dürfte, da der Bayer äußerst konservativ ist und jeden Neuzureisenden und Neuzuziehenden mindestens für 1–2 Generationen als Fremde betrachtet.“5 Zweifellos eine Meinung, die weit verbreitet gewesen ist, denn selbst der Münchner Kardinal Faulhaber schrieb im Dezember 1946 an Bischof Kaller6, der Fortgang ostdeutscher Volksgruppen wäre ein ideales Mittel, um naturnotwendige Spannungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zu vermeiden. Schließlich sei noch ein Beispiel aus dem Raum Osnabrück genannt, wo Kommunalbehörden dem dortigen Regierungspräsidenten mitteilten, dass bei weiteren Flüchtlingszuweisungen nicht nur Unruhe unter der Bevölkerung, sondern geradezu eine Katastrophe zu erwarten sei. Diese Auffassung untermauernd, hieß es sodann: „Das Verhältnis zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen hat sich in letzter Zeit wesentlich verschlechtert. Es kommt nicht von ungefähr, daß die Kinder der Einheimischen nach den Flüchtlingen mit Steinen werfen.“ Und die Erwachsenen, so fährt der Berichterstatter fort, würden dieses Verhalten gutheißen.7 Pater Paulus Sladek, der geistliche Begleiter der sudetendeutschen Ackermanngemeinde und Leiter der kirchlichen Hilfsstelle/Süd in München, suchte 1947 in den Frankfurter Heften nach einer Ursache für ein derartig unchristliches Gebaren und fand eine Erklärung schließlich nur in dem Tatbestand, dass die sozialen Umwälzungen zu groß und zu unerwartet gekommen seien, so dass man weder mental noch moralisch darauf vorbereitet gewesen sei, was dann wiederum dazu führe, dass die Menschen in ihrer materiellen Grundeinstellung bei gleichzeitiger Verkümmerung des sozialen Gewissens weder Gerechtigkeit noch Liebe üben konnten.8 Die Ablehnung erwuchs nicht zuletzt aus der Notlage in Deutschland; die nackte Überlebensangst überwog. Deutschlands Staatsgebiet war um 25% reduziert worden, seine Wirtschaftskraft betrug weniger als ein Drittel der normalen Stärke, 40% des Landes lag zerstört da; Wohnungs- wie Ernährungsengpässe 5

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Beide Beispiele erwähnt MARITA KRAUSS, Das „Wir“ und das „Ihr“. Ausgrenzung, Abgrenzung, Identitätsstiftung bei Einheimischen und Flüchtlingen nach 1945. In: Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. Hrsg. von DIERK HOFFMANN, MARITA KRAUSS und MICHAEL SCHWARTZ (VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE. SONDERNUMMER). München 2000, 27-39, hier S. 31. PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal, S. 220. = PENKERT, Höhere Mächte, S. 90. Konkret ging es bei diesem Briefwechsel um die Frage der Auswanderung der Ermländer nach Übersee. PETER ERF, Die Vertriebenen in Westdeutschland 1945-1949. Diss. Osnabrück 1984, S. 169 f. PAULUS SLADEK, Kirche, Flüchtlingsnot und soziale Frage. In: FRANKFURTER HEFTE 2 (1947) Heft 10, S. 1005 – 1016, hier S. 1006 f .

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beherrschten den Alltag, ganz zu schweigen von der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Dazu kamen bis Ende 1945 zu den 52 Millionen Einwohnern Restdeutschlands 4,5 Millionen Ostvertriebene und Flüchtlinge, bis zum Jahre 1949 sogar zwölf Millionen, so dass in den drei Westzonen, die zur Bundesrepublik wurden, bei ca. 45 Millionen Einwohnern jeder Sechste ein Neubürger war; konkret: 7,5 Millionen Vertriebene. In der sowjetischen Zone war sogar jeder Vierte von gut 17 Millionen Bewohnern ein Flüchtling. Selbst in das vollständig zerstörte Berlin wurden noch 200.000 Vertriebene eingewiesen.9 Die Ermländer fanden weitgehend in den nördlichen Regionen Westdeutschlands ein Unterkommen, also gerade dort, wo zum Beispiel in der britischen Zone der größte Engpass herrschte: in Schleswig-Holstein mit einem Flüchtlingsanteil von immerhin 33 % und in Niedersachsen, wo mehr als jeder Vierte ein Vertriebener war.10 Auch in der Ostzone fanden die meisten Ermländer zunächst in Mecklenburg oder in Brandenburg ihr Unterkommen. Ob Vereinsamung in der Fremde, fehlende Anerkennung, zerrissene Familienbande, Wohnungsnot oder Arbeitslosigkeit – aller Jammer fand seinen Niederschlag in den brieflichen Klagen an den allseits beliebten und verehrten Bischof Maximilian, der am 13. Februar 1947 an eine Frau Reimann schrieb: „Das Elend ist kaum zu ertragen. [...] Ich könnte Bände darüber schreiben, wieviel Not und Elend an mich kommen.“11 Ab und zu allerdings gab es auch einen Lichtblick in aller Trostlosigkeit jener Tage, wie beispielsweise am 21. Oktober 1946, als der Schlesier Josef Jalufka aus dem westfälischen Greven berichtete, ihm habe der Bauer Große-Sundrup 1.000 qm Bauland geschenkt, worauf er sich nun ein Haus errichten werde. Bischof Kaller muss fast sprachlos gewesen sein, denn er bedankte sich spontan mit einem Brief, und entgegen aller Gepflogenheit fügte er diesem Dankschreiben ein handsigniertes Foto von sich bei. Es mag hier sinnvoll sein, darauf zu verweisen, dass das jeweilige Aufnahmeklima wenigstens dann und wann auf Gegenseitigkeit beruhte, denn nicht immer wollten die Heimatvertriebenen integriert werden, da sie mit einer baldigen Rückkehr rechneten. Im Hinblick auf die Priester jedenfalls verwies der jetzt in Augsburg lebende Pfarrer Anton Kuhn auf diese Tatsache und meinte, nicht immer wären die Gastgeber die Schuldigen, oft seien es die Vertriebenen selber, da sie wie Gäste und nicht wie Arbeiter aufträten.12 Sicherlich ein Auftreten, das dem der soeben genannten Vertriebenen entsprach, die zwar ausgesiedelt, aber keineswegs bereit waren, sich auch wieder anzusiedeln; im Grunde also Vertriebene, die im Westen niemals ankamen - eine Haltung, die der Bischof Kallers völlig entgegen stand, denn der hatte bereits in seinem ersten Hirtenbrief an seine Ermländer im September 1945 geschrieben:

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Statistische Angaben aus: Fragen an die deutsche Geschichte. Hrsg. vom DEUTSCHEN BUNDESTAG. Bonn 1984, S. 338-354. GERHARD REICHLING, Die Heimatvertriebenen

im Spiegel der Statistik. Berlin 1958, S. 15ff. An dieser Stelle sei vermerkt, dass die französische Zone den geringsten Flüchtlingsanteil zu verkraften hatte: im Jahre 1950 nur 5 % der in Westdeutschland ansässig gewordenen Vertriebenen. Die Briefe der Laien an Bischof Kaller befinden sich alphabetisch geordnet im Archiv des Visitators Ermland im Ermlandhaus in Münster. Die Korrespondenz Bischof Kallers mit seinen ermländischen Priestern befindet sich in AVE alphabetisch geordnet unter A 16, 17 und 18.

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„Unsere Heimat ist uns verloren. Werdet Glieder eurer neuen Gemeinden!“13 Oder: „Die Aussichten unserer Rückkehr sind gleich null.“14 In einem anderen Brief heißt es: „Von Polen haben wir nichts zu erwarten, wir müssen sehen, wie wir durchkommen.“15 Ähnlich äußerte er sich ebenfalls einigen seiner Priester gegenüber: „Die Hoffnung, im Ermland als Priester wirken zu können, müssen wir wohl aufgeben. Wir müssen uns hier in Mitteldeutschland eine Position schaffen.“ Diese Meinung formulierte er zum Beispiel bereits am 5. November 1945 in einem Brief an Kaplan Lothar Ploetz. Bischof Kaller dachte in seiner nüchtern-realistischen Art radikaler und konsequenter als mancher blauäugige Flüchtling; und selbst jeder Versuch einer befristeten Rückkehr wurde von ihm abgelehnt, was in einem Brief vom 5. März 1946 nachzulesen ist. Da riet er der jungen Ermländerin Ursula Brühn dringend davon ab, nach Elbing zurückzugehen, um dort den alten und kranken Eltern beizustehen: „Ich würde dir nicht raten, nach Elbing zu fahren. Du würdest nicht weit kommen, würdest wahrscheinlich in ein Lager gesteckt werden und könntest monatelang schwer arbeiten. Schließlich würde man dich zerlumpt und ausgeplündert im besten Falle wieder zurückschicken.“ Allerdings gab es 1946 auch drei ermländische Priester – Alfons Schulz aus Nußtal, Felix Wieczorek aus Starnsee und Anastasius Szudzinski – die aus seelsorglichen oder im letzten Fall nach sechsjähriger KZ-Zeit aus persönlichen Gründen ins Ermland zurückkehren wollten. Allen Dreien erteilte Kaller die Heimkehrerlaubnis – unter Bedenken zwar, doch dankbar für ihren Idealismus.16 Bischof Kaller – und das sei nochmals herausgestellt – entsprach folglich keineswegs dem unentwegt rückwärtsgewandten Flüchtlingstyp, den die Soziologin Elisabeth Pfeil so beschreibt: „Sie verlassen die Heimat, ohne sie aufzugeben“17, d. h. sie wollten Fremde bleiben, unangepasst und ohne Verwurzelungsabsicht, realitätsferne Zeitgenossen. Maximilian Kaller war Bischof, zutiefst also Seelsorger, deshalb musste ihm selbstverständlich die konfessionelle Eingliederung der Heimatvertriebenen ein besonderes Anliegen sein, ein Anliegen jedoch, das sich praktisch, d. h. organisatorisch, in seinem Sinne nicht durchführen ließ, denn sowohl er als auch der Berliner Bischof Graf von Preysing hatten im September 1945 in einer Denkschrift vergeblich die Alliierten gebeten, die Ausweisungen unter konfessionellen Aspekten zu ermöglichen.18

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Hirtenbrief Kallers an die Ermländer im September 1945. Druck in: Bischof Kaller spricht. Hirtenbriefe des Flüchtlingsbischofs Maximilian Kaller. Gesammelt und hrsg. von Pfarrer PAUL KEWITSCH. Lippstadt 1951, S. 5-8, hier S. 5. Kaller an den ostpreußischen Katholiken Aloys Grunert vom 19.1.1946. AVE. Kaller, Laienkorrespondenz A 4/16. Kaller an seinen einstigen Laien-Mitarbeiter in Frauenburg Johannes Zander vom 5.6.1946. AVE. A 11/79. AVE. A 18/123, 124, 126. Zitiert nach MARION FRANTZIOCH-IMMENKEPPEL, Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland. Mit einer kommentierten Bibliographie (SCHRIFTEN ZUR KULTURSOZIOLOGIE, 9). Berlin 1987, S. 72. Preysing und Kaller an den Alliierten Kontrollrat vom 3.9.1945. Druck: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche. Bd. 6. 1943 – 1945. Bearb. von LUDWIG VOLK. (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 38). Mainz 1985, Nr. 1034, S. 726-729.

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Doch wie schon dargelegt, fanden sich tatsächlich die meisten Ermländer im protestantischen norddeutschen Raum wieder, wo natürlich eine seelsorgliche Betreuung im heimatlichen Stil unmöglich war. Vielfach erwuchs daraus der Grund, Bischof Kaller brieflich um Abhilfe zu bitten. Man wünschte nicht nur Priester, sondern immer wieder auch Katecheten für den Religionsunterricht der Kinder, denn ein – wie gewohnt – katholisches Leben konnte nach der Auffassung traditionsverhafteter Ermländer lediglich auf der Grundlage eines umfassenden Religionsunterrichtes als Basis für eine künftige Wertehaltung gelingen. Es gibt sogar Briefe, in denen ernsthaft gefragt wurde, ob es denn nicht besser sei, nach Ostpreußen zu den katholischen Polen zurückzukehren, als hier die Kinder bzw. Enkelkinder „gottlos“ groß werden zu lassen. „Was soll da werden?“ fragte beispielsweise Frau Gertrud K. am 31. Dezember 1946. Eine Frage, die den umsichtigen Bischof wirklich sprachlos machte. Noch bedrückender als die seelsorglichen Probleme zeigten sich in der Korrespondenz die vielen Suchanfragen, speziell die Suche nach den zahlreichen zu Hause verloren gegangenen Kindern - eine Thematik, die Kaller zutiefst bewegte und ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Am 6. Oktober 1946 richtete er deshalb über die nordrhein-westfälische Landesregierung ein Bittgesuch an den Alliierten Kontrollrat in Berlin zwecks Ermöglichung einer Ausreisegenehmigung für diese Ärmsten der Armen.19 Fast gleichzeitig trug er sein Anliegen im November in Rom Papst Pius XII. vor, der wiederum Kardinal Hlond beauftragte, in dieser caritativen Angelegenheit tätig zu werden. Eine erste Reaktion Bischof Kallers zu diesem Problemkreis findet sich in einem auf den 27. Januar 1947 datierten Brief an eine Frau Kaufmann, worin er mitteilte, dass der Kontrollrat ihn unterstützen werde; er hoffe, allein aus Ostpreußen etwa 2.200 Kinder aussiedeln zu können. Diese Hoffnung scheiterte dann allerdings an den restriktiven Maßnahmen der polnischen Behörden, und auch an der Zurückhaltung der dortigen Kirchenkreise, denn mit Datum vom 13. Februar 1947 erhielt er nur die nüchtern-formelle Nachricht des Apostolischen Administrators in Allenstein – in polnischer Sprache verfasst von dem ehemaligen deutschen Priester Szarnowski – dass die Übersiedlungen nach einem festgelegten Plan erfolgten und deshalb eine Beschleunigung von Einzelfällen nicht möglich sei.20 Der polnische Staat indes verlangte überdies in jedem Gesuch auf Aussiedlung eines deutschen Kindes dessen augenblickliche Anschrift - eine Forderung, die nur in den seltensten Fällen erfüllt werden konnte.21 Deutlicher und konkreter äußerte sich zu diesem Fragenkomplex bereits am 8. Mai 1946 der in Heilsberg verbliebene Geistliche Studienrat Paul Dudek, indem er angab, allein im Heilsberger Waisenhaus befänden sich 160 deutsche Waisenkinder, von denen 40 nach Deutschland ausreisen dürfen; alle anderen würden nach Polen gebracht, wo sie die deutsche Sprache vergessen werden. Er endete: „Die Kinderfrage ist hier eine eminent politische Angelegenheit und zwingt mich zur größten Vorsicht.“22

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AVE. A 24/165. AVE. Kaller, Korrespondenz mit Bischöfen, Ablage 3. Zum Verhalten Polens in dieser Frage PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal, S. 77 f. = PENKERT, Höhere Mächte, S. 203. AVE. A 16/111.

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Den Schlussstrich schließlich unter dieses bedauerliche Thema zog am 16. Oktober 1947 der polnische Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete, als er verfügte, deutsche Kinder ohne Angehörige dürften nicht mehr ausgesiedelt werden. Abschließend bleibt festzuhalten, dass Bischof Kaller durch seine Aktion manchem deutschen Kind helfen konnte, wie die Dankesbriefe belegen; eine genaue Anzahl der Rückführungen ist allerdings im vorliegenden Briefwechsel nicht erwähnt. Gut 600 Briefe, d. h. also ca. 10 % der Laien-Korrespondenz, befassen sich mit dem heiklen Thema der Entnazifizierung. Erbeten wurden hierbei Leumundszeugnisse des Bischofs, die vor den Spruchkammern befreiende Wirkung haben sollten und wohl auch meistens hatten, so dass der Historiker Justus Fürstenau zurecht davon sprechen durfte, dass die „Persilscheine“ durch die Pfarrgeistlichen ein „wirklich entlastendes Moment bei der Beurteilung von Betroffenen“ darstellten23; um wie viel höher musste da das Zeugnis eines Bischofs eingestuft werden! In dem Briefwechsel finden sich Entlastungsgesuche aus allen gesellschaftlichen Gruppen, denen Bischof Kaller zwar nicht wahllos, aber doch recht großzügig als Seelsorger, der heilen und nicht entzweien wollte, entsprach. Wesentlich erschien ihm ein Kriterium: Wie war die Grundeinstellung des um Fürsprache bittenden Arztes, Juristen, Lehrers, Beamten oder Angestellten zur Kirche während der nationalsozialistischen Zeit? Hatte er, der Bischof, ernsthafte Bedenken oder fehlte die persönliche Kenntnis, musste der Heimatseelsorger eingeschaltet und um eine ergänzende Stellungnahme angegangen werden. Einen „Persilschein“ aus bloßer Gutmütigkeit gab es nicht. So erhielt beispielsweise der ehemalige Bürgermeister von Guttstadt, Cartellieri, „der sich stets entgegenkommend gegenüber der katholischen Kirche gezeigt“24 hatte, was Domherr Thamm, der Ortspfarrer, bescheinigte, seine befreiende Bescheinigung. Ähnlich erging es dem Braunsberger einstigen Chefredakteur der Ermländischen Zeitung Dr. Heider, „der auf absolut katholischem Boden stand.“25 Selbst einem Kfz-Meister, der in Niedersachsen wieder eine Firma eröffnen wollte, bescheinigte Kaller seine integere Haltung zwischen 1933 und 1945, basierend auf dem Wissen, dass dieser Meister entgegen allen Zielen der Partei sowohl den Geistlichen vor Ort als auch ihm bei Firmungsreisen stets als Chauffeur zur Verfügung gestanden hatte.26 Abschließend bleibt festzuhalten, dass Kaller nur mit Vorbehalten – in guter Gesellschaft mit anderen deutschen Bischöfen beider Konfessionen – die Entnazifizierungsmaßnahmen betrachtete. Nicht, dass er ihre Durchführung grundsätzlich anzweifelte; was angezweifelt wurde, war die Art und Weise der Durchführung, wobei nicht nur Oberflächlichkeit, sondern auch Ungerechtigkeit möglich waren, was wiederum keinesfalls der Versöhnung diente.27

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JUSTUS FÜRSTENAU, Entnazifizierung. Berlin 1969, S. 163. AVE. Korrespondenz mit Laien A 2/6 b AVE A 4/17. PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal, S. 173. = PENKERT, Höhere Mächte, S. 261. Ausführlich dazu PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal, S. 182-185 = PENKERT, Höhere Mächte, S. 267 f.

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Nicht zuletzt betrifft ein recht umfangreicher Teil des Briefwechsels zwischen Maximilian Kaller und seinen Priestern, wie insbesondere seinen Diözesanen, die Frage der geschlossenen Ermland-Auswanderung. Zweifellos lag aufgrund der ermländischen Sonderexistenz eine geschlossene Ermlandsiedlung nahe, ein Gedanke, den am 18. Dezember 1945 erstmals auch ein Dr. Basmann aus Mehlsack ansprach und den Bischof Kaller dankbar aufgriff. Doch leider wäre der Plan zu schön, um verwirklicht werden zu können, da es ja kein Siedlungsland gäbe, antwortete er am 3. Januar 1946. Einen Monat später schnitt Dr. Ludwig Hinz, Wormditt, die Idee einer Gründung von Neu-Ermland abermals brieflich an, indem er darauf verwies, nur so könne „Alt-Ermland im Kulturellen, Geistigen und Religiösen“ erhalten bleiben. Erstmals wurde hier auch über die Grenzen Deutschlands hinweggesehen und gesagt, Ermland könnte doch wohl „irgendwo in der Welt“ wiedererstehen. Von nun an folgten bis zu seinem Lebensende im Juli 1947 Kallers vielfältige Bemühungen um eine gemeinschaftliche Auswanderung, der sich auch nichtermländische Ostvertriebene anschließen wollten. Bevorzugtes Ziel war Südamerika, allerdings abhängig von zwei Bedingungen: Ein Aufbruch setzte den Friedensvertrag mit den Siegermächten voraus, da man unter keinen Umständen die Heimat den Siegern „kampflos“ überlassen wollte; und überdies müssten alle Kriegsgefangenen entlassen worden sein.28 Noch Prälat Arthur Kather, der Nachfolger Bischof Kallers, beschäftigte sich ernsthaft mit der Siedlungsfrage bis zum Jahre 1953. Erst dann wurden alle derartigen Überlegungen endgültig beendet, vor allem auch deshalb, weil unterdessen im politischen Raum Nachkriegsdeutschlands neue Tatbestände geschaffen worden waren. Zweifellos liefert auch der Briefwechsel Bischof Kallers mit seinen Priestern im Bereich der vier Besatzungszonen ein anschauliches Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit. Etwa 1.200 Briefe dürften uns einen durchaus lebendigen und eindrucksvollen Blick hinter die Kulissen jener Zeit vermitteln. Im Mai 1944 zählte das ermländische Presbyterium 401 Kleriker, wovon 326 ermländische Weltpriester waren. Ein Jahr später lebten jedoch nur noch 242 dieser Ermlandpriester, und zur Jahresmitte 1946 befanden sich 170 von ihnen – entsprechend der eingangs erwähnten Statistik des Bischofs – in Restdeutschland; gut 70 Geistliche der Diözese hatten also ihren damaligen Aufenthaltsort im polnisch besetzten Ostpreußen, im dortigen sowjetischen Teilbereich oder in alliierter Gefangenschaft. Mit immerhin 159 dieser erreichbaren 170 Seelsorger, d. h., mit 95% seiner ihm zur Verfügung stehenden Priester stand der Bischof in brieflichem Kontakt. Die Wohnorte der Geistlichen lagen über ganz Deutschland verstreut: Über 100 im Westen, Süden oder Südwesten, 33 in der britischen Zone im nordwestdeutschen Raum und 20 in der Ostzone. Generell muss festgestellt werden, dass die Nachkriegs- und Flüchtlingsprobleme der Priester denen der Gläubigen sehr ähnlich waren. Da bestimmte nicht selten die Isolation den Alltag der Seelsorger, augenfällig in einer oft praktizierten Ungleichbehandlung, indem beispielsweise selbst der altgediente Ostpriester fast immer gehaltsmäßig gleichgestellt wurde mit dem hiesigen Neupriester; indem 28

Zur Siedlungsthematik im einzelnen PENKERT, Sie kamen aus der großen Drangsal, S. 187-222 = PENKERT, Höhere Mächte, S. 271-291.

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ihm jeder Aufstieg verwehrt und insbesondere die Übernahme einer Pfarrei nicht gestattet wurde, ja, nicht einmal die feste Anstellung in seiner Gastdiözese war möglich, da er seinem Heimatbistum inkardiniert blieb, so dass jede weitere Lebensplanung entfallen musste. Gründe genug folglich für unüberhörbare Klagen und Anklagen der Geistlichen, worauf der Bischof wiederum immer wieder nur das priesterliche Berufsethos beschwören oder das im Wege stehende Kirchenrecht bemühen konnte, das diesmal tatsächlich in der kirchlichen Ordnung mehr galt als das Evangelium. Natürlich betraf diese erstaunliche „fremdenfeindliche“ Handhabe am stärksten die Priester, die ihren seelsorgerlichen Dienst in einem „stabilen“, d. h. in einem traditionell-katholischen Bistum aufgenommen hatten, während in Diasporabistümern oder -regionen die Lebens- und Arbeitsbedingungen zwar weit herausfordernder, aber die von den meisten gewünschten persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten im Allgemeinen gegeben waren. Selbst das bedrückende Problem der Arbeitslosigkeit traf den einen oder anderen der vertriebenen Priester in den Jahren 1945/46. Kaplan Höpfner zum Beispiel lebte in Norddeutschland und arbeitete, um seinen Unterhalt zu bestreiten, als Holzfäller, weil ihn die Diözese Hildesheim nicht einstellte. Anfang 1946 fuhr er schließlich nach Münster, wo er das Glück hatte, Bischof Graf Galen zu begegnen. Der nahm ihn nicht nur freundschaftlich, sondern wirklich väterlich auf und sandte ihn nach Oelde, einem westfälischen Städtchen, „wo nichts vom Krieg zu sehen wäre“, wie der Kaplan am 9. April 1946 nach Halle schrieb. Weniger Glück dagegen hatte Pfarrer Kurt Fleißner, der sich, wie er am 21. März 1946 mitteilte, bei neun Diözesen beworben hatte, teils sogar im Rahmen einer persönlichen Vorstellung, aber stets ergebnislos. Einmal, so Fleißner, sei er doch wirklich gefragt worden, ob er als Priester weiterarbeiten wolle und einmal habe ihn der Bischof auf seine Einstellungsbitte hin an das staatliche Wohlfahrtsamt verwiesen. Schließlich jedoch erhielt Pfarrer Fleißner nach einer Intervention Bischof Kallers eine Anstellung im Bistum Mainz. In Regensburg passierte Pfarrer Otto Rosenkranz folgendes: Nach acht vergeblichen Versuchen bekam er eine Anstellung, aber leider war diese Stelle vom Generalvikar zweimal angeboten worden, und der andere Bewerber fand sich schneller zur Vorstellung ein. Pfarrer Rosenkranz erbat beim Generalvikar eine Erklärung, die er auch prompt erhielt: Wer zuerst kommt, melkt zuerst! Kuratus Johannes Jordan wurde auf seine Bewerbung hin vom zuständigen Generalvikar kurz und bündig gesagt: „Was sagen denn unsere Leut, wenn ich einem Auswärtigen eine Expositur gebe!“ Eine Antwort übrigens, die sich die Suchenden manchmal anhören mussten.29 Fragen wir abschließend nach den Gründen für ein derartig zurückhaltendes Handeln der Ordinariate, so finden sich in den Priesterbriefen hauptsächlich zwei Argumente, die gegeben wurden: Einmal erwartete man recht bald die Heimkehr zahlreicher junger Geistlicher aus den Gefangenschaften, zum anderen standen jeweils in den Orden eine Reihe heimatverbundener Patres, die vor allem wegen der bestehenden Ausreiseverbote in die Missionen hiesige Betätigungsfelder suchten, zur Verfügung, so dass „Fremdlinge“ nicht benötigt wurden.

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Zu den Anstellungsschwierigkeiten der Ostpriester ausführlich: PENKERT, Auf den letzten Platz gestellt? Münster 1999, S. 178-186 = PENKERT, Höhere Mächte, S. 138-143.

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Nicht zuletzt sei aber ein erfreulicher Sonderfall bei aller diesbezüglichen Bedrückung vermerkt: Pfarrer Bernhard Klein war 1945 in Langenhagen im Eichsfeld untergekommen, allerdings ohne eine Anstellung durch das Hildesheimer Ordinariat. Folglich handelte im Herbst 1945 der Ortspfarrer eigenmächtig, indem er den Ermländer auf eigene Rechnung hin mit einem Monatsgehalt von 175,00 RM anstellte. Pfarrer Klein wirkte somit, wie er am 16. September 1946 Bischof Kaller schrieb, ein Jahr lang im wahrsten Sinne des Wortes als Privatgeistlicher30. Mancherorts erschien auch die Wohnungsfrage als ein schwerwiegendes Problem, denn es herrschte überall Wohnungsnot. Nicht nur, aber vielleicht auch lag hier ein Grund, dass hiesige Kleriker dem fremden „Mitbruder“ die Aufnahme in ihrem Pfarrhaus verweigerten, wie in Zittau, im Münsterland oder in Köln geschehen. Manchmal fehlte eben wirklich der notwendige Wohnraum. In Stade zum Beispiel kampierte Pfarrer Westpfahl monatelang mit diesem oder mit jenem Geistlichen in einem kleinen Zimmer; in Gelsenkirchen dagegen besaß Kaplan Joseph Wronna nicht einmal ein eigenes Zimmer, sondern begnügte sich lange Zeit mit einer Schlafstelle bei einer Familie seiner Gemeinde. Bischof Kaller gegenüber äußerte er sich dazu am 18. Dezember 1945 so: „Bin ja nicht gewohnt, an das Leben zu hohe Ansprüche zu stellen.“ In diesem Falle allerdings verlangte Kaller energisch im Interesse der priesterlichen Existenz eine Änderung der Wohnsituation, die Kaplan Wronna dann auch ab dem Frühjahr 1946 erreichte. Abschließend noch ein Wohnungsschicksal eines ermländischen Priesters: Aufgenommen in einem weiträumigen Pfarrhaus in der Rhön fand sich Pfarrer Justus Preuschoff nach einem längeren Krankenhausaufenthalt buchstäblich auf der Straße wieder, nachdem sein Vorgänger, ein aus der Gefangenschaft heimgekehrter einheimischer Kaplan, das Zimmer leer geräumt hatte und der Pfarrer den Flüchtlingspriester nun nicht mehr haben wollte. Zuflucht in größter Not bot ein hilfsbereiter Mitbruder im benachbarten Steinau.31 Selbstverständlich herrschte auch der Hunger in den Priesterkreisen. Dekan Basner beispielsweise klagte noch 1947 über den allgegenwärtigen Hunger in Leipzig, so dass die Patienten in den Krankenhäusern vornehmlich um ein Stückchen Brot bettelten, und Kaplan Kutschki, tätig in der Lüneburger Heide, wünschte sogar noch 1948 vom Ermlandbüro Nahrungsmittel, weil es im Bistum Hildesheim ja nicht die sogenannte Osnabrücker Pakethilfe gab, eine Aktion Bischof Bernings, der 1946 angeordnet hatte, dass die Pfarrer des wirtschaftlich stabilen Emslandes monatlich an die hungernden Priester in Schleswig-Holstein und in Mecklenburg ein Wurst- und Speckpaket zu schicken hatten. Der abgemagerte Kaplan wollte sich also mit seiner Bitte um Nahrungsmittel ein wenig Zusatzkost besorgen. Zielsetzung dieser kurzen Darstellung war, auf dem Hintergrund des Briefwechsels vieler Laien und der überlebenden Ermlandpriester, also aller ostpreußischer Katholiken, mit Bischof Kaller aufzuzeigen, wie ihre Alltagssituation nach Flucht oder Vertreibung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in Restdeutschland aussah bzw. wie sie sie beurteilten, denn gerade Briefe dürften ein insgesamt ungeschöntes Zeitbild entwerfen, wobei berücksichtigt werden muss, dass jene, 30 31

Ebd. S. 197 = PENKERT, Höhere Mächte, S. 150. Ebd. S. 185 f. = PENKERT, Höhere Mächte, S. 143.

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die vorrangig positive Erfahrungen machen durften, vermutlich seltener zur Feder griffen. Es wurde deutlich, dass beiden Gruppen durchaus austauschbare Erfahrungen begegneten. Sind die Briefe der Laien oft geprägt von Einzelanliegen, so finden sich bei den Seelsorgern auch nicht selten Überlegungen zu ihrem persönlichem Schicksal, so dass aufgrund ihrer überschaubaren Zahl statistisch errechnet werden kann, wie sie mit dem Vertreibungsereignis umgegangen sind und wie sie es gewertet haben. Erinnern wir uns: Es lag die Korrespondenz von 159 ermländischen Klerikern mit ihrem Bischof vor. Etwa 80 von diesen – d. h. die Hälfte – empfanden zum einen ihre jetzige Lage als bedrückend, zum anderen aber ebenfalls als eine tragbare Herausforderung; ein weiteres Viertel dagegen wollte die augenblickliche Situation beherzt aufgreifen, um eine neue, bessere Welt aufzubauen, während lediglich ein letztes Viertel ernsthaft mit dem aufgezwungenen Schicksal haderte. Wenn nun eine gewisse Austauschbarkeit zwischen Laien und Priestern in ihren Erfahrungen besteht, so könnte dieses statistische Kleriker-Ergebnis auch ein Ergebnis für die andere große Gruppe der Ermländer sein, und das hieße doch, diese hätten insgesamt ebenso mit ähnlichen Prozentzahlen die Katastrophe gemeistert.32

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Ebd. S. 207 und S. 214 f. = PENKERT, Höhere Mächte, S. 156 und S. 160 f.

Impulse Maximilian Kallers für die Vertriebenenseelsorge und Erfahrungen an der Basis Das Fallbeispiel des Oldenburger Landes MICHAEL HIRSCHFELD Maximilian Kaller und Oldenburg? Welchen Bezug besitzt nun gerade dieses ehemals selbständige Land zwischen der Nordsee und den Dammer Bergen, politisch seit 1946 ein Teil Niedersachsens, kirchlich seit 1831 ein eigenes Generalvikariat, das Bischöflich Münstersche Offizialat innerhalb des Bistums Münster, zu dem letzten deutschen Bischof von Ermland? Sicherlich: Als der gebürtige Oberschlesier Kaller bei der Vertriebenenwallfahrt nach Werl am 29. Juni 1947 ein Pontifikalamt zelebrierte, waren unter den 15.000 Pilgern auch in Oldenburg gelandete Ostvertriebene eigens angereist, so beispielsweise 60 Gläubige aus Ganderkesee (Kreis Oldenburg) mit ihrem schlesischen Geistlichen Helmut Richter.1 Dessen Mitbruder Gerhard Schuster richtete zur selben Zeit im Namen von 600 Schlesiern, Ermländern und Danzigern, die sich zu einer Wallfahrtsandacht in der evangelisch-lutherischen Kirche von Bockhorn (Kreis Friesland) versammelt hatten, eine Grußadresse an Kaller und die in Werl versammelten Pilger.2 Die 40 ostvertriebenen Priester welche in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Offizialatsbezirk Oldenburg gelangten, gehörten hingegen fast ausschließlich dem Klerus der Erzdiözese Breslau an, einige wenige waren in Prag (Grafschaft Glatz) bzw. Olmütz (Branitz) inkardiniert. Und die Ermland-Siedlung in CloppenburgEmstekerfeld, in deren Kontext eine jährliche Ermländer-Wallfahrt in den südoldenburgischen Marienwallfahrtsort Bethen begründet wurde, entstand erst Ende der 1960er Jahre.3 Oldenburg ist vielmehr als Fallbeispiel für ein Aufnahmegebiet der Vertriebenen herausgegriffen worden, das neben seiner räumlichen Überschaubarkeit zwei sehr unterschiedliche Situationen für die Neuankömmlinge bot.4 Den durchweg 1

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HELMUT RICHTER, Chronik des katholischen Pfarrektorats Ganderkesee. Bd. I. 1945-1969. S. 27, Maschinenschrift. Archiv St. Hedwig Ganderkesee. MICHAEL HIRSCHFELD, „Gleich eine herzlichere Familiengemeinschaft.“ St. Hedwig in Ganderkesee als Beispiel für den Aufbau einer Vertriebenengemeinde im Bistum Münster. In: Gelebter Glaube – Hoffen auf Heimat. Katholische Vertriebene im Bistum Münster. Hrsg. von MICHAEL HIRSCHFELD und MARKUS TRAUTMANN. Münster 1999, S. 127-152, hier S. 143. Zu den Vertriebenenwallfahrten MICHAEL HIRSCHFELD, Vertriebenenwallfahrten in Westfalen und ihre Bedeutung für die Integration der Vertriebenen. In: Deutsche Ostflüchtlinge und Ostvertriebene in Westfalen und Lippe nach 1945. Hrsg. von PAUL LEIDINGER. Münster 2011, S. 294 – 313. Pfr. Gerhard Schuster, Bockhorn, an Kaller vom 30.6.1947. Offizialatsarchiv Vechta [künftig zit. OAV] B-53-13. 25 Jahre Ermlandsiedlung in Cloppenburg. Hrsg. von HILDEGARD KUHNIGK. Cloppenburg 1992. Ausführlich hierzu MICHAEL HIRSCHFELD, Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 33). Köln 2002, sowie als Kurzfassung DERS., Auswirkungen regionaler Integrationsforschung auf die Kirchliche Zeitgeschichte. Das Fallbeispiel des Oldenburger Landes. In: Vertriebene Katholiken – Impulse für Umbrüche in Kirche und

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protestantischen Norden mit den Kreisen Ammerland, Friesland, OldenburgLand und Wesermarsch sowie den katholischen Süden mit den Kreisen Cloppenburg und Vechta. Inmitten des Nordteils dieser agrarischen Region fanden sich schließlich in den kreisfreien Städten Oldenburg, Wilhelmshaven und Delmenhorst – darüber hinaus noch in den Kreisstädten – im Zuge der Industrialisierung entstandene Diasporagemeinden. Zweifelsohne wäre es interessant, an dieser Stelle noch eine Vielzahl von statistischen Angaben über die kirchliche Situation in Oldenburg im Kontext der Vertriebenenaufnahme anzufügen. Nicht zuletzt weil die Ereignisgeschichte schon anderweitig aufgearbeitet worden ist, kann auf einen solchen faktenorientierten Ansatz verzichtet werden.5 Alternativ wird hier ein phänomenologischer Akzent gewählt. Konkret bedeutet dies, dass zunächst kurz nach den Impulsen von Maximilian Kaller für die Vertriebenenseelsorge allgemein gefragt werden soll. Welche Intentionen verband der Päpstliche Beauftragte für die Heimatvertriebenen mit der Pastoral an seinen ostdeutschen Landsleuten? Wie beurteilte er die Zukunft der Vertriebenen? Und welche Resonanz erzielte Kaller schließlich mit seinen Bemühungen bei den einheimischen Ordinarien, hier exemplarisch in Münster bzw. Vechta? Von diesen Fragen ausgehend wird der Fokus auf die Basis gelegt, also gemäß dem Vortragstitel das Milieu betrachtet. Milieu ist in den letzten Jahrzehnten im Gefolge einer die ereignisgeschichtliche Forschung vielfach ablösenden alltags- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft zu einem Schlüsselbegriff geworden.6 Er geht vom sozialen und kulturellen Umfeld des einzelnen Menschen aus, in diesem Fall vom katholischen Wert- und Normensystem, das – zusammen mit dem von Ritualen bestimmten Alltag – dem einzelnen Katholiken „von der Wiege bis zur Bahre“7 Richtung und Halt vermitteln soll. Neben der kollektiven Sinndeutung spielt die Abgrenzung von anderen Gruppen oder Milieus, sei es im konfessionellen oder politischen Bereich, eine wesentliche Rolle für die Existenz und Lebensfähigkeit eines Milieus. Die Minderheitensituation der Katholiken im preußisch-protestantisch dominierten Kaiserreich und den meisten seiner Einzelstaaten, ihre kulturelle und wirtschaftliche Inferiorität waren wesentliche Faktoren für die Ausprägung eines Sonderbewusstseins im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Migrationsströme im Laufe der Industrialisierung, welche Katholiken auch in bislang homogen protestantische Regionen brachten – man denke nur an Großstädte wie Berlin – verstärkten die innerkirchlichen Anstrengungen, durch Kirchbauten, Schul- und Krankenhausgründungen und nicht zuletzt durch ein weit verzweigtes Vereinswesen eine Vernetzung in der Diaspora zu erreichen. Vom Zeitalter der Milieubildung in der katholischen Diaspora im 19. Jahrhundert, die den „entwurzelten und in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stehenden Gesellschaft? Hrsg. v. RAINER BENDEL (BEITRÄGE ZU THEOLOGIE, KIRCHE UND GESELL20. JAHRHUNDERT, 5). Münster 2005, S. 65-87. DERS., Die katholische Kirche und die Vertriebenen. In: „Fern vom Paradies – aber voller Hoffnung“. Vertriebene werden neue Bürger im Oldenburger Land. Hrsg. von HANS-ULRICH MINKE u. a. (OLDENBURGER FORSCHUNGEN, NF, 26). Oldenburg 2009, S. 359-375. Vgl. die in Anm. 4 genannten Titel. Ferner: Die Vertriebenen im Spiegel statistischer Erhebungen. Bearb. von MARKUS TRAUTMANN. In: Gelebter Glaube (wie Anm. 1), S. 433-454. Grundlegend für die Forschung über das katholische Milieu ist noch immer der Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte, Münster: Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe. In: WESTFÄLISCHE FORSCHUNGEN 43 (1993) S. 588-645. MICHAEL KLÖCKER, Katholisch – von der Wiege bis zur Bahre. Eine Lebensmacht im Zerfall? München 1991. SCHAFT IM

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Arbeitern eine neue Heimat bot“8, ist der gedankliche Weg zur Integration der Ostvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht weit: Vor welche Probleme stellte sie den einzelnen katholischen Vertriebenen, den Priester wie den Laien, in seinem jeweiligen konfessionell unterschiedlichen Aufnahmeort im Fallbeispiel Oldenburg? Wie wurde mit den an der Basis auftretenden Problemen von den zuständigen Stellen in der kirchlichen Hierarchie, also dem Bischöflich Münsterschen Offizialat in Vechta bzw. dem Bischof von Münster umgegangen? Die Beantwortung dieser Fragen steht im Zentrum dieses Beitrags. Als Quellenbasis wurde auf die in den Archiven in großer Zahl zu findenden Beschwerdebriefe zurückgegriffen, die Heimatvertriebene an ihren Seelsorger, an das Offizialat oder den Bischof von Münster gerichtet haben. Zwar liegt in dieser Beschränkung ein Problem, das schon aus dem konkreten Erleben heraus in der Münsteraner Bistumszeitung „Kirche und Leben“ angesprochen wurde. Dort schrieb der Schriftleiter der oldenburgischen Ausgabe Vikar Wilhelm Gillmann 1949, es seien „so manche Bilder von dem Bauerntum Südoldenburgs gezeichnet mit nur dunklen Strichen, schwarz in schwarz. Diese Bilder sind nicht richtig“9, denn die Negativerfahrungen würden grundsätzlich die positiven Dinge im Leben überlagern. Behält man im Hinterkopf, dass eben gerade dort, wo Auseinandersetzungen im Raum standen, zu Feder und Papier gegriffen wurde, relativiert sich die Sorge um eine Einseitigkeit des Quellenkorpus zudem schnell. Zweifelsohne zeigen die Briefwechsel nämlich die Reibepunkte, die wichtigen Konfliktfelder zwischen einheimischen und vertriebenen Katholiken. Nach dem Konzept seines Hauses befragt, antwortete der Direktor des Bonner „Haus der Geschichte“, Hans Walter Hütter, – so war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen: „Wir erzählen Geschichten, die in ihrer Gesamtheit ,die Geschichte‘ ausmachen“.10 In diesem Kontext verstehen sich auch die im Folgenden aufgearbeiteten Geschichten der katholischen Heimatvertriebenen in Oldenburg als Schlüssel zum Verständnis des Gesamtproblems. Um deren Basiserfahrungen aber, und nicht um karitative bzw. pastorale Konzepte seitens der kirchlichen Hierarchie in Vechta und Münster, soll es hier gehen. Abschließend wird dann der Versuch unternommen, die individuellen Erfahrungen auch dahingehend zu generalisieren und zu qualifizieren, dass sie mit den allgemeinen Leitlinien Kallers für die Vertriebenenseelsorge abgeglichen werden können.

1. Leitlinien Maximilian Kallers für die Vertriebenenseelsorge und deren Resonanz im Bistum Münster „Unsere Heimat ist uns verloren. Das ist hart. Aber an harten Tatsachen dürfen wir nicht vorübergehen. […] Es ist der Wille Gottes.“11 Mit diesen drastischen 8 9

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ROLF SCHÄFER, Kirche und Stadt. In: Geschichte in der Region. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Schmidt. Hrsg. von DIETER BROSIUS u. a. Hannover 1993, S. 317-330, hier S. 328. Leistungen einer Pfarrei für die Patengemeinde! Anmerkung der Schriftleitung. In: KIRCHE UND LEBEN (Oldenburg) vom 30.10.1949. Verfasser war wohl der damalige Schriftleiter Vikar Wilhelm Gillmann. Was suchen Sie in Heiligendamm, Herr Hütter? In: FAZ Nr. 191 v. 18.8.2007. Hirtenbrief Kallers vom September 1945. In: Bischof Kaller spricht. Hirtenbriefe des Flüchtlingsbischofs Maximilian Kaller. Gesammelt und hrsg. von Pfarrer PAUL KEWITSCH. Lippstadt 1951, S. 5-8, hier S. 5. Leicht gekürzt auch in: Schicksal – Vertreibung. Aufbruch aus dem Glau-

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Worten richtete sich Maximilian Kaller in seinem ersten Nachkriegshirtenbrief an seine Bistumsangehörigen. Was er im September 1945 aus Halle/Saale schrieb, kann als erste Leitlinie für die ihm im Juni 1946 übertragene Aufgabe als päpstlicher Sonderbeauftragter für die Heimatvertriebenen angesehen werden. Der an Kaller ergehende Auftrag Papst Pius XII., als Vermittler zwischen einheimischen Ordinarien und Vertriebenen zu fungieren12, fand durch diesen Hirtenbrief gleichsam eine Vorwegnahme. Er ermunterte die ihm Anvertrauten in ihren Vertreibungsorten heimisch zu werden, „fest verbunden mit den Kirchen und Priestern eurer Gastdiözesen“. Zwar gelte es, auch die alte Heimat im Herzen zu behalten, die angestammte Kultur und das heimatliche Brauchtum zu bewahren, gleichzeitig sei es aber das Gebot der Stunde, „neue Heimat zu suchen, zu finden, zu bilden“. Zu diesem Zweck ermunterte er seine Diözesanen eindringlich zur Annahme von Siedlungsstellen in ihren Vertreibungsorten. Dieser vehemente Appell ist nicht zuletzt aus einem im September 1946 nunmehr an alle Heimatvertriebenen gerichteten Hirtenbrief Kallers ablesbar, in dem er seine Adressaten sogar aufforderte, ihre noch in den Vertreibungsgebieten zurückgebliebenen Angehörigen schnellstmöglich in den Westen zu holen.13 In Anlehnung an den 1. Korintherbrief hatte er Heimat als den Ort, „wo ihr Liebe schenkt und findet“14, definiert. „Liebe, die geduldig ist, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, die sich nicht erbittern lässt.“ Dass durch die Not erzwungene Zusammenleben dürfe nicht zu Verbitterung führen, sondern müsse vom Gebot der Gerechtigkeit ebenso wie von christlicher Liebe getragen werden, wie er bereits in einem Referat auf der Fuldaer Bischofskonferenz im August 1946 dargelegt hatte. Gleichzeitig suchte der inzwischen nach Wiedenbrück in Westfalen umgesiedelte Bischof von Ermland bei seinen westdeutschen Amtsbrüdern darum nach, eine Vereinheitlichung und Zentralisierung der karitativen Hilfsmaßnahmen für die Vertriebenen zu gewährleisten.15 So wichtig ihm die karitative Hilfsleistung für die Ostvertriebenen erschien, so entschieden wandte Kaller sich gegen eine Reduzierung und Marginalisierung der Vertriebenenproblematik auf die Frage nach der ausreichenden Ernährung und Unterbringung.16 Vielmehr sollte in jedem westdeutschen Bistum ein Diözesanflüchtlingsseelsorger eingesetzt werden, der zum einen die Sorgen und Nöte der Flüchtlinge und Vertriebenen in den Blick nehmen und zum anderen als deren Sprachrohr beim Ortsbischof dienen sollte. Daher wandte sich Kaller im Januar 1947 auch an Kapitularvikar Franz Vorwerk in Münster mit der Bitte, „falls es noch nicht geschehen sein sollte, in Ihrem Diözesanbereich einen Diözesanflüchtlingsseelsorger zu

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ben. Dokumente und Selbstzeugnisse vom religiösen, geistigen und kulturellen Ringen. Hrsg. von FRANZ LORENZ. Köln 1980, S. 34-37. Pius XII. an Kaller vom 24.6.1946. Faksimile bei LORENZ (wie Anm. 11), S. 30-33. Hirtenbrief Kallers vom September 1946. In: Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik 1945-1949. Bearb. von WOLFGANG LÖHR (Dokumente deutscher Bischöfe, 1). 2. Aufl. Würzburg 1986, S. 161-164. Hier datiert vom 23.1.1947, gemäß der Verfügung des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln. Ebd. S. 163, unter Bezugnahme auf 1 Kor 13,5f. Hier auch das folgende Zitat. DARIUSZ KALINOWSKI, Bischof Maximilian Kaller und die Fragen des deutschen Ostens in den Jahren 1945 bis 1947. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 49 (1999) S. 175-215, hier S. 202. ALFRED PENKERT, Auf den letzten Platz gestellt? Die Eingliederung der geflüchteten und vertriebenen Priester des Bistums Ermland in die Diözesen der vier Besatzungszonen Deutschlands in den Jahren 1945-1947. Münster 1999, S. 42-44.

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ernennen.“17 Gleichzeitig brachte er für diese Aufgabe den vormaligen Caritasdirektor der Freien Prälatur Schneidemühl, Wilhelm Volkmann, sowie den aus Recklinghausen stammenden, aber in Breslau zum Priester geweihten Religionslehrer Dr. Paulus Tillmann18 ins Gespräch. Beide Priester hätten sich „schon in der Heimat durch besonderen Eifer und ihre Fähigkeiten ausgezeichnet.“ Wenn Kallers Adressat darauf antwortete, in Münster sei „schon seit langem“ ein Diözesanvertriebenenseelsorger in der Person von Wilhelm Volkmann eingesetzt, so war dies natürlich weit übertrieben. Schließlich hatte erst im Juni 1946, ein halbes Jahr zuvor, die Ernennung Volkmanns stattgefunden.19 Vor allem aber lässt sich aus dieser Reaktion exemplarisch die mangelnde Kommunikation zwischen dem päpstlichen Sonderbeauftragten und den Ortsordinarien ablesen. Empfand man es in Münster ganz offensichtlich als Einmischung in interne Angelegenheiten, dass Kaller in die Vertriebenenseelsorge betreffenden Personalfragen mitreden wollte, so wurde dort erst recht mit Misstrauen registriert, dass der Sonderbeauftragte kurz darauf eine gerechtere Verteilung des Vertriebenenklerus gemäß den Bedürfnissen der Vertriebenen als pastorales Gebot der Stunde anmahnte und eine Liste mit unter 40jährigen, somit als diasporafähig angesehenen Priestern beilegte.20 Obgleich die Fuldaer Bischofskonferenz bereits im August 1946 dieses Vorgehen ausdrücklich sanktioniert hatte21, weil deutlich war, dass ein Großteil des Vertriebenenklerus in den mehrheitlich katholischen Regionen West- und Süddeutschlands eine neue Aufgabe suchte, weigerten sich das Generalvikariat in Münster bzw. das Offizialat in Vechta Vertriebenenpriester freizustellen, und zwar ganz schlicht mit dem Verweis auf den eigenen Priestermangel.22 Auf der ersten Arbeitstagung der Diözesanvertriebenenseelsorger in Königstein/Taunus im März 1947 wurden die Aufgaben des päpstlichen Sonderbeauftragten noch einmal dahingehend zusammengefasst, dass Maximilian Kaller 1. für die Erfassung und Verteilung des ostdeutschen Klerus zu sorgen habe, 2. sich um den Priesternachwuchs aus Vertriebenenfamilien zu kümmern habe – in diesem Kontext wurden Konvikt und Hochschule für ostdeutsche Theologen in Königstein/Taunus initiiert – und 3. die Heimatvertriebenen insbesondere in den Diasporagebieten zu betreuen habe.23 In einem bei seinem Rombesuch im November 1946 Papst Pius XII. überreichten Memorandum hatte Kaller zudem den internationalen Aspekt seines Amtes bezüglich der Ausreise noch in polnisch bzw. sowjetisch besetztem Gebiet verbliebener Deutscher, aber auch hinsichtlich

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Kaller an Vorwerk vom 19.1.1947. Bistumsarchiv Münster [künftig zitiert: BAM]. Neues Archiv 101-40. Hier auch das folgende Zitat. Hierzu auch HIRSCHFELD, Katholisches Milieu und Vertriebene (wie Anm. 4), S. 86 f. Zu Tillmann: ALFRED MUCHE, Paulus Tillmann (1906-1984). In: Schlesische Kirche in Lebensbildern. Hrsg. von JOHANNES GRÖGER. Sigmaringen 1992, S. 279-283. DERS., Sie nannten ihn „Don Bosco von Recklinghausen“. Zum Leben und Wirken von Dr. Paulus Tillmann. In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 44 (1986) S. 251-273. JOHANNES GRÖGER, „An die Seelen dieser Menschen herankommen“. Formen und Entwicklungen katholischer Vertriebenenseelsorge. In: Gelebter Glaube (wie Anm. 1), S. 19-70, hier S. 40 f. Kaller an die Ordinarien vom 22.1.1947. BAM. Neues Archiv 101-40. PENKERT (wie Anm. 16), S. 44. HIRSCHFELD, Katholisches Milieu und Vertriebene (wie Anm. 4), S. 450-457. Protokoll der Arbeitstagung der Diözesanflüchtlingsseelsorger vom 25./26.3.1947. BAM. Neues Archiv 101-40.

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seines Kontakts zum Vatikan hervorgehoben.24 Eine Umkehrung der Vertriebenenströme schien für ihn also – auch hier wird dies wieder deutlich – ausgeschlossen. Dahingehend beschwor er in seiner Predigt bei der eingangs schon erwähnten Werler Schlesierwallfahrt am 29. Juni 1947 auch seine Zuhörer, ihr Schicksal als großen Segen zu begreifen.25 Kallers besonderer Sympathie erfreute sich angesichts dieses Aufgabenkatalogs im Bistum Münster das Engagement des bereits erwähnten Dr. Paulus Tillmann, der in Recklinghausen ein Internat für heimatvertriebene Schüler errichtete, das Bischof Kaller noch im Juni 1947 besuchte. Vor dem Hintergrund des dort persönlich gewonnenen Eindrucks erscheint es bezeichnend, dass der päpstliche Sonderbeauftragte gerade den letzten, vor seinem Tod verfassten Brief nach Münster richtete, mit der Bitte, das Bistum möge den Aufbau dieses Schülerheims nach Kräften unterstützen.26

2. Konfliktfälle zwischen Einheimischen und Vertriebenen in Oldenburg als Fallbeispiele Die Mitternachtsmesse am Weihnachtsfest und die Liedauswahl Im Vorfeld des Weihnachtsfestes 1946 bat der Pfarrer von Wildeshausen beim Bischöflichen Offizialat in Vechta darum, am Heiligen Abend eine Mitternachtsmesse feiern zu dürfen.27 Er begründete dies zwar damit, dass die Kirche schon im Vorjahr angesichts der zahlreichen Flüchtlinge bei der üblichen Christmesse um 6 Uhr morgens überfüllt gewesen sei. Der angestrebte zusätzliche Gottesdienst war jedoch im Wesentlichen ein Wunsch der Ostvertriebenen. In Schlesien war es nämlich im Gegensatz zu Oldenburg und Westfalen üblich, dass die erste Weihnachtsmesse bereits um Mitternacht zelebriert wurde. Außerdem wies die schlesische Christmesse ein spezifisches Liedgut auf, wie etwa das Transeamus usque Bethlehem, das von den Gläubigen als elementarer Bestandteil des kirchlichen Brauchtums empfunden wurde. Umso unverständlicher erschien es vielen von ihnen, diese Tradition in ihren Aufnahmegemeinden nicht vorzufinden. Hatte der Bischöfliche Offizial Dr. Johannes Pohlschneider die Bitte des Pfarrers von Wildeshausen, aber auch anderer Pfarrer in Nordoldenburg, 1946 unter ausdrücklichem Verweis auf die Zeitverhältnisse aufgegriffen, so zeigte sich sein zwei Jahre darauf ins Amt gekommener Nachfolger Offizial Heinrich Grafenhorst wesentlich reservierter, ja geradezu rigide abwehrend hinsichtlich der Mitternachtsmesse. Diesmal ging die Initiative vom Dekanatsjugendführer des Dekanates Cloppenburg aus.28 Der junge Mann bat den Offizial im Advent 1949 in Löningen die Christmesse um Mitternacht mit Blick auf die dortigen Vertriebenen zu gestatten, worauf Grafenhorst dagegen hielt, dass „die Tradition in unserem Lan24 25 26

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KALINOWSKI (wie Anm. 15), S. 203. Auszugsweise zitiert ebd. S. 208. Vgl. Kaller an Vorwerk vom 3.7.1947 mit der ergänzenden Notiz seines Sekretärs Gerhard Fittkau: „Diese Unterschrift hat der H.H. Bischof in der letzten halben Stunde seines Lebens gesetzt.“ BAM. Neues Archiv 101-40. Pfr. Anton Fortmann, Wildeshausen, an Offizialat vom 12.12.1946. OAV A-2-57. Vgl. Dekanatsjugendführer Rudolf Schoenke an Grafenhorst vom 12.12.1949. Ebd. Hier auch das im Folgenden zitierte Antwortschreiben des Offizials vom 15.12.1949.

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de nicht für die Mitternachtsmesse“ spreche. Die Ausnahmeregelungen in einigen nordoldenburgischen Gemeinden – hier war offenbar auch Wildeshausen gemeint – hätten erwiesen, dass diese Weihnachtsmessen rein folkloristisch verstanden worden seien. Nun lässt sich nicht von der Hand weisen, dass nicht wenige Vertriebene, wie auch Einheimische, eben nur zu Weihnachten die Messe besuchten. Die Integrationskraft der Liturgie als wiederkehrendes Bindeglied zwischen Kirche und dem ihr im Alltag entfremdeten modernen Menschen aber, der ein Stück Nostalgie suchte, hatte der Offizial augenscheinlich nicht erkannt. Vielleicht ordnete er die Bitte aus Löningen in eine ähnliche Kategorie ein wie einige Jahre später Bischof Michael Keller die unzähligen Briefe eines in der Stadt Oldenburg ansässig gewordenen Vertriebenen, von denen er sich über fast ein Jahrzehnt geradezu „bombardiert“29 fühlte. Stets ging es dabei um das in der Neuauflage des Münsteraner Gebet- und Gesangbuchs „Laudate“ von 1950 fehlende ostdeutsche Liedgut. Dass dieses Grundanliegen aber keineswegs die Marotte eines versponnenen Individualisten, sondern weit verbreitet war, zeigt eine ähnliche, einmalig geäußerte Klage eines in Blexen an der Wesermündung gelandeten Schlesiers: Der zuständige Seelsorger, ein Südoldenburger, vernachlässige das heimatliche Liedgut, womit den Vertriebenen eine „Kraftquelle […] als letztes gerettetes Heimatgut“30 entzogen werde, schrieb er der kirchlichen Behörde in Vechta. Damit war das Problem auf den Punkt gebracht: hinter Liedern wie dem – ja eigentlich aus dem österreichischen Kulturraum stammenden – „Hier liegt vor deiner Majestät“ oder „Wohin soll ich mich wenden“ verbarg sich eine Chiffre für die auf unabsehbare Zeit verlorene Heimat.

Konkurrenz zwischen ordentlicher Pfarrseelsorge und außerordentlicher Vertriebenenseelsorge In der Industriestadt Delmenhorst, wo sich Ende des 19. Jahrhunderts eine zahlenmäßig starke Diasporagemeinde gebildet hatte, begrüßte der Pfarrer die „lieben katholischen Flüchtlinge“31 in der Fastenzeit 1946 zunächst sogar mit einem trotz der Papierknappheit eigens hektographierten Handzettel. Darauf wurde mitfühlend das Schicksal der Neuankömmlinge bedauert und ihnen versichert, dass die Delmenhorster Gemeinde „sie in herzlicher Liebe aufnimmt“. Die Vertriebenen wurden des Weiteren zum Besuch der Messen eingeladen sowie auf das zur Vertriebenenbetreuung eingerichtete Caritassekretariat hingewiesen. Nachdem bald etwa die Hälfte der Gläubigen in Delmenhorst aus Vertriebenen bestand, kam es im September 1947 zu einer erheblichen Konfrontation. Den Ausgangspunkt bildete eine Predigt des aus der Grafschaft Glatz stammenden Jugendseelsorgers Hubertus Günther.32 Der ehemalige Franziskanerpater hatte in 29 30 31 32

So Keller an Grafenhorst am 18.4.1956. OAV. A-9-22. Der hier enthaltene Briefwechsel mit Winkler umfasst die Jahre 1955 bis 1963. Paul Klenner, Blexen, an Offizialat o. D. (ca. 1949). OAV. A-2-13. So die Anrede in dem Handzettel des Kath. Pfarramts Delmenhorst vom 17.3.1946. Pfarrarchiv St. Marien Delmenhorst, Akte Ostvertriebene Katholiken. Hier auch das folgende Zitat. Zu Günther MICHAEL HIRSCHFELD, Hubertus Günther (1907-1994). In: Schlesische Kirche in Lebensbildern. Bd. 7. Hrsg. von MICHAEL HIRSCHFELD. Münster 2006, S. 82-86.

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Lingen/Ems eine „Seelsorgestelle für die Ausgewiesenen des deutschen Ostens“ gegründet und betreute von dort aus durch Predigten und Vorträge seine Grafschafter Landsleute in der gesamten britischen Besatzungszone. Nachdem nun auch die Fuldaer Bischofskonferenz auf ihrer Jahresversammlung 1947 den Vertriebenen das Recht zugestanden hatte, alle vier bis sechs Wochen spezifische Sondergottesdienste zu erhalten, reiste Günther mit um so größerer Legitimation von Ort zu Ort. In Delmenhorst nun hatte er – so warf ihm Offizial Pohlschneider vor – „die Pfarrkirche, die bisher in all den schweren Jahren für die Gemeinde ein Ort der Ruhe und der religiösen Gemeinschaft gewesen [war], … tief herabgewürdigt“. Was genau geschehen war, lässt sich nur aus mehreren, bei der kirchlichen Behörde in Vechta eingegangenen Beschwerden rekonstruieren.33 Da ist in polemischer Weise von den „Methoden eines Goebbels“ und von der „Atmosphäre einer KPD-Versammlung“ die Rede. Das waren erhebliche Vorwürfe, denen der Offizial dahingehend Glauben schenkte, dass er Kaplan Günther ohne vorherige Anhörung ein Predigtverbot für den gesamten Offizialatsbezirk Oldenburg erteilte. Der schlesische Kaplan hatte sich wohl wirklich etwas im Ton vergriffen. In dem Bemühen, kursierende Gerüchte zu widerlegen, nach denen die Ostdeutschen eine besondere Schuld am verlorenen Krieg und an den Verbrechen des NS-Regimes treffe, hatte er seinen Zuhörern erklärt, dass die ostdeutschen Regimenter im Krieg die besten Erfolge verzeichnet hätten und im Übrigen die meisten NS-Größen, wie etwa Goebbels, aus dem Westen des Deutschen Reiches stammten. So genau interessierte das aber in Vechta augenscheinlich nicht und auch der Hinweis Günthers, er sei in der NS-Zeit wegen seiner Jugendarbeit verfolgt worden, verfehlte seine Wirkung. Für Dr. Pohlschneider ging es bei dieser Maßregelung seines ostvertriebenen Mitbruders darum, ein Exempel zu statuieren. Gegenüber Günthers früherem Vorgesetzten, dem Glatzer Großdechanten Franz Monse, jedenfalls machte der Offizial deutlich, dass es „Aufgabe sowohl der einheimischen wie der ostvertriebenen Priester ist, alles zu tun, was in ihren Kräften steht, um den Frieden in den Gemeinden zu fördern, nicht aber noch weitere Verwirrung zu schaffen.“34 Dass sich hinter der „Verwirrung“ des Bischöflichen Offizials nicht nur die Predigt Günthers versteckte, sondern dass er die Vertriebenenseelsorge per se als Kompetenzproblem ansah, liegt auf der Hand. Offizial Heinrich Grafenhorst bestätigte jedenfalls diesen Eindruck, wenn er noch als Pfarrer und Dechant an St. Peter in Oldenburg den „im engeren Stadtbezirk lebenden 18.000 katholischen Flüchtlingen ein merkwürdiges Gepräge“35 attestierte. Es sei „sehr schwer, Ordnung hineinzubringen und Ordnung zu halten“. Als probates Gegenmittel erschien ihm eine stärkere Bündelung aller divergierenden Kräfte in der Gemeinde, kurz gesagt also eine autoritärere Führung durch den einheimischen Klerus.

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Vgl. die drei Briefe einheimischer Delmenhorster Katholiken an das Offizialat vom 15. bzw. 16.9.1947. OAV. A-2-13. Pohlschneider an Monse vom 1.10.1947. Ebd. Grafenhorst, in: Pfarrchronik St. Peter Oldenburg, Eintrag 1948. Zu Grafenhorst (1906-1970): MICHAEL HIRSCHFELD, Art. Grafenhorst, Heinrich. In: BIOGRAPHISCH-BIBLIOGRAPHISCHES KIRCHENLEXIKON. 22 (2003) Sp. 456-460. HELMUT HINXLAGE, Heinrich Grafenhorst, in: Der katholische Klerus im Oldenburger Land. Ein Handbuch. Hrsg. von WILLI BAUMANN. Münster 2006, S. 302-304.

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Bei dem Stein des Anstoßes, dem Vorwurf der nationalsozialistischen Gesinnung der Vertriebenen, handelte es sich jedoch um einen landläufig oft verwendeten Topos zur Herabsetzung der Vertriebenen. Sogar der Dinklager Dechant Gottfried Plump habe die Neuankömmlinge aus dem Osten, als „die Nazis, die an allem Schuld sind“36, beschimpft. Mit dieser Aussage und mit dem Verweis auf Plumps soziale Kälte gegenüber den Vertriebenen denunzierte ihn ein dort ansässig gewordener Schlesier bei der kirchlichen Behörde in Vechta. Insbesondere beklagte sich dieser Mann mehrfach in Vechta darüber, dass ihm Plump beim Erwerb einer Siedlerstelle aus Kirchenland immer wieder neue Steine in den Weg lege. Offenbar sperrte sich der oldenburgische Priester nachhaltig gegen eine endgültige Verwurzelung der Vertriebenen, auch wenn diese der eigenen Konfession angehörten. Der aus der Erzdiözese Breslau kommende Pfarrer Georg Fitzner fand zunächst beim Pfarrer von Damme, Heinrich Menslage, Unterkunft. „Aber schon nach ein paar Tagen wurde es diesem Herrn, der vom Kriege nichts gespürt hatte, lästig, dass ich bei ihm war“37, erinnerte sich Fitzner später in seinen Memoiren. Auch Offizial Pohlschneider sei ihm gegenüber sehr kritisch gewesen, weil er – wie in Schlesien üblich – schon so jung Pfarrer geworden sei. In Oldenburg hingegen würden erst diejenigen Pfarrer, „wenn sie bald ihr silbernes Priesterjubiläum feiern oder anfangen, mit dem Kopfe zu wackeln“. Nun gehörten sowohl Menslage als auch Dechant Plump und Offizial Pohlschneider zu jener Mehrheit des einheimischen Klerus, welche sich klar gegen das NS-Gedankengut gestellt hatte.38 Möglicherweise waren sie von den Auseinandersetzungen im Dritten Reich so nachhaltig traumatisiert, dass sie ihr Feindbild jetzt auf die Ostvertriebenen übertrugen. Immerhin waren die meisten NS-Eliten ja auch von außen und ungefragt in das Oldenburger Münsterland gekommen. Eine gewisse Parallele zu den Vertriebenen ließ sich nicht verkennen, wenngleich dies gerade nicht die in nicht wenigen Fällen hartherzige Haltung von oldenburgischen Geistlichen entschuldigen lässt. Immerhin war das Oldenburger Münsterland sicherlich nicht nur für den oberschlesischen Pfarrer Hugo Jendrzejczyk „aus der Nazizeit ein Begriff! Hier hatte doch der Kreuzkampf stattgefunden, den die Oldenburger Katholiken siegreich bestanden hatten.“39 Obgleich auch für ihn die Eingewöhnung schwierig war, machte er doch gerade mit Pfarrer Franz Sommer in Bösel, durch dessen Haltung der Kreuzkampf seinen Ausgang genommen hatte40, sehr positive Erfahrungen. Ausgerechnet in dessen Pfarrhaus fand Jendrzejczyk „sehr liebe und gast36 37

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Bruno Peter, Dinklage, an Offizialat vom 10.3.1950. OAV. A-2-13. Hier auch das folgende Zitat. GEORG FITZNER, Über die Zeit meiner Verbannung vom 24. Januar 1946 an bis heute. Unveröffentlichtes Manuskript, teilweise erhalten im OAV. Hier auch das folgende Zitat. Dazu auch MICHAEL HIRSCHFELD, Mit den Vertriebenen kamen Geistliche. Erinnerungen schlesischer Priester an ihre Aufnahme im Oldenburger Land nach dem Zweiten Weltkrieg. In: OLDENBURGER JAHRBUCH 108 (2008) S. 183-198. RUDOLF WILLENBORG, Heinrich Menslage (1875-1963). In: Oldenburgs Priester unter NSTerror 1932-1945. Herrschaftsalltag in Milieu und Diaspora. Hrsg. von MICHAEL HIRSCHFELD. Münster 2006, S. 366-381. SUSANNE JIANFAR, MICHAEL HIRSCHFELD, Gottfried Plump (18831970). Ebd. S. 503-515. KLEMENS AUGUST RECKER, Johannes Pohlschneider (1899-1981). Ebd. S. 516-529. HUGO JENDRZEJCZYK, 1936-1976. Aus 40 Priesterjahren. Vechta 1976, S. 28. Hier auch die folgenden Zitate. RUDOLF WILLENBORG, Franz Sommer (1875-1954). In: Oldenburgs Priester (wie Anm. 38), S. 592-605.

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liche Aufnahme“. Die galt nicht nur einem Geistlichen unter Mitbrüdern. Dass sich auch Laien in ihrer neuen Heimat mitunter von Angehörigen ihrer Kirche gut aufgenommen fühlten, zeigt die heute in Meersburg am Bodensee lebende Schriftstellerin Monika Taubitz. Als Kind gelangte sie 1946 mit ihrer Familie aus Eisersdorf in der Grafschaft Glatz in die oldenburgische Diaspora, genauer gesagt nach Nordenham. In ihrem autobiographischen Roman Treibgut stellte sie dem dort seit 1940 tätigen Pfarrer Johannes Hillen, einem Südoldenburger, ein überaus positives Zeugnis aus. „Hier spürten sich alle angenommen, auch von ihm. Er versuchte wenigstens hier, an diesem Ort, die Fremdheit mit Vertrautem zu durchsetzen.“41 Gerade in der flachen Marschlandschaft an der Nordseeküste mit ihrer schon stark säkularisierten protestantischen Bevölkerung mussten sich schlesische Gebirgsbewohner doppelt fremd vorkommen. Ein „Zwangs-Evakuierter“ – wie er sich selbst bezeichnete – aus Wallisfurth im Kreis Glatz beschwerte sich im Juni 1946 beim Bischöflichen Generalvikariat in Münster über seinen Aufnahmeort Jaderkreuzmoor im Kreis Wesermarsch mit der Bemerkung, er sei in „eine ungesunde Gegend, sumpfiges Moor“42 verschlagen worden. Zudem seien die evangelischen Einheimischen vollkommen unkirchlich. „Die lachen, wenn wir zur Kirche gehen“, schrieb er nach Münster. Von Kapitularvikar Franz Vorwerk erhielt der „Zwangs-Evakuierte“ die Antwort, die Bischöfe hätten „nicht die Macht, die Zustände von sich aus zu ändern.“43 Es ließe sich auch nicht sagen, ob die Schlesier bald wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten, doch man „hoffe zu Gott, dass die Tage der Prüfung bald zu Ende gehen“ würden. Die Vertrautheit und das Geborgensein, – so vielgestaltig diese Gefühle auch definiert werden mögen – sind ein wichtiger Gradmesser für Konflikte im katholischen Milieu. Mangelte es an Einfühlungsvermögen und Bindekräften der Einheimischen, versuchten sich die Vertriebenen durch eigene Organisationen zu separieren. Eine solche Möglichkeit boten die von dem aus der Grafschaft Glatz stammenden Geistlichen Rat Georg Goebel44 initiierten „Interessengemeinschaften der Ostvertriebenen“. Diese IGOs, wie sie sich kurz nannten, wurden vielerorts nach Aufhebung des Koalitionsverbotes der Vertriebenen 1948 gegründet und nahmen sowohl politische als auch kulturelle Funktionen wahr. Vor allem waren sie überkonfessionell, was mancherorts in Nordoldenburg ostdeutsche Priester nicht daran hinderte, sich in deren Vorstand wählen zu lassen. Im homogen katholischen Südoldenburg hatten die IGOs hingegen keinen leichten Stand. Dies belegt ein Konflikt um „Tanzlustbarkeiten“ in Strücklingen zwischen der örtlichen IGO und dem Vikar Franz Sommer (1915-1966). Mitte Januar 1949 hatte sich Theodor Kampen, Vorsitzender der IGO-Ortsvereinigung in dieser nördlichsten Gemeinde des Saterlands, bei Bischof Keller in Münster über den Vikar beschwert, der in einer Sonntagspredigt im Advent 1948 „äußerst kränken-

41

42 43 44

MONIKA TAUBITZ, Treibgut. Stuttgart 1983, S. 152. Zu Taubitz MARKUS TRAUTMANN, Christliche Kunstschaffende aus dem deutschen Osten. In: Gelebter Glaube (wie Anm. 1), S. 413-431, hier S. 429-431. Franz Fleischhauer, Jaderkreuzmoor, an Generalvikariat Münster vom 18.6.1946. BAM. Neues Archiv 101-40. Hier auch das folgende Zitat. Kapitularvikar Vorwerk an Fleischhauer vom 22.6.1946. Ebd. Hier auch das folgende Zitat. Zu Goebel: PETER GROßPIETSCH, Georg Goebel (1900-1965). In: Schlesische Kirche in Lebensbildern (wie Anm. 18), S. 207-210. HIRSCHFELD, Katholisches Milieu und Vertriebene (wie Anm. 4), S. 96-99.

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de Äußerungen gegen die Vertreter der Flüchtlinge getan“45 habe. Der daraufhin vom Offizialat um Klarstellung gebetene Sommer verwehrte sich „mit starkem Staunen“ gegen die Vorwürfe und verwies auf sein Predigtmanuskript, das ihm gestatte, „jederzeit […] nicht nur meine Korrektheit in dieser Predigt, sondern auch mein besonderes Entgegenkommen gegen die Flüchtlinge gerade auch in der berührten Angelegenheit“ zu rechtfertigen. Während Offizial Grafenhorst nun gemeint hatte, die Sache auf sich beruhen lassen zu können, da es sich „nach diesem Bericht […] also wohl um ein Versehen handeln“46 dürfte, insistierte der IGO-Vorsitzende Kampen auf den Vorwürfen gegen Vikar Sommer und rollte die Vorgänge detailliert auf. Was war also im Advent 1948 in Strücklingen genau vorgefallen? Schenkt man der Beschreibung des IGO-Vorstands Glauben, so hatte die Vertriebenenorganisation für die Kinder der Ostvertriebenen eine Weihnachts-feier mit Verteilung von Geschenken geplant, an der die Mädchengruppe des Vikars mitwirken wollte.47 Zudem hatte Sommer versprochen, im Vorfeld auch in der katholischen Gemeinde eine Sammlung zu veranstalten, um die Kinder auch bescheren zu können. Als aber die IGO mit Blick auf die zahlreichen evangelischen Vertriebenen vorschlug, alle eingehenden Spenden ohne Berücksichtigung der Konfession zu verteilen, insistierte Sommer auf der Bevorzugung katholischer Vertriebener. Weil die IGO diesem Anliegen nicht stattgab und die Feier ohne Beteiligung des Vikars durchführen wollte, trat der Geistliche gleichsam die Flucht nach vorn an. Er beschuldigte den IGO-Vorstand von der Kanzel herab, aus glaubensfremden Menschen zu bestehen, die eine Zusammenarbeit mit der Kirche ablehnten. Hatte der Vikar entgegen seiner Beteuerung gegenüber seiner vorgesetzten Behörde die Attacke gegen die Repräsentanten der Vertriebenen aus dem Stegreif gehalten, so sorgte er im März 1949 durch eine nunmehr abgelesene Erklärung für erneute Furore. Stein des Anstoßes war jetzt ein von der IGO veranstalteter „Bunter Abend“ in der Karnevalszeit. Hierbei war von Mädchen eine Ballettvorführung gegeben worden, die in den Augen des einheimischen Priesters „im Interesse des Fortbestandes katholischer Sitte und Kulturauffassung eine gründliche und grundsätzliche […] Behandlung auf der Kanzel erforderte.“48 Der vom Offizialat befragte Pfarrer der Gemeinde August Meyerratken redete sich zunächst damit heraus, dass er während der inkriminierten Predigt seines Vikars zwar in der Sakristei gewesen sei, dort jedoch wegen der undeutlichen Aussprache Sommers wenig verstanden habe.49 Schließlich hielt er sich aber mit deutlicher persönlicher Kritik an seinem Vikar nicht zurück: Eine Aussprache mit Sommer in seelsorglichen Belangen finde nicht statt und wenn, dann wisse dieser alles besser. Wenn die Vertriebenen Sommers Versetzung erzwingen wollten, so könne er diesem Anliegen nicht widersprechen. In der Retrospektive lässt sich nicht mehr klären, ob die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen dem südoldenburgischen Geistlichen und den Ostvertriebenen „den Nullpunkt“50 erreicht hatten, tatsächlich ausschlaggebend für dessen noch im August 1949 erfolgte Versetzung war. 45 46 47 48 49 50

Kampen an Keller vom 15.1.1949. OAV. A-3-7. Grafenhorst an IGO Stücklingen vom 2.2.1949. Ebd. IGO an Offizialat vom 15.2.1949. Ebd. Hier auch die folgenden Vorgänge. Sommer an Offizialat vom 1.4.1949. Ebd. Pfr. August Meyerratken, Strücklingen, an Offizialat vom 30.3.1949. Ebd. So Kampen an Offizialat vom 16.7.1949. Ebd. Mit diesem Schreiben schließt der Vorgang in der Akte.

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Der Vorfall in Strücklingen zeigt ganz deutlich die mit dem Vertriebenenzustrom einhergehende Aufweichung des Primats der Kirche im Dorf. Als die Vertriebenenorganisation sich nicht den priesterlichen Weisungen fügen wollte, wurden ihre Vertreter coram publico abgekanzelt. Umgekehrt empfand es die IGO als Zumutung, sich „von einem jüngeren einheimischen Geistlichen bevormunden zu lassen“. Dieser wiederum sah in „allzu vielen leichtlebigen Großstädter(n) unter den in der saterländischen Gemeinde lebenden Vertriebenen Vorkämpfer der Moderne und schürte die Angst vor einer „dem Münsterlande aus dem Osten unmittelbar drohende(n) Gefahr“51, die aus weltlichen Vergnügungen unter Aufweichung der Konfessionsgrenzen bestand. Der erste Vertriebenenbischof Maximilian Kaller erlebte diese und andere Vorfälle nicht mehr. Sein Nachfolger als geistlicher Oberhirte der Ermländer, Kapitularvikar Arthur Kather (1883-1957), schaltete sich im Februar 1952 in einen Fall menschenunwürdiger Unterbringung in Südoldenburg ein.52 Wie er Bischof Michael Keller persönlich mitteilte, hause ein ermländischer Gutsbesitzer mit seiner Familie sieben Jahre nach der Flucht noch immer in einer „Elendsbude“, einem Hühnerstall mit Pappdach in Amerbusch bei Vechta unter menschenunwürdigen Bedingungen. Obwohl er mit dem Problem vertraut sei, habe der zuständige Pfarrer von Lutten, Heinrich Völkerding, der treu katholischen Familie nicht geholfen und zudem deren Ansinnen, in das leer stehende alte Pfarrhaus in Lutten einzuziehen, abgelehnt. Völkerding, vom Bischöflichen Offizialat um Stellungnahme ersucht, rechtfertigte seine Ignoranz mit dem Hinweis, dass die staatlichen Behörden, nicht aber die Kirche für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig seien.53 Außerdem hätten andere Flüchtlinge ja mittlerweile auch eine adäquate Wohnung gefunden. Seiner Ansicht nach habe die betreffende Familie sich eben gar nicht recht bemüht, was der Pfarrer mit den lakonischen Worten kommentierte: „Gebratene Tauben fliegen auch heute noch keinem in den Hals“. Derselbe Pfarrer Völkerding hatte nach eigenen Angaben 7.000 DM für den Bau eines Hauses für Flüchtlinge aus persönlich Erspartem geopfert und ermunterte zudem öffentlich seine Gläubigen zu Spenden für die Vertriebenen. Wie alle anderen Pfarreien im Oldenburger Münsterland hatte nämlich auch Lutten vom Landes-Caritasverband bzw. vom Offizialat die Patenschaft über eine der neu entstandenen Vertriebenengemeinden in Nordoldenburg zugewiesen erhalten. Dabei handelte es sich um das Nordseebad Schillig im Kreis Friesland, in dem Völkerding 1951 einen aus Lutter Spendengeldern zur Kapelle umgebauten Lokschuppen einweihen durfte.54 An diesem Beispiel wird – unabhängig von verschiedenen Begehrlichkeiten – ein Stück Doppelzüngigkeit deutlich. In der unmittelbaren Nachbarschaft übersahen viele Einheimische die Not der Vertriebenen, in der Ferne, speziell in der Diaspora Nordoldenburgs halfen sie aber nach Kräften, die materielle Versorgung ihrer Glaubensgeschwister zu sichern sowie ihnen ein eigenes Gotteshaus zu errichten. Alles in allem erwies sich der oldenburgische Klerus jedoch nur als Spiegelbild einer in sich ruhenden agrarisch geprägten Gesellschaft in einer bisher konfessionell homogenen Region, in der sich eine Vielzahl von Konflikten, auch und gera51 52 53 54

So Sommer an Offizialat vom 1.4.1949 Ebd. Vgl. Kather an Keller vom 11.2.1952. OAV. A-9-74. Vgl. Pfr. Heinrich Völkerding, Lutten, an Offizialat vom 29.2.1952. Ebd. Festschrift 50 Jahre Katholische Kirchengemeinde Wangerland, o. O. und o. J. [1996], S. 17. KIRCHE UND LEBEN (Oldenburg) vom 29.7.1951.

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de unter Laien abspielten. So ist auch die Äußerung eines Ratsherrn einer oldenburgischen Gemeinde zu erklären, dass man „das Flüchtlingsgesindel zusammentreiben und mit Maschinengewehren zusammenschießen“55 müsse. Sicherlich lässt sich eine solche oder ähnliche Aussage mit dem Begriff der Stammtischmentalität leicht abtun. Allerdings findet sich die eben zitierte Äußerung gedruckt, und zwar in einer US-amerikanischen Zeitung für katholische Auswanderer, denen am Beispiel Oldenburg die Moral verkauft wurde, dass „die Deutschen gegeneinander viel weniger brüderlich sind, als die meisten anderen Völker.“ Vor der Folie dieser Erfahrungen mutet die Mahnung Maximilian Kallers nach einer „neuen Ordnung“56 der Beheimatung der Vertriebenen in der Nachkriegsgesellschaft als ein nur schwer umsetzbares Idealbild an. Das Konzept des päpstlichen Sonderbeauftragten für die katholischen Heimatvertriebenen mag aus pastoraler Sicht heraus hilfreich gewesen sein. In der Retrospektive wird man zudem den Weitblick des ersten Vertriebenenbischofs hinsichtlich einer raschen Integration der ostdeutschen Katholiken im Westen Deutschlands nicht genug hervorheben können. Am Fallbeispiel des Oldenburger Landes zeigt sich sehr deutlich, was für andere Aufnahmeregionen cum grano salis sicherlich ebenso zu konstatieren ist, dass nämlich die Probleme beim Aufeinandertreffen von Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen in der Praxis viel gravierender waren. Hatte schon Bischof Kaller Schwierigkeiten, die westdeutschen Bischöfe von der Notwendigkeit seiner Aufgaben als Vertriebenenbischof zu überzeugen, so trat die Diskrepanz zwischen seinen Leitlinien und der Realität an der Basis viel vehementer zu Tage. Gerade das durch die gemeinsame Abwehr gegen den Nationalsozialismus innerlich gestärkte katholische Milieu des Oldenburger Münsterlandes zeigte eine starke Abwehr gegenüber den Vertriebenen, auch wenn sie der eigenen Konfession angehörten. Statt Variationen der Volksfrömmigkeit und der Liturgie als Bereicherung anzusehen, wurden sie strikt unterbunden. Die vom päpstlichen Sonderbeauftragten angeratene Schaffung von Siedlungsstellen wurde vielerorts hinausgezögert. Eine gesonderte Vertriebenenseelsorge wurde vom einheimischen Klerus allzu oft als Einmischung in überkommene Kompetenzen und Strukturen verstanden. Dahinter stand die Angst der einheimischen Hierarchie vor einer Segregation des Milieus. Mentalitätsunterschiede und divergierende religiöskulturelle Prägungen, wie sie gerade zwischen der eher nüchternen norddeutschen Bevölkerung und den eher vom süddeutsch-österreichischen Temperament geprägten Schlesiern festzustellen waren, wurden aber nicht ausdiskutiert, sondern durch oft harsche Reaktionen der einheimischen Hierarchie ohne hinreichende Sensibilität für die Folgen in den Köpfen der Betroffenen beendet. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen seien eben „auch Hirtenbriefe und Konferenzen nutzlos“57, hatte der ermländische Kapitularvikar Kather in dem aufgezeigten Unterbringungsfall in Amerbusch bei Vechta fast resigniert an Bischof Keller geschrieben. Genau dieses Problem erkannte auch Pater Callistus Siemer, ein aus Südoldenburg stammender Dominikaner, und hielt es seinen Landsleuten in einem viel gelesenen Heimatkalender vor Augen. Das Schicksal der Heimatlosigkeit, 55 56 57

Zitiert nach ST. JOSEFS-BLATT (St. Benedict, Oregon/USA) vom 19.6.1950. Hier auch das folgende Zitat. Hirtenbrief Kallers vom September 1946. In: Hirtenbriefe (wie Anm. 13), S. 163. Auch in: Bischof Kaller spricht (wie Anm. 11), S. 17. Kather an Bischof Keller vom 11.2.1952. OAV. A-9-74.

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so heißt es dort, bedeute für die Einheimischen sowohl eine psychologische als auch eine ethische und eine religiöse Herausforderung. Es gelte ein sprichwörtlich „heißes Eisen“58 anzupacken, wolle man die Probleme in den Griff bekommen. Wie Maximilian Kaller dieses „heiße Eisen“ angepackt hätte, wäre er nicht viel zu früh verstorben, mit welchen Methoden der päpstliche Sonderbeauftragte seine Leitlinien der Versöhnung und Integration bei gleichzeitiger innerlicher Verbundenheit mit der ostdeutschen Heimat in die Herzen der Menschen an der Basis eingepflanzt hätte, wäre zweifellos spannend zu eruieren. Dem nüchternen Historiker bleibt nur der Rückzug auf gesicherte Quellen, und wenn diese einen für sich sprechenden, kritischen Einblick in die Realität des katholischen Milieus der ersten Nachkriegsjahre vermittelt haben, wäre die Intention dieses Beitrags erreicht.

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Vgl. CALLISTUS SIEMER, Das heiße Eisen. In: HEIMATKALENDER FÜR DAS OLDENBURGER MÜNSTERLAND 1954, S. 34-37.

‚Flüchtlingsforschung’. Anmerkungen und Thesen MATHIAS BEER ‚Flucht und Vertreibung’: Bedeutungsfelder ‚Flucht und Vertreibung’ haben sich in der deutschen Sprache zu einer stehenden Verbindung entwickelt.1 Sie suggeriert das unzutreffende Bild eines im Wesentlichen gleichförmigen, zeitlich und auch räumlich überschaubaren Geschehens. Der Inhalt von ‚Flucht und Vertreibung’ umfasst im Deutschen weit mehr als die Summe der beiden Begriffe und deren Bedeutung im engeren Sinn. Er steht für ein wichtiges, wesentlich vom Zweiten Weltkrieg geprägtes Kapitel der neueren deutschen und europäischen Geschichte. ‚Flucht und Vertreibung’ weist mehrere eng miteinander verwobene Bedeutungsfelder auf. Erst zusammen genommen erschließen diese Bedeutungsfelder die Chiffre ‚Flucht und Vertreibung’ in all ihren Dimensionen. ‚Flucht und Vertreibung’ ist erstens der Inbegriff für die von einem hohen Maß an Gewalt, Willkür und Zwang begleitete Verschiebung von mehr als zwölf Millionen deutschen Reichsbürgern und Angehörigen deutscher Minderheiten aus Ostmittel- und Südosteuropa in der letzten und blutigsten Phase des Zweiten Weltkriegs und im ersten halben Jahrzehnt nach Kriegsende. Aufgrund von Gewaltanwendung, schlechter Versorgung, Entkräftung, ungünstigen Witterungsverhältnissen sowie der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse kamen bei ‚Flucht und Vertreibung’ mehrere hunderttausend Menschen ums Leben. Überlebende und Opfer mit eingeschlossen, steht ‚Flucht und Vertreibung’ für den zahlenmäßig größten Teil der europäischen Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs.2 1

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Mit freundlicher Genehmigung des LIT-Verlags unveränderter Nachdruck des Beitrags, der zuerst unter dem Titel „Ergebnisse der ‚Flüchtlingsforschung’ zum deutschen Südwesten. Anmerkungen und Thesen“ erschienen ist in: Die kirchliche Integration der Vertriebenen im Westen nach 1945. Hrsg. von RAINER BENDEL und ABRAHAM KUSTERMANN (BEITRÄGE ZU THEOLOGIE, KIRCHE UND GESELLSCHAFT IM 20. JAHRHUNDERT, 19). Berlin 2010, S. 197-211. Mit Blick auf die bewusst thesenhaften Ausführungen des Beitrags und die Zielgruppe des Bandes ist der Vortragstext, der der Präsentation bei der Tagung zu Grunde lag, die von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Vertriebenenorganisationen „Heimatvertriebene im Südwesten: Kirchliche Integration – Gesellschaftliche Auswirkungen“ in Weingarten am 17. und 18. November 2007 veranstaltet wurde, im Wesentlichen beibehalten worden. Anmerkungen beschränken sich daher auf ein Mindestmaß und führen nur die wesentliche Literatur an, die ihrerseits den Zugang zu weiteren Literaturhinweisen bietet. Zu der in der Forschung und der Öffentlichkeit bis in die Gegenwart kontroversen Diskussion über die „richtigen“ Zahlen vgl. GERHARD REICHLING, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Teil 1: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940-1985. Bonn 1986. Teil 2: 40 Jahre Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1989, und insbesondere RÜDIGER OVERMANS, „Amtlich und wissenschaftlich erarbeitet”. Zur Diskussion über die Verluste während Flucht und Vertreibung der Deutschen aus der ČSR. In: Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen aus der Tschechoslowakei 1938 – 1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Hrsg. von DETLEF BRANDES. Essen 1999, S.149-177.

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Die Chiffre ‚Flucht und Vertreibung’ vereinigt zweitens eine große Formenvielfalt an Bevölkerungsbewegungen, die auch innerhalb eines überschaubaren Gebietes gleichzeitig stattfanden und sich nicht selten gegenseitig bedingten. Zudem erfolgten sie zeitgleich mit einer ganzen Reihe anderer kriegsbedingter Migrationen. Mit Umsiedlungen, Evakuierungen, Flucht, Rückkehrbewegungen, Deportationen, Ausweisungen, Abschiebungen, „wilden“ Vertreibungen und Transfers sind nur die wichtigsten genannt. Diese unterschiedlichen Formen von Zwangswanderung, die ‚Flucht und Vertreibung’ in sich vereinigt, erwiesen sich nachträglich oft als der Anfang einer mehrere Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre dauernden Odyssee. Sie lassen sich keineswegs immer klar voneinander abgrenzen. Zudem sind die Übergänge zwischen den einzelnen Migrationsformen nicht selten fließend.3 ‚Flucht und Vertreibung’ steht drittens für einen Prozess mit großer geographischer und zeitlicher Spannweite. Diese Zwangswanderung betraf Deutschland in einer doppelten Rolle. Es war, sowohl bezogen auf die Ostprovinzen des Deutschen Reiches als auch die Siedlungsgebiete der deutschen Minderheit in Ostmitteleuropa, einerseits das Ausgangsgebiet für ‚Flucht und Vertreibung’. Andererseits bildeten die aus der bedingungslosen Kapitulation hervorgegangenen Besatzungszonen und dann die beiden deutschen Staaten das Zielgebiet von ‚Flucht und Vertreibung’. Die schon damit verbundene regionale und lokale Vielfalt erreichte angesichts der von ‚Flucht und Vertreibung’ betroffenen deutschen Minderheiten außerhalb der Reichsgrenzen europäische Dimensionen: Deutsche aus Polen, aus der Sowjetunion, aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien, Rumänien und Ungarn, ohne dass damit die Aufzählung vollständig wäre. Bezieht man die Deportationen4 Reichs- und Volksdeutscher zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion sowie die außereuropäischen Zielgebiete5 der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge mit ein, so werden die globalen Ausmaße von ‚Flucht und Vertreibung’ sichtbar. Viertens umfasst ‚Flucht und Vertreibung’ Millionen von Lebensgeschichten mit unterschiedlichen biographischen Hintergründen, die wesentlich von Zwangsmigrationen und deren Folgen geprägt worden sind.6 Für die von ‚Flucht und Vertreibung’ Betroffenen gehören die Erlebnisse auf der Flucht, bei der Evakuierung, während der Ausweisung und Umsiedlung zu den einschneidendsten, nicht selten traumatischen Erfahrungen ihres Lebens: Das Herausgerissenwerden aus vertrauten Verhältnissen und Beziehungen, die Trennung von Kindern und Eltern, die Ungewissheit, ob man die Familienangehörigen je wieder finden würde, der Verlust von Verwandten, die Entrechtung und der Verlust von Haus und 3

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MARK MAZOWER, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Berlin 2000. NORMAN M. NAIMARK, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in the 20th Century. London 2001. Deutsch unter dem Titel: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004. Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von MATHIAS BEER. 2. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Tübingen 2007. Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa. Völkerrecht, Konzeptionen, Praxis (1938-1950). Hrsg. von RALPH MELLVILLE, JIŘÍ PEŠEK und CLAUS SCHARF. Mainz 2007. MATHIAS BEER, Deutsche Deportierte aus Ostmittel- und Südosteuropa in der UdSSR seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von KLAUS J. BADE. Paderborn u. a. 2007, S. 465-470. JOHANNES-DIETER STEINERT, Migration und Politik. Westdeutschland, Europa, Übersee. Osnabrück 1995. MICHAEL VON ENGELHARDT, Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Biographieverläufe von Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs. München 2001.

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Hof, Vergewaltigung und Tod, Hunger, Entbehrungen, Angst und Schrecken. Diese Erfahrungen haben zugleich tiefe alters- und geschlechtsspezifische Spuren in den Biografien hinterlassen. Ein wesentliches Bedeutungsfeld von ‚Flucht und Vertreibung’ sind fünftens die Folgen der Zwangsmigration für die Zielgebiete, also den Prozess der Aufnahme, der Begegnung mit den Altbürgern sowie der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in den vier Besatzungszonen und dann den beiden deutschen Staaten. Der von erheblichen Spannungen gekennzeichnete, sich über mehrere Generationen erstreckende Prozess des Akzeptiert- und Heimischwerdens wirkte sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus: Wirtschaft, Politik, Soziales, Kultur und Kirchen. Der sich im Rahmen einer Konfliktgemeinschaft vollziehende Eingliederungsprozess hat die Flüchtlinge und Vertriebenen selbst und auch die Aufnahmegesellschaften grundlegend und nachhaltig verändert.7 Eng verbunden, sowohl mit den Auswirkungen für die vier Besatzungszonen, sowie für die beiden deutschen Staaten, als auch mit den individuellen Erfahrungen ist sechstens ein weiteres Bedeutungsfeld von ‚Flucht und Vertreibung’ zu sehen: Die breite und kontroverse Auseinandersetzung mit der deutschen Zwangsmigration am Ende des Zweiten Weltkriegs und ihren Folgen. Diese ist im Kontext der vom Kalten Krieg bestimmten europäischen Nachkriegsgeschichte zu sehen und ist davon wesentlich beeinflusst worden. Ob in den Medien, in der Literatur, in der Wissenschaft oder in der Politik, durchzieht sie die deutschen Nachkriegsgeschichten bis in die Gegenwart – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – wie ein roter Faden.8 Jüngstes Beispiel dafür sind die Diskussionen über eine angemessene Verankerung von ‚Flucht und Vertreibung’ im deutschen kulturellen Gedächtnis.9 Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen finden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Deutungen von ‚Flucht und Vertreibung’. All diese Bedeutungsfelder vereinigt das Begriffspaar ‚Flucht und Vertreibung’ in sich. Es führt die Breite und die Vielschichtigkeit des komplexen Themas vor Augen und unterstreicht zugleich die Notwendigkeit, bei Untersuchungen zu ‚Flucht und Vertreibung’ je nach gewählter Fragestellung, zwischen diesen Bedeutungsfeldern zu unterscheiden.

Forschungsüberblick Der folgende Forschungsüberblick, der sich nur auf die großen Entwicklungslinien konzentriert, unterliegt einer doppelten, sowohl inhaltlichen wie regionalen 7

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Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. Hrsg. von DIERK HOFFMANN (VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE, SONDERNUMMER). München 2000. ANDREAS KOSSERT, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen nach 1945. Berlin 2008. BERND FAULENBACH, Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits der Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutschland. In: AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 51-52 (2002) S. 44-54. MATHIAS BEER, ‚Flucht und Vertreibung’. Eine Streitgeschichte. In: Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989. Hrsg. von PETER HASLINGER (VERÖFFENTLICHUNGEN DES COLLEGIUM CAROLINUM, 108). München 2008, S. 261-277. TIM VÖLKERING, Flucht und Vertreibung im Museum. Zwei aktuelle Ausstellungen und ihre geschichtlichen Hintergründe im Vergleich. Berlin 2008.

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Einschränkung. Von den dargestellten, eng miteinander verflochtenen Bedeutungsfeldern hat der Beitrag lediglich eines, nämlich den Eingliederungsprozess der Flüchtlinge und Vertriebenen im Blick. Dieser wiederum ist geographisch auf den deutschen Südwesten fokussiert, also im Wesentlichen auf das Gebiet, das seit 1952 das neue Bundesland Baden-Württemberg bildet.10 Der geraffte Überblick zeichnet die wesentlichen, sich überschneidenden Phasen der schon mehr als ein halbes Jahrhundert langen Forschungsgeschichte zu dem Themenkomplex nach, umreißt ihre jeweiligen Merkmale und geht vor diesem Hintergrund vergleichend auf einige der Besonderheiten ein, die den Eingliederungsprozess der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten charakterisieren. Diese Spezifika sind, um nur einige der Faktoren zu nennen, die die landespezifischen Merkmale des Aufnahme- und Eingliederungsprozesses im deutschen Südwesten bestimmten, in der Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge und Vertriebenen, deren Herkunft, den unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und konfessionellen Verhältnissen in den einzelnen Regionen Südwestdeutschlands sowie den besatzungspolitischen Verhältnissen bis zur Gründung des Landes BadenWürttemberg zu sehen. Letztere sind mit der Zahlreihe zwei, drei, vier kurz und prägnant beschrieben. Der deutsche Südwesten war auf zwei Besatzungszonen aufgeteilt mit einer jeweils spezifischen und sich deutlich unterscheidenden amerikanischen und französischen Flüchtlingspolitik. Es entstanden drei Länder – Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern – und es gab mit der württembergischen und badischen Flüchtlingsverwaltung in WürttembergBaden insgesamt vier Flüchtlingsverwaltungen bis zur Gründung des Südweststaates. Zwar gehörte der deutsche Südwesten nicht zu den Hauptaufnahmegebieten der Flüchtlinge und Vertriebenen. Dennoch wurden hier 1961 über 1,2 Millionen Vertriebene und rund 415.000 Flüchtlinge gezählt.11 Zusammen genommen machten Sie 20,9 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Damit war zu diesem Zeitpunkt jeder fünfte Bewohner des Landes Flüchtling, Vertriebener oder ein Nachkomme aus diesen Gruppen. Den größten Anteil daran hatten Vertriebene aus der Tschechoslowakei gefolgt von solchen aus Südosteuropa und hier insbesondere Ungarn und Jugoslawien. Die im Laufe der Zeit entstandene umfangreiche deutsche und internationale Literatur zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen, für die sich der Begriff ‚Flüchtlingsforschung’ eingebürgert hat, ist bibliographisch im Wesentlichen erfasst.12 Sie lässt sich in Anlehnung an Hido Jolles13 in solche von, für und

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Geschichte von Baden-Württemberg 1952-2002. Hrsg. von THOMAS SCHNABEL. Stuttgart, Berlin, Köln 2001. GERHARD BORAWSKI, Vertriebene und Flüchtlinge 1950 und 1961. In: Historischer Atlas von Baden-Württemberg. Hrsg. von der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Karte XII, 6 , Erläuterungen. Stuttgart 1982. Zur Begriffsgeschichte vgl. MATHIAS BEER, Flüchtlinge – Ausgewiesene – Neubürger – Heimatvertriebene. Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Deutschland nach 1945, begriffsgeschichtlich betrachtet. In: Migration und Integration. Hrsg. von MATHIAS BEER, MARTIN KINTZINGER und MARITA KRAUSS. Stuttgart 1997, S. 145-167. GERTRUD KRALLERT-SATTLER, Kommentierte Bibliographie zum Flüchtlings- und Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und der Schweiz. Wien 1989. HIDDO M. JOLLES, Zur Soziologie der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Köln, Berlin 1965.

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über Flüchtlinge und Vertriebene einteilen. Zur letztgenannten Gruppe gehört die im engeren Sinn wissenschaftliche Literatur, die hier im Mittelpunkt steht.14 Die erste Phase der Forschung erstreckt sich von der zweiten Hälfte der 1940er bis zum Beginn der 1960er Jahre. In dieser Zeit wurden nicht zuletzt durch massive staatliche Förderung die Grundlagen dessen gelegt, wofür die Bezeichnung ‚Flüchtlingsforschung’ in der Bundesrepublik steht. Dabei handelt es sich nicht um ein einheitliches wissenschaftliches System, sondern um einen Sammelbegriff, der die Forschung unterschiedlicher Fächer zur Thematik ‚Flüchtlinge und Vertriebene’ – Volkskunde, Demographie, Sprachwissenschaft, Soziologie, Geographie, Geschichtswissenschaft – zusammenfasst. Neben Umsiedlung, Flucht und Vertreibung, wie zum Beispiel das größte zeitgeschichtliche Forschungsvorhaben in der frühen Bundesrepublik „Dokumentation der Vertreibung der deutschen aus Ost-Mitteleuropa“15 veranschaulicht, bildete die Erforschung des Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik und den einzelnen Bundesländern den Schwerpunkt dieser ersten Phase der Forschungsgeschichte. Sie weist in den sie tragenden Wissenschaftlern, den Themen und der Methodik deutliche Verbindungslinien über 1945 zurück auf. Sie war stark regionalgeschichtlich geprägt, wurde von der Demographie, Geographie, Soziologie und Volkskunde getragen und erfreute sich staatlicher Unterstützung. Einschlägige Untersuchungen im und zum deutschen Südwesten erschienen in dieser ersten Forschungsphase in großer Zahl. Der deutsche Südwesten partizipierte an dieser Phase der Forschung als Forschungsobjekt und war zudem neben anderen Einrichtungen mit einer Reihe von Forschungsinstituten an der Erforschung des facettenreichen Eingliederungsprozesses beteiligt.16 Zentren waren dabei die Landwirtschaftliche Hochschule in Hohenheim, die Universität Heidelberg, das Institut für Raumforschung in Bad Godesberg, das Hygienische Institut der Stadt und Universität Frankfurt am Main sowie die Badische und die Württembergischen Landesstelle für Volkskunde. Der bedeutendste, weil zukunftsweisende Schwerpunkt der ‚Flüchtlingsforschung’ im deutschen Südwesten bildete sich an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen am LudwigUhland-Institut für deutsche Altertumswissenschaften, Volkskunde und Mundartforschung heraus, dem späteren Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften heraus.17 In dieser ersten Phase der Forschung erschien die bisher 14

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Ausdrücklich sei in diesem Zusammenhang auf den Stellenwert der Literatur von und für Flüchtlinge und Vertriebene hingewiesen, der von der ‚Flüchtlingsforschung’ bei der Erforschung des Eingliederungsprozesses Forschung noch nicht hinreichend erkannt wurde. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. In Verbindung mit WERNER CONZE, ADOLF DIESTELKAMP, RUDOLF LAUN, PETER RASSOW und HANS ROTHFELS bearbeitet von THEODOR SCHIEDER. Hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 5 Bde. und 3 Beihefte. Bonn 1953-1962. Nachdruck München 1984, Augsburg 1993, 1994, München 2004. Vgl. dazu MATHIAS BEER, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“. In: VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 46 (1998) H. 3, S. 345-389. Vgl. dazu und zum Folgenden MATHIAS BEER, „Baden-Württemberg ist noch nahezu unbeackert geblieben“. Literatur und Quellenlage zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. In: Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. Hrsg. von MATHIAS BEER. Sigmaringen 1994, S. 27-47. HERMANN BAUSINGER, MARKUS BRAUN und HERBERT SCHWEDT, Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland Instituts Tübingen. 2. Aufl. Stuttgart 1963.

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einzige Monographie, die den Eingliederungsprozess im deutschen Südwesten als Ganzes im Blick hat.18 Die Ergebnisse auch dieser Untersuchungen mündeten 1959 in eine erste Synthese. Damals erschien das von Eugen Lemberg und Friedrich Edding herausgegebene dreibändige Werk „Die Vertriebenen in Westdeutschland“19. Vergleichbar der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ hat auch diese Publikation Maßstäbe gesetzt. Zu Beginn der 1960er Jahre zeichnete sich ein Umschwung in der einschlägigen Forschung ab, womit eine zweite Forschungsphase eingeläutet wurde. Sie erstreckte sich auf die beiden folgenden zwei Jahrzehnte. Die sich anbahnenden Veränderungen in der Forschung waren primär durch drei Ursachen gesellschaftspolitischer Natur bedingt. Erstens verwandelte sich in den Schwellenjahren um 1960 der bis dahin landläufige Opferdiskurs in der Bundesrepublik – Deutsche als Opfer Hitlers und des „alliierten Unrechts von Potsdam“ – in einen Täterdiskurs. Deutsche wurden in zunehmendem Maß als ‚Täter’ gesehen. Die während des Nationalsozialismus von Deutschen begangenen Verbrechen stellten von nun an jene an Deutschen während der Vertreibung begangenen und damit ‚Flucht und Vertreibung’ insgesamt in den Schatten. Sie sollten fortan und verstärkt seit der sozial-liberalen Koalition die politisch-öffentliche Diskussion bestimmen und stellten den Bezugspunkt für den Umgang mit ‚Flucht und Vertreibung’ dar, die jetzt „zum Vokabular der Peinlichkeiten“ gehörten.20 Eine weitere Ursache ist in den unerwartet raschen Fortschritten bei der Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen mit Wohnraum und Arbeitsplätzen zu sehen. Analog zum Wirtschaftswunder sprach man in der Bundesrepublik schon bald von einem ‚Eingliederungswunder’, das politisch ganz bewusst (auch deshalb) herausgestellt wurde, um die schwärende Wunde der Vertreibung in den Hintergrund treten zu lassen. Mit Hinweis darauf, dass die Vertreibung heute Geschichte sei, schrieb 1979 der damalige Staatssekretär im Bundesministerium des Inneren Fröhlich mit Bezug auf die Flüchtlinge und Vertriebenen: „Sie leben politisch, beruflich und materiell nicht anders als die Deutschen, die hier schon seit Generationen ansässig sind. Daß dies gelingen konnte, ist das eigentliche Wunder der Nachkriegsgeschichte.“21 Weil die Flüchtlingsfrage als weitgehend bewältigt angesehenen wurde, schwand, bis auf wenige Ausnahmen, die aus der Feder ausländischer Autoren stammten, auch das Interesse an der ‚Flüchtlingsforschung’. Mit dem angeblichen ‚Verschwinden’ des Problems schien sich auch die im Wesentlichen zeitgebundene Forschung zu erübrigen. Die in dieser Zeit erschienenen Sammelbände mit ihrer in der Regel positiven Bilanz zum Eingliederungsprozess bestätigen diese Beobachtung. Ein Kenner der Materie brachte es auf den Punkt, als er 1974 fragte: „Obwohl also die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Heimatvertriebenen reizlos geworden ist, obwohl zuständige Be18 19

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ERWIN MÜLLER, Die Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg. Berlin 1962. Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf die Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben. Hrsg. von FRIEDRICH EDDING und EUGEN LEMBERG. 3 Bde. Kiel 1959. MATHIAS BEER, Verschlusssache, Raubdruck, autorisierte Fassung. Aspekte der politischen Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland (19491989). In: Diktatur - Krieg - Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Hrsg. von CHRISTOPH CORNELISSEN, ROMAN HOLEC und JIŘÍ PEŠEK. Essen 2005, S. 369-401. Aus Trümmern wurden Fundamente. Vertriebene – Flüchtlinge – Aussiedler. Drei Jahrzehnte Integration. Hrsg. von HANS-JOACHIM VON MERKATZ. Düsseldorf 1979, S. 7.

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hörden keine Handreichungen mehr bieten können, obwohl schließlich die Heimatvertriebenen keine parteipolitische Größe mehr darstellen: Die Frage ist nicht mehr zu umgehen, was denn aus diesen Millionen Menschen geworden ist. Vor zwei Jahrzehnten waren sie noch da, von den Politikern, den Medien, der Wissenschaft beachtet – heute scheinen sie verschwunden zu sein, wie vom Zauberstab berührt. Ist das denkbar?“22 Drittens kamen die ausgesprochene innen- wie außenpolitische Instrumentalisierung und Politisierung hinzu, die ‚Flucht und Vertreibung’ in diesen beiden Jahrzehnten in der Bundesrepublik erfuhr.23 Sie hatten eine Marginalisierung des Themas insgesamt zur Folge, die nicht ohne Folgen für die Erforschung der Eingliederung erstreckte. Auch zum deutschen Südwesten erschienen keine nennenswerten einschlägigen Studien. Erste Anzeichen für einen Wandel lieferten zu Beginn der 1980er Jahre zeitgeschichtliche Arbeiten, die nun nach den Aufnahmebedingungen für die Flüchtlinge und Vertriebenen in den Ländern der einzelnen Besatzungszonen und der damit verbundenen Folgen fragten. Sie markieren den Beginn der dritten Phase der Forschung, die bis heute andauert. Die jetzt stark historisch geprägte Forschung zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen, nun unter dem Etikett der aus der politischen Umklammerung weitgehend befreiten „neuen Flüchtlingsforschung“, erfuhr einen Aufschwung.24 Sie wurde von dem jetzt möglichen Zugang zu den einschlägigen Akten ebenso befördert wie von der Alltagsgeschichte, der Oral History und der „Neudefinition der Zeitgeschichte über Sozialgeschichte“. Insbesondere im Rahmen regionaler und lokaler Untersuchungen wurde der Prozess der Integration vor Ort erkundet, das heißt, das Maß und der Umfang der Veränderungen, die der gewaltige Bevölkerungszuwachs im sozialen, wirtschaftlichen, politischen und konfessionellen Bereich ausgelöst hatte, sowie die Rolle der Interessen der am Eingliederungsprozess beteiligten Gruppen und Institutionen. Hinzu kam das mentalitäts- und erfahrungsgeschichtlich motivierte Interesse an den spezifischen Aspekten der Aufnahme und des Einlebens der ihrer Herkunft und Prägung nach unterschiedlichen Flüchtlinge und Vertriebenen in den jeweiligen Aufnahmegebieten. Als wichtiges Ergebnis dieser Studien zeichnete sich ab, dass die noch in den 1970er Jahren diagnostizierte ‚schnelle’ Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen ein Mythos ist.25 Zudem wurde deutlich, dass es wohl weniger eine Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die Bundesrepublik gegeben hat, sondern die Bundesrepublik selber wohl das Ergebnis eines erfolgreichen Eingliederungsprozesses von Flüchtlingen, Vertriebenen und Eingesessenen in eine neue Zeit und Gesellschaft darstellt. Wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen, entstanden in dieser Zeit auch erste Arbeiten in der DDR, die die ‚Umsiedlerfrage’ zum Thema hatten. Es erfuhr nach dem Fall des 22 23 24

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HERBERT SCHWEDT, Ist eine Volkskunde der Heimatvertriebenen überflüssig geworden? In: JAHRBUCH FÜR OSTDEUTSCHE VOLKSKUNDE 17 (1974), S. 20-26. Vgl. dazu MANFRED KITTEL, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982). München 2007. Vgl. dazu den Forschungsüberblick von THOMAS GROSSER, Von der freiwilligen Solidar- zur verordneten Konfliktgesellschaft. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft im Spiegel neuerer zeitgeschichtlicher Untersuchungen. In: Vertriebene in Deutschland (wie Anm. 7), S. 65-85. PAUL LÜTTINGER, Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971. In: ZEITSCHRIFT FÜR SOZIOLOGIE 15 (1986), S. 20-36.

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Eisernen Vorhangs und der deutschen Vereinigung in der Forschung eine besondere Aufmerksamkeit, die ihren Niederschlag in zahlreichen Studien fand.26 Anders als in der ersten Phase der Flüchtlingsforschung partizipierte der deutsche Südwesten zunächst nicht an der frühen Phase der ‚neuen Flüchtlingsforschung’. Zu Recht wurde 1992 in einer Sammelrezension zu Neuerscheinungen zur Flüchtlingsproblematik auf den diesbezüglichen Nachholbedarf hingewiesen. Das änderte sich in der Folgezeit grundlegend. Neue Fragen und Ansätze zu einem alten Themenbereich fielen jetzt auch im deutschen Südwesten auf fruchtbaren Boden. Dazu trugen neben zahlreichen, hier nicht einzeln aufzulistenden stark lokal- und regionalgeschichtlich ausgerichteten Studien ein befristetes von der VW-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt27 an der Universität Mannheim bei sowie die auf Dauer angelegten Forschungen am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. Mit den mittlerweile vorliegenden Quellen- und Literaturübersichten,28 den Tagungs- und Quellenbänden29 sowie den Monographien30 hat die Flüchtlingsforschung zum deutschen Südwesten bei allen zweifellos noch vorhandenen Lücken mit jener zu anderen Bundesländern im Wesentlichen gleich gezogen.

Thesen zum Stand der Forschung Vor dem Hintergrund des skizzierten Forschungsstandes sollen abschließend in Form von Thesen einige Merkmale der ‚Flüchtlingsforschung’ zum deutschen Südwesten aufgezeigt und, damit verbunden, auf nach wie vor bestehende Desiderata der Forschung aufmerksam gemacht werden.

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MICHAEL SCHWARTZ, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961. München 2004. Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hrsg. von SYLVIA SCHRAUT und THOMAS GROSSER. Mannheim 1996. MATHIAS BEER, Flüchtlinge und Vertriebene im deutschen Südwesten. Eine Übersicht der Archivalien in den staatlichen und kommunalen Archiven des Landes Baden-Württemberg. Sigmaringen 1994. Flüchtlingsfrage - das Zeitproblem. Amerikanische Besatzungspolitik, deutsche Verwaltung und die Flüchtlinge in Württemberg-Baden 1945-1949. Hrsg. von CHRISTIANE GROSSER. Mannheim 1993. Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945. Hrsg. von MATHIAS BEER. Sigmaringen 1994. Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Württemberg-Baden nach dem Zweiten Weltkrieg. Dokumente und Materialien zu ihrer Aufnahme und Eingliederung. Hrsg. von THOMAS GROSSER und SYLVIA SCHRAUT. 3 Bde. Mannheim 1998, 2001. Die Fremde wird zur Heimat. Integration der Vertriebenen in der Diözese Rottenburg. Hrsg. von RAINER BENDEL. Berlin 2008. SYLVIA SCHRAUT, Flüchtlingsaufnahme in Württemberg-Baden 1945-1949. Amerikanische Besatzungsziele und demokratischer Wiederaufbau im Konflikt. München 1995. ANDREA KÜHNE, Entstehung, Aufbau und Funktion der Flüchtlingsverwaltung in Württemberg-Hohenzollern 1945-1952. Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld deutscher und französischer Interessen. Sigmaringen 1999. THOMAS GROSSER, Die Integration der Heimatvertriebenen in Württemberg-Baden (1945-1961). Stuttgart 2006.

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1. Die Erforschung des Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten kann insgesamt als gut bezeichnet werden. Überblickt man die bisherige Forschung, so kann als Folge der in der ersten und der letzten Phase der ‚Flüchtlingsforschung’ entstandenen Studien die Erforschung der zahlenmäßig größten Zuwanderung, die der deutsche Südwesten in seiner neueren Geschichte erfahren hat, als gut bezeichnet werden. Dabei haben die Arbeiten aus dem außeruniversitären Bereich einen erheblichen Anteil, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass der Themenkomplex trotz seiner grundlegenden Bedeutung für die Landesgeschichte noch nicht die seinem Stellenwert entsprechende Beachtung findet. Es liegt sowohl eine Übersicht der einschlägigen Aktenüberlieferung in den staatlichen und kommunalen Archiven des Landes vor, als auch eine, wenn auch regional eingeschränkte, dreibändige Quellenedition. Die Auswirkungen der Politik der amerikanischen Militärregierung auf die Entwicklung der Flüchtlings- und Vertriebenenfrage in Württemberg-Baden sind ebenso umfassend erforscht wie die Integration der Heimatvertriebenen auf dem Gebiet Württemberg-Badens bis 1961 eine tiefgründige Analyse insbesondere auf quantitativer Grundlage erfahren hat. Eine erste Arbeit zur französischen Flüchtlingsund Vertriebenenpolitik Politik in Württemberg-Hohenzollern liegt vor. Hinzu kommen Untersuchungen, die das Entstehen neuer Siedlungen durch die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen oder die Auswirkungen des Lastenausgleichsgesetzes von 1953 in einem städtischen Raum untersuchen.31 In jüngster Zeit sind Studien hinzugekommen, die insbesondere nach den Veränderungen fragen, die das Einströmen der Flüchtlinge und Vertriebenen im katholischen Bereich und hier insbesondere in der Diözese Rottenburg bewirkt haben. Nicht zuletzt gilt es, in die insgesamt betrachtet positive Bilanz der ‚Flüchtlingsforschung’ zum deutschen Südwesten, die große Zahl von lokalen Studien und Dokumentationen mit einzubeziehen.

2. Die Forschung zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen zum deutschen Südwesten weist deutliche Schwerpunkte und damit Disparitäten auf. Regional betrachtet ist ein deutliches Nord-Süd-Gefälle zu verzeichnen. Im Unterschied zu den insbesondere für die frühe Nachkriegszeit vergleichsweise gut erforschten Gebieten Nord-Württembergs und Nordbadens stellen WürttembergHohenzollern und noch mehr Südbaden in einem erheblichen Maß weiße Flecken in der Forschungslandschaft dar. Trotz erster neuerer Studien besteht für das Gebiet der französischen Besatzungszone ein erheblicher Forschungsbedarf. Zu den unübersehbaren regionalen Disparitäten kommen solche thematischer Art hinzu. Deutliche Unterschiede bestehen, wenn man sich das breite Spektrum an Untersuchungsfeldern vor Augen führt, die zusammengenommen den multifaktoriellen Prozess der Eingliederung bestimmten. Es dominieren größtenteils – bezogen auf die Ebene der Besatzungsmächte und die der Länder – Studien zu den Bereichen Politik, Verwaltung und mit deutlichen Einschränkungen auch solche, die den Bereich der Wirtschaft betreffen. Es fehlen aber Studien zum 31

CARL-JOCHEN MÜLLER, Praxis und Probleme des Lastenausgleichs in Mannheim. Mannheim 1997.

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Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte des Landes, zu den Interessenvertretungen der Flüchtlinge und Vertriebenen und selbst die in Stuttgart am 5. August 1950 verkündete Charta der Heimatvertriebenen hat noch keine grundlegende Untersuchung erfahren. Erforderlich sind auch monographische Untersuchungen zu Flüchtlings- oder Vertriebenenbetrieben, seien sie im industriellen Bereich, im Handwerk, in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungssektor angesiedelt. Mit Hilfe solcher Studien wäre die These zu überprüfen, ob das von den Flüchtlingen und Vertriebenen mitgebrachte Knowhow, oder aber insbesondere ihre Arbeitskraft zum Wirtschaftsaufschwung im deutschen Südwesten nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen haben. Deutlich unterrepräsentiert sind auch Studien zu den im Eingliederungsprozess nicht zu unterschätzenden Bereichen Kultur und Mentalitäten. In diesem Zusammenhang ist trotz neuerer Forschungen auf den erheblichen Nachholbedarf hinzuweisen, der bei der Erforschung der Rolle der Kirchen im Eingliederungsprozess besteht, und der Auswirkungen, die die Aufnahme der Hunderttausenden von Flüchtlingen und Vertriebenen auf die Kirchen als Großorganisationen und auf das Gemeindeleben hatten. Dabei ist zu unterstreichen, dass die Verhältnisse im katholischen Bereich besser erforscht sind als im evangelischen.32 Wir wissen auch kaum etwas über das Wirken der zahlreichen Hilfsorganisationen unter kirchlichem Dach, sowohl im Bereich der evangelischen als auch der katholischen Kirche. Und, um ein weitere Beispiel zu nennen, es fehlt eine Übersicht der von Flüchtlingen und Vertriebenen gegründeten Heimatstuben und Museen und auf dieser Grundlage an Studien, die nach dem Stellenwert dieser Einrichtungen im Integrationsprozess fragen.

3. Eine stärkere Beachtung regionaler Spezifika im Eingliederungsprozess ist erforderlich. Diese These bezieht sowohl die Aufnahmegebiete, als auch die Herkunft der einzelnen Flüchtlings- und Vertriebenengruppen mit ein. Ob ein Aufnahmegebiet katholisch oder evangelisch geprägt ist, eine agrarische, mittelständische oder industrielle Struktur aufweist, oder ob sie Migrationserfahrungen besitzt, all das wirkt sich auf den Verlauf des Integrationsprozesses aus. Umgekehrt erlaubt ein Zugang, der den Faktor ‚Herkunft’ berücksichtigt, den jeweils spezifischen Verlauf des Eingliederungsvorgangs mit einem höheren Maß an Plausibilität zu erklären. Dass entsprechend den Beschlüssen der Alliierten in den deutschen Südwesten vor allem Vertriebene aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn kamen, wirkte sich auch auf den spezifischen Verlauf des Integrationsprozesses ebenso aus wie deren im Vergleich zur alteingesessenen Bevölkerung günstigere Altersund Geschlechterstuktur. Die juristische Definition der Begriffe ‚Vertriebener’, ‚Heimatvertriebener’ und ‚Flüchtling’, wie sie erstmals einheitlich für das Bundesgebiet im Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz von 1953 festgeschrieben wurde, wird dadurch um seine historische und kulturelle Dimension erweitert. Diese Definitionen legen Herkunftsgebiete und Status fest. Sie geben aber keine Auskunft über die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenheiten ihrer Träger. Aber erst um diese Dimensionen erweitert, erweisen sie sich für die einschlägige Forschung als operabel. ‚Flüchtling’ und ‚Vertriebener’ vereinigen 32

MATHIAS BEER, Religiöse Beheimatung nach 1945. Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart-Rot. Stuttgart 2006.

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in sich ein viel breiteres Spektrum an Erscheinungsformen als der uniformierende juristische Begriff suggeriert. Das lässt sich an einem für den deutschen Südwesten charakteristischen Merkmal verdeutlichen, dem verglichen mit anderen Bundesländern niedrigen Konnuptialindex. Er besagt, dass in den 1950er Jahren Vertriebene und Altbürger weniger häufig untereinander heirateten als in anderen Bundesländern.33 Faktoren, die diese Entwicklung begünstigten, sind im vergleichsweise hohen Anteil der Vertriebenen aus Südosteuropa in BadenWürttemberg zu sehen, der spezifischen sozialen und konfessionellen Struktur der Aufnahmegebiete im deutschen Südwesten und, damit verbundenen, dem Konfessionsgegensatz zwischen Alt- und Neubürgern. Sie sind Ausdruck der erheblichen Spannungen, die den Eingliederungsprozess im deutschen Südwesten charakterisieren.

4. Es besteht ein Mangel an Langzeituntersuchungen. Legt man den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studien zu Grunde, so fällt auf, dass dabei die unmittelbare Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre dominieren. Selten werden die sechziger Jahre mit in die Betrachtung einbezogen und nur punktuell reicht der Untersuchungszeitraum bis Anfang der 1970er Jahre. Dadurch werden immer nur Ausschnitte aus dem sich über Jahrzehnte erstreckenden Eingliederungsprozess untersucht. Langfristige Veränderungen und ihre Ursachen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene kommen so gar nicht ins Blickfeld der Forschung. Dabei ist auch beim Eingliederungsprozess der Flüchtlinge und Vertriebenen von einem Zeitraum von mindestens drei Generationen auszugehen. Die daraus abzuleitende Forderung nach Langzeitstudien beinhaltet die zeitliche Erweiterung des Untersuchungszeitraums in zwei Richtungen: Sowohl in die Zeit vor der Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen, als auch möglichst weit in die Gegenwart. Die Voraussetzungen für solche Langzeituntersuchungen sind sehr günstig, ist doch der Zugang zu den Archiven in den Herkunftsländern jetzt gegeben. Hinzu kommt, dass die Ergebnisse der ersten Phase der Flüchtlingsforschung mittlerweile selbst ergiebige Quellen für einen Vergleich mit späteren Zeitabschnitten darstellen, wie zum Beispiel eine Nachuntersuchung der ‚Neuen Siedlungen’ zeigt.34

5. Es fehlen vergleichende Studien. Vergleichende Studien werden gerade in jüngster Zeit zu Recht immer lauter gefordert.35 Das Echo darauf ist aber kaum wahrzunehmen. Dabei bieten sich 33

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WALTER MASCHLANKA, Die Eheschließungen der heimatvertriebenen in Württemberg-Baden 1950-1952. In: STATISTISCHE MONATSHEFTE BADEN-WÜRTTEMBERG 2 (1954) H. 3, S. 69-74. Vgl. dazu THOMAS GROSSER, Die Integration der Heimatvertriebenen in Württemberg-Baden (1945-1961). Stuttgart 2006, S. 417-439. Neue Siedlungen – Neue Fragen. Eine Folgestudie über Heimatvertriebene in BadenWürttemberg – 40 Jahre danach. Hrsg. von CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER. Tübingen 1995. Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeit der Vertriebeneneingliederung in der SBZ/DDR. Hrsg. von DIERK HOFFMANN (VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE, SONDERNUMMER). München 1999. Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945. Hrsg. von MARITA KRAUSS. Göttingen 2008.

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auch auf Landesebene eine ganze Reihe Möglichkeiten für vergleichende Untersuchungen. Nur einige wenige seien angeführt. Ein Vergleich der Ziele und Maßnahmen der amerikanischen und französischen Besatzungsmächte in der Vertriebenenfrage ist ein lohnendes Ziel. Eine andere Möglichkeit bietet die Untersuchung des Eingliederungsprozesses von Vertriebenen unterschiedlicher Herkunft in einer bestimmten Region. Sie lässt Aussagen dazu erwarten, welche Rolle der Herkunft im Eingliederungsprozess zukam. Umgekehrt sind von Studien, die Vertriebene eines Herkunftsgebietes in Ansiedlungsgebieten mit unterschiedlichen politischen, sozialen wirtschaftlichen und religiösen Merkmalen untersuchen, Ergebnisse zum Stellenwert der Bedingungen im Aufnahmegebiet für den Verlauf von Integrationsprozessen zu erwarten. Ebenso bieten sich vergleichende Untersuchungen zum Verlauf der Eingliederungsprozesse in städtisch und ländlich geprägten Räumen an. Und das sind nur einige der möglichen Studien, die auf vergleichender Basis eher einen Erkenntniszugewinn versprechen als weitere, den gleichen Aufbau und die gleiche Struktur aufweisende Studien zu einzelnen Gemeinden, so wichtig diese auch sein mögen. Der deutsche Südwesten mit seinen historisch bedingten unterschiedlichen Regionen einerseits und den unterschiedlichen Gruppen von aufgenommenen Vertriebenen andererseits bietet hier ein weites, bisher brach liegendes Forschungsfeld.

6. Über die Folgen des Integrationsprozesses für den deutschen Südwesten gibt es mehr Annahmen als abgesicherte Forschungsergebnisse. Die Mehrzahl der Studien, die den Eingliederungsprozess untersuchen, ist auf die Flüchtlinge und Vertriebenen fokussiert. Wie kamen sie in das Zielgebiet? Unter welchen Bedingungen erfolgte die Aufnahme und Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln und Arbeit? Wie veränderte sich die Berufstruktur der Neubürger? Wie organisierten sie sich politisch und mit welchem Erfolg? Kurz gefasst und auf einen Nenner gebracht: Wie haben sich die Flüchtlinge und Vertriebenen integriert? Durch die Fixierung auf die Flüchtlinge und Vertriebenen geraten die aufnehmende Gesellschaft und die mit der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen verbundenen Veränderungen nur selten in den Blick. Dadurch besteht die Gefahr, zu übersehen, dass Eingliederung ein Sozialprozess ist, der auf Gegenseitigkeit beruht. Welche Rolle kommt der Integration im Hinblick auf die zweifellos stattgefundenen Veränderungen im Bereich des Sozialen, der Wirtschaft, der Politik, der Religion und der Kultur zu? Wie und mit welchen Folgen auch für die eingesessene Bevölkerung fand die Begegnung zwischen Alt- und Neubürgern statt? Waren die Flüchtlinge und Vertriebenen Auslöser von Veränderungen oder aber haben sie nur verstärkend auf bereits im Gange befindliche Veränderungen gewirkt? Die Bewältigung der Folgen der deutschen Zwangsmigration am Ende des Zweiten Weltkriegs war ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Doch solche Fragen stellen sich nicht nur im Hinblick auf die mit der Eingliederung verbundenen langfristigen Prozesse, wie gerade das Beispiel des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg deutlich macht. Über die Rolle der Flüchtlinge und Vertriebenen bei der Abstimmung zum Südweststaat gibt es Mutmaßungen, aber noch keine Studie, die das für die Landesgeschichte zentrale Ereignis detailliert untersucht und bewertet.

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7. Eine stärkere Vernetzung der Forschung ist gefragt. Wie bereits erwähnt, ist die einschlägige Forschung im Deutschen unter dem Sammelbegriff ‚Flüchtlingsforschung’ zusammengefasst. Dieser wirft mindestens zwei grundsätzliche Fragen auf. Erstens: Als jener geprägt wurde, gab es so gut wie keine anderen ‚Flüchtlinge’ in Deutschland. Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Zu Recht stellt sich die Frage: Welche Flüchtlinge sind gemeint, mit denen sich die ‚Flüchtlingsforschung’ beschäftigt? Zweitens: Der Begriff ‚Flüchtlingsforschung’ fasst eine Reihe von Fächern zusammen, in denen Forschungen zum deutschen Flüchtlings- und Vertriebenenproblem durchgeführt wurden. Der in den 1950er Jahren noch vorhandene Austausch zwischen den einzelnen Fächern ist später weitgehend versiegt. Die Spezialisierung setzte sich weiter fort und mit ihr die fachliche Abschottung. Die Folge davon ist, dass die Erforschung des Eingliederungsprozesses heute weitestgehend segmentiert ist, ohne dass die Ergebnisse der jeweils anderen Fächer und Subdisziplinen wahrgenommen werden. Die von Werner Blessing erhobene Forderung nach „Erweiterung auf beiden Seiten“ – er meinte die Zeitgeschichte und Katholizismusforschung – gilt daher heute allen Fächern und Fachrichtungen. Erst über eine intensivere Vernetzung wird man die Gefahr bannen können, den Prozess der Eingliederung in Einzelteile zerfallen zu lassen, so dass der Blick für das Ganze verloren geht.

8. Verknüpfung mit anderen Migrationsprozessen und ihren Folgen ist geboten. Eine Verknüpfung und Vernetzung ist nicht allein im Hinblick auf die Fächer notwendig, die den Integrationsprozess der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen erforschen. Auch eine Einbeziehung der Eingliederung der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in die Migrationsgeschichte des jungen Bundeslandes ist erforderlich.36 Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Gruppen die nach 1945 auf das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg gekommen sind, haben wir es mit Phänomenen zu tun, die gleichzeitig beziehungsweise in enger chronologischer Abfolge stattgefunden haben. Wir haben es mit Überschneidungen und Überlappungen zu tun, und wir haben es mit durch die Aufnahme der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen geschaffenen Bedingungen zu tun, die nicht ohne Auswirkungen auf die Aufnahme späterer Zuwanderer geblieben sein können.37 Eine noch immer üblich undurchlässige Grenze zwischen der Erforschung des Eingliederungsprozesses der deutschen Vertriebenen und den später gekommen Migrantengruppen zu ziehen, heißt einerseits, sich Erkenntnismöglichkeiten von vornherein zu versperren und andererseits, die mit der Eingliederung der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten vorhandenen Erfahrungen brach liegen zu lassen.

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ULRICH MAIER, „Fremd bin ich eingezogen …“. Zuwanderung und Auswanderung in BadenWürttemberg. Gerlingen 2002. KARL-HEINZ MEIER-BRAUN und REINHOLD WEBER, Kleine Geschichte der Ein- und Auswanderung in Baden-Württemberg. Leinfelden-Echterdingen 2009. Vgl. dazu HERMANN BAUSINGER, Lauter Ausländer … Die südwestdeutsche Kultur als Importerzeugnis. In: Baden-Württemberg. Eine politische Landeskunde. Hrsg. von HANS-GEORG WEHLING u. a. Teil II. Stuttgart 1991, S. 58-75.

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9. Eine moderne Gesamtdarstellung des Eingliederungsprozesses fehlt. Trotz der langjährigen, intensiven und ertragreichen deutschen und internationalen Forschung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge im deutschen Südwesten gibt es keine moderne, dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Gesamtdarstellung. Die einzig vorhandene liegt nun fast ein halbes Jahrhundert zurück.38 Hier besteht für die Landesgeschichte zweifellos ein Desiderat der Forschung. Das gilt auch mit Blick auf die neueren Gesamtdarstellungen zur Geschichte Baden-Württembergs.39 Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist, um die Tragweite und Tiefe der Veränderungen, die die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten verursacht hat, auf den Dreißigjährigen Krieg verwiesen worden. Ein so zentrales Kapitel der Geschichte des Landes bedarf sowohl einer aktuellen Gesamtdarstellung, als auch der angemessenen Integration in die Landesgeschichte.

10. Erforschung des und öffentliches Bewusstsein zum Integrationsprozess der Flüchtlinge und Vertriebenen stehen in einem umgekehrten Verhältnis zueinander. In der öffentlichen Wahrnehmung steht die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen deutlich im Schatten von Flucht und Vertreibung, also der eigentlichen Zwangsmigration. Diese Feststellung gilt nicht nur für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über den angemessenen Erinnerungsort für ‚Flucht und Vertreibung’, sondern auch für die Geschichte des Landes Baden-Württemberg seit seiner Gründung und bis heute. Daran haben auch zahlreiche Ausstellungen zum Thema,40 sei es auf Landes- oder lokaler Ebene, bisher wenig geändert. Dadurch ist das Bewusstsein über die nachhaltige und prägende Wirkung des Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Vertriebenen bei der Entstehung Baden-Württembergs und der Ausformung einer neuen Gesellschaft im deutschen Südwesten vergleichsweise schwach ausgeprägt. Es wäre zu einfach, darin allein ein Versäumnis der Landesgeschichte zu sehen. Doch auch sie ist gefordert, wenn sich die Erkenntnis durchsetzen soll, dass bereits mit der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 dem neuen Bundesland die Bewältigung von Migrationsfolgen in die Wiege gelegt wurde.

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ERWIN MÜLLER, Die Heimatvertriebene in Baden-Württemberg. Berlin 1962. Vgl. z. B. PAUL SAUER, Das Land Württemberg-Baden 19545-1952. In: Handbuch der badenwürttembergischen Geschichte. Hrsg. von HANSMARTIN SCHWARZMAIER und MEINRAD SCHAAB. Bd. 4. Stuttgart 2003, S. 343-439. Vgl. z. B. Flucht, Vertreibung, Eingliederung. Baden-Württemberg als neue Heimat. Begleitband zur Ausstellung. Bearb. von IMMO EBERL. Hrsg. vom Innenministerium Baden-Württemberg. Sigmaringen 1993. Fremde Heimat. Das Lager Schlotwiese nach 1945. Der Katalog zur Ausstellung. Hrsg. von MATHIAS BEER und PAULA LUTUM-LENGER. Stuttgart-Tübingen 1995. Flucht, Vertreibung, Integration. Hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik. Bielefeld 2005. - Die Begegnung von Alt- und Neubürgern stellte die Große Landesausstellung „Ihr und Wir. Integration der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg“ in den Mittelpunkt. Sie war das Ergebnis eines Kooperationsvorhabens des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg und des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Vgl. dazu den Ausstellungskatalog: Ihr und Wir. Integration der Heimatvertriebenen in BadenWürttemberg. Hrsg. von Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Stuttgart 2009.

Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und SS-Umsiedlungspolitik Zur Vor-Geschichte von Flucht und Vertreibung MARKUS LENIGER NS-Siedlungspolitik Seit den 1980er Jahren hat sich die zeitgeschichtliche Forschung verstärkt mit der nationalsozialistischen Siedlungspolitik beschäftigt. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei die diversen Vorarbeiten zu einem „Generalplan Ost“, der auf eine totale Germanisierung der eroberten Gebiete im Osten bis zum Ural zielte.1 Über die zentrale Bedeutung der SS im Rahmen dieser auf eine radikale ethnische Neuordnung Europas zielenden Politik kann kein Zweifel herrschen. 2 Als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ (RKF)3 kam dem Reichsführer SS (RFSS) Heinrich Himmler die Federführung zu bei der von Hitler angestrebten „neuen Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“ mittels „einer Umsiedlung der Nationalitäten.”4 Doch diese im Oktober 1939 erlangte Bedeutung ergab sich nicht ausschließlich aus einer generellen Affinität des ehemaligen Artamanen Himmler zur Siedlungsfrage.5 Zwar sind diese ideologischen 1

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Vgl. u.a. ROBERT LEWIS KOEHL, RKFDV. German Settlement and Population Policy. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom, Cambridge, Mass. 1957. HANS BUCHHEIM, Rechtsstellung und Organisation des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte. Bd. 1. München 1958, S. 239–279. HELMUT HEIBER, Der Generalplan Ost. In: VIERTELJAHRESHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 6 (1958), S. 281–325. MICHAEL BURLEIGH, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988. GÖTZ ALY, SUSANNE HEIM, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik. Hrsg. von MECHTHILD RÖSSLER u.a., Berlin 1993. BRUNO WASSER, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940-1944, Basel 1993. Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. Hrsg. von CZESŁAW MADAJCZYK, München 1994. GÖTZ ALY, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1998. CHRISTIAN GERLACH, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999. SYBILLE STEINBACHER, „Musterstadt“ Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000. Zur Rolle der SS grundlegend ISABEL HEINEMANN, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, 2. Aufl., Göttingen 2003. Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums, 7.10.1939. In: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (künftig zit. IMT), Bd. 26, Nürnberg 1947, S. 255-257. Die Datierung auf den 7. Oktober erfolgte auf Himmlers Wunsch – es war sein Geburtstag. Eine Gesamtdarstellung des RKF ist ungeachtet zahlreicher Studien zu Einzelaspekten (vgl. Anm. 1 u. 2) ein dringendes Forschungsdesiderat. „Rede des Führers vor dem Deutschen Reichstag in der Krolloper zu Berlin vom 6. Oktober 1939“. In: Dokumente der Deutschen Politik. Hrsg. von FRANZ ALEXANDER SIX, Bd. 7/1, Berlin 1940, S. 334-362, hier S. 347. MICHAEL H. KATER, Die Artamanen – völkische Jugend in der Weimarer Republik. In: HISTORISCHE ZEITSCHRIFT (künftig zit. HZ) 213 (1971), S. 577-638.

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Traditionen und deren institutionelle Formierung im Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) bei einer Analyse späterer SS-Siedlungspolitik in Rechnung zu stellen.6 Doch ideologische Kontinuitäten allein erklären nicht hinreichend, wie es überhaupt zu einer Gestaltungsdominanz der SS in der Zeit nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft im Osten kommen konnte. Hierzu bedarf es einer genaueren Analyse der historischen Rahmenbedingungen vor Beginn der Ostexpansion des Deutschen Reiches. Dabei ist besonders die so genannten „Volkstumsarbeit“ in den Blick zu nehmen, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zunächst noch außerhalb des SS-Sektors verblieben war und erst mit der Ernennung Himmlers zum RKF mit einer „Germanisierungspolitik“ verschmolz, deren integrale Bestandteile die Aussonderung und Vernichtung „unerwünschter Bevölkerungen“ einerseits und die Ansiedlung „erwünschter“ Menschen andererseits waren. Der RKF bot die institutionelle Klammer, die „Volkstumsarbeit“ mit Siedlungspolitik (als Mittel zur Behebung tatsächlicher oder behaupteter ökonomischer und sozialer Missstände und Fehlentwicklungen der Zwischenkriegszeit) und einer Politik rassischer Selektion (zur Verbesserung oder Behebung angeblicher degenerativer Entwicklungen in der „rassischen“ Konstitution der Deutschen) verband. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es in erster Linie ein taktisches Engagement Himmlers in der „Volkstumsarbeit“ war, das die SS zum wichtigen Akteur bei der „Germanisierung“ des Ostens werden ließ. Außerdem ist der Frage nachzugehen, ob sich die siedlungspolitischen Maßnahmen der SS mit den Begriffen „Siedlungspolitik“ beziehungsweise „SS-Siedlungspolitik“ hinreichend beschreiben lassen. Denn sie unterschieden sich in Motivation und Praxis nicht nur deutlich von den Ansätzen einer Siedlungspolitik in der Zwischenkriegszeit. Sie standen auch im Widerspruch zu Grundsätzen einer Re-Agrarisierung der deutschen Gesellschaft, wie sie in der Zwischenkriegszeit durch das RuSHA propagiert worden waren. Als Untersuchungsgegenstand bietet sich die vom RKF und den in seinem Auftrag agierenden Institutionen durchgeführte Umsiedlung „volksdeutscher“ Minderheiten an – handelte es sich bei diesen doch um das einzige relevante „Menschenmaterial“ für die angestrebte „Germanisierung“ des Ostens.

Von der „Volkstumsarbeit“ zur Um-Siedlung Etwa zehn Millionen ethnische Deutsche lebten nach 1919 in den an die Stelle der zerbrochenen supranationalen Reiche getretenen neuen Nationalstaaten. Ihre Lebenssituation war zwar von Assimilationsdruck und ökonomischen Krisen bestimmt, doch führten diese nicht zur Auflösung der Minderheiten, sondern zu deren innerer Festigung. Die deutschen Volksgruppen entwickelten ein dezidiert „deutsches” Selbstbewusstsein und eine Fixierung auf das Deutsche Reich als

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Richard Walter Darrés Postulat aus den 1930er Jahren – „der natürliche Siedlungsraum des Deutschen Volkes ist das Gebiet östlich unserer Reichsgrenze bis zum Ural, im Süden begrenzt durch Kaukasus, Kaspisches Meer und die Wasserscheide, welche das Mittelmeerbecken von der Ostsee und Nordsee trennt“ – blieb auch für Himmler in seiner Funktion als RKF handlungsleitendes Motiv. Rede Darrés auf der landwirtschaftlichen Gau-Fachberater-Tagung, Weimar, 23./24.01.1936, zit. nach HEINEMANN (wie Anm. 2), S. 28 (wie Anm. 2).

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Garant der eigenen ethnischen Identität.7 Radikale Lösungen wie die türkischgriechische Umsiedlung zu Beginn der 1920er Jahre lagen zwar außerhalb des für Mitteleuropa Vorstellbaren, doch gehörte die hinter dieser prototypischen Bevölkerungsverschiebung des 20. Jahrhunderts stehende Wunschvorstellung eines ethnisch homogenen Staates zum common sense der Zeit.8 Mit der Ausformung von Vereins- und Genossenschaftsstrukturen auf Seiten der deutschen Minderheiten korrespondierte innerhalb des Reiches eine sich aus den Wurzeln der Vorkriegszeit speisende Verbands-, Vereins- und Institutslandschaft, die sich der materiellen und ideellen Unterstützung sowie der Erforschung der deutschen Minderheiten widmete und für die sich die zeitgenössische Vokabel der „Volkstumsarbeit“ einbürgerte. Gemeinsames Ziel war die Verbesserung der Lebenssituation deutscher Minderheiten, um damit deren Bestand in ihrem angestammten Lebensraum zu sichern.9 Die praktische Durchführung der Unterstützungsarbeit erfolgte sowohl direkt durch das Reichsministerium des Innern als auch indirekt über diverse Volkstumsverbände – allen voran den Verein (später Volksbund) für das Deutschtum im Ausland (VDA), der in der Zwischenkriegszeit zum mitgliederstärksten Verein des Deutschen Reiches wurde.10 Auch kirchliche Verbände wie der „Reichsverband für die katholischen Auslandsdeutschen“ engagierten sich und erhielten für ihre Unterstützung deutscher Minderheiten staatliche Gelder.11 7 8

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Vgl. ALY, Endlösung (wie Anm. 1), S. 25). Vgl. hierzu grundlegend NORMAN M. NAIMARK, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe, Harvard 2001. EUGENE M. KULISCHER, The Displacement of Population in Europe, Montreal 1943. DERS., Europe on the Move. War and Population Changes 19171947, New York 1948. JOSEPH SCHECHTMAN, European Population Transfers 1939-1945, New York 1946. Vgl. auch die zeitgenössische kritische Haltung zu Schechtmans positiver Bewertung von Bevölkerungstransfers bei HANS ROTHFELS, Frontiers and Mass Migrations in Eastern Central Europe. In: THE REVIEW OF POLITICS 8 (1946) S. 37-67, besonders S. 66 f. Rothfels stellte weitsichtig die rhetorische Frage: „Why should not the same method spread to the Balkans with fantastic result? In the long run it may have repercussions in many parts of the world, once the 'elimination of minorities' on the basis of power is an accepted doctrine.“ Vgl. Stresemanns Schreiben an den Kronprinzen, 7.9.1925. In: GUSTAV STRESEMANN. Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden, Bd. II, Berlin 1932, S. 543–555. Zum Einsatz der Weimarer Republik für die deutschen Minderheiten vgl. u.a. CAROLE FINK, Defender of Minorities: Germany in the League of Nations 1926-1933. In: CENTRAL EUROPEAN HISTORY 5 (1972), S. 330-357. MICHAEL FAHLBUSCH, Wissenschaft im Dienst nationalsozialistischer Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999. WILLI OBERKROME, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993. INGO HAAR, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000. GERHARD WEIDENFELLER, VDA – Verein für das Deutschtum im Ausland 1881-1918, Bern 1976. Hans Steinacher. Bundesleiter des VDA 1933-1937. Erinnerungen und Dokumente. Hrsg. von ADOLF JACOBSEN, Boppard a. Rh. 1970. 1932 betrug das Haushaltsvolumen des VDA 1,1 Mio. RM. Nach der „Machtergreifung“ stiegen die Einnahmen aus den großen Sammelaktionen, das Haushaltsvolumen erweiterte sich 1934 auf 7 Mio. RM. Vgl. HANS-ADOLF JACOBSEN, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a. M. 1968, S. 201. Neben dem VDA sind hier außerdem das Deutsche Auslands-Institut in Stuttgart (DAI) und der Bund Deutscher Osten (BDO) zu nennen. Zum DAI vgl. ERNST RITTER, Das Deutsche Auslands-Institut in Stuttgart 1917-1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1976. Vgl. GUENTER LEWY, Die katholische Kirche und das Dritte Reich, München 1965, S. 185. In ihrer Begeisterung und Unterstützung für die Auslandsdeutschen unterschieden sich die deutschen Katholiken nicht von der Gesamtgesellschaft. So gehörten Fahrten in die Lebensgebiete deutscher Minderheiten auch zum regelmäßigen Reiseprogramm kirchlicher Jugendgruppen. Vgl. z.B. die „Neudeutschland-Bukowinafahrt 1932“ und weitere Fahrten des Bundes Neudeutsch-

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Die meisten Akteure der „Volkstumsarbeit“ begrüßten die nationalsozialistische Machtübernahme, da sie von der neuen Regierung eine noch stärkere Unterstützung der deutschen Minderheiten erwarteten. Außerdem erhoffte man eine Konzentration und Gleichschaltung der zersplitterten Strukturen mit ihren sich zum Teil erbittert bekämpfenden Verbänden der deutschen Minderheiten12 und die Eindämmung des von Ernst Wilhelm Bohle, dem Leiter der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP, artikulierten Führungsanspruchs.13 Zentrale Figur der 1933 einsetzenden Gleichschaltung der „Volkstumsarbeit“ war der Stellvertreter des Führers (SdF) Rudolf Heß, der in enger Zusammenarbeit mit dem Geopolitiker Karl Haushofer versuchte, eine Koordinierungsstelle zu errichten. Der zu diesem Zweck eingerichtete „Volksdeutsche Rat“ (VR) und dessen Nachfolgeorganisation, das „Büro von Kursell“ (BK), sahen sich aber sofort in zermürbende Kompetenzstreitigkeiten mit der AO verwickelt. Zu den Hauptstreitpunkten zählte die Frage der Aufteilung des „Spendenkuchens“ und die Zuständigkeit für die Deutschen jenseits der Grenzen.14 Paradoxerweise verschaffte die durch Hitler bestimmte zeitweilige Zurückhaltung der deutschen Außenpolitik den von Heß und Haushofer eingebundenen traditionellen Kräften, insbesondere dem VDA, in diesem Streit zunächst einen Feldvorteil.15 Im Konflikt mit der AO kam es zur Abgrenzung der Zuständigkeiten: Kursell sollte sich um die „Volksdeutschen“ kümmern, während Bohle sich auf die Betreuung der zahlenmäßig eher unbedeutenden Gruppe der deutschen Reichsbürger im Ausland („Reichsdeutsche“) beschränken musste. Diese Aufwertung des BK, das damit auch über die Vergabe aller Mittel im Bereich der Minderheitenbetreuung entschied, trug ihm die inoffizielle Bezeichnung „Volksdeutsche Mittelstelle“ ein.16 Damit endete 1936 eine erste Phase nationalsozialistischer „Volkstumsarbeit“, die organisatorisch von der Gleichschaltung der heterogenen und konkurrierenden volkstumspolitischen Aktivitäten geprägt war, inhaltlich jedoch weitgehend an den Prämissen der Weimarer Zeit festhielt. Die bis zu diesem Zeitpunkt im BK gebündelte Zuständigkeit für die „Volksdeutschen“ weckte das Interesse der SS für diesen Politiksektor. An der Jahreswende 1936/37 gelang es Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, den ohne Hausmacht innerhalb der NSDAP agierenden von Kursell auszuschalten. 17 Die

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land in so genannte „deutsche Sprachinseln“, über die zu Werbe- und Lehrzwecken Filme produziert wurden. HEINER SCHMITT, Kirche und Film. Kirchliche Filmarbeit in Deutschland von ihren Anfängen bis 1945, Boppard/Rhein 1979, S. 82. Vgl. dazu HANS VON RIMSCHA, Zur Gleichschaltung der deutschen Volksgruppen durch das Dritte Reich am Beispiel der deutschbaltischen Volksgruppe in Lettland. In: HZ 182 (1956), S. 29-63. Vgl. DONALD M. MCKALE, Ernst Wilhelm Bohle – Chef der Auslandsorganisation (AO). In: Die Braune Elite II. 21 weitere biographische Skizzen. Hrsg. von RONALD SMELSER u.a. Darmstadt 1993, S. 26-38. DERS., The Swastika Outside Germany, Kent (Ohio) 1977. HANS-ADOLF JACOBSEN, Die Gründung der Auslandsabteilung der NSDAP (1931-1933). In: Gedenkschrift Martin Göhring, Wiesbaden 1968, S. 353-368. DERS., Außenpolitik (wie Anm. 10), S. 90-160. Vgl. Karl Haushofer – Leben und Werk, Bd. I. Hrsg. von HANS-ADOLF JACOBSEN, Boppard/Rhein 1979, S. 279-281. PETER LONGERICH, Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München 1992, S. 24 f. JACOBSEN, Steinacher, S. 16, Dok. Nr. 2 „Neue Wege – erste Erfolge des VDA“ (wie Anm. 10). DERS., Außenpolitik(wie Anm. 10), S. 175 f. MARTIN BROSZAT, Der Staat Hitlers, 12. Aufl., München 1989, S. 274-283. Vgl. VALDIS O. LUMANS, Himmler’s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe 1933-1945, Chapel Hill/London 1993, S. 38. Vgl. JACOBSEN, Steinacher (wie Anm. 10), S. 351. RONALD M. SMELSER, Das Sudetenproblem

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Führung des offiziell in „Volksdeutsche Mittelstelle“ (VoMi) umbenannten BK übernahmen Anfang 1937 enge Vertraute Himmlers und Heydrichs: SSObergruppenführer Werner Lorenz18 als Leiter und Standartenführer Dr. jur. Hermann Behrends19 als Stabschef. Während sich Lorenz auf Repräsentation und offizielle Kontakte konzentrierte, waren das operative Tagesgeschäft und die heimlichen Kontakte zu den deutschen Minderheiten die Domäne von Behrends. Er blieb auch nach seinem Wechsel zur VoMi Angehöriger des SD und stellte diesem die Kontakte zu den deutschen Minderheiten für eine geheimdienstliche Nutzung zur Verfügung.20 Die Ernennung von Lorenz war der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Indienstnahme der volksdeutschen Minderheiten Europas durch die SS, auch wenn sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen an der Arbeit der VoMi zunächst nur wenig änderte.21 Hinter den Kulissen strebte die neue Führung der VoMi jedoch die Unterwerfung des weiterhin mächtigen VDA an.22 Dessen Leiter Steinacher hielt Lorenz in Fragen der Volkstumsarbeit und der deutschen Minderheiten für inkompetent. 23 Wichtiger jedoch waren die im Verlauf des Jahres 1937 immer deutlicher werdenden sachlichen Gegensätze.24 Der VDA wollte die Minderheitenverbände von einer offenen Konfrontation mit den jeweiligen Nationalstaaten abhalten, unterstützte sie jedoch uneingeschränkt im Kampf um ihre Minderheitenrechte. Himmler und seinen Vertretern an der Spitze der VoMi ging es hingegen um die bedingungslose Unterstützung der deutschen Außenpolitik. Mit dem Aufbau der Bündnisse mit Italien und der Sowjetunion barg aber bereits das Vorhandensein einer Minderheit ein außenpolitisches Konfliktpotential, das notfalls durch Umsiedlung auszuräumen war. Repräsentanten einer traditionellen „Volkstumsarbeit“ wie Steinacher wollten diesen Weg nicht mitgehen. Seine Ablösung am 19. Oktober 1937, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausbau der Achse Berlin-Rom stand, war daher nur folgerichtig.25

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und das Dritte Reich 1933–1938, München 1980, S. 163-168. JACOBSEN, Haushofer, Bd. II, S. 311, Dok. Nr. 166 (wie Anm. 14). DERS., Außenpolitik( wie Anm. 10), S. 231. Kursell wurde die Mitgliedschaft in der „Baltischen Bruderschaft“, einer erzkonservativen und antibolschewistischen Vereinigung, zum Vorwurf gemacht. Himmler vertrat die absurde Auffassung, es handle sich um eine getarnte probolschewistische Organisation. Vgl. KOEHL, RKFDV (wie Anm. 1), S. 37-39. DERS., Toward an SS Typology: Social Engineers. In: THE AMERICAN JOURNAL OF ECONOMICS AND SOCIOLOGY 18 (1959), S. 117 f. LUMANS (wie Anm. 16), S. 45-50. JACOBSEN, Außenpolitik (wie Anm. 10), S. 237 f. Vgl. ebd., S. 237. Koehl stellt Lorenz in eine Reihe mit Ulrich Greifelt, Konrad Meyer, Richard Hildebrandt und Rudolf Creutz. In diesen Männern sieht er Repräsentanten eines für die SS charakteristischen „Typus“, des „Social Engineers“. KOEHL, Typology, (wie Anm. 18), S. 113-126. Vgl. JACOBSEN, Steinacher, S. 390, Dok. Nr. 102 „Die Volksdeutsche Mittelstelle“. DERS., Außenpolitik (wie Anm. 10), S. 238. Vgl. LUMANS (wie Anm. 16), S. 60 f. Das Engagement der SS wurde allenfalls als eine Wende zu einer verlässlicheren und verantwortungsvolleren Politik begrüßt. Vgl. JACOBSEN (wie Anm. 14), Haushofer, II, S. 306, Dok. Nr. 163, Haushofer an Heß, 10.12.1936 (wie Anm. 14). Vgl. DERS., Außenpolitik (wie Anm. 10), S. 235. SMELSER (wie Anm. 17), S. 181. MCKALE, Swastika (wie Anm. 13), S. 108 f. JACOBSEN, Steinacher (wie Anm. 10), S. 391, Dok. Nr. 103 „Aus der VDA-Arbeit“. Vgl. ebd. (wie Anm. 10), S. 389, Dok. Nr. 102 „Die Volksdeutsche Mittelstelle“. Vgl. ebd. (wie Anm. 10), S. 351, Dok. Nr. 90. Vgl. GÜNTHER PALLAVER, Englands Angebot der Selbstbestimmung. In: Die Option. Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus. Hrsg. von KLAUS EISTERER u.a., Innsbruck 1989, S. 151-177. JACOBSEN, Steinacher, S. 412, Dok. Nr. 106 „Das Ende: Meine „Beurlaubung"“. Ebd., S. 413, Rudolf Heß an Hans Steinacher (wie Anm. 10), 19.10.1937.

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Im Verlauf des Jahres 1938 sollte sich zeigen, dass hinter der Fassade der Kontinuität mit Himmler und der SS Mitspieler auf den Plan getreten waren, die auch in der Praxis eine Abkehr von der „Volkstumsarbeit“ der Zwischenkriegszeit vollzogen. Zunächst aber schaffte ein Führererlass vom 2. Juli 1938, der die VoMi zur maßgeblichen Stelle in allen Volkstumsangelegenheiten erklärte und sie „mit der einheitlichen Ausrichtung sämtlicher Staats- und Parteistellen sowie mit dem einheitlichen Einsatz der in sämtlichen Stellen zur Verfügung stehenden Mittel für Volkstums- und Grenzlandfragen“ beauftragte, der SS eine gute institutionelle Ausgangsposition für die weitere Entwicklung.26 Von entscheidender Bedeutung für den Übergang von der „Volkstumsarbeit“ zu einer umfassenden Umsiedlungspolitik war die seit 1919 virulente Südtirolproblematik.27 Durch den „Anschluss“ Österreichs im Jahr 1938 gewannen Umsiedlungsszenarien, wie sie Ettore Tolomei28 bereits in den 1920er Jahren entworfen hatte, praktische Bedeutung.29 Italien sah sich mit dem Scheitern seiner Assimilierungspolitik und einer wachsenden Irredenta konfrontiert.30 Während die italienischen Umsiedlungsüberlegungen jedoch vor allem als Drohkulisse für die deutschsprachigen italienischen Staatsbürger gedacht waren,31 führte Hitlers Bekenntnis zur Brennergrenze als dauerhafter Trennungslinie der „Lebensräume

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Erlass Hitlers über die Volksdeutsche Mittelstelle, 2.7.1938. In: Akten der Parteikanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes. Bearb. von HELMUT HEIBER, München 1983, Nr. 207 00451. Weitergehende Bemühungen von Lorenz, die VoMi zu einem „Reichskommissariat für Volkstumsfragen“ (mit ihm als Staatssekretär) aufzuwerten, scheiterten jedoch am Einspruch Hitlers und am Widerstand der Ministerialbürokratie. Vgl. u. a. VoMi an Reichskanzlei, Entwurf für einen Führererlass über die Errichtung eines Reichskommissariats für Volkstumsfragen 5.10.1938, Bundesarchiv Berlin (künftig zit. BAB), R 43 II/124a, Bl. 6 f. Begründung für die Notwendigkeit der Errichtung eines Reichskommissariats für Volkstumsfragen, 5.10.1938, BAB, R 43 II/124a. Vermerk Staatssekretär Kritzinger für Reichsminister Lammers zum Erlassentwurf der VoMi v. 5.10.1938, Bl. 8 f. BAB R 43 II/124a, Bl. 15-15RS. Reichsminister Lammers, handschriftlicher Vermerk, 8.10.1938 (auf Kritzingers Vermerk v. 5.10.1938), BAB, R 43 II/124a, Bl. 15-15RS. Vermerk Staatssekretär Kritzinger über Treffen mit Behrends in der Reichskanzlei, 17.10.1938, BAB, R 43 II/124a, Bl. 17-17 RS. VoMi/Stabsführer Dr. Behrends an Kritzinger, 17.10.1938, BAB, R 43 II/124a, Bl. 18-21. Lammers an SdF und Reichsaussenminister, 7.11.1938, BAB, R 43 II/124a, Bl. 24. Lammers an Lorenz, 7.11.1938, BAB, R 43 II/124a, Bl. 23-24RS. MARKUS LENIGER, Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und Umsiedlungspolitik 1933-1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese, Berlin 2006, S. 33 f. LONGERICH (wie Anm. 14), S. 109 (wie Anm. 14). Vgl. JENS PETERSEN, Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933-1936, Tübingen 1973. Vgl. GISELA FRAMKE, Im Kampf um Südtirol. Ettore Tolomei (1865-1952) und das „Archivio per l'Alto Adige“, Tübingen 1987, S. 285. Vgl. WINFRIED SCHMITZ-ESSER, Hitler-Mussolini. Das Südtiroler Abkommen von 1939. In: AUßENPOLITIK 13 (1962), S. 397-409, hier S. 398. Zur italienischen Südtirolpolitik zwischen 1918 und 1922 LEOPOLD STEURER, Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919-1939, München 1980, S. 52-63. Vgl. CONRAD F. LATOUR, Südtirol und die Achse Berlin-Rom 1938-1945, Stuttgart 1962, S. 22. Generalkonsul Mailand an das Auswärtige Amt betr. Stimmung in Südtirol, 21.4.1938. In: AKTEN ZUR DEUTSCHEN AUSWÄRTIGEN POLITIK, Serie D, Band I. September 1937 bis September 1938: Von Neurath zu Ribbentrop, Nr. 748, S. 881. Als „endgültige Lösung des Problems der Deutschen des Oberetsch“ schlug Mussolinis Sonderbeauftragter Giovanni Preziosi vor, „die Deutschen Deutschland zurückzugeben.“ Preziosi an Mussolini, 18.3.1938, zitiert nach: FRAMKE (wie Anm. 28), S. 201. Italiens Außenminister Gaeleazzo Graf Ciano plädierte dafür „daß man die Menschen versetzt.“ GALEAZZO CIANO, Tagebücher 1937/38, Hamburg 1949, S. 137 f., Eintrag vom 3.4.1938. LUMANS (wie Anm. 16), S. 78. MCKALE, Swastika (wie Anm. 13), S. 137 f.

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beider Nationen“32 auf deutscher Seite zu konkreten Umsiedlungsplanungen. Am 27. Februar 1939 unterrichtete Martin Bormann, der Stabsleiter des SdF, in einem Runderlass die Parteidienststellen, dass die Übersiedlung von „Volksgenossen aus Südtirol mit ihren Familien“ ins Deutsche Reich in Zukunft zu begrüßen sei.33 In die gleiche Richtung zielten Überlegungen aus dem Umfeld Himmlers, die Volksdeutschen als Arbeitskräftereservoir für die auf Hochtouren laufende deutsche (Rüstungs-) Wirtschaft zu nutzen.34 Zur Verbesserung des getrübten deutsch-italienischen Verhältnisses beauftragte Hitler im Frühjahr 1939 Himmler, „die Ausbürgerung von 30.000 Südtirolern vorzubereiten“ und sie „in Deutschland in Arbeit zu vermitteln.“35 Im Sinne der von Ian Kershaw herausgearbeiteten Denkfigur der NS-Nomenklatur, wonach es darum gehe, dem „Willen des Führers entgegenzuarbeiten“, begnügte sich Himmler jedoch nicht mit der Abwicklung der angeordneten Teilumsiedlung. Vielmehr verfasste er ein Memorandum, das die von Hitler geforderte „endgültige“ und „radikale“ Lösung im Sinne einer zukünftigen Totalaussiedlung aller 250.000 Südtiroler interpretierte und konkrete Umsetzungsschritte skizzierte. Die endgültige Festlegung der Grenze dürfe nicht den Verzicht auf „wertvolles Blut“ bedeuten. Stattdessen müsse Deutschland „irgendwo auf seinem Machtgebiet, z.B. im Osten, Raum für 200.000 Menschen in Städten und Dörfern“ schaffen. Das Ansiedlungsgebiet sei „möglichst in einem rein fremdstämmigen Gebiet zu wählen und von allen Bewohnern“ zu räumen.36 Mit Himmlers Überlegungen zur Lösung des Südtirolproblems waren bereits im Mai 1939 die zentralen Bestandteile der späteren SS-Siedlungspolitik benannt: Die Vertreibung der autochthonen Bevölkerung und die Ansiedlung von „hochwertigem Menschenmaterial“. Die von Himmler zur Lösung des Südtirolproblems skizzierten Methoden besaßen für seine spätere Politik als RKF Modellcharakter. Spätestens mit dem Überfall auf Polen kam es zu einer Siedlungseuphorie und zu einer regelrechten Inflation möglicher Siedlungsräume. Ging es zunächst noch um die „Aufsiedlung der polnischen Westprovinzen“ und die Schaffung einer „Wehrgrenze“, führte der Feldzug gegen die Sowjetunion dann zum megalomanen „Generalplan Ost“, der die völlige „Umvolkung“ des Generalgouvernements und des Ostlandes bis zur Krim vorsah – was die Ausweisung von über 30 Millionen „Fremdvölkischen“ bedeutet hätte.37 32 33 34

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Rede Hitlers am 7.5.1938 im Palazzo Venezia, zitiert nach: LATOUR (wie Anm. 30), S. 26. Ebd., S. 30. Vgl. Himmler an Greifelt, Denkschrift über die Rückwanderung volks- und reichsdeutscher Arbeitskräfte aus dem Ausland in das Reich, 2.5.1938, BAB, NS 19/2213, Bl. 4–6. MCKALE, Swastika (wie Anm. 13), S. 157 f. Vortrag Greifelt (Januar 1939), abgedruckt in: DIETRICH A. LOEBER, Diktierte Option. Die Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 19391941, Neumünster 1972, S. 4-7. Himmler hatte die Disposition zu Greifelts Vortrag am 23.1.1939 mit der Randbemerkung „gut“ versehen. LATOUR (wie Anm. 30), S. 33. Die Entscheidung stand im Zusammenhang mit dem am 22.5.1939 in Berlin unterzeichneten deutsch-italienischen „Stahlpakt“. Himmler-Memorandum, zitiert nach: LATOUR (wie Anm. 30), S. 34 f. Vgl. HANS MOMMSEN, Umvolkungspläne des Nationalsozialismus und der Holocaust. In: Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektive der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Hrsg. von HELGE GRABITZ u.a., Berlin 1994, S. 68-84, hier S. 70 u. 77. ROLF-DIETER MÜLLER, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt a. M. 1991, S. 11-23, 83-104. HEIBER, S. 281325. KARL-HEINZ ROTH, „Generalplan Ost“ – „Gesamtplan Ost“. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse. In: RÖSSLER (wie Anm. 1), S. 25-117.

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Das unlösbare Problem aller Siedlungs- und Germanisierungsplanungen, die das angebliche Lebensraumdefizit des deutschen Volkes beseitigen sollten, bestand jedoch im fehlenden Siedlerpotential. Mit den Gebietsgewinnen ab September 1939 wuchs das Angebot von Siedlungsräumen, in denen die „gutrassigen, sehr bewußt deutschen und kämpferischen Volkselemente“38 aus Südtirol dringend benötigt wurden. So erklärt sich, dass diese zwar nacheinander für TirolVorarlberg, Mähren, die Beskiden, Burgund und schließlich die Krim vorgesehen wurden, tatsächlich aber in ihrer großen Mehrheit bis zum Ende des Nationalsozialismus in ihrer alten Heimat verblieben.39

Von der Um-Siedlung zur „Festigung deutschen Volkstums“ Alle im engeren Sinne siedlungspolitischen Ansätze der Zwischenkriegszeit waren von einem Bedarf für Siedlungsvorhaben ausgegangen. Dieser ergab sich für die entsprechenden Vorhaben der Weimarer Zeit aus der realen ökonomischen Krise (Arbeitslosigkeit, Krise der ostelbischen Landwirtschaft) oder aus dem behaupteten gesellschaftspolitischen Problem einer „Entwurzelung“ weiter Teile der deutschen Stadtbevölkerung. Da bereits die Grundannahmen dieser traditionellen Siedlungspolitik falsch oder lediglich ideologisch fundiert waren, blieben alle Ansätze einer Krisenbewältigung durch Siedlung erfolglos. Das Millionenheer der Arbeitslosen konnte nicht aufs Land gebracht werden. Die ökonomische Krise der ostelbischen Landwirtschaft wurde auch durch die Millionenmittel der „Osthilfe“ nicht gelöst, da ihre strukturellen Ursachen (unzeitgemäße Strukturen, fehlende Modernisierung) unangetastet blieben.40 Doch das Scheitern in der Realität tat der Faszination des Themas „Siedlung“ keinen Abbruch. Ihr waren nicht allein die Anhänger einer Blut- und Bodenideologie verfallen, sie fesselte nicht nur Agrarromantiker und Jünger einer „Zurück-zur-NaturPhilosophie“. Auch die beiden großen Kirchen versprachen sich in der Krise der Weimarer Republik von der „Verstärkung der ländlichen Siedlung im Osten“ eine wirksame Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Sie engagierten sich stark in eigenen konfessionellen Siedlungswerken. Damit verbanden sie die Hoffnung auf eine Abwendung breiter Bevölkerungsschichten vom „Moloch Großstadt“ und auf ein zukünftiges Aufblühen religiösen Lebens in neuen ländlichen Siedlungsräumen. So war denn folgerichtig auch für Bischof Maximilian Kaller, den Beauftragten der Fuldaer Bischofskonferenz für Siedlungsfragen, „Siedlung“ das „Rettungswort“.41 38 39

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Himmler-Memorandum, zitiert nach: LATOUR (wie Anm. 30), 34 f. Spätestens seit Herbst 1939 hatte sich ein reger Wettbewerb um die „rassisch hochwertigen“ Südtiroler entwickelt. Der Tiroler Gauleiter Franz Hofer forderte eine bestimmte Zahl Bauern für seinen Gau, Himmler sah deren Zukunft als Wehrbauern „im Osten“ (vgl. KOEHL, RKFDV, wie Anm. 1, S. 4-6), die Gauleitungen von Steiermark und Kärnten interessierten sich für die Südtiroler, weil mit diesen die antislowenische Boden- und Siedlungspolitik in Südkärnten und der Südsteiermark intensiviert werden sollte (vgl. STEURER, Südtirol, wie Anm. 29, S. 375 -377). Zu den diversen erfolglosen siedlungspolitischen Aktivitäten vgl. die Beiträge von HAROLD POOR, GERALD D. FELDMAN, DIETER GEßNER und TILMAN P. KOOPS. In: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Hrsg. von HANS MOMMSEN u.a., 2 Bde., Düsseldorf 1977. Vgl. TILLMANN BENDIKOWSKI, „Lebensraum für Volk und Kirche“. Kirchliche Ostsiedlung in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“. Stuttgart 2001, S. 9 f., 233 f. DERS., „Siedlung heißt das Rettungswort!“ – Bischof Maximilian Kaller und sein Engagement für die Ostsiedlung

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Es bedurfte allerdings erst der von Himmler forcierten Umsiedlung der Südtiroler und der im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes vereinbarten Umsiedlungen von „Volksdeutschen“ aus Ostpolen, dem Baltikum und Südosteuropa, um einen realen Siedlungsbedarf zu erzeugen. Am Vorabend des Krieges gegen die Sowjetunion stand durch die außenpolitisch motivierte Abkehr von der traditionellen „Volkstumsarbeit“ ein Siedlerpotential von etwa 500.000 Menschen zur Verfügung, das die siedlungspolitischen Zukunftsvisionen Himmlers beflügelte. Die Notwendigkeit, innerhalb kurzer Zeit neue Siedlungsgebiete für die heimatlosen „Volksdeutschen“ finden zu müssen, korrespondierte in idealer Weise mit dem Traum vom wieder aufgenommenen „Germanenzug [...] nach dem Land im Osten.“42 Allerdings unterschied sich die in der Folgezeit von Himmler in seiner Eigenschaft als RKF unter Einsatz der volkdeutschen Umsiedler verantwortete Siedlungspolitik fundamental von den siedlungspolitischen Ansätzen der Zwischenkriegszeit. Nicht so sehr in Bezug auf ihren ideologischen Überbau, der altbekannten antiurbanen Stoßrichtung, die in bäuerlicher Siedlung das Heilmittel für angebliche degenerative Erscheinungen am deutschen Volkskörper sah – wohl aber in ihrer Umsetzung. Denn alle siedlungspolitischen Maßnahmen des RKF waren in ihrem Kern Um-Siedlungen von ländlichen, bäuerlichen Bevölkerungsgruppen. „Volksdeutsche“ Bauern aus Südtirol, Wolhynien, Galizien, der Dobrudscha sollten polnische, später ukrainische und russische Bauern ersetzen. Städtische Bevölkerung, die ja ursprünglich im Fokus der Siedlungsbewegung stand, sollte ausdrücklich nicht „umgeschult“, Umsiedler mit städtischer Herkunft wie die Baltendeutschen sollten wieder in Städten (Danzig, Posen, Litzmannstadt) angesiedelt werden. Siedlungspolitik des RKF war in der Praxis nicht die in der Zwischenkriegszeit angestrebte Gewinnung von Neubauern, sondern der Austausch landwirtschaftlicher und schließlich auch städtischer Bevölkerungsgruppen nach ethnischen Gesichtspunkten. Jenseits dieser tatsächlichen Politik wurde allerdings an den alten Träumen, die Deutschen wieder zu einem Volk von Bauern zu machen, festgehalten. Nach dem Sieg im „Osten“ sollte aus den Erbteilungsgebieten des Westens, aber vor allem aus dem Millionenheer der Soldaten ein neuer Siedlerstand gewonnen werden. Aus ganz Europa sollten siedlungsinteressierte Angehörige „germanischer Völker“ als Kolonisatoren in den Osten strömen.43 Man kann diese Visionen getrost in das Reich bloßer Wunschträume verweisen. Mit den auf dem Papier addierten potentiellen Siedlern wurde aber, ähnlich wie mit den realen Umsiedlern, die Dynamik von Vertreibung und Massenmord verstärkt und exterminatorisches Handeln als Vorarbeit zukünftiger Siedlungspolitik begründet.

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1928–1941. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 51 (2005), S. 73–95. „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten.“ ADOLF HITLER, Mein Kampf, 35. Aufl., München 1933, S. 742. Alexander Dolezalek (Siedlungswissenschaftliches Referat beim HSSPF Warthe) an Emil Keuchenius, betr. „holländische und flämische Menschen für den Osten“, 16.1.1941, BAB, R 49/3066, Bl. 12-14. Dr. Heinz Kloss (Leiter der Publikationsstelle Stuttgart-Hamburg/DAI), Denkschrift über die Zusammenfassung eines Teils der deutschamerikanischen Kriegsgefangenen in einem eigenen Lager, o.D. [1943], Bundesarchiv Koblenz (künftig zit. BAK), R 57/189, Bl. 1045-1050.

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Auf der Ebene praktischer Umsiedlungspolitik stellten die Umsiedlungsvereinbarungen im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes Deutschland im September 1939 zunächst vor die Aufgabe, innerhalb kürzester Zeit weit über 100.000 Menschen „heim ins Reich“ zu holen. Deutsche Minderheiten aus dem östlichen Polen, aus dem Baltikum und aus den von Rumänien an die Sowjetunion abgetretenen Gebieten sollten den Grundstock für eine „Germanisierung“ der neuen Ostgebiete bilden. Da Himmler ohnehin bereits mit der Abwicklung der Südtirolumsiedlung befasst war, lag es nahe, ihn auch in dieser Lage einzubeziehen. Ein unterschriftsreifer, aber auf Grund des Überfalls auf Polen nicht mehr in Kraft gesetzter „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Aufnahme der Reichs- und Volksdeutschen aus Südtirol in das Gebiet des Deutschen Reiches“44 ermächtigte den RFSS, sich zur Durchführung seiner Aufgabe der vorhandenen Behörden und Einrichtungen des Reichs, der Länder und der Gemeinden sowie der sonstigen öffentlichen Körperschaften zu bedienen. Die Mittel zur Durchführung sollte der Reichsfinanzminister zur Verfügung stellen.45 Der Erlass diente als eine der Vorlagen für die Ernennung Himmlers zum RKF. In der Reichskanzlei beließ man es jedoch nicht bei einem bloßen Austausch des Wortes „Südtirol“ im Erlassentwurf. In den Schubladen der Reichskanzlei lagen neben dem Südtirolerlass der bereits erwähnte „Entwurf eines Erlasses über die Errichtung eines Reichskommissariats für Volkstumsfragen“ vom Oktober 193846 und ein „Erlaß des Führers und Reichskanzlers an die Obersten Reichsbehörden über die Festigung der östlichen Grenzgebiete vom 1. Februar 1939“.47 Angesichts der anstehenden Umsiedlungen griff man auch auf diese beiden Vorlagen zurück und kombinierte sie mit dem Südtirolerlass zum RKFErlass vom 7. Oktober 1939. Dieser beauftragte den RFSS mit der Umsiedlung von „Volksdeutschen” in die „neuen deutschen Ostgebiete“ und mit der „Festigung deutschen Volkstums” in diesen Gebieten.48 Hinter dem von der NSPropaganda sogleich zur „gewaltigste[n] staatsgelenkte[n] Völkerwanderung aller Zeiten“ verklärten Projekt verschwand die überaus unpopuläre Umsiedlungen der Südtiroler und Baltendeutschen aus der öffentlichen Wahrnehmung.49 Der RKF sollte sich der Mithilfe bereits bestehender Einrichtungen bedienen. Seine Zuständigkeit wurde nicht auf die annektierten polnischen Gebiete beschränkt, sondern erstreckte sich auf den gesamten deutschen Machtbereich.50 Obgleich der Erlass die Errichtung eines „Reichskommissariats“ bzw. einer eigenständigen Dienststelle gar nicht erwähnte, ging Himmler sofort daran, einen RKFApparat aufzubauen. Dabei nutzte er die bereits im Juni 1939 zur Koordinierung der Südtirolumsiedlung eingerichtete „Leitstelle für Ein- und Rückwanderung“ als 44 45 46 47 48 49

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BAB, R 43 II/1412, Bl. 19-21. Ebd., Bl. 5. BAB, R 43 II/124a, Bl. 6 f. (vgl. Anm. 26). Ebd., Bl. 198 ff. Letzterer stand in der Tradition der erfolglosen „Osthilfe“-Bemühungen der Weimarer Zeit. IMT, (wie Anm. 3), Bd. 26, S. 255-257. Zitat aus einer Rede Greifelts vom 13.12.1939 (Aktennotiz, wahrscheinlich von Dr. Könekamp, DAI, 13.12.1939, BAK, R 57/748). Vertraulicher Vermerk Dr. Kruse, 15.12.1939, DAIAussenstelle Berlin, BAK, R 57/1081. Die Einschränkung „staatsgelenkt“ fiel im allgemeinen Gebrauch der Floskel gelegentlich weg und sie mutierte gar zur „gewaltigsten Völkerwanderung aller Zeiten“ und „einer der genialsten Ideen unseres Führers.“ SS-OStuF/DRK-Hauptführer Honisch, 15.3.1940, „Großeinsatz Osten“, Generalbericht der Sonderbereitschaft Honisch, BAB, R 49/3055, Bl. 1-21, hier Bl. 21. Vgl. BUCHHEIM (wie Anm. 1).

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Keimzelle. Ihr Leiter Greifelt wurde von Himmler zum Chef der neuen RKFDienststelle berufen. Mitte Oktober 1939 erfolgte die Umbenennung des Führungsstabes in „Dienststelle des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“. Mitte Juni 1941 wurde sie „den Hauptämtern der Reichsführung SS gleichgestellt”. Seitdem hieß Greifelts Dienststelle „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums - Stabshauptamt (StHA)“.51 Die Vollmachten des RKF reichten über die bloße Umsiedlung Volksdeutscher weit hinaus. Mit der Ermächtigung zur „Ausschaltung schädlicher Einflüsse“ erhielt Himmler einen Blankoscheck für die Vertreibung der autochthonen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Der Erlass stellte dem RFSS insgesamt drei Aufgaben: „1. die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland, 2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten, 3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen.“52 Neben den Aufgaben regelte der Erlass auch die Finanzierung des RKF, indem er die zunächst für die Südtirolumsiedlung gedachte Anschubfinanzierung des Reichsfinanzministeriums (RFM) auf das neue, ungleich größere Projekt übertrug.53 Der RKF forderte danach beim RFM je nach Bedarf Mittel an, ohne dass ein ordnungsgemäßer Etat oder Verwendungsnachweise vorgelegt wurden.54 Aus den ursprünglich vorgesehenen zehn Millionen Reichsmark, die der RKF am 24. Oktober 1939 beim RFM abgerufen hatte,55 wurden im Verlauf des Rechnungsjahres 1939 bereits 50 Millionen Reichsmark.56 In den folgenden Monaten und Jahren erfolgten die Anforderungen oftmals im Wochenrhythmus. Für das Rechnungsjahr 1940 forderte der RKF 360,2 Millionen RM, für 1941 397,7 Millionen RM und für die drei ersten Quartale des Jahres 1942 115 Millionen RM an. Ein großer Teil der Mittel ging an die VoMi. Bis zum 30. April 1941 wurden ihr allein zur Finanzierung der Umsiedlerlager insgesamt 123.777.000 RM überwiesen.57 Angesichts dieser erheblichen Beträge verwundert es, dass die Frage der Finanzierung des RKF und der in seinem Auftrag agierenden Institutionen zu den bislang von der Forschung vernachlässigten Aspekten nationalsozialistischer Umvolkungsplanung und -politik gehört. Der Kern der späteren Germanisierungspolitik des RKF bestand in der Vertreibung der autochthonen Bevölkerung und in der Verteilung des dadurch „freigemachten“ Besitzes an volksdeutsche Umsiedler, autochthone Volksdeutsche und Zuwanderer aus dem Altreich. Dieses Verfahren 51 52 53 54 55

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Zum Wachstum des RKF vgl. Organisations- und Geschäftsverteilungsplan des RKFStabshauptamtes, 1.8.1942, BAB, R 49/1, Bl. 1-52, hier Bl. 46. IMT (wie Anm. 3), Bd. 26, S. 255-257. Vgl. BAB, R 43 II/1412, Bl. 5. Vgl. ebd., Bl. 11-13, 45. RFM, Vermerk, 24.11.1941, BAB, R 2/537, Bl. 35. Vgl. BAB, R 2/552, Bl. 117: Aufstellung über die dem RKF zur Verfügung gestellten Mittel, o.D. [November 1942]. Für das Kalenderjahr 1939 werden Zahlungen von insgesamt 20 Mio. RM verzeichnet. Weitere, jeweils 10 Mio. RM umfassende Tranchen wurden am 9.1.1940, 26.2.1940 und 20.3.1940 angefordert. Vgl. „Reichshaushaltsmittel des RKF“, Vermerk November 1942, BAB, R 2/552, Bl. 59-61. Vgl. ebd. Aus der Aufstellung geht hervor, dass der RKF bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 922,9 Mio. RM angefordert hatte, von denen allerdings lediglich 838.051.554,16 RM von der Reichshauptkasse verausgabt wurden. Der Vermerk betont, dass die Reichshauptkasse die verausgabten Beträge „nicht spezifizieren“ könne.

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hatte schon bei den damaligen Akteuren zu der irrigen Annahme geführt, die Germanisierung der neuen deutschen Ostgebiete sei via Raub und Vertreibung und auf Kosten der Opfer für das Deutsche Reich zum „Nulltarif“ zu haben. 58 Die Fehleinschätzung der Umsiedlungsplaner spiegelte sich im lässigen Finanzgebaren des RKF und erschwert heute eine exakte Bezifferung der für die Germanisierungspläne eingesetzten Haushaltsmittel.59 Dem Tätigkeitsbericht des RKFStHA von Ende 1942 über die bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Umsiedlungsmaßnahmen ist zu entnehmen, dass „für die Aufgaben des RKF [...] bisher rund 770 Millionen RM“ verbraucht wurden. Weitere 225 Millionen RM seien für die „Herrichtung und Ausstattung der Siedlerhöfe in den eingegliederten Ostgebieten“ aufgebracht worden.60 Darüber hinaus müssen auch noch Personalkosten für RKF-Mitarbeiter aus dem Etat des Reichsinnenministeriums geflossen sein, da sie in dessen Haushalt beziehungsweise Stellenplan geführt wurden.61 Bis Ende 1942 wurden also etwa eine knappe Milliarde Reichsmark für die Um-Siedlungsmaßnahmen des RKF aufgebracht. Auch wenn mit der Wende von Stalingrad das Siedlungswerk einen entscheidenden Rückschlag erfuhr, muss davon ausgegangen werden, dass zur Finanzierung der Lagerunterbringung „volksdeutscher“ Umsiedler durch die VoMi bis zum Ende des Krieges weiter in gleicher Weise regelmäßig Mittel abgerufen wurden. Auf der Basis der bis April 1941 recht exakt spezifizierten Zahlen für die Aufgaben der VoMi (123,7 Millionen RM in 19 Monaten,62 das heißt im Durchschnitt 6,5 Millionen RM pro Monat) ist davon auszugehen, dass in den verbleibenden 56 Monaten bis April/Mai 1945 allein für die VoMi weitere 364,8 Millionen RM zu veranschlagen sind. Damit dürften bis zum Ende des Regimes geschätzt also mindestens 1,5 Milliarden RM für Aufgaben des RKF ausgegeben worden sein.

Elemente einer SS-Siedlungspolitik: Lager – Selektion – Arbeitseinsatz Am 12. Juni 1942 kritisierte Himmler in einem Schreiben an den Chef des RKF-StHA Greifelt dessen Planungen zu einem „Generalplan Ost“: „In einem Punkt bin ich, glaube ich, falsch verstanden worden. In diesem Zwanzigjahresplan muß die totale Eindeutschung von Estland und Lettland sowie des gesamten Generalgouvernements mit enthalten sein. [...] Ich persönlich habe die Überzeugung, daß es zu schaffen ist. Der jetzige Vorschlag, das Generalgouvernement und das gesamte Ostland nur mit Stützpunkten zu versehen, entspricht meinen Gedanken und Wünschen nicht.“63 58

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Vgl. u.a. „Generalplan Ost“, 28.5.1942, Anlage 2: „Die für den Siedlungsaufbau erforderlichen Mittel sollen weitgehend aus der Wertmasse der Siedlungsgebiete selbst aufgebracht werden.“ MÜLLER (wie Anm. 37), S. 186. Vertreter der NSDAP, die sich im Frühjahr 1942 einen Überblick über die Finanzierung des RKF verschaffen wollten, erhielten vom RFM lediglich die Auskunft: „Ein Haushaltsplan bezw. Stellenplan besteht nicht. Die Haushaltsmittel werden zugewiesen aus dem außerordentlichen Haushalt Abschnitt XVII Teil V Unterabschnitt Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Es sind seit Mitte Oktober 1939 bis Ende April 1942 rund 800.000.000 RM bereitgestellt worden.“ BAB, R 2/31682, o. Bl. RKF-StHA, Tätigkeitsbericht über die Umsiedlungsmaßnahmen (Ende 1942). In: MÜLLER (wie Anm. 37), S. 203 f. Vgl. Dr. Brack/Parteikanzlei an Steueramtmann Leschke/RFM, 8.5.1942, BAB, R 2/31682, o. Bl. Schreiben Steueramtmann Leschke an Dr. Brack, 13.5.1942, ebd. Vgl. „Reichshaushaltsmittel des RKF“, Vermerk November 1942, BAB, R 2/552, Bl. 59-61. Himmler an Greifelt, 12.6.1942. In: HEIBER (wie Anm. 1), S. 325.

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Der Graben zwischen den „Gedanken und Wünschen“ Himmlers und den von ihm getadelten Planungen ergab sich aus dem limitierten Siedlerpotenzial einerseits und den nahezu unendlichen Räumen, die es zu besiedeln galt, andererseits. Während Himmler diese Diskrepanz nicht etwa durch ein Abrücken von den Endzielen, sondern lediglich durch eine Zwanzigjahresfrist, einen festen persönlichen Willen und Überzeugung zu überbrücken suchte, hatten sich die Siedlungsplaner angesichts des Menschenmangels auf die Errichtung von „Marken und Stützpunkten“ eingestellt.64 Die unterschiedlichen Auffassungen über den richtigen Weg zum allgemein akzeptierten Endziel einer „totalen Eindeutschung“ bis zum Ural, die schon zwischen Himmler und seiner Planungsabteilung bestanden, verstärkten sich, wenn es um konkrete Maßnahmen in den eingegliederten Ostgebieten ging. Mit Arthur Greiser, dem Gauleiter des Warthegaus, der ebenso wie Himmler das Endziel einer „totalen Eindeutschung“ der neuen Ostgebiete anstrebte,65 gab es grundsätzliche Differenzen über die aktuell notwendigen und möglichen siedlungspolitischen Maßnahmen in seinem Machtbereich. Ihm lag vor allem an einer möglichst reibungslosen, effizienten landwirtschaftlichen Produktion. Die Ersetzung erfahrener polnischer Landarbeiter durch volksdeutsche Umsiedler bedeutete in dieser Perspektive ebenso eine Gefährdung der Effizienz wie die vom RKF angestrebte Agrarstruktur. Ein „total eingedeutschter“ Warthegau – für Himmler und den RKF ein möglichst schnell zu erreichendes Ziel – erschien Greiser allenfalls in „dreißig, vierzig Jahren“ realisierbar.66 Frei schalten und walten konnte Himmler dagegen in den virtuellen, unendlichen Weiten zukünftig zu erobernden Landes im „Osten“ oder in jenem Zwischenreich, das zwar nach dem Überfall auf die Sowjetunion in deutscher Hand war, aus Gründen militärischer Notwendigkeit jedoch zunächst nicht in die eher hemmenden Verwaltungsstrukturen des Reichsgebietes eingebunden werden konnte. Hier kam es, sozusagen unter „Biotopbedingungen“, zu den beiden einzigen Fällen einer genuinen SS-Siedlungspolitik. Das „Zamość-Projekt“ im Distrikt Lublin und die Siedlungsaktivitäten im Generalkommissariat Shitomir („Hegewald“) belegen zwar die enge Verzahnung von Vernichtungs- und Siedlungspolitik.67 Sie sind aber durchaus nicht als Modellfälle für die Zukunft zu werten. Eine 64 65 66

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Vgl. ALY, Vordenker (wie Anm. 1), S. 401-404. Vgl. IAN KERSHAW, Arthur Greiser – Ein Motor der „Endlösung“. In: SMELSER, Braune Elite II (wie Anm. 13), S. 116-127. SS-Ansiedlungsstab Posen, Planungsabteilung (Dolezalek), Vermerk, 12.2.1941, BAB, R 49/3066, Bl. 43-47. Es handelt sich um die Aufzeichnung eines Gesprächs, das Dolezalek mit Greiser und dessen persönlichem Referenten Oberregierungsrat Siegmund führte. Für die Planer des RKF gehörte der Warthegau und das gesamte annektierte Westpolen hingegen zu den „Siedlungsgebieten“, die möglichst schnell „germanisiert“ werden sollten. Vgl. ALY, Vordenker, S. 401 (wie Anm. 1). Im Kreis Zamość (Distrikt Lublin/Generalgouvernement) erfolgte, nachdem bereits zuvor alle Juden entfernt und im Zuge der „Aktion Reinhard“ ermordet worden waren, von Ende 1942 bis Sommer 1943 die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung und die Ansiedlung von Deutschstämmigen und „Volksdeutschen“. HEINEMANN, S. 403-414. In „Hegewald“ (Reichskommissariat Ukraine) hatte Himmler während der Sommeroffensive 1942 sein Feldhauptquartier. Anfang September 1942 wies er den Reichskommissar für die Ukraine Erich Koch an, die etwa 43.000 „Volksdeutschen“ im Generalkommissariat Shitomir „zur Sicherung der bandengefährdeten und wichtigen Orte Korosten, Hegewald und Eichenhain“ in diesen Gebieten „geschlossen“ anzusiedeln. HEINEMANN (wie Anm. 2), S. 453-464, hier S. 453.

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solche Sicht lässt sich lediglich vertreten, wenn man den brutalen Vernichtungswillen der Akteure und ihre skrupellosen Zukunftsvisionen als einzigen Maßstab nimmt und von den vollkommen anderen Rahmenbedingungen in den auch in der Zukunft, das heißt nach einem „Endsieg“, vor allem in den eingegliederten Ostgebieten liegenden Hauptsiedlungsräumen (Danzig-Westpreußen, Warthegau) absieht. „Zamość“ und „Hegewald“ sind eher als eine „Flucht nach vorn“ zu werten, mit der man der deprimierenden Siedlungsrealität durch das Setzen kurzfristiger „Erfolge“ zu entkommen suchte und gleichzeitig eine Maßnahme zur Partisanenbekämpfung mit einem siedlungsideologischen Überbau versehen konnte. In der Realität des siedlungspolitischen Alltagsgeschäfts führte der Weg der etwa 500.000 „volksdeutschen“ Umsiedler zunächst aber nicht in die neuen Ostgebiete, sondern in eigens errichtete Umsiedlerlager.68 Die Unterbringung der Umsiedler verursachte zunächst erhebliche Probleme, da der im Aufbau befindliche RKF-Apparat diese Aufgabe aus eigener Kraft nicht bewältigen konnte.69 Himmler war daher auf die Hilfe anderer Institutionen angewiesen.70 Allein die VoMi verfügte über brauchbare Erfahrungen in diesem Bereich. Die ihr unterstehende Beratungsstelle für Einwanderer (BfE) betrieb seit 1934 an den damaligen Grenzen zu Österreich und Polen Lager, in denen volksdeutsche Flüchtlinge aus diesen Ländern Unterkunft fanden.71 Am 27. Oktober 1939 wandte sich Himmler an die VoMi und erteilte ihr die Anordnung, neben der Aussiedlung der Volksdeutschen die notwendigen Vorbereitungen für eine vorläufige Unterbringung der Umsiedler in Lagern zu treffen.72 Am 4. November 1939 ermächtigte Himmler die VoMi, sich unter Berufung auf den RKF-Erlass „der Mithilfe der vorhandenen Behörden und Einrichtungen des Reiches, der Länder und der Gemeinden sowie der sonstigen öffentlichen Körperschaften“ zu bedienen. Gleichzeitig wurde die VoMi ermächtigt, geeignete Gebäude und Räume zu beschlagnahmen.73 Damit erhielt die VoMi einen neuen Arbeitsschwerpunkt, der ihren Charakter in den folgenden Jahren von Grund auf veränderte. Lag die Hauptaufgabe zuvor in der Gleichschaltung, Lenkung und Instrumentalisierung volksdeutscher Minderheiten im Ausland, also im Bereich traditioneller „Volkstumsarbeit“, so begann jetzt eine Entwicklung, die aus ihr eine Einrichtung für die Unterbringung und Betreuung der volksdeutschen Umsiedler und einen der größten Lagerbetreiber

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Vgl. MARKUS LENIGER, „Heim im Reich?“ – Das Amt XI und die Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle 1939-1945. In: BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DES NATIONALSOZIALISMUS 17 (2001), S. 81-109. DERS., Volkstumsarbeit (wie Anm. 26), S. 91-147. Vgl. die Zahlen zu den einzelnen Umsiedlungsgebieten im Jahresbericht des RKF 1942, „Die Ostumsiedlung: Übersicht“, BAB, R 49/14, Bl. 9. Vgl. Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums, 7.10.1939. In: IMT, (wie Anm. 3), Bd. 26, S. 256. Vgl. Lorenz an Lammers, 10.6.1939, BAB, R 43II/1409, Bl. 7. Behrends an Lammers, 1.8.1939, BAB, R 43II/1409, Bl. 17. Bis zum 26. Juli 1939 hatten 70.000 „Flüchtlinge“ die 16 Lager der BfE durchlaufen. Himmler war über diese Aktivitäten informiert. Als die Frage der Baltenumsiedlung auf der Tagesordnung stand, lag es nahe, sich der VoMi zu bedienen. Vgl. die Zusammenfassung der Schreiben und Anordnungen des RKF betr. Beauftragung der VoMi in BAB, R 57neu/126; RFSS/RKF, Anordnung 2/VI, 30.10.1939. In: Der Menscheneinsatz. Grundsätze, Anordnungen und Richtlinien, hrsg. von der HA I des RKF (Dezember 1940), Berlin 1940, S. 22. BAB, R 57neu/126.

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des Deutschen Reiches machte.74 Gleichzeitig verlor sie jedoch ständig an politischem Gewicht, da ihre zentrale Stellung bei der Führung und Finanzierung der deutschen Minderheiten mit der fortschreitenden Umsiedlung zunehmend bedeutungslos wurde.75 Dem politischen Bedeutungsverlust stand eine Aufblähung der Institution gegenüber. Die VoMi verfügte schließlich über nicht weniger als elf Ämter, die alle nur denkbaren Aspekte der ‚Volkstumsarbeit’ bearbeiteten. Im Dienst des RKF stand, neben den Ämtern VI und VII, vor allem das Amt XI ‚Umsiedlung’. Ihm waren zum einen der ‚Einsatzstab Litzmannstadt’ unterstellt, zum anderen die Einsatzverwaltungen und Einsatzführungen in allen Gauen, in denen Umsiedlerlager errichtet wurden.76 Ehemalige Mitarbeiter der BfE bildeten den Kern der Führungsmannschaft des Amtes XI, das von den SSSturmbannführern Friedrich-Wilhelm Altena und Hans Hagen geleitet wurde.77 Die VoMi konnte anfangs die ihr gestellte Aufgabe der Schaffung von Lagerkapazitäten durch enge Kooperation mit den Gauleitungen erfüllen. Die Einrichtung der Lager war zunächst aus der Not geboren, die Umsiedler nicht sofort in neuen Wohnungen und Höfen unterbringen zu können. Doch bald begriff man den Lageraufenthalt als Chance für eine vereinheitlichende Umerziehung der heterogenen Umsiedlergruppen, vor allem aber für eine nach „rassischen“ und „erbbiologischen“ Kriterien erfolgende Selektion. Letztere teilte die Umsiedler ein in so genannte O-Fälle, die für die Ansiedlung im Osten als geeignet erachtet wurden, so genannte A-Fälle, die aufgrund mangelnder rassischer, erbbiologischer und politischer „Qualität“ lediglich im Altreich untergebracht werden sollten, und so genannte „S-Fälle“, für die keine Aufnahme in die „Volksgemeinschaft“ vorgesehen war.78 Je länger die Umsiedler jedoch in den Lagern verblieben, desto größer wurden die Probleme mit der Disziplinierung und Ruhigstellung. Hinzu kam, dass die längerfristige Lagerunterbringung enorme Kosten verursachte. Dieser Kostendruck führte rasch zur Einführung einer Arbeitspflicht. Durch Erwerbstätigkeit 74

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Auf dem Höhepunkt der Umsiedlungen standen über 1.500 Lager unter dem Kommando der VoMi. Vgl. LUMANS (wie Anm. 16), S. 186. HELLMUT SOMMER, Umsiedler – kämpfende Helfer bei der Neuordnung Europas, 19.12.1940, BAK, R 57neu/10, o. Bl., darin wird die Anzahl der VoMi-Lager zu diesem Zeitpunkt mit über 1.375 angegeben, von denen etwa 800 voll belegt waren. Vgl. MÜLLER (wie Anm. 37), S. 201. Vgl. Organisationsplan des Hauptamtes VoMi (Stand: 15.6.1944), BAB/Berlin Document Center (BDC) SS-HO 3508. BUCHHEIM, S. 247. Die endgültige Einbindung in den RKF-Archipel erfolgte mit dem Erlass des RFSS/RKF v. 9.9.1942, der zu einer Kompetenzabgrenzung zwischen RKF-StHA und VoMi führte. Sie war nun zuständig für „Absiedlung“, Transport und Versorgung der Umsiedler in den Lagern und die „Führung“ der außerhalb der Reichsgrenzen ansässigen deutschen Volksgruppen. Vgl. BUCHHEIM (wie Anm. 1), S. 261. Vgl. LUMANS (wie Anm. 16), S. 142-145. Vgl. ebd., S. 60 f. Hagen leitete die Abteilung Umsiedlung-Verwaltung (BAB/BDC, SSO-Akte Hans Hagen u. SL 9, S. 43). Zu seinen Aufgaben gehörte die finanzielle Aufsicht über alle Außenstellen, die Besoldung des Lagerpersonals, die Beschaffung von beweglichem Inventar, Verpflegung und Bekleidung, der Abschluss von Pachtverträgen für Lagerobjekte, der Barackenbau und die Organisation von Instandsetzungsmaßnahmen. RKF/HA VoMi: Organisation und Geschäftsverteilungsplan v. 15.6.1944, BAB/BDC, SS-HO 3508, Bl. 30. Altena war Leiter der Abteilung Umsiedlung-Lagerführung. Zu seinen Aufgaben gehörte die Korrespondenz mit den Lagerführern, die Lagerinspektion, die Auswertung von Berichten, die Schulung und die Umsiedlerbetreuung. Seine Abteilung führte außerdem die zentrale Lagerstatistik und die Zentralkartei der Umsiedler und organisierte den Transport der Umsiedler und ihres Gepäcks innerhalb des Reiches. BAB/BDC, RuSHA-Sippenakte und SSO-Akte Friedrich-Wilhelm Altena. Vgl. auch ebd., SL 9, S. 2; SS-HO 3341, S. 4. SS-HO 4815, S. 28 und SS-HO 7139, S. 99. LENIGER, Volkstumsarbeit (wie Anm. 26), S. 163-168.

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sollten die Umsiedler zu ihrem eigenen Unterhalt beitragen.79 Dabei galt es, einen schwierigen Spagat zu bewältigen. Die O-Fälle sollten auf keinen Fall „Geschmack“ an dem mehr oder weniger geregelten Arbeitsablauf eines Arbeiters bekommen, um nicht für die spätere Siedlungsaufgabe „verdorben“ zu werden. Der Arbeitseinsatz hatte also bei zukünftigen Ostsiedlern lediglich „vorläufig“ zu sein. Derartige Einschränkungen galten für die A-Fälle zwar nicht, doch standen für sie außerhalb der Lager oftmals keine Wohnungen zur Verfügung, was ihren Aktionsradius bei der Arbeitsaufnahme erheblich einschränkte. Zur Organisation des Arbeitseinsatzes der A-Fälle errichtete der RKF den Ansiedlungsstab Altreich/Ostmark.80 Aufgrund der inneren Widersprüche der RKFUmsiedlungspolitik konnte er seine eigentliche Aufgabe, die Reduzierung der Unterbringungskosten durch Entlastung der Lagerkapazitäten bei gleichzeitiger Ausnutzung der Umsiedlerarbeitskraft für die deutsche Wirtschaft, nicht erfüllen. Die Lager der VoMi blieben bis zum Kriegsende Sammelstellen für Menschen, die nicht angesiedelt werden sollten, konnten oder durften. Für diese gab es zwar Arbeit, aber oftmals keine Unterkünfte außerhalb der Lager; ihr Status unterschied sich in einigen Betrieben nur graduell von jenem ziviler Zwangsarbeiter.81 Wie rücksichtslos der RKF auch gegen potentiell wertvolles „Siedlermaterial“ vorging, wenn es kriegswirtschaftlich geboten war, macht das Beispiel von Umsiedlern aus dem Buchenland (Bukowina) deutlich. Zunächst in VoMiUmsiedlerlagern in Sachsen/Vogtland untergebracht, wurden alle arbeitsfähigen Männer ohne Ansehen ihrer beruflichen Vorbildung und Herkunft zur Arbeit im Wolfram-Erzbergbau verpflichtet. Nach zahlreichen Protesten wurde einigen Großbauern und sonstigen wohlhabenden Umsiedlern die Arbeit im Bergwerk erlassen. Die Mehrzahl, insbesondere die A-Fälle, blieb aber ungeachtet ihrer bäuerlichen Herkunft im Erzbergbau.82 Die „Selektion“ der Umsiedler lag nicht in den Händen der VoMi, sondern bei der Einwandererzentralstelle (EWZ), einer Sonderbehörde, die der Chef der Sicherheitspolizei und des SD (CdS), Reinhard Heydrich, im Auftrag des RKF errichtete.83 Die Federführung übernahm das Amt III „Deutsche Lebensgebiete“ 79

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Vgl. ebd., S. 124-129. Die „Arbeitspflicht“ bedeutete, dass Arbeitsverweigerern die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager drohte. Die VoMi betrieb für die Umsiedler ein eigenes entsprechendes Lager in Brandenburg („Rotes Luch“). Die Leitung übernahm SS-Obf. Kurt Hintze. Vgl. RKF, Anordnung Nr. 26/I, 21.1.1941, BAB, R 49/89, o. Bl. Zum Problem des Arbeitseinsatzes der Umsiedler hatte kurz zuvor eine Besprechung Himmlers mit Greifelt, Lorenz und Oswald Pohl stattgefunden, vgl. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42. Hrsg. von PETER WITTE u.a., Hamburg 1999, S. 104 (Eintrag 10.1.1941). Vgl. auch die Vorgänge in BAB, R 49/3127. Vgl. VDA Gauverband München/Oberbayern, Bericht über Betreuungsarbeit [Ende 1941], BAB, R 59/28, Bl. 44. Der Beauftragte für den Vierjahresplan, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz an Reichstreuhänder der Arbeit, 9.9.1942, BAB, R 49/89, Bl. 55-55RS. VDA an Deutsche Arbeitsfront (DAF), Abt. Eisen und Metall, 5.1.1942, „Eindrücke Volksdeutscher im Arbeitslager für Ausländer der Dornier-Werke (R-Werk) in Oberpfaffenhofen“, BAB, R 59/28, Bl. 111 f. RKF-StHA [Greifelt]: Aufruf an alle Umsiedler, die zurzeit im Erzbergbau Sachsens oder des Sudetenlandes eingesetzt sind, 9.12.1941. RKF-StHA/Greifelt an VoMi/Gaueinsatzführung Sachsen, 8.12.1941. RKF-StHA/Greifelt an Gauleiter und Oberpräsidenten Oberschlesien/Beauftragten des RKF, 8.12.1941 („Auf lange Sicht hat die Besiedlung im Osten mit deutschen Menschen den Vorrang, im Augenblick ist die Sicherstellung des einzigen deutschen Wolfram-Erzbergbetriebes das Vordringlichere.“). Deutsche Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft an RKF-StHA, 13.3.1942 (alle in BAB, R 35/72, o. Bl.). „Die Aufnahme und Erfassung [der Umsiedler, Anm. d. Vf.] erfolgt durch die Einwandererzent-

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des RSHA, das auch für die personelle Grundausstattung sorgte.84 Zum Leiter der EWZ wurde SS-Sturmbannführer Dr. jur. Martin Sandberger, zu seinem Stellvertreter SS-Sturmbannführer Karl Tschierschky bestimmt.85 Die Kriterien der EWZ-Selektionsarbeit hatte Greifelt im Dezember 1939 im Rahmen eines Vortrags im Volksdeutschen Klub vorgestellt. Die Besiedlung der neuen Ostgebiete „mit besten deutschen Menschen“ sei „eine Verpflichtung und ein Recht“. Bei der Auswahl der Siedler seien „weltanschauliche, rassische und erbbiologische Gesichtspunkte“ zu berücksichtigen.86 Bei den rassischen Kriterien stützte man sich auf die Methodik des RuSHA, die von vier unterschiedlichen Rassegruppen ausging. Für den Osten sollten lediglich Umsiedler zugelassen werden, die von den Rasseprüfern in die Wertungsgruppen I und II eingestuft wurden. Angehörige der Gruppen III und IV kamen nur für eine Ansiedlung im Altreich in Frage.87 Das Überprüfungsverfahren war integraler Bestandteil des „großen RKFProjektes“, das im Sinne einer umfassenden Sozialplanung auf die Errichtung einer rassisch homogenen, perfekten Gesellschaft zielte.88 Der Öffentlichkeit gegenüber wurde jedoch der Eindruck vermittelt, es gehe um eine „vereinfachte, beschleunigte Einbürgerung“ durch die räumliche Bündelung verschiedener Dienststellen und Behörden. Tatsächlich sollte diese Sprachregelung von den eigentlichen Intentionen und Methoden des Einbürgerungsverfahrens ablenken: der umfassenden Auslese der Umsiedler nach rassischen, politischen, medizinischen und beruflichen Kriterien.89 Gleichzeitig bot die umfassende Selektion der Umsiedler eine willkommene Gelegenheit, im großen Maßstab Methoden zu erproben, die späterhin auf die Altreichsbevölkerung anwendbar waren. Dies galt insbesondere für jene Bevölke-

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ralen in Gotenhafen und Posen mit den Nebenstellen in Swinemünde und Stettin, die dem Chef der Sicherheitspolizei unterstehen. RFSS/RKF [Himmler], Anordnung 4/II v. 3.11.1939. In: Menscheneinsatz, S. 14. Vgl. auch RFSS/RKF [Himmler], Anordnung 2/VI v. 30.10.1939. In: Menscheneinsatz (wie Anm. 72), S. 22. Vgl. EWZ-Organisationsabteilung Gotenhafen, Vermerk, 21.10.1939, BAB, R 69/490, Bl. 5. CdS/EWZ [Sandberger] Gotenhafen, Anordnung Nr. 12, 19.10.1939, BAB, R 69/426, Bl. 153. Vgl. Aktenvermerk, 11.10.1939, Betr.: Baltenaktion, Besprechung am 10.10.1939, BAB, R 69/493, Bl. 4 f. Sandberger war ein typischer Vertreter der von Ulrich Herbert und Michael Wildt untersuchten jungen RSHA-Experten. Er baute die EWZ von Oktober 1939 bis Anfang Juni 1941 auf. Danach wurde er Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) und Führer des Einsatzkommandos Ia in Estland und war maßgeblich an den dortigen Mordaktionen beteiligt. RAUL HILBERG, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994 (1961), S. 301. Helmut KRAUSNICK, Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938-1942, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993 (1981), S. 361. ULRICH HERBERT, Best – Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, 3. Aufl., Bonn 1996, S. 456 f. MICHAEL WILDT, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 170-173, 488-490. Mit Sandberger verließ auch dessen Stellvertreter Tschierschky die EWZ. Er war 1941/42 als Leiter des SD im Gruppenstab der Einsatzgruppe A aktiv an den Mordaktionen im Osten beteiligt. Vgl. WILDT, S. 594. Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Hrsg. von PETER KLEIN. Berlin 1997, S. 44. Dr. Eduard Kruse (DAI, Büro Berlin), vertrauliche Aktennotiz über Vortragsabend im Volksdeutschen Klub (13.12.1939), 15.12.1939, BAK, R 57/1081, o. Bl. Gradmann an DAI, 12.1.1940, BAK, R 57/1081, o. Bl. Zu den rassischen Kategorien und zur Bedeutung der RuSHA-Rasseexperten vgl. grundlegend HEINEMANN (wie Anm. 2). Vgl. WILDT (wie Anm. 85), S. 19 f. Zum Zusammenspiel von Rassismus und „Social Engineering“ vgl. ZYGMUNT BAUMAN, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 81-87. Vgl. HERBERT (wie Anm. 85), S. 247 f.

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rungsgruppen, die für eine Übersiedlung aus den angeblich zu dicht besiedelten Erbteilungsgebieten des Westens in den neuen deutschen Osten vorgesehen waren.90 Damit fügten sich die konkreten Umsiedlungsprojekte in einen größeren Kontext. Der Umsiedlung kam in den Augen der Siedlungs- und Volkstumsexperten für eine Neuordnung der Bevölkerungs- und Agrarstrukturen des Deutschen Reiches die Funktion eines Präzedenzfalles zu. Daraus erklärt sich auch, warum die Zuständigkeit für die EWZ innerhalb des RSHA nicht bei den dortigen Spezialisten für Sicherheitsfragen lag – was angesichts des ursprünglichen Auftrages einer Sicherheitsüberprüfung deutschstämmiger Ausländer sinnvoll gewesen wäre. Doch stattdessen übernahm das für Volkstumsfragen zuständige SD-Amt III den Aufbau der EWZ. Auf der Basis der SS-Rasse- und Siedlungsideologie begriff die EWZ-Führung die ihr zugefallene Rolle im Umsiedlungsprozess als Chance zur umfassenden Selektion der zukünftigen Ostsiedler. Das so genannte „Schleusungsverfahren“ umfasste zwar auch eine Überprüfung der beruflichen Eignung und politischen Zuverlässigkeit, in den Vordergrund traten aber rassische und erbbiologische Kriterien. Hinter der Fassade der EWZ-Gesundheitsstellen konkurrierten SSÄrzte und Rasseprüfer des RuSHA um eine möglichst radikale Aussiebung von „Erbkranken“, „Erbunterwertigen“ und „rassisch Minderwertigen“. Während sich die Mediziner auf die Erkenntnisse der Eugenik und Rassenhygiene beriefen, arbeiteten die vom RuSHA delegierten Rasseprüfer auf der Grundlage der SSRassenkunde. Hinter beiden pseudowissenschaftlichen Begründungsystemen stand jedoch nichts anderes als das Ressentiment gegen Abweichungen von einer willkürlich gesetzten Norm. Aus dem mit immer größerem Perfektionismus betriebenen Wahn, nur die „rassisch Besten“ in den Osten gelangen zu lassen, produzierte die EWZ ein Selektionssystem, das zwar an seinen inneren Aporien scheitern musste, das aber dennoch bis zum Untergang des „Dritten Reiches“ in autistischer, zunehmend absurder Selbstbezogenheit „funktionierte“ und völlig willkürlich mit den von ihm verwalteten Menschen umging. Die EWZ war signifikant für die Irrationalität des RKF-Projektes: eine pervertierte, aus dem Ruder laufende Bürokratie, die sich, gestützt auf die rassistischen Zielvorgaben und Wertvorstellungen Himmlers, protegiert vom RSHA und befreit von allen üblichen Kontrollmechanismen staatlicher Finanzaufsicht, immer weiter von ihrem anfänglichen Auftrag entfernte und in immer groteskere Detaildiskussionen verstrickte.91

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Vgl. PETER WEINGART, JÜRGEN KROLL, KURT BAYERTZ, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland (Kap. V. Die Realisierung des Utopischen – Rassenhygiene und Erbpflege im nationalsozialistischen Staat), Frankfurt a. M. 1992 (1988), S. 367-561. Zu den Verkartungsplänen im Altreich vgl. WOLFRAM PYTA, „Menschenökonomie“. Das Ineinandergreifen von ländlicher und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat. In: HZ 273 (2001), S. 31–94. Zu den Konflikten zwischen Rasseprüfern und Ärzten vgl. LENIGER, Volkstumsarbeit (wie Anm. 26), S. 175-213. Vgl. HEINEMANN (wie Anm. 2), S. 195-201.

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Ansiedlungspolitik des RKF Auf der Ebene realer Ansiedlungspolitik galt für den RKF in den eingegliederten Ostgebieten der Grundsatz, dass bis zu 40% der landwirtschaftlichen Nutzfläche mit bäuerlichen Umsiedlern besiedelt werden sollten, wobei die bereits altansässigen deutschen Bewohner mitzurechnen waren. Die restlichen 60% sollten zur „Herstellung eines gesunden Mischungsverhältnisses nach dem Kriege mit Bauern und Siedlungsbewerbern aus dem übrigen Reichsgebiet aufgefüllt werden.“92 Innerhalb dieser Vorgaben konnte die Vergrößerung der Höfe autochthoner deutscher Bauern, die Zusammenlegung von „freien“, ehemals polnischen Höfen und auch die Vergabe größerer Höfe an Umsiedler erfolgen.93 Zur Durchführung bediente sich der RKF auf der Ebene der Gaue und Kreise vorhandener Strukturen und Institutionen. In den Ansiedlungsgauen wurden die Gauleiter zu „Beauftragten des RKF“ und die HSSPF zu „Stellvertretenden Beauftragten des RKF“. In Danzig-Westpreußen galt hiervon abweichend – auf Grund der notorischen Konfliktlage zwischen Himmler und Albert Forster94 – die Regelung, dass der HSSPF selbst die Funktion eines „Beauftragten“ ausfüllte. Die Vorbereitung der Ansiedlung bestand zunächst in der Vertreibung beziehungsweise Deportation der ursprünglichen Bewohner. Zuständig hierfür war die Umwanderer Zentralstelle (UWZ), die das RSHA in Analogie zur EWZ als Exekutive und im Auftrag des RKF errichtete. Deren Räumungskommandos trafen oftmals aber nur noch verlassene Höfe an, da die Bewohner durch vorbereitende „Erfassungsmaßnahme“ der Ansiedlungsstellen vorgewarnt waren und es vorzogen, unter Mitnahme der wichtigsten Habseligkeiten zu fliehen. Gelegentlich zündeten die Menschen auch ihren Besitz an, um ihn nicht den Besatzern in die Hände fallen zu lassen.95 Für die Abwicklung der Ansiedlung errichteten die RKF-Beauftragten so genannte „SS-(Kreis)Ansiedlungsstäbe“, die ebenfalls über eigene Planungsabteilungen verfügten. Sie organisierten die Verteilung der Umsiedler auf die zuvor ‚freigemachten’ polnischen Höfe.96

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Dr. Ernst Fähndrich, Leiter der RKF-Hauptabteilung I „Menscheneinsatz“, Einleitung. In: Menscheneinsatz (wie Anm. 72), S. V-VIII, hier VII. Vgl. SS-Ansiedlungsstäbe Litzmannstadt und Posen, Abt. Planung, an die Führer der SSArbeitsstäbe im Warthegau, Grundbefehl Nr. 25, 29.01.1941, BAB, R 49, 3064, Bl. 20-23. Allgemeine Anordnung 9/IV, 21.12.1940 und die entsprechenden Richtlinie des Gauleiters und Reichsstatthalters, 2.9.1940, BAB, R 49/3064, Bl. 20. Die „Notwendigkeit“ für eine größere Hoffläche ergab sich zum Teil aus der unterschiedlichen Bodenqualität – die Umsiedler stammten aus Gebieten mit hochertragreichen Böden und wurden auf Höfen mit minderer Bodenqualität angesiedelt. Vgl. HERBERT S. LEVINE, Local Authority and the SS-State. The Conflict over Population Policy in Danzig-West Prussia 1939–1945. In: CENTRAL EUROPEAN HISTORY 2 (1969), S. 331-355. Vgl. DAI-Kommission, Bericht Dr. Quiring Nr. 9 (Geheim), 6 nummerierte Seiten, 19.4.1940, BAK, R 57neu/15, o. Bl. Quiring berichtet, dass in einem Fall von den 102 zur Deportation bestimmten Familien lediglich zwei in ihren Häusern angetroffen wurden und dass „Sabotageakte“ (Zerstörung von Gebäuden durch die geflohenen Besitzer) an der Tagesordnung seien. Vgl. Verzeichnis der Ansiedlungsstäbe, 9.3.1942, BAB, R 49/31, Bl. 30. Im März 1942 gab es folgende SS-Ansiedlungsstäbe: Ansiedlungsstab Nord beim HSSPF Südost, Kattowitz; Ansiedlungsstab Süd beim HSSPF Südost, Kattowitz; Ansiedlungsstab Posen beim HSSPF Warthe in Posen; Ansiedlungsstab Litzmannstadt beim HSSPF Warthe in Litzmannstadt; Ansiedlungsstab Danzig beim HSSPF Weichsel in Gotenhafen; Ansiedlungsstab Zichenau beim HSSPF Nordost in Zichenau.

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Die Umsiedler, denen man zur Schonung ihrer „Psyche“ den „Anblick der Evakuierungen [...] ersparte“,97 wurden nach ihrer Abberufung aus den VoMiLagern und vor ihrer Ansiedlung zunächst in so genannten Transportlagern gesammelt. Dort hängte man den Familienvätern Pappschilder mit den Nummern ihrer zukünftigen Höfe um den Hals. Studentische Hilfskräfte, die im Rahmen des „Studentischen Einsatzes der Reichsstudentenführung“ in die eingegliederten Gebiete kamen,98 riefen dann die Hofnummern auf, und die Aufgerufenen begaben sich zu bereitstehenden ‚Kraft durch Freude’-Omnibussen. An Sammelpunkten erfolgte die Verteilung der Omnibusinsassen auf Pferdefuhrwerke, deren Fuhrleute, in der Regel dienstverpflichtete polnische Bauern, ebenfalls Schilder mit den jeweiligen Hofnummern um den Hals trugen. Dann erfolgte die Verteilung auf die zuvor „freigemachten“ Häuser beziehungsweise Höfe.99 Zuständig für diese letzte Phase des Ansiedlungsprozesses waren die „SSArbeitsstäbe“.100 Ihr Vorgehen regelten so genannte Merkpunkte, die der HSSPF in enger Abstimmung mit entsprechenden Anordnungen und Erlassen des Gauleiters und Reichsstatthalters herausgab. Die Arbeitsstäbe bestanden aus etwa 25 Personen, die den Landräten als „Träger“ der Ansiedlungsaktion vom RKFBeauftragten zur Verfügung gestellt wurden. Ihre Tätigkeit wurde von der lokalen Polizei und dem Volksdeutschen Selbstschutz gesichert. 101 Die Arbeitsstäbe regelten auch die erste Nachbetreuung der Ansiedler, auch hier unterstützt durch studentische Hilfskräfte.

Zusammenfassung und Schluss Auf der Grundlage der hier dargestellten SS-Umsiedlungsaktivitäten und mit Blick auf den Anspruch der Architekten der in der damaligen Öffentlichkeit immer wieder als „gewaltigste staatsgelenkte Völkerwanderung aller Zeiten“102 apostrophierten Umsiedlung soll abschließend der Versuch einer Bilanz dieser Politik unternommen werden. Zunächst bleibt festzuhalten, dass den Entscheidungen, deutsche Minderheiten umzusiedeln, ursprünglich keine genuin siedlungspolitischen Überlegungen, sondern außenpolitische Notwendigkeiten zu Grunde lagen. Hitler entschied sich ohne jede Rücksicht auf die Interessen der Minderheiten und gegen Traditionen 97

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Bericht Quiring, BAK, R 57neu/15, o. Bl. HSSPF/Beauftragter des RKF SS-Gruppenführer Koppe, Merkpunkte für die Arbeitsstäbe der Kreise in Bezug auf Vorbereitung und Ablauf der Ansiedlung von Wolhynien- und Galiziendeutschen, 2.3.1940, BAB, R 138 I/64, Bl. 67. Vgl. Anleitung für die Erstellung der Dorfskizzen während des Studenteneinsatzes, o.D. [1942], BAB, R 49/3044, Bl. 31–35. Generalbericht vom studentischen Osteinsatz im Warthegau 19401941, o.D., [1941], „Zusammenarbeit des stud. Siedlungs- und Facheinsatzes Ost mit Partei und Staat“, BAB R 49/3057, Bl. 273. Sie beteiligten sich im Rahmen des „medizinischen Facheinsatzes“, im „Lehrereinsatz“ oder im „Baueinsatz“. Auch bei der Vorerfassung der freizumachenden Höfe kamen sie zum Einsatz. Studentinnen arbeiteten vor allem in der Siedlerbetreuung und in der Einrichtung von Kindergärten. Vgl. Bericht Quiring, BAK, R 57neu/15, S. 3-6. Vgl. Abt. I, Planung, SS-Ansiedlungsstab Litzmannstadt, Die Organisation eines SS-Arbeitsstabes für bäuerlichen Einsatz, 1.2.1942, BAB, R 49/3067, Bl. 15-21. Vgl. HSSPF/Beauftragter des RKF SS-Gruppenführer Koppe, Merkpunkte, 2.3.1940, BAB, R 138 I/64, Bl. 63-69. Reichsstatthalter Greiser, Ansiedlung der Wolhynien und Galiziendeutschen, 1.3.1940, BAB, R 138 I/64, Bl. 70-75. Vgl. Rede Ulrich Greifelts am 13.12.1939 nach Aktennotiz, BAK, R 57/748.

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der „Volkstumsarbeit“ für die Implementierung des Mittels der Bevölkerungsverschiebung – und fand in Himmler einen willigen Vollstrecker für die „Rückführung“ deutscher Minderheiten. Damit war das Tabu der Volkstumspolitik der Weimarer Jahre gebrochen, die im Kontext einer Reziprozität des Lebensrechts der Völker auf die Pflege und den Ausbau der Minderheiten gerichtet war, und das Tor zu einer rassistischen Volksbodenpolitik geöffnet.103 Für den Bestand der deutschen Minderheiten Ostmitteleuropas erwies sich dieser Tabubruch als fatal. Denn nachdem die Machbarkeit der Umsiedlung deutscher Minderheiten einmal demonstriert war, stand nach der deutschen Niederlage den Siegern ein Modell zur Verfügung, mit dem sie die ständigen Konflikte zwischen Minderheit und Mehrheit endgültig und vergleichsweise human lösen konnten. Die „ethnischen Flurbereinigungen“ nach Kriegsende, die Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus Polen und der Tschechoslowakei, waren letztlich nur die Fortführung einer von Hitler und Himmler ausgelösten Westwanderung deutscher Minderheiten. Für die Umsiedler setzte sich jedenfalls nach der Ankunft im Reich der mit dem Heimatverlust begonnene Auflösungsprozess fort. Zwar konnte die VoMi zunächst erfolgreich die ihr gestellte Aufgabe der Beschaffung von Lagerkapazitäten für die Umsiedler erfüllen, doch diese für eine provisorische Unterbringung konzipierten Lager entpuppten sich für immer mehr Umsiedler als Dauerquartiere. Die längeren Aufenthaltszeiten führten zu höheren Kosten, vor allem aber zu erheblicher Unzufriedenheit unter den Lagerinsassen. Das ideale Mittel, um beide Probleme gleichzeitig in den Griff zu bekommen, schien die Einführung einer Arbeitspflicht zu sein. Doch da aus siedlungsideologischen Gründen eine Gewöhnung der Umsiedler an industrielle Arbeitsbedingungen verhindert werden sollte, galten für den Arbeitseinsatz kontraproduktiv wirkende Restriktionen wie die Verpflichtung, dass der Umsiedler im Fall seiner bevorstehenden Ansiedlung innerhalb von 24 Stunden freizugeben war.104 Gravierender als die langen Lageraufenthalte und die Probleme beim Arbeitseinsatz, zu denen auch regelmäßige Diskriminierungen durch die reichsdeutschen Kollegen gehörten, war für viele Umsiedler der umfassende Verfügungsanspruch des nationalsozialistischen Staates. Der Lageraufenthalt wurde seitens der VoMi ganz bewusst zur Bekämpfung religiöser und kultureller Traditionen der Volksgruppen genutzt. Nach dem Verlust der geographischen Heimat durch die Umsiedlung ging es jetzt um die Ablösung von der als unzeitgemäß diffamierten geistigen Heimat.105 Bruno Wasser hat die auch von Historikern vertretene These formuliert, dass im Falle eines deutschen Sieges die „SS Heinrich Himmlers auch den Generalplan Ost – so utopisch er auch heute scheinen mag – in vollem Umfang realisiert hätte.“106 Wenn man sich für einen Moment auf diese Spekulation einlässt, so bleiben schon vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erkenntnisse über den RKF erhebliche Zweifel. Das stärkste Argument liefern Tätigkeitsberichte des Stabs103 104 105 106

Vgl. HANS MOMMSEN, Der faustische Pakt der Ostforschung. In: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999, S. 265-273, hier S. 271 f. Vgl. LENIGER, Volkstumsarbeit (wie Anm. 26), S. 124-136. Vgl. ebd., S. 137-146. BRUNO WASSER, Die „Germanisierung“ im Distrikt Lublin als Generalprobe und erste Realisierungsphase des „Generalplans Ost“. In: RÖSSLER (wie Anm. 1), S. 271-293. In die gleiche Richtung argumentiert HEINEMANN (wie Anm. 2).

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hauptamtes, die über den Stand der Umsiedlungen berichten. Danach waren Ende 1942 von 629.000 Umsiedlern 445.000 (70,75%) angesiedelt und der Rest in Arbeit gebracht worden.107 Bei genauerer Betrachtung verschlechtert sich die Ansiedlungsbilanz von über 70% auf unter 60%, da auch 70.000 A-Fälle, das heißt Umsiedler, die auf Grund der EWZ-Auslese „aus volkspolitischen und gesundheitlichen Gründen zum Einsatz im Osten nicht geeignet“ schienen und die daher als Arbeitskräfte im „Altreich“ Verwendung fanden, in der Statistik als „Angesiedelte“ aufgeführt wurden. In die angegliederten Ostgebiete gelangten lediglich 332.000, also etwas über 50% der Umsiedler. Angesichts des immer wieder konstatierten gravierenden Siedlermangels 108 wogen diese erheblichen Reduzierungen bei der einzig verfügbaren Siedlergruppe doppelt schwer. Vor dem Hintergrund der permanenten selektionsbedingten Verringerung des Siedlerpotentials ist es mehr als unwahrscheinlich, dass ein deutscher „Endsieg“ auch zu einer „erfolgreichen“ Germanisierung des Ostens geführt hätte. Denn nicht allein das Fehlen weiterer relevanter Siedlergruppen schmälerte die Aussichten auf einen „total eingedeutschten“ Osten. Gegen die Erreichung dieses von allen Seiten immer wieder wie ein Mantra aufgesagten Endziels sprachen auch die handfesten Notwendigkeiten einer Wirtschaftspolitik, die ohne die Beibehaltung bestehender landwirtschaftlicher Produktionsstrukturen mit einer großen Anzahl autochthoner „fremdvölkischer“ Landarbeiter nicht realisierbar war. Hingegen scheint eine Realisierung der „negativen“, exterminatorischen Komponenten der Neuordnungsplanungen im Falle eines Endsieges viel wahrscheinlicher. Angesichts der enormen Destruktivität, die bereits die ersten Planungen für die „unerwünschten, überflüssigen“ Bevölkerungsgruppen zur Folge hatten, wäre mit einer Realisierung der Vernichtungskomponenten „in vollem Umfang“ durchaus zu rechnen gewesen. Insofern trifft auch für den Bereich der „Festigung deutschen Volkstums“ und der SS-Um-Siedlungspolitik die Feststellung Martin Broszats zu, wonach sich das „Dritte Reich“ durch die „Selektion der negativen Weltanschauungselemente“ die „allein in die Praxis umgesetzt“ wurden, auszeichnete. Dagegen blieben „die anderen Elemente weiter nur Gegenstand der Propaganda und Utopie.“109 Während die Ermordung der Juden jedoch in den Worten Himmlers „ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt“110 der SSGeschichte bleiben sollte, wurde die deutsche Öffentlichkeit über die Umsiedlung und Betreuung der „Volksdeutschen“ in zahlreichen Artikeln, Büchern und Ausstellungen informiert.111 Jedoch hatte das hier gezeichnete Bild einer „Heimkehr 107

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Vgl. Tätigkeitsbericht RKF-StHA über die Umsiedlungsmaßnahmen (Stand Ende 1942). In: MÜLLER (wie Anm. 37), S. 200-204, hier S. 202. Vgl. auch die in die gleiche Richtung weisenden Zahlen im RKF-Jahresbericht 1942, BAB, R 49/14, Bl. 9. Vgl. HEINEMANN (wie Anm. 2), S. 31. BROSZAT (wie Anm. 15), S. 436. Himmler am 4.10.1943 in seiner Posener Rede vor den SS-Gruppenführern. In: IMT (wie Anm. 3), Bd. 29, S. 145. Vgl. u.a. Baltendeutsche Heimkehr, Löcknitz o.J.; HEINRICH BOSSE, Der Führer ruft, Berlin 1941. OTTO ENGELHARDT-KYFFHÄUSER, Das Buch vom großen Treck. Berlin 1940. HANS RICHTER, Heimkehrer. Bildberichte von der Umsiedlung der Volksdeutschen aus Bessarabien, Rumänien, aus der Süd-Bukowina und aus Litauen. Berlin 1941. ALFRED THOSS, Heimkehr der Volksdeutschen. Berlin 1942. Der Treck der Volksdeutschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narew-Gebiet. Berlin 1941. Der Zug der Volksdeutschen aus Bessarabien und dem NordBuchenland. Berlin 1942. Eine Wanderausstellung mit Zeichnungen des Kunstmalers Otto En-

Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und SS-Umsiedlungspolitik

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ins Reich“ mit der von Lagerleben, Selektion, Arbeitseinsatz und teilweiser Ansiedlung gekennzeichneten Realität nichts zu tun. Die „SS-Siedlungspolitik“ jedenfalls endete dort, wo sie begonnen hatte: in den Umsiedlerlagern der VoMi. Hier fanden sich an der Jahreswende 1944/45 viele der Umsiedler wieder, die 1939/40 den Grundstock für die ambitionierten Germanisierungsplanungen der SS gebildet hatten. Das Projekt der „Festigung deutschen Volkstums“ konnte seinen eigenen „konstruktiven“ Anspruch, die Schaffung eines deutschen Ostens bis zum Ural, schon aufgrund systemimmanenter Widersprüche und inhärenter Destruktivität nicht erreichen. Stattdessen trug es nicht nur zum Ende der deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa bei, sondern erscheint heute auch als ein Vor-Spiel von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den östlich von Oder und Neisse gelegenen Gebieten des Deutschen Reichs. Vor diesem Hintergrund erscheint das Schicksal des ermländischen Bischofs Maximilian Kaller in einem besonderen Licht. Er war 1928-1941 als Referent der Fuldaer Bischofskonferenz für die katholische ländliche Siedlung verantwortlich und setzte sich im Rahmen der „Wandernden Kirche“ für die Seelsorge an den von Umsiedlung betroffenen Menschen ein. Noch 1940 sah er angesichts der geplanten und begonnenen Völkerverschiebung für den Katholischen Siedlungsdienst und für die „Wandernde Kirche“ große Aufgaben bevorstehen. In zwei Referaten sprach er am 22. August 1940 vor der Plenarkonferenz der Bischöfe der Diözesen Deutschlands die pastorale Verantwortung für die katholischen deutschen Umsiedler u. a. „aus der Dobrudscha, aus den Baltenländern, aus Wolhynien, Rumänien, Litauen, Bessarabien, Bukowina“112 an. Dabei wies er auch auf die „Evakuierungen“ - nota bene: der einheimischen Bevölkerung - hin, die „in größerem Umfang im Osten“113 stattfanden, ohne dass er sich veranlasst sah, zu diesen staatlich verordneten Maßnahmen Stellung zu nehmen. Seiner kirchlichen Ausweisung als Bischof von Ermland im August 1945 ging am 7. Februar die zwangsweise Evakuierung durch die Gestapo voraus. Insofern ist es mehr als bloße Ironie der Geschichte, dass mit diesem aus seinem Bistum vertriebenen Oberhirten ein Repräsentant kirchlicher Siedlungsarbeit der Zwischenkriegszeit114 1946 zum „Päpstlichen Sonderbeauftragten für die Heimatvertriebenen“ ernannt wurde.

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gelhardt-Kyffhäuser reiste durch Deutschland. Außerdem sollte im Auftrag Himmlers in Berlin die Ausstellung „Die große Heimkehr“ alle Aspekte der Umsiedlung darstellen. Das Projekt wurde aber aufgegeben, da man keine für die Öffentlichkeit geeignete Form der von Heydrich gewünschten Behandlung der Evakuierungsmaßnahmen finden konnte. RSHA III, Vorlage für Heydrich, 3.3.1941, Betr.: Ausstellung des RKF, BAB, R 69/554, Bl. 69 f. EWZ an RSHA III (Ohlendorf), 19.3.1941, BAB, R 69/1168, Bl. 70. Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945. Bd. 5. 1940 – 1942. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 34). Mainz 1983, Nr. 578/IIh, S. 136-141 und Nr. 578/IIi, S. 141- 143, Zitat S. 142, ähnlich S. 137. Ebd. 142. Vgl. BENDIKOWSKI (wie Anm. 41).

Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im besetzten Polen und ihre Auswirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis nach 1945 GREGOR PLOCH Wer sich mit Fragen zu den deutsch-polnischen Beziehungen im katholischen Raum nach 1945 auseinandersetzt, der kann sie nicht losgelöst von der Lage der katholischen Kirche im besetzten Polen während des Zweiten Weltkrieges betrachten. Deshalb muss nach der Haltung der deutschen Bischöfe zur NSKirchenpolitik gefragt werden. Diese letztere war eng mit dem Ziel des nationalsozialistischen Parteiapparates verknüpft, die besetzten Gebiete in Polen einer raschen und brutalen Germanisierung zu unterziehen. Der vorliegende Artikel geht daher zwei Grundfragen nach: Zum einen wird ein Überblick über die nationalsozialistische Kirchenpolitik im besetzten Polen gegeben. Zum anderen wird untersucht, wie sich die NS-Kirchenpolitik nach 1945 auf die deutsch-polnischen Beziehungen ausgewirkt hat. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, wie sich die antideutsche Stimmung in Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch im kirchlichen Raum bemerkbar gemacht und wie sich die polnische Kirchenführung dazu verhalten hat. Bereits einen Monat nach dem Überfall der Deutschen auf Polen setzte Adolf Hitler seine Pläne bezüglich der Behandlung der eroberten Gebiete durch den Erlass des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 19391 in die Tat um. Der von den deutschen Truppen besetzte westliche Teil des polnischen Staatsgebietes wurde unter der Bezeichnung eingegliederte Ostgebiete unmittelbar mit dem Deutschen Reich vereinigt. Der östliche Teil wurde ohne die von der Sowjetunion annektierten Gebiete als Generalgouvernement nicht unmittelbar in das Deutsche Reich eingegliedert. Die eingegliederten Ostgebiete umfassten 92.000 km2 und 9,6 Mio. Einwohner.2 Sie wurden in folgende Verwaltungsgebiete eingeteilt: die Reichsgaue Wartheland (zunächst Reichsgau Posen genannt) und Danzig-Westpreußen, der Regierungsbezirk Zichenau, der der Provinz Ostpreußen angegliedert wurde, sowie der Regierungsbezirk Kattowitz, der zunächst zur Provinz Schlesien kam. Dieser bildete seit 1941 den Kern des Gaus und der Provinz Oberschlesien. Zum Vergleich umfasste das Generalgouvernement 93.871 km2 und 12,108 Mio. Einwohner, und nach der Einverleibung des Distrikts Galizien am 1. August 1941 vergrößerte sich das Generalgouvernement um weitere 48.336 km2 und 4,855 Mio. Einwohner. Insgesamt waren ca. 26,5 Mio. Menschen von den Maßnahmen der Nationalsozialisten betroffen.

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REICHSGESETZBLATT I, S. 2042. Alle weiteren Angaben beziehen sich auf MANFRED CLAUSS, Die Beziehungen des Vatikans zu Polen während des 2. Weltkrieges (BONNER BEITRÄGE ZUR KIRCHENGESCHICHTE, 11). Köln, Wien 1979, S.22-63. Dem gegenüber gibt Fijałkowski an, dass die Bevölkerung dieser Gebiete 10,139 Mio. Personen betragen habe. Vgl. ZENON FIJAŁKOWSKI, Kościół katolicki na ziemiach polskich [Die katholische Kirche in den Ländern Polens], Warszawa 1983, S.38.

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Im Jahre 1939 umfasste die katholische Kirche Polens 25 Diözesen, die in fünf Kirchenprovinzen des lateinischen Ritus – Gnesen-Posen, Krakau, Wilna, Warschau und Lemberg – sowie der griechisch-katholischen Eparchie Lemberg zusammengefasst waren. Von den Bischofsstühlen waren zu Beginn des Krieges vier nicht besetzt, da ihre Inhaber kurz vorher verstorben waren (Warschau3, Siedlce4 und Tarnów5) bzw. die Nachfolge nicht geregelt wurde (Sandomir6). In einer der ersten Noten nach Kriegsanfang teilte die deutsche Botschaft beim Heiligen Stuhl diesem am 9. Oktober 1939 im Namen der Reichsregierung Folgendes mit: „Irgendwelche Eingriffe in kirchliches Leben [...] sind nicht beabsichtigt. Soweit in späterem Zeitpunkt etwaige durch Besetzung ehemaligen Polens erforderliche Änderungen der Organisation und Neubesetzung einzelner Stellen in der katholischen Kirche vorgenommen werden sollten, werden wir uns dabei mit dem Vatikan in Verbindung setzen.“7

Das war jedoch blanker Hohn. Am deutlichsten fasste der Chef der Parteikanzlei, Martin Bormann, in einem geheimen Erlass vom 6./7. Juni 1941 für die Gauleiter die Ziele der NS-Kirchenpolitik zusammen: „Nationalsozialistische und christliche Auffassungen sind unvereinbar. Die christlichen Kirchen bauen auf der Unwissenheit der Menschen auf und sind bemüht, die Unwissenheit möglichst weiter Teile der Bevölkerung zu erhalten [...]. Aus der Unvereinbarkeit nationalsozialistischer und christlicher Auffassungen folgt, dass eine Stärkung bestehender und jede Förderung entstehender christlicher Konfessionen von uns abzulehnen ist.“8

Da das Polentum überwiegend mit dem Katholizismus identifiziert wurde, konzentrierte die Besatzungsmacht ihre Kräfte vor allem auf die katholische Kirche. Im gesamten Besatzungsgebiet wurden bereits einen Monat nach dem Einfall in Polen Maßnahmen gegen den Klerus gestartet, wobei die Intensität und die Folgen je nach Gebiet unterschiedlich verliefen.

Reichsgau Wartheland Der größte und westlichste Bezirk der sog. eingegliederten Ostgebiete war der Reichsgau Wartheland. Durch den Hitler-Erlass vom 8. Oktober 1939 wurde der Reichsgau Posen gebildet und dem Deutschen Reich angegliedert. Am 29. Januar 1940 wurde die Bezeichnung in Reichsgau Wartheland geändert. Das Gebiet umfasste rund 46.000 km2 und ca. 4,6 Mio. Einwohner, wovon zunächst nur rund 3

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Nach dem Tode des Erzbischofs Aleksander Kardinal Kakowski am 30.12.1938 blieb die Erzdiözese bis 1946 unbesetzt. Sein Nachfolger wurde Primas August Kardinal Hlond, der am 13.6.1946 zum Erzbischof von Warschau ernannt wurde (er war zugleich Erzbischof von Gnesen). Bischof Henryk Przeździecki starb am 9.5.1939. Sein Nachfolger Ignacy Świrski übernahm das Bistum am 12.4.1946. Bischof Franciszek Lisowski starb am 3.6.1939. Sein Nachfolger wurde Jan Stepa, der am 4.3.1946 zum Diözesanbischof ernannt wurde. Als Bischof Włodzimierz Bronisław Jasiński am 30.11.1934 zum Bischof von Lodz ernannt wurde, blieb das Bistum Sandomir anderthalb Jahre ohne Bischof. Am 26.4.1936 wurde Jan Kanty Lorek zum Weihbischof und Apostolischen Administrator der Diözese ernannt. Erst am 12.3.1946 wurde er zum Diözesanbischof ernannt. Zitiert nach CLAUSS (wie Anm. 2), S. 137. Zitiert nach CLAUSS (wie Anm. 2), S. 22.

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340.000 Deutsche – meist Volksdeutsche – waren, da sie vor dem 1. September 1939 die polnische Staatsbürgerschaft besessen haben. Die Anzahl von deutschen Bewohnern wurde jedoch schnell vergrößert. Durch Einweisungen aus dem Altreich, durch rund 245.000 Rücksiedler aus dem Baltikum und Gebieten Westrusslands sowie durch Unterbringung Deutscher aus den luftgefährdeten Gebieten wuchs deren Zahl auf eine knappe Million.9 Kirchenadministratorisch gehörten zu diesem Gebiet die Erzdiözese GnesenPosen, die Diözesen Lodz10 und Włocławek (zwischen 1939 und 1945 in Leslau umbenannt) sowie kleinere Teile der Erzdiözese Warschau und der Diözesen Tschenstochau und Płock.11 Der überwiegende Teil der Bevölkerung im Warthegau war katholisch. 1939 waren es 3,8 Mio. Personen.12 Die Leitung des Warthegaus übernahm der ehemalige Präsident des Danziger Senats, Gauleiter und Reichsstaathalter, SS-Obergruppenführer Arthur Greiser.13 Von Anfang an fasste Greiser das Gebiet als „rechtsfreien Raum“ auf, den er „im Sinne der Gedanken der künftigen Reichsverfassung“14 gestalten wollte. Der Warthegau wurde dabei als ein Mustergau angesehen. Die Verwaltung sollte dort nahezu perfektionistische Züge annehmen, damit die deutsche Herrschaft in zukünftig zu erobernden Gebieten reibungslos gewährleistet werden konnte. Man kann den Warthegau daher als ein Experimentierfeld für die geplanten Eroberungen bzw. Exerzierplatz der nationalsozialistischen Weltanschauung15 bezeichnen. Wie der Ostdeutsche Beobachter am 26. Oktober 1941 schrieb, habe sich zum ersten Mal „in diesem jungfräulichen Aufbaugebiet des deutschen Ostens die Möglichkeit zu einer staatlichen Neuordnung, die dem nationalsozialistischen Prinzip in allen Zügen des öffentlichen Lebens entspricht“16

geboten, was sich in erster Linie auf die christlichen Kirchen (insbesondere aber die katholische) richtete. Dieser Verwaltungsperfektionismus sollte ebenso in der Kirchenpolitik verwirklicht werden. Daher besorgte sich Gauleiter Greiser für sein Vorhaben Unter-

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BERNHARD STASIEWSKI, Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im Warthegau 1939-1945. In: VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 7 (1959) S. 46-74, hier S. 49. Hilarius Breitinger weitet die Anzahl der Rücksiedler auf 350.000 Personen mit der Anmerkung aus, diese Gruppe sei aus dem Baltikum, aus Wolhynien, Rumänien, der Ukraine und dem Schwarzmeergebiet gekommen. Vgl. HILARIUS BREITINGER, Als Deutschenseelsorger in Posen und im Warthegau 1934-1945. Erinnerungen (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 36). Mainz 1984, S.43. Die polnische Stadt Łódź wird im Deutschen sowohl Lodz als auch Lodsch geschrieben. Die zweite Form wurde bis 1940 von der NS-Nomenklatur gebraucht. Zwischen 1940 und 1945 hieß die Stadt offiziell Litzmannstadt. Die masowische Stadt Płock wurde im Deutschen auch als Plotzk und Plozk genannt. Zwischen 1941 und 1945 hieß die Stadt Schröttersburg. KAZIMIERZ ŚMIGIEL, Die katholische Kirche im Reichsgau Wartheland 1939 – 1945 (VERÖFFENTLICHUNGEN DER FORSCHUNGSSTELLE OSTMITTELEUROPA, Reihe A, Quellen, 40). Dortmund 1984, S. 13. 1897-1946. Greiser wurde in der westpreußischen Stadt Schroda, unweit von Posen, als Sohn eines Gerichtsvollziehers geboren. Zwischen 1934 und 1939 war er Senatspräsident der Freien Stadt Danzig. Am 14.7.1946 wurde er vor dem Posener Schloss hingerichtet. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 23 f. sowie BREITINGER, S. 55 (wie Anm. 9). So nach den Worten des Apostolischen Administrators für die deutschen Katholiken im Warthegau Hilarius Breitinger. Vgl. BREITINGER, S. 55 (wie Anm. 9). Zitiert nach CLAUSS (wie Anm. 2), S. 24.

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stützung in der Person des Regierungspräsidenten August Jäger17, der mit der Zivilverwaltung, in die die kirchenpolitischen Angelegenheiten fielen, betraut wurde. Um eine uneingeschränkte deutsche Herrschaft im Gau zu gewährleisten, initiierte Greiser einen geplanten Kampf gegen die Kirche bzw. „gegen die Gebundenheit an irgendeine Religions- oder Sektenanhänglichkeit“18. Der Gauleiter betrachtete seine Stellung als exponiert, da er sich nur dem Führer unterstellt sah. Somit war die Parteikanzlei der NSDAP für ihn der Ansprechpartner für Kirchenfragen, so dass er den eigentlich dafür verantwortlichen Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten überging. Die Bischofssitze waren nahezu verwaist. Die Leitung der Erzdiözese Gnesen übernahm Hlonds Generalvikar Edouard van Blericq. Den Posener Teil leitete Weihbischof Walenty Dymek.19 Diese Leitung hatte jedoch eher einen symbolischen Charakter, da Dymek ab dem 3. Oktober 1939 unter Hausarrest stand und weder Kirchen noch Geistliche besuchen konnte. Der Weihbischof konnte seine Residenz nicht verlassen und den Gottesdienst nur bei geschlossenen Türen halten. Zwischen 1943 und dem Ende der Okkupation weilte er auf Anordnung der Gestapo im Pfarrhaus der Kirche zur Schmerzhaften Mutter Gottes im Posener Stadtteil Lazarus.20 Nicht besser bestellt stand es um den Bischof von Lodz, Włodzimierz Jasiński. Er wurde zunächst inhaftiert und gefoltert, und es dauerte lange, bis er die Leitung wieder übernehmen konnte, bevor er 1941 endgültig verhaftet wurde. Weihbischof Kazimierz Tomczak wurde am 9. November 1939 wegen der Tätigkeit in einem Bürgerkomitee verhaftet. Im Januar 1940 wurde er wieder freigelassen, er musste sich jedoch in seinem Haus aufhalten.21 In einem zweiten Schritt befahl Greiser die Schließung von Gotteshäusern im großen Stile. Sie wurden versiegelt oder für andere Zwecke benutzt. In der Erzdiözese Posen erlitten 396 von 441 Kirchen, das sind nahezu 90 %, dieses Schicksal. Von den dreißig Gotteshäusern in der Stadt Posen blieben nur noch drei geöffnet (zwei Kirchen für Polen, eine für die Deutschen), 13 wurden versiegelt, sechs als Lagerräume benutzt, vier (darunter der Dom) dienten als Möbellager, und die vier restlichen dienten als Musikschule, Reitschule, Buchsammelstelle und Werkstatt für Kulissenmalerei.22 Genauso erging es einigen Bischofskirchen, die zum Hauptquartier für die Gestapo umfunktioniert wurden. So war es beispielsweise in Włocławek. Manchmal begründeten die Behörden diese Maßnahmen mit „baupo-

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Ab 1933 hatte Jäger als Ministerialdirektor die Leitung der geistlichen Abteilung im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung übernommen. Im April 1934 wurde er Mitglied der Reichskirchenregierung und versuchte, die evangelischen Landeskirchen in der dem Führer gehorsamen Deutschen Evangelischen Kirche zu vereinigen. Dieser Plan scheiterte, so dass er noch im selben Jahr in den Ruhestand trat. Später war er noch Senatspräsident beim Kammergericht Berlin tätig. Vgl. STASIEWSKI (wie Anm. 9), S. 51. So nach OSTDEUTSCHER BEOBACHTER, Posen, vom 3.8.1941. 1888-1956. 1929 zum Weihbischof von Gnesen-Posen geweiht. 1945 zum Titularerzbischof erhoben. 1946-1956 Erzbischof von Posen. KAZIMIERZ ŚMIGIEL, Die Apostolischen Administratoren Walenty Dymek und Hilarius Breitinger. In: Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. Deutschland und Polen 1939-1989. Hrsg. von HANS-JÜRGEN KARP und JOACHIM KÖHLER (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 32), Köln u. a. 2001, S. 259-264, hier S. 260. DERS., Kirche (wie Anm. 12), S. 136 f. STASIEWSKI (wie Anm. 9), S. 65. ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 249.

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lizeilicher“ Notwendigkeit, meistens wurde jedoch keine Begründung abgegeben.23 Gauleiter Greiser ging bei seinen antikirchlichen Maßnahmen schrittweise vor. Zunächst sollte die Diözesanverwaltung ausgeschaltet werden. Erst dann wurden die Repressalien auf den einfachen Klerus ausgedehnt. Denjenigen Priestern, die aus ihren Pfarreien geflüchtet waren, wurde die Rückkehr verweigert. Im dritten Schritt gingen die Behörden gegen die polnische Intelligenz vor, um einem organisierten Widerstand vorzubeugen. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde deshalb deportiert. Alleine aus der Diözese Lodz wurden Anfang 1940 rund 10.000 Polen deportiert, an deren Stelle sollten Deutsche aus dem Baltikum und aus Wolhynien angesiedelt werden. Dieser Dreischritt – Repressalien gegen die Kirchenobrigkeit, den einfachen Klerus und die Intelligenz – sollte in allen Besatzungsgebieten Anwendung finden. Neben diesen antikirchlichen Maßnahmen bemühten sich die Behörden, die Kirche per Gesetz schrittweise zu zerschlagen. So wurde schon am 18. Dezember 1939 die erste Verordnung erlassen, die das Reichssammlungsgesetz vom 5. November 1934 in Kraft setzte.24 Eine weitere gesetzliche Maßnahme bildete die Verordnung vom 14. März 1940 über die Erhebung von Beiträgen durch religiöse Vereinigungen und Religionsgemeinschaften. Dieses Gesetz lehnte an die Bestimmungen über die Kirchenbeiträge im Reichsgau Sudetenland und in Österreich vom Mai 1939 an. Das Ziel war es, den Kirchen ihre finanzielle Grundlage allmählich zu entziehen. So wurde von den Kirchen bloß als von „religiösen Vereinigungen und Religionsgemeinschaften“ gesprochen. In den 13 aufgelisteten Punkten sollten die Kirchen zu privaten Vereinen degradiert werden. Die Beitragsleistung wurde auf volljährige Mitglieder beschränkt und die Abrechnung erfolgte beim Regierungspräsidenten. Sämtliche finanzielle Unterstützungen, die bisher vom Staat, den Gemeinden oder von öffentlichen Spendern erfolgt war, wurden unterbunden. Die Degradierung der Kirchen zu rein privaten Vereinen sollte die Kirche vom Staat trennen. Die Leitung der Religionsgemeinschaften wurde in die Hände der Vereinsvorstände gelegt und der Besitz der Vereine lediglich auf den Kultraum beschränkt. Somit wurden alle Gebäude, karitative Einrichtungen, Felder oder Friedhöfe konfisziert. Stifte und Klöster wurden aufgelöst. Der Klerus durfte nur aus dem Warthegau stammen und einem Beruf nachgehen.25 Der Heilige Stuhl erfuhr von dieser Maßnahme vom Erzbischof von Breslau, Adolf Kardinal Bertram. Dieser sah darin den Versuch einer Enteignung der Kirche.26 Die Verordnung wurde schnell ausgeführt. Indes folgte am 24. Oktober 1940 eine weitere Verordnung, die das kirchliche Leben noch weiter erschwerte. So wurden kirchliche Veranstaltungen wie Gottesdienste, Spendung von Sakramenten – insbesondere der Beichte – sowie religiöse Erziehung der Jugend erheblich eingeschränkt. Da der Religionsunterricht nicht mehr in Schulen stattfinden konnte, war es nunmehr kaum möglich, religiöse Inhalte weiter zu vermitteln. Diese Einschränkungen wurden vor allem dort wirksam, wo die deutsche Bevölkerung einen nicht geschlossenen oder überwiegenden Anteil stellte, und wo kein Geistlicher deutscher Volkszugehörigkeit tätig war. Mit dieser Maßnahme sollte 23 24 25 26

CLAUSS (wie Anm. 2), S. 25 f. EBD. S. 26 f. EBD. S. 27-29. EBD.

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vor allem die Trennung von Nationalitäten erreicht werden, da die Behörden den Kontakt von Deutschen mit Polen unterbinden wollten.27 Mit einer weiteren verschärften Verordnung setzte Greiser seinen Plan fort, die Kirchen zu bloßen privaten Vereinen zu degradieren. Am 6. Februar 1941 wurden das Einsammeln von Kirchenkollekten, öffentliche Sammlungen und ähnliche Veranstaltungen ohne staatliche Genehmigung verboten.28 Versuche der Kirchenvertreter, bei den Behörden zu intervenieren, waren jedoch nicht möglich. Der Posener Domherr Joseph Paech informierte Kardinal Bertram am 14. April 1941 über die Vorgänge im Warthegau. Dieser war der Auffassung, dass nur der Heilige Stuhl erfolgreich intervenieren könnte, da die Behörden jegliche von außerhalb des Warthegaus kommenden Interpellationen ignorierten und nur den Heiligen Stuhl als Verhandlungspartner akzeptierten. Doch es passierte nichts.29 Die zweite Hälfte des Jahres 1941 markierte den Höhepunkt antikirchlicher Aktivitäten im Warthegau. Im Sommer 1941 befahl Greiser die strikte Trennung zwischen Polen und Deutschen in einer Religionsgemeinschaft. So durfte es im Reichsgau keine Gemeinde geben, die aus Gläubigen deutscher und polnischer Nationalität bestand. Polnische Priester durften keine Gottesdienste in deutschen Gemeinden abhalten und umgekehrt. An Kirchen, die von deutschen Priestern betreut wurden, musste ein Schild mit deutlicher Aufschrift ,Für Polen verboten‘ angebracht werden.30 Dieser Schritt bewog den Heiligen Stuhl zur Reaktion. Der Apostolische Nuntius in Berlin, Msgr. Cesare Orsenigo, intervenierte beim Staatssekretär Ernst von Weizsäcker im August 1941 und übergab diesem ein Memorandum über den Warthegau, das jedoch nicht beantwortet wurde.31 Die schärfste Verordnung folgte am 13. September 1941. Sie beendete den rechtlosen Status der Religionsgemeinschaften und definierte die katholische Kirche im § 1 als die römisch-katholische Kirche deutscher Nationalität im Reichsgau Wartheland als juristische Person des privaten Rechts, womit die universelle römischkatholische Kirche, die dem Papst untersteht, aufhörte zu existieren. Schätzungsweise gehörten nur etwa zehn Prozent der Katholiken im Warthegau dieser Kirche an, während die restliche polnische Bevölkerung schutzlos dastand.32 Auf Weisung von Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione hin protestierte Nuntius Orsenigo energisch dagegen. Wie überfordert der Nuntius mit der Gesamtsituation gewesen war, zeigt seine Anfrage an den Heiligen Stuhl, wie er sich verhalten solle.33 Indessen erreichten zwei Berichte, die vom Posener Weihbischof Dymek und vom Generalvikar von Gnesen, van Blericq, an Nuntius Orsenigo geschickt wurden, den Kardinalstaatssekretär Maglione. Die Verfasser betonten darin, dass der Gau das Experimentierfeld für ein umfassendes Vorgehen gegen die Kirche in Deutschland sei. Problematisch war der Umstand, dass das Reichskonkordat im Warthegau gar nicht greifen konnte, so dass der Heilige Stuhl nicht in der Lage 27 28 29 30 31 32 33

EBD. S. 29 f. EBD. S. 30. EBD. EBD. S. 31. EBD. S. 31 f. STASIEWSKI (wie Anm. 9), S. 64 f. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 32.

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war, zu intervenieren. So musste sich Nuntius Orsenigo mehrmals anhören, dass er bloß für das Altreich zuständig sei. Dymek und van Blericq brachten ihre Sorge zum Ausdruck, dass es den deutschen Behörden gelingen könnte, die deutschen und polnischen Katholiken voneinander zu trennen und gegeneinander auszuspielen. Um dem vorzubeugen, schlugen sie vor, dass der Heilige Stuhl eine Diözese für die deutschen, und eine für die polnischen Katholiken einrichten könnte.34 In der Zwischenzeit erreichte den Heiligen Stuhl ein weiterer Bericht vom 7. Oktober 1941, der von den Posener Domherren Albert Steuer und Joseph Paech sowie vom Franziskanerpater Hilarius Breitinger35 verfasst wurde. Die drei Autoren sahen ein, dass jegliche Proteste ergebnislos bleiben würden, da Greiser die Kirche zerschlagen wollte. Daher schlugen sie dem Heiligen Stuhl vor, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Für sie war es immer noch besser, die Rechtsform eines privaten Vereins zu haben, als vollkommen rechtlos dazustehen. Als Lösung sahen sie die Ernennung eines deutschen Apostolischen Administrators für die deutschen Katholiken an. Dieser sollte unabhängig von der polnischen Hierarchie fungieren. Die drei Geistlichen waren der Auffassung, dass nur dieser Schritt die Situation etwas mildern könnte und eine Spaltung der Kirche nach Nationen verhindern würde. Im Vatikan wurden diese Berichte sorgsam zur Kenntnis genommen.36 Kazimierz Śmigiel stellt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Berichten der polnischen Diözesanleitung und der deutschen Geistlichen fest: während die polnischen Oberhirten der kirchlichen Zukunft nicht mehr sicher und ratlos waren, weil sie kaum Raum für Verhandlungen hatten, war die deutsche Kirchenorganisation als Rechtssubjekt bereits anerkannt worden.37 Auch wenn eine Trennung von Nationalitäten vom Kirchenrecht nicht genehmigt wurde, entschied sich Pius XII. dafür, den Ratschlägen zu folgen, die „die Notwendigkeit der Anpassung an das neue Rechtssystem unterstrichen, um die Kirche und das religiöse Leben vor weiteren Verlusten zu bewahren“.38 So ernannte der Papst den Domherrn Paech zum Apostolischen Administrator für die deutschen Katholiken des Warthegaus, womit er den Wünschen der Geistlichen entgegenkam. Der Franziskanerpater Hilarius Breitinger löste ihn in dieser Funktion am 2. Mai 1942 ab. Den Grund für den Rücktritt Paechs stellte dessen gesundheitliche Situation dar. Sein erhöhter Blutzuckerspiegel und mehrere Herzanfälle resultierten aus der „Vergeblichkeit der meisten Bemühungen um Erleichterungen in der Seelsorge, das Entsetzen über die Verhaftung so vieler polnischer Priester und ihre Verschleppung ins Konzentrationslager, die ständige Hetze der Partei gegen die Kirche und der wachsende Druck zum Kirchenaustritt“.39

Weihbischof Dymek dagegen wurde zum Apostolischen Administrator für die polnischen Katholiken bestellt.40 Da jedoch Dymek ständig unter Hausarrest 34 35 36 37 38 39 40

EBD. S. 32-34. Breitinger verfasste später Memoiren, in denen er den Ablauf der Vorgänge aus seiner Sicht darstellte. Vgl. Anm. 9. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 34 f. ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 87-89. ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 89. EBD. S. 90. BREITINGER (wie Anm. 9), S. 107. Zu den Apostolischen Administratoren Dymek und Breitinger siehe ŚMIGIEL, Administratoren (wie Anm. 20). Zu Dymek vgl. auch ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 146-150. Zur Bewertung der Ernennung Apostolischer Administratoren im Warthegau neuerdings BERND HEIM, Braune

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stand, konnte er seine Funktion de facto nicht ausüben. Gleichzeitig unterwies Kardinalstaatssekretär Maglione Nuntius Orsenigo, gegen die Zustände im Warthegau weder beim Auswärtigen Amt noch beim Kirchenministerium, sondern direkt in der Parteizentrale, somit also direkt bei Hitler zu protestieren. Wenn Paech mit den Behörden verhandelte, tat er dies nicht im Namen des Heiligen Stuhls, sondern im Namen der deutschen Katholiken. Damit konnte der Papst den Schein der Legitimierung der Zustände und der Abschaffung bestehender Diözesanstrukturen meiden und den Fortbestand der Seelsorge im minimalen Ausmaß gewährleisten. Greiser verschärfte noch weiter seinen aggressiven Kirchenkampf. Am 3. Oktober 1941 wurde eine Verordnung erlassen, wonach die noch wenigen vorhandenen kirchlichen Besitztümer konfisziert wurden. Hiervon waren vor allem die Friedhöfe betroffen. Die Kirchen mussten nunmehr ihre Gotteshäuser mieten. Der Apostolische Administrator Paech bat Nuntius Orsenigo um weitere Proteste. Orsenigo lehnte jedoch resigniert ab. Seine zahlreichen Protestnoten blieben unbeantwortet, so dass er solche Aktionen für sinnlos hielt. Als sich Paech sodann an den Heiligen Stuhl mit der Bitte um Intervention wandte, bekam er eine Antwort, die auch die Resignation des Kardinalstaatssekretärs verdeutlichte, da die diplomatischen Schritte der Kurie bisher keine Früchte getragen hatten.41 Greiser sollte es jedoch nicht nur bei diesen Maßnahmen bewenden lassen. Im Oktober 1941 startete er die Aktion zur Zerschlagung der polnischen katholischen Kirche im Reichsgau Wartheland.42 In Anlehnung an die Anordnung des Reichsführers der SS und Chefs der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, über die Festnahme staatsfeindlicher Elemente vom 27. August 1941 wurden an zwei Tagen alle polnischen Geistlichen verhaftet. Viele von ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert. Ausgenommen von der Verhaftung wurden diejenigen Priester, die von den Landräten und Kreisleitern für unbedingt notwendig erachtet wurden. Die Landräte hatten die Möglichkeit, zwei polnische Geistliche pro Kreis für die Seelsorge an Polen zu behalten, wenn sie es für nötig hielten. Die meisten Landkreise nutzten dieses Zugeständnis. Zudem durfte in jedem Kreis nur eine polnische Kirche bestehen bleiben. Davon erfuhr der Heilige Stuhl aus einem Bericht des Krakauer Erzbischofs Sapieha vom 3. November 1941. Auch die Verhandlungen zur Schaffung einer Satzung für die neu zu gründende Römisch-katholische Kirche deutscher Nationalität im Reichsgau als juristische Person öffentlichen Rechts zogen sich gut anderthalb Jahre hin und erwiesen sich als äußerst schwierig, da der neue Apostolische Administrator für die deutschen Katholiken, Hilarius Breitinger, die weit gehenden Forderungen des Gauleiters nicht akzeptieren konnte. Offiziell strebte die deutsche Seite keine Loslösung der katholischen Kirche im Warthegau von Rom an. Greiser wartete jedoch inoffiziell auf eine Persönlichkeit, die den Mut hätte, mit Rom zu brechen.43 Breitinger glaubte, dass nur ein öffentlicher Protest Roms Wirkung zeigen könnte, da auch er über die zahlreichen fruchtlosen diplomatischen Interventionen des Heiligen Stuhls

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Bischöfe für's Reich? Das Verhältnis von katholischer Kirche und totalitärem Staat dargestellt anhand der Bischofsernennungen im nationalsozialistischen Deutschland. Bamberg 2007, S. 568571. CLAUSS (wie Anm. 2), S 36 f. EBD. S. 37. EBD. S.40, Breitinger an Orsenigo vom 23.11.1942.

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beim Auswärtigen Amt informiert war. Gauleiter Greiser drohte Breitinger mit einer Abschiebung nach Dachau, sollte die Satzung nicht ausgearbeitet werden.44 In der Folgezeit verschlimmerte sich die Situation immer mehr. Die diplomatische Ebene lag völlig gelähmt da, da sich das Auswärtige Amt gänzlich weigerte, Briefe aus dem vatikanischen Staatssekretariat anzunehmen. Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1943 erreichten Rom immer seltener Nachrichten aus dem Warthegau, aus Polen blieben sie völlig aus. Anfang 1945 notierte Kardinalstaatssekretär Maglione, dass man seit fast zwei Jahren nichts mehr über die religiöse Lage in Polen erfahren könne.45 Ab Ende 1943 konnte Greiser keine entscheidenden Maßnahmen mehr gegen die Kirche ergreifen. Das hatte in erster Linie mit der sich verschlechternden Kriegslage zu tun. Viele für die Kirchenfragen zuständigen Behördenmitarbeiter wurden zum Wehrdienst eingezogen. Zudem gab es zwischen Greiser und dem Chef der Parteizentrale, Martin Bormann, immer größere Spannungen, so dass der Gauleiter angesichts der Kriegssituation und der ablehnenden Haltung der Kirchen – auch der evangelischen – nicht mehr zu solchen Schritten fähig war. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Diözesanleitung vollkommen ausgeschaltet und die Geistlichkeit dezimiert war. Schon im Herbst 1941 verdeutlichte das ein kirchlicher Bericht aus der Erzdiözese Posen.46 Von 681 Weltpriestern und 147 Ordensgeistlichen, die bis zum 1. September 1939 tätig waren, befanden sich 451 in Gefängnissen oder Konzentrationslagern, 120 wurden ins Generalgouvernement umgesiedelt, 74 wurden erschossen bzw. starben in Konzentrationslagern, und nur 34 blieben in der Seelsorge für die polnischen bzw. 17 für deutsche Katholiken tätig. Insgesamt wurden nachher die Personenverluste mit 224 Geistlichen angegeben. Das waren 32,89 % des Diözesanklerus.47 Von den 441 Kirchen der Erzdiözese blieben nur 30 für die Polen und 15 für die Deutschen geöffnet. Die zahlreichen Protestnoten seitens des Heiligen Stuhls blieben meistens unbeantwortet, so dass selbst Drohungen der Kurie, sich an die Weltöffentlichkeit zu wenden, keine Wirkung zeigten. Die Verluste unter den Diözesan- und Ordensgeistlichen im gesamten Gau Wartheland sahen folgendermaßen aus: von den etwa 2.100 bis September 1939 tätigen Klerikern waren 133 ermordet, 1.523 verhaftet, 1.092 in Konzentrationslager deportiert, 682 dort ermordet und ca. 400 ins Generalgouvernement umgesiedelt worden. Das bedeutet, dass rund 72 % des Klerus durch die Einweisung in Gefängnisse oder Lager der Freiheit beraubt wurde, jeder zweite Priester (52 %) Häftling eines Konzentrationslagers war und jeder dritte (38 %) sein Leben verloren hatte.48

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Zu den Verhandlungsphasen und den Textentwürfen ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 91-109. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 41. BREITINGER (wie Anm. 9), S. 68-70 - Aufstellung Breitingers über die Lage der Erzdiözese Posen (10.10.1941): Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945. Bd. 5. 1940-1942. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 34). Mainz 1983, Nr. 706. ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S .15. EBD. S.186.

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Reichsgau Danzig-Westpreußen Danzig-Westpreußen umfasste die Diözese Kulm-Pelplin und je einen kleinen Teil der Bistümer Płock, Ermland, Włocławek sowie der Erzdiözese Gnesen.49 Der Kulmer Bischof Stanisław Wojciech Okoniewski flüchtete bereits beim Einrücken der deutschen Truppen. Ihm wurde die Rückkehr wegen seiner „deutschfeindlichen Haltung“ verweigert. Er hatte zuvor die Gläubigen aufgerufen, die deutschen Besatzer nicht mit Begeisterung aufzunehmen.50 Sein Weihbischof Konstanty Dominik erkrankte Anfang November 1939. Nach seiner Genesung zog er nach Danzig um, wo er 1942 starb.51 Bereits am 9. September 1939 bekam der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Diego von Bergen, eine Weisung vom Auswärtigen Amt, entsprechende Schritte zu setzen, um die Erlaubnis des Heiligen Stuhls zur Besetzung verlassener Bischofsstühle zu bekommen.52 Den Deutschen ging es vor allem um die Erzdiözese Gnesen-Posen und die Bistümer Kulm-Pelplin sowie Kattowitz, die sie an deutsche Bischöfe übertragen wollten. Die Besatzer wünschten sich Prälat Franz Hartz aus Schneidemühl53 als Erzbischof für Gnesen-Posen, den Bischof von Danzig, Carl Maria Splett54 für Kulm-Pelplin und den Erzbischof von Breslau, Adolf Kardinal Bertram für Kattowitz. Da der Posener Weihbischof und der Kattowitzer Bischof jedoch im Amt waren, kam nur die unbesetzte Diözese Kulm-Pelplin in Frage.55 Im Normalfall ließ sich der Papst mit solchen Entscheidungen Zeit, zur Beschleunigung der Ereignisse führte jedoch der Bericht des Nuntius in Berlin, Orsenigo, vom 25. November 1939, in dem dieser die chaotischen Zustände in Kulm beschrieb.56 Dort ging die Besatzungsmacht gegen die polnische Intelligenz besonders hart vor. Einer der brutalsten Eingriffe richtete sich gegen das Domkapitel von Pelplin, dessen Mitglieder am 20. Oktober 1939 in einem Wald bei Pelplin ermordet und verscharrt wurden. Die Gebäude der bischöflichen Kurie wurden für eine Polizeischule beschlagnahmt, der Dom geschlossen. Fast alle Pfarreien wurden beschlagnahmt, Krankenhäuser und kirchliche Anstalten enteignet, alle Ordensschwestern vertrieben. Als Vorwand für diese Aktionen wurde die Rede 49 50 51 52 53

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FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 272. Der Bischof starb am 1.5.1944. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 43-51 sowie S. 137-155. JERZY MYSZOR, Historia diecezji katowickiej [Geschichte der Diözese Kattowitz]. Katowice 1999, S. 299 f. In Folge der Grenzverschiebung nach dem Ersten Weltkrieg wurde am 1.12.1920 eine Erzbischöfliche Delegatur mit dem Sitz in Tütz geschaffen, die die beim Deutschen Reich verbliebenen Teile des Erzbistums Gnesen-Posen und dem Bistum Kulm umfasste. In der Delegatur lebten ca. 135.000 Katholiken und etwa hundert Priester. Am 1.5.1923 wurde die Delegatur in eine Apostolische Administratur umgewandelt. 1927 verlegte der ein Jahr zuvor neu ernannte Administrator Maximilian Kaller den Sitz nach Schneidemühl. Mit dem Preußenkonkordat von 1930 wurde die Freie Prälatur Schneidemühl geschaffen. Im selben Jahr wurde Kaller, der Bischof von Ermland wurde, von Franz Hartz abgelöst. 1898-1964. 1938 Bischof von Danzig. 1940-1946 Apostolischer Administrator der Diözese Kulm. Anfang 1946 nach einem Schauprozess interniert. 1956 wurde er freigelassen, musste Polen jedoch verlassen. Obwohl ihn Primas Hlond seines Amtes enthob, weigerte sich Splett, diese Entscheidung anzunehmen, die nur dem Papst vorbehalten sei. Somit blieb er bis zu seinem Tod in 1964 Diözesanbischof von Danzig. Vgl. dazu ausführlich HEIM (wie Anm. 40), S. 481-493 mit weiteren Quellen- und Literaturangaben. EBD. S. 487.

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von Primas Hlond im Radio Vatikan angegeben, die die Deutschen als einen großen Aufruf zum Widerstand des polnischen Volkes aufnahmen.57 Von den 690 Diözesanpriestern der Diözese Kulm wurden zwei Drittel verhaftet, die übrigen konnten untertauchen. Einige wurden ins Generalgouvernement ausgesiedelt, 214 von ihnen nachweislich ermordet.58 Bischof Carl Maria Splett von Danzig gab am 14. Januar 1940 an, nur 35-40 Kulmer Priester seien noch im Amt.59 Bereits vier Tage nach dem Bericht des Nuntius sprach sich Papst Pius XII. dafür aus, den Danziger Bischof Splett als Apostolischen Administrator von Kulm zu ernennen. Am 1. Dezember, also eine Woche nach dem Bericht Orsenigos, beauftragte Kardinalstaatssekretär Maglione den Nuntius, die Ernennung zu vollziehen. Der Papst drängte jedoch darauf, den Polen die provisorische Maßnahme deutlich zu machen, die aus der schwierigen Lage resultiert habe.60 Diese überraschende Eile, die hier überwog, zeigt, dass die Lage in Kulm für äußerst schwierig erachtet wurde. Dass der Heilige Stuhl mehrmals auf die provisorische Maßnahme hinwies, deutet darauf hin, dass er seitens der polnischen Geistlichen mit Widerstand rechnete, was auch eintrat. Auch die polnische Exilregierung protestierte aufs Heftigste. Es war jedoch nicht das erste Mal, dass sich der Heilige Stuhl zu einem solchen Schritt entschlossen hatte. Bereits am 10. Juni 1939 wurde der Bischof von Ermland, Maximilian Kaller, zum Apostolischen Administrator für die Prälatur Memel ernannt. Das Memelland wurde zuvor im März 1939 vom Deutschen Reich aus dem litauischen Staatsverband herausgelöst. 61 Damit läutete der Heilige Stuhl eine neue Politik ein: Im Falle von verwaisten Bischofsstühlen in den von den Deutschen besetzten Ostgebieten wurde auf die reguläre Nachbesetzung zugunsten von Kapitelsvikaren und Apostolischen Administratoren verzichtet, um wenigstens die provisorische Verwaltung der Diözesen zu gewährleisten.62 Genauso wie im Warthegau wollten die Nationalsozialisten den Gau DanzigWestpreußen im großen Stil germanisieren, deshalb wurde der Gebrauch der polnischen Sprache verboten. Schon im Oktober 1939 untersagte die Gestapo den polnischen Priestern der Diözese Kulm-Pelplin, die Beichte auf Polnisch zu hören. Die eingeschüchterten Geistlichen befolgten diese Anweisung. Einige von ihnen verkündeten öffentlich von Kanzeln, dass sie nicht mehr auf Polnisch beichten würden. Nach dem Antritt Bischof Spletts als Apostolischer Administrator für Kulm-Pelplin teilte er seinen Priestern mit, dass sich das Sprachverbot nicht auf das Sakrament der Beichte beziehe. Infolgedessen wurden zahlreiche Priester verhaftet. Im Februar 1940 wies die Gestapo auch Bischof Splett mündlich und schriftlich an, den Gebrauch des Polnischen bei der Beichte zu verbieten. 57 58

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Hlond hielt die Rede am 21.9.1939. Sie wurde im Wortlaut im L’OSSERVATORE ROMANO vom 2./3.10.1939 abgedruckt. Zahlen nach CLAUSS (wie Anm. 2), S. 45. Ähnliche, doch leicht abweichende Zahlen weist Kazimierz Śmigiel nach: Von den 634 im Jahre 1939 tätigen Priestern seien 224 hingerichtet worden. Zusammen mit den Opfern von Konzentrations- und anderen Lagern hätten sich die Verluste auf 323 Priester belaufen. Dadurch beziffert Śmigiel die Verluste unter den Geistlichen auf 50,94 %, ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 14. STEFAN SAMERSKI, Die Bemühungen Kardinal Bertrams um die Reorganisation der Seelsorge im annektierten Polen (1939-1945). In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHELGESCHICHTE 50 (1996) S. 153-176, hier S. 155. EBD. S. 142. HEIM (wie Anm. 40), S. 476-481, hier S. 478 f. EBD. S. 493.

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Splett protestierte dagegen bei der Gestapo in Danzig und in Berlin. Das nutzte jedoch nichts, sondern löste im Gegenteil eine weitere Verhaftungswelle innerhalb des Klerus aus. Da der Heilige Stuhl nicht über die Einzelheiten informiert war, missbilligte Kardinalstaatssekretär Maglione die Entscheidung Spletts auf Schärfste. Splett rechtfertigte sich in einem Schreiben, dass die Aufrechterhaltung der Seelsorge nur durch diesen Schritt möglich sei.63 Allerdings durfte Splett nicht einmal öffentlich verkünden, dass ihm das Sprachverbot von der Gestapo auferlegt worden war. So entstand der Eindruck, dass er die Germanisierungspolitik der Besatzungsmacht willig ausführte. Regierungsbezirk Zichenau Die polnische Wojwodschaft Warschau wurde mit dem deutschen Überfall auf Polen größtenteils dem Generalgouvernement einverleibt. Mit dem „Führererlass“ vom 8. Oktober 1939 wurde ein Teil davon (Nordmasowien) herausgelöst und als Regierungsbezirk Zichenau der Provinz Ostpreußen angegliedert.64 Das neue Verwaltungsgebiet übernahm Dr. Hermann Bethke, der im Namen des Regierungspräsidenten seine Geschäfte ausübte. Damit wurde Bethke zum Stellvertreter des ostpreußischen Gauleiters Erich Koch.65 In diesem Regierungsbezirk lebten rund eine Million Menschen, darunter ca. 80.000 Juden und nur 11.000 Deutsche. Über 900.000 Personen waren ethnische Polen.66 Die Politik Erich Kochs war in einigen Punkten jener von Gauleiter Arthur Greiser ähnlich. So plante Koch, den Regierungsbezirk Zichenau nach Kriegsende zum Siedlungsgebiet für junge ostpreußische Bauern zu nutzen. Bereits im Herbst 1940 wurden die ersten Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung angeordnet und durchgeführt.67 Zum Regierungsbezirk Zichenau gehörte der größte Teil der Diözese Płock. Dieses Bistum war auch führungslos. Bischof Antoni Julian Nowowiejski wurde Anfang 1940 zunächst in seiner Wohnung festgesetzt, später zusammen mit seinem Weihbischof, Leon Wetmański, verhaftet und an einem entlegenen Ort in seiner Diözese interniert. Nowowiejski starb am 28. Mai 1941 im Lager Soldau, Wetmański im Oktober 1941 im KZ Auschwitz. Erst 1946 konnte der Bischofsstuhl wieder besetzt werden.68

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EBD. S. 162-165. REICHSGESETZBLATT 1939 I, S. 2042, Erlass das Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8.10.1939. 1896-1986. 1928-1945 Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen. Zu seiner Biographie RALF MEINDL, Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch – Eine politische Biografie. Osnabrück 2007. ANDREAS SCHULZ, Regierungsbezirk Zichenau. In: Das „Großdeutsche Reich“ und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten. Hrsg. von WOLF GRUNER und JÜRG OSTERLOH (WISSENSCHAFTLICHE REIHE DES FRITZ BAUER INSTITUTS, 17). Frankfurt, New York 2010, S. 261-282, hier S. 261-263. FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 34. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 137 f.

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Regierungsbezirk Kattowitz In einer anderen Situation befand sich die Provinz Oberschlesien. Kirchenadministratorisch gehörten zu ihr die Diözese Kattowitz sowie Teile der Erzdiözese Krakau und der Diözesen Kielce und Tschenstochau.69 Nach einem ersten Bericht des Kattowitzer Bischofs Stanisław Adamski 70 vom 3. September 1939 über die Lage der Kirche vor Ort war man in der römischen Kurie darüber erleichtert, dass weder Adamski noch der Großteil seines Klerus geflohen waren. Davon waren aber die deutschen Behörden überzeugt, denn noch bis zum 10. Oktober 1939 herrschte sowohl im Auswärtigen Amt, als auch im Reichsministerium für die Kirchlichen Angelegenheiten diese Meinung vor.71 Anders als der Großteil der eingegliederten Ostgebiete befand sich die Diözese Kattowitz innerhalb der deutschen Grenzen von 1918. Im Zuge der Teilung Oberschlesiens, zu der es in Folge der im Versailler Vertrag festgelegten Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens gekommen war, wurde 1922 der östliche Teil der Diözese Breslau herausgelöst und zur Apostolischen Administratur Oberschlesien erhoben. 1925 entstand daraus das neue Bistum Kattowitz. Das Gebiet wurde als deutsch behandelt und einer schnellen Germanisierung unterzogen, in Schulen, Kirchen und Behörden die deutsche Sprache eingeführt. Nuntius Orsenigo zeigte sich zuversichtlich, dass die Seelsorge in der oberschlesischen Diözese aufrechterhalten werden könnte, da zunächst keine weiteren Maßnahmen in die Wege geleitet wurden. Da man im Reichskirchenministerium davon ausging, dass Bischof Adamski seine Diözese verlassen hatte, wurden sogar Pläne für die Übertragung der Administration des oberschlesischen Bistums an Kardinal Bertram ins Auge gefasst. Diese Überlegungen wurden auch nicht fallen gelassen, nachdem sich die Behörden im Oktober 1939 vergewissert hatten, dass Adamski nicht geflüchtet war. Ob der Erzbischof von Breslau von diesen Plänen von Anfang an unterrichtet war, ist ungewiss. Jerzy Myszor hält das für wahrscheinlich.72 Stefan Samerski weist darauf hin, dass Kardinal Bertram Anfang 1941 im Schriftwechsel mit dem Heiligen Stuhl die Übernahme der Diözese Kattowitz abgelehnt habe.73 Im Zuge der Germanisierung wollten die Nationalsozialisten auch in Oberschlesien eine strikte Trennung von Polen und Deutschen erreichen. So weigerten sich die Behörden, mit Bischof Adamski offiziellen Kontakt aufzunehmen, da er kein Deutscher war. Zudem stand der Bischof unter Hausarrest. Adamski versuchte, die Spannung zu lösen. So ernannte er am 8. Januar 1940 den Deutschen Franz Strzyż74 zu seinem Generalvikar. Dieser Schritt brachte eine leichte Ent69 70 71

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EBD. S. 43-51. MYSZOR Historia (wie Anm. 52), S. 292-394. 1871-1967. 1930-1967 Bischof von Kattowitz. JERZY MYSZOR, Die Beziehungen zwischen Kardinal Bertram und dem Kattowitzer Bischof Adamski während des Zweiten Weltkrieges 1939-1941. In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 54 (1996), S. 177-186, hier S. 178. EBD. SAMERSKI (wie Anm. 59), S. 158. 1876-1942. Strzyż blieb in dieser Funktion bis zum 9.5.1942. Dann übergab er den Posten an seinen engsten Mitarbeiter Franz Wosnitza, bevor er einen Monat später, am 2.6.1942 starb. Er war herzkrank und überwand es nicht, dass seine Tätigkeit keinen Erfolg in der Seelsorge bringen konnte. Seine unmittelbare Todesursache soll die Nachricht gewesen sein, dass die Behörden das

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spannung, denn die Behörden nahmen den Kontakt mit der Kurie auf. Der zuständige Sektionschef für kirchliche Angelegenheiten in Schlesien beantwortete die Schreiben der Kurie. Er gab an, dass die deutschen Behörden kein kirchenfeindliches Programm verwirklichen, sondern lediglich die deutschen Interessen auf kirchlichem Gebiet vertreten wollten. Eine erste Entspannungsphase war dadurch gekennzeichnet, dass einige inhaftierte Geistliche freigelassen wurden. In seinem Bericht vom 30. April 1940 drückte Nuntius Orsenigo seine Befürchtung aus, die Deutschen könnten sehr bald die Verhaftung Adamskis anordnen. Sieben Diözesanpriester befanden sich bereits im KZ, 22 im Gefängnis, 14 wurden vertrieben.75 Der Gebrauch der polnischen Sprache bei religiösen Praktiken wurde nahezu völlig verboten – die Beichte war zunächst davon noch nicht betroffen. Vereinzelte kirchliche Gebäude wurden beschlagnahmt, das Priesterseminar geschlossen. Im Dezember 1939 führten die deutschen Behörden in der Wojwodschaft Schlesien im Rahmen der sogenannten Fingerabdruckaktion76 neue Personalausweise ein. Es handelte sich dabei nicht bloß um eine bürokratische Maßnahme. Die Behörden wollten sich damit einen Überblick über die nationale Zusammensetzung der Einwohner Oberschlesiens verschaffen. Zunächst wurden keine Angaben zur Volkszugehörigkeit erhoben. Die Behörden wollten wissen, ob die Einwohner zum Deutschtum neigen. Viele verunsicherte Oberschlesier suchten bei den Geistlichen Rat, wie sie sich verhalten sollten. Nach eingehender Situationsanalyse mit seinen Beratern, den Priestern Emil Szramek77, Paweł Latusek78 und Bolesław Kominek79 entschloss sich Bischof Adamski, den Gläubigen dazu zu raten, sich zum Deutschtum neigend zu deklarieren. Die polnische Exilregierung nahm diese Aktion äußerst kritisch zur Kenntnis. Außenminister August Zaleski80 sagte ohne Umschweife, dass der Teil der Bevölkerung, der sich zur deutschen Nation bekannt hatte, nach dem Krieg zweifellos werde Polen verlassen müssen.81 Doch nachdem Ministerpräsident General Władysław Sikorski Anfang 1940 über die Situation in Oberschlesien informiert worden war, empfahl er, dass sich die oberschlesische Bevölkerung maskieren sollte, wenn es keinen anderen Ausweg für die Rettung der Menschen gebe.82

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Kuriengebäude besetzen und das Kurienhaus niederreißen wollten, MYSZOR, Historia (wie Anm. 52), S. 301-305, hier S. 304. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 47. JERZY MYSZOR, Bischof Stanisław Adamski und die Aussiedlung der Oberschlesier in den Jahren 1945-1949. In: Katholische Kirche (wie Anm. 20), S.195-207, hier S. 196-199. DERS., Historia (wie Anm. 52), S. 297-299. 1887-1942. Bedeutende Persönlichkeit des oberschlesischen Katholizismus. Insbesondere während und nach der Zeit der sogenannten Schlesischen Aufstände war er ein beachteter Mahner für die deutsch-polnische Verständigung. Obwohl er sich zum Polentum bekannte, erklärte er stets, dass die Oberschlesier aus Deutschen und Polen bestehen, die miteinander leben sollen. Während des Krieges wurde er ins KZ (Dachau, Gusen, Mauthausen und wiederum Dachau) deportiert, wo er als Märtyrer starb. 1999 von Johannes Paul II. selig gesprochen. 1910-1967 Weihbischof von Gnesen. 1967-1973 Weihbischof von Breslau. 1903-1974. 1945-1951 Apostolischer Administrator für das Oppelner Schlesien; 1951 Weihbischof von Breslau; 1962 Titularerzbischof in Breslau (bis 1972 bestand die deutsche Erzdiözese Breslau fort, so dass Kominek kein ordentlicher Diözesanbischof sein konnte), 1972 zum ersten polnischen Erzbischof von Breslau ernannt, 1973 zum Kardinal kreiert, am 10.3.1974 verstorben. 1883-1972. 1926-1932 sowie 1939-1941 polnischer Außenminister, 1947-1972 polnischer Präsident der Exilregierung in London. MYSZOR, Bischof Adamski (wie Anm. 76), S. 196 f. MYSZOR, Historia (wie Anm. 52), S. 298.

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Doch blieb es nicht nur bei der Ausstellung von Personalausweisen. Anfang 1941 wurde auf die Initiative Himmlers hin eine große Aktion gestartet, um die oberschlesische Bevölkerung in die deutsche Volksliste aufzunehmen. Somit sollte die Bevölkerung nach Nationalitäten eingeteilt werden. Die Volksliste bestand aus einer vierstufigen Skala der Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Dadurch wollten die Deutschen den Charakter der Grenzeinwohner definieren, die sich für sie durch labiles Nationalitätsbewusstsein auszeichneten. Genauso wie bei der Fingerabdruckaktion waren auch jetzt die polnischen Oberschlesier verunsichert und verängstigt. Die meisten gingen davon aus, dass Oberschlesien endgültig beim Deutschen Reich verbleiben würde. Für andere gab es keinen Unterschied zwischen der Staats- und der nationalen Zugehörigkeit. Die Bauern bangten dagegen um ihr Eigentum. Auch in dieser Situation wandten sich zahlreiche Oberschlesier über ihre Seelsorger an den Bischof mit der Bitte um Rat. Adamski erklärte, dass sich die Bevölkerung in einer solchen Situation maskieren müsse. Daher sollte man bei der Frage über das Verhältnis zum Deutschtum die Antwort deutschfreundlich geben. So deklarierten ca. 90 % der Einwohner Oberschlesiens ihre Zustimmung zum Deutschtum und beantragten die Aufnahme in die Volksliste.83 Diese Aktion sollte jedoch die letzte des Bischofs sein. Am 28. Februar 1941 wurden Adamski, sein Weihbischof Juliusz Bieniek sowie drei Kurienmitarbeiter verhaftet und ins Generalgouvernement gebracht. Ob das auf Anweisung des neuen Gauleiters, Fritz Bracht, geschah, wie Adamski glaubte, oder diese Entscheidung vom Reichssicherheitshauptamt gefällt wurde, ist nicht klar.84 Zunächst blieben sie in Krakau zu Gast bei Erzbischof Sapieha. Adamski entschloss sich jedoch, nach Warschau zu ziehen. Dort blieb er bis zum Ende des Warschauer Aufstands.85 Im Oktober 1944 zog er nach Tschenstochau um. Weihbischof Bieniek blieb dagegen bis zum Kriegsende in Krakau.86 Nach der Vertreibung Adamskis blieb das religiöse Leben einigermaßen unbeeinträchtigt, die Situation für die polnischen Katholiken war wesentlich besser als im Warthegau. Erst Mitte 1942 erreichte den Heiligen Stuhl eine alarmierende Mitteilung, dass die deutschen Behörden eine ähnliche Kirchenpolitik betreiben wollten, wie das im Warthegau der Fall war. So wurde in Anlehnung an den Erlass vom 24. Juni 1941 angedroht, dass jeder deutsche Geistliche, der polnische Katholiken seelsorglich betreute, ins Konzentrationslager deportiert würde. 50 polnische Priester wurden als unnötig eingestuft und in Umschulungslager abgeschoben, aus denen – wie der Krakauer Erzbischof Sapieha in einem Bericht vom Juni 1942 befürchtete – keiner zurückkommen würde. Doch wurden schließlich weiter reichende Pläne zur Aufspaltung in eine deutsche und polnische Kirche nicht mehr verwirklicht. Im Großen und Ganzen konnte die Seelsorge bis zum Kriegsende den Umständen entsprechend aufrechterhalten werden. Somit war die Lage der Katholi-

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DERS., Bischof Adamski (wie Anm. 76), S. 196 f. DERS., Historia (wie Anm. 52), S. 312. Der Warschauer Aufstand (1.8. bis 3.10.1944) – nicht zu verwechseln mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto (19.4.-16.5.1943) – war der Aufstand der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, AK). MYSZOR, Historia (wie Anm. 52), S. 308-314.

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ken bei weitem besser als in den anderen Gauen. Von den 489 Diözesanpriestern (Stand: 1939) kamen 64 Geistliche um, das waren 13,68 %.87 Die weniger restriktive Kirchenpolitik der Nationalsozialisten in Oberschlesien im Vergleich zum Warthegau ist nach Jerzy Myszor auf die Interventionen des Erzbischofs von Breslau, Adolf Kardinal Bertram, zurückzuführen, der sich für eine geregelte Seelsorge im Bistum Kattowitz einsetzte.88 Nachdem Bischof Adamski Kattowitz 1941 verlassen hatte, wurde der Kardinal durch das Kattowitzer Generalvikariat regelmäßig über die Situation vor Ort informiert und um Unterstützung gebeten.89 Robert Żurek ergänzt diese Feststellung mit der These, dass die Besatzungsmächte wegen der Interessen an der oberschlesischen Schwerindustrie für Kriegszwecke keinen Aufruhr unter den frommen Oberschlesiern provozieren wollten.90

Generalgouvernement Mit seinen etwa 17 Millionen Einwohnern (einschließlich des Distrikts Galizien) stellte das Generalgouvernement das größte Gebiet im annektierten Polen dar. Davon waren über 80% römische Katholiken.91 Kirchenadministratorisch gehörten dazu ganz oder zum größten Teil die Erzdiözesen Warschau und Krakau sowie die Diözesen Siedlce, Lublin, Kielce, Tschenstochau, Sandomir, Tarnów und kleinere Gebiete von Łomża und Przemyśl. Seit 1941 kam die Erzdiözese Lemberg hinzu.92 Hitler ernannte mit seinem Führererlass vom 26. Oktober 1939 über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete einen Generalgouverneur, der ihm direkt unterstand. Diese Funktion übernahm Hans Frank93, der mehrere Aufgaben zu erfüllen hatte. Militärisch sollte das Generalgouvernement ein nach Osten vorgeschobener und unbezwingbarer Wall sein. In der Volkstumspolitik bildete es ein Sammelbecken für Juden, Polacken und Gesindel, von denen die übrigen eingegliederten Ostgebiete gesäubert werden sollten. Zusätzlich sollte die polnische Intelligenz – wie anderswo auch – bekämpft werden, um organisierten Aufständen vorzubeugen. Außerdem nutzten die Besatzer das Gebiet zur Beschaffung billiger Arbeitskräfte. Hitler wies Frank an, diese Aufgaben ohne den deutschen Verwaltungsperfektionismus, dem die übrigen Gebiete unterzogen wurden, zu erfüllen. Die Polen sollten weitgehend in Ruhe gelassen werden, so dass sich die Behörden lediglich auf Kontrolle, Sicherung und straffe Befehlsführung konzentrieren sollten. Hans Frank nahm seinen Sitz zunächst im zentralpolnischen Lodz. Dort verbrachte er jedoch nur wenige Tage, vom 26. Oktober bis zum 1. November 1939. 87 88

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ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 15. JERZY MYSZOR, Stosunki Kościół – państwo okupacyjne w diecezji katowickiej 1939-1945 [Die Beziehungen Kirche – Besatzungsstaat in der Diözese Kattowitz 1939-1945]. Katowice 1992, S. 63. MYSZOR, Die Beziehungen (wie Anm. 71), S. 186. ROBERT ŻUREK, Die Haltung der katholischen Kirche in Deutschland gegenüber den polnischen Katholiken im Zweiten Weltkrieg. In: INTER FINITIMOS. JAHRBUCH ZUR DEUTSCHPOLNISCHEN BEZIEHUNGSGESCHICHTE 3 (2005) S. 11-51, hier S. 35. FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 62. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 51-63. 1900-1946. DIETER SCHENK, Hans Frank. Hitlers Kronjurist und Generalgouverneur. Frankfurt (Main) 2006. Zu den weiteren Ausführungen ebd. S. 143-205.

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Auf den Druck der dortigen deutschen Bevölkerung und Parteiführung hin und aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus entschied Hitler, die Stadt in das Deutsche Reich einzugliedern. Lodz war eine bedeutende Industriestadt, deren Reichtum insbesondere auf jüdische Textilindustrielle zurückging. So wurde die Stadt mit dem umliegenden Industriegebiet am 9. November 1939 aus dem Generalgouvernement herausgelöst und kam zum neuen Reichsgau Posen (später: Wartheland). Am 11. April 1940 wurde die Stadt zu Ehren des Generals Karl Litzmann (1850-1936), dem erfolgreichen Divisionskommandeur der Kesselschlacht bei Lodz im Winter 1914, in Litzmannstadt umbenannt. Dort wurde ein jüdisches Ghetto eingerichtet (Ghetto Litzmannstadt), in dem rund 200.000 Juden eingepfercht wurden. Die meisten wurden im nahe gelegenen Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Im November 1939 zog Frank in die Krakauer Königsburg Wawel um. Gerne hätte der Generalgouverneur seinen Sitz in Warschau bezogen, doch war Hitler strikt dagegen, weil er zu keiner Aufwertung der ehemaligen polnischen Hauptstadt beitragen wollte. Franks Parteifreunde nannten das Generalgouvernement spöttisch Frank-Reich. Joseph Goebbels bezeichnete ihn als den polnischen König Stanislaus.94 Da sich Frank im Gegensatz zu Greiser uneingeschränkter Rückendeckung Hitlers erfreute, hatte er freie Hand. So betrachtete sich Frank selbst als Staatsoberhaupt eines Nebenlandes des Deutschen Reiches, der sich nur den persönlichen Direktiven des Führers unterordnete. Im Unterschied zu den eingegliederten Ostgebieten wurde im Generalgouvernement keine ausgeprägte Kirchenpolitik verfolgt. Dennoch blieb die Kirche nicht unbehelligt. Heinrich Himmler schrieb am 27. Oktober 1939 an den Leiter der Zivilverwaltung in Radom, dass ein größerer Teil der Intelligenz, wie Pfarrer und Lehrer, aus Sicherheitsgründen erschossen werden müssten. Dieser Befehl wurde auch ausgeführt. In Lublin wurden zwischen Ende Dezember 1939 und Mitte Februar 1940 über 200 Personen exekutiert, darunter auch Geistliche.95 Die katholische Kirche wurde im Generalgouvernement von einer starken und markanten Persönlichkeit, dem Erzbischof von Krakau, Adam Stefan Fürst Sapieha96, geleitet. Eigentlich wollte Sapieha vor Kriegsausbruch sein Rücktrittsgesuch einreichen. So schrieb er am 2. Februar 1939 an Papst Pius XI., dass er 72 Jahre alt sei und seine Kräfte es nicht mehr erlauben würden, die Erzdiözese zu leiten. Da der Papst acht Tage später starb, schickte Sapieha seinen Brief nicht mehr ab, sondern überreichte ihn dem neuen Papst Pius XII. während eines Rombesuchs im April 1939. Nach Absprache zwischen Kardinalstaatssekretär Maglione und Nuntius Cortesi überredete dieser den Erzbischof, sein Rücktrittsgesuch zurückzuziehen. Sapieha willigte ein und blieb auf seinem Posten.97 Nachdem Primas Hlond nach Kriegsausbruch geflohen war, wurde Sapieha zur führenden Autorität des polnischen Katholizismus. Anders als die Bischöfe in den eingegliederten Ostgebieten wurde er in Ruhe gelassen. Dennoch verbot Frank, dass sich Deutsche und Polen im Gottesdienst gemeinsam versammelten. Frank betrachtete die katholische Kirche und besonders den polnischen Klerus als Ein-

94 95 96 97

EBD. S. 165. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 53. SCHENK (wie Anm. 93), S. 181-184. 1867-1951. 1911 Bischof von Krakau. 1925 wurde das Bistum in den Rang einer Erzdiözese erhoben, Sapieha erster Erzbischof von Krakau, 1946 Kardinal. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 53.

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geborenenclique, die sich jedoch im Kampf gegen das polnische Volk nützlich erweisen könnte. So äußerte er im August 1942 vor politischen Leitern in Lemberg: „Das hat es auch nie gegeben, dass ein führendes Kolonialvolk die Religion der Eingeborenen annimmt; es ist noch keinem Engländer eingefallen, in einem indischen Tempel zu verkehren oder zu einem Medizinmann zu laufen.“98

In zwei Diözesen des Generalgouvernements wurden Bischöfe bzw. der Kapitelsvikar99 verhaftet: der Bischof von Lublin, Marian Leon Fulman100, und sein Weihbischof Władysław Goral.101 Beide wurden mit elf weiteren Priestern (darunter die meisten Domkapitulare) wegen unerlaubten Waffenbesitzes zum Tode verurteilt, dann zu mehreren Jahren Haft begnadigt. Die Bischöfe wurden ins KZ Oranienburg-Sachsenhausen deportiert. Es ist womöglich der Fürsprache des Papstes Pius XII. zu verdanken, dass Fulman das Konzentrationslager bereits am 19. Februar 1940 verlassen konnte.102 Bis 1945 wurde er jedoch in Nowy Sącz interniert. Weihbischof Goral starb im Februar 1945 in Sachsenhausen. Für einige Zeit war der Kapitelsvikar von Siedlce, Czesław Sokołowski, inhaftiert. In allen anderen Diözesen dagegen blieben die Bischöfe unbehelligt. Wenn man die Situation der eingegliederten Ostgebiete und insbesondere des Warthegaus mit jener im Generalgouvernement vergleicht, so fällt ein deutlicher Unterschied auf. Die aus dem Warthegau bei der römischen Kurie eingehenden Berichte bezeugten, in welchem Überlebenskampf sich die Kirche und die Gläubigen befanden. Im Generalgouvernement sah die Lage besser aus. Dennoch fanden auch dort zahlreiche Verhaftungen und Exekutionen statt. Bereits 1939 initiierten die Besatzer im Generalgouvernement die Verhaftung von Priestern. So wurden beispielsweise in Warschau rund 300 Geistliche ohne Angaben inhaftiert und bald bis auf zehn wieder freigelassen. In den Folgejahren wurden regelmäßig weitere Verhaftungen durchgeführt. Den größten Verlust an Priestern erlitt Warschau während des Warschauer Aufstands 1944, weil die Kirchen und Ordenshäuser zahlreiche Aufständische beherbergten.103 Unter allen Diözesen des Generalgouvernements hatte Warschau bei Kriegsende unter den Klerikern die meisten Opfer zu verzeichnen. 96 Priester kamen ums Leben. An zweiter Stelle folgte die Erzdiözese Lemberg mit 76 getöteten Geistlichen.104 Von Massenverhaftungen kann im Bistum Lublin gesprochen werden. Dort wurden ca. 150 Diözesanpriester – das entspricht etwa der Hälfte des Klerus – in Gefängnissen oder Konzentrationslagern eingesperrt. 26 Priester fanden in Konzentrationslagern, davon 17 in Dachau und sechs in Auschwitz, den Tod.105 Insgesamt verlor das Bistum 53 Kleriker.106 In anderen Diözesen sah es verhältnismäßig ruhiger aus, wie ein Bericht des Bischofs von Kielce, Czesław Kaczma98 99 100 101 102

103 104 105 106

Zitat nach CLAUSS (wie Anm. 2), S. 56. Kapitelsvikar (bzw. Kapitularvikar): Verwalter einer Diözese in der Zeit der Sedisvakanz. 1866-1945. 1918-1945 Bischof von Lublin. 1898-1944. 1938-1944 Weihbischof von Lublin. So in einer Kurzbiographie des Bischofs auf der offiziellen Internetseite der Katholischen Universität Lublin (KUL): http://www.kul.pl/bp-marian-leon-fulman-1866-1945,art_9132.html. [Letzter Zugriff: 10.6.2011]. Zur Situation im Bistum Lublin FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 8183. FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 76-80. EBD. S. 83. EBD. S. 81 f. EBD. S. 83.

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rek107, vom 15. Februar 1942 verdeutlicht. Darin vermerkte der Oberhirte, dass er 17 Diözesanpriester verloren habe, was im Vergleich zu anderen Diözesen nichts sei.108 Trotz der Verhaftung und Tötung von Geistlichen konnte die Seelsorge und Sakramentenspendung im Generalgouvernement jedoch ohne besondere Hindernisse gewährleistet werden. Die Machthaber achteten lediglich darauf, dass die Gottesdienste nicht zu patriotischen Demonstrationen genutzt wurden. Darin ist der große Unterschied zwischen der Situation in den eingegliederten Ostgebieten und im Generalgouvernement zu erkennen.109 Eine große Einschränkung bestand in der Schließung der Priesterseminare in den meisten Diözesen des Generalgouvernements, weil Frank und Goebbels sie als eine ,Brutstätte des Hasses‘ gegen die Deutschen ansahen. Denjenigen Klerikern, die vor 1939 ins Priesterseminar eingezogen waren, wurde erlaubt, das Studium zu beenden, wobei das Studienprogramm stark beschnitten wurde. So wurde beispielsweise das Philosophie- und Kirchengeschichtsstudium verboten. Die Alumnen durften lediglich Vorlesungen in Pastoraltheologie und Liturgiewissenschaft hören. Die Besatzungsmacht war bestrebt, die bestehenden Priesterseminare bis auf zwei in Krakau und Sandomir zu schließen. In einem Schreiben an Kardinalstaatssekretär Maglione schlug Nuntius Orsenigo im Oktober 1940 vor, eine Bischofskonferenz im Generalgouvernement einzuberufen, damit die Bischöfe über das weitere Vorgehen beraten konnten. Dazu kam es bereits einen Monat später. Die Bischöfe stellten fest, dass die Neuaufnahme von jungen Theologiestudenten nach dieser Verordnung massiv erschwert werde, so dass Erzbischof Sapieha im Namen der Bischöfe dagegen Protest einlegte.110 Als das Krakauer Erzbischöfliche Priesterseminar 1941 geschlossen wurde, sorgte Sapieha dafür, dass es im Untergrund weiter geführt wurde. Die Seminaristen trafen sich in seinem Bischofspalais, wo sie weiter ausgebildet wurden. Unter ihnen befand sich Karol Wojtyła, der spätere Erzbischof von Krakau und Papst Johannes Paul II. Eine der spektakulärsten Maßnahmen im Generalgouvernement war die am 6. November 1939 durchgeführte Sonderaktion Krakau. 183 Professoren, Assistenten und einige Studenten der Krakauer Hochschulen (Jagiellonen-Universität, Wirtschaftsuniversität sowie Berg- und Hüttenakademie Krakau) wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau gebracht. Verantwortlich dafür war SS-Obersturmbannführer Bruno Müller.111 Unter dem Vorwand eines Vortrags, den er über den deutschen Standpunkt in Wissenschaftsund Hochschulfragen halten sollte, ließ er die Krakauer Gelehrten sich versammeln und dann festnehmen. Es ist dem diplomatischen Eingreifen der römischen Kurie, Italiens und auch von Erzbischof Sapieha zu verdanken, dass 102 der Wissenschaftler am 8. Februar 1940 aus der Haft entlassen werden konnten. 112 Der größte Teil kam nach mehrfachen Interventionen bis Ende 1941 frei. 15 Personen starben im Konzentrationslager.

107 108 109 110 111 112

1895-1963. 1938-1963 Bischof von Kielce. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 54. Bei Kriegsende wurden insgesamt 18 getötete Kleriker gezählt, FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 83. EBD. S. 83 f. EBD. S. 87 f. 1905-1960. Führer des Einsatzkommandos 2 der Einsatzgruppe I der Sicherheitspolizei (EK 2/I). CLAUSS (wie Anm. 2), S. 55. SCHENK (wie Anm. 93), S. 181-184.

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Im November 1941 verfasste Erzbischof Sapieha einen Bericht an den Heiligen Stuhl, in dem er die Entwicklung seit der Besetzung durch die Deutschen ausführlich resümierte. Sapieha kam zur Ansicht, dass die religiös bedingten Verfolgungen zugenommen hätten, was mit der Nationalitätenpolitik der Nationalsozialisten zusammenhing. Noch deutlicher wurde Sapieha in einem weiteren Bericht vom Frühjahr 1942. Das Schreiben gelangte auf abenteuerliche Weise nach Rom und beschrieb die Situation der Kirche folgendermaßen: „Unsere Lage ist tragisch bis zum Äußersten. Wir sind fast aller Menschenrechte beraubt. Wir sind der Grausamkeit von Personen ausgesetzt, die in den meisten Fällen ohne eine Spur von menschlichen Gefühlen sind. Wir leben in der ständigen, schrecklichen Angst, alles durch Flucht, Deportation oder Einweisung in die so genannten Konzentrationslager zu verlieren, aus denen nur wenige lebend zurückkehren. Wir sind durch Gesetz fast aller Dinge beraubt, die wir zum täglichen Leben brauchen, denn die uns zustehenden Rationen reichen nicht aus, um uns mit dem Notwendigsten zu versorgen.“113

Der Gastgeber Sapieha bewirtete bei einem Empfang seine deutschen Gäste mit einer Scheibe Brot, etwas Marmelade und Ersatzkaffee. Zur Erklärung sagte er den verblüfften Deutschen, dass er ihnen leider nur das vorsetzen könne, was jedem Polen seit mehreren Jahren als Ration zustehe.114 In Abwesenheit des Primas war Erzbischof Sapieha das faktische Oberhaupt der katholischen Kirche Polens. Frank wollte ihn mehrmals – wenn auch vergeblich – für sich gewinnen. Der Generalgouverneur sah ein, dass das polnische Volk keinen Widerstand gegen die Besatzungsmacht leisten würde, wenn es ihm gelänge, die Kirchenführung von seinem antibolschewistischen Kurs zu überzeugen. Bei einem Treffen am 5. April 1944 legte der Erzbischof jedoch eine lange Anklageschrift gegen das Vorgehen der Deutschen vor. Dazu zählten die Verfolgung der Bevölkerung, Erschießungen von Polen, Verhaftungen und Ermordung von Geistlichen. Zwanzig Geistliche waren in Konzentrationslagern umgekommen und weit mehr als zwanzig Priester wurden dort gefangen gehalten. Daraufhin stellte Frank lakonisch fest, dass die geringe Zahl von getöteten und verhafteten Personen ein Beweis dafür sei, dass sich das religiöse Leben der Polen trotz allem entfalten könne. Der Generalgouverneur verurteilte die katholische Kirche als eine Bastion des Untergrundwiderstands und hielt Sapieha vor, er sähe die Deutschen als seine Todfeinde an, obwohl der Papst im Bolschewismus den wahren Feind ausgemacht habe.115 Auf der anderen Seite muss klar gestellt werden, dass die Haltung Sapiehas keinesfalls mit anderen polnischen Bischöfen verglichen werden kann. Anders als in den eingegliederten Ostgebieten wurde die katholische Kirche im Generalgouvernement in relativer Ruhe belassen, so dass Sapieha gewisse Freiheiten genoss. Da Frank auch keinen aggressiven Kirchenkampf führte und stattdessen die Zustimmung Sapiehas suchte, konnte dieser seinerseits dem Generalgouverneur mutig entgegentreten. Im Generalgouvernement wurde kein klares antikirchliches Konzept entwickelt, weil die Provinz kein Mustergau sein musste und daher nicht zu einem Exerzierplatz umgeformt wurde. Frank hielt zwar das Christentum mit der natio113 114 115

Zitat nach CLAUSS (wie Anm. 2), S. 58 f. EBD. S. 59. SCHENK (wie Anm. 93), S. 347 f.

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nalsozialistischen Ideologie für unvereinbar. Er erachtete die katholische Kirche als den größten Feind des Deutschtums.116 Dennoch war die Kirche für ihn ein Instrument zur Beeinflussung der polnischen Bevölkerung. In diesem Sinne trug Frank in sein Diensttagebuch am 9. Dezember 1942 die folgende Sentenz ein: „Und wenn, wie behauptet wird, der Katholizismus tatsächlich eine Schande für ein Volk ist, um so mehr Katholizismus muss ich dem Polentum wünschen. Man kann nicht gleichzeitig sagen, der Katholizismus sei die größte Sünde auf der Welt, und die Polen davor behüten, dass sie ihn nicht bekommen. Deshalb habe ich auch nichts dagegen eingewendet, dass Tschenstochau wieder in Betrieb genommen wurde.“117

In ihrer Kirchenpolitik versuchten die Nationalsozialisten, nicht nur physisch, sondern auch propagandistisch gegen die katholische Kirche vorzugehen. Dazu gehörte eine relativ erfolgreiche Propaganda gegen Papst Pius XII. In einem Brief an den Heiligen Stuhl vom 2. August 1941 stellte Primas Hlond besorgt fest, dass die Religiosität in Polen zwar gestiegen, jedoch eine immer größer werdende Zurückhaltung dem Papst und dem Heiligen Stuhl gegenüber zu verzeichnen sei. 118 Die Deutschen hätten weiträumig die Propaganda lanciert, dass der Papst mit Hitler und Mussolini zusammen arbeite. Doch versuchten die polnischen Bischöfe, dieser Entwicklung entgegenzusteuern. So rief der Apostolische Administrator der Erzdiözese Warschau, Erzbischof Stanisław Gall119, anlässlich der 25-jährigen Bischofsweihe von Pius XII. im März 1942 in einem Pastoralschreiben die Gläubigen dazu auf, ihre Liebe zum Heiligen Vater zu bekunden, indem sie in ihren Gotteshäusern eine Festmesse feierten und dazu zahlreich erschienen. So versuchte Gall der Meinung entgegenzuwirken, dass sich der Papst nicht um die Polen kümmere. Indirekt deutete er an, dass es Pius XII. unmöglich sei, sich zur Situation der Kirche in Polen frei zu äußern. Auch im Frühjahr 1943 verschickten einige polnische Bischöfe Glückwunschschreiben nach Rom anlässlich des vierten Jahrestages der Papstkrönung. Zwei dieser Schreiben stammten aus dem Generalgouvernement, nämlich aus der Erzdiözese Warschau und dem Bistum Siedlce.120 Die Propagandabemühungen der Nationalsozialisten fruchteten dennoch, denn nach Kriegsende zeigten sich die polnischen Katholiken tief enttäuscht, dass der Papst nichts gegen die Unterdrückung der Kirche und Gläubigen in Polen unternommen habe.121 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass von den Diözesen der eingegliederten Ostgebiete, also Gnesen-Posen, Włocławek, Lodz, Kulm-Pelplin, Płock und Kattowitz im Sommer 1941 nur der Weihbischof von Posen, Walenty Dymek, auf seinem Posten war, auch wenn er sich unter Hausarrest befand. Dagegen blieben im Generalgouvernement von den acht Bistümern122 zwar vier unbesetzt (San116 117 118 119

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EBD. S. 183 f. Zitat EBD. S. 62. EBD. S. 60 f. sowie S. 178 f. 1865-1942. 1918-1938 Weihbischof von Warschau. 1919-1931 polnischer Militärbischof. 1933 zum Titularerzbischof erhoben. 1939-1942 General- und Kapitelsvikar. Ab 1940 Apostolischer Administrator der Erzdiözese. Nach dem Tod des Erzbischofs von Warschau, Aleksander Kardinal Kakowski am 30.12.1938 blieb die Erzdiözese bis 1946 ohne einen ordentlichen Nachfolger. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 61. FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 58. Hinzu kamen noch kleine Teile der Diözesen Łomża und Przemyśl, deren Diözesanleitungen intakt blieben.

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domir, Siedlce, Tarnów und Tschenstochau), doch abgesehen vom Bistum Lublin wurden die Bischöfe nicht behelligt. Ähnlich sah es beim Diözesanklerus aus, obwohl die Situation von Gau zu Gau unterschiedlich war. In der Diözese Kulm wurde die Hälfte der Pfarrer verschleppt, verhaftet oder ermordet. Im Erzbistum Posen kam ca. ein Drittel des Klerus um. 1944 blieben dort nur lediglich 63 Priester tätig, weil zahlreiche Geistliche aus Angst vor Repressalien geflüchtet waren. Nur in Schlesien war der Diözesanklerus nahezu vollständig auf seinem Posten verblieben.123 Insgesamt gesehen, konnte fast jeder zweite Bischof in Polen (sowohl Diözesan- als auch Weihbischof) sein Amt nicht ausüben. Von den zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 10.017 polnischen Priestern wurden 3.647 in Konzentrationslager deportiert (36 %). Von diesen kamen 1.996 ums Leben. Insgesamt verlor die katholische Kirche Polens 2.647 Priester, das sind über 26 % des Klerus.124 Die Nationalsozialisten verbanden ihren Kirchenkampf in Polen mit ihrer Volkstumspolitik gegenüber den Polen, so dass der Kampf gegen die katholische Kirche vernichtende Züge annahm. Hitler empfand gegenüber dem Christentum im Allgemeinen und gegenüber den Geistlichen im Besonderen einen tiefen Hass, den er mit den Worten umschrieb: „Man ist entweder Christ oder Deutscher. Beides kann man nicht sein. Die Pfaffen sollen sich selbst ihr Grab schaufeln.“ 125 Kazimierz Śmigiel bemerkt dazu, dass die historischen Erfahrungen, die Preußen im Kampf gegen das Polentum gesammelt hat, Hitler stark beeinflusst hätten: „Auf den expansiven deutschen Nationalismus reagierte ein der Selbstverteidigung dienender polnischer Nationalismus, inspiriert und gelenkt von den führenden Schichten der Grundbesitzer, der Intelligenz und der Geistlichkeit. Die nationale Bewegung ging in vielen Fällen eine Verbindung mit dem kirchlichen Leben ein, die Geistlichkeit aber war ein Haupthindernis auf dem Weg zur Germanisierung.“126

Diese Keimzelle des polnischen Nationalgeistes galt es zu vernichten. Die Grundzüge dieser Vernichtungspolitik präsentierte Hitler wenige Tage vor dem Überfall auf Polen, beim Empfang der militärischen Leitung auf dem Obersalzberg am 22. August 1939. Darin äußerte er den Wunsch, dass die polnische Geistlichkeit von SS-Einheiten „ausgerottet werden sollte“127. Der Leiter des im September 1939 gegründeten Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, griff den Plan willig auf, um Adelige, Geistliche und Juden zu töten. Anfang 1939 sprach er davon, dass täglich 200 Exekutionen durchgeführt würden. Bevor die Zivilverwaltung am 1. November 1939 die Macht in den besetzten polnischen Gebieten offiziell aufnahm, hatte Heydrich die Führer der Operationsgruppen angewiesen, Namenslisten von Geistlichen zu erstellen, die verhaftet oder getötet werden sollten. Ein Teil des Klerus sollte in Konzentrationslager deportiert, ein weiterer Teil ins Generalgouvernement umgesiedelt werden und nur ein geringer Prozentsatz sollte in der Region verbleiben dürfen, wovon zahlreiche Priester aus dieser Gruppe allerdings unter Hausarrest wurden. Für die Nationalsozialisten war

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SAMERSKI (wie Anm. 59), S. 156. CLAUSS (wie Anm. 2), S. 157. Der Autor beruft sich auf Statistiken, die das Amt für Kriegsreparationen beim Präsidium des Ministerrats der Volksrepublik Polen herausgab. HERMANN RAUSCHNIG, Gespräche mit Hitler. Wien-Zürich-New York 1940, S. 51. ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S. 166. FABIAN VON SCHLABRENDORF, Offiziere gegen Hitler. Frankfurt a. M. und Hamburg 1959, S. 47 f.

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der Klerus ein gefährlicher Feind auf dem Wege zur Eroberung der polnischen Gebiete, so dass er mit allen Mitteln bekämpft wurde.128 Von einem aktiven Widerstand seitens des Klerus konnte angesichts dieser Verfolgungen im Großen und Ganzen keine Rede sein.129 Dass Kardinal Hlond gleich zu Beginn des Krieges geflohen war, haben nicht wenige kritisch beurteilt. Er verließ Polen jedoch erst, nachdem er eingehende Unterredungen unter anderem mit Nuntius Filippo Cortesi sowie mit den Botschaftern von Großbritannien und Frankreich geführt hatte. Hlond wurde von der polnischen Regierung unterstützt. Der Kardinal sollte die Weltöffentlichkeit davon überzeugen, dass Polen keine Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trug.130

Anmerkungen zu den Auswirkungen auf die Kirchenbeziehungen nach 1945 Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten in den eingegliederten Ostgebieten hat die deutsch-polnischen Kirchenbeziehungen nachhaltig geprägt. Noch 1989 sprach Primas Józef Kardinal Glemp von „den zurückliegenden Geschehnissen, die mich und meine aus dem Wartheland stammende Generation geprägt haben“.131 Die kommunistische Propaganda hat nach 1945 die deutschen Bischöfe als Handlanger des NS-Apparates dargestellt, die die Nationalsozialisten in ihrer Volkstumspolitik unterstützt hätten. Das wurde insbesondere Kardinal Bertram sowie den Bischöfen Splett und Kaller vorgeworfen. Ebenso war der Umstand nicht unerheblich, dass polnische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich auch im kirchlichen Bereich eingesetzt gewesen waren. Die Führung der in der Regierung der nationalen Einheit tonangebenden kommunistischen Polnischen Arbeiterpartei (PPR) hat sich bei ihrem antikirchlichen Vorgehen nach 1945 gerne von dem Argument leiten lassen, dass die katholischen Bischöfe Polens zusammen mit dem Papst in Rom die nationalsozialistische Germanisierungspolitik unterstützt hätten.132 Der erste öffentlichkeitswirksame Schritt im Kampf gegen die katholische Kirche in Polen war der Schauprozess gegen Bischof Splett Anfang 1946.133 Ihm wurde Kollaboration mit den Nationalsozialisten vorgeworfen. In einer dem Danziger Gericht schriftlich übermittelten Stellungnahme vom 16. Januar 1946 nahm der Bischof von Kattowitz, Stanisław Adamski, Partei für den Danziger Bischof. Dass der Kattowitzer Bi-

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Zur Genese des Kampfes der Nationalsozialisten gegen die Geistlichkeit sowie den genauen Verlauf ŚMIGIEL, Kirche (wie Anm. 12), S.166-186. Über die in der Widerstandsbewegung aktiven Geistlichen und zu den Formen des Widerstands EBD. S. 186-197. ANTONI BARANIAK, Misja opatrznościowa kardynała prymasa Hlonda w okresie wojny światowej 1939-1945 [Die von der Vorsehung bestimmte Mission des Kardinals Primas Hlond in der Zeit des Weltkrieges 1939-1945]. In: NASZA PRZESZŁOŚĆ 42 (1974) S. 170-179. Die Predigt hielt der Kardinal am 15. August 1989. Zitat nach MIECZYSŁAW TOMALA, Patrząc na Niemcy. Od wrogości do porozumienia 1945-1991 [Mit Blick auf Deutschland. Von der Feindschaft bis zur Verständigung 1945-1991]. Warszawa 1997, S. 36. Zur Lage der katholischen Kirche in Polen zwischen 1945 und 1989 GREGOR PLOCH, Der Kampf der katholischen Kirche in Polen gegen die kommunistische Willkür. In: HALBJAHRESSCHRIFT FÜR SÜDOSTEUROPÄISCHE GESCHICHTE, LITERATUR UND POLITIK 18 (2006), 2, S. 521. (Fortsetzung des Artikels in: 19 (2007), 1, S. 18-26). Ein Bischof vor Gericht. Der Prozeß gegen den Danziger Bischof Carl Maria Splett 1946. Hrsg. von ULRICH BRÄUEL und STEFAN SAMERSKI. Osnabrück 2005.

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schof den Angeklagten „vehement verteidigte“134, hat jedoch einen Hintergrund. Jerzy Myszor stellt hier vorsichtiger fest, dass Adamski mit großer Reserve Splett gegenüber gestanden habe. Er sei überzeugt gewesen, dass dieser Prozess einen Präzedenzfall dargestellt habe, mit dem die kommunistischen Machthaber feststellen wollten, wie weit sie gegen die Kirche vorgehen konnten. Aus diesem Grunde habe sich der Kattowitzer Bischof für Splett eingesetzt, zumal die Anklage eine schwache Grundlage hatte. Dennoch schrieb Adamski an den Krakauer Erzbischof Sapieha, es sei klar, Bischof Splett werde als Deutscher nicht in Polen bleiben dürfen, auch wenn er Polnisch spreche.135 Adamski hatte schon zu diesem Zeitpunkt richtig vorausgesehen, dass sich der Schauprozess gegen Splett eigentlich gegen die katholische Kirche in Polen richtete. Das in der öffentlichen Meinung dargestellte Bild Spletts als eines Handlangers der Nationalsozialisten wurde von der PPR jedoch verbreitet, um der antideutschen Stimmung im polnischen Volk Nahrung zu geben und die immer noch andauernde Vertreibung der deutschen Bevölkerung – auch der deutschen, Polnisch sprechenden Geistlichkeit –, die man als „Aussiedlung“ bzw. „Umsiedlung“ bezeichnete, als moralisch gerechtfertigt darzustellen. Ein zweites negatives Element, das sich auf die antideutsche Stimmung in Polen ausgewirkt hat, ist die Ernennung eines Apostolischen Administrators für die deutschen Katholiken in Posen in der Person von Hilarius Breitinger. Auch dieser Umstand wurde propagandistisch ausgenutzt, um die angebliche deutschfreundliche und antipolnische Haltung des Heiligen Stuhls und der deutschen Geistlichkeit zu belegen. Solche Propagandabilder waren fruchtbar, denn innerhalb der polnischen Bevölkerung wurde die Meinung verbreitet, die deutschen Geistlichen hätten sich an der Germanisierungspolitik der Nationalsozialisten aktiv beteiligt. Zudem gab es weitere „Indizien“, nach denen die polnische öffentliche Meinung eine angebliche deutschfreundliche Haltung der katholischen Kirche gesehen hatte: die mehrfachen schriftlichen Äußerungen des Papstes Pius XII. an die deutschen Bischöfe über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen und generell die deutschfreundliche Haltung des Papstes wurden von den polnischen Behörden als Druckmittel gegen die polnischen Bischöfe ausgenutzt, um eine öffentliche Distanzierung des Episkopats vom Heiligen Stuhl, und somit eine Spaltung der katholischen Kirche Polens herbeizuführen. Auch der Kattowitzer Bischof Stanisław Adamski wurde gleich nach Bischof Splett zum Gegenstand heftiger kommunistischer Attacken. Seine Haltung zur sogenannten Maskierungsaktion wurde zum Vorwand genommen, ihn der Kollaboration mit den deutschen Besatzern zu bezichtigen. Dieser Punkt wird bis heute von Historikern zwiespältig beurteilt. 1946 versuchten die kommunistischen Behörden, den Bischof anzuklagen, doch konnte sich Adamski davon befreien. Zur Rechtfertigung seiner Haltung veröffentlichte Adamski nach Kriegsende eine Broschüre, die er auch der polnischen Regierung zusandte. An den Vorsitzenden des Berufungsgerichts in Kattowitz, Dr. Eugeniusz Kral, schrieb er am 14. Dezember 1945:

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ROBERT ŻUREK, Zwischen Nationalismus und Versöhnung. Die Kirchen und die deutschpolnischen Beziehungen 1945-1956 (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 35). Köln 2005, S. 249 f. MYSZOR, Historia, (wie Anm. 52), S.311 und S. 406.

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Gregor Ploch „bei manchen Vertretern der polnischen Bevölkerung [zeichne sich] die Tendenz ab, jede Art der Maskierung zu verurteilen, die Rehabilitierung zu erschweren und allen scheinbar Schuldigen das Recht auf das Polentum abzuerkennen. Personen, die während der Okkupation nicht in Schlesien lebten und deshalb nicht die Verhältnisse kennen, unter denen die Menschen hier leben mussten, können dieser meines Erachtens falschen und ungerechten Meinung leicht erliegen. Dieselben Personen verschweigen gleichzeitig gern die Tatsache, dass die polnische Regierung ihr Einverständnis zur Maskierung gegeben hat und stempeln gern eine Handlung zum Verbrechen ab, zu der das Einverständnis der zuständigen polnischen Regierung vorlag.“136

Auch der Bischof von Kielce, Czesław Kaczmarek, wurde der antipolnischen Agitation angeklagt, konnte sich jedoch von den Vorwürfen befreien. So entstand für die polnischen Bischöfe in der unmittelbaren Nachkriegszeit die unangenehme Situation, dass die kommunistischen Behörden antideutsche Parolen ausnützten, um gegen den polnischen Episkopat vorzugehen. Das zeigte sich beispielsweise in der Haltung der polnischen Bischöfe zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Ihnen wird häufig nicht ganz grundlos eine einseitige Haltung vorgeworfen. Bischof Adamski mag sich zwar für einige seiner deutschen Priester, unter anderem Franz Wosnitza137, schriftlich ausgesprochen haben, für seine deutschen Diözesanen aber scheint er sich nach Kriegsende kaum interessiert zu haben.138 Robert Żurek hat dafür eine interessante Erklärung gefunden, die er dem schriftlichen Bericht von Primas August Kardinal Hlond an das vatikanische Staatssekretariat vom 24. Oktober 1946 entnommen hat. Darin schrieb Hlond, dass im Falle eines deutschfreundlichen Kurses die Kommunisten die deutschfeindliche Einstellung der Bevölkerung hätten jederzeit ausnutzen können.139 Dieser Satz ist nach Żurek ein Zeichen dafür, dass sich der Episkopat seiner sehr reservierten Haltung bewusst war, sie jedoch aus Furcht vor einer Schwächung der Kirche im Kampf gegen das Regime nicht änderte. Eine antideutsche Stimmung herrschte insbesondere innerhalb der katholischen Intellektuellen vor.140 Für den polnischen Episkopat war die Frage nach der Besetzung der Bischofsstühle nach 1945 in den sogenannten polnischen West- und Nordgebieten entscheidend für das Überleben der katholischen Kirche in Polen. Nach der Ansiedlung polnischer Bevölkerung aus Zentral- und Ostpolen lebte in diesen Gebieten rund ein Viertel der polnischen Gesellschaft. Inmitten dieser antideutschen Stimmung war der polnische Episkopat nicht in der Lage und nicht willens, sich zur deutschen Frage engagiert zu äußern. Die Bischöfe sahen die Vertreibung als eine gegebene Tatsache an, so dass sie sich nun für die Einsetzung polnischer Bischöfe in den neu erlangten Gebieten einsetzten. Die Diskussion um die Motivation des polnischen Primas Hlond, mit der er etwa den Breslauer Kapitelsvikar Ferdinand Piontek141 oder den Bischof

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Zitat nach MYSZOR, Bischof Adamski (wie Anm. 76), S. 198. Zu seiner Biographie MAIK SCHMERBAUCH, Prälat Franz Wosnitza (1902-1979). Ehemaliger Generalvikar von Kattowitz (ARBEITEN ZUR SCHLESISCHEN KIRCHENGESCHICHTE, 21). Münster 2010. ŻUREK, Nationalismus (wie Anm. 134), S. 285. EBD. S. 285 f. Vgl. auch PETER RAINA, Kościół w PRL. Elementy ewolucji doktryny [Die Kirche in der Volksrepublik Polen. Grundzüge der Lehrentwicklung]. Warszawa 1985, S. 51. ŻUREK, Nationalismus (wie Anm. 134), S. 140 sowie S.147-150. Zu seiner Biographie KONRAD HARTELT, Ferdinand Piontek (1878-1963). Leben und Wirken eines schlesischen Priesters und Bischofs (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 39). Köln-Weimar-Wien 2008.

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von Ermland, Maximilian Kaller, zum Amtsverzicht veranlasst hat, ist bekannt. 142 So gesehen war auch das Schicksal des Bischofs Kaller unumgänglich, der angesichts dieser Lage nicht länger auf seinem Bischofsstuhl verbleiben konnte. Andererseits blieb der ungelöste Status quo der deutschen Ostdiözesen ein ständiger Zankapfel in den deutsch-polnischen Beziehungen, der auch den Neuaufbau der Seelsorge in diesen Diözesen und die Integration der alteingesessenen Bevölkerung und der Neusiedler aus den ostpolnischen Gebieten erschwerte. Bis 1972 blieben die ostdeutschen Diözesen rechtlich bestehen, so dass die polnischen Bistumsleitungen in diesen Gebieten lediglich über Administratorenrechte verfügten. Diese provisorische Lage führte lange Zeit zu Spannungen zwischen dem polnischen Staat und der katholischen Kirche, was keine gute Voraussetzung für eine Verbesserung der Haltung der Polen zu den Deutschen bot. Um die neue polnische Bevölkerung in das Kirchenleben zu integrieren, wurden bewusst polnische national-patriotische Elemente in die Seelsorge eingebaut: Bei kirchlichen Feiertagen wurden während des Gottesdienstes polnische patriotische Lieder gesungen; die Kirchen wurden mit Nationalfahnen ausgeschmückt. Hier wurde die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben mit der Zugehörigkeit zur polnischen Nation gleichgesetzt. Dass sich unter den Pfarrangehörigen auch Deutsche befinden könnten, passte nicht in dieses Denkschema. Dass die deutsch-polnischen Beziehungen jahrzehntelang auch im katholischen Bereich schwer getrübt blieben, liegt nicht zuletzt daran, dass die polnische Gesellschaft inmitten der kommunistischen Propaganda und Unfreiheit nicht die Möglichkeit bekam, sich mit ihrer Vergangenheit ernsthaft auseinanderzusetzen. Es konnte zu keinem deutsch-polnischen Dialog kommen, um einen versöhnlichen Neuanfang zu starten. Die zahlreichen Verständigungsinitiativen der westdeutschen Gesellschaft ab den 1960er Jahren wurden in Polen entweder gar nicht wahrgenommen oder politisch instrumentalisiert. Die Reaktion der polnischen Gläubigen auf eine so spektakuläre Initiative wie den Brief der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1965, der nicht zuletzt auch kirchenpolitisch motiviert war, hat noch die schwierige Situation der deutsch-polnischen Beziehungen gezeigt. Die Gläubigen und selbst der Diözesanklerus konnten gar nicht nachvollziehen, wofür die polnischen Bischöfe die Deutschen um Vergebung baten. Der öffentliche Druck der kommunistischen Regierung und die drohende Kirchenspaltung angesichts der Tatsache, dass die Machthaber das Unverständnis der Gläubigen und des Diözesanklerus für ihre Propaganda ausnutzen konnten, hat dazu geführt, dass Primas Stefan Wyszyński die Bitte um Vergebung in seinem Fastenhirtenbrief vom 10. Februar 1966, als rund drei Monate später, zurücknahm. Zu Recht weist Robert Żurek darauf hin, dass es in der Frage der deutschpolnischen Beziehungen die polnischen Bischöfe waren, die in den ersten Nachkriegsjahren moderater auftraten, während katholische Intellektuelle in diversen Publikationsorganen wie dem Tygodnik Powszechny eine starke antideutsche Einstellung artikulierten.143 Für die polnischen Katholiken hätten sich die deutschen Gläubigen während der nationalsozialistischen Herrschaft zu wenig couragiert gezeigt, was zur Durchsetzung der Verbrechen beigetragen habe.144 142 143 144

FRANZ SCHOLZ, Zwischen Staatsräson und Evangelium. Kardinal Hlond und die Tragödie der ostdeutschen Diözesen. Frankfurt/Main 1988. ŻUREK, Nationalismus (wie Anm. 134), S. 114-141, bes. S. 140 sowie S. 147-150. DERS., Die Haltung (wie Anm. 90), S. 13.

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Es ist gerade der Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965, der in Polen und Deutschland als ein richtungweisender und entscheidender Schritt zur Versöhnung der beiden Völker betrachtet wird.145 Die Initiative der polnischen Bischöfe wird jedoch häufig unkritisch als ein Meilenstein in den deutsch-polnischen Beziehungen gepriesen, ohne dass der kirchenpolitische Hintergrund in Polen beleuchtet wird.146 Für Primas Wyszyński stand die Neuregelung der Diözesangrenzen an allererster Stelle, weil davon die Zukunft der Kirche in Polen abhing. Aufgrund des geltenden Reichskonkordats wusste er, dass der Heilige Stuhl diese Grenzen ohne die Zustimmung der deutschen Regierung und der Deutschen Bischofskonferenz nicht ändern würde. Es waren jedoch weniger die Vertriebenenverbände oder Vertriebenenpriester, die der Primas am meisten fürchtete, sondern die deutschen Bischöfe. Der Hauptinitiator des Bischofsbriefes, Titularerzbischof Bolesław Kominek, Weihbischof in Breslau, überredete schließlich den skeptischen Primas147 zu der Unterzeichnung des Dokuments mit dem Argument, dass die deutschen Bischöfe damit überzeugt werden würden und sich beim Papst für die Stabilisierung des kirchlichen Lebens in den ehemaligen deutschen Ostgebieten einsetzen könnten.148 Eine solche Begründung stellt dem polnischen Episkopat natürlich nicht den durch die christliche Motivation begründeten Willen zu einer Annäherung an den Nachbarn in Abrede. Möglicherweise wäre der Briefwechsel nicht entstanden, wenn es seit 1960 nicht zu mehreren Ereignissen gekommen wäre. Das waren: die versöhnliche Predigt des Bischofs von Berlin, Julius Kardinal Döpfner, vom 20. Oktober 1960, die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn vom Oktober 1965, das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65), bei dem es zu mehreren Begegnungen zwischen den deutschen und den polnischen Bischöfen gekommen war, sowie die Aufbruchsatmosphäre vor der bevorstehenden Millenniumsfeier anlässlich der Christianisierung Polens (1966).149 Den letztgenannten 145

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Vgl. z. B. EDITH HELLER, Macht Kirche Politik. Der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen im Jahre 1965. Köln 1992. BASIL KERSKI, THOMAS KYCIA, ROBERT ŻUREK, „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 und seine Wirkung. Osnabrück 2006. PIOTR MADAJCZYK, Na drodze do pojednania. Wokół Orędzia biskupów polskich do biskupów niemieckich z 1965 r. [Auf dem Weg zur Versöhnung. Zum Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe von 1965]. Warszawa 1994. PETER RAINA, Kardynał Wyszyński. Orędzie biskupów a reakcja władz. [Kardinal Wyszyński. Der Brief der Bischöfe und die Reaktion der Behörden]. Warszawa 1995. Vgl. auch: Bonn-Warschau 1945-1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation. Hrsg. von HANS-ADOLF JACOBSEN und MIECZYSŁAW TOMALA. Köln 1992. HELLER (wie Anm. 145), hier S. 93-95. KERSKI, KYCIA, ŻUREK, Briefwechsel (wie Anm. 145). Von „größter Skepsis“ spricht HANSJAKOB STEHLE, Die Ostpolitik des Vatikans. Geheimdiplomatie der Päpste von 1917 bis heute. Bergisch-Gladbach 1983, S. 393. Auf die kirchenpolitischen Hintergründe des Bischofsbriefes sowie die Bemühungen des polnischen Episkopats, den Heiligen Stuhl von der Notwendigkeit der Diözesanneuregelung in den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu überzeugen, geht der Autor in seiner Abhandlung „Clemens Riedel (1914-2003) und die katholischen deutschen Vertriebenenorganisationen. Motor oder Hemmschuh des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses?“ eingehend ein. Siehe: GREGOR PLOCH, Clemens Riedel (1914-2003) und die katholischen deutschen Vertriebenenorganisationen. Motor oder Hemmschuh des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses? (BEITRÄGE ZU THEOLOGIE, KIRCHE UND GESELLSCHAFT IM 20. JAHRHUNDERT, 21), Wien 2011. KERSKI, KYCIA, ŻUREK, Briefwechsel (wie Anm. 145), S. 19. HANS-JÜRGEN KARP, Kardinal Hlond und das schwierige deutsch-polnische Verhältnis. Zu den Anfragen von Franz Scholz. In:

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Feierlichkeiten ging die große Novene, eine neunjährige Vorbereitungszeit voraus, die Primas Wyszyński zum Neuaufbruch im Glauben nutzen wollte, was von der kommunistischen Parteiführung zutreffend als ein offensiver Kampf gegen den kommunistischen Atheismus eingestuft wurde. Der polnische Primas wollte vor diesem Hintergrund 56 Episkopate weltweit anschreiben, um zahlreiche Bischöfe zu den Zentralkundgebungen einzuladen.150 Den Höhepunkt sollte die Reise von Papst Paul VI. nach Polen darstellen, was aber nach den scharfen Auseinandersetzungen zwischen Wyszyński und der polnischen Regierung wegen des Bischofsbriefes unmöglich wurde. Auch dieser Aspekt darf bei der Motivationssuche vor dem Kontext der Entstehung des Schreibens der polnischen Bischöfe nicht unberücksichtigt bleiben. Das starke Misstrauen gegenüber den deutschen Bischöfen blieb dennoch bestehen. Das bewies der Warschauer Weihbischof Bronisław Dąbrowski, der seit 1969 in der Funktion des Generalsekretärs bei der Polnischen Bischofskonferenz als rechte Hand des Primas in kirchenpolitischen Fragen wirkte. Nach der Ratifizierung der Ostverträge durch den Deutschen Bundestag und Bundesrat im Mai 1972 war er es, der genaue Pläne über die Neuzirkumskription der Diözesangrenzen in Polen anfertigte und als Hauptunterhändler des polnischen Episkopats Papst Paul VI. und Unterstaatssekretär Agostino Casaroli von einer raschen Entscheidung zu überzeugen versuchte. Nachdem der Papst beschlossen hatte, diese Neuregelung offiziell am 28. Juni 1972 zu verkünden, unterrichtete er den Apostolischen Nuntius in Deutschland, Corrado Bafile, davon. Nach einer Unterredung mit Julius Kardinal Döpfner brachte der Nuntius die Bitte der deutschen Bischöfe vor, diesen Termin um wenige Tage zu verschieben, damit die Deutsche Bischofskonferenz rechtzeitig ein Rundschreiben an die Gläubigen (vor allem an die Heimatvertriebenen) vorbereiten konnte. Als Weihbischof Dąbrowski von dieser Bitte erfuhr, reagierte er im Beisein des Papstes und Casaroli mit einem großen emotionalen Ausbruch: „Wir Polen kennen die Deutschen. Wir glauben ihnen nie und spüren immer ihr hinterhältiges Wirken.“151 Primas Wyszyński und Weihbischof Dąbrowski glaubten, dass die deutschen Bischöfe damit eine erfolgreiche Blockadepolitik führen würden. Diese Hintergründe sind wichtig, wenn man sich ernsthaft mit den deutschpolnischen Beziehungen auf kirchlich-katholischer Ebene auseinandersetzt, zudem selbst Autoren in den jüngsten deutschsprachigen Publikationen zugeben, dass Primas Wyszyński den Deutschen gegenüber mehr als nur mit Skepsis begegnete.152 Diese Zweifel wurden aber auch nicht nach 1972 ausgeräumt. Daher ist das Urteil von Robert Żurek, dass der von den Kirchen mit dem Briefwechsel von 1965 initiierte Versöhnungsprozess erst nach der Ratifizierung des Warschauer Vertrags von 1972 und der Neuordnung der Bistumsgrenzen in den Oder-NeißeGebieten richtig in Schwung gekommen sei,153 in Frage zu stellen. Die 1970er und

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ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 45 (1989), S. 145164, hier S. 145-148. KARP (wie Anm. 149), S.147. So Dąbrowski in seiner Berichterstattung über die Gespräche mit Kurienvertretern, PETER RAINA, Arcybiskup Dąbrowski – rozmowy watykańskie. [Erzbischof Dąbrowski – vatikanische Gespräche]. Warszawa 2001, S. 86. KERSKI KYCIA ŻUREK, Briefwechsel (wie Anm. 145), S. 29. ROBERT ŻUREK, Die Rolle der Katholischen Kirche Polens bei der deutsch-polnischen Aussöhnung 1966-1972. In: ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 45 (2005) S. 141-164, hier S. 164.

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1980er Jahre wurden von emotionalen Debatten über die Existenz oder Nichtexistenz einer deutschen Minderheit in Oberschlesien dominiert. Dabei kam es zwischen führenden Vertriebenenfunktionsträgern und polnischen Bischöfen mehrfach zu heftigen verbalen Attacken.154 Primas Glemp erschütterte die deutsche Öffentlichkeit mit seiner Predigt vom 15. August 1984 in Tschenstochau, in der er sich zum einzigen Mal öffentlich über die Frage nach der deutschen Minderheit in Polen äußerte. Darin wies er die Forderungen nach der Anerkennung der deutschen Minderheit in Polen, insbesondere in Oberschlesien scharf zurück und verurteilte die Massenausreisen von Oberschlesiern in die Bundesrepublik, indem er den Ausreisenden „niedrige Beweggründe […], einfach Geld“155 unterstellte. Diese Problematik wurde von der kommunistischen Propaganda zudem noch instrumentalisiert, um in der polnischen Bevölkerung die Angst wach zu halten, dass die „deutschen Revanchisten und Revisionisten“156 wie einst 1939 zurückkehren würden. Davon blieb auch die Leitung der Polnischen Bischofskonferenz nicht unbeeinflusst. Solange kein freier Meinungsaustausch und keine persönlichen Begegnungen möglich waren, konnte keine objektive Auseinandersetzung mit dem Nachbarn stattfinden. Der Mangel an Information führte auf beiden Seiten dazu, dass pauschale Bilder und Vorurteile aufgebaut und mit jedem neuen Konflikt verstärkt wurden. Wenige Wochen vor der Wahl des Erzbischofs von Krakau, Karol Kardinal Wojtyła, zum Papst, brach dieser mit Primas Wyszyński zur ersten offiziellen Delegationsreise in die Bundesrepublik auf. Damit wurden regelmäßige Treffen von deutschen und polnischen Bischöfen initiiert. Nach dem Tode von Kardinal Wyszyński 1981 intensivierte der neue Primas, Józef Kardinal Glemp, diese Begegnungen und baute zu den deutschen Bischöfen gute Beziehungen auf. Dennoch war den polnischen Oberhirten bewusst, dass sich die Deutsche Bischofskonferenz aus Rücksicht auf die Heimatvertriebenen zu keinen kirchenpolitischen Aussagen verleiten ließ, die als Konfrontation zur heimatpolitischen Ausrichtung der Vertriebenenverbände hätte angesehen werden können. Damit konnte die polnische kommunistische Parteiführung die deutsche Geistlichkeit ungehindert des „Revisionismus“ bezichtigen. Umgekehrt konnte sich in den Reihen der deutschen Heimatvertriebenen seit den 1950er Jahren die Meinung verbreiten, dass die polnischen Bischöfe Nationalisten seien. Diese Denkschablone hat sich bis in die 1980er Jahre hinein nach jeder Auseinandersetzung noch weiter erhärtet.157

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Insbesondere in den Jahren 1984/85, als der Präsident der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, das Motto des Deutschlandtreffens der Schlesier für das Jahr 1985 bekannt gab: 40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser. Zitat nach: Welches Unrecht, welche Deutschen? In: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Nr. 183 vom 18. 8.1984, S. 3. Die kommunistischen Ideologen bedienten sich seit den 1950er Jahren gerne der Begriffe „Revanchisten“ und „Revisionisten“, wenn sie generell von Westdeutschen, und speziell von Vertriebenenverbänden (und der Führung der Deutschen Bischofskonferenz, die sie als verlängerten Arm der Vertriebenenverbände ansahen) sprachen. Was die Propaganda mit diesem Begriff meinte, war nicht immer klar. Als „revisionistische Kräfte“ wurden auch Polen beschimpft, die nicht auf Parteilinie lagen. Damit wurde ein nicht definierter, kollektiver Feind der Volksrepublik Polen kreiert. Vgl. zu dieser Diskussion z. B. Noch mehr Revisionisten. In: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Nr. 183 vom 18.8.1984, S. 8. Auf diese Hintergründe geht die bereits erwähnte Dissertationsschrift des Autors (wie Anm. 148, Teil II, Kap. B) näher ein.

Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im besetzten Polen

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Für die Beurteilung der deutsch-polnischen Kirchenbeziehungen nach 1945 ist die Tatsache von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass kirchlich-religiöse Fragen und gemeinsame Kontakte von Deutschen und Polen auf der Ebene der römisch-katholischen Kirche nicht losgelöst von der Staatsräson des kommunistischen Polens betrachtet werden können, der sich auch die Kirche unterordnen musste und wollte. Sämtliche Verständigungsinitiativen mussten sich an der Fragestellung messen lassen, wie ihre Haltung zur Anerkennung der Oder-NeißeLinie als endgültiger deutsch-polnischer Staatsgrenze und somit zum Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete war, die zudem in der Propaganda und in großen Teilen der polnischen Gesellschaft als urpolnische Gebiete galten. So gesehen konnte der gemeinsame Glaube von Polen und Deutschen allein kein Garant für die Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen sein.

Die Reaktion des deutschen Episkopats auf die Verfolgung der polnischen Kirche in den eingegliederten Ostgebieten des Deutschen Reiches HANS-JÜRGEN KARP Die große Verhaftungswelle von polnischen Priestern Anfang Oktober 1941 im Warthegau wurde von der Geheimen Staatspolizei als „Aktion zur Zerschlagung der polnischen Kirche“ bezeichnet.1 Damit ist in nicht zu überbietender Brutalität das Ziel der rigorosen nationalsozialistischen Kirchenpolitik im besetzten Polen2 kurz und bündig beschrieben. Sie belastet die deutsch-polnischen Kirchenbeziehungen zum Teil noch bis in die Gegenwart. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die katholische Kirche im Deutschen Reich auf die verschiedenen repressiven Maßnahmen reagierte. Auf welchen Wegen erhielten die kirchlichen Amtsträger ihre Informationen, und entsprachen diese Informationen der tatsächlichen Lage? Welche Initiativen ergriff der Vertreter des Hl. Stuhls3 bei der Reichsregierung, der Berliner Nuntius Cesare Orsenigo (I)? Welche Haltung nahmen die Bischöfe der Polen benachbarten deutschen Diözesen Breslau, Danzig und Ermland (II) und die Plenarkonferenz der deutschen Bischöfe (III) ein? Welche Handlungsmöglichkeiten hatten sie angesichts der repressiven Maßnahmen der NS-Behörden (IV)? Auf der Grundlage der gedruckten Akten und neuerer Beiträge deutscher und polnischer Autoren zu diesen Fragen lässt sich ein differenziertes Bild der komplizierten Problematik gewinnen. Auf die Frage, mit welcher Strategie die Amtskirche auf den Terror des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats gegen die polnischen Bischöfe und Priester im besetzten Polen antworten sollte, gibt der Bericht des Kardinals Bertram „über unser aller Ostsorgen“ an Nuntius Orsenigo vom 9. Dezember 1939 eine erste Antwort.4 Der Breslauer Erzbischof sah schon zu diesem frühen Zeitpunkt sehr deutlich, dass „die Zustände des kirchlichen Lebens“ in den Nachbardiözesen 1

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HILARIUS BREITINGER, Als Deutschenseelsorger in Posen und im Warthegau 1934-1945. Erinnerungen (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 36). Mainz 1984, S. 68. – Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags des Verfassers, der unter dem Titel Stanowisko Stolicy Apostolski oraz episkopatu Niemiec wobec preśladowań duchowieństwa przez Nimecy hitlerowki [Die Haltung des Apostolischen Stuhls und des deutschen Episkopats gegenüber der Verfolgung der Geistlichkeit durch Hitlerdeutschland] erschienen ist in: ROCZNIK WIELUŃSKI 2 (2002) S. 37-49. ZENON FIJAŁKOWSKI, Kościół katolicki na ziemiach polskich w latach okupacji hitlerowskiej [Die katholische Kirche in den Ländern Polens in den Jahren der Hitler-Okkupation]. Warszawa 1983. Vgl. zum Hintergrund STEFAN SAMERSKI, „... doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ Die deutsch-vatikanischen Beziehungen 1939-1942 und die Annexion polnischer Gebiete. In: ZEITSCHRIFT FÜR OSTMITTELEUROPA-FORSCHUNG 47 (1998) S. 159-185. Le Saint Siège et la situation réligieuse en Pologne et dans les Pays Baltes 1939-1945. Première partie 1939-1941 (ACTES ET DOCUMENTS DU SAINT SIÈGE RELATIFS A LA SECONDE GUERRE MONDIALE, 3,1). Città del Vaticano 1967 [zitiert: ADSS III, 1], Nr. 68, Anhang, S. 150-152.

Die Reaktion des deutschen Episkopats

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„Posen-Gnesen, Kattowitz und Kulm [...] einer Anarchie entgegen“ gehen, und dass ihre Ordinarien und Ordinariate, „weil sie als polnisch mit größtem Mißtrauen betrachtet und vielfach gehemmt, einzelne auch abwesend sind, keine Abhilfe schaffen“ können. Diese werde vom Hl. Stuhl und den deutschen Nachbarbischöfen erwartet.

I In den Beziehungen des Hl. Stuhls zum Deutschen Reich unterscheidet Manfred Clauss drei Phasen.5 In den Monaten nach Kriegsbeginn und in der ersten Hälfte des Jahres 1940 suchte die Kurie vor allem über die Berliner Nuntiatur Polen Hilfe zukommen zu lassen. Nuntius Orsenigo sprach mehrmals wöchentlich im Auswärtigen Amt vor. Dabei bemühte er sich insbesondere auch um Freilassung von inhaftierten Priestern und Ordensangehörigen im Generalgouvernement.6 Er intervenierte für 150 Priester aus Lublin und für Theologieprofessoren aus Krakau sowie für den Lubliner Weihbischof Góral im Konzentrationslager Sachsenhausen7, ferner für die Freilassung von Weihbischof und Generalvikar von Włocławek Kozal aus der Internierung im Kloster Ląd.8 Eine Strafmilderung für Góral lehnte der Chef der Sicherheitspolizei ab, da seine Unterbringung in einem Kloster oder einem anderen Ort des Generalgouvernements „die Einrichtung einer erneuten polnischen Hetzzentrale bedeuten“ würde. Am 3. Juli erreichte Orsenigo bei Staatssekretär Weizsäcker, dass ein erneuter, wenngleich wenig aussichtsreicher Antrag bei der Sicherheitspolizei gestellt wurde, „die Unterbringung des Góral in einem Kloster des Altreichs in Erwägung zu ziehen“.9 Auf eine Anfrage vom 19. April erhielt die Nuntiatur am 5. Juni die Antwort, Bischof Nowowiejski von Płock und sein Weihbischof Wetmański befänden sich nicht in Haft, würden von zwei Schwestern betreut und hätten Bewegungsfreiheit.10 Die Einreise eines Vertreters der Nuntiatur ins Generalgouvernement wurde nicht gestattet11, Ausreisen von Priestern und Nonnen nicht genehmigt.12 Den Wunsch Orsenigos, deswegen mit Generalgouverneur Frank persönlich zu sprechen, überhörte Weizsäcker absichtlich. Er übergab dem Nuntius eine Notiz über im Vormonat vorausgegangene Angriffe des Vatikansenders auf den Nationalsozialismus.13 5 6

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MANFRED CLAUSS, Die Beziehungen des Vatikans zu Polen während des II. Weltkrieges (BONNER BEITRÄGE ZUR KIRCHENGESCHICHTE, 11). Köln-Wien 1979, S. 97 f. Der Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der Deutschen Reichsregierung. Bd. III. Der Notenwechsel und die Demarchen des Nuntius Orsenigo 1933-1945. Bearb. von DIETER ALBRECHT (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 29). Mainz 1980[zitiert: Notenwechsel III], Nr. 407 (24.10.), S. 356, Nr. 453 (14.12.), S. 381 f., Nr. 477 (19.1.), S. 395, Nr. 480 (21.1.), S. 397, Nr. 481 (22.1.), S. 397, Nr. 482 (2.2.), S. 397, Nr. 507 (4.3.), S. 412. Nr. 508, 514 (Weizsäcker machte keine Hoffnung). - O. war von Maglione aufgefordert worden (ADSS III,1, Nr. 148) Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 565 (17.6.), S. 443. Vgl. CLAUSS (wie Anm. 5), S. 150-152. Ebd. Nr. 515 (15.3.), S. 416, Nr. 571 (22.6.), S. 418, Nr. 588 mit Anm. 1, S. 457. Ebd. Nr. 529 (19.4.), S. 424 und Nr. 556 (5.6.), S. 437. Vgl. ADSS III,1, Nr. 150 und 156. Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 527 (12.4.), S. 423. Vgl. Nr. 486 (8.2.), S. 399 und Nr. 513 (15.3.), S. 416. Ebd. Nr. 546, 547, 548 (Mai 1940), S. 432 f., Nr. 572 (27.6.), S. 446 f. Ebd. Nr. 583 (3.7.), S. 453 f. und 586 (11.7.), S. 455 f.

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Hans-Jürgen Karp

Eine dritte Welle von Priesterverhaftungen im Warthegau im August 194014 löste weitere umfassende Aktivitäten des Nuntius aus. Am 20. September suchte er um Auskunft nach, ob es sich bei der Verhaftung von ca. 200 Priestern um Maßnahmen untergeordneter Organe oder um Zentralweisungen handele.15 Am 4. Oktober bat der Berliner Bischof Preysing Papst Pius XII. um eine Intervention des Hl. Stuhls für diese Priester.16 Er stützte sich dabei auf einen Hilferuf des Gnesener Generalvikars van Blericq. Dieser hatte die Meinung geäußert, ob sie nicht in einem neutralen Land, in der Schweiz oder in Spanien , umgeschult und eventuell in Amerika eingesetzt werden könnten, und zugleich vorgeschlagen, sofort eine Seelsorge mit deutschen Priestern aufzubauen. Tatsächlich wurde Orsenigo am 23. Oktober angewiesen, in dieser Sache beim Auswärtigen Amt zu sondieren.17 Seinen am 6. November vorgebrachten Vorschlag, die in deutschen Konzentrationslagern inhaftierten polnischen Priester nach Südamerika zu verschicken, lehnte Weizsäcker mit dem Hinweis ab, sie würden dort zu „antideutschen Hetzaposteln“ werden, was der Nuntius „durch strenge persönliche Vermahnung“ dieser Geistlichen glaubte vermeiden zu können.18 Er musste am 13. November nach Rom berichten, dass die Reichsregierung die Emigration der Priester nicht gestatte. Zugleich übermittelte er die Verbalnote des Auswärtigen Amtes an die Nuntiatur, in der es heißt, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei – Heinrich Himmler – die Zusammenführung der in verschiedenen Konzentrationslagern einsitzenden Geistlichen im Konzentrationslager Dachau angeordnet habe, wo sie nur mit leichten Arbeiten beschäftigt würden.19 Schon Ende September/Anfang Oktober 1940 – also bei der ersten Sondierung Orsenigos wegen der Priesterverhaftungen – scheint Weizsäcker dem Nuntius eine Aussprache mit Himmler vorgeschlagen zu haben, Kardinalsstaatssekretär Maglione erklärte sich am 1. November mit einer solchen Begegnung einverstanden.20 Unter den Beschwerdepunkten Orsenigos gegenüber Himmler, die am 7. Dezember im Auswärtigen Amt zusammengefasst wurde, waren auch die Verhaftung der 200 polnischen Geistlichen sowie die Verbringung von Geistlichen in Konzentrationslager überhaupt aufgeführt.21 Am 11. Dezember brachte der Nuntius bei Weizsäcker nochmals seinen Wunsch nach einer „privaten Aussprache ohne jedes feste Gesprächsprogramm“ zum Ausdruck, zu der er am liebsten „nicht in seiner feierlichen Amtstracht“ erscheinen würde. Außenminister von Ribbentrop informierte seinen Staatssekretär jedoch am 23. Dezember, dass Himmler zur Zeit nicht geneigt sei, mit dem Nuntius ein Gespräch zu führen.22 Die zweite Phase der Aktivitäten des Hl. Stuhls war gekennzeichnet durch einen lebhaften Notenwechsel mit der Reichsregierung seit Mitte August 1941. Ausgelöst wurden sie durch die Vorgänge im Warthegau. Bereits am 14. April wandte sich Kardinal Bertram mit einem detaillierten Bericht an Kardinalstaatsekretär Maglione, in dem er, unter Berufung auf dringende Bitten der Katholiken 14 15 16 17 18 19 20 21 22

FIJAŁKOWSKI (wie Anm. 2), S. 238 f. Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 630 (20.9.), S. 480 f. ADSS III, 1, Nr. 209. Ebd. Nr. 216. Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 638 (6.11.), S. 485 f. ADSS III, 1, Nr. 223, mit Anhang (= Notenwechsel III, Nr. 643, S. 488). Orsenigo teilte dies am 29. November auch Preysing mit: ADSS III, 1, Nr. 228. Ebd. Nr. 208 (2.10.) und Nr. 221 (1.11.) Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 648 (28.11.), S. 491, Anm. 4. Ebd. Nr. 655 (11.12.), S. 495 mit Anm. 2.

Die Reaktion des deutschen Episkopats

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des Warthelandes „um klare Richtlinien und besonders um Intervention des Heiligen Stuhles“ zu erwägen gab, ob ein entsprechender Schritt „bei der höchsten Stelle im Deutschen Reiche möglich und opportun“ sei.23 Nach dem Promemoria Magliones an den Nuntius vom 31. Mai24 wandte sich Orsenigo am 14. August an Ribbentrop.25 Unter den fünf hauptsächlichsten Missständen führte er in der Note auch die Ausweisung und Internierung von Bischöfen, Domherren und Geistlichen der Ordinariate sowie die Austreibung von Ordensleuten beiderlei Geschlechts aus ihren Klöstern an. Bei den weiteren Verhandlungen mit der Reichsregierung ging es aber in erster Linie um die Religionspolitik Greisers im Warthegau und das Problem der „politischen Klausel“ des Reichskonkordats.26 Gleichwohl gab es weitere Versuche des Eintretens für verfolgte Bischöfe und Priester. So verlangte der Nuntius am 4. Dezember 1941 nähere Auskunft über die Ausweisung des Bischofs von Lodz Jasiński und seines Weihbischofs Tomczak sowie weiterer Geistlicher aus Lodz. 27 Er erhob – nota bene: von Maglione dazu aufgefordert – „Protest gegen die Abführung des Bischofs und gegen die Art und Weise, in der sie erfolgt ist“, verlangte die Rückkehr und Wiedereinsetzung der Geistlichen in ihre Ämter sowie die Möglichkeit, sich über den Stand der kirchlichen Verwaltung in Lodz zu informieren. Weizsäcker verwies auf das Recht der Reichsregierung zu einer „Ortsverweisung des Bischofs und seiner Mitarbeiter“ und meinte, eine Mitteilung darüber, wie von ihm verlangt, könne sich der Nuntius allenfalls „als einen Akt der Courtoisie“ wünschen. Seit Beginn des Jahres 1942 finden sich im Notenwechsel zwischen Nuntiatur und Regierung nur noch wenige Nachrichten über Interventionen Orsenigos für polnische Priester.28 Am 10. März 1942 kam er nur ganz nebenbei bei einem „von ihm ausdrücklich als nicht amtlich bezeichneten Gespräch“ mit Weizsäcker auf das Schicksal der polnischen Priester in Dachau zu sprechen, die, wie er gewiss wusste, nicht in gleicher Weise wie die deutschen Geistlichen behandelt wurden. Seit 1941 waren sie im sog. Block 28 zusammengefasst, dort gab es keine Kapelle; das Betreten des Priesterblocks 26, der eine Kapelle besaß, war ihnen untersagt. Orsenigo knüpfte – nach der Aufzeichnung Weizsäcker – an das Gespräch kein Ersuchen, sondern äußerte nur vage den Wunsch, dass die polnischen Priester Gelegenheit zum Breviergebet und zur Abhaltung einer eigenen Messe bekämen.29 Im Block 28 befand sich auch Mieczysław Januszczak, Vikar aus Ostrowo. Den Wunsch seiner Eltern nach Freilassung ihres Sohnes trug Orsenigo am 20. Mai im Auswärtigen Amt vor, wobei er bei der Übergabe der Note und einer Bescheinigung des Lubliner Bischofs bemerkte, „es handle sich um einen Vorgang, in welchem man das menschliche Gefühl sprechen lassen sollte“.30

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ADSS III,1, Nr. 267, S. 392 und 398. Ebd. Nr. 272. Ebd. Nr. 291. Im einzelnen: CLAUSS (wie Anm. 5), S. 81-95. Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 803, S. 585 f. mit Anm. 3. Nach CLAUSS (wie Anm. 5), S. 77, beschloss das Kardinalstaatssekretariat im Frühjahr wegen Aussichtslosigkeit, seine Bemühungen in dieser Sache einzuschränken (ADSS III,2, Nr. 364 [19.3.1942]). Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 851 (10.3.), S. 612 mit Anm. 1. Ebd. Nr. 921 (20.5.), S. 649 f.

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Bemerkenswert für die dritte Phase der vatikanischen Ostpolitik in den beiden letzten Kriegsjahren, die von der Resignation der Kurie geprägt war31, ist eine weitere Intervention des Nuntius für zwei ältere Kattowitzer Priester im Konzentrationslager Dachau im Juni, August und September 1943. Die Entlassung der ursprünglich acht Häftlinge wurde bereits am 14. Oktober abgelehnt, da davon eine Stärkung der polnischen Widerstandsbewegung befürchtet wurde. In der entsprechenden Aufzeichnung hieß es: „Die Anregung des Nuntius [...] kann auf Grund der durch den Führerentscheid seither eingetretenen Beschränkung unserer Beziehungen zum Vatikan auf das Altreich gegenüber dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD nicht vertreten werden.“ Dennoch übermittelte Staatssekretär Steengracht am 8. November die Bitte Orsenigos unter Betonung des humanitären Gesichtspunktes an den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Kaltenbrunner, natürlich ohne Erfolg.32

II Die Bischöfe Bertram, Splett und Kaller reagierten in unterschiedlicher Weise, aber sofort nach dem Eintreffen der ersten Nachrichten über die Situation der drei benachbarten Diözesen. Bertram hatte als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz in seinem Schreiben an Orsenigo vom 9. Dezember 193933 als erste Konsequenz aus seiner Lagebeurteilung ein Ersuchen „nicht von amtlicher Seite, sondern von wohlmeinenden katholischen Intelligenten“ an den Nuntius weiter gegeben, der Hl. Stuhl möge die Administration der vakanten polnischen Diözesen in den eingegliederten Gebieten deutschen Klerikern übertragen, allerdings, wie ausdrücklich betont wird, „ad interim, nur für die Zeit der jetzigen katastrophalen Zerrüttung“. Außerdem stellte er fest, kein deutscher Bischof könne angesichts einseitiger Berichte die Gesamtlage beurteilen und die Frage beantworten, ob man zunächst die weitere Entwicklung abwarten solle. Als Erzbischof von Breslau erhielt Bertram am 20. Dezember 1939 in einem persönlichen Schreiben von Bischof Wienken eine Mitteilung über das Ansinnen des Reichskirchenministeriums, der polnische Bischof von Kattowitz Stanisław Adamski möge einen deutschen Generalvikar bestellen sowie einen oder mehrere deutsche Priester ins Domkapitel berufen. Bertram reagierte sofort und setzte am Heiligen Abend „kurz entschlossen“, „in rein privater Form“ Adamski von den Plänen in Kenntnis. Er schrieb „aus Anlass der Gemeinsamkeit unserer Sorgen“ und bezeichnete sich selbst als „Nachbar der Diözese Kattowitz“ und als den „am meisten an den Sorgen der Diözese Kattowitz teilnehmenden deutschen Bischof“, lehnte es aber ab, sich in die Angelegenheiten einer fremden Diözese einzumischen.34 Bis zu Adamskis Vertreibung aus seiner Diözese im Februar 1941 tausch-

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CLAUSS (wie Anm. 5), S. 99. Notenwechsel III (wie Anm. 6), Nr. 1057 (24.8.), S. 727 und Nr. 1062 (21.9.), s. 729 mit Anm. 2. Vgl. Anm. 4. Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Bd. 4. 1936-1939. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 30). Mainz 1981, Nr. 537, S. 756 f.

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te er sich mit seinem Amtsbruder, der seinerseits den Beistand des Kardinals erwartete, in allen die Diözese Kattowitz betreffenden Fragen aus.35 Bischof Adamski kam in dieser Anfangsphase der deutschen Besatzungsmacht noch entgegen. Durch die Ernennung eines deutschen Generalvikars im Januar 1940 scheint er die Freilassung von einigen inhaftierten Priestern erreicht zu haben.36 Im November 1940 ernannte er zwei deutsche Priester zu Ehrendomherren, um die Einheit von deutschen und polnischen Katholiken zu erhalten.37 In seinem ausführlichen Bericht vom 4. April 1940 an Bischof Wienken38 über das Los von ungefähr 1500 Priestern, die in Konzentrationslagern, Gefängnissen und Klöstern interniert waren, spricht Adamski von teilweise erfolgreichen Versuchen, einzelne Priester aus der Schutzhaft freizubekommen. Die meisten Anträge blieben aber erfolglos. Die Posener Leitstelle der Geheimen Staatspolizei habe angeblich solche Anträge befürwortet, aber erklärt, dass sie in Berlin entschieden würde. Adamski fragte daher den Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe: „Gibt es etwa Mittel und Wege, um sich über die allgemeinen Absichten der Behörden in dieser Sache zu orientieren?“ Dann „könnte man eventuell dahin angepasste Anträge stellen.“ In einer anderen Situation als Bertram befand sich der Danziger Bischof Splett, der bereits am 5. Dezember vom Hl. Stuhl zum Apostolischen Administrator der benachbarten Diözese Kulm ernannt worden war.39 In seinem Schreiben vom 14. Januar 1940 an Papst Pius XII.40 berichtet er von den Verhaftungen eines Teils „der politisch tätig gewesenen Geistlichen“ gleich zu Beginn des Krieges, von denen aber viele wieder freigekommen seien. Später seien unzählige Geistliche und Lehrer verhaftet, erschossen oder zu Tode gequält worden. Den internierten Priestern gehe es zum Teil gut. Die Behandlung der Geistlichen in den Lagern müsse aber „wohl ganz bestimmt als furchtbar bezeichnet werden“. Die Möglichkeit eines Protestes wird in dem Schreiben nicht erörtert. Splett weist darauf hin, dass schon jegliche materielle Hilfe für Polen von deutscher Seite als „national würdelos“ betrachtet werde. Er setzte auf „kluges Verhandeln mit dem Reichsstatthalter in Danzig“, um wenigstens in allen größeren Pfarrerein die Seelsorge zu sichern. Tatsächlich gelang es ihm, deutsche Priester aus den Nachbardi35

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JERZY MYSZOR, Die Beziehungen zwischen Kardinal Bertram und dem Kattowitzer Bischof Adamski während des Zweiten Weltkriegs 1939-1941. In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 54 (1996 [1997]), S. 177-186, hier S. 186. Zu der trotz aller restriktiven staatlichen Maßnahmen vergleichsweise günstigen Lage in der Diözese Kattowitz: STEFAN SAMERSKI, Die Katholische Kirche in Ostoberschlesien - Grundraster kirchenpolitischer Ordnungsbestrebungen in der Zeit der deutschen Okkupation. In: VIA SILESIA 1999 [2000], S. 105-118. CLAUSS (wie Anm. 5), S. 46. - ADSS III,1, Nr. 100. ADSS III, 1, Nr. 231. Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Bd. 5. 1940-1942. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen 34). Mainz 1983[zitiert: Akten V], Nr. 548, S. 45 f. CLAUSS (wie Anm. 5), S. 142. - ADSS III,1, Nr. 51. - Zur Bewertung der Ernennung neuerdings: BERND HEIM, Braune Bischöfe für's Reich? Das Verhältnis von katholischer Kirche und totalitärem Staat dargestellt anhand der Bischofsernennungen im nationalsozialistischen Deutschland. Bamberg 2007, S. 481-493. - Zur Lage der Seelsorge: STEFAN SAMERSKI, Kirchenpolitik und Seelsorge im annektierten Westpreußen 1939-1945. In: Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen. Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag. Hrsg. von BERNHART JÄHNIG und GEORG MICHELS (EINZELSCHRIFTEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR OST- UND WESTPREUßISCHE LANDESFORSCHUNG, 20). Lüneburg 2000, S. 299-318. ADSS III,1, Nr. 96.

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özesen anzustellen, die „wenigstens genügend Polnisch zum Beichthören“ können.41 Die Geistlichen der Diözese seien dem Papst dankbar, dass er „ihnen wieder einen Bischof geschickt“ habe. Der ermländische Bischof Maximilian Kaller bemühte sich ebenfalls – ohne eigene kirchenrechtliche Zuständigkeit – bereits unmittelbar nach dem Kriegsausbrauch um die Gewinnung von Priestern für die Seelsorge im Bistum Kulm. Seinen Einsatz für die muttersprachliche Seelsorge an den Polen hatte er in allen Stationen seines bisherigen pastoralen Wirkens bewiesen.42 In einem Gestapobericht vom 11. Dezember 1939 heißt es, dass Kallers im Rahmen einer Priesterkonferenz gegebener „Hinweis auf die furchtbaren Leiden des polnischen Volkes und sein zum Ausdruck gebrachtes Mitgefühl Aufsehen erregten.“43 Bereits seit Oktober 1939 hatte er etwa 20 Diözesanpriester, die über polnische Sprachkenntnisse verfügten, persönlich angesprochen, um sie für die Aushilfe in der Diözese Kulm zu gewinnen. Fünf von ihnen erhielten schließlich die Aufenthaltsgenehmigung der Gaubehörden.44 Die Berichte von Franz Bulitta45 und Leo Kaminski46 bezeugen Kallers intensive Anteilnahme an den schwierigen Bedingungen ihres Wirkens. Er besuchte ihre Gemeinden, feierte Messen und hörte stundenlang Beichte, schriftlich und mündlich ließ er sich von ihnen über die Zustände in Westpreußen informieren und bekundete, dass er sich am liebsten selbst gern vor Ort für die Seelsorge ganz zur Verfügung stellen würde. Auch die erheblich eingeschränkte Seelsorge in dem an das Deutsche Reich angeschlossenen Regierungsbezirk Zichenau (Ciechanów), der der Provinz Ostpreußen angegliedert worden war, versuchte Kaller zu unterstützen. Die Seelsorge für die polnischen Bewohner dieses Gebiets, das ungefähr die polnische Diözese Płock umfasste, war weitgehend lahm gelegt. Als einziger deutscher Geistlicher hatte der ermländische Diözesanpriester Paul Kewitsch lediglich die Erlaubnis, die deutschen Militäreinheiten seelsorglich zu betreuen.47 Der im August 1942 beim Regierungspräsidenten von Zichenau gestellte Antrag Kallers, den Wehrmachtspfarrer auch als Seelsorger für die deutsche Zivilbevölkerung zuzulassen, wurde nicht beantwortet. Es ist bezeichnend für den Bischof, dass er die Bemühungen

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Zu der Problematik im Einzelnen: HANS-JÜRGEN KARP, Germanisierung oder Seelsorge? Zur Tätigkeit reichsdeutscher Priester in den dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten Polens 1939-1945. In: ZEITSCHRIFT FÜR OSTFORSCHUNG 30 (1981) S. 40-74. STEFAN SAMERSKI, Priester im annektierten Polen. Die Seelsorge deutscher Geistlicher in den an das Deutsche Reich angeschlossenen polnischen Gebieten 1939-1945. Bonn 1997, zu den unterschiedlichen Entsendungs- und Wirkmöglichkeiten in den einzelnen Gebieten S. 23-45, elf Erinnerungsberichte katholischer Geistlicher S. 52-164. HANS-JÜRGEN KARP, Der Apostolische Administrator Maximilian Kaller und die polnische Minderheit in der Grenzmark Posen-Westpreußen. Mit einem Aktenanhang. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 53 (2009 [2010]), S. 35-76. ULRICH FOX, Bischof Maximilian Kaller und die Seelsorge für die polnischsprechenden Diözesanen. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 49 (1999) S. 147-174. Berichte des SD und der Gestapo über Kirche und Kirchenvolk in Deutschland 1934-1944. Bearb. von HEINZ BOBERACH (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 12). Mainz 1971, Nr. 37, S. 381 f. KARP (wie Anm. 41), 46 f. SAMERSKI (wie Anm. 41), S. 27. SAMERSKI (wie Anm. 41), S. 75-81. Ebd. S. 83-100. PAUL KEWITSCH, Als Deutschen-Seelsorger im Bezirk „Zichenau“ 1940-45. In: ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS 31/32 (1967/68), S. 435-438. Wiederabdruck bei SAMERKSI (wie Anm. 41), S. 150-152.

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Kewitschs stillschweigend billigte, die Reichs- und Volksdeutschen trotz Verbotes an den Wehrmachtsgottesdiensten teilnehmen zu lassen. Nach vatikanischen Akten unternahm Kaller im Herbst 1942 einen weiteren Versuch, die Seelsorge für die deutschen Katholiken in Südostpreußen zu unterstützen.48 Er hatte die Lageberichte von Kewitsch an die Nuntiatur weitergeleitet49, Orsenigo informierte am 25. September Kardinalstaatssekretär Maglione. Dieser schlug am 13. Oktober vor, dass Kaller von den zuständigen polnischen Ordinarien bevollmächtigte ermländische Priester besuchsweise zur Aushilfe nach Südostpreußen entsenden solle. Aus dem Bericht Orsenigos vom 3. November geht hervor, dass Kaller bereit war, einige seiner Priester auf Dauer zur Verfügung zu stellen. Bemerkenswert ist, dass er von sich aus dazu auf diskretem Wege bereits die notwendige Zustimmung „des Ordinarius von Płock“50 eingeholt und erhalten hatte. Er zweifelte aber, so schrieb er, dass er auch die ebenso notwendige Erlaubnis der Polizei erreichen würde. Er wage es nicht einmal, danach zu fragen, denn er fürchte, dass die Polizei dann auf die bescheidene pastorale Arbeit, die ohne ihr Wissen geschehe, aufmerksam werden und sie unterbinden würde. Der Nuntius ermutigte am 24. November Kaller, sich um die Seelsorge für die Deutschen zu kümmern, aber immer nur in Übereinstimmung mit den zuständigen Ordinarien. Da kleinere Teile der Erzdiözese Warschau und der Diözese Łomża (der Bezirk von Ostrołęka) zum Regierungsbezirk Zichenau gehörten, war auch die Zustimmung von deren Verwaltern erforderlich. Kaller übermittelte daraufhin Anfang Dezember dem Nuntius in Kopie ein Schreiben seines Priesters Kewitsch, in dem dieser dem Bischof mitgeteilt hatte, dass er zwar die Erlaubnis der staatlichen Behörden in Königsberg erhalten, die Gestapo aber die Angelegenheit blockiert habe, weil die Bevollmächtigung nicht von einem polnischen Ordinarius erteilt werden dürfe. Kaller bat deshalb den Nuntius um eine Instruktion der Art, dass die staatlichen Behörden glauben konnten, er habe die Vollmacht zur Seelsorge der Deutschen unabhängig von polnischen Ordinarien erhalten. Maglione wies am 6. Januar jedoch den Nuntius an, die Vollmacht bei den drei Ortsordinarien einzuholen und sie an den Bischof von Ermland zu delegieren. Am 15. Januar 1943 reiste Generalvikar Marquardt per Express mit der Nachricht nach Berlin, dass die Vollmacht, die von den betreffenden polnischen Ordinarien ohne Schwierigkeit erteilt wurde, unbrauchbar sei angesichts des Verbots der Polizei, überhaupt Priester für die Seelsorge in Südostpreußen zuzulassen, auch nicht deutsche Priester aus dem Altreich, wenn sie nicht nachweisen können, dass sie nicht der Gewalt polnischer Ordinarien unterstellt sind. Der Versuch, die Polizei glauben zu lassen, die Priester seien direkt von Bischof Kaller entsandt worden, sei nicht erfolgreich gewesen, da die Polizei, wahrscheinlich von einem abgefallenen Priester darauf aufmerksam gemacht, erklärt habe, dass Kaller keine Jurisdiktion über das Territorium habe. Darum würde der ermländische Bischof vorschlagen, dass ihm ein Dokument ausgestellt werde, in dem es heißt, dass der Hl. Stuhl selbst ihm die Seelsorge für die deutschen Katholiken in dieser 48 49 50

ADSS III, 2, Nr. 438, 449, 456, 464. KEWITSCH (wie Anm. 47), S. 436. Stanisław Figielski, seit 6. März 1942 Apostolischer Administrator der Diözese Płock, JERZY PIETRZAK, Die politischen und kirchenrechtlichen Grundlagen der Einsetzung Apostolischer Administratoren in den Jahren 1939-1942 und 1945 im Vergleich. In: Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. Deutschland und Polen 1939-1989. Hrsg. von HANS-JÜRGEN KARP und JOACHIM KÖHLER (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, 32). Köln 2001, S. 157-173, hier S. 163.

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Region überträgt. – Auf die entsprechende Bitte Orsenigos legte Maglione die Angelegenheit am 25. Januar 1943 Pius XII. vor und notierte auf dem Bericht die Entscheidung des Papstes: „aufgeschoben“. III Nach dem letzten Punkt des umfangreichen Protokolls der Plenarkonferenz des deutschen Episkopats im August 194051 nahmen die Bischöfe Kenntnis von Mitteilungen „über die seit dem 1. September 1939 tief veränderten Verhältnisse der an die Ostgrenze des Altreichs angrenzenden Diözesen“. Berichterstatter war der ermländische Bischof Kaller.52 Die Notiz vermerkt lediglich, dass die Frage, wie die Diözesen des Altreichs ihnen aktive Unterstützung leisten könne, schwierig sei und Gegenstand weiterer Erwägungen der Bischöfe bleiben werde. Die Bischofskonferenz dürfte nach und nach ein genaueres Bild von den desolaten Zuständen erhalten haben. Am 14. Oktober 1940 wandte sich der Posener Weihbischof und Generalvikar Dymek an Bischof Wienken, mit dem er in der Zwischenkriegszeit Kontakte gehabt hatte. Der detaillierte Bericht über die Erzdiözese Posen enthält auch eine Schilderung der trostlosen Lage der inhaftierten Priester und der Einschränkungen seiner Jurisdiktionsausübung. „Die geistigen Qualen sind übergroß.“ Dymek erwartete „eine größere Anzahl deutscher Geistlicher für die deutschen Katholiken“, über die er aber wohl keine Jurisdiktion haben werde, da „ein deutscher und ein polnischer Bischof vorgesehen“ sei.53 Der Bischofskonferenz im Juni 1941 lag ein informationsreicher Bericht über die unterschiedliche Lage im Warthegau und Danzig-Westpreußen54 vor, der wahrscheinlich von Bischof Wienken stammt. Der Verfasser beschränkte sich bei seinen drei Minimalvorschlägen auf den Warthegau. 1. Ein der Regierung genehmer Geistlicher sollte ihn bereisen, der mit besonderen Vollmachten des Hl. Stuhls ausgestattet sein müsste, „um auch bei den polnischen Geistlichen in etwa Gehör zu finden“. 2. Kirchenpolitische Verhandlungen sollten angebahnt werden mit dem Ziel, „die Hierarchie wieder herzustellen“. 3. Zuerst aber sollte in Verhandlungen versucht werden, die „Entsendung von Geistlichen für die Betreuung der Reichs- und Volksdeutschen“ zu erreichen. Auf der Konferenz des Jahres 1941 hielt der ermländische Bischof Kaller ein Referat über die Wandernde Kirche, mit dem er Vorschläge aus dem Vorjahr ergänzte.55 „Als besondere Aufgabe der Wandernden Kirche nach außen“ bezeichnete er „die Entsendung von Priestern und von Seelsorgehelferinnen in die neu besetzten Gebiete des Osten“, und zwar „sowohl für die allgemeine Seelsorge, als auch für die an den Deutschen unter den anderssprachigen Katholiken.“ Dabei dachte er bezüglich des Warthegaus an Priester für die Seelsorge an den „eingewanderten volks- und reichsdeutschen Katholiken“, da ihre Teilnahme an den „dortigen polnischen Gottesdiensten praktisch unmöglich“ sei. Bezüglich des Gaus Danzig51

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Akten V (wie Anm. 38), Nr. 578/II (20.-22.8.), S. 113. STEFAN SAMERSKI, Die Bemühungen Kardinal Bertrams um die Reorganisation der Seelsorge im annektierten Polen (1939-1945). In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 54 (1996 [1997]), S. 153-175, hier S. 162 f. Akten V (wie Anm. 38), Nr. 578/I (Ende Juli),S. 92. Ebd. Anhang, Nr. 19* (14.10.), S. 1010 f. Ebd. Nr. 665 b (24.6.), S. 407-410. Ebd. Nr. 667/I (10.6.), S. 412, TOP VIII.

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Westpreußen hielt er es für notwendig, „die Zahl der bereits dort in der allgemeinen Seelsorge wirkenden 20 reichsdeutschen Priester“ zu vermehren. „Nur solche Priester kommen in Frage, die nach sorgfältiger Prüfung den moralischen, politischen und materiellen Schwierigkeiten gewachsen sind.“56 Diesen Vorschlägen entsprechend beschloss die Konferenz: „Die Diözesen werden geeignete Priester für die Seelsorge in den östlichen Gebieten bereitstellen.57 Dieser Beschluss erfolgte in Kenntnis einer Nachricht, die Bertram „von beachtenswerter Seite“ erhalten und während der Konferenz mündlich mitgeteilt hatte. Danach hatte die Geheime Staatspolizei 15 reichsdeutsche Priester für den Warthegau zugelassen. Acht Tage später, am 4. Juli, bat Bertram die Bischöfe, „da die augenblickliche Erleichterung der Lage im Warthegau vielleicht nicht lange anhält“, um eine möglichst schnelle Auswahl von Geistlichen, „ so sehr auch die Notstände in den Diözesen Deutschlands erschwerend im Wege stehen“. Die Liste der Namen sollte über Bischof Wienken „der zuständigen Stelle“ in Posen, nämlich dem Apostolischen Administrator für die deutschen Katholiken, dem Franziskanerpater Hilarius Breitinger, zugeleitet werden.58 Statt einer Verbesserung der Situation trat eine erhebliche Verschlechterung ein. Die von der Gestapo Posen Anfang Oktober 1941 durchgeführte „Aktion zur Zerschlagung der polnischen Kirche“ riss mit der vierten Verhaftungswelle von polnischen Priestern im Warthegau eine neue, große Lücke in die Reihen des Klerus.59 Die Schädigungen seelsorglichen Lebens und der kirchlichen Einrichtungen der letzten zwei Jahre nahm Bertram zum Anlass für eine Beschwerde beim Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten Hans Kerrl. In seiner Eingabe vom 22. Oktober60 betonte er „die enge Verbundenheit, in der die Erzdiözese Posen und Gnesen sowie die Diözese Kulm während ihrer früheren Zugehörigkeit zu Deutschland und damit [...] zum deutschen Episkopate gestanden haben, sowie die Gemeinsamkeit der Sorgen, die in Zukunft die Diözesen des Altreichs mit denen der neu zu Deutschland gekommenen Gebiete verknüpft.“ Vorsichtig bat er den Minister, zu erwägen, ob es ihm „möglich und zweckmäßig“ erscheine, sich der Klagen, insbesondere aus der Erzdiözese Posen und Gnesen, anzunehmen. Dabei hob er hervor, dass ihm „jede Verletzung der Würde des deutschen Volkstums und Nationalbewusstseins“ fern liege, es gehe ihm lediglich um „die pflichtmäßigen seelsorglichen Aufgaben“. Er protestierte gegen die „vollständige Verkennung der unveränderlichen Organisation der katholischen Kirche“, wie sie sich in der „Verordnung des Reichsstatthalters im Warthegau“ vom 13. September 1941 zeige. Im Folgenden beschränkte er sich er sich auf vier Punkte. Im zweiten gab er die „durch Ausweisung, Abtransport und Internierung von Hunderten von Geistlichen“ verursachten Verluste mit „etwa zwei Drittel bis drei Viertel des seitherigen Bestandes“ an; sie würden wohl „nach den Maßnahmen der letzten Tage noch erheblich höher sein“. Dadurch seien Gottesdienst und 56 57 58 59 60

Akten V (wie Anm. 38), Nr. 667/IIk, S. 447 f. Ebd. Nr. 667/II, S. 422. Die Entsendung von deutschen Geistlichen war bereits seit einem Jahr im Gang, vgl. oben S. 167. Ebd. Nr. 672 (4.7.), S. 474. BREITINGER (wie Anm. 1), S. 68 ff. - Aufstellung Breitingers über die Lage der Erzdiözese Posen (10.10.1941): Akten V (wie Anm. 38), Nr. 706 (10.10.), S. 558 f. Akten V (wie Anm. 38), Nr. 710 (22.10.), S. 578-580.

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Seelsorge weitestgehend unmöglich gemacht. Zum Schluss hob er noch hervor, dass die Darstellungen, mit denen von überall her Gesuche um Abhilfe im Altreich eintreffen, noch „weit erschütternder“ seien als seine „mit größter Zurückhaltung geschriebenen Zeilen“. Er schloss mit dem „Gesuch, das Reichskirchenministerium wolle nach Möglichkeit zur Abstellung der dargelegten Beschwerden die geeignet erscheinenden Schritte tun“. Offensichtlich war dem Kardinal nicht bekannt, dass Hitler auf Betreiben Bormanns schon im Herbst 1940 die Zuständigkeit des Kirchenministers auf das Altreich beschränkt hatte. „In Verbindung mit dem Reichskirchenministerium“ sollten auch einzelne Bischöfe in einem „Hilfsausschuss für die ehemals polnischen Gebiete“ Hilfsmaßnahmen zur seelsorglichen Betreuung der deutschen Katholiken beraten und, soweit möglich, an der Finanzierung mitwirken. Diese „Anregung“ wurde auf der Plenarkonferenz der Bischöfe im August 1942 gegeben61, die zuvor einen Bericht über die Lage angesichts der geplanten nationalen Aufspaltung der Kirche in diesen Gebieten62 entgegengenommen hatte. Die Lage der polnischen Katholiken beschrieb Weihbischof Dymek in einem Bericht an Nuntius Orsenigo im Oktober 194263 als „trostlos“. „Die paar Geistlichen, die noch da sind“, sollten seiner Meinung nach sich nicht um die Satzung für die polnische römisch-katholische Kirche im Wartheland kümmern, sondern „ihre Seelsorge weiter ausüben, bis sie einzeln oder gemeinsam festgenommen werden“. Dymek war, wie er schrieb, „zu der Überzeugung gekommen, daß der Apostolische Stuhl uns nicht helfen kann oder aus höheren Gründen nicht helfen will“. Auch von den beantragten Hilfsmaßnahmen für die im Konzentrationslager Dachau inhaftierten Priester waren die polnischen Geistlichen von vornherein ausgeschlossen, weil es für Bertram unmöglich war, sichere Zahlen aus Polen zu ermitteln, um sie in seine statistische Aufstellung für alle deutschen Diözesen einzubeziehen. Dies schrieb er am 7. Dezember 1942 an Kardinalstaatsekretär Maglione.64 Ein Briefwechsel zwischen Bertram und Wienken im Dezember 1942 zeigt nochmals zunächst die Schwierigkeiten, überhaupt verlässliche Personalstatistiken aus den Diözesen der eingegliederten Gebiete zu erhalten. Wienken konnte auf eine entsprechende Anfrage Bertrams nur mitteilen, aus der ihm übersandten Tabelle gehe hervor, dass „die Sterbefälle bei den inhaftierten nichtdeutschen Priestern der beiden Diözesen Kulm und Kattowitz im Jahre 1942 auffallend groß gewesen“ sei, dasselbe gelte für die Priester aus dem Warthegau.65 Dann aber hatte Bertram Wienken noch gefragt, ob dieser Bedenken habe, dass er – Bertram – für die in Dachau inhaftierten Weihbischöfe Kozal und Góral „aus konfraterneller Rücksicht dafür eintrete, daß diesen eine würdigere Unterkunft oder Freiheit zu rein wissenschaftlicher Beschäftigung gewährt werde“. Bemerkenswert erscheint die anschließende - etwas verklausulierte - Erwägung über die gegenüber den zuständigen Stellen vorzulegende Begründung eines eventuellen Antrags: „So wenig Humanitätsempfinden gegenüber den Polen als berechtigt erscheinen mag, dürfte doch immerhin die Standes-Konfraternität einige Bewer61 62 63 64 65

Ebd. Nr. 786/II (18.-20.8.), S. 837. Ebd. Nr. 786/II b (18.8.), S. 860-872. Ebd. Nr. 39*, S. 1055. Ebd. Nr. 803, S. 958. Bertram an Maglione 7.12.1942. Ebd. Nr. 806 (16.12.), S. 966 f.

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tung erhoffen können.“66 Die Antwort Wienkens zeigt, dass seine Bitte beim Reichssicherheitshauptamt um Entlassung der beiden Weihbischöfe nie ernsthaft geprüft wurde, wie ihm versichert worden war: Der Leiter der Kirchlichen Abteilung beim RSHA würde bei einer Reise nach München auch in Dachau Besuch machen. Wienken hoffte, nach dessen Rückkehr Auskunft zu erhalten, ob seine Bitte erfüllt werde. „Da aus den neu zu Deutschland gekommenen Gebieten immer dringendere Klagen und Anregungen an die Bischöfe des Altreichs ergingen“67, reichte Bertram im Dezember 1942 eine weitere Denkschrift des deutschen Episkopat bei der Reichsregierung ein, die ausführlich auf die trostlose religiöse Lage im Warthegau einging.68 Es wird festgestellt, „daß die gesamte polnische Geistlichkeit [...] festgenommen und in Konzentrationslager oder in das Generalgouvernement geschafft worden“ sei, darunter auch solche Priester, „die unter der polnischen Herrschaft sich für die deutsche Bevölkerung eingesetzt und für sie Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten hatten“. Die volksdeutschen Katholiken seien bitter enttäuscht, „daß ihnen von deutschen Staatsstellen das genommen worden sei, worum sie in dem ehemals polnischen Staate so sehr gekämpft hätten, und daß sie heute nicht einmal die Rechte zugebilligt erhielten, die ihnen selbst von den Polen eingeräumt worden seien.“. Darüber hinaus seien ihnen nicht einmal reichsdeutsche Priester für die Seelsorge gewährt worden. Die verbliebenen einheimischen Geistlichen, die „durch ihre Arbeit mitgeholfen haben, den durch die Polonisierungsbestrebungen gefährdeten deutschen Katholiken ihr deutsches Volkstum zu erhalten“, würden nun „wie Staatsfeinde behandelt und unter Staatspolizeiaufsicht gestellt“. Statt „die Volksdeutschen zum Reiche hinzuerziehen“, drängten die Parteiinstanzen und staatlichen Polizeiverwaltungen diese Menschen von Deutschland ab. Die Tagesordnung der Plenarkonferenz vom 17.-19. August 1943 behandelte zwar die Probleme in den eingegliederten Gebieten „ganz oben“, aber die „fast völlige Hilflosigkeit“ kam in der Aufforderung zum Ausdruck, in der Treue zur Kirche auszuharren.69 Vom Jahre 1943 an finden sich in den bischöflichen Akten keine Hinweise auf Interventionen für polnische Priester mehr. Im Mittelpunkt der Bemühungen der kirchlichen Stellen stand nunmehr der Protest gegen die kirchliche Trennung von Deutschen und Polen in den eingegliederten Gebieten.70 IV Für eine Beurteilung der kirchlichen Aktivitäten zugunsten der Kirche in Polen, besonders der inhaftierten polnischen Bischöfe und Priester ist zu berücksichtigen, dass die Zuständigkeit des Berliner Nuntius seit Juni 1942 und die Zuständigkeit des Reichskirchenministeriums als des Ansprechpartners für den deut66 67 68 69

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Ebd. Nr. 805 (13.12.), S. 964 f. - Kozał verstarb am 26.1.1943. Ebd. Nr. 807 (18.12.), S. 968, Anm. 2, Bertram an Lammers (18.12.1942). Ebd. S. 970 f. Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Bd. 6. 1943-1945. Bearb. von LUDWIG VOLK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE, Reihe A, Quellen, 38). Mainz 1985 [zitiert: Akten VI], Nr. 868/I (5.7.), S. 131-133 und 868/II.(17.-19.8.), S. 133-146. SAMERSKI (wie Anm. 51), S. 172 f. Akten VI (wie Anm. 69), Nr. 821 a (5.3.), S. 28-36, Nr. 845 (16.6.), S. 87-91, Nr. 848 (21.6.), S. 96 f., Nr. 890 a (1.10.), S. 241-252.

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schen Episkopat bereits seit 1940 auf das Altreich beschränkt war, d. h. für den Teil des Reiches, für den das Konkordat von 1933 abgeschlossen worden war. An diesen Führerbefehl haben sich aber weder das Päpstliche Staatssekretariat, noch die Nuntiatur, noch das Auswärtige Amt strikt gehalten71. Davon zeugen die oben behandelten Interventionen Orsenigos seit dem Sommer 1942, für die deshalb allerdings nur humanitäre Gesichtspunkte geltend gemacht werden konnten. Für die vorausgehenden Jahre ist dem Nuntius aber trotz mangelnder fachlicher Qualifikation, die ihm vorgeworfen worden ist, doch ein quantitativ bemerkenswerter Einsatz bei den staatlichen Stellen in den polnischen Angelegenheiten zu bescheinigen, die in den Kriegsjahren den wichtigsten Themenbereich bildeten und den relativ breitesten Raum einnahmen. Die Akten erweisen „neben zu raschem Einlenken doch immer wieder Unbeirrbarkeit, Entschiedenheit und Ausdauer des Nuntius“.72 Während der Nuntius von der Einschränkung seiner Zuständigkeit durch Staatsekretär Weizsäcker seit 1942 unterrichtet war73, erhielten die deutschen Bischöfe von der Beschränkung der Kompetenzen des Reichskirchenministers, die Bormann schon im Herbst 1940 durchgesetzt hatte74, keine Kenntnis, so dass die Eingaben Bertrams schon deshalb ins Leere liefen. Eine gewisse Selbstbeschränkung in seinen Handlungsmöglichkeiten legte sich Bertram durch den Rückzug auf Kompetenzfragen auf. Noch Anfang 1941 lehnte er die Übernahme des Bistums Kattowitz ab, und 1943 glaubte er, als deutscher Oberhirte nicht für polnische Priester in deutschen Konzentrationslagern eintreten zu dürfen. Die anfängliche Nichtanerkennung des Anschlusses der polnischen Okkupationsgebiete an das Reich – in dieser Frage folgte auch der Vatikan dem Votum Bertrams – behinderte sein Engagement für die Nachbardiözesen, bis im Sommer 1941 die alarmierenden Nachrichten auf der Plenarkonferenz der Bischöfe ihn zu einer Kurskorrektur veranlassten. Für die zunehmende Sorge um die Kirche in den Annexionsgebieten war jedoch eher die drohende Gefahr des Übergreifens der Verhältnisse im nationalsozialistischen „Mustergau“ auf das Altreich das vorherrschende Motiv. Schließlich ist als ein zentrales Handlungsmotiv Bertrams seine unerschütterliche Loyalität gegenüber der staatlichen Obrigkeit zu nennen.75 In der neueren Forschung sind Sinn und Zweck der Eingabenpolitik Bertrams zunehmend in Frage gestellt worden.76 Schon seit 1937, seit der Verkündigung der Enzyklika Mit brennender Sorge, gab es einen Richtungsstreit im deutschen Episkopat. Obwohl den deutschen Bischöfen mindestens seit dem Strategiepapier des Kölner Kardinals von 1937 der totalitäre Charakter des Dritten Reiches klar war, in dem nicht die Regierung, sondern die Partei der entscheidende Träger des politischen Willens war, zog sich das Ringen um die geeignete Strategie über Jahre 71 72 73 74 75 76

Notenwechsel III (wie Anm. 6), Einleitung, S. XXXIX f. Ebd. S. XXXV. Ebd. Nr. 934 (21.7.), S. 385 f., Nr. 938 (8.8.), S. 392, Nr. 939 (22.-23.8.), S. 403-409 und 941-943, S. 418-421. Vgl. dazu HEIM (wie Anm. 39), S. 571-579. Vgl. Akten V (wie Anm. 38), Anhang, Nr. 32* (28.8.), S. 1041 f. mit Anm. 1. Ausführlich dazu SAMERSKI (wie Anm. 51), bes. S. 158 f., 173, 160. JOACHIM KÖHLER, Adolf Kardinal Bertram (1859-1945). Sein Umgang mit dem totalitären System des Nationalsozialismus. In: Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur (wie Anm. 50), S. 175-193. KAZIMIERZ DOLA, Bertram aus der Sicht der polnischen Geschichtsschreibung. In: ARCHIV FÜR SCHLESISCHE KIRCHENGESCHICHTE 54 (1996[1997]), S. 55-69.

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hin. Die Forderungen nach einem entschiedenen, geschlossenen Vorgehen und auch einen öffentlichen Protest gegen antikirchlichen Maßnahmen des NSRegimes wurden seit 1941 immer stärker.77 Erst 1943 gelang es, gegen Verhinderungsversuche Bertrams, mit dem sog. Dekalog-Hirtenbrief (12. September) an die Öffentlichkeit zu treten, in dem erstmals auch das Eintreten für die in den Gottesrechten wurzelnden Menschenrechte als eine schlichte Erfüllung der bischöflichen Amtspflichten bezeichnet wurde. Die Frage, ob der nationalsozialistische Staat angesichts der beklagten Menschenrechtsverletzungen noch Anspruch auf Loyalität habe, wurde nur angedeutet, nicht geklärt.78 Bertram selbst hat bis zuletzt an der Loyalität diesem Staat gegenüber festgehalten. Deshalb stellte er in seinen Eingaben über die kirchlichen Verhältnisse in den eingegliederten Gebieten neben der seelsorglichen Argumentation den Nutzen für Volk und Staat und für die deutschen Katholiken in den Vordergrund. Ein öffentlicher Protest gegen die anarchischen Zustände kam für ihn nicht in Frage. Er setzte, wie auch Bischof Splett, auf „kluges Verhandeln“ mit den zuständigen Stellen, auch wenn er in zunehmendem Maß von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen überzeugt war. Die Lage Bischof Spletts und des Franziskanerpaters Breitinger in ihren Funktionen als Apostolische Administratoren in den Reichsgauen DanzigWestpreußen und Wartheland war ungleich schwieriger als die des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz im Reich. Die Reaktivierung von etwa 60 Kulmer Geistlichen, die aus den Gefängnissen und Lagern zurückkehrten, war nur möglich, weil ihnen Splett riet, sich in die Gruppe III der sog. Volksliste eintragen zu lassen.79 Die Verhaftungen von Priestern, die in polnischer Sprache die Beichte abnahmen, setzte die Geheime Staatspolizei auch als Druckmittel gegen den Bischof ein. Als er dagegen protestierte, wurden zehn Danziger Geistliche, die bereits am 1. September 1939 festgenommen worden waren, am Karfreitag (21. März) 1940 im Konzentrationslager Stutthof ermordet. Das daraufhin ausgesprochene Verbot des Gebrauchs der polnischen Sprache im Gottesdienst und Unterricht genügte der Gestapo nicht. Nach der Verhaftung weiterer sechs Priester gab Splett ihrer Forderung nach und erließ das höchst umstrittene Verbot des Gebrauchs der polnischen Sprache auch bei der Beichte. Damit erkaufte er sozusagen die Freilassung der inhaftierten Priester.80 Bischof Splett, der wegen seiner nationalen Haltung umstritten ist, hat sich aber nach übereinstimmendem Urteil der deutschen und polnischen Forschung durch die Reorganisation der Seelsorge in der Diözese Kulm auch „um die Polen verdient gemacht“, indem er die Seelsorge in Kulm mit Hilfe deutscher Priester mit den Umständen entsprechendem Erfolg reorganisierte81 oder – vorsichtiger ausgedrückt: Er konnte „im damals 77

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ANTONIA LEUGERS, Gegen eine Mauer bischöflichen Schweigens. Der Ausschuß für Ordensangelegenheiten und seine Widerstandskonzeption 1941 bis 1945. Frankfurt am Main 1996, bes. S. 83-106, 241-266, 275-289. HEINZ HÜRTEN, Deutsche Katholiken 1918 – 1945. Paderborn-München-Wien-Zürich 1992, S. 487-500, 523-529. STEFAN SAMERSKI, Bischof Splett als Apostolischer Administrator der Diözese Kulm. In: Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur (wie Anm. 50), S. 209-224 2001, hier S. 214. Zur Volksliste siehe GERHARD WOLF, Deutsche Volksliste. In: HANDBUCH DER VÖLKISCHEN WISSENSCHAFTEN. Hrsg. Von INGO HAAR. München 2008, S. 129-135. Ebd. S. 218. Ebd. S. 214. Ausführlich dazu: SAMERSKI (wie Anm. 39), bes. S. 310-318. DERS., Carl Maria Splett. Historische Grundlagen und Hintergründe. In: Ein Bischof vor Gericht. Der Prozeß gegen den Danziger Bischof Carl Maria Splett 1946. Hrsg. von ULRICH BRÄUEL und STEFAN SA-

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zulässigen Rahmen die pastorale Betreuung für die meisten Pfarreien organisieren [...], obwohl diese Tätigkeit in nationaler Hinsicht auch germanisatorische Elemente beinhaltete“.82 Die Zuständigkeit Breitingers als Apostolischer Administrator für die deutschen Katholiken83 beschränkte seinen Handlungsspielraum gegenüber den Polen fast völlig. Er „hat bei den politischen Behörden keinen Einspruch gegen die Behandlung der polnischen Priester und der polnischen Bevölkerung erhoben.“ Wenn Ks. Kazimierz Śmigiel diese Feststellung mit den Worten kommentiert, es sei „sehr schwierig zu beurteilen, welche Motivation dabei eine wesentliche Rolle spielte“, so ist dies angesichts der Aussagen des Autors über die guten Kontakte zu Weihbischof Dymek nicht ganz verständlich. Breitinger war Dymek gegenüber „loyal, jedenfalls offener als sein Vorgänger Paech. Weil [...] Besuche beim Weihbischof zu riskant waren, trafen sich beide Geistliche ungefähr alle zwei Wochen am Stadtrand von Posen, wo sie alle Probleme in Ruhe besprechen konnten“, sicher – wie hinzuzufügen ist – auch über eventuelle Eingaben bei den zuständigen Stellen. Mit einem Erfolg konnte Breitinger gewiss nicht rechnen, wie auch Śmigiel bemerkt84. Die Beurteilung der Haltung des Apostolischen Stuhls und der deutschen Amtsträger zur Verfolgung der Kirche Polens in den westlichen Diözesen des Landes durch die NS-Besatzungsmacht fällt naturgemäß je nach Standpunkt des Betrachters, aber auch angesichts der äußerst komplizierten politischen Verhältnisse nicht eindeutig aus. Robert Żurek beklagt nicht zu Unrecht die „fast völlige Passivität“ der deutschen Bischofskonferenz, erkennt aber an, dass vor allem die Bischöfe der Polen benachbarten Diözesen, auch der Breslauer Erzbischof, „zur wesentlichen Verminderung der menschlichen, materiellen und geistigen Verluste der polnischen Kirche beitrugen.“ Er kritisiert aber das Ausbleiben „einer radikalen, vielleicht sogar heroischen Reaktion der deutschen Bischöfe“ und zieht daraus den Schluss, „dass die Intensität und Entschlossenheit der Hilfsbemühungen deutscher Bischöfe in keinem Verhältnis zu den Nöten der polnischen Kirche stand.“ Andererseits stellt er fest, dass „die Frage, ob ein radikaleres Eintreten der deutschen Bischöfe die Lage der polnischen Kirche in der Tat wesentlich verbessert hätte, [...] offen bleiben“ muss.85 Unter den Ordinarien der östlichen Provinzen ragt das seelsorgliche Engagement des ermländischen Bischofs Maximilian Kaller heraus, wenngleich ihm und seinen Amtsbrüdern angesichts der politischen und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen nur wenige sichtbare Erfolge beschieden waren.

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MERSKI. Osnabrück 2005, S. 45-93, hier S. 65-77. Vgl. auch die positive Stellungnahme zu Spletts Verhalten von Bischof Szlaga, ebd. S. 21-23. WŁADYSŁAW SZULIST, Bischof Carl Maria Splett. Ein Beitrag zu seiner Biographie. In: Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur (wie Anm. 50), S. 225233, hier 232 f. mit Berufung auf ZYGMUNT ZIELIŃSKI, Epoka rewolucji i totalitaryzmów. Studia i szkice [Die Epoche der Revolutionen und Totalitarismen]. Lublin 1993, S. 150. Vgl. dazu HEIM (wie Anm. 39), S. 570 f. KAZIMIERZ ŚMIGIEL, Die Apostolischen Administratoren Walenty Dymek und Hilarius Breitinger. In: Katholische Kirche unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur (wie Anm. 50), S. 259-264, hier S. 264. ROBERT ŻUREK, Die Haltung der katholischen Kirche in Deutschland gegenüber den polnischen Katholiken im Zweiten Weltkrieg. In: INTER FINITIMOS 3 (2005) S. 11-51, hier S. 49 f.

Flucht und Vertreibung in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit Zwischen Medienereignis und dem Scheitern einer europäischen Erinnerung an die Zwangsmigrationen HANS-JÜRGEN BÖMELBURG Die „Flucht und Vertreibung“ der deutschen Bevölkerung gehört seit den 1950er Jahren in Westdeutschland, nach 1990 zunehmend auch in den neuen Bundesländern, zu den immer wieder neu erinnerten, durch Denkmäler, Museen, schöne Literatur, zuletzt Fernsehdokumentationen und Spielfilme verfestigten Teilen einer deutschen Erinnerung. Man kann geradezu von einem „deutschen Erinnerungsort“ sprechen – in die vor einigen Jahren erschienene Sammlung „Deutscher Erinnerungsorte“ fand das Stichwort „Flucht und Vertreibung“ denn auch Aufnahme. Es steht dort unter dem Oberbegriff „Volk“ zwischen dem „Bamberger Reiter“ und dem „Volkswagen“ – für die Herausgeber gehörte „Flucht und Vertreibung“ damit kategorial in einen Erinnerungsbereich, der in dem grundsätzlich nationalen Kontext einer „Deutschen Erinnerung“ noch eine gesteigerte Affinität zum Volksbegriff aufweist.1 Kann ein solcher nationaler Erinnerungsort par exellence in eine europäische Gedächtniskultur überführt werden? Und wenn ja, welche Bedingungen wären zu erfüllen, damit Flüchtlingstrecks, Austreibungsaktionen und Auffanglager zum Bestandteil eines europäischen Gedenkens werden? Diese Frage ist von der deutschen Öffentlichkeit ausgehend in den letzten zehn Jahren auch international breit diskutiert worden. Über das vom Bund der Vertriebenen hinaus geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin2 wurde 2002 ein „Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“ angeregt, das „gesamteuropäisch gedacht […] an das Schicksal der von Vertreibungen Betroffenen“ gemahnen sollte. Die damaligen Initiatoren der Erklärung, zwei deutsche und ein polnischer Historiker bzw. Politologe, sahen auf dem Weg zu einem solchen „europäischen Zentrum“ Stolpersteine, die in ausschließlich „national zentrierte“ Diskussionen einmündeten: „Deutsche Erinnerungskultur, die sich nicht in den historischen Kontext von Ursache und Wirkung stellt und nicht im Bewusstsein der vergleichbaren Einzelschicksale der Vertriebenen im Europa des 20. Jahrhunderts erinnert, muss mit ihrem von den europäischen Nachbarn Empathie einfordernden Anspruch scheitern und reißt neue Gräben zwischen den Völkern auf.“ Zugleich sei bei einem Erfolg viel gewonnen: „Wenn es gelänge, gemeinsam den schwierigen, emotional stark besetzten Komplex der Vertreibungen aufzuarbeiten, wäre dies für die Zukunft Europas ein wichtiges Signal.“3 1 2 3

Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von ÉTIENNE FRANÇOIS und HAGEN SCHULZE. Bd. 1. München 2001, S. 335-351. Vgl. dazu http://www.z-g-v.de mit der Darstellung der Stiftungsziele und -aktivitäten. DIETER BINGEN, STEFAN TROEBST, WŁODZIMIERZ BORODZIEJ, Erklärung zum internationalen wissenschaftlichen Kolloquium „Ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen. Histori-

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Im Jahre 2004 entstand unter maßgeblich deutscher Initiative ein „Netzwerk Erinnerung und Solidarität“, das getragen von deutschen, polnischen, ungarischen und slowakischen Mitteln mit einer Arbeitsstelle in Warschau beheimatet werden sollte, aber aufgrund der noch zu skizzierenden deutsch-polnischen Konflikte um eine angemessene transnationale Erinnerung seine Arbeit nicht aufnehmen konnte. Die tschechische Seite erklärte 2005, sich vorerst an dem Netzwerk nicht beteiligen zu wollen. Auch nach dem Regierungswechsel in Polen (November 2007), wodurch die politische Obstruktion gegen jegliche Behandlung der Zwangsmigrationen aufbrach, gelang es zunächst nicht, das Netzwerk auf europäischer Ebene in Gang zu bringen. Immer wenn es um eine Europäisierung der nationalen Erinnerungen an Zwangsmigrationen geht, werden Deutschland und Polen als Partner beschworen, die gemeinsam so etwas wie einen Nukleus einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft bilden sollen. Dieses Phänomen, das sicher auch in einem Kreis von besonders an der ermländischen Geschichte Beschäftigten auf Interesse stößt, hat inhaltliche wie allgemeinpolitische Ursachen, es ist jedoch nicht zwingend. Inhaltlich kann man anführen, dass historisch die deutsche und die polnische Gesellschaft in besonders starkem Maße von Zwangsmigrationen betroffen waren, und zwar sowohl auf der Seite der Vertreibungen Organisierenden – die deutschen Behörden 1939 bis 1943, die volkspolnischen Behörden 1945 bis 1949 – wie unter den Opfern. Deshalb gibt es in der deutschen wie in der polnischen Gesellschaft Bevölkerungsgruppen, die aufgrund des eigenen Vertreibungsschicksals Verständnis für andere entwickeln können. Man könnte diese potentielle (keinesfalls zwingend eintretende) Affinität unter die Formel „Vertreibungsschicksal als Brücke“ zusammenfassen. Dieser Weg ist auch beschritten worden: Der Berliner Kultursoziologe Wanja Ronge organisierte seit 1992 an der OderNeiße-Grenze Gesprächskreise, in denen sich deutsche und polnische Vertriebene gegenseitig ihre Lebenswege erzählten und stellte daraus eine Ausstellung mit einem Katalog zusammen.4 Mitte der 1990er Jahre fand ein deutsch-polnischer Erzählwettbewerb statt, an dem mit der Karta in Warschau und der Borussia in Allenstein zwei namhafte polnische Einrichtungen beteiligt waren und der Vertreibungserfahrungen als Brücke zwischen deutschen und polnischem Gedächtnis auffasste und aus dem ein deutsch- wie polnischsprachiger Sammelband hervorgegangen ist.5 Ein Problem stellte Ende der 1990er Jahre bereits der deutsche Vertreibungsbegriff dar, da im Polnischen wypędzenie wenig gebräuchlich und theologisch konnotiert ist, der häufiger verwandte Begriff der Zwangsaussiedlung (wysiedlenie) jedoch kein völliges Äquivalent zum deutschen Vertreibungsbegriff

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sche Erfahrungen – Erinnerungspolitik – Zukunftskonzeptionen“, Darmstadt 5.-7.12.2002. In: ZEITSCHRIFT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT 51 (2003) H. 1, S. 102-104. Ebenfalls abgedruckt in dem Sammelband: Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Hrsg. von DIETER BINGEN, WŁODZIMIERZ BORODZIEJ und STEFAN TROEBST (VERÖFFENTLICHUNGEN DES DEUTSCHEN POLENINSTITUTS, 18). Wiesbaden 2003, S. 316-318. WANJA W. RONGE, Und dann mussten wir raus. I wtedy nas wywieźli. Wanderungen durch das Gedächtnis von Vertreibungen der Polen und Deutschen 1939-1949. Wędrówki po obszarze pamięci o wypędzeniach Polaków i Niemców. Berlin 2000. Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich. Hrsg. von HANS-JÜRGEN BÖMELBURG, RENATE STÖßINGER und ROBERT TRABA. Olsztyn 2000, ²2006. Polnische Ausgabe: Wypędzeni ze wschodu. Wspomnienia Polaków i Niemcow. Hrsg. von HANS-JÜRGEN BÖMELBURG, RENATE STÖßINGER und ROBERT TRABA (ŚWIADECTWA, 1), Olsztyn 2001.

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darstellt. Die damaligen Herausgeber halfen sich mit dem Trick einer Partizipkonstruktion (wypędzeni – vertrieben), die im Polnischen besser funktioniert, zugleich aber die moralische Dimension des Vertreibungsbegriffs beinhaltet. Wiederholt habe ich bei Leseabenden aus dieser Auswahl in Polen die Erfahrung gemacht, dass die Erlebnisgeneration der sogenannten polnischen Repatrianten aus Nord- und Ostpolen auf deutsche Erfahrungen von Flucht und Vertreibung mit Empathie reagierten. Genannt werden muss in diesem Kontext auch der vom Historischen Verein für Ermland und der Borussia herausgegebene Band zum „Nachkriegsalltag in Ostpreußen“ – in einer identischen deutschen und polnischen Fassung erschienen, wo ebenfalls deutsche und polnische Migrationsschicksale versammelt sind.6 Ähnliche Publikationen liegen auch für andere Regionen vor.7 Allgemeinpolitisch galt das deutsch-polnische Verhältnis in den 1990er Jahren unter Politikern als Beispiel für eine gelungene Annäherung und Versöhnung von zuvor zutiefst verfeindeten Gesellschaften. Eine ganze Reihe von deutschpolnischen Lebensläufen schien die Gewähr für eine deutsch-polnische Mittlerschicht zu geben, die eine gemeinsame Erinnerung verbreiten könne. Ich habe bewusst die Vergangenheitsform benutzt, denn dies gilt grosso modo für die 1990er Jahre, höchstens bis 2002. Seitdem sind in der deutschen wie polnischen Öffentlichkeit die Zwangsmigrationen 1939-1949 eher als Objekte wechselseitiger Aufrechnungen denn als gemeinsame und damit verbindende historische Erfahrungen gesehen worden. Eine Integration der Zwangsmigrationen in eine deutschpolnische Erinnerung kann deshalb vorläufig als weitgehend gescheitert angesehen werden. Warum das so ist, soll im Folgenden am deutsch-polnischen Beispiel skizziert werden. Dabei geht es um vier Komplexe: Erstens um den differierenden nationalen Erinnerungs- und Erzählrahmen in Deutschland und Polen, der Gespräche über die Zwangsmigrationen immer wieder der Gefahr des Nicht-Verstehens und von Missverständnissen aussetzt. Zweitens um das wiederholte Scheitern einer deutsch-polnischen Kommunikation zu dem Thema in den letzten sechs Jahren, das eine Hypothek misslungener Kommunikation aufgehäuft hat und von nationalen Fraktionen auf beiden Seiten ausgenutzt wurde. Drittens um die transnationale Dimension der Kontroversen um Zwangsmigrationen: Unter den Bedingungen eines politischen Populismus und europäisch vernetzter Medien sahen und sehen sich Akteure auf beiden Seiten gezwungen, „nationale Anliegen“ zu vertreten. Viertens beruhen die Debatten um die Zwangsmigrationen jeweils auf nationalen Selbstthematisierungen und Debatten, die international nur teilweise vermittelbar sind und deren „blinde Flecke“ deutlich hervortreten.

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Nachkriegsalltag in Ostpreußen. Erinnerungen von Deutschen, Polen und Ukrainern. Hrsg. von HANS-JÜRGEN KARP und ROBERT TRABA. Münster 2004. Polnische Ausgabe: Codzienność zapamiętana. Warmia i Mazury we wspomnieniach. Hrsg. von HANS-JÜRGEN KARP und ROBERT TRABA (ŚWIADECTWA, 2), Olsztyn 2004. Wieża Babel. Der Turm zu Babel. Hrsg. von ZBIGNIEW PIOTROWICZ. Lądek Zdrój 2004 (zweisprachige Sammlung von deutschen und polnischen Erinnerungsberichten zur Grafschaft Glatz).

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Differierende nationale Erinnerungs- und Erzählrahmen Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ist in den einzelnen nationalen Diskursen sehr stark in einen jeweils spezifischen Erinnerungs- und Erzählrahmen eingespannt: So setzte die deutsche familiäre Erinnerung, wie die Schilderungen der Erlebnisgeneration an Flucht und Vertreibung, erst ein, als die ersten deutschen Flüchtlinge in den Heimatorten auftauchen oder die deutschsowjetische Front näher rückt: im Herbst 1944, Winter 1945. Andere Zwangsmigrationsprozesse werden dagegen in diesen Erzählrahmen nicht integriert: etwa die Entrechtung und Vertreibung der Juden im Deutschen Reich seit 1933, weiterhin die massenhaften Vertreibungen polnischer Bevölkerung in Westpreußen und Großpolen seit dem Herbst 1939. Auch die in Ostpreußen in der Landwirtschaft ab 1940 in großer Zahl eingesetzten polnischen Zwangsarbeiter werden in der deutschen Erinnerung nur selten als Teil von Zwangsmigrationen konzeptionalisiert, obwohl es sich hierbei unzweifelhaft um Deportierte handelt. Im kirchlichen Kontext gilt dies oft für die Vertreibung und Ermordung polnischer Priester: Von den 700 Geistlichen der Diözese Kulm wurden zwischen 1939 und 1945 214 ermordet und über 230 vertrieben – diese Opfer werden in deutschen Veröffentlichungen selten in den Kontext von Vertreibungsvorgängen und „ethnischen Säuberungen“ gestellt. In mancher Hinsicht spiegelverkehrt ist der polnische Erinnerungsrahmen an Vertreibungsvorgänge konstruiert: Im Zentrum stehen natürlich die in die deutschen Konzentrationslager eingewiesenen Polen, weiterhin die 1939 bis 1941 Deportierten – sei es aus Großpolen und Westpreußen in das Generalgouvernement, sei es aus Ostpolen nach Zentralrussland oder Sibirien. Von staatlicher Seite wurden in den letzten Jahren insbesondere der Warschauer Aufstand als „Volksaufstand“ und die Deportation der gesamten überlebenden Warschauer Bevölkerung (ca. 500.000 Personen) im Herbst 1944 akzentuiert – 2004 wurde in Warschau das Museum des Warschauer Aufstandes als das zurzeit modernste polnische Museum eröffnet, das derzeit die höchsten Besucherzahlen aller polnischen Museen aufweist.8 Schließlich spielen in der polnischen Publizistik die Massenmorde und Vertreibungen der polnischen Bevölkerung in Wolhynien 1943/44 eine erhebliche Rolle, denen ca. 400.000 Personen – ca. 80.000 Tote und über 300.000 Vertriebene zum Opfer fielen. Strukturell ist die deutsche Formel von „Flucht und Vertreibung“, die in der Bundesrepublik erst in den frühen 1950er Jahren kanonisiert wurde, auf die polnischen Opfer von Zwangsmigrationen nur eingeschränkt anwendbar. Es handelte sich in der Regel nicht um Fluchtvorgänge, während andererseits insbesondere Lagereinweisungen die polnische Wahrnehmung prägen. Unter anderem deshalb ist der deutsche Vertreibungsbegriff im kommunistischen Volkspolen abgelehnt und auch in der öffentlichen Diskussion der letzten fünf Jahre – nach einer vorübergehenden stärkeren Verwendung in den 1990er Jahren – nur mit großer Reserve aufgenommen worden. Im Polnischen spricht man nur selten von Vertreibung (wypędzenie), quantitativ am häufigsten wird dagegen der Begriff wysiedlenie (Zwangsaussiedlung) verwandt. Tatsächlich stehen bei den Zwangsmigrationen polnischer Bevölkerung oft Deportationen – in Lager, aus den Großstädten, zur Zwangsarbeit – im Vorder8

Mehrsprachiges Portal unter http://www.1944.pl. (17.5.2011).

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grund. In vielen Fällen war auch nach 1945 eine Rückkehr möglich, so dass auch die Vorstellung des dauerhaften Heimatverlusts als eines örtlichen Verlusts nicht zutrifft. Diese Tatsache darf nicht verdecken, dass die Rückkehr in die völlig zerstörten und unter stalinistischen Bedingungen wieder aufgebauten Städte Verlust-, Entbehrungs- und Verzichtserfahrungen beinhaltete, die mit denen der deutschen Vertriebenen vergleichbar sind. Keine polnische Großstadt überstand die Jahre 1939-45 ohne teilweisen Austausch der Bevölkerung und Bruch städtebaulicher Strukturen: Nimmt man nur die bedeutendsten, so spricht die Reihe mit Warschau (ca. 50 % Bevölkerungsverlust und fundamentale Veränderung des städtebaulichen Netzes), Lodz (über 40 % Bevölkerungsverlust bzw. -austausch, Erhalt der Stadtarchitektur) und Krakau (20 % Bevölkerungsverlust) für sich. Stellt man den deutschen und den polnischen Erinnerungsrahmen und die benutzten Erzählmuster nebeneinander, so muss zunächst die differierende Zäsursetzung erwähnt werden: Polnische Erzählungen setzen durchweg 1939 ein. Sie enden manchmal 1944/45, werden aber nicht selten bis Ende der 1940er Jahren fortgeführt und thematisieren dann durchaus die Lebensverhältnisse und die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung. Demgegenüber ist die zeitliche und inhaltliche Varianz der deutschen Erzählungen durchweg geringer – sie greifen nur in seltenen Fällen bis 1939 zurück und berücksichtigen nur ausnahmsweise auch Zwangsmigrationen nichtdeutscher Bevölkerungen. Ich stütze mich bei diesen Aussagen auf ein deutsch-polnisches Sample von über 200 Berichten, die 1996/97 verfasst wurden – offen muss dabei bleiben, ob sich diese Relationen zehn Jahre später verschoben haben. Angesichts der medialen Präsenz, mit der fiktionale Spielfilme wie Die Flucht oder Die Gustloff Flucht und Vertreibung ausschließlich der deutschen Bevölkerung einem breiten Publikum nahebringen, steht nicht zu erwarten, dass eine vergleichende europäische Wahrnehmung des Themas entsteht. Anhand von Umfragen zur Wahrnehmung des Begriffs Vertreibung bei Schülern konnte gezeigt werden, dass seit den 1990er Jahren auch stärker aktuelle Vertreibungsvorgänge (Jugoslawien, Darfur) assoziiert wurden.9 57 % der deutschen Schüler gaben an, über die Vertreibung der Deutschen nichts zu wissen, 83 % verneinten jegliches Wissen über die Vertreibung von Polen. Antworten auf die Frage nach der Vertreibung der Polen waren durchgängig falsch.10 Fragt man, unter welchen Bedingungen eine Konvergenz einer deutschen und polnischen Erinnerung an Zwangsmigrationen möglich wäre, so müsste auf beiden Seiten stärker auf einen Erzählrahmen für den gesamten Zeitraum 1939-1949 hingewirkt werden. Etwa im ostpreußischen Fall wären hier die Konflikte um die Polenseelsorge integrierbar und sollten unbedingt die polnischen Zwangsarbeiter stärker thematisiert werden – hier liegt eine der Lücken der Zeitgeschichte.

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THOMAS PETERSEN, Flucht und Vertreibung aus Sicht der deutschen, polnischen und tschechischen Bevölkerung. Bonn 2005. THOMAS STROBEL, ROBERT MAIER und STEFANIE WOLTER, Die Vertreibungsproblematik im Bewusstsein deutscher Schüler. Das Ergebnis von Umfragen. In: Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik. Hrsg. von THOMAS STROBEL und ROBERT MAIER (STUDIEN ZUR INTERNATIONALEN SCHULBUCHFORSCHUNG, 121). Hannover 2008, S. 135-143, hier 142-142.

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Das wiederholte Scheitern einer deutsch-polnischen Kommunikation Eine dauerhafte Hypothek einer gemeinsamen deutsch-polnischen Erinnerung liegt in Verfälschungen, Sprachregelungen und Tabuisierungen gegenüber der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung, die in der Volksrepublik Polen bis 1989 systematisch aufgebaut und konkurrenzlos über die Massenmedien verbreitet wurden. Zu nennen sind vor allem vier Rechtfertigungspositionen: 1) Die deutsche Bevölkerung sei bereits 1945 geflohen; 2) infolge des deutschen Terrors im Zweiten Weltkrieg sei der Bevölkerungstransfer ein notwendiger und Konflikte lösender Ausweg gewesen, da jegliche Basis für ein nachbarschaftliches Zusammenleben zerstört worden sei; 3) die Aussiedlung habe ausschließlich in Verantwortung der Alliierten gelegen, deren Festlegungen „ordentlich“ und „human“ ausgeführt worden seien und schließlich 4) die polnische Bevölkerung sei auf „altpolnische Territorien“ zurückgekehrt. Zugleich leugneten die Medien in der Volksrepublik Polen jegliche polnische Verantwortung für Verbrechen an Deutschen, ja offizielle Vertreter stritten die Möglichkeit ab, dass es zu solchen gekommen sei. Die Resonanz dieser Manipulationen auch über 1989 hinaus bis auf den heutigen Tag ist nicht bezifferbar – immerhin wuchsen zwei Generationen von Polen ausschließlich mit diesen Positionen auf. Zudem drangen solche Rechtfertigungspositionen auch in die polnische Opposition ein – bemerkenswert ist, dass es vor 1980 keinen oppositionellen Dissens gegen das Verschweigen der Zwangsaussiedlungen der Deutschen gab. Auch das vielfach zitierte Schreiben der polnischen an die deutschen Bischöfe vom November 1965 spricht die Vertreibung der Deutschen nur sehr vorsichtig an: „Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist, wie wir wohl verstehen, für Deutschland eine äußerst bittere Frucht des letzen Massenvernichtungskriegs – zusammen mit dem Leid der Millionen von Flüchtlingen und vertriebenen Deutschen (auf internationalen Befehl der Siegermächte – Potsdam 1945! – geschehen). Ein großer Teil der Bevölkerung hatte diese Gebiete aus Furcht vor der russischen Front verlassen und war nach Westen geflüchtet. […] Versuchen wir zu vergessen. […] In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin […], gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“11 Eine Textanalyse zeigt, dass eine polnische Verantwortung allerdings sorgfältig vermieden wird, wobei sicherlich auch der Druck des polnischen Regimes auf die Kirche zu berücksichtigen ist. Die berühmt gewordene Formel „wir […] gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ weist keinen eindeutigen Bezug auf, wurde von den Zeitgenossen jedoch oft als Schuldeingeständnis auch gegenüber der Vertreibung gelesen. Im nachhinein interpretierten das auch beide Partner so: 1990 erklärte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Lehmann, der polnische Primas Glemp habe versichert, dass die Botschaft „das tiefe Bedauern über das Leiden der Vertreibung einschließe“12. Allerdings ist diese spätere Interpretation nur 11

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EDITH HELLER, Macht Kirche Politik. Der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen im Jahre 1965. Köln 1992, S. 194. Der Briefwechsel ist auch auf der Homepage der Polnischen Botschaft in Berlin verfügbar: http://www.berlin.polemb.net/index.php?document=312 (17.5.2011). Ebd. S. 194.

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bedingt stichhaltig. Im Vordergrund des polnischen Briefs steht ein überzeitliches theologisch-christliches Anliegen, die Bitte um Verzeihung und Versöhnung. Erkennbar wird zugleich, dass auf polnischer Seite insbesondere das biblischkirchliche Narrativ Begriffe und Formeln für ein Schuldeingeständnis und eine vorsichtige „Politik der Schuld“ bereitstellte. Zugleich löste die Reaktion des deutschen Episkopats – man sprach vom Schicksal der Vertriebenen als polnischer Schuld13 – in Polen eine heftige Kampagne aus, in deren Verlauf den Bischöfen die nationale und staatsbürgerliche Loyalität abgesprochen wurde. Dazu nur ein Zitat aus der Trybuna ludu – der offiziellen polnischen Parteizeitung – vom Dezember 1965: „Die Unbequemlichkeiten, Mängel und Zwischenfälle, die diese Repatriierung begleiteten […], fanden sich auf einer Ebene mit sechs Millionen kaltblütig und auf grausamste Weise ermordeten Juden.“14 In der polnischen Gesellschaft fand diese Kampagne teilweise Resonanz und bewies die Mobilisierungskraft des Themas sogar gegen die katholische Hierarchie. In diesen innenpolitischen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre fand die polnische katholische Kirchenhierarchie keine offizielle Unterstützung in der Bundesrepublik Deutschland, weder von Seiten der deutschen Bischöfe noch von den deutschen Vertriebenenverbänden – eine von manchen verpassten Chancen für einen konstruktiven Dialog. Rückblickend und sehr diplomatisch formulierte der Erzbischof von Lublin, Professor Józef Życzyński, im Tygodnik Powszechny vom 22.5.2004: Es gibt „keinerlei Dokumente […], die eine positive Reaktion des BdV zeigen würden. Dies gilt insbesondere für die Jahre 1965/66, als der Episkopat in Polen ständigen Attacken ausgesetzt war. Damals wäre jede Stimme, die sich mit dem Episkopat solidarisch erklärt hätte, Ausdruck der geistlichen Unterstützung gewesen, die Kardinal Wyszyński damals so nötig brauchte.“ In vieler Hinsicht stellte der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen mithin eine verpasste Chance für einen deutsch-polnischen Dialog über Zwangsmigrationen dar, der während der Existenz der Volksrepublik Polen jedoch nur unter großen Einschränkungen zu führen war.15 Anders sah es bereits in den 1990er Jahren aus, als ab 1993 im freien Polen eine lebhafte Debatte über den Charakter der Aussiedlungen, die dabei verübten Verbrechen, die Opferzahlen sowie die Beteiligung und Verantwortung polnischer Behörden in Gang kam. Sie entwickelte sich teilweise in auflagestarken polnischen Tages- und Wochenzeitungen und erreichte auf diesem Wege mehrere hunderttausend potentielle Leser. Neben Warschau fand sie vor allem in Breslau und anderen Großstädten statt. Aufgrund der Austragsform – umfangreiche Presseartikel, Reportagen usw. – blieb die polnische Auseinandersetzung mit der Zwangsaussiedlung der Deutschen jedoch auf die intellektuelle Öffentlichkeit beschränkt – etwa das polnische Fernsehen beteiligte sich an der Diskussion nur randständig und ohne eigene Produktionen. Kontrovers wurden insbesondere die moralischen Aspekte der Verantwortung für die Vertreibungen diskutiert; ein aus den Diskus-

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Ebd. S. 180 f. Ebd. S. 147 f. (Trybuna ludu, 13.12.1965). Ausführlicher zu dem Thema: HANS-JÜRGEN BÖMELBURG, Gestörte Kommunikation. Der polnische Monolog über Flucht und Vertreibung und seine deutsch-polnischen Ursachen. In: MITTELWEG 36 14 (2005), Juni/Juli, S. 35-52.

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sionen hervorgegangener Textband trug im Polnischen den Titel „Sich für die Vertreibung entschuldigen?“16 Fragt man, welche Formen der Erinnerung und Darstellung in diesen polnischen Debatten gewählt wurden, so tritt eine Reihe von markanten Veränderungen gegenüber dem älteren Dispositiv hervor. Völlig neu war das Gewicht, mit dem nun auch deutsche Opfer thematisiert und teilweise empathisch dargestellt wurden. Der verbreitete Mantel des Verschweigens, der nach 1945 über am Ort begangene Verbrechen an Deutschen gedeckt worden war, wurde dabei kritisch thematisiert: Eine sinnvolle Politik gegenüber der eigenen Schuld könne vor Ort nur in einem angemessenen Gedenken und einer Aufarbeitung auch von polnischen Verbrechen bestehen.17 Die Brücke, über die ein solcher Opferdiskurs möglich wurde, bildete die Zwangsaussiedlung der Polen und Deutschen als zwar zeitgenössisch getrennte, aber in der historischen Perspektive gemeinsame Erfahrung. Diese Perspektive wurde von offizieller Seite unterstützt, etwa äußerte der damalige Außenminister Władysław Bartoszewski 1995 vor dem deutschen Bundestag und Bundesrat: „Da man nun über das Schicksal der Aussiedler aus Lemberg und Wilna sprechen darf, ist es auch leichter, die menschliche Dimension des Dramas der Aussiedlungen aus Breslau […] zu erblicken. […] Ich möchte es offen aussprechen, wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben. […] Als Volk, das vom Krieg besonders heimgesucht wurde, haben wir die Tragödie der Zwangsumsiedlungen kennen gelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. Wir erinnern uns daran, dass davon auch unzählige Menschen der deutschen Bevölkerung betroffen waren und dass zu den Tätern auch Polen gehörten.“18 Dieser Diskurs einer gemeinsamen Opfererfahrung besaß in der polnischen Öffentlichkeit eine begrenzte Reichweite19, stieß allerdings in der lebensweltlich und kommunikativ tief verankerten Vorstellung von den Deutschen als den Tätern an seine Grenzen. Insgesamt blieb die polnische Diskussion der 1990er Jahre ein Elitendiskurs, der nur ansatzweise eine breitere Bevölkerung erreichte. Vor Ort spielten in dieser Phase Kontakte mit deutschen Besuchern, die an die Stätten ihrer Kindheit zurückkehrten, eine erhebliche Rolle und stellten das Opfer-TäterSchema in Frage. Selbst jahrzehntelang in der volkspolnischen Presse verteufelte Vertriebenenfunktionäre wie Herbert Hupka (1915-2006) fanden nun in Polen Gesprächspartner.20 Neben einer intensiven wissenschaftlichen Aufarbeitung21 in 16 17

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Przeprosić za wypędzenie? Hrsg. von KLAUS BACHMANN und JERZY KRANZ. Kraków 1997. Vgl. etwa die Aufarbeitung der Morde in Nieszawa (Nessau) im März 1945 an ca. 15 einheimischen Volksdeutschen im TYGODNIK POWSZECZNY 9/2000 (Beitrag von JĘDRZEJ MORAWIECKI) und die weiteren Berichte über den Umgang mit dem Geschehen vor Ort und über die Gedenkfeier vom Herbst 2000. In Nieszawa wurde im September 2004 ein gemeinsames deutsch-polnisches Denkmal enthüllt. FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 29.4.1995. Eine Umfrage in Polen vom 23.-24.8.2003 ergab, dass 57 % der Polen die Deutschen wie die Juden, Polen und Sinti und Roma als Opfer des Zweiten Weltkriegs sahen. 43 % lehnten diese Perpektive ab. Vgl. RZECZPOSPOLITA vom 28.8.2003. Die Erinnerungen Hupkas wurden ins Polnische übersetzt: HERBERT HUPKA, Niespokojne sumienie. Wspomnienia. Warszawa 2001. Hupka war seit Anfang der 1990er Jahre ein häufig eingeladener Gast in Polen. Die Aufzählung auch nur der namhaftesten wissenschaftlichen Publikationen sprengt den Beitrag. Genannt seien nur drei zentrale Veröffentlichungen, da sie jeweils auch die Vertreibungsop-

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polnischer Sprache wurden zentrale Positionen dieser polnischen Vertreibungsdebatte 1998 in einer deutschsprachigen Ausgabe unter dem Titel „Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen“22 präsentiert. Bemerkenswert ist, dass der Band und die damit verbundene Diskussion zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurden. Der Band wurde daraufhin 1999 mangels Interesse vom Verlag aus dem Buchhandel zurückgezogen. Zu diesem Zeitpunkt Ende der 1990er Jahre gab es in der deutschen Öffentlichkeit außerhalb des engen Kreises von Polenspezialisten keinerlei Wahrnehmung, dass das Thema Vertreibung bei dem östlichen Nachbarn intensiv diskutiert wurde. Hier muss man eindeutig von einer verpassten Chance eines Dialogs sprechen, was auch in dem geringen Stellenwert, den Polen im Bewusstsein der damaligen deutschen Öffentlichkeit hatte, begründet liegt. Nur begrenzte Impulse für einen offenen Dialog kamen auch aus der katholischen Kirche in Polen ebenso wie in Deutschland, wo die polnische Diskussion über Zwangsmigrationen eher distanziert verfolgt wurde. Zwar trafen sich die deutschen und polnischen Bischöfe 1990 und 1995 aus Anlass des Briefwechsels von 1965, doch blieben Ergebnisse – etwa kirchliche Projekte zu den Zwangsmigrationen – aus. Wichtig war sicher der Beitrag des katholischen Krakauer Wochenblatts Tygodnik Powszechny, das 1995/96 eine umfangreiche Artikelserie über die Zwangsaussiedlungen der Deutschen veröffentlichte. Zugleich gewann jedoch in den 1990er Jahren das Thema der Übernahme der ostdeutschen Diözesen durch Kardinal August Hlond (1881-1948) erneut Brisanz, zumal ein Antrag auf die Seligsprechung von Hlond vorbereitet wurde, der für viele deutsche Geistliche ein Exekutor der Polonisierung der ostdeutschen Diözesen blieb.

Transnationale Kontroversen um Zwangsmigrationen unter den Bedingungen eines politischen Populismus und europäisch vernetzter Medien Spätestens seit dem Frühjahr 2002, als die polnischen Publizisten Adam Krzemiński und Adam Michnik in die deutschen Diskussionen um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ eingriffen und vorschlugen, ein solches Zentrum nicht in Berlin, sondern als internationales Projekt im polnischen Breslau einzurichten, entstand eine deutsch-polnische Debatte. Krzemiński und Michnik argumentierten, das ehemals deutsche und heute polnische Breslau, die größte europäische Stadt, die einen vollständigen Bevölkerungsaustausch zu verkraften hatte, eigne sich besser für eine Europäisierung der nationalen Gedächtnisse und wecke in

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fer und –leiden unter der deutschen Bevölkerung thematisierten: Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybór dokumentów. Hrsg. von WŁODZIMIERZ BORODZIEJ und HANS LEMBERG. 4 Bde. Warszawa 2000-2001 (deutsch unter dem Titel „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden…“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. 4 Bde. Marburg 2000-2004.). Der abweichende deutsche Titel – im Polnischen „Deutsche in Polen“ – ist eine Folge von Interventionen aufgrund deutscher Sprachregelungen. – Die Lager in Oberschlesien, in denen 1945-1949 Deutsche interniert wurden, wurden jeweils monographisch bearbeitet: EDMUND NOWAK, Lager im Oppelner Schlesien im System der Nachkriegslager in Polen (1945-1950). Opole 2003 (auf der Basis mehrerer polnischsprachiger Veröffentlichungen des Autors). Obóz pracy w Świętochłowicach w 1945 roku. Dokumenty, zeznania, relacje, listy [Das Arbeitslager in Schwientochlowitz 1945. Dokumente, Aussagen, Berichte, Briefe]. Hrsg. von ADAM DZIUROK. Warszawa 2002. Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen. Hrsg. von KLAUS BACHMANN und JERZY KRANZ. Bonn 1998.

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Polen weniger Ängste. Während die deutschen Parteien auf die Initiative zunächst nicht oder abwägend reagierten, erregte die Antwort von Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, in Polen Aufsehen. In einem offenen Brief an Adam Michnik erklärte sie, man könne sich nicht „eines dramatischen Teils der deutschen Geschichte entledigen, indem man diesen nach Polen deportiere“. Die Ausstellung gehöre nach Berlin, wo sie das Schicksal der deutschen wie auch der anderen europäischen Vertriebenen dokumentieren werde. Wenn sich die Polen dieses Themas ebenfalls annehmen wollten, so sei dies zu begrüßen.23 Abgesehen von der Wortwahl wurde hier ignoriert, dass zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren in Polen eine Debatte zum gleichen Thema existierte. Der Vorschlag, ein internationales „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Breslau einzurichten, war weder mit der Breslauer Stadtöffentlichkeit abgesprochen worden, noch konnte er auf einen breiten Konsens innerhalb der polnischen Öffentlichkeit rechnen. Teile der Breslauer städtischen Öffentlichkeit wandten sich folgerichtig gegen ein solches Zentrum, da dieses die neu gewonnene polnische Identität der städtischen Bevölkerung untergrabe und in erster Linie deutschen Interessen diene.24 Politische Reaktionen im Sommer 2002 richteten sich insbesondere gegen die ungewohnte Terminologie, lehnten aber ein internationales Zentrum gegen Zwangsmigrationen nicht prinzipiell ab.25 Zwei Komplexe mobilisierten jedoch die polnische öffentliche Meinung zwischen Sommer 2002 und Herbst 2003 und sorgten für einen gänzlich anderen Blick insbesondere auf die deutschen Vertriebenenverbände, die Urheber und Protagonisten eines „Zentrums gegen Vertreibungen“. Damit verengte sich die polnische öffentliche Wahrnehmung ausschließlich auf die deutschen Vertriebenenverbände, deren Vorsitzende Erika Steinbach und das geplante Zentrum, mit unabsehbaren und dauerhaften Kollateralschäden für die allgemeine Behandlung der historischen Zwangsmigrationen und Vertreibungen. Erstens verbanden deutsche Vertriebenenkreise ethisch-moralische Anliegen (Ächtung von Vertreibungen) mit materiellen Forderungen 26: Im Sommer 2002 prägten einzelne Vertriebenenverbände und Politiker der bayerischen CSU den Begriff Bierut-Dekrete – eine historisch irreführende Parallelbildung zu den sogenannten tschechischen Beneš-Dekreten –, die in der Folge für die Vertreibung und Enteignung der Deutschen aus Polen verantwortlich gemacht wurden. Die Begriffsbildung bezog sich in diffamierender Absicht auf den stalinistischen Politiker Bolesław Bierut (1892-1956), entsprach nicht dem internationalen Kontext der Westverschiebung Polens und berücksichtigte nicht die Tatsache, dass die deutschen Vertriebenen mehrheitlich keine polnischen Staatsbürger gewesen waren. 23 24 25

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Zitiert nach dem Abdruck in der GAZETA WYBORCZA vom 19.5.2002. Die Zeitung war zu diesem Zeitpunkt die auflagenstärkste polnische Tageszeitung (Auflage ca. 500.000 Exemplare). Vgl. z. B. Wrocław boi się Niemców [Breslau hat Angst vor den Deutschen]. In: GAZETA WYBORCZA vom 16.5.2002. So zum Beispiel eine polnische Abgeordnetengruppe in Berlin: „Das größte Problem für die polnischen Gäste war nicht die Idee eines solchen Zentrums (nur der Senator der Samoobrona Henryk Dzido kritisierte sie, denn dies gehe an den unterschiedlichen Ursachen der Vertreibung von Deutschen und Polen vorbei), sondern dessen Benennung. Ryszard Kalisz (SLD) […] führte aus, der Begriff ‚Vertreibung’ habe infolge der 40jährigen kommunistischen Propaganda deutlich ‚negative, antipolnische Konnotationen’.“ GAZETA WYBORCZA vom 5.6.2002. Die bereits für die deutsche Öffentlichkeit kaum zu durchschauende Differenzierung zwischen Position des BdV, denjenigen einzelner Landsmannschaften und mancher Vertriebenenfunktionäre ist in Polen nicht zu vermitteln.

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Gefordert wurden die pauschale Aufhebung der angeblichen Dekrete und die Rückerstattung deutschen Eigentums. Obwohl polnische Wissenschaftler nachweisen konnten, dass die Dekrete gegen die Volksdeutschen bereits 1949/50 aufgehoben worden waren, entstand hierdurch in der polnischen Presse der Eindruck, die deutsche Öffentlichkeit wie Teile der Politik verknüpften die historisch-moralische Diskussion um die Vertreibungen mit aktuellen juristischen Rückerstattungs- und materiellen Entschädigungsforderungen. Diese Wahrnehmung wurde seitdem kontinuierlich durch partikulare Initiativen von deutscher Seite verfestigt. Die Tätigkeit der Preußischen Treuhand (gegr. 2001) wurde seit Herbst 2003 intensiv von polnischen Medien verfolgt bzw. prognostiziert.27 Sie wurde nicht als Tätigkeit einer extremistischen Minderheit aufgefasst, sondern – mit Blick auf die Alteigentümerpraxis in der ehemaligen DDR und die langjährige verdeckte Unterstützung von Entschädigungsforderungen durch die bundesdeutsche Diplomatie – als Ausdruck von in Deutschland verbreiteten Forderungen verstanden. Das polnische nationale Parteispektrum reagierte seit 2003 mit lokalen Aufstellungen der Kriegsschäden28 und einer Förderung von Verbänden, die ihrerseits Entschädigungsforderungen an die deutsche Seite richten.29 2004 entstand in Gdynia eine „Polnische Treuhand“ (Powiernictwo Polskie), die eine Vierteljahresschrift herausgibt, in alarmistischen Tönen vor der Gefahr eines deutschen Revisionismus warnt und Entschädigungsklagen polnischer NS-Opfer vorbereitet.30 Für letzteres gab es durchaus gesamtpolnische Unterstützung: Nachdem das polnische Parlament in einer Resolution (10.9.2004) die Regierung aufgefordert hatte, mit der deutschen Regierung Gespräche über Reparations- und Entschädigungsfragen zu führen31, bereitete die polnische Diplomatie eine Dokumentation zu den polnischen Kriegsschäden, der Diskussion um Reparationen und deutschen „Wiedergutmachungszahlungen“ vor.32 Die Frage blieb weiter aktuell und 27

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Überblick über polnische Stimmen: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 6.10.2003. Wie wenig sensibel die Organisatoren auch der Namenswahl ihrer Einrichtung vorgingen, macht ein Blick auf die Terminologie deutlich: Die „Preußische Treuhand“ knüpft begrifflich unmittelbar an nationalsozialistische Einrichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg wie die „Haupttreuhandstelle Ost“ an, die das enteignete jüdische und polnische Vermögen verwaltete. Nur einige Beispiele zur Illustration: Der Rat der Stadt Warschau beauftragte den damaligen Oberbürgermeister Lech Kaczyński am 6.11.2003, eine Entschädigung für die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg von deutscher Seite zu verlangen. Die zu diesem Zweck erstellte Expertise liegt inzwischen vor: Raport o stratach wojennych Warszawy [Bericht über die Kriegsverluste Warschaus]. Hrsg. von WOJCIECH FAŁKOWSKI [u. a.]. Warszawa 2004 (Schätzung der Verluste Warschaus in heutiger Währung auf 45,3 Milliarden US-$). - Ähnliche Aufstellungen bereiten auch andere polnische Städte vor, vgl. etwa die im Zweiten Weltkrieg zu 95 % zerstörte Stadt Jasło, vgl. RZECZPOSPOLITA vom 1.9.2004. So etwa die in der Umgebung von Gdingen aktive Stowarzyszenie Gdynian Wysiedlonych (Gesellschaft der zwangsausgesiedelten Bewohner von Gdingen), die anlässlich von dessen Besuch in Polen einen Appell an Bundeskanzler Schröder richtete, Gdynia, 26.7.2004. Das Portal der öffentlich-rechtlichen Stiftung und einzelne Internetausgaben der von der Stiftung herausgegebenen, vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift sind verfügbar unter http://www.powiernictwo-polskie.pl (17.5.2011). Die einstimmig angenommene Resolution wurde in Polen als Einschüchterung der Deutschen (Straszenie Niemców) interpretiert und ist vom Geiste der Aufrechnung geprägt. Nach einer Meinungsumfrage vom September 2004 befürworten 64 % aller Polen Reparationsforderung an die deutsche Seite. Problem reparacji, odszkodowań i świadczeń w stosunkach polsko-niemieckich 1944-2004 [Das Problem der Reparationen, Entschädigungen und Leistungen in den deutsch-polnischen Beziehungen 1944-2004]. 2 Bde. Hrsg. von WITOLD M. GÓRALSKI. Warszawa 2004.

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wurde insbesondere durch die deutschen Rückforderungen von Kulturgütern (ehemalige Bestände der Staatsbibliothek Berlin) angeheizt. Insbesondere infolge dieser Wahrnehmung wurde die komplexe und kontroverse deutsche Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Polen zu einem innenpolitischen Mobilisierungsthema, das eine Neuakzentuierung nationaler Interessen und Forderungen nach einer neuen affirmativen Geschichtspolitik ermöglichte. Zweitens sahen die polnischen Eliten in der Akzentuierung der Vertreibungen der Deutschen im populären Geschichtsbild einen Versuch traditioneller nationaler Eliten in Deutschland, ein anderes Geschichtsbild durchzusetzen. Deutschlandspezialisten und Historiker beschäftigten sich erstmals seit 1989 wieder mit der Publizistik, dem Geschichtsbild und dem Selbstverständnis der deutschen Vertriebenenverbände. Auch liberale Persönlichkeiten wie der Vorsitzende der Borussia Robert Traba, kamen dabei zu einem sehr kritischen Ergebnis: „Einige Führer des Bundes der Vertriebenen suchen uns in eine ,Gedächtnisfalle’ oder besser in ein ,Beschweigen’ zu ziehen. […] Ich habe das Ostpreußenblatt unter der Perspektive der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs und der fünfjährigen Besatzung Polens analysiert. Nicht einmal fand ich einen Beitrag, der eine sorgfältige Analyse der deutschen Beteiligung am Zweiten Weltkrieg geboten hätte. Ich fand keinen Artikel, der die Deutschen als Täter während der Besetzung Polens und als Verantwortliche für das Leiden Tausender Polen dargestellt hätte. Eine solche Opferperspektive setzt erst mit dem Moment des Eindringens der Roten Armee nach Ostpreußen und der Aussiedlung der Deutschen ein. […] Eine solche, für das Leiden anderer verschlossene ‚organisierte Erinnerung’ halte ich für eine Falle. Sie schließt eine sachliche Verständigung aus, denn dazu bedarf es beiderseitiger Empathie. Die Empathie vieler Funktionäre der Vertriebenen […] reicht so weit, wie die Leiden der eigenen, deutschen Nation reichen.“33 Auch Auswertungen der Preußischen Allgemeinen Zeitung/Das Ostpreußenblatt, die das Funktionsgedächtnis der organisierten ostdeutschen Heimatvertriebenen beschrieben, kommen zu einem ähnlichen Ergebnis.34 Die Borussia lehnt eine Zusammenarbeit mit dem BdV, nicht jedoch mit einzelnen Verbänden ehemaliger Vertriebener, seit 2003 ab.35 Erkennbar wird hier, wie sehr die in Deutschland verbreitete nationale Verengung des „Flucht und Vertreibungskanons“ eine Europäisierung erschwert. In der polnischen intellektuellen Öffentlichkeit wuchs der Eindruck, eine Beschäftigung mit dem Vertreibungsthema werde von deutscher Seite erst dann anerkannt, wenn sie die deutschen Positionen einschließlich derjenigen der Vertriebenenverbände gänzlich nachvollziehe. Seit 2003 wurde der Umgang mit den historischen Zwangsmigrationen innerpolnisch zu einem populistisch aufgeladenen Gegenstand,36 der auch in den polni33 34 35

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ROBERT TRABA, Offener Brief an Frau Sibylle Dreher, Präsidentin des Frauenverbands im Bund der Vertriebenen, 2.7.2003. RAFAŁ ŻYTYNIEC, Zwischen Verlust und Wiedergewinn. Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945. Olsztyn 2007, S. 48-89. Die Borussia arbeitete und arbeitet weiterhin mit dem Historischen Verein für Ermland und mit dem Adalbertus-Verein, einem Zusammenschluss Danziger Katholiken, zusammen. – Die Kulturgemeinschaft Borussia erhielt im Frühjahr 2004 den vom deutschen und polnischen Außenministerium verliehenen deutsch-polnischen Historikerpreis und wurde im Herbst 2004 mit dem LewKopelew-Preis ausgezeichnet. Vgl. Resolutionsprojekt der Partei Prawo i Sprawiedliwość im Sejm, Polska Agencja Prasowa [PAP] vom 26.6.2003. Resolutionsprojekt der Liga Polskich Rodzin im Sejm zur „Solidarität mit der

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schen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2005 eine Rolle spielte. Dem damals unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk wurde wiederholt – so im Wahlkampf im August 2007 von Jarosław Kaczyński – eine zu große Nachgiebigkeit gegen deutsche Positionen, unter anderem auch in der Frage eines Zentrums gegen Vertreibungen, vorgeworfen. Unter diesen Auspizien besaß die polnische Diskussion um die Zwangsmigrationen einen in hohem Maße polemischen Gehalt, wobei mit Vorliebe extremistische Positionen der deutschen Vertriebenenverbände rezipiert wurden. Die Verbandspräsidentin Erika Steinbach wurde auf diesem Wege zu einer „Ikone deutscher Unaufrichtigkeit“, zumal ihre eigene Biographie – sie wurde im Zweiten Weltkrieg in dem von der polnischen Bevölkerung ethnisch gesäuberten Westpreußen als Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten geboren – die Fragwürdigkeit der deutschen Kategorie der „Vertriebenen“ belegte.37 Kommerziell orientierte Medien unterhielten und bedienten in Polen in erheblichem Maße polnische Klischees über eine nationalistische Wende beim Nachbarn, die ihren Ausdruck in einer Wiederaufnahme älterer Positionen eines „Drangs nach Osten“ fänden.38 Bemerkenswert ist dabei die Rolle katholischer Zeitschriften. Neben der mit dem Spiegel vergleichbaren Wochenzeitschrift Wprost war die katholische, vom Redemptoristenorden (Kongregation des Heiligsten Erlösers, Congregatio Sanctissimi Redemptoris) unter Leitung von Tadeusz Rydzyk herausgegebene Tageszeitung Nasz Dziennik das Medium, das besonders Ängste vor dem Einfluss der deutschen Vertriebenenverbände schürte. Rydzyk, der sich auf eine Förderung durch die Regierung Kaczyński und den konservativen Flügel des polnischen Episkopats stützen konnte, unterhält unter anderem eine Hochschule für Medien, die junge Journalisten ausbildet. Vertreten waren aber auch Medien mit deutschen Eigentümern, so etwa das der Bildzeitung nachempfundene Boulevardblatt Fakt, das dem Springer-Konzern gehört.39 Die Kalkulation einer Auflagensteigerung durch Produktion nationaler Feindbilder und Klischees, bisher vor allem aus der angelsächsischen Presse bekannt, ist dabei auch nach Polen und Deutschland vorgedrungen. In Polen basiert die Rhetorik dabei auf dem eigenen Opferdiskurs und mündet in eine innerpolnische Diskussion nach Entschädigungen für die Kriegsschäden, wobei die konservativen und rechtsnationalen Parteien sich in Extremforderungen und einer antideut-

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Tschechischen Republik gegen die Forderungen der ausgesiedelten Sudetendeutschen“, PAP vom 4.7.2003. Die allgemeine Publizität und verzerrte Darstellung Steinbachs (vgl. die Karikatur des Titelblatt des Wochenmagazins WPROST vom 15.9.2003) bedient das Klischee vom „hässlichen Nazideutschen“, das in der polnischen Öffentlichkeit seit 1945 präsent ist und bis 1989 systematisch gepflegt wurde. – Zugleich ist Erika Steinbach in der Auffassung der polnischen Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren eine ausgewiesene Gegnerin einer gleichberechtigten polnischen Integration nach Europa, was durch zahlreiche antipolnische Äußerungen belegt wird. Versuche, deutsche publizistische Kritiker mit Hilfe von presserechtlichen Klagen mundtot zu machen, insbesondere der Prozess gegen die Publizistin Gabriele Lesser, lösten in Polen eine Solidarisierung mit der angegriffenen Lesser aus, vgl. die Pressemitteilung des TYGODNIK POWSZECHNY vom 16.2.2004 und eine Unterschriftenaktion mit zahlreichen namhaften Unterzeichnern. Vgl. auch die weitere Berichterstattung im TYGODNIK POWSZECHNY (insbesondere die Ausgabe vom 27.5.2004). Vgl. insbesondere die Ausgabe des WPROST vom 15.9., 22.9. und 29.9.2003, aber auch zahlreiche Kommentare in den Tageszeitungen RZECZPOSPOLITA und GAZETA WYBORCZA. AGNIESZKA ŁADA, Debata publiczna na temat powstania Centrum przeciw Wypędzeniom w prasie polskiej i niemieckiej [Die öffentliche Debatte über die Entstehung des Zentrums gegen Vertreibungen in der polnischen und deutschen Presse]. Wrocław 2006.

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schen Politik der Tat zu überbieten suchten. Selbst für liberale und proeuropäisch orientierte polnische Politiker war deshalb das Thema Zwangsmigrationen grundsätzlich ein eher gemiedener Gegenstand. Zementiert wurden so alte Gewissheiten – unter anderem die aus der Volksrepublik Polen bekannten Positionen – und ein reflexiver Blick auf die eigenen Traditionen abgewehrt. Die deutsche publizistische Öffentlichkeit reagierte auf solche innerpolnischen Konflikte mit der viel Tradition besitzenden rhetorischen Figur des „polnischen Nationalisten“, der schon in der Weimarer Republik sehr populär war. Übersehen wurde, dass das starre Festhalten an der deutschen Formel der „Vertreibung“ manchmal einer deutschen DIN-Norm ähnelt, die nun über den Umweg der Europäisierung durchgesetzt werden soll.40

Zwangsmigrationen und nationale Selbstthematisierungen Eine tiefer liegende Ursache für die deutsch-polnische „Konfliktgemeinschaft“ um eine angemessene Erinnerung an die Zwangsmigrationen liegt darin, dass hierbei von deutscher wie polnischer Seite verborgene Selbstthematisierungen eine große Rolle spielen. Deutsche Stimmen beharren durchweg darauf, dass endlich auch die deutschen Opfer angemessen gewürdigt werden sollten. Dies ist bei den insbesondere betroffenen Frauen und Kindern sicherlich moralisch unabweisbar, wird aus polnischer Sicht aber dann problematisch, wenn darin auch herausgehobene deutsche Funktionsträger aufgenommen werden, die nicht ohne Verantwortung sind. Der aktuelle Seligsprechungsprozess von Bischof Maximilian Kaller (1880-1947) trifft deshalb in Polen außerhalb der ermländischen Diözese auf ein gespaltenes Echo und wird teilweise als deutsche Retourkutsche gegenüber dem laufenden Verfahren von Kardinal Hlond gewertet. Zugleich trifft der stärker europäisierte Vertreibungsdiskurs den Kern des polnischen Geschichtsbildes, nämlich das Selbstbild der polnischen Gesellschaft als wiederholtes und herausgehobenes Opfer. Dieses Selbstbild wird seit mehreren Jahrzehnten auf europäischer Ebene von dem internationalen HolocaustGedenken in Frage gestellt, in der die polnische Rollenzuschreibung durchaus prekär ist. Eingefordert wird eine europäische Erinnerungskultur, die sich nicht auf das Holocaust-Gedenken als Fundament einer europäischen Erinnerungskultur beschränken dürfe, sondern auch die Erinnerung an die Opfer in den ostmitteleuropäischen Nationen im Zweiten Weltkrieg und die Opfer des Kommunismus einschließen müsse. Getragen wird dieser Ansatz einer europäischen Erinnerungskultur von einer starken Pluralisierung und Erweiterung des Opferbegriffs, der heute in Polen selbstverständlich auch den Holocaust umfasst, wobei zugleich auf einem herausgehobenen Platz der polnischen Opfer beharrt wird. Ob es aus polnischer Sicht gelingen wird, in dieses Opfernarrativ auch die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aufzunehmen, ist offen. Der deutsche Opferdiskurs weckt in Polen alte Ängste, dass die eigenen traumatischen Erfahrungen in einem vagen Opfernarra-

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Vgl. auch den Überblick: Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutschpolnische Initiativen zur Institutionalisierung. Eine Dokumentation. Hrsg. von STEFAN TROEBST (VERÖFFENTLICHUNGEN DER DEUTSCH-POLNISCHEN GESELLSCHAFT BUNDESVERBAND, 11). Osnabrück 2006.

Flucht und Vertreibung in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit

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tiv aufgelöst werden könnten, aus dem nur der Holocaust hervorragt, die polnischen Verluste jedoch nicht adäquat wahrgenommen werden.41 Unterhalb dieser Ebene einer Europäisierung der Gedenkkultur ist in der polnischen Öffentlichkeit die Frage nach der eigenen Schuld eher gering entwickelt. Im Anschluss an komparatistische Studien möchte ich die These wagen, dass die Beschäftigung mit der eigenen Schuld in Polen wohl hinter dem tschechischen Schulddiskurs zurücksteht.42 Hierfür gibt es realhistorische – die immensen polnischen Opfer im Zweiten Weltkrieg – diskursgeschichtliche – das verbreitete Mittel einer Kontextualisierung der Ereignisse – und schließlich erinnerungspolitische Gründe, nämlich die im polnischen Diskurs dominante Figur einer Opfergeschichte der eigenen Nation. Wenn dagegen das eigene Kollektiv mit einer Debatte über eigene Schuld infragegestellt wird, so geschieht dies in Polen im polnischjüdischen Diskurs.43 Wird – wie in der Diskussion über die Zwangsmigrationen – die Frage nach der eigenen Schuld dennoch gestellt, so werden eine abstrakte religiöse Begrifflichkeit und Formelsprache – etwa das bischöfliche „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ – gewählt. Diese Ebene dominiert selbst bei laizistischen polnischen Intellektuellen. Der politische Ansatz eines „Sich für die Vertreibung entschuldigen“ wurde eher von außen auch vor dem Hintergrund des deutschen Beispiels in die polnische Debatte induziert, entspricht nicht den polnischen kommunikativen Traditionen eines Umgangs mit Schuld und findet folgerichtig keine Mehrheit. Ein reflektierter Umgang mit der Erinnerung auf europäischer Ebene muss solche unterschiedlichen Schulddiskurse berücksichtigen. So kann man deshalb vorläufig von dem Scheitern einer gemeinsamen deutsch-polnischen Erinnerung sprechen. Vorläufig, denn dieser Befund kann sich ändern. Es wird abzuwarten bleiben, wie die von deutscher und polnischer Seite betriebenen Museums- und Ausstellungsprojekte – insbesondere das „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin und das in Danzig geplante „Museum des Kriegs und des Friedens“ (Muzeum Wojny i Pokoju) – eine gemeinsame Erinnerung umsetzen werden oder ob unvereinbare, nationale Geschichtsnarrative entstehen. Nach wie vor lohnt es sich, darüber nachzudenken: Wenn eine europäische Erinnerung an die Zwangsmigrationen tatsächlich gewollt wird, bietet eine gemeinsame deutsch-polnische Vertreibungserinnerung einen „verhältnismäßig leichten“ Fall: Auf beiden Seiten ist eine Täterrolle wie eine Opfererinnerung vorhanden, die den nationalen Öffentlichkeiten in einem Kontext vermittelt werden kann. Deshalb wird sich auch in Zukunft im deutsch-polnischen Dialog entscheiden, ob eine gemeinsame und verbindende europäische Erinnerung im 21. Jahrhundert an das Jahrhundert der Diktaturen, des Holocaust und der Zwangsmigrationen möglich ist.

41 42

43

GENEVIÈVE ZUBRZYCKI, The Crosses of Auschwitz. Nationalism and Religion in PostCommunist Poland. Chicago 2006. CLAUDIA KRAFT, Der Platz der Vertreibung der Deutschen im historischen Gedächtnis Polens und der Tschechoslowakei/Tschechiens. In: Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Hrsg. von CHRISTOPH CORNELIßEN, ROMAN HOLEC und JIŘÍ PEŠEK (VERÖFFENTLICHUNGEN DER DEUTSCHTSCHECHISCHEN UND DEUTSCH-SLOWAKISCHEN HISTORIKERKOMMISSION, 13). Essen 2005, S. 329-359, hier S. 348 f. MICHAEL C. STEINLAUF, Bondage to the Dead. Poland and the memory of the Holocaust. Syracuse 1997.

Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945 Reflexionen eines Geschichtslehrers GERD FISCHER Das Thema der nachfolgenden Ausführungen ist dem Untertitel einer wissenschaftlichen Neuerscheinung entnommen. Ich freue mich, dass mir diese Aufgabe gestellt wurde, möchte aber vorweg gleich sagen, dass ich kein Fachmann auf diesem Gebiet bin und mich in den sachlichen Ausführungen deshalb ganz wesentlich darauf beschränke, das Buch von Rafał Żytyniec vorzustellen.1 Außerdem möchte ich zu Beginn ausführlich meinen persönlichen Hintergrund und Zugang zum diesem Thema darstellen. Zunächst ein paar Worte zum Autor. Rafał Żytyniec, geboren in Ełk (Lyck) in Masuren 1976, hat in Frankfurt (Oder) und Mainz Kulturwissenschaften studiert; das vorgestellte Buch ist – in erweiterter Form – seine Dissertation, vorgelegt im Jahre 2005 an der Universität Viadrina. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Ich habe ihn dort anlässlich des 4. Treffens der Berliner und Brandenburger Osteuropahistorikerinnen und Historiker am 14. Juli 2007 persönlich kennen gelernt und mit ihm über seine Publikation gesprochen. Den neuen Direktor des Instituts, Prof. Dr. Robert Traba, hatte ich zwei Jahre zuvor bei einem Lehrerfortbildungsseminar in den Sommerferien in Allenstein/Olsztyn kennen und schätzen gelernt. Hierbei ging es um die Implementierung historischer Themen im deutsch-polnischen Schüleraustausch. Ich bin Gymnasiallehrer an einer Schule in Langenhagen bei Hannover und habe seit 1997 derartige Schüleraustausche mit unserer Partnerstadt Glogau sowie mit einem Lyzeum in Warschau durchgeführt, und zwar mit Schülern der 10. Klasse sowie mit Schülern der Oberstufe. Die Teilnahme an diesem Seminar mit 30 deutschen und polnischen Teilnehmern und mein Aufenthalt in Allenstein brachte für mich faszinierende neue Eindrücke und Erkenntnisse auf verschiedenen Ebenen, die alle – wie Sie sehen werden – mit dem Thema meines Vortrages eng zusammenhängen. Zum einen lernte ich hier den Ansatz Robert Trabas und der Kulturgemeinschaft Borussia überhaupt kennen, der den geistigen Hintergrund des Buchs von Żytyniec bildet; für mich und die meisten anderen Teilnehmer war er bis dahin nicht bekannt.2 Zweitens wurde in den Diskussionen der Teilnehmer an mehreren Stellen schlaglichtartig deutlich, welche Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Verhältnis 1

2

RAFAŁ ŻYTYNIEC, Zwischen Verlust und Wiedergewinn. Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945. Olsztyn: 2007.- Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Der Terminus Borussia wurde eher vage mit Fußball assoziiert, auch weil es im Unterbewusstsein sehr fern lag, dass die latinisierte Bezeichnung für Preußen der Name eines polnischen Vereins sein könne.

Ostpreußen als Erinnerungslandschaft

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noch bestehen, wenn – wie es einmal formuliert wurde – die dünne Decke des Versöhnungskitsches durchstoßen und historisch in die Tiefe gegangen wurde. Ich will dies an zwei Beispielen konkretisieren. Bei der Bewertung der nationalen Gedenkstätte Grunwald/Tannenberg kam es zu einer erregten Kontroverse zwischen deutschen und polnischen Teilnehmern, weil sie nach Meinung der Deutschen den Besuchern in völlig ungebrochener nationalistischer Manier präsentiert wird. Nur ein polnischer Teilnehmer, der Dolmetscher, sagte danach in kleinem Kreis, mehr hinter vorgehaltener Hand: „Solange sich Polen so präsentiert gehört es nicht in die EU!“ Zweites Beispiel: Auch scheinbar ganz banale Verhaltensunterschiede in beiden Gruppen eskalierten zu teils tränenerstickten Vorhaltungen und Verständnislosigkeit: als z. B. ein deutscher Teilnehmer einen Vortragenden, der seinen auf eine Stunde angesetzten Vortrag bereits auf zwei Stunden ausgeweitet hatte und offensichtlich immer noch bei der Einleitung war, vorsichtig auf die fortgeschrittene Uhrzeit hinwies, wurde dies von polnischen Zuhörern als grobe, typisch deutsche Unhöflichkeit angesehen. Und das alles bei Personen, die sich füreinander interessierten, zwischen denen sich bereits starke Sympathien entwickelt hatten, die sich mit großem gegenseitigen Wohlwollen und dem Anspruch auf volle Aufrichtigkeit im Gedankenaustausch an ihre Aufgabe gemacht hatten. Über viele solche Situationen ließe sich ein Buch füllen. Ich komme jetzt zur dritten Ebene meiner Erfahrungen in Allenstein. Ich nutzte die Gelegenheit, um auf Spurensuche meiner Vorfahren zu gehen. Mein Vater, geboren 1915 in Allenstein und dort aufgewachsen, hatte sich sein Leben lang nicht mehr dazu durchringen können, seine Vaterstadt noch einmal zu besuchen, und nur wenig davon erzählt. Er hatte den gewaltsamen Tod seiner Eltern am 21. Januar 1945 beim Einmarsch der sowjetischen Truppen und vieler anderer Verwandter in den nachfolgenden Monaten der Willkür und Rechtlosigkeit nicht verwinden können. Er hatte in mir und meinen Geschwistern ein mythisches Bild von Allenstein und Ostpreußen als idealisierter, schicksalhaft und unschuldig verlorener Heimat hinterlassen. Davon habe ich im Mitteilungsblatt des Historischen Vereins für Ermland, Ausgabe Sommer 2006, berichtet.3 Als ich das Buch von Żytyniec zum ersten Mal durchsah, sprangen mir viele mit meinem Bericht fast wörtlich übereinstimmende Formulierungen ins Auge, z. B. wenn er schreibt: „Was das Bild der in der Literatur der organisierten Heimatvertriebenen dargestellten Heimat angeht, trägt es eindeutig Züge eines verlorenen Paradieses, eines glücklichen Kindheitsreiches sowie einer räumlichen Unzugänglichkeit“4. Ich zitiere aus meinem Aufsatz, wie ich dies selbst im Elternhaus erlebte: „Das Bild vom Hohen Tor in Allenstein symbolisierte für uns etwas Dunkles, Tragisches, weit Entferntes – den Mythos Allenstein, etwas, wo man nicht hin konnte, eine Art verlorenes gelobtes Land, wo wir eigentlich hingehörten; über das wir, obwohl wir fast nichts darüber erfuhren, nur ehrfurchtsvoll, nur mit getragener Stimme reden konnten, am besten jedoch gar nicht, denn schon das Reden darüber bedeutete Trivialisierung; etwas, das wir in einer Art ehrender Erinnerung behalten sollten, obwohl wir es gar nicht kannten [...] etwas, das in den Augen meines Vaters, in seiner Mimik lebte, wenn er denn einmal bruchstückhaft von Allenstein erzählte, ein besonderer Ausdruck, wie bei der Christmette, wie

3

4

GERD FISCHER, Begegnung mit Olsztyn/Allenstein, der Stadt meiner Vorfahren. Ein ganz persönlicher Bericht. In: UNSERE ERMLÄNDISCHE HEIMAT 52 (2006) Nr. 3. Der Bericht ist auch in der Zeitschrift BORUSSIA 39 (2006) auf Polnisch abgedruckt. ŻYTYNIEC, S. 254.

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beim Singen des Tantum Ergo, wie beim demütigen Neigen des Kopfes nach der Heiligen Kommunion – da wurde gleichsam vom Höchsten gesprochen, was es auf Erden gab. […] Dort, in Allenstein, war das wirkliche Leben gewesen, vor dem Krieg; es wurde viel spazieren gegangen im Stadtwald, mit dem Rad streifte man durch endlose Wälder, es war immer sommerlich warm und schön, oder man fuhr Schlittschuh auf vereisten Seen bei traumhaft grimmigem, anhaltend schneereichem Winterwetter.“5

Soweit zur Einstimmung und meinem persönlichen Zugang. Ich werde gleich auf diesen Strang der Erinnerungsliteratur zurückkommen. Ziel der Untersuchung von Rafał Żytyniec ist die Beschreibung und Analyse von deutschen und polnischen Konstruktionen der Vergangenheit Ostpreußens nach 1945 in der Literatur. Die Literatur wird als Träger des kulturellen Gedächtnisses gesehen, die die kollektive Erinnerung entscheidend mitgestaltet. Im Folgenden möchte ich zunächst den Aufbau des Buches knapp skizzieren, bevor ich auf einzelne ausgewählte Abschnitte im Detail eingehe. In den ersten Kapiteln fundiert der Autor seinen Untersuchungsansatz theoretisch ausführlich: In starker Anlehnung an Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses unterscheidet Żytyniec zwischen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis; das Speichergedächtnis bildet hierbei, als strukturloses, amorphes und zielloses Gedächtnis, den Hintergrund des Funktionsgedächtnisses; das Funktionsgedächtnis ist das „angeeignete Gedächtnis, das aus einem Prozess der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstitution“ entsteht, und dessen vordringliches Anliegen Legitimation und Distinktion ist.6 Dieses Funktionsgedächtnis prägt sich aus in zwei Varianten. Es ist zunächst einmal das offizielle Funktionsgedächtnis, das auf Legitimation bestehender oder beanspruchter politischer Herrschaftsverhältnisse abzielt. Die zweite Variante ist das inoffizielle Gegengedächtnis, das sich dem offiziellen in der Regel kritisch entgegenstellt. Das Anliegen des Verfassers ist die Untersuchung dieser beiden Funktionsgedächtnisse anhand des Mediums Literatur. Das Buch besteht aus zwei komplementär angelegten Hauptteilen. Der erste hat die deutsche, der zweite die polnische Literatur zum Gegenstand. Jeder dieser Hauptteile untergliedert sich grob wieder in zwei Teile, nämlich die jeweilige Untersuchung des offiziellen und anschließend die des kritischen Funktionsgedächtnisses. Dies ist eine eher idealtypische Unterteilung, denn es gibt viele Ausnahmen und Übergangsformen. Der erste Hauptteil beginnt also mit Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen Literatur nach 1945. Dabei fragt Żytyniec zunächst nach dem Funktionsgedächtnis der Heimatvertriebenen, die in der Landsmannschaft Ostpreußen und dem Ostpreußenblatt vertreten sind. Als literarisches Beispiel konzentriert er sich hierbei auf Agnes Miegel. Anschließend stellt er dem die so genannten „Anderen Ostpreußen“ gegenüber, die das kritische, informelle Gegengedächtnis bilden, nämlich Siegfried Lenz, Johannes Bobrowski und Manfred Peter Hein und schließlich Günter Grass; an seiner Novelle Im Krebsgang und der dadurch ausgelösten Diskussion zeigt er das Ausmaß der Konfrontation beider Funktionsgedächtnisse und die neuesten Verschiebungen innerhalb der deutschen Erinnerungskultur. Analog zu diesem Vorgehen bei der deutschen Literatur untersucht Żytyniec dann die polnische literarische Erinnerungslandschaft. In dieser dominiert von 5 6

Wie Anm. 3. ŻYTYNIEC, S. 23.

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1945 - 1989 das offizielle politische Funktionsgedächtnis. Vordringliches Anliegen der Literatur war es, Ostpreußen als „wiedergewonnenes“ polnisches Land darzustellen und, über den Rückgriff auf volkstümliche nationalistische Denkmuster, zugleich den Aufbau des Kommunismus voranzutreiben und zu legitimieren. Dazu untersucht Żytyniec vor allem das Werk des masurischen Volksdichters Michal Kajka und das des Kulturfunktionärs und Schriftstellers Eugeniusz Paukszta. Dem stellt er dann das kritische Gegengedächtnis gegenüber, das vor allem von der Kulturgemeinschaft Borussia getragen wird. Diese Öffnung war erst seit 1989 möglich. Dabei analysiert er ganz ausführlich das Werk von Kazimierz Brakoniecki, aber auch das nicht eindeutig zuzuordnende Werk von Erwin Kruk. So viel – etwas trocken – zur Struktur des Buches; das Verständnis der komplexen Materie, die sich aufgrund ihres oft sehr individuellen Charakters eigentlich gegen Klassifizierungen sträubt, wird dem Leser leicht gemacht durch klaren Aufbau, präzise Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels und den Ausblick, in dem er seine Ergebnisse noch einmal zusammenfasst, auf Forschungsdesiderate und offene Fragen hinweist. Dabei ist es für den interessierten Leser von großem Vorteil, dass Żytyniec die untersuchten Autoren ausführlich selbst zu Wort kommen lässt. Dies gilt für den deutschen Leser in besonderem Maße für die polnischen Schriftsteller und Dichter, in deren Schaffen er hierdurch oft einen ersten authentischen Einblick erhält. Jedenfalls mir ging es so. Nach diesem Überblick möchte ich im Folgenden auf ausgewählte Teile der Untersuchung etwas detaillierter eingehen. Agnes Miege l ist besonders repräsentativ für das im Ostpreußenblatt vertretene offizielle politische Funktionsgedächtnis. Żytyniec setzt sich deshalb mit Dichtung und Werdegang der Königsberger Autorin vor und nach 1945 und mit ihrer Rezeption als meistzitierte und als „Mutter Ostpreußens“ gefeierte Dichterin extensiv auseinander. Er zitiert aus ihrer Hymne An den Führer (publiziert 1938): O Befreiung, zu spüren im Licht der Frühe, Alles dies ist fern und für immer vergangen! Fortgewischet wie Tränen vom Antlitz der Witwe Von Deinen Händen.7

Wohlgemerkt, mit „deinen Händen“ sind die befreienden Hände Hitlers gemeint. Er zitiert weiter aus der Hymne an Ostpreußen (1937), in der das grundlegende Bild der „wehrhaften Jungfrau“ beschworen wird, die am Strande Samlands mit Schild und Schwert zur Patronin und Verteidigerin Ostpreußens stilisiert und mit NS-Symbolik ausgestattet wird – ihr Gürtel zeigt „das heilige Zeichen“, das Hakenkreuz.8 Auch wenn die Dichterin diese Gedichte nicht in ihre gesammelten Werke aufgenommen und sich damit von ihnen distanziert habe, weist Żytyniec in ausführlichen Interpretationen ihrer Dichtung nach 1945 das Nachwirken der NSBlut- und Bodenideologie nach. Im Zentrum ihrer Dichtung stehen dann allerdings thematisch der Schmerz des Heimatverlustes und vor allem die Leiden von Flucht und Vertreibung, die in eindringlichen Metaphern evoziert werden. Allein

7 8

Ebd. S. 63. Ebd.

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der „Schutzengel der Erinnerung“9 an die Heimat könne den Verlust erträglich machen. Agnes Miegel wurde damit zur literarischen Identifikationsfigur der Vertriebenen. Merkmale dieses literarisch aufgezeichneten ostpreußischen Funktionsgedächtnisses waren - die Überbetonung des deutschen Beitrages zur Kultur Ostpreußens, - die sowohl vor als auch nach 1945 ungebrochene Rhetorik von Ostpreußen als Damm und Bollwerk der Zivilisation gegen den fremden Osten, - insbesondere die dichterische Schilderung der Erinnerung an das verlorene Kindheitsparadies, in der der Heimatverlust als schicksalhaft und vor allem schuldlos erlittenes Unrecht vorgetragen wird. All dies führt zur Identifikation mit den Gefühlen und Einstellungen der Heimatvertriebenen, welche die historischen Ereignisse, die den Heimatverlust herbeigeführt haben, völlig ausblenden. Dem stellt Żytyniec die „Anderen Ostpreußen“ gegenüber, d. h. diejenigen, die Heimatverlust, Flucht und Vertreibung im Kausalzusammenhang mit der verbrecherischen NS-Politik sehen und deren Werke von daher eine andere literarische Charakteristik aufweisen. Bei den „Anderen Ostpreußen“ möchte ich mich auf Siegfried Lenz beschränken, der in der idealtypischen Systematik von Żytyniec insofern eine Zwischenstellung einnimmt, als seine ostpreußischen Werke zunächst dem offiziellen Funktionsgedächtnis zuzurechnen sind; gemeint ist hier vor allem So zärtlich war Suleyken.10 Spätere Werke jedoch repräsentieren das kritische Gegengedächtnis, was besonders in dem Roman Heimatmuseum deutlich wird. Dementsprechend wird er zunächst von den ostpreußischen Landsmannschaften als „einer der Unsrigen“ gefeiert, später jedoch – im Zuge seiner Unterstützung der Ostpolitik Willy Brandts – scharf angegriffen und ausgegrenzt. In den zwanzig Geschichten von So zärtlich war Suleyken verklärt Lenz seine ostpreußische Heimat, indem er seine Bewohner geradezu zärtlich und humorvoll als etwas merkwürdige Charaktertypen zeichnet, bodenständig, geduldig und voll rätselhafter Schläue, jedoch voller Seele. Es handelt sich um ein Erinnerungsbuch masurischer Anekdoten, in die Lenz der eigenen Erfahrung des Heimatverlustes und der historisch bedingten „Unwiederbringlichkeit einer Kultur das ins Zeitlose verklärte Bild seiner aus der Erinnerung beschworenen Heimat als Idylle gegenüberstellt“11. Es handelt sich also insoweit um ein völlig unpolitisches Werk. Vor allem deshalb ehrte ihn die Landsmannschaft Ostpreußen 1961 mit dem Kulturpreis für Literatur. In Veröffentlichungen der sechziger Jahre unterzieht Lenz das Verhalten der Ostpreußen während der NS-Herrschaft jedoch zunehmend einer kritischen Analyse und beginnt sich seit 1965 für die SPD zu engagieren. Aber erst durch seine Anwesenheit – zusammen mit Günter Grass – bei der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages mit der vorläufigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, sowie mit der Veröffentlichung seines Romans Heimatmuseum12 1978, wird er für die ostpreußische Landsmannschaft zur Unperson, zum Gegner, zum Verräter; man wirft ihm vor, sich lediglich dem Zeitgeist gebeugt zu haben, und als Motiv wird ihm unterstellt, dass er vor allem die Verkaufszahlen seiner Bücher im Auge ge9 10 11 12

Ebd. S. 72. SIEGFRIED LENZ, So zärtlich war Suleyken, Hamburg 1979. HANS WAGENER, Die Heimat des Siegfried Lenz: zwischen Idylle und Ideologie. In: TEXT + KRITIK (1982) Nr. 52, S. 59-65, hier S. 59 (zitiert nach ŻYTYNIEC, S. 93). SIEGFRIED LENZ, Heimatmuseum. Hamburg 1978.

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habt habe. Wie Sie sich sicher erinnern, verbrennt der Protagonist das Heimatmuseum, das er mühsam in den Westen gerettet hat, als er erkennt, dass dieses politisch-ideologisch im Sinne der Vertriebenenfunktionäre instrumentalisiert und zu diesem Zweck die nicht-deutschen Exponate entfernt werden sollen. Hier zeigt sich brennpunktartig der kritische Ansatz von Lenz. Insgesamt wendet er sich damit offen gegen den von den Vertriebenenverbänden aufrechterhaltenen materiellen Anspruch und plädiert dagegen für einen immateriellen Erinnerungsanspruch; er selbst sagte: „Mein Buch ist ein geschriebenes Heimatmuseum.“13 In den folgenden Kapiteln setzt sich Żytyniec sehr ausführlich mit dem Werk von Johannes Bobrowsk i auseinander, der nach der Gefangenschaft in Ostberlin lebte, sowie mit Manfred Peter Hein , der 1958 aus persönlichen und politischen Gründen nach Finnland auswanderte. Bobrowski wurde vom Ostpreußenblatt eigentlich erst nach seinem Tod 1965 wahrgenommen. Dabei wurde allerdings, nach Żytyniec, seine eigentliche Intention, nämlich die Frage nach der „deutschen Schuld im Osten“ und die Ermahnung zur Versöhnung, vom Ostpreußenblatt völlig ausgeklammert und lediglich die in seinem Werk enthaltenen Natur- und Landschaftselemente als Heimatbeschreibung registriert; der Dichter wurde also zwar akzeptiert, aber verfälscht akzeptiert; auch werde sein „sarmatisches Projekt“ verengt nur rein landschaftlich gedeutet.14 Kritisch wäre hier vielleicht anzumerken, dass das mehrfach als „Schlüsselbegriff“ für Bobrowskis Dichtung hervorgehobene Sarmatien seltsam unbestimmt bleibt. Für Manfred Peter Hein konstatiert Żytyniec, dass das Ostpreußenblatt ihm trotz der großen Relevanz der ostpreußischen Thematik in seinem Werk nur wenig Aufmerksamkeit widmete, vor allem wohl deshalb, weil er gegenüber den Vertriebenenverbänden eine sehr kritische Position einnahm und ihnen Denken im Wertesystem des Nationalismus sowie Doppelzüngigkeit vorwarf. Bei diesen wenigen Ausführungen möchte ich es belassen, obwohl Żytyniec beiden Autoren große Bedeutung beimisst. Sie fallen auch insofern ein wenig aus seiner Systematik heraus, als er eigentlich auf den westdeutschen Erinnerungsdiskurs abhebt. Die Kapitel über Bobrowski und Hein weisen daher eher den Charakter eines weitgespannten Exkurses auf. Zum Schluss des ersten Hauptteils erörtert Żytyniec unter dem Stichwort „Zurück zur Opfergesellschaft“ die Merkmale des gegenwärtigen literarischen Erinnerungsdiskurses zum Thema „Flucht und Vertreibung“ anhand der Novelle Im Krebsgang, in der Günter Grass 2002 den Untergang der Wilhelm Gustloff thematisiert. Ich zitiere eine entscheidende Passage, den Anfang von Kapitel 5, wobei der „Alte“ als das Alter Ego von Grass zu sehen ist: „Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen. [...] Flucht. [...] Der weiße Tod. [...] Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen,

13 14

ŻYTYNIEC, S. 105. Vgl. ebd. S. 123.

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Gerd Fischer das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.15“

Die Frage ist, warum Grass als Unterstützer der Ostpolitik Brandts zu der Ansicht kam, dies Versäumnis mit seiner Novelle nachholen zu müssen, und warum so spät; und ob es überhaupt den viel zitierten Tabubruch darstellte. Grass selbst und die meisten Rezensenten bestätigten tendenziell, dass die gesamte Welle der Literatur zum Thema „Deutsche als Opfer“ erst nach einem halben Jahrhundert möglich war und gaben verschiedene Erklärungen dafür. Lediglich das Ostpreußenblatt – so Żytyniec – betonte, die Bedeutung der Novelle liege ausschließlich darin, dass sich ein Linker mit den Leiden der Deutschen befasse, und dass dies insofern keinen Tabubruch darstelle, als dass das Ostpreußenblatt dies schon immer öffentlich thematisiert habe; Günter Grass’ Buch also nichts Neues enthalte. Damit aber, so stellt Żytyniec fest, beanspruchen die Vertriebenen fälschlich, die einzig wahren Wächter des ostpreußischen Funktionsgedächtnisses zu sein. Dem ist zuzustimmen. Denn die Bedeutung von Grass’ Buch besteht meines Erachtens nicht darin, dass hier etwa ein Linker überflüssige Einsicht zeigt, sondern darin, dass ein Autor Leid und Unrecht im historischen Gesamtzusammenhang sieht. Hierzu eine persönliche Bemerkung: Obwohl ich die Notwendigkeit der Ostpolitik Brandts sah, bedeutete das für mich keineswegs zugleich, dass ich etwa von den Verbrechen an der ostpreußischen Bevölkerung nichts wissen und lesen wollte. Und auch schon lange vor Grass gab es Literatur, die sich ohne ideologische Scheuklappen damit befasste; ich denke u. a. an Walter Kempowski oder Gräfin Dönhoff; bei Arno Surminski zum Beispiel wurde ich in seinem Roman Polninken oder Eine deutsche Liebe16 auf viele mir bis dahin nicht bekannte Aspekte des deutsch-polnischen Verhältnisses aufmerksam; und schon in den sechziger und siebziger Jahren gab es undogmatische Romane und eindringliche TVVerfilmungen, in denen das Leid der Flucht gezeigt wurde, ohne dass die sprichwörtlichen asiatischen Horden heraufbeschworen wurden. Gleichwohl ist es meines Erachtens sicher zutreffend, dass es im öffentlichen Diskurs seit den neunziger Jahren Verschiebungen gibt, die es ermöglichen, dass das bis dahin eher heikle Thema Flucht und Vertreibung wieder deutlicher akzentuiert wird; dabei steht im Zentrum der Beurteilung dieser Entwicklung jedoch die alte Grundfrage, ob die literarische oder sonst wie betriebene Aufarbeitung den Verlust der „Heimat“ im kausalen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sieht, hier insbesondere mit der unmenschlichen Kriegführung beim Vormarsch in Polen und dem grausamen Terror der deutschen Besatzungspolitik in Polen17, oder nicht; das heißt das Problem der Schulddimension besteht weiter. Bei Grass wäre meines Erachtens zu konstatieren, dass er, wie geschraubt und konstruiert auch immer, diesen elementaren Zusammenhang stets vor Augen hat. Ich komme jetzt zum zweiten Hauptteil des Buches von Żytyniec: Ostpreußen in der polnischen Literatur nach 1945. Hierbei möchte ich nur knapp auf die Zeit von 1945 bis 1989 eingehen, obwohl sie in dem Buch einen breiten Raum einnimmt. Żytyniec stellt die polnische Ideologie der „Wiedergewonnenen Gebiete“ und ihre Hintergründe und Dimensionen sorgfältig dar und zeigt, wie im Sinne 15 16 17

GÜNTER GRASS, Im Krebsgang. Göttingen 2002, S. 99. Hamburg 1984. JOCHEN BÖHLER, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939. Frankfurt a. M. 2006.

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dieser Ideologie mit hohem Aufwand die so genannte „Literatur der Nord- und Westgebiete“ geschaffen wurde. Der Staat machte den Schriftstellern klare Vorgaben; ihre Aufgabe war es, zur Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen beizutragen, das polnische Erbe in Ostpreußen aufzuzeigen und das deutsche zu verleugnen, und zugleich die Vorzüge des Aufbaus des Kommunismus zu belegen. Dabei kann man zwei Gruppen von Autoren unterscheiden: Zum einen diejenigen, die von dieser Ideologie mehr oder weniger selbst überzeugt und zum Teil Funktionsträger im politischen Apparat waren und Handlung sowie Charaktere ihrer Werke entsprechend gestalteten, wie insbesondere Eugeniusz Paukszta ; in seinen masurischen Romanen „bevorzugte er einen gesellschaftlich engagierten Helden, der sich für die Integration zwischen der autochthonen Bevölkerung und den polnischen Ansiedlern einsetzte. [...] Die gemeinsame Arbeit für die neue Heimat ließ Pauksztas Helden erstaunlich schnell die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat im ehemaligen Osten Polens vergessen und bereits nach zwei Jahren nach ihrer ‚Repatriierung’ in die neuen Verhältnisse hineinwachsen.“ 18 Dies alles bezeichnet Żytyniec zu Recht als an den realen Verhältnissen völlig vorbeigehend. Die zweite Gruppe besteht aus Dichtern, deren Anliegen eigentlich differenziert war, deren Werk aber nur unter ideologischen Gesichtspunkten gefiltert erscheinen konnte; alles, was dem propagierten erzieherischen Auftrag nicht entsprach, wurde weggelassen, verschwiegen, verfälscht, wie z. B. bei dem masurischen Volksdichter Michal Kajka , der unter anderem auch Gedichte zum Geburtstag des deutschen Kaisers verfasst hatte, jedoch zum nationalpolnischen Helden umstilisiert wurde. Der totalitäre Staat bewirkte also mit Hilfe des von ihm abhängigen Schriftstellerverbandes durch seine Zensurmaßnahmen, dass im polnischen Teil Ostpreußens fast ausschließlich das offizielle Funktionsgedächtnis bestand, so dass sich – bis Ende der 80er Jahre – kein wirklicher literarischer Erinnerungs-diskurs entfalten konnte. Eine Ausnahme bildete Erwin Kruk , der sich selbst als Masuren bezeichnet; in seinen Gedichten und Romanen ist er fasziniert vom multikulturellen Erbe Ostpreußen und trauert um die ausgelöschte masurische Identität; aber Kruk blieb allein und stand unter ständiger Beobachtung und Zensur. Der eigentliche Erinnerungsdiskurs in Polen konnte erst nach der politischen Wende 1989 einsetzen. Erst jetzt war es möglich, dass Kultur nicht mehr im Dienst einer politischen Ideologie stand, die vordringlich das Polentum Ostpreußens belegen musste. Dabei sind die Veränderungen in der ermländischmasurischen Literatur Teil von neuen Prozessen in der gesamten polnischen Literatur. Deren wesentliches Kennzeichen besteht in einer „Depolonozentrisierung“ (depolonocentryzacja). Diese wendet sich gegen eine verengte nationale oder nationalistische Sicht, ohne dabei jedoch das polnische Nationalbewusstsein aufzugeben. Es entsteht eine neue „Heimatliteratur“ bzw. – wörtlich übersetzt – Literatur des „kleinen Vaterlandes“, die sich „auf einer starken ethischen Grundlage gegen die patriotische und politische Rhetorik der Nachkriegszeit richtet“19. Einer der wichtigsten Träger dieser Entwicklung war die Kulturgemeinschaft Borussia, gegründet im Dezember 1990 von einer Gruppe Allensteiner Intellektueller, darunter Kazimierz Brakoniecki und Robert Traba. Żytyniec spricht von der 18 19

ŻYTYNIEC, S. 261. Ebd. S. 230.

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„borussischen Wende“ in der Betrachtung der ermländisch-masurischen Literatur. Es entsteht eine neue Heimatbewegung, ein offener Regionalismus, der endlich die volle Wahrheit über die komplizierte multikulturelle und multinationale Vielschichtigkeit der Vergangenheit dieses Landes artikulieren will. Diese Haltung ist charakterisiert durch die Akzeptanz nationaler Doppel-Identifikationen, das Interesse an den Kulturen anderer Nationen und das Fehlen negativer Stereotypen und allgemein nationaler Vorurteile. Es geht um die – weiter in den Worten Robert Trabas – „Zurückweisung des nationalen Kanons in der Wahrnehmung der Vergangenheit der Region; der Kern des Verständnisses des Polentums sollte [...] im Zusammenleben verschiedener Kulturen liegen und nicht im Nachweis der Dominanz einer dieser Kulturen“20 und schon gar keine materiellen Ansprüche daraus ableiten. Hauptplattform ist die von der Gemeinschaft herausgegebene Zeitschrift Borussia – Kultur – Geschichte – Literatur, in der Artikel von bekannten Autoren vor allem aus Polen, Litauen, Russland, der Ukraine und Deutschland sowie Übersetzungen aus den Werken ostpreußischer Schriftsteller publiziert werden, u. a. von Ernst Wiechert, Hermann Sudermann, Ralph Giordano, Alfred Brust, Ulla Lachauer, Manfred Peter Hein, Johannes Bobrowski, Arno Holz, Marion Gräfin Dönhoff, Arno Surminski, Winfried Lipscher, Paul Celan, Rose Ausländer, Ernst Toller und Britta Wuttke. Außerdem erscheinen Borussia-Buchreihen, die das Erbe der deutschpolnischen Nachbarschaft vorstellen; hier wären die Werke von Autoren wie Piotr Lachmann, Hubert Orlowski, Ernst Wiechert, Kazimierz Brakoniecki, Dönhoff, Johann Gottfried Herder, Fritz Skowronnek und Dietmar Albrecht zu nennen, und z. B. die Erinnerungen von Zeitzeugen in den 2000 und 2004 erschienenen Bänden über Vertreibung aus dem Osten und Nachkriegsalltag in Ostpreußen.21 Ein besonders umfangreiches Projekt stellt die Anthologie der Literatur aus dem Gebiet des ehemaligen und heutigen Ostpreußen dar, die in deutscher, polnischer, russischer und litauischer Sprache herausgegeben wurde.22 Ihre Ziele versucht Borussia weiterhin durch Seminare, internationale Jugendbegegnungen (z. B. mit Restauration und Pflege von Kriegsgräbern) und Ausstellungen zu verwirklichen.23 Alle diese Aktivitäten begründeten das weit über die Region hinaus ausstrahlende internationale Ansehen, dessen Höhepunkt wohl die Überreichung des „Deutsch-polnischen Preises für besondere Verdienste um die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen“ für das Jahr 2003 an den Vorsitzenden, Robert Traba, durch die Außenminister Polens und der Bundesrepublik war. Die Werke der Autoren aus dem Umfeld der Kulturgemeinschaft Borussia erkunden das ostpreußische Speichergedächtnis neu, in Opposition zum alten „offiziellen“ Funktionsgedächtnis. In diesem Sinne analysiert Żytyniec ausführlich das 20 21

22 23

Zitiert ebd. S. 232. Deutschsprachige Ausgaben: Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich. Hrsg. von HANS-JÜRGEN BÖMELBURG, RENATE STÖßINGER und ROBERT TRABA. Olsztyn 2000 und Nachkriegsalltag in Ostpreußen. Erinnerungen von Deutschen, Polen und Ukrainern. Hrsg. von HANS-JÜRGEN KARP und ROBERT TRABA (ZEITSCHRIFT FÜR DIE GESCHICHTE UND ALTERTUMSKUNDE ERMLANDS, Beiheft 16). Münster 2004. Meiner Heimat Gesicht. Ostpreußen im Spiegel der Literatur. Hrsg. von KAZIMIERZ BRAKONIECKI und WINFRIED LIPSCHER. München 1996. Eine kleine persönliche Bemerkung dazu: Dass dies im Alltag nicht immer so umgesetzt wird wie theoretisch gefordert, kann man sehen, wenn man den schön renovierten deutschen Soldatenfriedhof in Allenstein besucht und dann auf der anderen Seite der Straße den völlig verwilderten russischen – jedenfalls war das 2005 noch so.

Ostpreußen als Erinnerungslandschaft

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Werk des Dichters und Mitbegründers und – bis 1998 – Vorsitzenden Kazimierz Brakoniecki. Viele seiner Gedichte wurden von Winfried Lipscher ins Deutsche übersetzt. Der inzwischen allgemein anerkannte Begriff im neu entstandenen Funktionsgedächtnis ist die Metapher für Ostpreußen als ein Atlantis des Nordens. Er stellt die Frage nach der Identität des Menschen im ehemaligen Ostpreußen: „Was bedeutet es Russe zu sein im Kaliningrader Gebiet? [...] Was bedeutet es, Pole zu sein in Ermland und Masuren?“ Ich lasse ihn weiter selbst zu Wort kommen: „Historischer Zufall oder geschichtliche Gerechtigkeit bewirkten, dass ich hier, in Ermland und Masuren, über mein Polentum, über meine Menschheit entscheiden will und werde, den fremden Traditionen verbunden, denn sie fügten sich zum moralischen Gepräge des kleinen Vaterlandes, dessen Vision ich in mir hege. Indem ich polnische Identität [...] entdecke, entdecke ich zugleich das angetroffene preußische, deutsche, ermländische und masurische Erbe, und um zu beweisen, dass ich einem freien und gerechten Vaterland entgegengehe, achte ich die Werte anderer, anderer Völker und Gemeinschaften, deren Andenken die Zeit auf das Erdrund verstreut hat, so wie auch unsere nationalen Andenken außerhalb unserer gegenwärtigen Grenzen anzutreffen sind. Es sind dies nicht nur nationale Andenken, sondern auch Andenken der Menschheit.“24

Brakoniecki will auf dieser Grundlage daran mitwirken, eine Gemeinschaft der ehemaligen und jetzigen Bewohner Ostpreußens zu schaffen; ein ganz neuer und dem offiziellen polnischen Funktionsgedächtnis bis 1989 völlig entgegen gesetzter Ansatz literarischer Erinnerungsarbeit. - In seinem Gedicht Atlantis des Nordens verarbeitet er die leidvolle Geschichte Ostpreußens und Bilder der Gegenwart anlässlich der persönlichen Begegnung mit Winfried Lipscher, beide geboren in Wartenburg/Barczewo, an mehreren gemeinsamen Erinnerungsorten, und die Überwindung der Gegensätze durch die persönliche Beziehung. Zum Schluss befasst sich Żytyniec mit der Ernüchterung, die Brakoniecki und andere im Vorfeld des 15. Gründungsjubiläums von Borussia erfasste, als sie ihre Ausgangsziele dem Erreichten gegenüber stellten und das Nachlassen des ursprünglichen Enthusiasmus konstatierten, angesichts der sich auftürmenden Schwierigkeiten, von denen nur die folgenden genannt seien: 1. die in Polen zu beobachtende Rückkehr des Denkens in Kategorien des geschlossenen Nationalismus; 2. die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des angeblichen „blinden Germanophilismus“; 3. die Erkenntnis dass es kaum möglich zu sein scheint, mit dem Konzept des neuen Polentums, des offenen Regionalismus über die Intellektuellen hinaus der Masse der Bevölkerung ein neues Identifikationsmuster anzubieten; 4. dies alles im Kontext mit - der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in bestimmten Regionen und Bevölkerungsgruppen,

24

-

den Ängsten, die der EU-Beitritt bei vielen auslöste,

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der allgemeinen Krise der deutsch-polnischen Beziehungen u. a. durch die Auseinandersetzung um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin u. v .a. m.

ŻYTYNIEC, S. 239.

Gerd Fischer

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Als Konsequenz hat die Kulturgemeinschaft Borussia ihre nicht-literarischen Aktivitäten verstärkt, was auch damit begründet wurde, dass wesentliche Ziele wie die literarische Ergründung der Vergangenheit Ostpreußens bereits erfüllt seien. Insgesamt kommt Żytyniec zu dem Schluss, dass die Kulturgemeinschaft Borussia wichtige Erfolge verbuchen könne, nämlich: zum ersten Mal habe die ostpreußisch-regionale Literatur innerhalb der gesamt-polnischen Literatur starke Beachtung gefunden, wozu deren literarische Qualität – befreit von den Fesseln staatlicher Vorgaben – entscheidend beitrug; trotz aller Widerstände, trotz des Wiederaufflammens der so genannten „geschlossenen“ nationalen Haltung, sei das durch Borussia geschaffene „offene“ Funktionsgedächtnis im polnischen Erinnerungsdiskurs zur vorherrschenden Vergangenheitsauffassung über die Geschichte Ostpreußens geworden; das bis 1989 bestimmende ideologisch fundierte Funktionsgedächtnis habe seine Monopolstellung durch Borussia endgültig verloren. Żytyniec befasst sich noch ausführlich mit der Kontroverse zwischen Borussia und Erwin Kruk, der der Kulturgemeinschaft vorwarf, „sie wollten neue Masuren sein, anstelle von Masuren“25. Aber dies sei hier nur kurz angedeutet. In seiner Schlussbetrachtung fasst Żytyniec seine Ergebnisse noch einmal sehr übersichtlich und konzentriert zusammen und hebt dabei besonders hervor, dass der deutsch-polnische Antagonismus der Nachkriegszeit die wesentliche „Ermöglichungsbedingung“ für die Grundstruktur der Identifikationsbildung in den verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften nach 1945 war; dass die so genannte „Literatur der West- und Nordgebiete“ als Träger der Ideologie der „Wiedergewonnenen Gebiete“ als ein Teil der kommunistischen Legitimierung der Machtausübung in der Volksrepublik Polen fungierte; es war sozusagen ein Trick, mit dem die Kommunisten – die ja offiziell den proletarischen Internationalismus verkündeten – durch Appell an die niederen nationalistischen Instinkte als echte polnische Volksvertreter angesehen werden wollten, um so ihre sozialistischen Ziele durchzusetzen; dass die Veränderungen in den polnischen und deutschen Gedächtniskulturen nach 1989 zum ersten Mal seit 1945 die Bedingungen für einen freien europäischen, nicht einseitig nationalistisch vorbelasteten (literarischen) Erinnerungsdiskurs über Ostpreußen geschaffen haben. Und er appelliert daran, diese einmalige Chance kreativ zu nutzen und warnt eindringlich davor, in der literarischen Erinnerungsarbeit auf Positionen zurückzufallen, deren Ziel darin besteht, den alleinigen polnischen oder deutschen Anspruch auf Ostpreußen zu beweisen; und er schließt mit dem Satz: „In diesem Sinne ist Siegfried Lenz recht zu geben, wenn er in seinem Roman ‚Heimatmuseum’ die Existenzfähigkeit aller Menschen, die ihre Heimat verloren haben, davon abhängig macht, ob sie aufhören, die alleinige Wahrheit in der Vergangenheit zu suchen.“26

25 26

Ebd. S. 250. Ebd. S. 269.

Ostpreußen als Erinnerungslandschaft

199

Diesen Schlusssatz hatte ich als ersten Satz gelesen, als ich das Buch zum ersten Mal aufschlug, und es war dieser Satz, der mich bewogen hat, mich intensiv mit dem Buch von Rafał Żytyniec zu beschäftigen und es hier vorzustellen. Ich möchte noch einen Gedanken anschließen. Dem einen oder anderen – ich weiß nicht, wie vielen, oder ob überhaupt – wird die kritische Sicht von Żytyniec auf das Ostpreußenblatt und die von ihm vertretene Erinnerungsgemeinschaft vielleicht ein Ärgernis sein. Vielleicht kommt als zweites Ärgernis hinzu, dass von mir eigentlich eine distanziert-kritische Auseinandersetzung mit den Thesen des Autors erwartet wurde; dies wollte ich jedoch, aufgrund meines persönlichen Hintergrundes, meiner Überzeugungen, nicht. Dafür bitte ich um Verständnis. Zur Erläuterung: Wirklich lieben kann man meiner Erfahrung nach nur das, was wahrhaftig, was authentisch ist. Zu meiner Liebe zu Ostpreußen bin ich zwar über den Umweg des mythischen Idealbildes gekommen, das mich aber nicht befriedigen konnte; die mythische Verklärung empfand ich – ich persönlich, ich beanspruche das nur für mich – von Kindheit an als etwas zutiefst Unechtes; ihr wollte ich auf den Grund gehen. Nicht alle deutschen Ostpreußen konnten nur aufrechte, pflichtbewusste, treue Menschen gewesen sein, nicht alle anderen konnten – wenn sie überhaupt erwähnt wurden – Menschen mit Charaktereigenschaften gewesen sein, die gemeinhin mit dem Wort „die Polacken“ assoziiert werden. Ich wollte wissen, wie die Landschaft wirklich aussah. Und zu meiner Freude entspricht sie – noch – sehr den inneren Bildern von früher, und ich werde immer wieder allein um ihretwillen dorthin reisen. Ich wollte wissen, was für Menschen meine Großeltern wirklich waren. Bei ihnen bleibt mir nur die Exegese von Ordnern voller unbekannter Briefe, die sie von 1939 bis in die letzten Tage vor ihrer Ermordung an meinen Vater geschrieben haben, die ich nach seinem Tod in einem verstaubten Karton im Keller fand, um aus verblassender Tinte das Bild wirklicher Menschen, mit Eigenarten und Schrullen, auch mit weniger schönen Charakterzügen, herauszufiltern; aber dies tut meiner Liebe zu diesen Menschen, die ich nie kennen gelernt habe, nicht etwa Abbruch, sondern begründet sie erst wirklich.

201

Maximilian Kaller (1880-1947) 1890

Geburt in Beuthen (Oberschlesien)

1899

Abitur am staatlichen Gymnasium in Beuthen

1899-1903

Studium der Theologie in Breslau

1903

Priesterweihe durch Fürstbischof Georg Kardinal Kopp

1903-1905

Kaplan in Groß Strehlitz

1905-1917

Pfarradministrator und (seit 1910) Pfarrer von St. Bonifatius in Bergen (Rügen)

1917-1926

Pfarrer von St. Michael in Berlin-Mitte und -Kreuzberg

1926-1929

Apostolischer Administrator der Apostolischen Administratur Tütz- Schneidemühl

1929-1930

Prälat der Freien Prälatur Schneidemühl

1930-1947

Bischof von Ermland

1939-1945

Apostolischer Administrator der Freien Prälatur Memel

1946-1947

Päpstlicher Sonderbeauftragter „zur Betreuung der katholischen Ostflüchtlinge“

1947

Tod durch Herzschlag in Frankfurt (Main), Beisetzung auf dem Friedhof zu Königstein (Taunus)

202

Ortsregister Allenstein (poln. Olsztyn) 8, 71, 174, 188-190, 195, 196 Altötting 53, 63 Amerbusch 88, 89 Amerika 160 Ammerland 78 Angerapp 14 Angerburg (poln. Węgorzewo) 14 Augsburg 69 Auschwitz (poln.Oświęcim) 139, 145 Baden 94, 99 Baden-Württemberg 94, 101-104 Bad Godesberg 95 Bagrationowsk siehe Preußisch Eylau Baltenländer, Baltikum 113, 114, 127, 130, 132 Barczewo siehe Wartenburg Bartenstein (poln. Bartoszyce) 14 Bartoszyce siehe Bartenstein Bergen auf Rügen 24, 27 Berlin 1, 7-11, 13, 15, 17, 19, 21, 24, 26, 27, 35, 48, 50, 69, 71, 78, 111, 127, 131, 133, 137, 139, 154, 163, 165, 173, 178, 181, 182, 184, 187, 188, 193, 197 Berlin-Biesdorf 9, 10 Berlin-Kreuzberg 27 Beskiden 112 Bessarabien 127 Bethen 63, 77 Beuthen (poln. Bytom) 23, 24 Blexen 83 Bochum-Stiepel 63 Bockhorn (Kreis Friesland) 77 Bodensee 86 Böhmen 53 Bösel 85 Brandenburg 69, 120 Branice siehe Branitz Bránice siehe Branitz Branitz (poln. Branice, tschech. Bránice) 77 Breslau (poln. Wrocław) 9, 14, 15, 2426, 33, 35, 77, 81, 85, 132, 137, 140, 141, 143, 154, 158, 162, 179-182 Buchenland siehe Bukowina Bukowina 120, 127 Bundesrepublik Deutschland 1, 55, 69, 95-97, 156, 176, 179, 196 Burgund 112 Bytom siehe Beuthen

Chełmno siehe Kulm Chełmno nad Nerem siehe Kulmhof an der Nehr Ciechanów siehe Zichenau Cloppenburg 77, 78, 82 Częstochowa siehe Tschentochau Dachau 136, 141, 145, 146, 160-162, 168, 169 Damme 77, 85 Dänemark 37, 59 Danzig (poln. Gdańsk) 14, 113, 123, 130, 137-139, 158, 163, 187 Danzig-Westpreußen, Reichsgau 118, 123, 128, 137, 138, 166, 171 Darfur 177 DDR 3, 97, 183 Delmenhorst 78, 83, 84 Deutschland, Deutsches Reich 1-3, 7, 11, 12, 15, 16, 21-23, 26, 30, 32, 36, 37, 42, 45-47, 51, 54, 55, 59, 60, 63, 65-71, 73-75, 81, 84, 89, 92, 94-104, 106, 107, 110, 111, 114-116, 119, 120-122, 126-130, 133, 137, 138, 142, 144, 150, 154, 155, 158, 159, 161-164, 166-170, 173-176, 178, 179, 181, 183, 184, 185, 196 Dietrichswalde (poln. Gietrzwałd) 28, 63 Dinklage 85 Dobre Miasto siehe Guttstadt Dobrudscha 113, 127 Działdowo siehe Soldau Ebenrode (Stallupönen) 14 Eichenhain 117 Eichstätt 47, 49, 53 Eichsfeld 75 Eisersdorf (poln. Żelazno) 86 Elbing (poln. Elbląg) 9, 14, 70 Elbląg siehe Elbing Ełk siehe Lyck Emsland 75 Ermland 1, 2, 8, 12-14, 16, 22, 24, 27, 28, 30-33, 35, 39, 40, 48, 55-59, 63, 65, 66, 69, 70, 73, 77, 80, 127, 137, 138, 153, 158, 175, 184, 189, 197 Estland 116, 121 Europa 2, 36, 45, 46, 91, 92, 94-96, 101, 105, 107, 109, 113, 125, 127, 173, 185, 188 Finnland 193

Ortsregister

Fischhausen (russ. Primorsk, poln. Rybaki) 13 Frankfurt am Main 48, 49, 51, 95 Frankfurt (Oder) 188 Frankreich 36, 47, 150 Frauenburg (poln. Frombork) 12, 28, 31, 70 Friesland 77, 78, 88 Frombork siehe Frauenburg Fulda 8, 9, 35 Galizien 113, 126, 128, 143 Ganderkesee 77 Gdańsk siehe Danzig Gdingen (poln. Gdynia) 121, 123, 183 Gdynia siehe Gdingen Gelsenkirchen 14, 75 Generalgouvernement 111, 116, 117, 128, 136, 138, 139, 142-149, 159, 169, 176 Gerdauen (russ. Schelesnodoroschny) 14 Gietrzwałd siehe Dietrichswalde Giżycko siehe Lötzen Glatz (poln. Kłodzko) 77, 83, 86, 175 Glogau (poln. Głogów) 188 Głogów siehe Glogau Gnesen (poln. Gniezno) 129, 131, 133, 137, 141, 167 Gnesen-Posen 129-131, 137, 148 Gniezno siehe Gnesen Goldap (poln. Gołdap) 9, 14 Gołdap siehe Goldap Gotenhafen siehe Gdingen Greven 69 Großbritannien 150 Großpolen 176 Groß-Strehlitz (poln. Strzelce Opolskie) 24 Grunwald/Tannenberg, Schlacht von 189 Gumbinnen (russ. Gussew) 8, 14 Gusen 141 Gussew siehe Gumbinnen Guttstadt (poln. Dobre Miasto) 72 Halle/Saale 32, 34, 36, 45, 48, 62, 74, 80 Hamburg 51 Hannover 60, 188 Hegewald 117, 118 Heidelberg 95 Heiligenbeil (russ. Mamonowo) 13, 193 Heilsberg (poln. Lidzbark Warmiński) 71 Hildesheim 6, 17, 74, 75

203

Hohenheim 95 Insterburg (russ. Tschernjachowsk) 14 Italien 12, 109, 110, 146 Itzehoe 63 Jaderkreuzmoor 86 Jasło 183 Johannisburg (poln. Pisz) 14 Jugoslawien 92, 94, 177 Kaliningrad siehe Köningsberg Kaliningrader Gebiet (russ. Kaliningradskaja oblast) 197 Kaliningradskaja oblast siehe Kaliningrader Gebiet Katowice siehe Kattowitz Kattowitz (poln. Katowice) 123, 128, 137, 140, 143, 148, 150-152, 159, 162, 163, 168, 170 Kärnten 112 Kętrzyn siehe Rastenburg Kielce 140, 143, 145, 146, 152 Klaipėda siehe Memel Klaipėdos kraštas siehe Memelland Kłodzko siehe Glatz Köln 9, 14, 15, 33, 48, 75, 80, 170 Königsberg (russ. Kaliningrad, poln. Królewiec) 8, 13, 14, 32, 165, 191 Königstein/Taunus 23, 34, 45-47, 49, 50, 60, 81 Korosten 117 Krakau (poln. Kraków) 129, 135, 140, 142-144, 146, 151, 156, 159, 177 Kraków siehe Krakau Krim 111, 112 Królewiec siehe Königsberg Kronberg 47 Kulm (poln. Chełmno) 137, 138, 149, 159, 163, 164, 167, 168, 171, 176 Kulmhof an der Nehr (poln. Chełmno nad Nerem) 144 Kulm-Pelplin 137, 138, 148 Kwidzyn siehe Marienwerder Labiau (russ. Polessk) 14 Ląd 159 Langenhagen 75, 188 Lazarus 131 Leipzig 75 Lemberg (ukrain. Lwiw, poln. Lwów) 129, 143, 145, 180 Leslau (poln. Włocławek) 130 Lettland 116 Lidzbark Warmiński siehe Heilsberg Limburg 49, 65 Lingen/Ems 17, 84 Lippstadt 48, 52

204

Ortsregister

Litauen 126, 127, 196 Litzmannstadt (poln. Łódź) 113, 119, 123, 130, 144 Lodsch, Lodz, Łódź 129-132, 143, 144, 148, 161, 177 Łomża 143, 148, 165 London 141 Löningen 82, 83 Lötzen (poln. Giżycko) 14 Lublin 117, 143-145, 149, 159, 179 Ludwigsort 13 Lüneburger Heide 75 Lutten 88 Lwiw siehe Lemberg Lwów siehe Lemberg Lyck (poln. Ełk) 9, 13, 14, 188 Mähren 112 Mainz 74, 188 Malbork siehe Marienburg Mamonowo siehe Heiligenbeil Mannheim 98 Marienburg (poln. Malbork) 14 Marienwerder (poln. Kwidzyn) 14 Masuren 188, 197 Mauthausen 141 Mecklenburg 35, 60, 69, 75 Meersburg am Bodensee 86 Mehlsack (poln. Pieniężno) 73 Meissen 35 Memel (lit. Klaipėda) 138 Memelland (lit. Klaipėdos kraštas) 138 Mohrungen (poln. Morąg) 14 Morąg siehe Mohrungen Mrągowo siehe Sensburg München 51-53, 68, 169 Münster 1, 4-6, 9, 14, 15, 17, 20, 66, 67, 69, 74, 77-82, 86 Münsterland 15, 75, 88 Neidenburg (poln. Nidzica) 14 Neman siehe Ragnit Nessau (poln. Nieszawa) 180 Nidizica siehe Neidenburg Niedersachsen 69, 72, 77 Niederung /Elchniederung), Landkreis (russ. Slawski rajon) 14 Nieszawa siehe Nessau Nordenham 86 Nordseebad Schillig 88 Nowy Sącz 145 Nußtal (poln. Orzechowo) 70 Obersalzberg 149 Oberschlesien 120, 128, 140-143, 156, 181

Oblast Kaliningrad siehe Kaliningrader Gebiet Oelde 74 Oldenburg 77-79, 82-86, 88, 89 Oldenburger Land 2, 63, 77, 78, 89 Oldenburger Münsterland 85, 88, 89 Olecko, Oletzko siehe Treuburg Olmütz (tschech. Olmouc) 77 Olmouc siehe Olmütz Olsztyn siehe Allenstein Opole siehe Oppeln Oppeln (poln. Opole) 141, 181 Oranienburg-Sachsenhausen 145 Orneta siehe Wormditt Ortelsburg (poln. Szczytno) 14 Orzechowo siehe Nußtal Osnabrück 35, 39, 68, 75 Österreich 110, 118, 132 Osterode (poln. Ostróda) 14 Ostpreußen 4, 8, 12, 13, 15, 32, 37, 39, 71, 73, 128, 139, 164, 165, 175, 176, 184, 188-192, 194-199 Ostrołęka 165 Ostrów Wielkopolski siehe Ostrowo Ostrowo (poln. Ostrów Wielkopolski) 161 Paderborn 9, 14, 35, 39 Pelplin 137 Pieniężno siehe Mehlsack Piła siehe Schneidemühl Pisz siehe Johannisburg Płock, Plotzk, Plozk 130, 137, 139, 148, 159, 164, 165 Polen 2-4, 12, 70, 71, 91, 92, 105, 111, 113, 114, 117, 118, 125, 128, 129, 136, 137, 141, 143, 147-159, 163, 168, 169, 172, 174-176, 178-187, 189, 194-198 Polessk siehe Labiau Posen (poln. Poznań) 113, 117, 121, 123, 128-131, 136, 144, 148, 149, 151, 166, 167, 172, Posen-Gnesen, Erzbistum 159 Potsdam 28, 96, 178 Poznań siehe Posen Prag 49, 77 Preußen 188 Preußisch Eylau (Bagrationowsk) 13 Primorsk siehe Fischhausen Przemyśl 143, 148 Radom 144 Ragnit (russ. Neman) 14 Rastenburg (poln. Kętrzyn) 14 Recklinghausen 14, 81, 82

Ortsregister

Regensburg 74 Rhön 75 Rom 14, 28, 45-48, 51, 71, 110, 135, 136, 147-149, 160 Rosenberg i. Westpr. (poln Susz) 14 Rottenburg 14, 99 Rottenburg-Stuttgart, Diözese 91 Rügen 1, 50 Rumänien 92, 114, 126, 127, 130 Russland 130, 176, 196 Rybaki siehe Fischhausen Sachsen 34, 35, 60, 120 Sachsenhausen 145, 146, 159 Samland 191 Sandomierz siehe Sandomir Sandomir (poln. Sandomierz) 129, 143, 146, 149 Saterland 86 Schelesnodoroschny siehe Gerdauen Schlesien 37, 82, 85, 128, 141, 149, 152, 156, 181 Schleswig-Holstein 60, 69, 75 Schloßberg 14 Schneidemühl (poln. Piła) 1, 2, 26-28, 47, 48, 81, 137 Schroda (poln. Środa Wielkopolska) 130 Schröttersburg (poln. Płock) 130 Schweiz 160 Schytomyr siehe Shitomir Sensburg (poln. Mrągowo) 14 Shitomir (ukrain. Schytomyr) 117 Sibirien 176 Siedlce 129, 143, 145, 148, 149 Slawski rajon siehe Niederung Snamensk siehe Wehlau Soldau (poln. Działdowo) 139 Sowetsk siehe Tilsit Sowjetische Zone 33, 35, 36, 45, 49, 67, 69, 73, 81, 176 Sowjetunion 92, 109, 111, 113, 114, 117, 121, 128 Spanien 160 Środa Wielkopolska siehe Schroda Stade 75 Stalingrad 116 Stalluppönen siehe Ebenrode Starnsee 70 Steiermark 112 Steinau 75 Strzelce Opolskie siehe Groß-Strehlitz Strücklingen 86-88 Stuttgart 100, 107 Stutthof (poln. Sztutowo) 171

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Südamerika, Südamerikanische Staaten 36, 73, 160 Sudetenland 12, 120, 132 Südtirol 110-114 Sulejki siehe Suleyken Suleyken (poln. Sulejki) 192 Susz siehe Rosenberg i. Westpr. Szczytno siehe Ortelsburg Sztutowo siehe Stutthof Tarnów 129, 143, 149 Thüringen 35, 60 Tilsit (russ. Sowetsk) 9, 14 Tilsit-Ragnit (Landkries) 14 Tirol-Vorarlberg 112 Treuburg (bis 1933 Oletzko, poln. Olecko) 14 Tschechoslowakei 2, 91, 92, 94, 100, 125 Tschenstochau (poln. Częstochowa) 130, 140, 142, 143, 148, 149, 156 Tschernjachowsk siehe Insterburg Trier 9, 13, 14 Tuczno siehe Tütz Tübingen 95, 98, 104 Tütz (poln. Tuczno) 137 Tütz/Schneidemühl, Apostolische Administratur 24 Ukraine 117, 130, 196 Ungarn 92, 94, 100 Ural 105, 106, 117, 127 USA 36 Vatikan 45, 46, 82, 128, 129, 134, 162, 170 Vechta 78, 79, 81-85, 88, 89 Vilnius siehe Wilna Vogtland 120 Walldürn 63 Wallisfurth (poln. Wolany) 86 Warschau (poln. Warszawa) 129, 130, 139, 142-145, 148, 165, 174, 176, 177, 179, 183, 188 Warszawa siehe Warschau Wartenburg (poln. Barczewo) 197 Wartheland, Reichsgau 117, 118, 123, 124, 128-130, 132-136, 138, 142145, 150, 158, 160, 161, 166-169, 171 Węgorzewo siehe Angerburg Wehlau (russ. Snamensk) 14 Werl 35, 39, 55, 58, 63, 65, 77 Wesermarsch 78, 86 Westfalen 80, 82 Westpreußen 163, 164, 176, 185

206

Wiedenbrück 80 Wien 27 Wildeshausen 82, 83 Wilhelmshaven 78 Wilna (poln. Wilno, lit. Vilnius) 129, 180 Wilna siehe Wilna Włocławek 130, 131, 137, 148, 159 Wolany siehe Wallisfurth Wolhynien 113, 127, 130, 132, 176 Wormditt (poln. Orneta) 73 Wrocław siehe Breslau Württemberg-Baden 94, 99 Württemberg-Hohenzollern 94, 99 Zamość 117, 118 Żelazno siehe Eisersdorf Zichenau (Ciechanów) 123, 128, 139, 164, 165 Zittau 75

Ortsregister

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Personenregister Adamski, Stanisław 140-143, 150-152, 162, 163 Adenauer, Konrad 57 Albrecht, Dietmar 196 Altena, Friedrich-Wilhelm 119 Aquin, Thomas von 53 Assmann, Jan 190 Augsten, Stefan 22 Ausländer, Rose 196 Baeumker, Clemens 25 Bafile, Corrado 155 Bartoszewski, Władysław 180 Basner, Bruno 75 Behrends, Hermann 109, 110, 118 Beneš, Edvard 182 Bergen, Diego von 137 Berning, Hermann Wilhelm 75 Bertram, Adolf 9, 25, 132, 133, 137, 140, 143, 150, 158, 160, 162, 163, 167-171 Bethke, Hermann 139 Bieniek, Juliusz 142 Bierut, Bolesław 182 Binkowski, Johannes 24 Blericq, Edouard van 131, 133, 134, 160 Blessing, Werner 103 Bludau, Augustin 27, 28 Bobrowski, Johannes 190, 193, 196 Bohle, Ernst Wilhelm 107, 108 Bormann, Martin 111, 129, 136, 167, 170 Borromäus, Karl 45 Bracht, Fritz 142 Brakoniecki, Kazimierz 191, 195-197 Brandt, Willy 192, 194 Breitinger, Hilarius 130, 134-136, 151, 167, 171, 172 Broszat, Martin 126 Brühn, Ursula 70 Brust, Alfred 196 Bulitta, Franz 164 Büttner, Albert 33, 46-50 Cartellieri, Gerhard 72 Casaroli, Agostino 155 Celan, Paul 196 Clauss, Manfred 128, 159 Cortesi, Filippo 144, 150 Dąbrowski, Bronisław 155 Dirichs, Ferdinand 49, 65 Dolezalek, Alexander 113, 117 Dominik, Konstanty 137

Dönhoff, Marion 194, 196 Döpfner, Julius 154, 155 Dudek, Paul 71 Dymek, Walenty 131, 133, 134, 148, 166, 168, 172 Dzido, Henryk 182 Edding, Friedrich 96 Engelhardt-Kyffhäuser, Otto 126 Faulhaber, Michael von 68 Ferche, Joseph 33 Figielski, Stanislaw 165 Fijałkowski, Zenon 128 Fitzner, Georg 85 Fleischhauer, Franz 86 Fleißner, Kurt 74 Forster, Albert 123 Frank, Hans 143 Franziskus, Hl. 50, 60 Frings, Josef 48-51 Fröhlich, Siegfried 96 Fulman, Marian Leon 145 Fürstenau, Justus 72 Galen, Clemens August 9, 21, 30, 67, 74 Gall, Stanisław 148 Gillmann, Wilhelm 79 Giordano, Ralph 196 Glemp, Józef 150, 156, 178 Goebbels, Joseph 84, 144, 146 Goebel, Georg 86 Goral, Władysław 145 Grafenhorst, Heinrich 82-84, 87 Grass, Günter 190, 192-194 Greifelt, Ulrich 109, 111, 114-116, 120, 121, 124 Greiser, Arthur 117, 130-136, 139, 144, 161 Groeber, Conrad 67 Günther, Hubertus 84, 88 Gustloff, Wilhelm 177, 193 Hagen, Hans 119 Haibach, Franz 52 Hartz, Franz 47, 137 Haushofer, Karl 108 Heider, Georg 72 Heimbrock, Hans-Günter 64 Hein, Manfred Peter 190, 193, 196 Herbert, Ulrich 121 Herder, Johann Gottfried 196 Heß, Rudolf 108, 109 Heydrich, Reinhard 108, 109, 120, 127, 149

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Personenregister

Hillen, Johannes 86 Himmler, Heinrich 2, 105, 106, 108118, 120-123, 125-127, 135, 142, 144, 160 Hintze, Kurt 120 Hinz, Ludwig 73 Hirschfeld, Michael 60 Hitler, Adolf 2, 30, 31, 96, 105, 108, 110, 111, 113, 114, 124, 125, 128, 129, 135, 143, 144, 148, 149, 168, 191 Hlond, August 32, 33, 71, 129, 131, 137, 138, 144, 148, 150, 152, 181, 186 Hofer, Franz 112 Holz, Arno 196 Höpfner, Bernhard 74 Hoppe, Paul 55 Hütter, Hans Walter 79 Hüttermann, Joseph 14 Hupka, Herbert 156, 180 Jäger, August 131 Jalufka, Josef 69 Januszczak, Mieczysław 161 Jasiński, Włodzimierz Bronisław 129, 131, 161 Jendrzejczyk, Hugo 85 Johannes Paul II., Papst 146 Jolles, Hido 94 Jordan, Johannes 74 Kaczmarek, Czesław 145, 152 Kaczyński, Lech 183 Kaczyński, Jarosław 185 Kajka, Michal 191, 195 Kakowski, Aleksander 129, 148 Kalisz, Ryszard 182 Kaltenbrunner, Ernst 162 Kaminski, Leo 164 Kampen, Theodor 86, 87 Karls, Eberhard 95 Kather, Arthur 55, 66, 73, 88, 89 Keller, Michael 21, 83, 86, 88, 89 Kempowski, Walter 194 Kerrl, Hans 167 Kershaw, Ian 111 Kewitsch, Paul 164, 165 Kindermann, Adolf 33, 46, 47, 49 Klein, Bernhard 75 Kleineidam, Erich 25 Knauft, Wolfgang 28 Koch, Erich 117, 139 Kominek, Bolesław 141, 154 Kopp, Georg von 24 Kösters, Christoph 30

Kozał, Michal 159 Kozal, Michal 168 Kral, Eugeniusz 151 Kruk, Erwin 191, 195, 198 Krzemiński, Adam 181 Kuhn, Anton 69 Kursell, Otto von 108, 109 Kutschki, Bruno 75 Labonté, Maria 47 Lachauer, Ulla 196 Lachmann, Piotr 196 Lammers, Hans Heinrich 110, 118 Latusek, Paweł 141 Lehmann, Karl Kardinal 178 Lemberg, Eugen 96 Lenz, Siegfried 190, 192, 193, 198 Lipscher, Winfried 196, 197 Lisowski, Franciszek 129 Litzmann, Karl 144 Lorek, Jan Kanty 129 Lorenz, Werner 109 Lüpschen, Heinrich 14 Luther, Martin 31 Maglione, Luigi 133, 135, 136, 138, 139, 144, 146, 160, 161, 165, 165, 166, 168 Marquardt, Aloys 165 Mende, Alfons 14 Menslage, Heinrich 85 Meyerratken, August 87 Michnik, Adam 181, 182 Miegel, Agnes 190-192 Missalla, Heinrich 31 Monse, Franz 84 Montgomery, Bernhard 67 Moses 65 Müller, Bruno 146 Mussolini, Benito 110, 148 Myszor, Jerzy 140, 143, 151 Nero, Kaiser 58 Nietzsche, Friedrich 31 Nikel, Johannes 26 Nowowiejski, Antoni Julian 139, 159 Okoniewski, Stanisław Wojciech 137 Orlowski, Hubert 196 Orsenigo, Cesare 50, 133-135, 137, 138, 140, 141, 146, 158-162, 165, 166, 168, 170 Pacelli, Eugenio 26 Paech, Joseph 133-135, 172 Paukszta, Eugeniusz 191, 195 Paul VI., Papst 155 Penkert, Alfred 23, 39, 66 Peter, Bruno 85

Personenregister

Pius XI., Papst 1, 144 Pius XII., Papst 36, 71, 80, 81, 138, 144, 148, 160, 163 Pfeil, Elisabeth 70 Piontek, Ferdinand 152 Ploetz, Lothar 70 Plump, Gottfried 85 Pohl, Oswald 120 Pohlschneider, Johannes 82, 84, 85 Preuschoff, Justus 75 Preysing, Konrad Graf von 30, 37, 70, 160 Przeździecki, Henryk 129 Quint, Johannes 14 Rarkowski, Franz Justus 30 Ribbentrop, Joachim von 160, 161 Richter, Helmut 77 Riedel, Clemens 154 Roegele, Otto B. 22, 54 Ronge, Johannes 24 Ronge, Wanja 174 Rosenkranz, Otto 74 Rydzyk, Tadeusz 185 Samerski, Stefan 140 Sandberger, Martin 121 Sander, Franz 28 Sapieha, Adam Stefan 135, 142, 144, 146, 147, 151 Schäfer, Aloys 26 Scharnowski (Szarnowski), August 71 Schikowski, Ulrich 14 Schmitt, Hermann-Joseph 6, 10, 19, 21 Schröder, Gerhard 183 Schulz, Alfons 70 Schuster, Gerhard 77 Schwinden, Nikolaus 13 Sdralek, Max 25 Siegmund, Harry 117 Siemer, Callistus 89 Sikorski, Władysław 141 Simons, Gerhard 14 Skowronnek, Fritz 196 Sladek, Paulus 35, 51-54, 68 Śmigiel, Kazimierz 134, 172 Sokołowski, Czesław 145 Sommer, Franz 85-87 Splett, Carl Maria 137-139, 150, 151, 162, 163, 171 St. Albertus 60 Stanislaus, Leszczyński 144 Steengracht, Gustav Adolf 162 Steinacher, Hans 107, 109 Steinbach, Erika 182, 185 Stepa, Jan 129

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Steuer, Albert 134 Strunz, Hubert 14 Strzyż, Franz 140 Sudermann, Hermann 196 Surminski, Arno 194, 196 Świrski, Ignacy 129 Swoboda, Heinrich 27 Szlaga, Jan Bernard 172 Szramek, Emil 141 Szudzinski, Anastasius 70 Taubitz, Monika 86 Thamm, Kaspar 72 Tillmann, Paulus 81, 82 Toller, Ernst 196 Tolomei, Ettore 110 Tomczak, Kazimierz 131, 161 Traba, Robert 184, 188, 195, 196 Tschierschky, Karl 121 Tusk, Donald 185 Uhland, Ludwig 95 Völkerding, Heinrich 88 Volkmann, Wilhelm 81 Vorwerk, Franz 80, 86 Wasser, Bruno 126 Weizsäcker, Ernst von 133, 159, 160, 161, 170 Wenning, Heinrich 14 Westpfahl, Hans 75 Wetmański, Leon 139, 159 Wiechert, Ernst 196 Wieczorek, Felix 70 Wienken, Heinrich 162, 163, 166-169 Wildt, Michael 121 Wojtyła, Karol 146, 156 Wolf, Ägidius 14 Wosnitza, Franz 140, 152 Wronna, Joseph 75 Wuttke, Britta 196 Wyszyński, Stefan 153-156, 179 Zaleski, August 141 Zeiger, Ivo 22, 47, 54 Żurek, Robert 3, 143, 152, 153, 155, 172 Życzyński, Józef 179 Żytyniec, Rafał 188-199

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Autorenverzeichnis

Mathias Beer Dr. Mathias Beer, geb. 1957, seit 2007 Geschäftsführer und stellvertretender Leiter der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Rainer Bendel Dr. Rainer Bendel, geb. 1964, seit 2011 apl. Prof. für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Tübingen. Hans-Jürgen Bömelburg Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, geb. 1961, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Gerd Fischer Gerd Fischer, geb. 1945, bis 2010 Lehrer an der Integrierten Gesamtschule Langenhagen für Englisch und Geschichte. Thomas Flammer Dr. Thomas Flammer, geb. 1975, seit 2004 Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für die Geschichte des Bistums Münster und Geschäftsführer des Instituts für religiöse Volkskunde in Münster, seit 2005 Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte an der Universität Kassel. Michael Hirschfeld PD Dr. Michael Hirschfeld, geb. 1971, Studienrat am Gymnasium Lohne sowie Dozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Vechta. Hans-Jürgen Karp Dr. Hans-Jürgen Karp, geb. 1935, zuletzt stellv. Direktor des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg, Vorsitzender des Historischen Vereins für Ermland Karolina Lang-Vöge Dr. des. Karolina Lang-Vöge, geb. 1980, seit 2011 Leiterin des Bildungswerks der Konrad-Adenauer-Stiftung in Oldenburg.

Autorenverzeichnis

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Markus Leniger Dr. Markus Leniger, geb. 1968, seit 1999 Studienleiter an der Katholischen Akademie Schwerte. Alfred Penkert Alfred Penkert, geb. 1933, bis 1996 Lehrer an höheren Schulen in den Fächern Geschichte, Deutsch und katholische Religionslehre Gregor Ploch Dr. Gregor Ploch, geb. 1977, 2008-2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen, seit 2012 in der Erzdiözese Wien tätig.

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Karten

Aus: Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939 –1959. Warszawa: Demart 2009, S. 162

Karten

Aus: Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939 – 1959. Warszawa: Demart 2009, S. 170

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Karten

Aus: Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939 – 1959. Warszawa: Demart 2009, S. 192

Karten

Aus: Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939 – 1959. Warszawa: Demart 2009, S. 193

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