Matratze/Matrize: Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur [1. Aufl.] 9783839432051

On the mattress as matrix: this volume investigates the formation processes and knowledge complexes in this supposedly m

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German Pages 464 [462] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen. Die gebrauchte und die neue Matratze: Zwei Matratzenszenarien
Bezugssystem Matratze [Denkausschnitte]
Zum Buch
I. Sozial- und Materialordnung : Prägung
„Haftsack, Knochenkoffer, Fickmaschine“. Matratze/Matrize: Körper von Normierung und Einschreibung in Hafträumen
Abdruck und Empfindung – Spuren eines Bewegungsgefüges (Assoziationen zum Thema)
Die Masse als Matratze, aus der alles hervorgeht: Soziales Fleisch und die „Verlegenheiten“ der Repräsentationskritik in Horrorfilm und Comedy
LGBT**: Matrizen des contrat sexuel – Matratzen des Begehrens im Aufbruch
„Wohnen im Gewoge“. Sehnsucht zwischen erogenen und hysterogenen Zonen
Ein Blick unter die Matrize. Annäherungen an die Kontemplation mittels der „Ästhetik des Performativen“ ausgehend von der Eremitage des Linzer Mariendoms
„Sogar das Bett“ – Verwahrloste Matratzen. Zum Phänomen Messie-Sendung
II. Stadtkörper und Wohnpolitiken: Behausung
„Betten und Matratzen an die Sonne“. Die Neue Wohnung und der Normalisierungs- und Sexualisierungsdiskurs in der Weimarer Republik
Schlaf, Gesundheit und Moral. Zur Geschichte des Schlafs und den „nachtheiligen Folgen“ warmer Federbetten
Matrizenbau und Matratzenlage: von Wohnraumspekulation zu Obdachlosigkeit
Mehrfach besetzter Platzhalter. Die Figur der Matratze in der medialen Berichterstattung über den Protest und die Unterbringung von geflüchteten Menschen
Wohnen als Krise. Von der Diskursformation der UN-HABITAT-Konferenz 1976
III. Veröffentlichung und Privatisierung: Identität
Beweisstück Matratze. Dokumentarische Blicke ins Wohnen der Anderen
Ein Bett im Stadtraum? Félix González-Torres’ Untitled (1991) ‚im‘ Museum of Modern Art, New York 1992
Vom Playboy-Bett zu Tracey Emins My Bed – Die Matratze als Kommunikationsmaschine
The working glamour
Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden. Zur Protestsemiotik von Körper und Raum in den 1968er Jahren
Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung am Beispiel Florenz
Behagen und Unbehagen auf der Matratze
Gäste_Zimmer
Biografien
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Matratze/Matrize: Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur [1. Aufl.]
 9783839432051

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Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.) Matratze/Matrize

wohnen   +/−   ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz

wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 3 Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen

Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Universität Bremen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion: Katharina Eck, Johanna Hartmann Lektorat und Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN: 978-3-8376-3205-7

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Irene Nierhaus Kathrin Heinz (Hg.)

MATRATZE / MATRIZE Möblierung von Subjekt und Gesellschaft Konzepte in Kunst und Architektur

wohnen +/−  ausstellen

INHALT /

Matratze/Matrize Matratze  / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen.

11

Die gebrauchte und die neue Matratze: Zwei Matratzenszenarien

I r e n e N i e r hau s

Bezugssystem Matratze [Denkausschnitte]

41

Zum Buch

57

K at h r in H e in z

I r e n e N i e r hau s , K at h r in H e in z , K at ha r ina E c k , J o hanna H a rt mann

I. Sozial- und Materialordnung: Prägung. „Haftsack, Knochenkoffer, Fickmaschine“.

75

Matratze/Matrize: Körper von Normierung und Einschreibung in Hafträumen

H e idi H e l mh o l d

Abdruck und Empfindung – Spuren eines Bewegungsgefüges

101

(Assoziationen zum Thema)

M a r i e - Lu is e A ng e r e r

Die Masse als Matratze, aus der alles hervorgeht: Soziales Fleisch und die „Verlegenheiten“ der Repräsentationskritik in Horrorfilm und Comedy D r e h l i ro bnik

113

LGBT**: Matrizen des contrat sexuel – Matratzen des Begehrens im Aufbruch

133

„Wohnen im Gewoge“. Sehnsucht zwischen erogenen und hysterogenen Zonen

147

Ein Blick unter die Matrize.

167

A l i c e P e c h r igg l

G e o rg e s T e yss o t

Annäherungen an die Kontemplation mittels der „Ästhetik des Performativen“ ausgehend von der Eremitage des Linzer Mariendoms

S ib y l l e T r awö g e r

„Sogar das Bett“ – Verwahrloste Matratzen.

183

Zum Phänomen Messie-Sendung

I nsa h ä rt e l

II. Stadtkörper und Wohnpolitiken: Behausung.

„Betten und Matratzen an die Sonne“.

205

Die Neue Wohnung und der Normalisierungs- und Sexualisierungsdiskurs in der Weimarer Republik

Ch r is t ian e K e im

Schlaf, Gesundheit und Moral.

223

Zur Geschichte des Schlafs und den „nachtheiligen Folgen“ warmer Federbetten

S o nja K in z l e r

Matrizenbau und Matratzenlage: von Wohnraumspekulation zu Obdachlosigkeit G ab u h e ind l

235

Mehrfach besetzter Platzhalter.

251

Die Figur der Matratze in der medialen Berichterstattung über den Protest und die Unterbringung von geflüchteten Menschen

A nna- K at ha r ina Ri e d e l

Wohnen als Krise.

275

Von der Diskursformation der UN-HABITAT-Konferenz 1976

E l k e K r asn y

III. Veröffentlichung und Privatisierung: Identität.

Beweisstück Matratze.

291

Dokumentarische Blicke ins Wohnen der Anderen

A ng e l ika B a rt l

Ein Bett im Stadtraum? Félix González-Torres’ Untitled (1991) ‚im‘ Museum of Modern Art, New York 1992

309

Vom Playboy-Bett zu Tracey Emins My Bed – Die Matratze als Kommunikationsmaschine

325

The working glamour

349

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden.

361

E l e na Zani c h e l l i

T o bias Land e r

A nd r e as Ru mpfh u b e r

Zur Protestsemiotik von Körper und Raum in den 1968er Jahren

A ng e l ika Link e

Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung am Beispiel Florenz

389

Behagen und Unbehagen auf der Matratze

413

Gäste_Zimmer

425

Biografien

451

I l a r ia H o pp e T o m Lu t z

F r an z iska vo n d e n D r i e s c h

MATRATZE / MATRIZE

Irene Nierhaus

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen. Die gebrauchte und die neue Matratze: Zwei Matratzenszenarien

Eine gebrauchte, weggeworfene Matratze liegt am Straßenrand. Ihre Flecken und Abdrücke von Körperlichkeit, ansonsten im Privaten verborgen, liegen nun vor aller Augen offen da. Das Relief der Gebrauchsspuren und die zu Mustern geronnenen Körpersäfte verweisen auf Ereignetes – unverkennbar mit dem Körper und in einer Behausung Ereignetes. In den Schichten von Matratzen sammeln sich Geschichten, sind Beziehungen und Verhältnisse gespeichert. Es sind Matratzen, die, „obwohl sie stumm bleiben, auf all die Dinge anspielen, die wir auf ihnen tun – Schlaf, Traum, Sex“, sagt die Fotografin Hee Jin Kang zu ihren im Stadtraum fotografierten Objekten (Memento mori 2015). Das Intimste tritt ausgestellt nach außen und kodifiziert ein Äußerstes in der Darstellbarkeit von Körperlichkeit und Psyche – wie es Künstler_innen mit Bett- und Matratzenprojekten formuliert haben: Robert Rauschenberg im geschlitzten, besudelten Bed (1955); Jannis Kounellis in den seit den 1960er Jahren immer wieder aufgestellten Bettgestellen, die eine geschützte (o.  T., 1969, Bettgestell mit weißer Wolle) oder verletzte Leiblichkeit (o.  T., 2006, Bettgestell mit von roter Farbe durchtränkten Gurtenschnürungen) andeuten; die Bettartikulationen von Tracy Emin, die Sexualitäts- und Körperkulturen ausstellen und dabei Frauen Zugeschriebenes und von Frauen zu Verbergendes als Tabubruch schmerzvoll, zornig und lustvoll veröffentlichen, wie das zerwühlte My Bed (1998) oder das ordentlich romantische und dabei doch auch Ängste artikulierende Bett to Meet my Past (2002); die dokumentaristischen Fotografien von Bettenterritorien der Liebe, Gewalt, Leidenschaft, Freundschaft, Drogen und Krankheit in Nan Goldins Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit (1978–1986); oder in der Performance Reception

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Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

Room von Vito Acconci (1973, Abb. 1), bei der er nackt, nur teilweise mit einem Leintuch bedeckt auf einer Matratze liegt und durch Körperdrehungen im Wechselspiel immer neue Teile seines Körpers entblößt bzw. verdeckt, während seine Stimme über die Ängste beim Ausstellen seines Körpers und beim Ausstellen seiner Kunst spricht. Eine neue Matratze ist weiß, ihre Oberfläche glatt gespannt und als Prägung tritt noch am deutlichsten das Lineament des Stepprasters hervor. Wovon die gebrauchte Matratze scheinbar zu sprechen vermag, ist abwesend, doch auch die neue Matratze ist kein Nullpunkt, wie der Kauf einer Matratze zeigt. Beim Kauf gilt es, sich mit einer Reihe von Normen bekanntzumachen, z.  B. mit wissenschaftlichen Kriterien zu Wirbelsäulenlagerung, Schlafgewohnheiten, Gesundheitszustand, Körpergewicht, Schlafpositionen, Materialeigenschaften, Schichtenaufbau und -techniken, Härtegraden. Probeliegen oder gar der Besuch im Liegelabor komplettieren die Auswahl der Matratze, die, angeleitet von der Wissensautorität des Verkaufsberaters, ein ‚richtiges‘ Liege- und Schlafergebnis verspricht. Unter Vorgaben zur Hygiene, zur Vermeidung von Krankheit und zur Steigerung der Leistungsfähigkeit treten die Matratzen als institutionell-vernünftige Körperökonomien auf: „Innovative Schlaftechnologie für mehr Kraft und Energie [...] verbindet ausgefeilte Schlaftechnologie mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich der Ergonomie [...]. Die hochwertigen Schlafsysteme unterstützen Sie in jeder Liegeposition auf komfortable Weise und nachhaltig beim Sammeln neuer Energie. Die Rückgewinnung von Kraft und Leistungsfähigkeit wird durch die Performance der Matratze im Schlaf gefördert. Diese Eigenschaften machen [...] [sie] zum perfekten Schlafsystem für Menschen, die aktiv und fit durchs Leben gehen [...].“ 1 Die neue Matratze tritt als Therapieform auf, um einen öffentlichen, gesunden und leistungsfähigen Körper der Bevölkerung zu garantieren. Der Käufer, eingebettet in Ratgeberkompetenz und Liegeordnungen zur Optimierung von Körper und Geist, wird zugleich mit Kulturmaßstäben konfrontiert: „Darf ich im Bett fernsehen? Bitte nicht! [...] Gegen ein gutes Buch ist selbstverständlich nichts einzuwenden.“

1

Bettwarenstore24: Optimo Ergoline Performance 160/180/180 pro/180 XL pro/

220/220air Matratze, 9.6.2013, www.bettwarenstore24.de/epages/63653215.sf/de_ DE/?ObjectPath=/Shops/63653215/Categories/News/Optimo_Ergoline_Performance_160_180_180pro_180_pro_xl_220_220air_Matratze (letzter Zugriff am 27.2.2015).

12

Irene Nierhaus

Abb.  1  Vito

Acconci,

Reception

Room,

(Wittmann 2014, S. 13) Die Ordnungsrufe zum selbsttherapeutischen Verhalten sind dementsprechend in der persönlichen Anrede als individuelle Bedürfnisse formuliert (was Dein Rücken braucht, wie Du gerne liegst ...) und naturalisieren darin Biopolitisches als begehrenswerte Aufgabe des Selbst. Der Mythos vom Bett des Prokrustes, in dem zu langen Gästen die Beine gekürzt und zu kurze Gäste gestreckt wurden, formuliert das – wenn nötig gewaltsam – in ein Schema zwingende Normative, das ebenfalls von Künstler_innen thematisiert worden ist: so die in ein altes Krankenhausbettgestell eingegossene, fixierte Körperhohlform Bett (1971) von Walter Pichler; das Geburtenbett von Valie Export (1980), das den weiblichen gebärenden Körper als institutionell und klerikal bemächtigten und öffentlichen zeigt; die Fotoserien von Lucinda Devlin

13

1973

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

(1990er Jahre) von Therapieliegen in Wellnessanlagen und Hinrichtungsliegen in amerikanischen Gefängnissen; oder ins absurd Komische übersetzt, der sich im zu kleinen Bett abplagende Körper im Film Die Erbschaft (D 1936, Jacob Geis) mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt. Die Szenarien der gebrauchten und neuen Matratze markieren eine Spanne von Narrativen und Wissensformen von Körperlichkeit, Identität und Prägung, die im Rahmen des vorliegenden Buches weniger als klare Gegensätze denn in gegenseitiger Verwobenheit thematisiert werden. Das entspricht dem gedanklichen Umfeld der Forschung im Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen, in dem das Buchprojekt entstanden ist und das Wohnen als Konzeption eines individuellen und sozialen Aufenthalts im Gesellschaftlichen bzw. als sozial differenzierte und darin individualisierte Konfigurationen von Raumpolitiken denkt. Irgendwie wird ununterbrochen ge- und bewohnt: im Zimmer, im Auto, im Büro, im Café, auf der Straße, in Kartons von Wohnungslosen, im Bricolagegehäuse von Barackensiedlungen oder auf Feldbetten und Matratzen in Asylbewerber_innenheimen und Flüchtlingslagern – und nicht zuletzt gehört auch das durch kriegerische Konflikte und Vertreibung zerstörte, verunmöglichte Wohnen dazu. Wohnen in diesem Sinn denken will nicht essentialisierend Einblicke ins ‚Innerste‘ und Urgründlichste versprechen, sondern das ‚Intimste‘ und ‚Innerste’ selbst als Gefüge aus Beziehungen zwischen Akteur_innen, Objekten, Strategien, Institutionen etc. denken und dabei das Sprachliche als das Spielzeichnende im Feld mitreflektieren. In diesem Sinne würde das ‚Innerste‘, ‚Intimste‘, ‚Eigenste‘ und ‚Ursprüngliche‘ selbst als Spielanordnung sichtbar werden – was wiederum das Begehren nach und Erleben von ‚Intimstem‘ und ‚Eigenstem‘ nicht aufhebt.

Matratzen

/

Matrizen

zeigen

Wohnen ist nicht einfach, sondern immer zweifach. Womit gemeint ist, dass Wohnen als ‚eigenster‘, gesellschaftsferner Raum erscheint und zugleich sich immer als ein mit den allgemeinen Fragen einer Gesellschaft verschränkter Raum erweist. Dieses Gesellschaftliche ist in stetiger Vermittlung, das heißt, es wird gezeigt, vorgeführt, gesprochen (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014). Wohnen ist damit ein Schau_Platz von Vorstellungen und Darstellungen von Handlungen des Subjekts

14

Irene Nierhaus

und seiner Beziehungsstrukturen (z.  B. ist ein großes Bett in einem als Elternschlafzimmer bezeichneten Raum unter anderem Schau_Platz von Reproduktion und Privatestem).2 Wohnen wird in sich ständig wiederholenden und mutierenden Wohnbildern produziert. Diese Wohnbilder sind ein Gefüge aus unterschiedlichsten Medien, Medienverbünden und Genres (Wohnbauarchitektur, Innenraumausstattung, Design, Wohnausstellungen, Interieurbilder in Kunst, Foto oder Film, illustrierte Zeitschriften, TV-Sendeformate, Internetportale, Facebook-Seiten etc.3 sowie die Bildproduktion von Bewohner_innen mit Wohn-Selfies und Fotos vom Freundes- und Familienleben, von Festen etc.). Der Zeigekomplex Wohnen wird auf verschiedenen Ebenen sozialer und subjektiver Artikulationen aktiv. Und auch die einander scheinbar entgegengesetzten Medien Matratze und – die hier bislang nur indirekte, im Prinzip der Prägung mitschwingende – Matrize sind Zeigestrukturen. Die Matratze verweist auf Intimität, Alltag, Körper ..., die Matrize hingegen auf Schrift, Publizität, Wissen ... Nochmals zum Wohngegenstand Matratze: Das Wort Matratze leitet sich vom arabischen matrah ab, welches die Stelle bezeichnet, wo etwas hingeworfen wird, ein Bodenkissen, auf das man sich legen kann. Auf diesem Hingeworfenen lässt sich all das tun, was mit oder von lagernden Körpern von A bis Z (von arbeiten, anal verkehren, ausschlafen ... bis zittern, zärteln, zudecken ...) getan wird. Was davon ausgesprochen oder nicht ausgesprochen werden kann, darf, muss, ist Sache gesellschaftlicher Regulative in ihrer jeweiligen historisch-kulturellen Situation und in ihren Übersetzungen ins Individuelle. So sind Sprechräume von Freund_innen, von Liebenden, von Lüsternen, von Familien, von Gesundheitsinstitutionen oder der Gesetzgebung, wenn

2

Die Schreibweise ‚Schau_Platz‘ (und nicht ‚Schauplatz‘) markiert, dass zwischen

der Schau als einem Zu-sehen-Geben (auch übersetzbar als Zeigen, Ausstellen, Vorführen ...) und dem Platz als einem Ort bzw. einer Raumfiguration ein Verhältnis besteht.

Dieses Verhältnis unterliegt historischen und sozial dynamischen Transformationen und nimmt unterschiedliche Formen an. Zum Verhältnis von Wohnen und Zeigen vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014. 3 Ein Beispiel für die in solchen Medien vorgestellten Wohnentwürfe und die darin auftretenden Bewohner_innenfiguren sind der Bösewicht in seinem minimalistisch kühlen Wohnambiente ohne Liegemöbel bzw. mit nur einem Hometrainer und sein weibliches Opfer im exzessiv ornamentreichen Schlafzimmer, wie sie einander etwa in dem Kriminalfilm Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger von Elio Petri (I 1970) gegenübergestellt werden.

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Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

auch nicht gänzlich und grundsätzlich voneinander geschieden, doch nicht kongruent. Im Sinn Foucault’scher Macht und Mikrophysik der Macht bilden die verschiedenen Instanzen des Sprechens sozial hierarchisierte Körperpolitiken und behausen sexuelle Identifizierungen. So sind beispielsweise Vorgänge wie Geburt, Sterben, Sexualitäten gesetzlich geregelt und können je nach staatlicher Verfasstheit straffrei gelebt oder bis hin zur Todesstrafe bedroht sein. Die Matratze ist also eine sozial möblierte Raumkonfiguration, auf der in besonderem Maße scheinbar Gegensätzliches wie Öffentliches und Privates, Subjekt und Abjekt, Staat und Individuum, Verbot und Genießen nah aneinanderliegen, miteinander konfligieren oder sich befördern. Matratzen haben ähnliche Potenziale, wie sie Heidi Helmhold dem Textilen zuschreibt: „Sie beunruhigen, sind nutzbar und vernutzbar, blähen sich auf mit Präsenz, falten sich unscheinbar zusammen, tragen dauerhaft Spuren, sind schnell zu vernichten und mit einem Anspruch auf Dauer nicht zu belasten. [...] Sie sind an die emotionale Ökonomie ihrer Akteure angeschlossen. Und sie sind affin zum Körper ihrer Einwohner.“ (Helmhold 2012, S. 15) Als intimstes Menschenmöbel vorgestellt, bezeichnet die Matratze das Begehren nach einem differenzlosen Bei-sich-Sein ohne Aufschub und nach einer fundamentalontologisch glückseligen Präsenz. Der Privatraum ‚Matratze‘ verspricht Selbstidentisches, das mit Figuren der Nähe, des Körperlichen, des Affektiven und des Nichtregulierten operiert und mit dem Genuss der Heimkehr als Rückkehr „zum Ort der versperrten Jouissance“ (Butler 1997, S. 263) winkt. Matratze, Körper, Präsenz scheinen bruchlos verknüpfbar (wobei weniger die Verknüpfbarkeit denn die Bruchlosigkeit der Verknüpfbarkeit zu befragen ist) und sind an der großen modernen Erzählung des Authentischen beteiligt. Oder anders gesagt, die durch Schlafen, Ruhen, Gebären, Lieben, Quälen, Faulenzen ... und Zustände wie Halbschlaf, Traum, Orgasmus, Nichtstun ... bezeichnete Matratze ist in der Generierung des Authentischen ein zentrales Raumstück. Im Umfeld des Authentischen hausen beim Wohnen und der Matratze auch die Reden zu anthropologischen Konstanten.4 Die gängige Mischung aus Individualisierung

4

In diesem Sinn war die auf das Bett fokussierte Ausstellung „Schlaflos“ im Wiener

21er Haus aufgebaut, sie war zwar mit aufschlussreichen Objekten besetzt, doch vom Zugang her vertrat sie unhinterfragt phänomenologische und anthropologisierende

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Irene Nierhaus

und Anthropologisierung erzeugt Vorstellungen von einem Primären, die soziale und historische Dimensionen sekundär erscheinen lassen, wenn nicht sogar irrelevant, wobei die Matratze als körperanaloges Medium und indexikalische Mentalität auf einer simplen dichotomen Körper-Geist-Achse zumeist jenseits des gesellschaftlichen Logos, seiner Wahrheitslogiken und seines Imaginären (das große Allgemeine und Ganze, die Welt, die Wahrheit, das Transzendente ...) zurückbleibt. Um diesen einfachen Zuordnungen zu widersprechen, haben wir der ‚Matratze‘ zwei Buchstaben genommen, diese durch einen neuen ersetzt und daraus ‚Matrize‘ gemacht. Die Matrize ermöglicht durch Prägung und Abzug die Herstellung von Kopien und war in den 1970er und 1980er Jahren ein geläufiges und billiges Reproduktionsmittel. Als Vervielfältigungsmedium veröffentlicht, produziert und zeigt die Matrize Wissen. Matratze wie Matrize sind Medien und Mittler, ihre Funktionen und Gebräuche scheinen zunächst entgegengesetzt: Körper versus Schrift, Intimes versus Öffentliches ... Doch lassen sich Matratze und Matrize in ein Verhältnis setzen. So ist die Matratze privat und Agentin sozialer Matrizen (Normierungen und Zuschreibungen von Geschlecht, Sexualität, Gefühl etc.) und die Matrize ist Wissensmultiplikator, doch auch Körper und Reproduktionsorgan, das, je länger gebraucht, immer stärker verwischte Spuren legt. Matratze wie Matrize tragen ein, prägen, riechen, färben, bilden. Frühere Formen des Matriziellen, wie das Turiner Grabtuch oder das Schweißtuch der Veronika, vermitteln den Bezug zwischen Körper, Prägung und Reproduktion. Das Schweißtuch (seit dem 14. Jahrhundert Repräsentant des Abdrucks des Gesichtes Christus’ auf dem Leidensweg nach Golgotha) wurde als vera icon, ‚wahres Bild‘, bezeichnet und gehört zu den frühen Darstellungen des Bildlichen selbst (Belting 1991, S. 247ff.). Zwischen Abdruck und Bild spielen Bildlichkeit, Realität, Reales und Gedächtnis ineinander, wie in den Einbalsamierungs- und Häutungsaktionen von Heidi Bucher (1975, Abb. 2). Die Künstlerin formt und Themenblöcke (wie Tod, Liebe, Gewalt etc., vgl. Schlaflos 2015). Im Grundsatz stärker auf heutige Theoriedebatten orientiert war die ebenfalls auf das Thema ‚Bett‘ fokussierte Ausstellung „The Century of the Bed“ angelegt. Diese zweite Ausstellung hat im Herbst 2014 in Wien in der Kooperation verschiedener KuratorInnen und Galerien ein Projekt ermöglicht, das mit aktuellen künstlerischen Positionen eine konzeptiv vielfältig ausgerichtete und breit gefächerte Reflexion zum Thema eröffnete (The Century of the Bed 2014).

17

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

A b b.   2  Heidi

B u c h e r,

Das

Bett,

1975

zieht zumeist vertraute Räume und Gegenstände ab und fixiert das Abgezogene als Bild. Ihre Haus-Häute erscheinen als verdoppelte und zugleich abgestreifte Prägungen. Im vorliegenden Buch ist die Matrize Theoriefigur, um die Matratze und Räume des Wohnens in der Spanne von Substantialität und Repräsentation zu denken, und sie ist zugleich Metonym für Prägevorgänge und Einträge in Materialkörper. Die Matratze hat eine doppelte Position, sie ist Theoriefigur und zugleich Gegenstandsbereich. Mit der Matrize kann man ‚Seiten abziehen‘. Auch Matratzen kann man abziehen. Seiten abziehen, Matratzen abziehen. Macht dieser Bezug ‚Sinn‘? Oder ist das UnSinn? Vielleicht so: den UnSinn nützen, um den Sinn und Bedeutungsprozesse,

18

Irene Nierhaus

also die „Machenschaften des Sinns“ (Barthes 1988) zu befragen. Der UnSinn ermöglicht, das In-Beziehung-Setzen von Möblierungen des Subjekts und des Wohnens, von Körperlichkeit, Materialität, Repräsentation und Reproduktion in unterschiedlichen Versionen und Lagen zum Projekt wissenschaftlicher Befragung zu machen. Der Schrägstrich / Slash zwischen Matratze / Matrize markiert die Berührungs- und Konfliktzone und ist der eigentliche Denkraum des vorliegenden Bandes.

Ä s t h et i s c h e

und

politische

( D e ) M ö b l i e r u n ge n

Mit der Epoche der Moderne wird Wohnen zur Konfiguration von Raumpolitiken, die sich zugleich auf Bevölkerungsmehrheiten und auf Subjektivierungsprozesse richten. Wohnen, Bevölkerung und Subjekt wurden gleichermaßen ein_gerichtet5 (vgl. Nierhaus 2014) – ein_gerichtet bzw. möbliert in einem die biopolitische Grundstruktur moderner Regierungs- und Regulierungsmacht darstellenden Raum der physischen und psychischen Reproduktion, in der Einübung von Körper- und Sexualverhalten, in einem medizinischen und ambientalen Hygieneverständnis etc. Im Fokus auf Subjekt und Subjektivierungsprozesse wird der Wohn_Raum als ‚kleiner‘, partikulärer, dem Privaten zugewiesener Raum den ‚großen‘ Sphären von Staat und Nation gegenübergestellt, die ihn zwar regulieren, doch zugleich aus dem Öffentlichen herausnehmen. Gegen diese Doppelstrategie richteten sich die sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere die der 1960er und 1970er Jahre. Mit der Direktive „das Private ist politisch“ rückten sie das vermeintlich nur Private als Schau_Platz des Gesellschaftspolitischen ins Licht. Im Zuge dessen wurde die Matratze, dieses zumeist zugedeckte Intimste des Privaten, veröffentlicht. Sie wurde abgezogen und freigestellt vom Bettgestell, dem Zeichen für die Institutionen Ehe und Familie sowie die der zur Nachkommenschaft verpflichteten Sexualität, und avancierte zum Akt der Unterbrechung und Verweigerung bürgerlichen Wohnhandelns. Im Film Themroc von Claude Faraldo (F 1972) demoliert der männliche

5

Die Schreibweise ‚ein_gerichtet‘ (und nicht ‚eingerichtet‘) markiert das Verhältnis

zwischen der Einrichtung des Wohnens, der Wohnung und der Einrichtung des Subjekts in seiner sozialen Bedingtheit, wobei auch berücksichtigt ist, dass wesentliche Sozialisierungsprozesse im sogenannten privaten Wohnen stattfinden.

19

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

Protagonist seine Wohnung, reißt ein großes Loch in die Hauswand, öffnet sie ins Freie, schleudert Mobiliar und Gerätschaften hinaus und dekomponiert Wohnen zum primordialen Hausen. Im Zerstörungsakt wirft der halbnackte Protagonistenkörper den sozialen Corpus, in welchen die Konvention eingetragen ist, zugunsten eines elementarisierten Leibes ab (das Sprechen wird im Lallen, Grunzen, Seufzen ebenfalls zur reinen Lautbildung dekomponiert). Wohnen als Ort der Konvention wird im Inneren durch die Mutter und im Äußeren durch die Polizei gekennzeichnet. Der Befreiungsakt der De-Möblierung durch den Protagonisten beginnt mit der Abtrennung von der Mutter durch das Zumauern von Türen. Anlass der Enthausung ist der vom Blick der alten Mutter durchkreuzte und so gestörte Blick auf eine nackte Frauenbrust. In seiner in eine Wohnhöhle mutierten Behausung tummelt sich fortan der lallende Protagonist fröhlich mit Frauen paarend am Boden, das heißt, die De-Möblierung des Wohnens geht einher mit der De-Möblierung von Sexualität bzw. Vorstellungen von bürgerlich geregelter Sexualität. Die gewaltsame Domestizierung im konventionellen Wohnbau wird am Ende des Films auf den Punkt gebracht, als aus den wenigen Öffnungen der von der Polizei wieder vermauerten Wohnhöhle verzweifelt Hände ragen und der Bildschwenk auf das Fensterraster eines Wohnbaus die Analogie zum Gefängnis höchst augenfällig macht. Das Deformieren der Wohnkonvention, die Rückführung auf Primordiales, die Präsenzbildung im Materialen und die Fokussierung auf (auch nackte) Leiblichkeit erinnert an das zeitgleich wiederentdeckte Höhlenwohnen (u. a. Matera, Kappadokien), das als Art ‚anthropologische Alternative‘ einen Ausweg aus der zivilisatorischen Domestizierung darstellen sollte. Das ist nicht unähnlich der rebellischen Matratze, auf der alles stattfinden konnte: lesen, lernen, lieben, diskutieren, faulenzen, essen und schlafen.6 Als De-Möblierung und Entrümpelungsgeste wurde sie politisch zu dem Lebensgegenstand. Die Matratze wird zur universellen, allen und allen Lebensbedürfnissen gleichen Lebensgrundlage – wie z.  B. architektonisch artikuliert von der Gruppe Superstudio im Projekt Supersurface von 1971–73. Das Projekt sollte in „Five Fundamental Acts“ die ‚großen Themen des Lebens‘ – „Life, Education, Ceremony, Love

6

Vgl. dazu Angelika Linke: Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem

Boden. Zur Protestsemiotik von Körper und Raum in den 1968er Jahren (erschienen zuerst 2012, auch als Beitrag in vorliegendem Band).

20

Irene Nierhaus

and Death“ – behandeln und das Verständnis von Architektur vom Bauplan hin zum Lebensplan wandeln.7 Das konventionelle und kodifizierte Möblieren („furnishing answers to rigidly stated problems“) sollte zugunsten der „re-definition of the primary acts“ aufgegeben werden, um Architektur „anthropological[ly] and philosophical[ly]“ neu zu begründen (Lang/Menking 2003).8 Das das Kapitel „Life“ repräsentierende Bild (1972/73, Abb. 3) zeigt vor einem igluartigen Zelt eine familienähnliche Gruppe (heterosexuelles Paar und Kinder). Die nackten, langhaarigen Personen hocken auf einem wiesenähnlichen Grünfleck, der sich auf einer völlig planen, endlos erscheinenden Flächenexpansion befindet, die im Hintergrund an eine gerundete, vegetationslose Bergkette stößt. Diese Flächenexpansion, in der sich latent der Himmel spiegelt, ist gerastert und verweist auf Zeichnungen der Perspektivkonstruktion. Das auf Grundmuster zurückgeführte Konstruktive, die nackte, nichts tragende Natur wie die nackten Figuren artikulieren eine Reduktion auf primäre Zustände. „Life“ vermittelt ein elementares Sich-selbst-Generieren (das zwischen den Eltern hervorgehoben stehende Mädchen mit dem Säugling kann als Signum des Fortpflanzens gelesen werden) auf einer ubiquitären Lebensmatratze. Die Flächenexpansion mit Rasterung bzw. allseitiger Quadrierung ist ein Vervielfältigungsmodus à la Matrize bzw. die Matrix eines sozialräumlichen Environments. Auch andere Projekte der 1970er Jahre operieren mit groß dimensionierten Grundflächen, wie das Projekt Eventstructure Amsterdam 72 (Abb. 4), das in den Stadtraum eingefügt wird wie ein riesiges Matratzenpolster, das durch die Bewegungen der sich darauf befindlichen Personen moduliert wird. Vergleichbare Projekte sind das Riesenbillard der Gruppe Haus-Rucker-Co – eine riesige pneumatische Matte mit großen Kugeln –, das seit 1970 mehrmals in Museen und Stadträumen installiert wurde (Bogner 1992), oder die Soft Gallery der Künstlerin Marta Minujin. Minujin baute 1973 in einer Washingtoner Galerie einen Begegnungsraum aus 200 Matratzen (keine reine Grundfläche, sondern ein Gehäuse), in dem Happenings und Performances mit befreundeten 7

Das Projekt wurde für die Ausstellung „Italy: The New Domestic Landscape,

Achievements and Problems in Italian Design“ (1972) im Museum of Modern Art entwickelt. In New York wurde der erste Teil „Life“ gezeigt, die weiteren Kapitel wurden danach teilweise realisiert. „Life“ besteht aus Storybords, Texten und einem 16mm-Film von 15 Minuten Länge (vgl. Lang/Menking 2003). 8 Juli 1973 in Graz (Lang/Menking 2003, S. 177).

21

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

A b b .   3   S u p e r s t u d i o ,

S u p e r s u r f a c e ,

L i f e ,

1 9 7 2 / 7 3

22

Irene Nierhaus

Abb.  4 Eventstructure

Research

Group,

Amsterdam

72,

1972

Künstler_innen wie z.  B. Carol Schneemann stattfanden. Diese verschiedenen Raummatratzen können als Raumhorizont einer sich öffnenden Gesellschaft gelten, die in der Rückführung auf Elementarismen einen spielerisch, antikapitalistisch motivierten Verzicht auf Möblierungsfülle durch Konsum, zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen, sozialökonomischen und solidarischen Grundlage, vermitteln. Die Matratze als elementarer Körpergrund ohne einsargendes Gestell, wie es das bürgerlich institutionalisierte Bett repräsentierte, war seit dem frühen 20. Jahrhundert – im Nachhall orientalistischer Vorstellungen als Abwandlung von Diwan und Sofamöbeln – in die Wohnausstattung eingegangen. Der Architekt Adolf Loos sagte 1918 über die vom Bettgestell freigesetzte Matratze: „Ich für meine Person schlafe auf dem Fussboden. Die hohe Sprungfedermatratze steht ohne jede Vermittlung auf dem Fussboden, darauf die Rosshaarmatratze. Das Geld für ein Bettgestell habe ich mir erspart. Unbequem? Nein.“ (Loos 1983, S. 144) Auch Loos betont die Grundfläche, den Boden und damit das Prinzip eines Elementaren und Einfachen, das er unter dem Titel „Möbel für Neuvermählte“ ökonomisch argumentiert. Und diese Ökonomie ist im Sinn einer Ethik,

23

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

wie sein Kampf gegen das Ornament (vgl. seinen Artikel „Ornament und Verbrechen“, 1908) zu verstehen. Die Reduktion im Gestell legt zugleich ein Universum von Fantasien frei, im Fall der Matratze Fantasien von Tod9 und Erotik. Die beschriebene Matratze war Zentrum seines eigenen Schlafzimmers (Abb. 5), das er 1903 als „Schlafzimmer meiner Frau“ publizierte. Der mit Fellen und Stoffen gestaltete Raum artikuliert im Weiß der Materialien ‚Sauberes‘, Geklärtes und zugleich in der Üppigkeit des Textilen und in der Beschaffenheit der Materialien das Begehren nach Körperlichkeit und Geschlecht, das heißt, Matratze und Bett erzeugen einen körperanalogen Präsenzeffekt des abwesenden Körpers. In gewisser Weise ist dieses Zimmer der Inbegriff einer europäischen Haremsvorstellung, aus der bloß das Ornament und die rotgolden verschattete Farbtonigkeit des Orientalismus zugunsten eines Ambivalenzeffektes weißer, jungfräulicher Unbeflecktheit getilgt wurde. Die Verjungfräulichung im blendenden (zurückweisenden) Weiß bei gleichzeitig mächtigen Faltungen und Haarigkeit spielt auf Sex in einem Wechsel von Vollzug und Nichtvollzug an (vgl. Nierhaus 1999, S. 87ff.). Im Pädophilieprozess gegen den Architekten im Jahr 1928 berichteten betroffene Kinder von den Vorkommnissen in der Loos’schen Wohnung und ein Mädchen sagte unter anderem aus, dass „der Herr“ sie „aufs Bett gelegt“ habe.10 Weiß, jung, frei versus dunkelfarbig, alt, ornamentreich – sowohl das Interieur wie im Interieur: „Kinder, die ganz dunkle Geschlechtsteile haben, sind viel gebraucht worden“, sagte Loos im Prozess aus (zit.  n. Niederhofer 2015, S. 25.).11 (Sind die „dunklen“,

9 Loos spricht über die Dramatik des Todes, die in ornamentreichen Schlafzimmern nur blasphemisch übersetzt würde (vgl. Nierhaus 1999, S. 92). 10 Zit.  n. Niederhofer 2015, S. 25. Loos hatte das Schlafzimmer umgebaut, doch bleibt es vom mentalen Prinzip verbindbar. Durch den Fund des Strafaktes 2014 können zu dem Fall neue Einsichten gewonnen werden, der gesamte Strafakt ist zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages noch nicht publiziert. Zu dem Fall vgl. Weigel 2008; Long 2015. Die Untersuchung von Christopher Long bettet den Prozess u.a. mithilfe von Presseberichten in ein historisches, kulturell gesellschaftliches Klima ein und zeigt, wie gängig, geduldet und wenig geahndet sexuelle Handlungen mit Kindern und die Produktion von kinderpornografischem Material war. Die Publikation ist allerdings mehrfach aufgrund mangelhafter Quellenrecherche kritisiert worden (vgl. z.  B. Weigel 2015). 11 Loos gab an, dass er die Geschlechtsteile der Kinder sehen musste, um für eine Kinderverschickungsaktion (mit der Pädagogin Eugenie Schwarzwald) ihre Unverdorbenheit zu überprüfen. In ihren Erinnerungen hatte die zweite Ehefrau von Loos unter dem Kapitel „Die kleinen Mädchen“ vom Verschwinden-Lassen der „Truhe mit den

24

Irene Nierhaus

A b b.   5  Ad o l f

Loos,

Das

Schlafzimmer

meiner

Fr a u ,

Wien

„gebrauchten“ Geschlechtsorgane das dunkle Ornament, das Störende am weißen Raumgrund des Kindlichen und Unbesetzten?) Hier zeigt sich die Problematik pädophiler Sexualitäten im Umfeld von Reformbewegungen wie auch in den späteren 1960er und 1970er Jahren. Stellungnahmen wie die von Loos während des Prozesses vermitteln eine Mischung aus kulturellem Sendungsbewusstsein und sozialen wie sexuellen Zuschreibungen („Das war ein Spass, der in dem Milieu liegt.“ Zit.  n. ebd.). So hatte Loos 1903 in dem Artikel „Wie der Staat für uns sorgt“ zu Presseberichten zu ansteckenden Geschlechtskrankheiten bei Kindern in einem Wiener Nachtasyl geschrieben und dabei auf die unterschiedlichen gemeinschaftlichen Schlafgewohnheiten im proletarischen Wohnen

Photographien“ berichtet und von einer Äußerung von Loos nach dem Freispruch: „Jetzt muss ich mich ein paar Monate gut benehmen, denn sonst werde ich eingesperrt.“ (Altmann-Loos/Loos/Loos 2002, S. 190f.)

25

1903

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

sowie auf Not und Elend Bezug genommen, um dann zu schließen: „Und die Psychologen sagen, dass die Masturbation zu Zweien lange nicht so schädlich auf den Charakter wirkt, wie die allein. Ich glaube fast – das Proletariat ist auf alle Fälle besser daran – – –“ (Loos 1903, S. 4). Damit ist die Vorstellung formuliert, dass im nichtverbürgerlichten Proletariat eine ‚freiere‘ Sexualität gelebt werden könne bzw. Kinder nicht a priori asexuelle Wesen seien. Verschiedene Formen und Existenzweisen von Sexualitäten bzw. Vorstellungskulturen von Sexualisierung12 lassen sich durchaus diskutieren – jedoch nicht im Akt eines privilegierten Übergriffs, der Appropriation und Aneignung im Machtgefälle. Die Begebenheiten zeigen im Zusammenhang mit Reformbestrebungen13 die höchst brisante Allianz zwischen Übergriff, Ermächtigung, Befreiungsvorstellungen und Avantgarde, die auch in den Vorwürfen gegen andere Protagonisten zum Tragen kam.14 Die Anmaßung des ‚Befreiers‘ hat kolonialistische Aspekte, die dem eigenen Normativen ein romantisiertes bis dämonisiertes ‚Anderes‘ als Gegenüber bieten, das zugleich immer dominierbar bleibt: Proleten, Bauern, Exoten. Die gewünschte Entlastung von Kultur- und Zivilisationsdruck ist mit dem Begehren nach einem Außen im okzidentalen Display von Primitivismus und Exotismus historisch verankert. Die Malerei und Fotografie hatte ein Repertoire von Bildern entwickelt, das mit Pastoralen und Orientalismen ein Begehren nach dereguliertem Leben zuerst für die aristokratische, dann die bürgerliche Gesellschaft entwarf. Auf diesen Bildern wird viel gelegen: Im orientalistischen Zusammenhang sind es vorwiegend Frauen, die liegen (Abb. 6), in der Landschaftspastorale hingegen Hirten, Wäscherinnen und ihre Kinder (Abb. 7). Das Herumliegen auf den faltenreichen Lotterbetten des aristokratischen 18. Jahrhunderts wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts ins Bürgerliche domestiziert (vgl. Marinelli 2006; Helmhold 2012) und kommt in der bildenden Kunst vorwiegend an den massenweise auf Sofas sitzenden, liegenden und lagernden Frauen zur Ansicht (Abb. 8).

12

Der widerspruchsvollen Problematik von Vorstellungen zu Sexualitäten nähert

sich Insa Härtel (2014) in differenzierender Sicht auf Repräsentationen jugendlicher Sexualitäten auf die Gegenwart bezogen. 13

Siehe Debatten um programmatische Aussagen in den politischen Bewegungen

der 1970er Jahre, z.  B.: Drobinski 2013; Herzog 2005, insb. Kap. „Die Moral der Lust“. 14

Vgl. z.  B. Prozess und Debatte um Otto Mühl, Künstler und Leiter der ehemaligen

AAA-Kommune am Friedrichshof, ab den späten 1980er Jahren. Zur Problematisierung der Rezeption des Verhältnisses von Avantgarde und Übergriff vgl. Leeb 2015.

26

Irene Nierhaus

Abb.  6  Frank

Dicksee,

Leila,

1892

Abb. 7 Albert Anker, Schlafender Knabe im Heu, 1897

Abb. 8  Édouard Manet, Porträt von Frau Édouard Manet auf

einem

blauen

Sofa,

1874

27

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

Abb.  9  Superstudio,

Abb.  10  Sarah

28

Sofo

Lucas,

Chair,

Au

naturel,

1966

1994

Irene Nierhaus

In den 1960er Jahren vermitteln Matratzen und Liegemöbel die Ablösung tradierter Körperhaltungen und Körperordnungen hin zu einem gleichsam formlosen Zustand zwischen Liegen und Sitzen. Der Sofo Chair der Gruppe Superstudio (1966, Abb. 9) ist eine geschwungene, biegsame Welle, die in der bildlichen Inszenierung Naturalisierungsgesten einsetzt: In den Körperhaltungen, dem Wellendekor, der Biegsamkeit, der Aufstellung im Freien auf einer Wiese. In den Liegewiesen und Sitzlandschaften der 1970er Jahre wird das Lagern allmählich Bestandteil dominanter Wohnvorstellungen, wobei das Lagern dann auf Freizeit, Erholung und Unterhaltung orientiert wird – um mit Jean Baudrillard zu sprechen: „Der funktionelle Mensch ist von vorneherein ein müder Mensch. Und Millionen Leder- und Schaumgummisitze, einer tiefer und molliger als der andere, sind wie eine gigantische Verheißung einer zukünftigen Generation der Erlösung und der sanften Euphorie des siebenten Tages.“ (Baudrillard 1991, S. 60) Wie Samt, Seide, Plüsch kann die Matratze selbst anthropomorphisiert, zum Sprachbild für (meist feminisierte) Körperlichkeit werden (vgl. Nierhaus 1999). Die umgangssprachliche Bezeichnung von Frauen als ‚Matratze‘ nimmt das beim Wort. So bezieht sich die Bezeichnung einer Frau als ‚Dorfmatratze‘ abwertend auf eine promiskuitive weibliche Sexualität. Mit Witz hat die Künstlerin Sarah Lucas in Au naturel (1994, Abb. 10) die Matratze als mimetisches Körperbild in einem zweigeschlechtlichen Matratzenkörper umgesetzt: Eine halb angelehnte Doppelbettmatratze mit zwei eingehängten Melonen, einem liegenden Eimer und einem Ensemble aus stehender Gurke und zwei Orangen. In Bettschuhe 1974 ironisiert Birgit Jürgenssen zu Damenschuhen miniaturisierte Betten. Klobig, wie die damalige dicksohlige, gurten- und schnürreiche Schuhmode sind die kleinen Bettchen gepolstert und doch von metallenen Reifen gehalten, worin sich auch etwas von der ‚gewaltigen‘ Zuordnung von Weiblichkeit, Puppenstube und Bett einnisten kann.

Paradoxien In der Moderne wurde zwischen Wohnen und Subjekt ein Netz fluktuierender Identifikationen und Analogiebildungen von Innenraum und Innenleben ein_gerichtet. Ein_Richten bildet ein Argumentationsnetzwerk, das den diskursiven Haushalt des Wohnens reguliert und Diskurse zu

29

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

Leben, Lebensalltag, Lebensorganisation und Zusammenleben miteinander verschaltet und damit ein Wohnwissen generiert, das mit uns per Du ist und Wohnen und Gewohnheit zu verschweißen weiß. Das Wohnwissen ist nicht Ausdruck eines Gesellschaftlichen, sondern ist dieses selbst, es spricht alltagstauglich und hat sich vom Beginn der Moderne bis zur heutigen postfordistischen Gesellschaft permanent reproduziert und transformiert (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014). Das Wohnwissen arbeitet in Medien und Medienverbünden und wird ununterbrochen kopiert, überschrieben, verschoben und vervielfältigt, wie von einer nimmermüden Matrize. Und das Gefüge des Wohnwissens hat an der Organisation der Wohnbauten und Wohnräume wie des Wohnhandelns teil, ebenso wie an den Bildwelten des Wohnens und an den Vorstellungen über – und auch von – Bewohner_innen. Das heißt, das Wohnwissen ist explizit und implizit sowie manifest, latent und plural, es versammelt und ordnet institutionelles, öffentliches, privates, persönliches und verschwiegenes Wissen.15 Doch die dem Wohnen zugeschriebene Positivität, sein ‚In-derWelt-Sein‘ mit Subjekt, existenziellen Lebensfunktionen und Privatem, produziert zugleich – wie schon angedeutet – seine Nachrangigkeit in Diskursen zum ‚großen‘ Allgemeinen der Öffentlichkeit und des Staates. Der Ort des Politischen, des Fortschritts und der Wahrheit liegt jenseits eines in den Alltag verwickelten Da-Seins. Im öffentlichen Wohnwissen wird Wohnen als Raum der Freiheit eines ‚Eigensten und Eigenen‘ und eines Abstands vom gesellschaftlichen Regelwerk projektiert, der zugleich jedoch nur aufgrund dieses Regelwerks zustande kommt. Das bildet das Paradoxon des Privaten und Häuslichen. Es ist ein hoch politisierter Raum, der als privater Raum des Individuums versprochen, begehrt und fantasiert und somit auch gelebt wird und Häuslichkeit als Präsenz jenseits des Symbolischen und damit jenseits des Mangels vorstellt. Diese mit der Moderne zur weitgefächerten Differenzkultur entwickelte Paradoxie bildet zugleich die Paradoxie des Subjekts selbst und ist von Künstler_innen vielfach thematisiert worden. So dreht und verdreht Vito Acconci in der oben bereits vorgestellten Performance Reception Room (1973, Abb. 1) die Räume und Körper, indem er nackt mit dem Leintuch sich drehend immer andere Körperansichten ausstellt

15

Heidi Helmhold spricht in Bezug auf das Textile und auf responsive Architekturen

von unterschiedlichen Wissensformen und einem „Körperwissen“, das als Bestandteil des Wohnwissens relevant ist (Helmhold 2012, S. 18).

30

Irene Nierhaus

und verbirgt und im stetigen Wechsel Blicke im ‚Empfangsraum‘ aufnimmt, während seine aus dem Bett kommende Tonbandstimme über Ängste des Ausstellens von Körper und Kunst spricht. „Once I have exposed my fears and shames publicly, then I might be able to face them in private.“ 16 Acconci verdreht die Konvention, nach der Ängste und Scham freilich im Privaten artikuliert würden, und markiert damit auch Gesellschaft als Mediengesellschaft, in der das Private ständig öffentlich gesprochen wird. In den sozialen und künstlerischen Bewegungen der 1970er Jahre ist die – nun als Mythos ‚entlarvte‘ – Privatheit thematisiert worden. Insbesondere haben die Frauenbewegung und feministische Diskurse Wohnen als Raum von sozialer, geschlechtlicher und ökonomischer Differenz sowie häuslicher und sexueller Gewalt benannt und die Dominanz des Staatlichen über Körper z.  B. anhand der Abtreibungsdebatte sichtbar gemacht. Im Projekt Three weeks in May (1977) hat Suzanne Lacy Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe zum Thema gemacht und via Radio veröffentlicht.17 Martha Rosler hebt in der Bringing the war home betitelten Serie von Fotomontagen (1967–72, Abb. 11) die Trennung von Wohn- und Kriegsschauplatz auf: In einem zerfetzten und zerstörten Wohnraum schwebt eine teure Matratze im Blumendesign, auf ihr liegen eine im Magazin blätternde Mutter und ein mit einem Flugzeug spielender Vater mit Kind. Rosler verschränkt Bilder aus idealen Einsichten in ein ‚gutes‘ Wohnen aus Wohnzeitschriften mit denen der Kriegsberichterstattung. 1945 ließ sich die Fotografin Lee Miller angezogen, rauchend, mit Kappe, in Polster und Decken gehüllt im Bett von Eva Braun aufnehmen. Im Gefolge amerikanischer Truppen hatte Miller 1945 als Fotoreporterin das Kriegsende und die Befreiung von Konzentrationslagern wie Buchenwald und Dachau dokumentiert. Zu gleicher Zeit entstanden die Fotos, die David E. Sherman von ihr in den Privaträumen von Adolf Hitler und seiner Lebensgefährtin

16 http://www.eai.org/title.htm?id=9099 (letzter Zugriff am 15.2.2015). 17 Die Kenntnis dieses Projektes von Lacy verdanke ich Franziska Rauh, die Lacys Arbeit in ihrem Promotionsprojekt „Zum politischen Potential von Radiokunst. Künstlerische Strategien zur Produktion medialer (Gegen)Öffentlichkeiten“ untersucht. Das Problem der sexuellen Gewalt bzw. die eigene Erfahrung damit hat eine amerikanische Kunststudentin in die Performance Carry That Weight übersetzt, bei der sie seit Herbst 2014 täglich eine Matratze über den Campus ihrer Universität trägt. http://columbiaspectator.com/news/2014/09/02/emma-sulkowiczs-performance-art-draws-support-campus-activists (letzter Zugriff am 12.11.2014).

31

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

Abb.  11  Martha

Rosler,

Bringing

the

war

home,

1967–72

Eva Braun aufnahm. Miller besetzt damit die intimsten Orte des Feindes, das Badezimmer und das Bett der Geliebten. Hingegen mutiert in der Installation Interior Landscape (2008) von Mona Hatoum das Bett zu einem Gegenstand der Vertreibung und Verletzung. Das Gestell mit einem Bettenrost aus Stacheldraht und einem mit eigenem Haar bestickten Polster, welches das historische Palästina abbildet, weist das Ausruhen, Schlafen und Bergen ab und formuliert den palästinensisch-israelischen Konflikt als Enthausung und ein Sich-nicht-niederlassen-Dürfen. In die Kritik der Gewalt gehört auch die Liege als Ort institutioneller Gewalt, wie sie Pier

32

Irene Nierhaus

Paolo Pasolini – einer Foucault’schen Tafel der Bestrafung gleich – im Film Mamma Roma (I 1962) einsetzt. Da stirbt der jugendliche Protagonist, nach einem kleinen Diebstahl gefasst und als fiebernder Körper in Gurte gelegt, auf einer Liege, die an Fixierungsbetten der Psychiatrie oder die Liegen für die Hinrichtung von zum Tode Verurteilten erinnert. Doch nicht nur die Kritik bzw. Gesellschaftskritik des 20. Jahrhunderts vertraut der Erfolgsstory des Wohnens nicht so ganz, denn vom Anbeginn des Ein_Richtens des modernen Wohnens korrelieren mit ihm Formen der Kritik, wie im Sprechen über Störungen, Irritationen, Unfälle, Missgeschicke und das Hereingleiten eines Nichtkontrollierbaren. Schrecken und verdrängter Schrecken etablieren sich als Genre z.  B. in der Horror- oder Kriminalliteratur oder in der Innenraumdisziplin der Psychoanalyse.

Matratze

/

M a t ri z e

:

S c h r äg s t ri c h

/

Slash

Im Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen und in diesem Beitrag geht es um den Versuch, Wohnen als Politisches zu lesen, das nicht in seiner Auflösung im Öffentlichen gelingt und auch nicht ‚das große Andere‘, die Präsenz des Selbstidentischen, ist – sondern in der Differenz nach Differenzstrukturen und -kulturen fragt. So sind auch Matratze und Körper zueinander als porös gedacht – Abdrücke und Eindrücke –, beide sind auch Wohnorte des Verwerflichen. Als das Verwerfliche bezeichnet Judith Butler „jene ‚nicht lebbaren‘ und ‚unbewohnbaren‘ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind“ (Butler 1997, S. 23) und die im Subjekt zu seinem konstitutiven Außen verworfen werden müssen. Damit ließe sich ein weiteres Wortkarussell besteigen, ein Karussell aus Sub-jekt, dem Unterworfenen, Ab-jekt, dem Verworfenen, und der Matratze, dem Hingeworfenen. Für solche Bezugsspiele zwischen Matratze und Matrize steht der Schrägstrich / Slash. Der Slash ist der Wohn-Ort des Denkens des Forschungsfeldes und des vorliegenden Bandes – Wohnort im Sinne von Hubert Damisch: Es dreht sich um das, „was wir Orte des Subjekts oder (Wohn)Orte des Denkens nennen“, und das, was „die Frage der Repräsentation in ihrer Beziehung zu ihrem Ort oder ihrem Schauplatz“ stellt (Damisch 1997, S. 12, 11). Der Slash ist sichtbar und schreibbar, wird selten gesprochen und ist dennoch Teil des Sprachlichen und markiert die sprachliche Verfasstheit im Nachdenken über Matratze, Körper, Wissen und Matrize. Er ist Stätte, Stelle, Zone

33

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

A b b.   12  Sigmar

Po l ke ,

S c h l a f z i m m e r,

1965

und – schon von seiner Wortbedeutung im Englischen her – Schnitt oder Schlitz. Als grafische Raumfigur zeigt er Konstellationen von Wohnen und Sprache an und damit eine kunstwissenschaftliche Wohnforschung, die Wohnen als ästhetisch-soziale Alltagskonfiguration untersuchbar macht, zugleich auf das Sprechen der Wissenschaft schaut und zudem Passagen zwischen Sozialem und Individuellem, Gesagtem und Ungesagtem, Sichtbarem und Unsichtbarem ermöglicht. Letzteres, das Unsichtbare, ist dabei „kein Anderes der Sichtbarkeit, sondern ein strukturiertes

34

Irene Nierhaus

Abb. 13 Rachel

Whiteread,

Untitled

(Double

Amber

Bed),

35

1991

Matratze / Matrize: Möblierungen von Wohnen und Wissen

Abb. 14 Rachel

Whiteread,

Untitled

(Concave

and

Convex

Beds),

1992

Dunkel, angefüllt mit Imaginationen, Erwartungen, Hoffnungen. Es gibt also vielmehr ein Vorgesehenes im Unsichtbaren und gerade kein völlig Unvorhersehbares.“ (Loreck 2013, S. 102) Der Slash eröffnet dabei einen Zeichenraum, der sich in die Linearität der Wortfolge stellt und eine Berührungs- und Konfliktzone eröffnet, in der es sich situativ, historisch, reflexiv, experimentell, instabil ein_richten lässt. Vergleichbar mit dem Schlafzimmer von Sigmar Polke (1965, Abb. 12), das den Einblick in ein Schlafzimmer ermöglicht und zugleich durch die grobkörnige Rasterung verstellt – das Bild als zweifache Verstellung: zum Ersten als Schranke im Blick, die öffnet und verschließt (wie die Not des voyeuristischen Blicks ins Schlafzimmer), und zum Zweiten das Bild als Verstellung und Medienfläche, denn das Polke’sche Schlafzimmer überträgt die Rasterung eines Druckverfahrens in ein gemaltes Bild, womit etwas von der Mimikry des Bildlichen thematisiert und das Gesehene als Mediales markiert wird. Der Slash produziert keine auf Dauer fixierte Räumlichkeit, sondern Wiederholungen, Verschiebungen, Ähnlichkeiten und Abstände, und er

36

Irene Nierhaus

ist keine stabile Trennlinie eines einfach Zweigeteilten zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Der Slash steht als Öffnung und Passage in Prozessen der Lektüren als das notwendige „Und/Oder“ (Barthes 1987, S. 81), um das „Plurale der Codes“ nicht zu verfehlen. Der Slash als Spaltung der Sprache in Bezeichnendes (Bild) und Bezeichnetes, der auch ein „Blick, geworfen in den zwischen Signifikat und Signifikant klaffenden Abgrund“, sein kann oder eine „Schranke, die sich der Bedeutung widersetzt“ (Agamben 2005, S. 219), um einen Raum der Poesis zu ermöglichen. Der englische slash – anstelle von ‚Schrägstrich‘ –, der kurze, laut- und bewegungsnachahmende harte Schlag, der auch das Körperliche des Denkens anzeigt. Die gegossenen, angelehnten, gebogenen, schaukelnden (titellosen) Matratzen von Rachel Whiteread (1991, 1992, Abb. 13 und 14) können insofern als Soma des Slash als zeitliche und räumliche Figur der Öffnungen, Entleerungen, Wiederholungen und Spiegelungen gelten. Der Matratzen-Slash als Gelenk und wörtlicher Schrägstrich der Bedeutungsproduktion – er ist schräg, er neigt sich, er schlägt aus, fällt um oder kann stehen.

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pigments, 220 × 160 cm (86,6 × 63 inch)

visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014

Courtesy/Image Courtesy: The Estate of

(wohnen +/− ausstellen, Bd. 1), S. 163–181.

Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene, Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 1), S. 9–33.

Schlaflos 2015 Schlaflos: Das Bett in Geschichte und Gegenwartskunst, Ausst.-Kat. 21er Haus Wien, Wien: Belvedere 2015.

Weigel 2008 Weigel, Andreas: Pyjama und Verbrechen.

Heidi Bucher & Freymond-Guth Fine Arts

Abb. 3,  9: Courtesy: Cristiano Toraldo di Francia

Abb. 4, 5, 6: Aus dem Archiv der Autorin

Abb.  7: © Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler

Abb. 8: © bpk|RMN- Grand Palais|Jean Schormans

Abb. 10: © The Artist, Courtesy Sadie Coles HQ, London

Abb. 11: Courtesy: Martha Rosler

Abb. 12:

Wien 1928: Warum Adolf Loos wegen Kin-

© The Estate of Sigmar Polke, Cologne|

desmissbrauch angeklagt wurde und mit

VG Bild-Kunst, Bonn 2015

einer bedingten Haftstrafe davonkam, in: Die Presse, 15.8.2009, Spectrum, S. 4.

Weigel 2015

Abb. 13: Untitled (Double Amber Bed), 1991, Rubber and high density foam, 47 × 54 × 41 in-

Weigel, Andreas: Mädchen und Moral, in:

ches/119,4 ×137,2 ×104,1 cm 

Die Presse, 11.4.2015, http://diepresse.

© Rachel Whiteread. Courtesy the artist

com/home/spectrum/literatur/4705642/ Maedchen-und-Moral?_vl_backlink=/

and Gagosian Gallery

Abb. 14:

home/spectrum/index.do, (letzter Zugriff

Untitled (Concave and Convex Beds),

am 16.4.2015).

1992, Rubber and neoprene, two units:

Wittmann 2014

40 × 100 × 196 cm/34 ×100 ×196 cm

Wittmann: Schlafen/Night 2014/15. Witt-

© Rachel Whiteread. Courtesy the artist

mann Möbelwerkstätten, Korneuburg:

and Gagosian Gallery

Ueberreuter Print 2014.

39

Kathrin Heinz

Bezugssystem Matratze [Denkausschnitte] Es beginnt womöglich an einem Morgen (Abb. 1), die Sonne scheint durch das Fenster und erwärmt das Zimmer, wirft Musterungen auf den hellbraunen Teppichboden, an der Wand eine beige-bräunlich gemusterte Textiltapete, wie sie seit den 1970er Jahren gern zum Schmücken von Wänden verwendet wurde. Links entlang der Wand steht ein Bett, die Matratze ist am Kopfende leicht erhöht, was auf einen verstellbaren Lattenrost schließen lässt. Bezogen ist die Matratze mit einem weißen Baumwolllaken. Das Bett ist gemacht. Keine Schlafenszeit. Die Decke doppelt gelegt, das Kissen darunter weitgehend verdeckt. Das Muster des Bezugs besteht aus bläulich-grünlichen Ornamenten mit weißen, wolkenartigen Flecken und Tropfen. Auf Kopfhöhe liegt ein Zierkissen mit einem Sommerblumenstrauß in einer auf einem Tisch stehenden metallenen Gießkanne, womöglich gestickt und eingefasst mit einer blauweißen Bordüre. Das florale Motiv wiederholt sich im Muster des Stoffs, der auf das Fenster gespannt ist. Ausschnitthaft ist die Reproduktion einer Landschaft zu erkennen. Rahmenlos gerahmt, hinter Glas. Im Bett liegt niemand. Das Bett kann jederzeit verschoben werden, es steht auf Rollen. Halterungen am Bettrahmen, Eingriffsmulden, Schienen am Kopfende verweisen darauf, dass die Seitenleisten verstellt werden können, um gegebenenfalls Schlafende vor dem Herausfallen zu schützen. Das Bett scheint von einer Person gebraucht zu werden, deren körperliche Mobilität eingeschränkt ist, sie braucht einen Triangelgriff, einen sogenannten Bettgalgen, um sich aus der liegenden Position hochziehen zu können. Aufstehen ist beschwerlich. Eine kleine Glocke auf dem Nachttischschränkchen ermöglicht es, um Hilfe zu klingeln, und verweist darauf, dass hier wohl noch jemand wohnt oder wohnte, der_die es hören könnte. Auch das quer über die Matratze gespannte Stecklaken, vermutlich aus Molton, lässt an einen kranken oder pflegebedürftigen Menschen denken. Umgangssprachlich heißt es dann, dass es untenrum nicht mehr funktioniert: sexuelle Störung,

41

Bezugssystem

Matratze

[Denkausschnitte]

Verlust der Libido. Oder vielmehr der_die Liegende oder Schlafende lässt es unter sich gehen: Körperflüssigkeiten treten unkontrolliert aus, Muskeln erschlaffen, Bettlägerigkeit tritt ein. Wir wissen beim Anblick der Fotografie nicht, ob die Bewohnerin oder der Bewohner dieses Zimmers nur aufgestanden ist oder diesen Ort für immer verlassen hat, ob sich der Titel „Schluß mit Lebeschön“ (2003), den Mia Unverzagt der zwölfteiligen Bildserie gegeben hat, zu der diese Arbeit gehört, darauf bezieht, dass es mit dem ‚schönen‘, einem womöglich gesun-

Abb.  1  Mia Fotografie,

42

Unverzagt, Maße

Schluß

mit

variabel,

Lebeschön, 2003

Kathrin Heinz

den Leben ein Ende hat, oder darauf, dass es sich um das verlassene Bett einer verstorbenen Person handelt. So verlassen das Bett wirkt, so wenig menschenleer ist der Raum. Unter sich sind drei Personen unter dem Bett. Rücklings, auf dem Bauch und mit angezogenen Beinen liegen sie nebeneinander. Bedeckt sind ihre Oberkörper vom Bettgestell, ihre Beine schauen heraus. Zwei tragen Jeans, die dritte eine dunkle Hose. Ein Arm der Person, die uns ihr Gesäß entgegenhält, ist an die Bettleiste angewinkelt. Sie liegen dort am Boden in vermeintlich typischen Schlafpositionen, ob sie schlafen, wissen wir allerdings nicht. Überhaupt, was tun sie da? Es wirkt nicht so, als ob sie das Erbe unter der Matratze suchen. Versteckspielen. Es erinnert an das Spiel kleiner Kinder, die glauben, wenn sie sich die Augen zuhalten oder ihr Gesicht nicht zu sehen ist, seien sie verschwunden, unsichtbar. Oder vertreiben sie die Dämonen? Die meisten wissen es auch aus ihren Kindertagen: Der Ort unter dem Bett ist gleichsam ein beunruhigender, indifferenter und unheimlicher Raum, ein imaginärer Aufenthaltsort für Monströses, das auf uns lauert, Heimstatt wilder Tiere. Reale Raumverhältnisse sagen mitnichten etwas aus über die Ängste und Befürchtungen, die uns darin erfassen können. Gleichwohl ist der Platz unter dem Bett augenscheinlich besetzt. Zu dritt sind sie weniger allein, dem vermeintlichen Schrecken lässt sich womöglich so besser begegnen. Zugleich entziehen sie sich und verweigern spielerisch den alltäglichen und zweckmäßigen Gebrauch der Möbel und Dinge dieser Wohnstatt. Auf einem Nachtspeicherofen sitzt eine Person vor einem mit einer Gardine verhangenen Fenster und zieht sich den Vorhang vor ihren Oberkörper. Das Tun der Personen, das die Künstlerin zu sehen gibt, lässt in gewisser Weise eine Vertrautheit mit dieser Örtlichkeit vermuten. Auch die Füße, die immer nackt sind, scheinen dies zu bestärken. [Im Übrigen ist es ein gängiges Darstellungsmuster in zeitgenössischen populären Wohnmedien, das Zu-Hause-Sein von Bewohner_innen auch damit zu markieren, dass sie in ihren Wohnräumen barfuß posieren. Damit verbindet sich der Eindruck, dass eine angenehme Temperatur vorherrscht, vielleicht eine Fußbodenheizung vorhanden ist und es in diesem Heim behaglich zugeht, befreit von Konventionen: Auf traditionelles innerhäusliches Schuhwerk kann verzichtet werden. Ausgetretene Latschen, Pantoffeln oder ärger noch Bettschuhe lassen sich nicht mit der Vorstellung einer fortschrittlichen und vorbildhaften Bewohnerschaft verbinden.]

43

Bezugssystem

A b b.   2   M a t r a t z e , Elsflether

Straße,

Matratze

[Denkausschnitte]

S p e r r m ü l l a b f u h r, Bremen,

2015

Die vertraute Häuslichkeit, die in den Fotografien von Unverzagt erzeugt wird, jenes Der-Möblierung-Naherücken durch die irritierenden Handlungen ermöglicht es jedoch zugleich, die Störung des Bewohnten und die diskrete Verstörtheit dieses Ortes der Sichtbarkeit zu überführen. Es geht nicht um ein den Möbeln innewohnendes sinnhaftes, ‚ordentliches‘ Benützen der Einrichtung, sondern um Ortsbefassungen, die inszeniert werden, mit denen durch den ‚unordentlichen‘ Gebrauch auch so etwas wie Gemütszustände im Bild vorgeführt werden. So wird das Interieur als „Stimmungsgehäuse“ (Nierhaus 1999, S. 99) von den Protagonist_ innen1 der Serie in der körperlichen Interaktion mit den Wohndingen

1 Von Thomas Schirmböck (2003, o.S.) erfahren wir, dass in der Serie drei Frauen zu sehen sind. Gleichzeitig lassen es die Fotografien aber weitgehend offen, ob es sich in der Serie immer um dieselben Personen handelt, die diesen Ort derart benützen. Es

44

Kathrin Heinz

angeordnet: am Rand sein, in der Nische kauern, am Boden sein. Oder eine Frau zieht sich an der Ecke eines massiven hölzernen Wohnzimmerschranks hoch: am Schrank hängen. Möbel sind Erinnerungsstücke. Die Dinge, mit denen wir uns umgeben, fordern uns Haltungen ab. Sie sind Behältnisse, gefüllt mit Wohngeschichten, an ihnen haften soziale und kulturelle Aushandlungsprozesse und Beziehungsgefüge. Sie bedingen unser Raumverhalten und strukturieren unser Körperhandeln. Wir ‚hängen‘ an Möbeln, wir bewahren sie auf, wir vererben sie, können uns manchmal nicht von ihnen trennen – Matratzen hingegen werden entsorgt (Abb. 2). Im gebrauchten Zustand, befleckt mit den körperlichen Hinterlassenschaften von denen, die sie beschliefen, gehören Matratzen nicht zu dem, was sich aufzuheben lohnt. Die Abdrücke, die die Matratze prägen, die Flüssigkeiten, die in sie eingedrungen, die Gerüche, die in ihr gespeichert sind, lassen diesen Materialkörper als wenig angemessenes Lebens‑‚Porträt‘ und biografisches Dokument erscheinen. Obschon so unmittelbar durchdrungen von der körpernahen Präsenz der Benutzer_innen, eignen sich Matratzen mithin nicht als Objekte des Andenkens. Im Palais Papius in der hessischen Stadt Wetzlar wurde eine Matratze tagtäglich im Schrank deponiert. In der historischen Stadtvilla2 ist die Sammlung von Dr. Irmgard Freiin von Lemmers-Danforth beherbergt. Eine Sammlung zur europäischen Wohnkultur, bestehend im Schwerpunkt aus Möbeln aus der Zeit der Renaissance und des Barock, die die in Wetzlar niedergelassene Kinderärztin und passionierte Sammlerin zeitlebens ausbaute.3 1963 stiftete sie Wetzlar ihre Sammlung, ab 1967 war diese öffentlich zugänglich. Besonders war, dass seit 1976 drei angehört zu den künstlerischen Strategien von Mia Unverzagt, eine Vereindeutigung von Geschlechterzugehörigkeit zu hintertreiben. Von daher wird im obigen Text von dieser Festlegung abgesehen. 2

Nebenbei befindet sich das Gebäude in unmittelbarer Nähe zum Reichskam-

mergericht (heute Museum), wo Johann Wolfgang Goethe einst 1772 sein juristisches Praktikum absolvierte. Wetzlar ist zugleich der Ort von Goethes unerfüllter Liebe zu Charlotte Buff, eine Begebenheit, die bekanntlich u.  a. in seinen Roman Die Leiden des jungen Werther einfloss. Erwähnenswert am Rande, wo es doch beim Tun auf der Matratze auch um das Thema des Liebens oder um die Tränen des Liebesschmerzes geht, die in die Schichten des Materials einsickern. 3 Zur Sammlung siehe Magistrat der Stadt Wetzlar (2012, v.  a. S. 40–42).

45

Bezugssystem

Matratze

[Denkausschnitte]

einanderliegende Räume im oberen Stockwerk Lemmers-Danforth und ihrer Lebensgefährtin Hildegard Pletsch, die auch Assistentin in ihrer Praxis war, als Wohnung dienten. Ihre Wohnräume waren nach ihrem Bezug grundsätzlich nicht mehr zu besichtigen, jedoch gewährten sie ausgewählten Besucher_innen bei ihren Führungen auch Einblick in diesen bewohnten Bereich der Ausstellung. Bestückt mit gesammeltem Mobiliar war dieser nun Bestandteil des alltäglichen Lebens. Wohnen – jener vermeintliche Ort des Privaten – wurde hier in zugespitzter Form als Ort des Ausstellens eingerichtet. Somit wurde hier exemplarisch die Verschränkung von wohnen +/− ausstellen, wie wir sie im gleichnamigen Forschungsfeld untersuchen, als Prinzip vorgeführt. Wohnen richtet als politische, soziale und kulturelle An-Ordnung Zuschreibungen an Geschlechter, Ethnien, Körper und Nation ein. Auch Ausstellen ist eine Konstellation sozialer und kultureller Narrative, die im Akt des Zeigens Wissen und Vorstellungen produziert. Diesem Erkenntnisraum wohnt inne, was zugleich nicht zu sehen gegeben wird, um zur Matratze zurückzukommen. Gezeigt wurde im Palais Papius kein Schlafzimmer, ein solches scheint es in der Tat in seiner gebräuchlichen Form nicht zu geben. Lediglich eine zweigeteilte duchesse brisée aus dem späten 18. Jahrhundert verwies auf die Schlafbedürfnisse der Bewohnerinnen. Wurde sie einstmals als Ruhe- und Tagebett höhergestellter Frauen im Rahmen feudaler Wohnungseinrichtungen etwa in Boudoirs benutzt, geriet sie nun zu Lemmers-Danforths alleiniger Schlafstätte. Wie eine Zeitzeugin mir erzählte, wurde allabendlich das Bett hergerichtet, tagsüber verschwand die Bettwäsche im Schrank – und mehr noch, dort wurde tagsüber auch die Matratze gelagert, auf der ihre Lebensgefährtin schlief, am Boden neben dem Liegemöbel. Nach dem Tod von Lemmers-Danforth im Jahr 1984 schlief Pletsch dann bis an ihr Lebensende 2005 auf der Chaiselongue. Im Schrank verschlossen sich nicht nur die hierarchisch anmutenden Schlafverhältnisse – oben auf der Chaiselongue, unten auf der Matratze –, sondern die beiden Frauen gewährten auch keinen Einblick in ihre Schlafgewohnheiten und ihre nächtlichen Lebensverhältnisse. Die Betten sind gemacht. Heidi Helmhold spricht diesbezüglich von einer „de-architektonisierende[n] Geste“, im Sinne einer „Eliminierung von Lebens- und Liebesspuren. Während wir im tagesräumlichen Bewusstsein an einer erkennbaren Identität in Outfit und Einrichtung arbeiten, löschen wir die Prägungen unserer nachträumlichen Identität mit jedem Bettenmachen wieder aus“ (Helmhold 2012, S. 68).

46

Kathrin Heinz

„[...] Auf der einen Seite mein Körper aus schwerem Metall, auf der anderen meine Sehnsucht, die leichte Luft. Ich umschließe sie mit einem flotten Bogen, garniere mit Spitzen, was ich meinen Ausschnitt nenn. Die Luft muss bemerken, dass ich sie forme. [...].“ Die eckigen Klammern vor und hinter dem Zitierten zeigen einen Ausschnitt an. Sie verweisen darauf, dass es sich um einen Textauszug handelt. Ein Auszug aus dem Gedicht Schwere Körper. Henry Moore: Oval with points (1968/1970) von Silke Scheuermann (2014, S. 34). Sie umschließen den Ausschnitt, bilden zugleich um das Gesagte einen Rahmen, der es sinnverwandt und Sinn verwandelnd in diesen Text eingreifen lässt. Zugleich rahmen die Klammern die Auslassung, ein Weggelassenes, sie bestimmen eine Grenzsetzung im Text, die auch auf etwas gerichtet ist, das wir nicht lesen können und dessen Aussage für den gegenwärtigen Kontext nicht von Bedeutung zu sein scheint. Punkt, Punkt, Punkt. [Punktelastizität: Kenner_innen empfehlen für einen guten Schlaf Matratzen mit hoher Punktelastizität, weil sie den liegenden Körper punktgenau und damit besser unterstützen als eine flächenelastische Matratze, die den Körper vermeintlich zu schnell durchhängen lässt.4] [...] Die Punkte, geordnet in Reihe, wiederum referieren auf die Anwesenheit einer weiteren Autorschaft, ein Mitschreiben, das sich im Text verklammert, formatiert. Die Klammer spannt die Aussage des_der anderen ein. Und sie gibt den Raum frei für Beifügungen, Veränderungen und Hervorhebungen. Sie kann stören, sie steht dazwischen, sie unterbricht und ermöglicht eine Bezüglichkeit, ein In-Beziehung-Sein im Behältnis der Klammer. Sie soll hier gesetzt sein als ein Gestaltungszeichen, das Denkbewegungen in Spannung hält, auch einer linearen Wissensbildung zuwiderläuft, vielmehr Gedankensprünge initiiert und

4

Vgl. etwa das Matratzen-ABC der Wohnzeitschrift Living at home, http://www.

livingathome.de/wohnen-selbermachen/wohnideen/4240-rtkl-matratzentypen-und-begriffe (letzter Zugriff am 26.04.2015).

47

Bezugssystem

Matratze

[Denkausschnitte]

produktiv macht und der Konstruiertheit von Denk- und Textanordnungen augenscheinlich Raum gibt. Sigmund Freuds Ausführungen zum auslösenden Moment wissenschaftlicher Erkenntnisbildung am Beginn seiner Schrift „Triebe und Triebschicksale“ bezeugen eine Forschungshaltung, die nicht der Vorstellung verhaftet ist, dass der Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion von methodischer Stringenz und Gerichtetheit geprägt sein müsse.5 Ein Prozess, dem gleichsam inhärent ist, „dass schlechterdings kein Forschungsobjekt beschreibbar ist, in das sich die Subjektivität des Forschers nicht bereits eingetragen hätte“ (Gast 2006, S. 17). Freud schreibt: „Wir haben oftmals die Forderung vertreten gehört, daß eine Wissenschaft über klaren und scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein soll. In Wirklichkeit beginnt keine Wissenschaft mit solchen Definitionen, auch die exaktesten nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein, herbeiholt. Noch unentbehrlicher sind solche Ideen – die späteren Grundbegriffe der Wissenschaft – bei der weiteren Verarbeitung des Stoffes. Sie müssen zunächst ein gewisses Maß von Unbestimmtheit in sich tragen; von einer klaren Umzeichnung ihres Inhaltes kann keine Rede sein. Solange sie sich in diesem Zustande befinden, verständigt man sich über ihre Bedeutung durch den wiederholten Hinweis auf das Erfahrungsmaterial, dem sie entnommen scheinen, das aber in Wirklichkeit ihnen unterworfen wird. Sie haben also strenge genommen den Charakter von Konventionen, wobei aber alles darauf ankommt, daß sie doch nicht willkürlich gewählt werden, sondern durch bedeutsame Beziehungen zum empirischen Stoffe bestimmt sind, die man zu erraten vermeint, noch ehe man sie erkennen und nachweisen kann.“ (Freud 1975, S. 81) 5

Den Hinweis auf die entsprechende Passage im Freud-Text verdanke ich dem

Vortrag von Lilli Gast auf der von Insa Härtel und Elfriede Löchel an der Universität Bremen 2005 veranstalteten Tagung „Objekt der Forschung – Forschung als Objekt: Methoden im Spannungsfeld von Wissenschaft und Psychoanalyse“. Der Text von Gast ist unter dem Titel „‚Ein gewisses Maß von Unbestimmtheit ...‘ Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess“ im Tagungsband erschienen.

48

Kathrin Heinz

Freuds „irgendwoher“ ist folglich nicht „willkürlich“, sondern „(bestimmt) durch bedeutsame Beziehungen“ (ebd.), deren Potenzialität ‚irgendwie‘ aufscheint und die es aufzusuchen gilt, oder anders: deren Erkenntnisvermögen als Denk-Raum und schließlich in der Überführung in einen Text-Raum hervorzubringen ist. Wobei dieser Aufzeichnungsakt sich beileibe nicht im Nachvollziehen jener ‚bedeutsamen Beziehungen‘ ereignet, sondern nach Lage der Dinge vermöge sprachlicher und ästhetischer Strukturen und Aussagen zu entwerfen ist – auch, um womöglich jene Ergriffenheit oder jenes Getroffensein im Anbetracht einer Forschungsidee kommunizieren zu können. [...] Ich könnte so tun, als ob dieser Text im Schlafwagen entstanden ist, an jener zumeist nicht alltäglichen Schlafstätte, deren Funktion darin besteht, mich verriegelt in einer Kabine von einem Ort zum anderen zu bringen, möglichst schlafend, oder mehr noch so etwas wie Schlaf wagend auf einer mit einem weißen Baumwolllaken bezogenen dünnen Matratze, eingebettet vom Rhythmus des Anhaltens, Beschleunigens, Abbremsens, von den Durchsagen auf den Bahnhöfen, von vorbeiziehenden Lichteinfällen und Geräuschen der Mitreisenden. Permanente Störungen korrelieren mit dem beständigen Rauschen der Klimaanlage. [Luftzirkulation: Gerade wenn ein Mensch im Schlaf viel Schweiß absondert, empfiehlt sich eine Matratze mit hoher Luftzirkulation, damit das Material die gestaute Feuchtigkeit wieder abgeben kann. Überhaupt ist das Belüften der Bettstatt für die Matratzen- und Schlafhygiene wichtig, auch um die Bewohnerschaft von Hausstaubmilben und Bakterien zu minimieren.] Weder ist dieser Text im Schlafwagen entstanden noch im Schlaf, vielmehr mit Unterbrechungen, gleichwohl mit fortgesetztem Interesse an der Matratze; sie ist Gegenstand und Theoriefigur, sie ist bezogen mit Modellierungen und Normierungen von Subjektivierungsprozessen. Auf ihr findet Vergesellschaftetes und Gesellschaftsstiftendes in seinen individuellen Bezügen statt. Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir ungefähr schlafend zwischen dem reichlichen Schlafbedürfnis eines Säuglings bis zur sogenannten ‚senilen Bettflucht‘. Schlafen ist überlebensnotwendig, Schlafstörungen und Schlafmangel machen auf Dauer krank, Schlafentzug ist ein Folterinstrument. „Die Verweigerung von Schlaf ist die

49

Bezugssystem

Matratze

[Denkausschnitte]

gewaltsame Enteignung des Selbst durch eine äußere Macht, die planmäßige Vernichtung des Individuums.“ (Crary 2014, S. 13)

R a h m e n

[ M a t r a t z e ]

Auf dem Tagungsprogramm und dem Plakat (Abb. 3) ist das Wort ‚Matratze‘ entsprechend den Maßen der Standardmatratzengröße 90 × 200 cm gesetzt.6 Als Objekt von einem Rahmen umschlossen, steht ihm ein Schrägstrich zur Seite, der die Denkbewegungen zur Matrize führt und Matratze und Matrize in ein Verhältnis einrückt. Die Matrize ist Medium und Mittler, sie ist Agentin von Wissensbildungen, sie prägt, vervielfältigt, sie zeichnet auf. Mit blauer Farbe sind die Tagungsutensilien bedruckt: anspielend einerseits auf die bei der Herstellung von Matrizen verwendete Tinte, Methylviolett, mit ihrem speziellen Geruch, der beispielsweise Klassenräume einnebelte, andererseits auf Blaupausen, die unterlegt zur Durchschrift benutzt werden. Dünnes, nicht hochwertiges, gelbliches Papier, Durchschlagpapier, wurde als Trägermaterial verwandt. Von Gebrauchsspuren schnell gekennzeichnet, liegt das Programm vor, Aufgezeichnetes druckt sich weiter durch, Matrize, um Matratze in ihren Bezügen, in Wohnarrangements und Raumsituationen, in Lebensverhältnissen zu denken. Diese bilden so etwas wie die Klammer um die Matratze, die meist in einem Gestell zwischen Kopf- und Fußteil zum Liegen kommt. Ausgangspunkt, um sie in den Blick zu nehmen und sie an den verschiedenen Orten aufzusuchen, bedeckt, entsorgt, versteckt, bezogen. Auch am Tag der Konfirmation ist das Bett gemacht, die Decke eingeschlagen (Abb. 4). Ein dunkelblaues Spannbetttuch verbirgt die Matratze, Decke und Kissen sind mit Bettwäsche des Fußballvereins Schalke 04 bezogen, unter dem Bett stehen Turnschuhe, an der Wand hängen Medaillen, wie sie auf Turnieren an die teilnehmenden Kinder verteilt werden. Darüber an der weißen Wand eine Bordüre mit aus dem Meer springenden Delfinen. Davor steht Tom-Steffen, nicht in Fußball-Outfit, wie es vielleicht die Einrichtung nahelegen würde, sondern in weißem Hemd, Schlips, dunkelgrauem Anzug mit feinen Nadelstreifen, schwarzen

6

50

Das Gestaltungskonzept wurde von Christian Heinz entwickelt.

Kathrin Heinz

Abb.  3  Plakat

zur

Tagung

„ M a t r a t z e / M a t ri z e“,

2014

51

Bezugssystem

Abb.  4  Franziska

Matratze

von

den

[Denkausschnitte]

Driesch,

Tom-Steffen

(aus der Reihe „... Narzissus und die Tulipan ...“), Inkjetprint,

Maße

variabel,

2009

Herrenschuhen. Die Hände hinter dem Oberkörper verschränkt, wirkt er aufgestellt zum Porträt in einem Interieur, das zwar auf Sport, Spiel, Bewegung verweist, aber den Jungen still stehen lässt zwischen Kiefernholz-Bett und Dachschräge. Franziska von den Driesch gibt uns in ihrer elfteiligen Fotoserie, die 2009 für die Ausstellung „Manieren. Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten“7 entstanden ist, Heranwachsende am Tag ihrer Konfirmation zu sehen. „... Narzissus und die 7 Ausstellung im Focke Museum, Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, 29.11.2009–30.05.2010.

52

Kathrin Heinz

Tulipan ...“, eine Zeile aus Paul Gerhardts Lied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ ist der Titel dieser Serie, die Jugendliche in jener pubertären Spanne zwischen Kindsein und Erwachsenwerden zeigt. Jene Lebensphase, die geprägt ist von Launen, Unsicherheiten und Überspanntheiten, die nachträglich vergleichsweise flüchtig erscheint, mit Aufbruch assoziiert wird, hier mit Blumen, die den Frühling einleiten. Konfirmiert wird in der Regel im Frühjahr, April, Mai. Die gezeigten Jugendlichen entsprechen nicht dem Bild rebellischer Teenager, wenig aufrührerisch, vielmehr einer Rollenerwartung entsprechend, einer Konvention angepasst und von einer Kleiderordnung angezogen, die sie im Interieur ihres eigenen Zimmers verkleidet oder fehl am Platz erscheinen lassen. In der Tat scheint der ‚groß‘ gewordene Tom-Steffen nicht mehr in dieses Bett zu passen. Zugleich wirkt die Einrichtung deplatziert, disparat in Anbetracht der nach Selbstbehauptung anmutenden Pose des jungen Mannes. Auch erzeugt die durch das Foto vermittelte eher karge, nicht mit Gemütlichkeit und Behaglichkeit assoziierte Ausstattung des Jungenzimmers, die Tür des Nachttischschränkchens scheint aus den Angeln zu sein, den Eindruck, dass die gängige Rede von der kindlichen Unbefangenheit, die der Jugendliche im Begriff ist, hinter sich zu lassen, längst einer romantisierten Vorstellung gleichkommt. Dem mit dem Kindsein evozierten Versprechen einer vermeintlich ‚heilen‘ Welt, eines ersten Zuhauses oder einer beschützenden Heimat ist der ‚Ernst‘ der Kindheit eingeschrieben. Auf Klassenfahrten schlafen Kinder in Schlafsälen. In Jugendherbergen, in Kinderheimen und Internaten gab und gibt es sie, auch in Unterkünften für Menschen auf der Flucht, in Kasernen und Krankenhäusern. In einem zugigen Raum, die Tür steht offen, steht ein Bett. Die Örtlichkeit wirkt verlassen, erinnert an ein Haus vor der Renovierung oder an einen anstehenden Abriss. Kahl, staubig, der Boden aufgerissen, seine Bewohnerschaft ist längst ausgezogen. „Slaapzaal“ nennt Berlinde de Bruyckere eine Serie von Rauminstallationen, die sie an unterschiedlichen Orten einrichtet, hier „Slaapzaal II“ von 1998 (Abb. 5). In Schlafsälen schläft man nicht allein, die übereinandergelegten Decken erinnern daran, dass sie von verschiedenen Personen benutzt werden. Es sind braune Decken mit weißem und rosé-farbigem Besatz. Geschichtet, nicht akkurat, längs und quer geordnet und glatt gestrichen liegen sie auf einem Bettgestell, eine mögliche Matratze oder weitere Utensilien des Gesamtsystems Bett sind nicht zu sehen, außer einem weißen Bettlaken, das an einer

53

Bezugssystem

Abb.  5 Berlinde

Matratze

de

Bruyckere,

[Denkausschnitte]

Slaapzaal

II,

Decken, Holz, Eisen, in situ – unterschiedliche Maße, 1998

Ecke nicht bedeckt ist. Decken decken zu, sie hüllen ein, mit ihnen wird geborgen und verborgen. Dichtes Gewebe schützt vor Kälte und könnte wärmende Geborgenheit ermöglichen. In die Decken sind jedoch Löcher geschnitten, die ihrer gebräuchlichen Funktion widersprechen. Der Durchblick in ein vermeintlich Inneres des Objektkörpers durch die kreisrunden Durchlochungen bleibt versagt. Die Schnittkanten, nicht ausgefranst, machen die Tiefe der Lagen sichtbar, Die Höhlungen enden auf Zugedecktem. Mehrlagig Verdecktes kommt nicht zur Deckung. Sinnbildlich verfängt sich die Luft in Löchern, wird geformt im An- und Ausgeschnittenen und lässt offen. Es endet womöglich zur Schlafenszeit. [...] ...

54

Kathrin Heinz

Li t e r at u r

Schirmböck 2003 Schirmböck, Thomas: Was wir auf dem

Crary 2014 Crary, Jonathan: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin: Wagenbach 2014.

Freud 1975

Lande tun. Schluß mit Lebeschön. Ein Versuch über zwei Bildserien von Mia Unverzagt, in: Sammelsendung ISBN 3320029452, 2003, o.S.

Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale (1915), in: ders.: Studienausgabe,

A bbi l d u ngsnac hw e isE

Band 3, Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 81–102.

Gast 2006 Gast, Lilli: „Ein gewisses Maß von Unbestimmtheit ...“ Anmerkungen zum freudschen Erkenntnisprozess, in: Elfriede Löchel; Insa Härtel (Hg.): Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft (Psychoanalytische Blätter, Bd. 27), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 12–29.

Helmhold 2012

Abb. 1: © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Abb. 2: Foto: Kathrin Heinz

Abb. 3: © Christian Heinz

Abb. 4: © Franziska von den Driesch

Abb. 5: Berlinde de Bruyckere, Slaapzaal II, 1998,

Helmhold, Heidi: Affektpolitik und Raum.

Decken, Holz, Eisen, in situ – unterschied-

Zu einer Architektur des Textilen (Kunst-

liche Maße, 1998, Installation „Roman-

wissenschaftliche Bibliothek, 34), Köln:

zero“, Artcentre Sittard, NL © Berlinde de

Walter König 2012.

Bruyckere

Magistrat der Stadt Wetzlar 2012 Magistrat der Stadt Wetzlar 2012 (Hg.): Sammlung von Lemmers-Danforth in Wetzlar. Europäische Wohnkultur aus Renaissance und Barock, Text: Angela Bösl, Petersberg: Michael Imhof 2012.

Nierhaus 1999 Nierhaus Irene: Arch6. Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999.

Scheuermann 2014 Scheuermann, Silke: Skizze vom Gras. Gedichte, Frankfurt a. M.: Schöffling & Co. 2014.

55

Irene Nierhaus, Kathrin Heinz, Katharina Eck, Johanna Hartmann

Zum Buch

Matratze/hingeworfenes Ding, auf dem wir schlafen, ruhen, lieben, faulenzen, träumen, quälen, reproduzieren, die wir beflecken, unter der das Verdrängte, Unheimliche lauert, auf der wir gesunden und sterben ... Matrize/Mutterform, die prägt, vervielfältigt, speichert, die Nachkommen hervorbringt, reproduziert, kopiert, die Gedrucktes erzeugt, zu Wissendes überträgt, die Gerüche hinterlässt, aufzeichnet ... Matratze wie Matrize sind Medien und Mittler. Matratze bedeutet Intimität, Alltag und Körper, Matrize hingegen Publizität, Wissen und Schrift. Damit wird eine geradezu wesenhafte, gegensatzbildende Differenz (re)produziert – Differenz zwischen Authentizität, Präsenz und Repräsentation, Reproduktion. Der Schrägstrich zwischen Matratze und Matrize markiert jedoch das zu diskutierende Verhältnis als potenzielles Wechselverhältnis. Die Matratze ist Grundelement des Wohnens und Inbegriff von Präsenz und Körperlichkeit, doch ist sie zu Hause, am vermeintlich privatesten Ort, auch zentrale Agentin des Biopolitischen, d.  h. auch von Normierung und Normalisierung in Subjektivierungsprozessen. Konfiguriert von Körperlichkeiten ist sie Objekt der Veräußerung, auf ihr findet Gesellschaftsstiftendes in seinen individuellen Bezügen statt. Sie ist Medium der sozialen Reproduktion. Auch die Matrize reproduziert, prägt, vervielfältigt. Sie vermittelt ein auf Veröffentlichung orientiertes Wissen. Die Matrize als Medium von Multiplizierung und öffentlicher Wissensbildung ist auch Metonym für Prägevorgänge und Einträge in Materialkörper. Als Theoriefigur ermöglicht die Matrize, Wohnen in der Spanne von Präsenz und Repräsentation zu denken. Die Matratze wiederum hat eine

57

Zum

Buch

doppelte Position, sie ist Theoriefigur und zugleich Gegenstandsbereich. Alltag, Wissen, Subjektivierung in körperanalogen Medien des Wohnens und ihren Zeigestrukturen sind dabei in Beziehung gesetzt gedacht, in der Verschränkung von Objekten, Materialitäten, ästhetischen Strukturen und Bedeutungskontexten. Über diese Konstellationen eine transdisziplinäre Debatte zwischen Kunst-, Kultur- und Filmwissenschaft, Architektur, Kunst und visueller Kultur, Theologie und Philosophie anzustiften, war das Ziel der Tagung „Matratze/Matrize. Substanz und Reproduktion im Wohnen. Konzepte in Kunst und Architektur“ im Mai 2014. Der aus der Tagung hervorgegangene, hier nun vorliegende Band verortet sich im Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen, das in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik an der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender realisiert wird. Im Forschungsfeld wird Wohnen als weitverzweigter und umfassender Komplex und Prozess von Aufenthalt, Handeln und Ausstellen als Zeigesystem verstanden. Wohnen wird spätestens seit der Moderne mit dem Privaten assoziiert, und auch wenn der Gegensatz zwischen „öffentlich“ und „privat“ eine nicht aufrechtzuerhaltende Konstruktion ist, wird sie dennoch in Aussagen, Texten und Bildern in unendlichen Dichotomie-Ketten (öffentlich – privat, männlich – weiblich, Individuum – Gesellschaft ...) ständig wiederholt und erneuert. Wohnen wird in der Moderne als gesellschaftlicher Schauplatz figuriert, an dem sich die innenorientierte moderne Subjektivität fortwährend veräußert, ausstellt und ausstellen muss. Das heißt, es geht auch um eine Ein_Richtung des Subjekts und seiner sozialen Konstellationen durch das und mit dem Einrichten des Wohnens. Wohnen richtet als politische, soziale und kulturelle An-Ordnung Zuschreibungen an Geschlechter, Ethnien, Körper und Nationen ein. Wohnen ist somit eine vorsätzlich gesellschaftliche Formation, was jedoch keineswegs bedeutet, dass diese Bedingtheit dem Subjekt die Möglichkeit zum Handeln nehmen würde. Im Gegenteil, Teil der Bedingtheit ist eine Aufforderung zum Handeln und ein Ausdifferenzieren in sozialen wie individuellen Handlungen und Vorstellungen (Herstellen des Wohnens, des Zusammenwirkens der Bewohner_innen, z.  B. als Familie, Verhalten in der Gesellschaft etc.). Wohnen ist ein Schauplatz des Bedingt-Seins und seiner wechselvollen Verhältnisse zum Selbst-Tun. Das Buch ordnet sich in drei Teile: Zuerst werden „Prägungen“, wie Abdrücke, Empfindungen, mentale Einschreibungen, Normierungen, Masse und Fleisch, in verschiedenen Sozial- und Materialord-

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nungen besprochen. Die Beiträge behandeln das Wechselverhältnis von Prägungen im Sozialen und im Materialen, in Körpern und in Regulierungen sowie von Matratze und Einschreibung. Im zweiten Teil werden Matratzen als soziale Grundausstattungen des Wohnens und wohnpolitische Formen der „Behausung“ thematisiert. Diese betreffen sowohl gebauten Wohnraum wie auch Wohnungslosigkeit oder temporäre Aufenthalte und sind immer schon Teil des Stadtkörpers. Im dritten und letzten Abschnitt werden Identitäten bzw. Identifizierungsprozesse zwischen Veröffentlichung und Privatisierung, zwischen Intimität und Publizität behandelt.

I.

Sozial-

und

M a t e ri a l o rd n u n g :

P r äg u n g.

Im ersten Beitrag des Buches wendet sich H e i d i H e l m h o l d den Matratzen ganz spezifischer Räume zu: den dünnen, unbezogenen Schaumstoffrechtecken, die den Inhaftierten in einem Gefängnis des Jugendstrafvollzugs als Schlafunterlage zur Verfügung stehen und oftmals das einzige „Weichmedium“ in den materiell reduzierten Zellen sind. Mit diesen Matten, die die Bedürfnisse der darauf liegenden Körper nicht befriedigen können oder sollen, wird die „materiale Argumentation des Strafenden Systems/der Matrix“ raummedial umgesetzt. Allerdings zeigt sich in Helmholds Gesprächen mit Insassen der Haftanstalt auch, wie dieses prekäre „Bett“ durch die Raumkompetenz der Inhaftierten wenigstens momenthaft als Wohn-Ding erfahrbar gemacht wird, mit dem die „Matrix des Zellenraumes [...] überschrieben“ werden kann. Die Gefängnismatratze erweist sich als Gegenstand, den die Gefangenen zu prägen lernen – nicht nur mit ihren Körpern, sondern auch mit ihren in die Haft mitgebrachten Sozialordnungen, die sie z.  B. durch das Zusammenrollen von Kleidungsstücken zu selbstgemachten Polstern materialisieren. Matrix und Materie sind keine festen Größen, Körper erweisen sich als prägend und geprägt zugleich. Besonderen „Einprägungen“ in den Körper geht M a ri e - L u i s e A n g e re r nach. Sie setzt sich mit Vorstellungen einer in den letzten Jahren vermehrt diskutierten Plastizität des Gehirns auseinander. Matratze und Matrize als Bild- und Denkfiguren verwendend formuliert sie ein weitverzweigtes Gedankengefüge zu Spur und Abdruck, das verschiedene Stränge in einer Bewegung „vom Zeit-

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alter der écriture zur aktuellen Epoche der Plastizität“ zusammenbringt. Ihr Interesse gilt insbesondere der Verzögerung zwischen Reiz und Reaktion, die etwa in der Beforschung der Nerven seit Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht wird, in Henri Bergsons Beschreibung des Gehirns als „zeitliche Lücke“ vorkommt und später „von Derrida als différance bezeichnet werden wird“; ein „Aufschub“, eine „Unter/brechung“, die Angerer als „Zone des Affektiven“ zu denken vorschlägt. Der „Aufschub und das Intervall als Zone, in der sich ein Selbstverhältnis bilden kann, um zu wirken“, interessieren auch D re h l i Ro b n i k , der in seinem Beitrag der Matratze als Motiv in Horrorfilm und Comedy nachgeht und bei seinen Lektüren, die den Blick auf, unter und hinter diese filmischen Matratzen lenken, kein bettendes Ding entdeckt, auf das die Körper ruhig niedersinken und ihren Abdruck – im Horrorfilm gegebenenfalls ihren blutigen Abdruck – hinterlassen, sondern ein monströs-unpassendes Medium der Reproduktion, aus dem die Körper sowohl leiblich-fleischlich als auch sozial hervorgehen und in dem sie ebenso verschwinden. In einer medientheoretischen Gegenlektüre montiert Robnik das Gliedmaßen verschluckende Slapstick-Klappbett zur Begegnung der Luftmatratze mit dem weißen Hai sowie zur erotischen Unterlage kapitalistischer Sex- und Arbeitsfantasien und zeigt die Matratze als Ort und Ding, auf dem „soziales Leben in Massen geformt und regiert wird – aber nie restlos“. Die Formung von Körperlichem und Sozialem ist nicht nur auf filmischen Matratzen, sondern auch diesseits der Leinwand, in den Kinosesseln, im Ehebett oder beim Cruisen im Park, keine geradlinige Sache. Sex ist wesentlicher Teil sozialer Strukturierungen, nicht zuletzt deswegen sind sexuelle Handlungs- und Fantasieräume von zentralem Interesse queerer Gesellschaftskritik. A l i c e Pe c h ri g g l nimmt in ihrem Beitrag, ausgehend von der Feststellung, dass der „erotische[ ] Körper[ ] und seine[ ] Unterlagen“ aus den philosophischen Geschlechter- und Sexualitätstheorien oftmals ausgeblendet bleiben und ähnlich auch die psychoanalytische Theoriebildung trotz ihrer scheinbaren Fokussierung auf Sexualität kaum Aufmerksamkeit für die Matratze übrig hat, sexuelle Begehrensstrukturen explizit in den Blick. Sie stellt die Frage nach der Lösbarkeit des Widerspruchs zwischen Eros und Hypnos, des antagonistischen Verhältnisses, das die Lust in der „gesellschaftliche[n] Matrix des Ehebettes“ einzuschläfern droht, und spricht sich dafür aus, die „promiskuitiven, mehr oder weniger gefährlichen Praktiken oder Fantasien“

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sowie Orte, die oftmals eher queeren Sexualitäten zugesprochen werden, an die Stelle einer „Monogamiematratze“ rücken zu lassen, damit die „Matratze [...] Teil einer Vermittlungsmatrix“ werden kann. Jene Matrizen, in denen Vorstellungen von Körpern, Geschlechtern und Sexualitäten angelegt sind, sind niemals losgelöst von den Räumen, den sowohl sozialen wie baulichen Architekturen, in die sie hineingedacht, in denen sie gelebt werden. Im Beitrag von G e o rg e s Te ys s o t geht es um eine vornehmlich über Architektur und Kunst definierte Stilrichtung, deren Selbstverständnis sich zentral in bestimmten Körperbildern und Sexualitätsvorstellungen zeigt: den Jugendstil. Teyssot untersucht, ob es möglich wäre, Walter Benjamins verlorenen Aufsatz über den Jugendstil zu rekonstruieren. Dazu analysiert er entsprechende erhaltene Notizen und Materialien Benjamins und spürt (möglichen) Lektüren und Begegnungen nach, die das Interesse des Philosophen am Jugendstil leiteten, darunter Rainer Maria Rilkes Beschäftigung mit dem Motiv des Wellenschlags, das der Dichter in der Vorstellung eines „Wohnen[s] im Gewoge“ mit Bildern von Interieur und Architektur verbindet. Benjamin habe „eine Archäologie der vom Jugendstil verfolgten Experimente“ erstellt, wobei sein Interesse insbesondere den Körper- und Sexualitätskonzepten des Jugendstils gegolten habe sowie der an den Idealen von Mobilität und Transparenz ausgerichteten Auseinandersetzung mit der „Geburt des plein airs aus dem Geiste des Interieurs“ (Benjamin). Die Formungen und Zurichtungen des Körpers nach sozialen Ordnungsstrukturen können auch zur Ermüdung der Seele führen, die sich den prägenden Sinnmatrizen kaum zu entziehen vermag – S i by l l e Tr awö g e r nimmt nun insbesondere diese Matrizen aus einer theologischen und zugleich wahrnehmungsästhetischen Blickrichtung in den Fokus und zieht Verbindungslinien zwischen einer christlich-kontemplativen Praxis und Haltung, einer Ästhetik des Performativen und speziell dem Widerfahrnischarakter an der Schnittstelle von Raum und Leib sowie dem Umgang mit (oder auch Loslösung von) den uns ständig prägenden Sinnmatrizen. Sie stellt das Projekt „Turmeremit“ vor, das ermöglicht, für eine Woche eine bewohnbare Stube im Turm des Linzer Mariendoms zu beziehen und somit eine Zeit des Rückzugs sowie Prozesse des stillen Gebets und der (Selbst)Reflexion zu erleben. Trawöger nähert sich der in diesem Zusammenhang besonders bedeutsamen Praxis der Kontemplation weiter an, indem sie die Leiblichkeit der Eremit_innen und den Prozess- bzw. Ereignischarakter ihrer Übungen und

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Haltungen thematisiert. Anhand der „Ästhetik des Performativen“ nach Dieter Mersch kommt sie auf das Nicht-Intentionale zu sprechen, das einen solchen Ereignischarakter – oder auch Widerfahrnischarakter – hat und beleuchtet die Widerfahrnis in ihren verschiedenen Facetten. Sie möchte „Materialität und somit auch Körper und Leib“ nicht als gegeben betrachten, sondern „in ihrer widerfahrenden Ereignishaftigkeit“; auf diese Weise ist ein Zustand der Empfänglichkeit möglich bzw. kann Offenheit eingeübt werden. Es geht Trawöger um den Leitgedanken, „Lebens-, Orientierungs- und Sinnmatrizen jeglicher Art nicht anzuhaften“. Um das Verhaftet-Bleiben bzw. Loslösen sowie um Reinigungspraktiken geht es auch im Beitrag von I n s a H ä r t e l , der sich ins mediale Feld des (Unterhaltungs)Fernsehens begibt. Härtel beschäftigt sich mit dem Phänomen der im deutschen Fernsehen seit einigen Jahren sehr beliebten Messie-Sendungen und analysiert eine Folge dieses Formats, das „kulturelle[ ] Reinigungsrituale“ vor Augen führt. In der analysierten Folge von „Das Messie-Team – Start in ein neues Leben“ von 2012 geht es um die junge Frau Peggy, die in ihrem geerbten Haus Müll und Kot anhäuft und vom „Messie-Team“ aus dieser Situation befreit werden soll. Härtel geht detailliert auf die in der Sendung erzeugten Narrative ein und beschreibt zunächst die Umstände, die zu Peggys Lebensweise führten, wobei sie insbesondere betont, dass Peggy ihre tote Mutter im Bett aufgefunden hatte und seitdem sukzessive verwahrloste. Im Zentrum stehen hier die Vorstellung von Maßlosigkeit, für die der bzw. die Messie steht, und der „Zerfall von Ordnungsstruktur als wucherndes Ansammeln und Vermischen“. Das Schlafzimmer und näherhin die Matratze wird zu einem Kumulationspunkt dieses Vermüllens, und anhand von Beispielen aus der Sendung, die sie einer psychoanalytischen Betrachtung unterzieht, kommt Härtel auf die mit dem Messietum verbundenen Themenkomplexe von „Alles-fallen-Lassen“/ „Sich-gehen-Lassen“, „Steckenbleiben“ und Schuld zu sprechen. Indem sie Aspekte wie die Kameraführung, Kommentare der (Laien)Schauspieler_innen, Musikeinlagen und Dramaturgie einbezieht, kann sie am Bett und der darin positionierten Peggy eine Vorher/Nachher-Logik ausmachen und schlussfolgern, dass dieses Bett „immer auch noch einmal das Ersetzte mitsamt seiner Exzesse, Wünsche, Hindernisse“ zu sehen gibt. Darüber hinaus kommt sie auf die solchen Sendungen inhärente Wiederholungsstruktur zu sprechen und die Beobachtung, dass die Reinigung „nicht nur in der Sendung, sondern auch von die-

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ser selbst“ stattfindet. Dieses TV-Format scheint darauf ausgerichtet, sich nicht nur den Zuschauer_innen, sondern auch sich selbst immer wieder einzuprägen.

II. Stadtkörper und Wohnpolitiken: Behausung. Das Wohnen und die darin verhandelten Körperideale, Subjekt-Objekt-Konstellationen und gesellschaftlichen Gefüge stehen in den folgenden Beiträgen im Zentrum. C h r i s t i a n e Ke i m untersucht Wohnmodelle des Neuen Bauens in den 1920er Jahren und stellt Betten und Matratzen als Wohnobjekte heraus, an denen sich eine spezifische Programmatik zeigt. Ausgehend von Hannes Meyers Interieur Co-op verdeutlicht sie die Zielsetzung, eine „moderne Wohnung für den modernen Menschen zu konzipieren“. Sie zeigt exemplarisch, wie diese Idealvorstellung an der Schnittstelle von Wohnraum und Körperlichkeit zum Ausdruck kam. Wenn man mit dem Begriff der Rationalisierung als „Schlüsselbegriff für den zeitgenössischen Planungskontext“ arbeitet, wird man auf Aspekte der Körperlichkeit und der Sexualität als einen Teilbereich davon stoßen, wobei für Keim im Folgenden die Kategorie der Hygiene besonders relevant ist. Insbesondere das „Band zwischen Sozialhygiene und Wohnbauplanung“ habe dabei eine große Rolle gespielt, insofern die Praxis von „Aus-Räumen und Rein(e)-Machen“ darauf zielte, den „hygienischen Zustand der Wohnungen zu sichern und bei den Wohnsubjekten ein Wohlbefinden“ auszulösen. Die Bemühungen der Protagonist_innen des Neuen Bauens, Körper, Geschlecht und Sexualverhalten zu normalisieren und in und mithilfe von teils sehr minimalistischen Wohnräumen zu disziplinieren, beleuchtet die Autorin sodann mit Bezug auf Michel Foucaults theoretischen Ansatz der BioMacht. Das Beispiel des Freiluftbettes und des Auslüftens, aber auch das von Keim als Teil dieser Debatten vorgestellte Klappbett erfüllen jeweils Ansprüche an dieses „gesunde“ und rationalisierte bzw. funktionalisierte Wohnen und Leben. In diesen Wohndingen und Schlafstätten fügen sich das Neue Bauen und der Neue Mensch zusammen. In der Moderne wird auch der Schlaf sozial reguliert. S o n j a K i n z l e r präsentiert einige Thesen aus ihrer Forschung zur Geschichte des Schlafs und konzentriert sich dabei besonders auf die Frage, was eigentlich wie als problematisch am Schlaf diskursiviert wurde, denn: „Über Schlaf wur-

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de vor allem dann in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten verhandelt, wenn er ein Problem darstellte [...].“ Für die Zeit der Aufklärung hält sie fest, dass der herrschende „Imperativ der Mäßigung“ auch in Bezug auf das Schlafverhalten galt, während sich Mediziner und Physiologen Mitte des 19. Jahrhunderts der Frage widmeten, ob respektive wie die Notwendigkeit des Schlafs überwunden werden könnte. Kinzler widmet sich dann dem für diese Rationalisierungs- und Vervollkommnungstendenzen exemplarischen Diskurs um die Federbetten und deren vermeintlich schädliche Wirkung. Als negative Faktoren der Nutzung von Federbetten für einen körperlich und moralisch gefestigten Menschen wurden immer wieder das leichte Schwitzen, die ungünstige Körperhaltung und besonders die Beförderung einer Neigung zur Onanie angeführt. Kinzler stellt so die „Überschneidungsfläche“ von Schlafdiskurs, Hygiene und bürgerlichen Moralvorstellungen heraus. Nicht sehr weit entfernt von Konzepten des (sozialen) Reine-Machens im Neuen Bauen scheinen Prozesse und Entscheidungen der heutigen Stadtplanung, wie G a b u H e i n d l zu zeigen vermag, wenn sie nach den „Matrizen gegenwärtiger Stadtplanungen“ und des Weiteren danach fragt, wessen Matratzen darin Platz finden. In neoliberalen Bebauungskonzepten nimmt die Zahl der Luxuswohnungen zu und die der Sozialwohnungen ab, während der Aufenthalt Obdachloser im öffentlichen Stadtraum möglichst gänzlich verhindert wird. Am Beispiel von Wien zeigt Heindl, wie eine „fordistisch, das heißt hierarchisch (top-down) organisierte wohlfahrtsstaatliche Stadtplanung“ als New Urban Governance „zu einer dienstleistungsorientierten, effizienten Administration“ umgebaut wird. Dagegen schlägt Heindl mit „Matter Urbanismus“, der nicht nur auf das Adjektiv „matt“ im Sinne von nicht-glänzend, sondern auch auf den englische Begriff matter Bezug nimmt, ein Konzept vor, das als zeitgemäße Aktualisierung der mat buildings von Peter und Alison Smithson „nicht repräsentativ, sondern nutzungsoffen“ ist: „Matter Urbanismus“ versteht dabei „im Sinn eines Historischen Materialismus die Stadt nicht über ihre bloßen Baustoffe, sondern über soziale Verhältnisse und Konflikte“ und stellt zudem die Matte und damit den Aufenthalt der Bewohner_innen ins Zentrum. Wie auch in der Verdrängung derjenigen deutlich wird, die auf der Straße schlafen, wird die Matratze als Gegenstand, der den Wohnort eines Menschen markiert, in erster Linie mit dem Innenraum assoziiert. Zeigt sich die Matratze draußen, gibt sie Anlass zur Diskussion. A n n a R i e d e l stößt in ihrem Beitrag auf eine auffällige Präsenz von Matrat-

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zen in der aktuellen medialen Berichterstattung über die Proteste und die Unterbringung geflüchteter Menschen. In verschiedenen deutschen Zeitungen taucht die Matratze sowohl als zentrales Bildmotiv vieler Fotografien als auch in Überschriften und Artikeltexten auf und fungiert dabei als „mehrfach besetzter Platzhalter“ für die Situation der Geflüchteten oder sogar für diese selbst: Zwischen den Figuren „Flüchtling“ und „Matratze“ werden bedeutungsvolle Beziehungen produziert, wobei die Matratze als Gegenstand, der in einer unwohnlichen Notunterkunft oder aber im öffentlichen Raum der Straße liegt, „als Instrument zur Generierung von Anerkennung dienen [kann], zugleich können mit ihr aber auch negative Zuschreibungen, Versuche der Normierung, von Voyeurismus und Kontrolle verbunden werden“. Die Denkfiguren des Daches über dem Kopf und der Matratze unter dem Kopf verbindet E l ke K r a s ny in ihrem Beitrag zum Wohnen als Krise mit einer Analyse der beiden Textdokumente The Home of Man der britischen Ökonomin Barbara Ward und der kollektiv verfassten Vancouver Declaration on Human Settlements. Beide Texte beziehen sich auf die unter der Bezeichnung HABITAT I bekannte erste UN Conference on Human Settlements, die 1976 in Vancouver stattfand. Krasny sieht zwischen diesen Texten und der Matrize eine metonymische Beziehung, wobei sie Erstere „als diskursive Matrizen“ auffasst. Auch hierbei geht es, wie schon bei Riedel, um ein (Menschen)Recht auf Schutz und Obdach. Die Redefigur des Pars pro Toto in Bezug auf die Matratze und die der Metonymie in Bezug auf die Matrize sieht die Autorin auch „als Ausdruck von Realverbindungen, die sich materiell, ökonomisch und politisch manifestieren und analytisch darstellen lassen“. In ihrer weiteren Argumentation verdeutlicht sie, „dass ein Diskurs der planetarischen Interdependenzen, der mit planetarischen Managementabsichten einhergeht, innerhalb von herrschenden Ungleichheitsverhältnissen agiert“ und dass auch die HABITAT-Konferenz mit ihrem globalen Handlungsanspruch Gefahr lief, diese Verhältnisse aufrechtzuerhalten bzw. sie zusätzlich zu verstärken.

III. Veröffentlichung und Privatisierung: Identität. Die Beiträge des abschließenden Teils beschäftigen sich mit dem ambivalenten Verhältnis zwischen – und dem oftmals ideologisierenden Umgang mit – den Kategorien bzw. Denkfiguren „privat“ und „öffentlich“

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und ihren sozialen Identitätsbildungen. Die Debatten knüpfen auch an Vorstellungen von Intimität versus Distanz, Rückzug versus Öffnung nach außen und Authentizität versus Konstruiertheit oder gar Verschleierung an. A n g e l i k a B a r t l untersucht in ihrem Beitrag zum Thema „Beweisstück Matratze“ Fotografien mit dem Sujet privater Wohnräume und fragt danach, inwiefern sich darin „dokumentarische[ ] Bildrhetoriken mit der Thematik des privaten Wohnens“ verschränken. Sie macht dabei die Matratze bzw. Schlafstatt als ein zentrales Element dieser Fotografien aus. Zunächst analysiert sie die Abbildung eines Nachtasyls für Migrant_innen in der Bayard Street in New York von Jacob Riis, die 1890 in dem Band How the Other Half Lives erschien. Bartl forscht hier nach den „Unmittelbarkeits- und Echtheitsrhetoriken“ und zeigt, dass hier letztlich „effektvoll die Devianz des ‚Lebens der Anderen‘“ präsentiert wird. Zu den in der Fotografie der Moderne bis heute immer beliebter werdenden Bildern privater Innenräume ist auch James Agees Let Us Now Praise Famous Men von 1941 zu zählen, ein Projekt, dass mit Riis’ Band signifikante „repräsentationspolitische Gemeinsamkeiten“ aufweist – beide geben, wie Bartl argumentiert, Ideale von Familiensettings, Wohnen als Schutzraum und Selbstentfaltung zu sehen. Selbst eher rebellisch orientierte Fotoprojekte wie die von Diane Arbus und Nan Goldin aus den 1960er bis 80er Jahren geben die „Vorstellung des Privatraums als intimer Rückzugsort“ (noch) nicht auf. Von der Filmwissenschaftlerin Monika Beyerle entlehnt Bartl das Konzept der „Authentizitätsgaranten“, um es auch für Fotografien des Privaten fruchtbar zu machen. Unter anderem anhand dieses Konzepts zeigt sie einige Bildstrategien auf, die darauf zielen, vermeintlich „tiefe Einblicke ins ‚wahre‘ Leben der Menschen zu geben“, und stellt die Matratze als ein für diese Strategien „besonders wirkungsvolles Bildelement“ heraus. Mit einem aktuellen Beispiel von 2010, der Fotoarbeit Jurys Inn von Wolfgang Tillmanns, thematisiert Bartl schließlich auch die Möglichkeiten künstlerischer Arbeiten, mit ihren eigenen Mitteln auf „die Instabilität und Durchlässigkeit der Kategorien öffentlich und privat“ zu verweisen, ohne dass sie die diskursive Wirkmacht, die diesen zukommt, verschleiern wollen oder können. E l e n a Z a n i c h e l l i präsentiert ebenfalls Überlegungen zum Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, und auch sie stellt eine fotografische Arbeit zu und mit einer Schlafstatt in den Fokus ihres Beitrags. Sie interessiert besonders die Beziehung zwischen Matratze und Matrize: Im Kontext ihrer Forschung zu einer „Semantik des Privaten“ in

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künstlerischen Arbeiten der 1990er Jahre untersucht sie die Plakatwand Untitled von Félix González-Torres (1994) als ein Werk, in dem und durch das „Privatheit, Öffentlichkeit und Geschlecht“ sowie die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, die mit diesen Kategorisierungen verbunden sind, in einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, mit der auch eine Ausstellung auf der Straße und somit außerhalb des musealen Raumes stattfand, hinterfragt werden. Matratzen und auch Matrizen (re)produzieren Prägungen, teilen also durchaus ihre „semantische Konsonanz mit der Reproduktion“. Anhand der Veröffentlichung eines höchst intimen Bildes seines Bettes, das González-Torres mit seinem erst kurz vor der Ausstellung an Aids verstorbenen Partner geteilt hatte, diskutiert Zanichelli Fragen nach Präsenz und (schmerzvoller) Absenz, ideologischen Grenzen und Verweigerungsgesten in und durch diese Form künstlerischen Schaffens. Sie betont, dass González-Torres eher Ambivalenzen des vielschichtigen Begriffs von „Privatheit“ vorführt, als eine eindeutige Trennung der Sphären „privat“ und „öffentlich“ – oder auch deren Überwindung – zu proklamieren. Das Persönliche, Intime, Biografische, das als künstlerische Position veröffentlicht wird, steht auch bei To b i a s L a n d e r zur Debatte. Er betrachtet in seinem Beitrag die Matratze als „Kommunikationsmaschine“ und bezieht sich damit auf Jean Baudrillard und dessen Publikation Le système des objets von 1968, in der die seit den 1960er Jahren zunächst im Wohnalltag der politischen Linken (Kommunen) und bald auch im Mainstream dominierenden Liegemöbel bzw. das „tiefergelegte Sitzen“ als Kommunikationsauslöser charakterisiert werden. Er reflektiert von diesem Ansatz ausgehend, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen die Matratze Bedeutungsträger, Speichermedium und Erinnerungsbzw. biografisches Objekt oder auch Mittel einer „Hybridisierung von Privatem und Beruflichem“ werden kann, wie am Fall des technisierten, drehbaren Bettes von Hugh Hefner vorgeführt wird. Mit Gert Selle argumentiert Lander, dass gerade auf „matratzenartigen Spielflächen der Selbstinszenierung Posituren der Lässigkeit präferiert werden“, und problematisiert solche Diskurse um das tiefe oder gar liegende Wohnen und Arbeiten. Gerade bei Hugh Hefner wird das Bett bzw. die Matratze zum „Machtinstrument“, dessen Symbolwert wichtiger ist als jeglicher Gebrauchswert. Die Funktion von Matratze und Bett in der „Sphäre der Kunst“ betrachtend, kommt Lander dann auf Arbeiten von Robert Gober, Louise Bourgeois, Ilona Németh und Tracey Emin zu sprechen,

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um seine Gedanken zu Kommunikation, Körperlichkeit, Erinnerungsspeicher und Repräsentation in und mit Matratzen anhand konkreter Beispiele auszuführen. Das Arbeiten im Bett, für das Hefners Drehbett unter anderem exemplarisch steht, ist ein zentrales Anliegen der Forschung von A n d re a s Ru m p f h u b e r, der in seinem Beitrag den Begriff der working poor umwandelt in den der working glamour. Dies sind für ihn „die Kreativ- und Wissensarbeiterinnen und -arbeiter im Bett“, wobei das Bett als heutiger Arbeitsplatz vieler und sogar als „Symbol für den Ort der entgrenzten Arbeitsgesellschaft“ in den Fokus rückt. Die Spanne zwischen dem darin implizierten Versprechen einer Freizeitgesellschaft und Anzeichen von Disziplinarregimen und Machtpositionen, die im und über das (Arbeiten, Agieren im) Bett artikuliert werden, interessiert ihn besonders, und als Beispiel führt auch er Hugh Hefners rotierendes Bett im Zentrum seines Playboy-Imperiums an, das „die Verlängerung, Modifikation und Verfestigung einer bestimmten männlich dominierten gesellschaftlichen Machtstruktur“ zeigt. Im Kontext dieser Entstehung und Verfestigung „immaterieller Arbeit“ untersucht Rumpfhuber dann Yoko Onos und John Lennons bed-in-Performance. Er stellt drei signifikante Momente heraus – die Erschöpfung bis zur Depression, die emanzipatorische Wendung, „die durch das Nichts-Tun und die darauffolgende Reorganisierung des Amsterdamer Hotelzimmers charakterisiert wird“, und die Rückführung auf Stereotype, vor allem in der Funktionalisierung durch das Fernsehen. In die Analyse dieser Performance fließen auch Rumpfhubers Beobachtungen bezüglich der Hilton-Hotels als „Konsumraum“, Onos und Lennons Selbstinszenierung und ihrer medialen Vermittlung sowie der Desillusionierung von Erwartungshaltungen an diesen „neuen Typus des Arbeiters“, den Lennon zeitweise repräsentiert. Arbeiten und Leben in der Horizontale, oder vielmehr eine horizontale „Entdifferenzierung“ verbindet Rumpfhubers Beitrag mit dem von A n g e l i ka L i n ke , die sich der „Zeichenhaftigkeit des Körpers auf individueller wie auf kollektiver Ebene“ widmet und sie im Kontext der „soziokulturellen Umwälzungen der 1968er“ betrachtet. Anhand zweier früherer Bildbeispiele eines Frontispiz zu einem Buch von Julius Bernhard von Rohr (1727) und einer Kupferstichserie kommunizierender Paare von Daniel Chodowiecki (1779/80) zeigt sie auf, wie sich „ein tiefgreifender sozialer und kultureller Umbau der Gesellschaft zeitgenössisch in programmatischer Weise an der Körpersemiotik“ festmachen

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lässt. Die Ära der 68er-Bewegung schaut sie sich unter dem Aspekt der „Entdifferenzierung“ auf den „vertikalen wie horizontalen Achsen alltäglicher Lebenswelt“ an. Das „neue Sitzen“ wie auch das „aktive Liegen“ – beide Körperhaltungen eingebunden in die neue Alltagstopografie – untersucht Linke als Erscheinungsformen der Protestsemiotik und thematisiert unter anderem das Sit-in als Geste der Raumbesetzung, wobei sie „Parallelen zwischen Protestsemiotik und Designavantgarde“ aufdeckt. So kommt sie zu dem Schluss, dass das Disziplinierende von „soziokulturell konstituierte[n] Ordnungen“ (der aufrechten Haltung z.  B.) durch „die betonte Orientierung nach unten“ bewusst gemacht und eventuell auch durchbrochen werden kann. I l a ri a H o p p e thematisiert den Komplex von Körper, Macht und sozialer Ordnung: Sie gibt einen Einblick in die Material-, Raum- und Geschlechtergeschichte des Bettes in der Frühen Neuzeit und die Entwicklung des höfischen Appartements. Am Beispiel der Villa Poggio Imperiale zu Florenz analysiert sie die Raumanordnungen und Bildprogramme der Gemächer von Regentin Maria Magdalena von Österreich und arbeitet ein Verständnis von Körper und Macht dieser Zeit heraus, in der das Bett nicht als Möbel einer privaten Sphäre, sondern als Ort der herrschaftlichen Repräsentation und Kommunikation zu lesen ist. Nicht trotz, sondern vielmehr gerade aufgrund seiner Nähe zum Herrschaftskörper fungierte das Bett in der höfischen Gesellschaft als wichtiges Symbol der Macht und die „damit verbundene Sakralisierung dieser Sphäre konnte – ganz im Gegensatz zu normativen Geschlechtszuschreibungen – sogar die Herrschaft einer Frau legitimieren“. Im Vergleich zu solchen höfischen Betten in der Frühen Neuzeit wird das Bett heute als wesentlich intimer verhandelt. Dennoch scheint der Aufenthalt darin keineswegs Privatsache zu sein. Wer zu lange schläft, gilt als Faulenzer_in, wer sich im Bett nicht entspannen kann, als bemitleidenswert. To m L u t z spürt in seinem Beitrag widersprüchlichen Beziehungen zur Matratze nach, dem Behagen und Unbehagen, das mit diesem Ding verbunden wird, auf dem geschlafen, geträumt, geliebt, geboren, gestorben, gefaulenzt – aber oft genug auch gearbeitet wird. Quer durch unterschiedliche disziplinäre und kulturelle Felder und verschiedene historische Epochen macht er mit zahlreichen Persönlichkeiten, Künstlern bis Politikern, sowie literarischen und filmischen Gestalten bekannt, die der Matratze besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben, entweder voll Hingezogenheit oder voll Verachtung, wobei diese beiden

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Einstellungen nah beieinander liegen können: Seine Untersuchung zur Figur des bettlägerigen Faulenzers führt Lutz zum horizontalen Arbeiter, zu einer (oftmals männlichen) Geniefigur, deren Müßiggang sich als bloße Pose erweist – denn nicht selten verbirgt sich dahinter ein unermüdliches Arbeitstier, das sich auf der Matratze den Anschein eines besonders lässigen Lebens zu geben versucht. Im abschließenden Beitrag zeigt F r a n z i s k a vo n d e n D r i e s c h die Fotoserie Gäste_Zimmer, die in Begleitung der dem Band zugrunde liegenden Tagung entstanden ist. Am Veranstaltungsort, in den Räumlichkeiten des Gästehauses der Universität Bremen, porträtiert sie die Protagonist_innen des Tagungsgeschehens – doch nicht im Vortragssaal sprechend, zuhörend oder diskutierend: Vielmehr gerät ihr Blick in andere häusliche Begebenheiten wie in Appartments, in Wasch-, Abstelloder Putzraum, auf Küchenzeilen, in das Treppenhaus und in Flure, in denen sich die Porträtierten aufhalten, vorübergehend, beiläufig, entspannt, dann sitzend, ruhend, schlafend und scheinbar Alltägliches verrichtend und Dinge schleppend: ein Kunstblumenarrangement, Kissen, Bettzeug und vor allem Matratzen. Unbezogene Matratzen, Klappgestelle, ungemachte Betten, mehr spärlich möblierte Räume, – die Porträtierten sind augenscheinlich nicht im Sich-Einrichten begriffen. Die Fotografin gibt uns Aufenthalte, Provisorien, Pausen zu sehen, die wie der Unterstrich wortwörtlich dazwischenliegen, Matratzen und Dinge als räumliche Lücke, um dann wieder die Debatte Matratze/Matrize aufzugreifen und weiterzutun. Unser großer Dank gilt den Autorinnen und Autoren für ihre matriziellen Beiträge. Ulf Heidel danken wir für das Lektorat und Bernhard Geyer für die Übersetzung der englischen Texte. Und nicht zuletzt geht unser Dank an Christian Heinz für die das Projektkonzept grafisch realisierende Gestaltung. Bremen im Mai 2015

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I. SOZIAL- UND MATERIALORDNUNG:

/

PRÄGUNG.

Heidi Helmhold

„Haftsack, Knochenkoffer, Fickmaschine“.1 Matratze/Matrize: Körper von Normierung und Einschreibung in Hafträumen

Textile u n d

A rc h i tek t u r, Muskelgefühle R a u m p r e k a r i a t

Mein Interesse am Umgang mit Hafträumen entstand auf der Rückseite der Beschäftigung mit Medien textiler Architektur im Schnittfeld von Architektur- und Körpertheorie (Helmhold 2012). Ich lese textile Architektur als eine Räumlichkeit in der gebauten Architektur, derer wir bedürfen, weil wir unserer Leiber bedürfen: Polster, Teppiche, Gardinen, Kissen, Matratzen. Mit den Weichmedien eines Raumes adressieren wir das, was August Schmarsow in seiner Architekturtheorie bereits 1883 einklagte: Körperbezüge, Affektpotenzial und Muskelgefühle (Schmarsow 2002). Schmarsows Kritik richtete sich zeitgenössisch gegen eine rein formalästhetische Betrachtung von Architektur und Räumlichkeit. Raum ist für ihn eine Anschauungsform, an der „Erfahrungen unseres Gesichtssinnes, sei es auch unter Beihülfe anderer leiblicher Faktoren“, beteiligt sind (ebd., S. 323). Zur sinnlichen Erfahrung zählen für ihn neben Vestibulärempfinden2 auch

1 Laubenthal 2001, S. 63, 79, 105. In diesem Beitrag wird nicht weiter auf die Bezeichnungen „Haftsack“, „Knochenkoffer“ und „Fickmaschine“ eingegangen. Zu allen drei (historischen) Bezeichnungen für die Haftraummatratze finden sich Einträge im Lexikon der Knastsprache (Laubenthal 2001). Leider sind diesen Einträgen keine Quellen zugeordnet; diesbezügliche Anfragen beim Verfasser blieben unbeantwortet. Ich lasse die Bezeichnungen titelgebend dennoch stehen, um auf eine historische Dimension von Naming zu verweisen. 2

Wahrnehmung durch den Gleichgewichtssinn, zur Orientierung des Körpers im Raum.

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„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

„Muskelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut wie der Bau des ganzen Körpers“ (ebd., S. 324). Das sind frühe raumtheoretische Einsichten in den Umstand, dass visuelle Wahrnehmungen in sensuelle Wahrnehmungen eingebunden sind. Antonio Damasio expliziert einen ähnlichen Zusammenhang in der Hirnforschung 100 Jahre später mit den „somatischen Markern“ (Damasio 2010, S. 237–240). Gebaute Architektur rückt uns auf den Leib; in ihr vollsinnlich und selbstbestimmt zu leben, zwingt uns, zwischen physischem Körper und Baukörper Medien zwischenräumlicher Resonanzen zu produzieren. Das heißt: „Mit bloßer Architektur strafen wir; Haftanstalten definieren den Raum als Zelle – wenig oder keine Medien vermitteln hier zwischen Körper und Wänden, Fußboden und vergitterten Fenstern“ (Helmhold 2012, S. 11). Freiheitsstrafende Systeme instrumentieren ein Prekariat von Räumen, Körpern, Dingen. Dieses Prekariat beginnt mit der Verhaftung eines Menschen und endet in der Regel mit dem letzten Tag seiner Strafverbüßung. War die Vorbereitung und Verübung der Tat an Involviertheit gebunden – an andere Menschen, an Räume, an Situationen, an Täter_innenwissen und Tatereignis –, ist diese mit der Verhaftung jäh unterbrochen: Mit der Inhaftnahme verliert eine tatverdächtige Person ihre Rollenkompetenzen (Goffman 1973, S. 24–42, hier S. 25) und wird damit auf ihren biologischen Körper3 in einer leeren Raumzelle verwiesen. Bezüge zum sozialen Körper (Freund_innen/ Familie) sind fortan ebenso der Kontrolle/Limitierung unterworfen wie der Umgang mit dem eigenen Leib und seinen Agenten – Möbeln, Dingen, Esswaren.

Haftraumstudie d e s

und

Fo u c a u l t s Ö ko n o m i e S t r a f e n s

Michel Foucault hat die Ökonomie des Strafens als gesellschaftlichen Normalisierungs- und Disziplinierungsprozess beschrieben und Merk-

3

Diese Reduzierung auf den biologischen Körper dokumentiert sich auch in den

Aufnahmeprozeduren in eine Haftanstalt/beim Polizeigewahrsam, zu denen ein körperliches ‚Trimmen‘ wie auch das Nehmen genetischer ‚Fingerabdrücke‘ gehören, die jegliche Selbstidentifikation vor der Inhaftierung unberücksichtigt lassen (Goffman 1973, S. 27).

76

Heidi Helmhold

male des Machttypus der Freiheitsstrafe in Absetzung zur Leibstrafe analysiert (Foucault 1994). In der deutschsprachigen Gefängnisforschung wurden Foucaults diskursanalytische Ansätze erst 2001 aufgegriffen und in wichtigen Themenaspekten präzisiert (Schauz 2010, S. 91). Wir4 untersuchen in einer laufenden Anforschungsstudie die Raumpraktiken in Hafträumen eines männlichen Jugendstrafvollzugs. Im Anschluss an Foucaults Diskursanalysen zur Ökonomie des Strafens lesen wir Strafende Räume im Gefängnis als „totale und asketische Institution[ ]“ (Louis-Pierre Baltard, zit.  n. Foucault 1994, S. 301, weiter ebd., S. 295–329); Orte von totaler Erziehung mittels weitestgreifender Anwendung von Machtapparaturen über Zeit und Körper der Insassen. Im Grundsatz unterliegt der bundesdeutsche Strafvollzug in seiner Strafenden Matrix diesen Strukturen bis heute. Aber unterschätzt wird von Foucault, so unsere leitende These, die Kompetenz der Inhaftierten selbst zum Raumhandeln.5 Ganz klar unterliegen Strafnehmer_innen den Kontrollmechanismen einer „Mikrophysik“ von Macht (ebd., S. 178), das heißt, sie sind in Zellen eingeschlossen, werden parzelliert, individualisiert und entkollektiviert (ebd., S. 183). Aber begreift man Raum in Sinne Foucaults als „Gemengelage“, als „Relationenensemble“ (Foucault 1990, S. 38), dann entstehen Responsen zwischen dem strafenden Setting und dem gelebten Setting der Insass_innen. Anders gesagt: Die Matrix des Zellenraums wird von der Raumkompetenz seiner Insass_innen überschrieben. Und damit sind Inhaftierte nicht nur Passivnutzer_innen von Raum, denen die Rhetorik des Strafens eingeschrieben wird, sondern sie sind auch Akteur_innen von Gegenplatzierungen, von heterotopischen ‚wirklichen‘ Orten (ebd., S. 39), die mit ihrem Körper- und Raumwissen den Strafenden Raum überschreiben. Im Jahr 2014 befragten wir in leitfragengestützten Interviews 32 männliche Inhaftierte im Alter von 17 bis 23 Jahren in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) in Nordrhein-Westfalen. Unser Interesse galt dabei nicht Fragen des neuen Bauens von Gefängnissen, die in den letzten

4

Heidi Helmhold, Tessa Roumidis, Institut für Kunst und Kunsttheorie, Universität

zu Köln, in Kooperation mit Jennifer Klöckner, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität zu Köln. 5

Goffman hat dies als Strategien des „Unterlebens“ und der „sekundären Anpas-

sung“ in öffentlichen Institutionen wie Heilanstalten oder Gefängnissen analysiert (Goffman 1973, S. 171–289).

77

„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

Jahren zunehmend diskutiert werden.6 Wir fragten die Inhaftierten nach ihren wohnbezogenen7 Raumroutinen vor und während der Haftzeit, bei wiederholtem Einsitzen in Strafhaft fragten wir auch nach Raumroutinen außerhalb des Gefängnisses. Mit dem Begriff der Raumroutine bezeichnen wir Formen von Raumproduktionen, die wiederholbare Strukturen von Raumhandeln konstituieren (Löw 2001, S. 148f., 152–156). Dabei werden von den Inhaftierten Dinge im Raum positioniert, Ordnungen geschaffen, gegeneinander verschoben, verhandelt und verteidigt. Es entstehen Raumdispositive, in denen sich unterschiedliche Formen disziplinarischer Macht und gegenräumliches Handelns ineinander abbilden. Wir befragten die Inhaftierten auch zu ihrer Wahrnehmung des Haftraums8 und zur Veränderung des Körpergefühls während der Inhaftierung. Den Interviews waren fotodokumentarische Begehungen der Haftanstalt vorausgegangen.9 Bei den Anstaltsbegehungen interessierten uns neben den Hafträumen auch die räumlichen Infrastrukturen, die die Inhaftierten vom Moment ihrer Einweisung über die Untersuchungshaft und/oder Strafhaft bis zu ihrer Entlassung durchlaufen. Dabei erfass-

6

So z.  B. die vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und For-

schung unterstützte Studie zur Strafvollzugsarchitektur unter dem Parameter zeitgemäßer Gefängnisplanung (Seelich 2009), der stark diskutierte Neubau der JVA Heidering vom Grazer Architekten Josef Hohensinn (http://de.wikipedia.org/wiki/Justizvollzugsanstalt_Heidering, [letzter Zugriff am 23.9.2014]) oder das ebenfalls von Hohensinn konzipierte und realisierte Justizzentrum Leoben, Österreich (Bundesimmobiliengesellschaft 2006). Das Interesse an der Gestaltung von Hafträumen ist in den Medien immer dann besonders hoch, wenn VIPs zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, wie 2014 der Manager des FC Bayern München Uli Hoeneß. Dieser verbrachte seine Strafe vom ersten Tag an auf der besser möblierten Krankenstation: „Auf der Krankenstation haben Häftlinge ein angenehmes Leben. ‚Die Betten haben Plastiküberzug und eine richtige Matratze.‘“ (http://www.tz.de/sport/fc-bayern/uli-hoeness-leben-im-knast-sonderrechte-kein-kontakt-haeftlingen-tz-3673084.html, [letzter Zugriff am 29.10.2014]). 7 Den Begriff ‚Wohnen‘ werden wir in unserer Studie befragen und mit den Gesetzestexten abgleichen. Das Strafvollzugsgesetz macht dazu z.  B. im § 144 Angaben: Es gibt vonseiten des Gesetzgebers eine Pflicht zur „Wohnlichkeit“ der Hafträume, die u.a. darin besteht, dass der_die Gefangene sich sicher fühlen und die Zelle mit Gegenständen in ihr_sein eigenes Territorium verwandeln kann (vgl. Feest/Lesting 2012, S. 838). Das kann jedoch auch so gelesen werden, dass sich ‚Wohnen‘ überhaupt erst aus dem Raumhandeln der Inhaftierten ergibt. 8

Die Größe des Haftraums ist im deutschen Strafvollzug nach Inkrafttreten des

§ 7 JVollzGB I BW am 1.1.2010 in der Einzelbelegung mit 9 m² Bodenfläche festgelegt (vgl. Laubenthal 2015, S. 269). 9

Ich flankiere den Text mit einem assoziierten Bildmaterial von Matratzen aus dem

von uns erhobenen Material.

78

Heidi Helmhold

ten wir auch die sogenannten Schlichtzellen und den BgH (besonders gesicherter Haftraum), in die Inhaftierte verlegt werden, wenn sie die Hausordnung durch „besondere Vorkommnisse“ verletzen.

Gouvernementalität

und

Dingbesitz

Bevor ich meine Ausführungen auf Matrix/Matrize konzentriere, möchte ich eine anstaltsinterne Regelungen-Matrize zum Dingbesitz skizzieren, die auch der materiell unzulänglichen Ausstattung des Bettes unterlegt ist. Die Abteilung S+O (= Sicherheit und Ordnung) in der von uns untersuchten JVA betreibt eine dynamische Liste „Genehmigung von Gegenständen“, die mit Stand vom Oktober 2013 eine Anzahl von 69 Gegenständen verzeichnete, von denen die Inhaftierten 24 besitzen durften. Diese Liste wird in Verordnungen immer wieder aktualisiert. Die meisten der nicht erlaubten Gegenstände werden als sicherheitsgefährdend eingestuft. Mitarbeiter_innen von S+O führen spontane Raumkontrollen auf unerlaubten Gegenstandsbesitz durch. Von den Inhaftierten werden diese unangemeldeten Zellenkontrollen insbesondere darum gefürchtet, weil ihnen die Intimität der Objekt- und Raumanordnungen zerstört wird. Zu den Kontrollen gehört auch das Durchsuchen des Bettes und des Matratzenbereiches. S+O garantiert damit nicht nur die Gouvernementalität des Strafenden Systems (Foucault 2014, S. 162), sie macht diese auch im Zerstören der räumlichen Gegenplatzierungen der Inhaftierten sichtbar. Besitz und autonomer Umgang mit persönlich konnotierten Dingen sind jedoch entscheidende Agenten im Erwerb von (Raum)Vertrauen, Selbstwertgefühl, Raumerleben, Körper-Ich-Gefühl etc. (Habermas 1999, S. 68–78). Die Möglichkeit, Dinge zu erwerben und zu besitzen, ist gegeben, wenn die Inhaftierten von der Untersuchungshaft in die Strafhaft wechseln – in der Regel nach Abschluss des Strafprozesses und nach ergangenem Strafurteil. In der Möblierung ist das Machtdispositiv des Strafhaftraumes identisch mit dem des Untersuchungshaftraums, aber der Strafhaftraum kann durch Raumhandeln der Inhaftierten aufgewertet und verändert werden. Sie können der dingmateriellen ‚Entkleidung‘, wie sie in der Untersuchungshaft herrschte, nun durch Dingbesitz über Einkauf, Besucher_innengeschenke oder Tausch mit anderen Gefangenen entkommen. Dies bedeutet Erwerb und Demonstration von kultureller Kompetenz, Status- und Territoriumsge-

79

„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

winn. Im Rahmen unserer Studie interessiert uns insbesondere dieses Raumhandeln mit Dingen und Medien: Strategien des Erwerbs, ihre räumliche Disponierung, Überschreibungstechniken, Affektkulturen, Repräsentationstechniken, Raum-/Körperhandeln.10

Materiale

Entzugsdynamik

Matratze/Matrize kann im von uns erhobenen Material in mehreren Zeigestrukturen als Raumhandeln verfolgt werden. Da ist zum einen die materiale Argumentation des Strafenden Systems/der Matrix selbst, die sich in der Inszenierung einer Entzugsdynamik artikuliert. Mit der Verhaftung eines Menschen wird die Möglichkeit zur Nutzung weicher, körperaffiner Medien reduziert oder entzogen. Das betrifft nicht nur den Jugendstrafvollzug, sondern ist grundsätzlich mit der Überführung in eine Inhaftierung verbunden. Mit anderen Worten: Es wird hart; Muskelgefühle und somatische Marker adressieren sensorische Bereiche von Missempfinden und Schmerz. Diese Dynamik beginnt am ersten freiheitsentziehenden Ort, dem Polizeigewahrsam, wo der Tatverdächtige darauf wartet, dem_der Haftrichter_in vorgeführt zu werden. Dazu äußerte sich einer der befragten Inhaftierten, L.-J., 20 Jahre, im Interview wie folgt (I = Interviewer_in, B = Befragter): I: „Bist du [...] erst einmal in Polizeigewahrsam gekommen?“ B: „Ja, in Dortmund eine Nacht in Polizeigewahrsam. Da war eine Matratze [...], mehr war da nicht drin. Ich habe einen Papieranzug gekriegt, den ich anziehen konnte, weil die meine Klamotten zur Spurensicherung genommen haben. Die habe ich bis jetzt noch 10

Genderspezifisch werden von inhaftierten Jugendlichen Techniken und Strategien

entwickelt, den eigenen Körper zu kontrollieren und damit sozialen oder existenziellen Überlebenswillen zu manifestieren. Für die meisten der von uns interviewten männlichen Jugendlichen ist das Körper- und Muskeltraining wichtig. Inhaftierte Frauen, so Jane Atwood, leiden unter den Restriktionen in der Konstruktion von Körperbildern, wie sie von weiblichen Insassinnen als Selbstanspruch mit in die Gefängnisse gebracht werden: „[T]hey can’t have hair spray. Now, hair spray is real important to a lot of woman. We actually have inmates who use spray starch [Wäschestärke] to hold their hair in place because they’ll go down here to the beauty shop (it’s their once-every-threemonth treat to get this really nice-looking hairstyle) and they have no way to hold it in place. Those kinds of things are more important to women“ (Atwood 2000, S. 30).

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nicht wieder. Ich bin mit einem Papieranzug hierhingekommen [in die JVA].“ [...] I: „Ist doch auch kalt, oder? War das im Winter?“ B: „Das war im März, ja. Dann da in die Zelle rein, da war nichts, ein Loch auf dem Boden, diese komischen Toiletten und die Matratze, mehr war da nicht. War sehr beklemmend.“11 Im Polizeigewahrsam verbringt der Inhaftierte längstens 24 Stunden in einem Haftraum, der nicht selten durchgehend gekachelt ist, um ihn zeitsparend von Erbrochenem und Exkrementen reinigen zu können. Als Bett fungiert eine Kachelbank, auf der eine dünne Matratze liegt. Zum Zudecken wird, sofern keine Suizidgefahr besteht, eine Decke gereicht.12 Räumliche Schutz- oder Polstermedien wie Gardinen, Kissen, Teppiche gibt es nicht. Hafträume sind in der Regel faltenlose Räume, von Foucault anhand des Panopticons von Jeremy Bentham modellhaft beschrieben: An die Stelle des räumlich unübersichtlichen Kerkers, in den die Gefangenen als „dicht gedrängte und ruhelose Masse“ verbannt wurden (Foucault 1994, S. 257), tritt mit dem Panopticon im 19. Jahrhundert der durchlichtete Haftraum, der an zwei gegenüberliegenden Seiten mit Fenstern versehen die Gefangenensilhouetten von einem Wachturm in der Mitte des Gebäudes präzise beobachten lässt – ohne materiale oder räumliche Faltungen. Die Gefangenen selbst können ihre Beobachter nicht sehen.13 Diese standen damals hinter Gardinen, heute sitzen sie hinter Einwegspiegeln. Aus dem Polizeigewahrsam wird der Strafverdächtige in die Untersuchungshaft einer JVA überführt. Dort wird er nach seiner Ankunft vollständig in Anstaltskleidung vestimentiert; sein Habe wird in ver11

Ausschnitt aus dem Interviewmaterial zu meiner Untersuchung Strafende Räume –

Raumpraktiken im Jugendstrafvollzug, Helmhold 2015a (im Erscheinen). 12

Hierin liegt auch ein Hinweis auf die funktionale Schere von Textilien: Sie können

Leben schützen und zerstören. 13

Gregor Schneider hat in seiner Arbeit „Weiße Folter“ 2007 in Düsseldorf eine

zeitgenössische räumliche Faltenlosigkeit im Nachbau des US-amerikanischen Gefangenenlagers Guantanamo installiert (Schneider 2007). Die Faltenlosigkeit von Raum und Materialität ist in Guantanamo zur Komplizin einer Ästhetik der technischen Perfektion geworden. Hier gibt es keine Räume mehr, sondern nur noch psychische Dispositionen: Pausen zwischen Folter und Angstkorridoren, zwischen Absenz von Leben und Leben als Zerstörungsmaschine.

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„Haftsack,

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Knochenkoffer,

Fickmaschine“

Heidi Helmhold

Abb. Raumsituation

mit

Bett

in

einer

JVA

im

Jugendstrafvollzug

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„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

plombten Plastiksäcken aufbewahrt und verbleibt in der ‚Kammer‘ genannten Abteilung. Der Inhaftierte wird in seinen Haftraum gebracht: Bett, Tisch, Metallregal und Schrank sind fest in die Wand oder den Boden verschraubt. Dazu gibt es einen Stuhl, eine Toilette und ein Waschbecken. Einziges körperaffines Medium ist ein unbezogener, etwa 10 cm dicker gelber Schaumstoff auf einem perforierten Metallgitter, der als Matratze fungiert. Dazu ein interviewter Insasse, 17 Jahre, Deutscher, seit drei Monaten in Haft: I: „Die Matratze, sag mir etwas über diese Matratze [...].“ B: „Ich weiß nicht, das, ja das ist, wenn ich das sehe, fühle ich mich nicht wohl, auf was ich schlafe, auf, was ist das – Schaumstoff, so gelber Schaumstoff, so dünn ist das, das ist hart, unbequem, fühlt sich komisch an darauf zu schlafen. Und viel zu dünn, wenn die das schon wenigstens nicht [dicker machen], dann zwei solcher Dinger, dass man nicht immer, dann kriege ich total Rückenschmerzen auf jeden Fall.“ Als Keil-Kopfkissen fungiert ein 1–5 cm hoher schwarzer Schaumstoff. Es gibt zwei Decken und einen gestreiften Bettbezug. In der Schlichtzelle, in die Gefangene bei Verstößen oder während sogenannter ‚Ausraster‘ gebracht werden, liegt eine dünne gummierte Matratze auf einem Betonsockel, Bettwäsche gibt es hier keine. Die Anstaltskleidung wird während des Aufenthalts in der Schlichtzelle gegen einen sogenannten Jogger, einen bereitliegenden Jogginganzug, getauscht, der – oversized – eine feste, schutzgebende Körperbildgrenze aufhebt (vgl. Habermas 1999, S. 65–68). Der BgH – in der von uns dokumentierten JVA im Keller gelegen – ist ein fensterloser Raum mit einer Öffnung in der Zimmerdecke. Von dort sprechen Betreuer_innen, Sozialarbeiter_innen oder Psycholog_innen mit dem Inhaftierten. Der BgH ist von Neonlicht beleuchtet und bis auf eine am Boden liegende Matratze leer; der Gefangene trägt auch hier einen oversized Jogger. Sollte sich der psychische Ausnahmezustand des Insassen im BgH zuspitzen und zur Selbstgefährdung führen, wird er auf einer Eisenmatratze fixiert, die zu diesem Zweck in den BgH gebracht wird. Der Gefangene darf längstens eine Woche im BgH verbleiben. Verstößt er danach weiterhin gegen die Hausordnung, wird er in eine psychiatrische Einrichtung gebracht. Der Einsatz von Psychopharmaka ist in JVAs nicht zugelassen.

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Die materiale Argumentation der Strafenden Matrix reduziert also mit der Schlichtzelle, in die gegen die Hausordnung agierende Gefangene gebracht werden, den Grad responsiver Körpermedien weiter, indem die Matratze auf einem unreagiblen Sockel fixiert ist, es keine Bettwäsche, keinen Dingbesitz und als Kleidung nur noch den Jogger gibt. Und der BgH verschärft das Instrument der materialen Entzugsdynamik nochmals, dadurch dass zudem Tageslicht, Bettgestell und Bettdecke eliminiert werden und gegebenenfalls die Metallmatratze zur Körperfixierung zum Einsatz kommt. Die Ökonomie des Strafens in der Entzugsdynamik fortschreitender Eliminierung textiler weicher Medien wird sicherheitstechnisch mit der Verhinderung von Selbststrangulierung begründet und ist darin der Ökonomie der Psychiatrie mit ihren textilarmen Räumen nicht unähnlich. Die Matrize als anstaltsöffentliche Rede von Strafen überschreibt hier die Matratze als den persönlichen Ort von Intimität zunehmend. Das heißt auch: Mit der Entzugsdynamik wird ein leiblich-räumliches Wohlgefühl und ein positiv-affektives Raumhandeln eingeschränkt, wenn nicht sogar unterbunden. Flankiert wird die materiale Entzugsdynamik durch das Vermeiden von Körperkontakt zwischen den Betreuer_innen und den jugendlichen Gefangenen. Das meint zunächst die im Strafrecht vorgeschriebene Unterlassung von Leibstrafen, impliziert jedoch auch das Verbot jeglicher Form von tröstender oder freundschaftlicher Berührung durch die Betreuer_innen. Dieses Konzept der strikten Vermeidung eines positiv-affektiven Körper-/Raumhandelns ist insofern schwer nachvollziehbar, als in der untersuchten Haftanstalt dem Behandlungsvollzug oberste Priorität eingeräumt wird.14 Das heißt, dass es sozial- und psychotherapeutische Angebote, Ausbildung, Schule und freizeitpädagogische Angebote für die jugendlichen Inhaftierten gibt. Resozialisierung bzw. Sozialisierung ist die Intention im Jugendstrafvollzug; Jugendstrafrecht gilt in Deutschland als Erziehungsstrafrecht.15

14

So formuliert in der Präambel des Sicherheitskonzeptes der untersuchten JVA. Im

Jugendstrafvollzug sind Erziehungsziele formuliert, die das Legalverhalten (Resozialisierung) der straffälligen Jugendlichen positiv beeinflussen (sollen). Dazu werden in einem Diagnoseverfahren „Erziehungs- und Förderbedarf“ eines Inhaftierten festgestellt und damit ein Vollzugsplan erstellt (vgl. Ostendorf 2012, S. 114–121). 15 „Kritiker des Erziehungsstrafrechts sprechen demgegenüber von einer im Gesetz angelegten und von der Praxis verfolgten Erziehungsideologie, mit der der strafende Charakter des jugendlichen Verfahrens [...] geleugnet wird.“ (Ostendorf 2010, S. 49)

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Matratze

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/

Fickmaschine“

Matrize

Matratzen sind Medien der Zwischenräumlichkeit. Es sind Polster, die auf leibliche Bedürfnisse der weichen Lagerung reagieren. Eine Matratze kann hart oder weich gepolstert sein und entspricht in diesen ‚Härtegraden‘ einem jeweiligen Liege-Typus. Eine Frühform der Matratze stellt der mit Pflanzenspreu oder Stroh gestopfte Bodensack dar16 – er polstert gegen einen kalten Untergrund, besitzt aber keinerlei Federung, was in der Nutzung zu einer Kuhle in der Liegefläche führt. Der Inbegriff heutiger Standards in der Matratzenkultur sind nach Liegezonen unterschiedlich gepolsterte Komfortmatratzen, die den Körper weich lagern und auf Bewegung mit Federung oder Elastizität des Materials reagieren. Matratzen sind existenzielle Medien materieller Kultur, da sie das Liegebedürfnis eines schlafenden Menschen satisfizieren. Abgeleitete Matratzenformen sind Kissen, Polsterstühle oder Sofas (Helmhold 2012, S. 35–95); mit ihnen sind je unterschiedliche Politiken von raumhandelnden Körpern verbunden. Mit Freuds Einführung einer Couch in den psychoanalytischen Behandlungsraum ist ein elaboriertes gepolstertes Raumkonzept beschrieben worden.17 Grundsätzlich sind alle Polstermedien respondierende textile Architekturen. Sie sind es aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit an Raum und Körperbedürfnisse ihrer Nutzer_innen. Sheila Kennedy und Veit Kugel bezeichnen die Materialien ihrer Housing-Konzepte als aktiv und meinen neben der digitalen hier auch die physische Bewegungsfähigkeit der verwendeten Baustoffe (Kennedy/Kugel 2010, S. 78f.). Respondierende, wörtlich also antwortende Raum-Nutzer-Beziehungen ergeben sich auch im räumlichen Alltagshandeln, wenn wir uns in Betten legen, auf Polster setzen oder auf Teppichen laufen. Wir hinterlassen Abdrücke und wir nehmen Fühlung auf. Das sind antwortende, responsive Interaktionen zwischen nachgiebigen Materialien und sensitiven Körpern; Handlungen können als Fragen im Sinn von Anforderungen an die materialen Medien herangetragen und ‚beantwortet‘ werden – Sinneserfahrungen, die im zukünftigen Wohndesign als behaving architecture (Heinich/Eidner 2009, S. 126–131) eine immer größere Rolle spielen werden.

16 Siehe dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Matratze (letzter Zugriff am 1.10.2014). 17 Vgl. hierzu die materialreiche Arbeit von Guderian (2004), die allerdings leider den raumsoziologischen Begriff des Spacings (Löw 2001) nicht rezipiert.

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Heidi Helmhold

Körper

im

Schmerz

Wenn sich die Inhaftierten innerhalb des Strafvollzugs nichts zuschulden kommen lassen, dann agiert die Matrix von Strafen als der Regelfall von leiblich-sinnlichem Prekariat; am Beispiel der Matratze heißt dies: Das Stück Schaumstoff wird sich unter dem Gewicht der männlichen Körper auf wenige Zentimeter verdünnen und auf der perforierten Metallunterlage aufsitzen. Über 82 Prozent der Interviewpartner sprachen davon, dass sie morgens mit Rückenschmerzen aufwachten. Zudem entstehen körperliche Unwohlsituationen, wenn nächtlicher Schweiß am Körper verbleibt, weil er vom Schaumstoff nicht aufgenommen und an die Umgebung abgegeben werden kann. Dazu einer der von uns befragten Insassen: I: „Ist das Bett für dich ein guter Ort?“ B: „Das ist sehr hart und unbequem, die Matratze könnte ein bisschen besser sein. Man schwitzt total komisch, weil das ist ja so eine Schaumstoffmatratze. Ich kann mit diesen Vliesdecken nicht gut schlafen, weil da wird mir zu warm drin.“ Das leiblich-sinnliche Prekariat artikuliert sich bis heute außerdem in wenige Meter vom Bett entfernten offenen Toilettenschüsseln (die entweder beißend nach Desinfektionsmitteln oder nach Urin stinken), in vernutzten Wänden18 (deren Löcher vom vorhergehenden Zellenbewohner die Inhaftierten häufig mit Zahnpasta verschließen). Diese räumliche Matrix von Strafen wird um einen nächtlich-akustischen, von den Inhaftierten selbst produzierten Gigantismus erweitert: Inhaftierte unterhalten sich durch die geöffneten vergitterten Fenster miteinander, es werden Geschäfte gemacht, Beschimpfungen ausgestoßen oder Geschichten erzählt. Die Lautstärke ist immens, weil sich die unterschiedlichen Gesprächspartner stimmlich gegen die anderen Mitgefangenen durchsetzen müssen. Raum als Refugium, als Entfaltung, als Ort von 18

Vernutzung/Materiale Krudität ist eine Form der räumlichen Gouvernementali-

tätsgeste. Herta Müller beschreibt den Wohnalltag in Rumänien zur Zeit der Diktatur unter Nicolae Ceaușescu: „In Rumänien gab es in neugebauten Wohnungen keine Türen mehr, der Fußboden war grober Beton, und in den Badezimmern waren die Abwasserrohre nicht abgedichtet. Man konnte von oben in das darunter liegende Bad schauen. Es war die gebaute Entwürdigung.“ (Müller 2014, S. 289)

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Selbstbegegnung und Selbstdarstellung ist damit in der Anfangssituation in einem Haftraum der Untersuchungshaft verzerrt/verschoben/ eliminiert. Elaine Scarry macht in ihrer Untersuchung Der Körper im Schmerz (1992) auf einen räumlich-dingkulturellen Chiasmus in der Folter aufmerksam: Die Orte und Räume, in denen Folter stattfindet, sind geheim, dem Wissen der Gesellschaft und des Folteropfers entzogen. Die als Folterinstrumente verwendeten Dinge hingegen entstammen der vertrauten Alltagswelt: Wäscheklammern, (Bade)Wannen, Laken, Säcke, Stricke. Mit dem Einsatz dieser Dinge, so Scarry, verfolgen die Folterer die Desintegration der Bewusstseinsinhalte und offenbaren gleichzeitig die Folter als ein Mittel, um „die Zivilisation rückgängig zu machen, die Bewusstseinsinhalte zu zerrütten“ (ebd., S. 59–69). Die Umnutzung alltagsvertrauter Medien steigert die bewusstseinszersetzende Wirkung von Folter. Auch ohne Bezug zur Folter kann das Instrument der dissoziierenden Wirkung auf die von uns untersuchte Haftsituation übertragen werden: Optisch offerieren die Hafträume ein relativ vertrautes Setting vermeintlicher Wohnmedien: Bett, Tisch, Stuhl. Im Gebrauch hingegen werden diese als Leib- und Körperprothesen erfahren, die als responsive Körpermedien nicht funktionieren und konzeptionell im Strafenden Raum auch nicht funktionieren sollen. Hier sind es die alltagsvertrauten Wohnmedien, die punitiv instrumentalisiert werden und das Körper- und Leibbewusstsein der Inhaftierten dissoziieren. So wird z.  B. die Matratze zur Blaupause des Wissenskörpers Strafe, der sich subversiv als Text von Schmerz, Verlust, Entbehrung den Leibern einschreibt und als Instrument eines sinnesdeprivierten Raumes wirksam wird. Mit Didier Anzieu wissen wir, dass wir durch Körperkontakt in frühen Pflegeerfahrungen das Vertrauen in das Umfeld und damit überhaupt erst die Kompetenz des Aufrichtens lernen, dargestellt in der „Holdingtheorie“ (Anzieu 1996, S. 131–134). Die primäre Identifizierung mit einem stützenden Objekt (z.  B. Arm einer Person des sozialen Umfeldes, der nie als hart, sondern gewissermaßen ‚gepolstert‘ wahrgenommen wird) bildet erste Strukturen von räumlichem Vertrauen aus. Die Aktivierung der Hautsinne setzt im Mutterleib bereits ein, die Haut wird aber nach Anzieu nachgeburtlich als das einzige Organ spezialisiert, mit dem wir Sinnesinformationen von Raum und Zeit gleichzeitig verarbeiten können (ebd., S. 27). Werden die Hautsinne nun aber in übergroßer Kleidung, nackt in einem zu großen Jogginganzug mit

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Heidi Helmhold

wenig bis ungepolsterten Untergründen (Matratze oder Eisenplatte im BgH) konfrontiert, dann sind Verlust der Körperselbstgrenze, Labilisierungen von Raumvertrauen, Verlust zeitlich-räumlicher Orientierung und emotionaler Sicherheiten intendiert.

Matrize/Matratze/Matrize: S c h a n d e –

Familie – H a u t

Mit dem Raum-Ding Matratze/Bett wird gegenräumliches Wissen generiert, Gegenräumlichkeit konstruiert und die Strafende Matrix überschrieben. Dabei ist das gegenräumliche Wissen auch ein Körperwissen, ein tacit knowledge (Polanyi 1985). Dieses implizite, nicht-kodifizierte Wissen hat keinen Anschluss an die verbale Rhetorik von Wissenschaftssystemen – dennoch ist es handelnd wirksam und bildet räumlich-leibliche Wirksamkeiten. Alltagshandelnd sind wir nicht primär als Ästhet_innen in simplen Reiz-Reaktionsmustern geschult, sondern erkennen nach J. J. Gibson spezifische affordances, Handlungswerkzeuge in Dingen, Menschen und Räumen (Kaufmann-Hayoz/van Leeuwen 2003, S. 881–889). Auf architektonische Räume bezogen heißt dies, dass wir nach leib- und körperaffinen Möglichkeiten suchen, um zwischen harten Wänden und regungslosen Mauern leben und mit diesen interagieren zu können, um psychische Rekonstruktionen zu installieren, um Affektkulturen zu artikulieren. Im räumlich-körperlichen Prekariat Haftraum kommt dabei einem tacit knowledge auch die Aufgabe zu, soziale Körper/emotionale Stützkörper zu rekonstruieren. Dazu F., 21 Jahre, tunesischer Italiener: I: „Gab es viele Textilien [in deiner Kindheit]?“ B: „Kissen. Viele auf der Couch, bis heute noch, Mama macht das so. Immer richtig viele Kissen, weil unsere ganze Familie ist einfach so, [...].“ [...] B: „Wir schlafen immer alle erst auf der Couch ein. Dafür sind die Kissen da. [...].“ I: „Und dann habt ihr doch auch noch ein kleines weißes Kissen [im Haftraum]?“ B: „Das tue ich noch oben drauf, beziehungsweise ich bin ein Schläfer, ich brauche, wenn ich schlafe, immer was im Arm.“

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„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

I: „In welcher Position schläfst du?“ B: „Immer seitlich, nie auf dem Rücken oder auf dem Bauch und was ich auf jeden Fall noch für einen Tick habe, ich schlafe, dieses Extrakissen, was ich mir gebaut habe, benutze ich auch nicht [so], dass ich es da reinlege und mich dann seitlich da drauflege, sondern ich packe dieses Kissen auch noch mal so in den Arm, dass ich mit dem Kopf so da draufliege, und das weiße Kissen ist manchmal so da drauf, oder dass ich das auch noch so mit reinpacke.“ Das Gehaltenwerden während des Schlafens auf der Couch mit vielen Kissen und inmitten seiner Familie, wie er es aus der Kindheit kennt, rekonstruiert er mit dem ‚Bau‘ eines Extrakissens, das er aus Kleidungsstücken zusammengerollt hat.19 Er presst sich dieses Kissen in schlafender Seitenlage an den Körper, manchmal im Volumen noch verstärkt durch das zweite im Haftraum vorhandene kleine weiße Kissen. Hier wird zum einen ein mit Mütterlichkeit assoziierter Raum rekonstruiert (viele Kissen wurden von der Mutter auf der Familiencouch arrangiert) und damit das Raum- und Stützvertrauen wiederhergestellt bzw. in den Worten des Inhaftierten „nachgebaut“. Gleichzeitig wird der Familienkörper rekonstruiert, indem sich der Inhaftierte ein zweites Kissen noch mit „reinpackt“ in den Arm und damit die Vielheit von Kissen, wie er sie aus seiner Familie kennt, vervollständigt. A., ein von uns befragter 17 Jahre alter Inhaftierter aus Mazedonien, der zum Zeitpunkt der Befragung seit 31 Monaten in Haft ist, stellt das Raumhandeln mit seiner Matratze in Bezug zum Raumhandeln, wie er es von seiner Mutter kennt: I: „Und du würdest eigentlich [...] deine Zelle gerne wohnlicher machen? Du hast ja eine ganze Reihe von Ecken für dich gestaltet.“ B: „Dass die voll waren, ich will nicht, dass [es] da leer aussieht.“

19

Die Haftraumausstattung in der von uns untersuchten JVA sieht seit ein paar

Monaten ein kleines weißes Zusatzkopfkissen vor, aber pro Zelle eben nur eines. Viele der Inhaftierten konstruieren sich aus Kleidung weitere Kopfkissen, so zum Beispiel E., 20 Jahre, seit 15 Monaten in Haft: „Man hat halt nur dieses kleine Kopfkissen. Ich benutze, ich schlaf mit diesem Deckenbezug, diesem blauen. Und dann haben wir noch einen? Matratzenbezug, so einen gestreiften, und zwei Wolldecken, die benutze ich als Kopfkissen. Andere benutzen zum Beispiel Parker als Kopfkissen. Ich habe [es] einfach zusammengerollt und dann noch eins drüber und dann noch eins drüber.“

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Heidi Helmhold

I: „Man merkt auch, wie sorgfältig du das machst und wie wichtig dir das ist.“ B: „Habe ich auch von meiner Mutter so.“ [...] B: „Abends um acht Uhr Einschluss. Weil wenn ich von Umschluss [Besuch eines anderen Inhaftierten] komme, mache ich alles perfekt, Fenster auf, dies das, putz’ schon mal den Boden, damit es gut riecht. Wenn ich zurückkomme, muss ich nichts machen, dann ist alles getan. Also keine Arbeit mehr vor mir. Dann lege ich mich hin, chille ich halt: Fernsehen gucken.“ I: „Im Bett oder auf dem Stuhl?“ B: „Auf dem Stuhl natürlich, weil im Bett bekommt man ja sofort Nackenschmerzen. Kann ja nichts machen, außer Fernsehen gucken.“ I: „Woran erkennt man, dass es deine Zelle ist.“ B: „Ich weiß nicht. Mein Bett. Die anderen machen nicht das gleich, weil ich mache die Decke zwei Mal so [er streicht die Decke glatt] und [...] dann muss alles gerade sein. Das ist hier noch unordentlich.“ I: „Das ist nicht ganz glatt. Hat deine Mutter da auch viel Wert darauf gelegt?“ B: „Ja, alles war perfekt. So wie im Hotel, dachte ich mir immer. Wenn Gäste auch kamen ‚Boa, Respekt vor deinem Vater, sauberes Haus, gute Frau, die putzt‘ und so.“ I: „Das möchtest du gerne auch beibehalten?“ B: „Ja normal, damit keine Schande über uns kommt. Und mein Vater hat mir auch ein paar Tipps gegeben, der war ja selber im Knast: ‚Richte dir das gut ein, mach dir ein gutes Leben da.‘“ I: „Und das hilft dir auch?“ B: „Ja, normal, zum Beispiel, wenn ich mir vorstelle, der hat ja zwei Jahre lang selber so gechillt.“ Das Glattstreichen des dünnen Matratzenbezuges erscheint A. wichtig: Es wiederholt Ordnungsmuster, die er von seiner Mutter aus der Kindheit kennt, und er legitimiert sich darin als kompetenter Gefangener, der sich ‚einrichten‘ (d.  h. den Knast chillend überstehen) kann, wie der Vater es ihm geraten hat. Am Körper der Matratze heilt A. die Verletzung/Spuren der Mutter, die seine Straftat an ihr hinterlassen hat. Viele der jugendlichen Gefangenen empfinden es reflexiv als die größte Schande, dass sie das Vertrauen ihrer Mutter enttäuscht oder

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„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

missbraucht und damit die Repräsentation von Mutterkörper und/oder Familie verletzt haben.20 In diesem Raumhandeln agiert die Matratze als Matrize/Mutterform, die den Inhaftierten mit ihrem Regelwerk prägt und Kulturwissen reproduziert. Im Ritual des Glattstreichens meint A., die Unversehrtheit der Beziehung wiederherstellen bzw. weitere Schande abwehren zu können. Keiner der von uns Interviewten schildert das Bett/die Matratze als Refugium. Es gibt ein indirektes Beispiel in der Umnutzung der Schlafmatratze zu einer bequemen Couch mithilfe von mehreren aneinandergebundenen Schnürsenkeln21. A., Deutscher, 18 Jahre, seit 27 Monaten in Haft: „[I]ch habe die Matratze genommen, auch zusammengerollt mit Schnürsenkeln, und dann hatte ich sogar aus der Matratze ein Sofa gemacht.“ Aber als intimer Rückzugsort fungiert das Bett bei den Befragten nicht. Ein Inhaftierter, K., 17 Jahre, seit 3 Monaten in Untersuchungshaft, schildert das Bett/die Matratze allerdings als Refugium im Rahmen eines selbstauferlegten Purgationsrituals. Die Matrize des Strafenden Raumes wird dabei von Schmutz/der Straftat gereinigt; während dieses Rituals liegt der Inhaftierte auf seiner Matratze: I: „Wenn du es dir gemütlich machst, dann machst du sauber. Wie machst du sauber?“ B: „Erst einmal fegen, dann eigentlich – am Anfang wo ich hierhingekommen bin, habe ich immer dieses Putzzeug genommen, aber das ist nicht so gut. Dieses Putzzeug stinkt komisch, das riecht komisch auf jeden Fall, widerlich.“ I: „Wonach riecht das?“ B: „Ich weiß nicht, wonach, auf jeden Fall richtig nach Chemie, ätzend so. So kein angenehmer Geruch. Nicht wie normales Putzmittel, was Mutti zu Hause benutzt, oder so etwas, sondern schon ein bisschen komisch. [...] Dann fegen erst einmal alles schön, dings, Eimer

20

Hier bildet sich möglicherweise ein Scham-Schuld-Dilemma ab (Hilgers 2012,

S. 28). Hilgers bezeichnet Scham als „selbstreflexiven“ Affekt, der eine differenzierte Wahrnehmung des Selbst wie des Gegenübers voraussetzt und darin auch eine Kompetenz erkennen lässt (ebd., S. 40). 21 Schnürsenkel stellen grundsätzlich ein wichtiges dingkulturelles Instrument im Raumhandeln der Inhaftierten dar. Insbesondere nachts werden damit Objekte außen an den Fenstergittern von Zelle zu Zelle ‚gependelt‘, eine hochkomplexe Wareninfrastruktur zwischen den Inhaftierten.

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Heidi Helmhold

nehmen, Duschzeug rein – ganz viel Duschzeug, was gut riecht, einkaufen – viel vollmachen, dann ein bisschen rühren mit der Hand. Und dann über den ganzen Boden kippen, schrubben, Fenster zu, jetzt da Tür zu, zulassen, alles luftdicht machen. Damit der Geruch erst einmal ein bisschen im Raum bleibt, so ein bis zwei Stunden zu. Und dann alles wegflitschen und mit dem Schwamm aufwringen.“ I: „Das heißt, du bist in deiner Zelle und da ist dann der Boden nass. Zwei Stunden lang? Und du, wo bist du dann?“ B: „Auf dem Bett, die ganze Zeit.“ Die Strafende Raummatrix reduziert den Inhaftierten in der Untersuchungshaft, wie dargestellt, auf seinen biologischen Körper in einem dingkulturell leeren Raum. Dieser Inhaftierte schildert ein Umstülpungsverfahren: Er interagiert mit dem Raum über die Entgrenzung seines Haut-Ichs, das er um den Boden/Körper der Haftzelle erweitert. Diese zu putzen und mit Duschshampoo zu beduften, reinigt den Raum vom Geruch der Haftanstalt, reinigt damit aber möglicherweise auch den erweiterten Körper des Inhaftierten vom ‚Schmutz‘, den Tatverdacht, Makel, Faktizität der Inhaftierung, Versagen etc. darstellen können. K. liegt ein bis zwei Stunden auf der Matratze seines Bettes und genießt die Reinigung seines Haftraums – in Ruhe gelassen mit der Legitimierung, dass der Boden trocknen muss, liegt er damit in einem erweiterten, hinzugewonnen (Raum)Körper. Das Interface Haut/Haft/Körper/Raum/ Oberfläche übernimmt die Rekonstruktion eines wiedergefundenen, bereinigten Köper-Ichs, das, nach Anzieu im Instrument der Hautsinne, die Kompetenz von Raumvertrauen zu konstruieren vermag (Anzieu 1996, S. 27). Diese Raumpraxis geht in der Komplexität des tacit knowledge über die von den meisten Inhaftierten geschilderten Duschexzesse – zu heißes und zu langes Duschen – hinaus, was nach Aussagen der von uns interviewten Anstaltssanitäter bei vielen Inhaftierten zu dermatologischen Problemen führt.22 Der um den Haftraum erweiterte Körper des 22

I: „[D]a haben mir einige geschildert, sie haben Hautprobleme und es juckt sie sehr

stark. Habe ich mir jetzt zusammengereimt, könnte vielleicht psychosomatisch sein, die Haut ist auch ein soziales Organ. Sie wird nicht gestreichelt, sie haben wenig Zärtlichkeit. Ist das so eine psychosomatische Sache, dass die viel mit Haut zu tun haben, oder ist das wirklich eine äußere Sache? B1: „Da sind Sie auch wieder beim Shampoo.“ B2: „Die Hautflora wird einfach bei den überhygienischen Leuten kaputt gemacht. Für die ist ein guter Status: Shampoo, gut zu riechen – ‚ich habe Arbeit, ich kann jetzt jeden

93

„Haftsack,

Knochenkoffer,

Fickmaschine“

interviewten Inhaftierten konstruiert hingegen einen physischen wie psychischen Territoriumsgewinn gegenüber der Matrix des Strafenden Raums – handlungstheoretisch gehen Räumlichkeit von Körper und Körperlichkeit von Raum in eine inverse Beziehung über (Löw 2001, S. 128).

Affektpolitik

und

Wo h n e n

In den Beschreibungen ihres Raumhandelns geben die von uns befragten Inhaftierten Auskunft über Dispositive, in denen sich disziplinarische Macht und gegenräumliches Handeln ineinander verschieben. Diesen Prozessen sind Dynamiken eingeschrieben, die ein grundsätzliches Verhältnis des Baukörperwissens von Architekt_innen und des Raumkörperwissens von Nutzer_innen abbilden: „Das Werk eines jeden Architekten geht als Baukörper in die Körperintelligenz seiner Nutzer_innen über“ (Helmhold 2012, S. 17). Das heißt auch, dass Raumnutzer_innen die Machtdispositive von Architekt_innen überschreiben und diese gewissermaßen ‚entmachten‘, immerhin galt das (Körper)Wissen von Nutzer_innen den Architekt_innen lange Zeit wenig (Kuchenbuch 2014, S. 114; Helmhold 2015b, S. 224). Insofern werden in punitiven Systemen Gouvernementalitätsformen von Körper und Raum installiert, die von architektonischen Gouvernementalitätsformen in nicht-punitivem Wohnen nicht grundsätzlich unterschieden sind. Dem Raumhandeln mit leibreagiblen Medien – textile Architekturen, zu denen auch Matratzen gehören – kommt in räumlichen Machtdispositiven eine besondere Rolle zu: Es installiert eine affektgenerierte Widerstandskraft gegen Baukörper/Strafende Raummatrix, die Inhaftierte innerhalb dieses Territoriums zu kompetenten und souveränen Akteur_innen werden lassen. Michaela Ott verweist mit Spinoza auf ein widerständiges Verständnis von Affekt: „Das Maß an menschlicher Knechtschaft und Freiheit [...] wird davon abhängen, inwieweit sich der menschliche Blickwinkel zeitlich und räumlich entgrenzt [...]. Bereits [...] 1670 schreibt er [Spinoza]

Tag duschen [Erlaubnis zum täglichen Duschen gibt es nur für Inhaftierte, die in der Haft einer Arbeit nachgehen, H.H.], und je länger ich dusche und je heißer, desto besser geht es mir.‘ Und die Hautflora wird dadurch kaputt gemacht. Und denen zu erklären, dass so eine Hautflora sich nicht nach zwei, drei Tagen wieder aufgebaut hat, sondern dass sie da Monate dran arbeiten. Da trifft man auf Unverständnis.“

94

Heidi Helmhold

dem Affekt eine gewisse Widerstandskraft zu, die den Einzelnen vor der vollständigen Übertragung seines Willens auf den politischen Souverän bewahrt [...].“ (Ott 2010, S. 197f.) Dieses Verständnis von affektiver Raum- und Architekturwahrnehmung geht von einer wirksamen Subversivität aus, mit der Nutzer_innen sich von der Matrix/Blaupause einer Architektur emanzipieren, sie umformen, erweitern, entgrenzen. Sarah Ahmed entwickelt in The Cultural Politics of Emotion (2004) stringente Zusammenhänge darin, dass Emotionen nicht im Individuum oder in sozialen Kontexten stecken, sondern in aktiven wie reaktiven Prozessen zirkulär entstehen und eben darin diejenigen Oberflächen und Hermetiken überhaupt erst ausbilden, die als Objekte umrissen werden können (Ahmed 2004, S. 10).23 Ahmed entwickelt damit einen Affektbegriff, der mit einem dynamischen, nicht statischen Begriff von Raum-/Körperhandeln kompatibel ist; Affekte werden performativ innerhalb eines komplexen Handlungsfeldes mit offenem Ausgang hergestellt.24 Raumhandeln in Strafenden Systemen kann zwischen Matratze/Matrize den Schrägstrich in jeweiligen situativen Anordnungen und Gegenplatzierungen neu vernähen/bepolstern/inszenieren und das „Argumentationsnetzwerk“ von Wohnen25 neben Repräsentation und dem Zwang zur Ordnung affektpolitisch neu vermessen.

23 „In other words, emotions are not ,in‘ either the individual or the social, but produce the very surfaces and boundaries that allow the individual and the social to be delineated as if they are objects.“ (Ahmed 2004, S. 10) 24 „Ausdruck von Gefühlen als Praxis [...], die Emotionen auf performative Weise herstellt und modelliert bzw. – mit ungewissem Ausgang – ‚navigiert‘“ (Borutta/Verheyen 2010, S. 18). 25

„Wohnen ist ein Argumentationsnetzwerk, das eine Fülle von Bewertungen, Bedin-

gungen und Artikulationen bereithält und das auf Äußerung und Darstellung drängt. D.  h., Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.“ (Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 9)

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98

Alle Abbildungen: © Heidi Helmhold

Marie-Luise Angerer

Abdruck und Empfindung – Spuren eines Bewegungsgefüges (Assoziationen zum Thema)

Sigmund Freud hat die Wachstafel als Anschauungsbeispiel für die Funktion des Unbewussten verwendet: Auch wenn die Spuren immer wieder verwischt werden, wird ihr Abdruck je nach Lichteinfall sichtbar. Sie bleiben also als Inskriptionen bestehen und wirken als Kraft, wie Jacques Derrida das Funktionieren dieser ‚unbewussten‘ Spuren beschrieben hat. Sie sind – Kraft und Ort also gleichzeitig – Engramme des Gedächtnisses. Übersetzt man diese Einritzungen in die aktuelle Diskussion über die ‚Plastizität des Gehirns‘ (Malabou 2012), zeigt sich zwar eine Nähe zur freudschen Wachstafel, doch gleichzeitig auch eine zentrale Verschiebung: Denn an die Stelle von Kraft und Ort sind heute die ‚Affizierung‘ und die ‚Bewegung‘ getreten, die andeuten, dass eine Übersetzung von matter into feeling immer eine Frage der Unterbrechung ist.

Ein

Theater

von

Matratzen

Als ich Tauberbach1 von Alain Patel, dem belgischen Regisseur und Choreografen, im Frühjahr 2014 am Berliner Theater Hebbel am Ufer sah, haben sich schnell Assoziationen zu dem hier zu diskutierenden Thema hergestellt, die ich als Ausgangspunkt nehmen möchte, um den Übergang vom Zeitalter der écriture zur aktuellen Epoche der Plastizität zu 1

Ausgangspunkt für Tauberbach ist der Dokumentarfilm Estamira (2005) von Mar-

cos Prado über eine schizophrene Frau, die in Brasilien auf einer Müllhalde lebt. Überleben und dabei die menschliche Würde nicht verlieren, bildet ein zentrales Thema. Eine andere Inspirationsquelle ist Tauber Bach, ein Projekt von Artur Zmijewski mit Musik von Bach, gesungen von Gehörlosen, Beschreibung und Fotogalerie auf www. muenchner-kammerspiele.de/programm/tauberbach/ (letzter Zugriff am 28.12.2014).

101

Abdruck und Empfindung – Spuren eines Bewegungsgefüges

skizzieren. Das Bühnenbild von Tauberbach besteht zunächst aus Matratzenbergen und Stofffetzen, aus denen sich in der Folge Körper schälen, zappelnde Arme und Beine, ein Kopf, ein zuckender Rumpf. Die Körper(teile) scheinen einer unsichtbaren Notation zu folgen, einer Matrix, die Oberfläche und Unterseite zueinander in Berührung setzt, draußen und drinnen verwebt bzw. Oberseite und Unteransicht von Körpern und Müll abwechselnd preisgibt. (Abb. 1)

Eine

Matrize

der

Empfindungen

In Die Schrift und die Differenz (1976) hat Derrida die Verschiebung in Freuds Denken als Hinwendung zur Spur nachgezeichnet. Diese Spur wird in Freuds Arbeit zur Bahnung der Erinnerung und damit zum Gedächtnis. Freud hatte lange nach der Möglichkeit gesucht, die Arbeit des psychischen Wahrnehmungsapparats mit einem adäquaten Modell wiederzugeben: von optischen Instrumentarien bis zu mechanisch-physikalischen Systemen reichten seine Vergleiche. Doch erst mit dem ‚Wunderblock‘ fand er dann jenes Modell, das Erinnern und Vergessen, Wahrnehmen und Unbewusstes zu veranschaulichen imstande war. Dieser Wunderblock besteht aus einer Harz- oder Wachsmasse, über die ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, welches wiederum aus zwei Schichten besteht: aus einer durchsichtigen Zelluloidplatte und einem Wachspapier. Durch leichtes Abheben des Wachspapiers von der Wachstafel lässt sich die Schrift jedes Mal wieder löschen, was übrig bleibt sind allerdings Dauerspuren auf der Wachstafel, die nur bei geeigneter Belichtung sichtbar werden. Dies entspricht nun genau dem, was Freud nach Derrida beschreiben möchte, dass sich der psychische Wahrnehmungsapparat nämlich auf zwei Systeme verteilt: „Die reizaufnehmende Schicht – das System W-Bw – bildet keine Dauerspuren, die Grundlagen der Erinnerung kommen in anderen, anstoßenden Systemen zustande.“ (Freud 1982, S. 368) Freud wird hierauf aufbauend das ‚Wesen des Gedächtnisses‘ als Differenz fassen, so Derrida: „In der Differenz der Bahnungen besteht der wirkliche Ursprung des Gedächtnisses und somit des Psychischen.“ (Derrida 1976, S. 308) Die Erinnerungen werden von Freud dabei immer als nachträglich, als Prothesen bezeichnet, die von außen hinzukommen und zum Eigenen gemacht werden. Für Freud ist die Arbeit der Bah-

102

Marie-Luise Angerer

A b b .   1   Ta u b e r b a c h ,

Aufführung

an

den

Münchner

Kammerspielen

nungen als „Kraft und gleichzeitig Ort“ zu denken (ebd., S. 312) – als Merk-Orte. Dabei spielten die Frage des Übergangs, der Übersetzung, sowie die Frage nach der Zone, in der diese Übersetzung geschieht, eine zentrale Rolle. Der Begriff der Schwelle sollte Freud dabei helfen, diese Übersetzungsleistung zu erbringen. Dieser Begriff taucht bereits in Gustav Theodor Fechners Elementen einer Psychophysik (1889) auf, in denen dieser eine „psychophysische Schwelle“ bestimmt, die sich dort befindet, wo die Empfindungen ins Bewusstsein eintreten. Damit werden unbewusste Empfindungen und Vorstellungen als letztlich quantifizierbare Verhältnisse bestimmt. In der Traumdeutung (Freud 1972), die eine Fortsetzung seines Entwurfs (Freud 1987) darstellt, wird Freud Wahrnehmung und Gedächtnis als Differenz von Bahnungen und Engrammen bestimmen. 1896, ein Jahr nach der Niederschrift des erst posthum veröffentlichten Entwurfs, erscheint Henri Bergsons Materie

103

Abdruck und Empfindung – Spuren eines Bewegungsgefüges

und Gedächtnis (Bergson 1991), womit dieser ebenfalls eine Theorie des Gedächtnisses vorlegt. Wie kein anderer scheint sich Bergson anzubieten, wenn es um die Frage der Differenz oder Indifferenz von äußerer und innerer Wirklichkeit bzw. um diese als Bild – als Abdruck und Empfindung – geht. „Was sich im Mittelpunkt der Wahrnehmungen abhebt, ist mein Leib; meine Persönlichkeit ist dasjenige Wesen, auf das die Handlungen zu beziehen sind.“ (Ebd., S. 33) Dieser Leib ist es, der nach Bergson die Wahrnehmung wie ein Filter bearbeitet und die Gesamtheit der Wahrnehmungsmöglichkeiten im Hinblick auf die jeweils relevanten Aspekte sondiert. „Mein Leib benimmt sich also wie ein Bild, das andere Bilder reflektiert, indem er sie unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Wirkungen, die er auf sie ausüben kann, analysiert.“ (Ebd., S. 34f.) Beide, Freud und Bergson, gehen mithin von Empfindungen aus, von Reizen, die über die Nervenbahnen ins Gehirn gelangen, um dort Reaktionsbefehle auszulösen.

Empfinden

im

/

als

Zeitloch

1849 untersuchte Hermann von Helmholtz in Königsberg die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Nervenreizungen. Er wollte herausfinden, wie lange ein elektrischer Impuls braucht, bis er zu einer Muskelkontraktion führt. Bei Fröschen lag die Geschwindigkeit, mit der dieser Impuls zwischen Reiz und Reaktion vermittelte, bei etwa 30 Metern pro Sekunde. Um die Leitgeschwindigkeit menschlicher Nerven zu messen, stimulierte Helmholtz gleichzeitig Oberschenkel und Zehen, um sodann aus der Differenz der Reaktionszeit eine Geschwindigkeit zwischen 50 und 100 Metern in der Sekunde zu ermitteln. Ein Reiz erzeugte also keine unmittelbare Reaktion, sondern diese kam immer zu spät. Ein Jahr danach schrieb Helmholtz: „Ich habe gefunden, daß eine meßbare Zeit vergeht, während sich der Reiz, welchen ein momentaner elektrischer Strom auf das Hüftgeflecht eines Frosches ausübt, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wadenmuskel fortpflanzt.“ (Zit.  n. Schmidgen 2009, S. 74) Was Helmholtz bei seinen Messungen ebenfalls entdeckte, war neben der verschwundenen Zeit auch die Verzögerung von Energie, das heißt, die Energie eines Muskels entwickelte sich nicht im Augenblick der momentanen Reizung vollständig, „sondern größtentheils

104

Marie-Luise Angerer

erst nachdem diese schon aufgehört hat“ (zit.  n. ebd., S. 93). Zwischen Stimulation und Kontraktion verging also Zeit – nicht viel, aber doch deutlich erkennbar. Die bis dahin angenommene Unmittelbarkeit erwies sich somit „als ein Intervall, als eine Spanne, ein gleichermaßen umschriebener wie leerer Zeitraum – eine ‚Zwischenzeit‘, eine temps perdu“ (ebd.). Jimena Canales (2009) hat diese Geschichte der Suche nach der verlorenen Zeit(spanne) rekonstruiert und in Astronomie, Experimentalpsychologie, Physik und Messtechnik gleichermaßen ein enormes Interesse an ihr feststellen können. Sigmund Freud war von ihr ebenso angetan wie Wilhelm Wundt in seinem Leipziger Psychologie-Institut. Andere, wie Frances Galton, sahen in der Erforschung der fehlenden Zeitspanne die Schädelmessungen auf anderer Ebene fortgeführt: Wer langsam reagiert, ist eine sensible Persönlichkeit, wer schnell reagiert, eine aggressive und intelligente. Das Interesse an der Messung der Reaktionszeit, des personal equating oder personal error, der individuellen Zeitdauer, ging allmählich auch auf das Feld der Experimente und Künste über. Etienne-Jules Marey und seine Chronofotografie sind hier zu nennen sowie die Kinematografie von Eadweard Muybridge. Noch immer bzw. wieder sollte diese fehlende Zeit in den 1970er Jahren gemessen und dabei festgestellt werden, dass in dieser Zeitspanne nichts passierte oder etwas, das sich einer genauen Definition entzog. Die fehlende Zeit zeigte sich nur darin, dass Menschen verzögert, irgendwie verspätet auf Signale reagierten, wie die Medienpädagogin Hertha Sturm feststellte. Sturm und ihr Forschungsteam hatten Kinder während des Fernsehschauens untersucht und ihre Reaktionen gemessen. Mit ihrem Befund wollte Sturm insbesondere Fernsehmacher erreichen, damit diese aus ihren Untersuchungsergebnissen Konsequenzen ziehen konnten. Denn ihr Fazit lautete klar: Fernsehen müsse langsamere Bildfolgen senden, Audio und Video müssten größere Kongruenzen aufweisen, der Text oder die gesprochene Sprache sollte sich den Bildern anpassen oder umgekehrt und nicht zusätzliche Informationen liefern. Denn, wie die Forschungsgruppe herausgefunden hatte: Die Überfülle an Informationen konnte nicht richtig verarbeitet werden, die Kinder waren für den Überfluss der Bilder in ihren Reaktionen schlichtweg zu langsam. So reagierten sie auf traurige Bildsequenzen fröhlich und auf lustige Filmchen traurig. Gemessen wurden diese jeweiligen Stimmungen anhand der Puls- und Herzfrequenz sowie der Schweißbildung. Eine physiologische Erregungskurve wurde also ermittelt, die

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Abdruck und Empfindung – Spuren eines Bewegungsgefüges

Hoch- oder Tiefstimmungen anzeigen sollte bzw. aus deren Verlauf diese Stimmungen heraus- oder hineingelesen wurden – je nachdem: Eine langsame Körpererregung bedeutete dabei eine depressive Grundstimmung, eine hohe Frequenz entsprechend Hochstimmung. Grund für die so ermittelten Miss-Stimmungen war, so Sturm und ihr Team, eine „fehlende halbe Sekunde“, also eine Zeitspanne, die zwischen Wahrnehmung (Signal, Reiz) und Reaktion verging, ohne dass man feststellen konnte, was in dieser verlorenen Zeit passierte. Als Sturms Untersuchungen zum „gestreßten Zuschauer“ im Jahr 2000 posthum publiziert wurden (Sturm 2000), fanden sie allerdings nur wenig Beachtung. Mit abfälliger Geste wurden empirische Zuschauerforschungen zu jener Zeit abgetan und stattdessen wurde einer ideologiekritisch-psychoanalytischen Theorie der „visuellen Lust“ (vgl. Angerer 1999, S. 74–99) der Vorzug gegeben. Doch die ‚fehlende halbe Sekunde‘ sollte rund 20 Jahre später ihre Wiederentdeckung feiern, wenn auch zunächst an unerwarteter Stelle. Brian Massumi, bekannt geworden durch die Übersetzung der Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari ins Englische, übernahm ab Mitte der 1990er Jahre den Topos der ‚fehlenden halben Sekunde‘, um jenes Intervall damit zu ‚füllen‘, das Deleuze in seinen Kino-Büchern als Zone des Affekts bezeichnet hatte. Deleuze hatte dort mit Rückgriff auf Bergson die Differenz zwischen dem einen Bild und dem nächsten Bild als Intervall bezeichnet, um dieses als die Zone des Affekts zu bestimmen. Bei Bergson, dessen Werk eine der zentralen Referenzen für Deleuze’ Kinobücher war, ist das Gehirn dabei selbst eine Leerstelle, als Intervall bildet es die Leerstelle zwischen Reiz und Reaktion. Das Gehirn wird von Bergson also als eine zeitliche Lücke mit „unterschiedlich großen Spannen zwischen Reiz und Reaktion“ bestimmt (Schmidgen 2008, S. 109). Und die Spanne zwischen Reiz und Reaktion wird von ihm als Empfindungszone begriffen, Empfindung also als Aufschub oder Verzögerung analysiert. In diese Verzögerung – die von Derrida als différance bezeichnet wird – schreibt sich das Zuviel des Affektiven ein, eine Potenzialität, die auf eine Zukunft ausgerichtet ist, in der die Vergangenheit mit aufgehoben ist.

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Marie-Luise Angerer

Die (wiederentdeckte) Empfindsamkeit des Plastischen 2 Der Terminus der ‚synaptischen Plastizität‘ wurde 1949 von dem kanadischen Neurologen Donald O. Hebb eingeführt, um den Umstand zu benennen, dass sich die Aktivität eines Neurons durch ein anderes verstärken kann (Hebb 1949). Der französische Neurologe Pierre Changeux spricht in diesem Zusammenhang von der „Zusammenarbeit zweier Zellen“, die dort, wo ihr Kontakt sich herstellt, „eine erhöhte Bereitschaft zur Zusammenarbeit“ aufweisen (Changeux 1984, S. 184). Doch hatte bereits William James, US-amerikanischer Philosoph und Psychologe, am Ausgang des 19. Jahrhunderts in The Principles of Psychology von der Plastizität des organischen Gewebes gesprochen und gemeint, „[o]rganic matter, especially nervous tissue, seems endowed with a very extraordinary degree of plasticity“, sodass er als eine seiner ersten Grundannahmen betonte, „that the phenomena of habit in living beings are due to the plasticity of the organic materials of which their bodies are composed“ (James 1890, S. 105). Gewebespuren werden also durch die ständige Performanz des Lebendigen, durch habituelle Einübung sozusagen, verstärkt und vertieft, oder es entwickeln sich neue Bahnen/Spuren. Doch diese Sehweise blieb lange Zeit unbeachtet, und der Forschungskonsens lautete bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, dass das Gehirn entweder bei Geburt oder zumindest mit Erreichen des Erwachsenenalters sein Wachstum abgeschlossen, seine Plastizität also eingebüßt habe. Auch Nikolas Rose und Joelle Abi-Rached erzählen diese Geschichte und zeigen auf, wie sich diese Sicht erst am Ende des vorigen Jahrhunderts radikal zu ändern begonnen hat. Heute wird das Gehirn in dem Sinne als offen und plastisch betrachtet, dass es sich das ganze Leben lang über Umwelteinflüsse, Unfälle, Verletzungen und Stimulationen unterschiedlichster Art ändert. Es ist „in a word plastic“ (Rose/Abi-Rached 2013, S. 48).

2 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Begriff der Plastizität auch in der Kunst wiederentdeckt wird. Vgl. Rübel 2012, wo dieser die lange Tradition des Plastischen im 20. Jahrhundert nachzeichnet. Auch am Berliner Institute for Critical Inquiry lief eine Veranstaltung zum Thema Plastizität im Rahmen des Forschungsprogramms „Constituting Wholes: Plasticity names the transformative nature of immanent processes of the giving and receiving of forms, thus allows to consider the question of wholes beyond the dichotomies of components and composites or object and context“ (https://www.ici-berlin.org/de/vergangene-leitprojekte/constituting-wholes/ letzter Zugriff am 13.10.2014).

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In den Mythen des Alltags hatte Roland Barthes 1957 seiner Begeisterung dem Plastik gegenüber freien Lauf gelassen und dieses dabei weniger als eine „Substanz als vielmehr die Idee (seiner) endlosen Umwandlung“ benannt – „es ist weniger Gegenstand als Spur der Bewegung“ (Barthes 1964, S. 79). Zur selben Zeit tauchte die Plastizität auch in einem technikphilosophischen Kontext auf, nämlich in der 1958 veröffentlichten Theorie zur „Existenzweise der technischen Objekte“ von Gilbert Simondon (2012). Nur ein Jahr also nach Barthes’ Begeisterung über das Plastik unterscheidet der französische Technikphilosoph zwischen einer Plastizität der Maschine und jener des Gehirns. Während es jedoch bei Ersterer um die Plastizität des Trägers geht, meint Letztere die Plastizität des Inhalts, also des Gedächtnisses, dessen Form allerdings gewahrt bleibt, wie Simondon betont. „Das menschliche Gedächtnis nimmt Inhalte auf, die ein Formvermögen in dem Sinn haben, dass sie sich so überlagern, so gruppieren, als ob die erworbene Erfahrung als Code für jeden neuen Erwerb diente, um sie zu interpretieren und zu fixieren: Beim Menschen und allgemeiner beim Lebewesen wird der Inhalt Kodierung, während in der Maschine Kodierung und Inhalt als Bedingung und Bedingtes getrennt bleiben. [...]: Das Lebendige ist das, worin das a posteriori zum a priori wird; das Gedächtnis ist diejenige Funktion, durch die a posteriori zu a priori werden.“ (Simondon 2012, S. 114) Der Mensch und das Lebewesen im Allgemeinen sind per se Wandler, formuliert Simondon weiter: „[D]as Lebewesen ist das, was moduliert, das, worin es eine Modulation gibt, und kein Energiereservoir oder Effektor“ (ebd., S. 131). Vor diesem Hintergrund kann Catherine Malabou ihren Begriff der Plastizität in eine neue philosophische Auseinandersetzung um das Wesen des Gehirns einführen, bei der Neuro- und Geisteswissenschaften als gleichwertige Partner begriffen werden sollen. Natürlich weiß auch sie, dass die Modelle des Gehirns die jeweilige Politik ihrer Zeit widerspiegeln: So ist heute die Rede von der Telefonzentrale (Bergson) ebenso überholt wie die der Kybernetik geschuldete Vorstellung des Gehirns als Rechner. Stattdessen wird von Flexibilität und Plastizität gesprochen – unverkennbar Metaphern, die auch längst Politik und Ökonomie bestimmen. Dabei zeigt sich, dass die Aktivitäten des Gehirns (wie einstmals jene des psychisch Unbewussten) ein Eigenleben führen, dessen Bewegungen das Subjekt weder fühlt noch in sein Selbst-Bild einzuordnen vermag, stattdessen weist es laut Malabou „a paradoxal blindness“

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seinem Gehirn gegenüber auf: „[A]n inability of the subject to feel anything as far as it is concerned.“ (Malabou 2012, S. 42) Obwohl das Gehirn also der Grund dafür ist, dass wir uns selbst berühren, ist es selbst nicht Teil unseres Körperbildes. „The brain absents itself at the very site of its presence to self.“ (Ebd., S. 43) Es ist nur über Aufzeichnungsverfahren zugänglich. Streng genommen war aber auch die Instanz des Unbewussten in der Psychoanalyse nicht wirklicher Teil eines Körperbildes, vielmehr intervenierte sie in Form von Fehlleistungen und einer immer schon verzerrten, ideologisch-idealisierten Selbstbild-Spiegel-Wahrnehmung. Doch auch Freud hatte, wie bereits erwähnt, eine Technik zur Darstellung der Arbeit des Unbewussten genutzt, den Wunderblock, um damit gleichzeitig die unbewusste Dimension als zeitlos, als jenseits der Zeit agierende Instanz einzuführen. Diesem zeitlosen Unbewussten wird heute ein zerebrales Nichtbewusstsein gegenübergestellt, das nicht nur eine andere Vorsilbe hat, sondern vor allem auch als eine Instanz in pure time definiert ist. Hier gilt es jedoch vor allem festzuhalten, dass nicht nur diese Plastizität mit Zeitlichkeit, sondern diese wiederum mit Intensität zusammengedacht wird. Und genau dieses von mir als Bewegungsgefüge bezeichnete Moment entfaltet sich zum Komplex einer neuen ‚zerebralen nichtbewussten Affektivität‘.

Matrix des Affekts – Abdruck des Lebendigen Übertragen auf den Abdruck (der Matrize) und die Empfindung (der Matratze) kann nun höchst spekulativ Folgendes zusammengetragen werden: Übersetzung als Unter/Brechung; Unter/Brechung als Aufschub in Zeit; das Intervall des Aufschubs ist die Zone des Affektiven; Affektivität meint eine Bewegung der Noch-nicht-Bewegung; Matrize/Matrix/Diagramm enthält die Spuren des Empfindens – als blinder Affekt (blind feeling), wie es bei Alfred N. Whitehead (1979) heißt. Damit bezeichnet er keine (blinde) Datenakkumulation, sondern eine Datenbeziehung (data relationship). Das wahrnehmende Subjekt schält sich quasi aus diesem Wahrnehmungsprozess heraus (ähnlich den Figuren in Tauberbach), denn Wahrnehmen heißt immer schon Abstrahieren (man denke hier an Bergsons Definition des Körpers als Filter des Bilderuniversums, sprich der Welt), was bedeutet, dass „das Empfinden [...] subjektiv in der Unmittelbarkeit des gegenwärtigen Ereignisses verwurzelt [ist]: Es ist das, was

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das Ereignis für sich selbst empfindet, indem es seinen Ursprung in der Vergangenheit hat und mit der Zukunft verschmilzt.“ (Whitehead 1979, S. 304) Erfahrung meint ständiges Wahrnehmen unterhalb der Bewusstseinsgrenze, eine physikalische Empfindung, die jedem Subjekt vorausgeht, in der das Vergangene dem Zukünftigen seine Matrize als Moment des präsentischen Abdrucks (der Matratze) weiterreicht.

Li t e r at u r

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Drehli robnik

Die Masse als Matratze, aus der alles hervorgeht: Soziales Fleisch und die „Verlegenheiten“ der Repräsentationskritik in Horrorfilm und Comedy Dieser Text ist eine Montage von Motiven zur Matratze und in geringerem Maß zur Matrize. Die Montage verlegt sich ganz auf die Matratze, was die Sinnwirkungen der montierterweise versammelten, thematisch einschlägigen Filmszenen und -sequenzen betrifft; das Ziel ist, diesen (zum Teil recht bekannten) Filmabläufen, in denen Matratzen (mal prominent, mal peripher) vorkommen, konsequent zu folgen. Hinzu kommt konzeptuelle Polsterung. Kurz zur Matrize: Wenn wir versuchten, die Matrize ganz als motivisches Ding bzw. dinghaftes Motiv zu sehen, würde deutlich, dass sie für den Film und seine Art, die Welt zu zeigen, lange nicht so ergiebig ist wie das gepolsterte Rechteck zum Darauf-Liegen namens Matratze; die Matrize fasse ich hier nun vor allem über den Aspekt der Reproduktion durch und in Bild-Formungen. Die Matratze hingegen fasse ich an allen Ecken, die die Bilder mir bieten. Mein Fluchtpunkt dabei ist Filmtheorie – genauer: Momente eines Theoretisierens, Einsicht-Zeigens, das sich im Wahrnehmen der Film-Bilder ergibt. Im Film ist etwas Theoretisches oder zumindest etwas, das zur Theorie hinzieht. Der Zug zur Theorie meint nicht, dass die Einsicht, die sich im filmischen Wahrnehmen einstellen kann (und das ist eben eine Frage von Einstellungen, von Formen der Gestaltung und von Haltung und wie die beiden ineinander verwoben sind), etwas leistet, das der Arbeit des Begriffs im Sinn säuberlicher Scheidung wie auch logischer

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Unterordnung und Subsumtion gleichkommt. Ich halte es hier eher mit Siegfried Kracauer, dem zufolge Logiken des Films uns Erfahrungen (zumal geschichtlicher Art) erschließen, in denen die klassische begriffliche „Subordination“ des Besonderen unter das Allgemeine zugunsten einer „side-by-side-Beziehung“ der „Koordination“ – mensch ist versucht zu sagen: zugunsten einer Beziehung der „Insubordination“ – ausgehebelt ist (vgl. Kracauer 1969, Kap. „The Anteroom“; ausführlicher Robnik 2013). Und damit ist kein fröhlicher Partikularismus des idyllischen Nebeneinanders und der freien Kombinierbarkeit von allem Möglichen gemeint, sondern eher ein Immer-wieder-prekär- und Immer-wieder-strittig-Werden der Art, wie besondere Elemente einen Allgemeinheitsstatus beanspruchen oder wie Allgemeinheiten jeweils Besonderheiten zu umfassen und ihre Differenzen einzuhegen trachten. Das Verhältnis – oder Un-Verhältnis? – zwischen den Einsichtspotenzialen von Film und dem Begrifflichen, ohne das es keine Theorie gibt, können wir aber auch mit Gilles Deleuze (1991) anvisieren, und zwar in etwa so: Wenn auch, wie Deleuze in seiner Film-Philosophie schreibt, die Begriffe des Denkens nicht direkt das sind, was in den Bildern von Film wahrnehmbar wird,1 so ist das Perzeptive dem Konzeptuellen doch in der Weise nah (problematisch intim nachgerade), dass an Letzterem, am Begrifflichen, seinerseits etwas Dynamisches, Extensives, Rhythmisches hervortritt – ein sinnliches Moment, das nun allerdings eher in Krisen und Suspensionen des Empfindens besteht als in irgendeiner Vollständigkeit und „Fülle“ des Empfindens (auf das es gängige deleuzianische Sensualismen mit filmtheoretischem Bezug oft abgesehen haben). Entlang dessen, was an Film-Momenten Theorie-affin ist, und im Verbund mit begrifflichen Denkbildern geht es hier nun um filmische Einsicht in Arten, wie soziales Leben in Massen geformt und regiert wird – aber nie restlos: Formung und Regieren sind nie ein voller Erfolg, auch kein Totalverhängnis – und wie Leben sich versammelt. Das geschieht etwa in den „Monstreversammlungen“ (sic!) der urbanen Massen, von denen Benjamin in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schreibt (Benjamin 1977, S. 167/Anm. 32). Monsterversammlungen: Das passt gut zu einigen meiner Filmmomente.

1 So heißt es in Das Zeit-Bild: „Die Begriffe des Kinos sind nicht im Kino ‚gegeben‘. Und doch sind es die Begriffe des Kinos und nicht Theorien über das Kino.“ (Deleuze 1991, S. 358)

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Gleich neben diesem monströsen Wort steht, prominent platziert am Beginn von Abschnitt XV des „Kunstwerk“-Aufsatzes, das Zitat, auf das mein Titel anspielt: „Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht.“ (Ebd., S. 165) Auch wenn die Matrix – als Matrize, Gussform, ursprünglich Gebärmutter – anderer Wortherkunft ist als die Matratze, hat Benjamin doch Letztere gemeint. Ein abwegiger Gedanke – auf den ich ohne den Titel dieser Tagung, dieses Tagungsbandes gar nicht gekommen wäre; die Verknüpfung der beiden M-Worte zur Titelchiffre hat schon alles geleistet. Jedenfalls muss es bei ihm also heißen: „Die Masse ist eine Matratze“, und was aus dieser Matratze „neugeboren hervorgeht“, ist das „gewohnte Verhalten“ ... „Verhalten Kunstwerken gegenüber“, schreibt Benjamin. Eh. Aber ergiebiger sind Benjamins Verhaltensbeispiele von Passant_innen im Großstadtverkehr und von Staatsbürger_innen in der Geschichte, jeweils als Subjekte moderner Prekarität. Mit dieser Prekarität umzugehen, dafür bieten die „Chockwirkungen“ filmischer Bilder einen Trainingsparcours (ebd., S. 165/ Anm. 29).2 So weit, so bekannt. Steigen wir also ein und auf Benjamins Matratze, aus der alles hervorgeht, zumal übergeht – nämlich vom Gewohnten zum Neugeborenen. Das geschieht, wenn die Revolution Geburtshelferin der alten Gesellschaft ist und wenn die Massen auf der Geschichtsbühne quasi „hervor gehen“ genauer: nach vorn gehen, und ihre versteckten Fähigkeiten und Mittel hervorkommen, aus der Matratze – in dieser Sequenz angestoßen von Jeanne Moreaus Shakespeare-Reenactment in einem französisch-italienischen Film aus dem Jahr 1965 (den übrigens Filmclubs rund um Rudi Dutschke einst in ihrer Eigenschaft als Fans dieser humoristischen Pop- und Prä-Riot-Grrrl-Version von aktionistischem antiimperialistischem Kampf reenactet haben): In Louis Malles Viva Maria! (F/I 1965) sind auf dem Dorfplatz versammelte mexikanische Campesinos um 1900 von der rhetorischen Frage aus Julius Caesar „Wer von euch ist so tief gesunken, das Sklavenlos zu wünschen? Ist hier jemand, soll er sprechen; 2

Das volle Zitat lautet: „Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die

Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.“

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denn ich habe ihn beleidigt“, die Moreau als eine der beiden Marien an sie richtet, so euphorisiert, dass sie jubelnd loslaufen, sich für einen Aufstand zu rüsten. Die Sequenz, die dies zeigt, fungiert als humoristischer Einblick in landarbeiterische Lebenswelten und in ungeahnte Potenziale des Kampfes, die buchstäblich in diesen schlummern: Unter einem Bodenstein holen die angehenden Revolutionäre versteckte Macheten hervor, zwischen den Eiern eines eben noch von der Henne bebrüteten Nests eine verborgene Handgranate, aus frisch der Ackererde entrissenen Zwiebeln Patronen – und, in der ersten Einstellung dieser Bildfolge, aus der Füllung einer kurzerhand aufgeschlitzten Bettmatratze ein Gewehr. Nehmen wir diese lustige Montage bei ihrem bildmetaphorischen Wort: Die Mittel, durch welche die Massen sich (orthodox marxistisch formuliert) auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren, also revolutionär (weshalb diese Mittel hier Waffen, nicht Werkzeuge sind), die kommen primär, in der ersten Einstellung, aus der Matratze – und erst dann aus der Mutter Erde (bzw. von Mutter Henne). Bleiben wir noch bei dem, was ja auch Benjamin umtreibt: bei der Frage der Reproduktion (es muss ja nicht die von Kunstwerken sein), ihrer Mittel und des Eigentums an diesen Mitteln. Einige Jahre nach Dutschke – ein beliebtes midnight movie zum gegenkulturellen Konsum: die Matratzen- und Matrizenfabrik aus Alejandro Jodorowskys La montana sagrada – The Holy Mountain (Mexiko/USA 1973). So wie das meiste in diesem Film ist die betreffende dreiminütige Sequenz schwer zu beschreiben, weil sie überquillt von Resultaten des Jodorowsky’schen Gestus, alles, auch das Fantastischste, Bizarrste, Ekligste, Enormste, buchstäblich zu zeigen – und das heißt zunächst: es 1:1 als Schauplatz von Objekten und Handlungen zu designen, zu bauen und zu choreografieren. Insofern dient es nicht nur der Einfachheit, wenn hier vorwiegend einige Passagen des zu getragener (Morricone-artiger) Orchestermusik männlich-sonor, amerikanisch eingesprochenen Voice-over wiedergegeben werden; sondern diese Wiedergabe kann mit der Versicherung einhergehen, dass – mirabile dictu – das von der Kommentarstimme Beschriebene auch im großräumigen, hellen und klaren Bild und seinen Menschen- und Technikmassenchoreografien in matter-of-fact-hafter Deutlichkeit zu sehen und stimmlos zu hören ist: „My business is devoted to the comfort and beauty of the human body: beds, mattresses, fabrics, clothing, cosmetics. My father is the creator of this empire. He is deaf, dumb and blind. Before making a decision, he consults with my mother’s mummy. He puts his hand into her

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sex. If it’s moist, it’s yes; if it’s dry, it’s no. These are my wives. I make love to them only during working hours.“ Das Auserwählen einzelner junger Arbeiterinnen durch den Junior-Chef, das diese in orgasmischer Verzückung springen, tanzen und rivalisierend miteinander raufen lässt, findet inmitten der wie farbenfrohe Tapeten aufgestellten Produkte der Matratzenabteilung der Fabrik statt. Nach dem Sex liefert ein Fließband das auf einer Matratze liegende zeitweilige Paar vor den Rollstühlen von Gründervater und Mutter-Mumie ab, und der Junior-Chef schickt die unmittelbar hochschwanger gewordene Arbeiterin in die Reihe der anderen in Minikleidern uniformierten Frauen, die mit Babys und Bäuchen angetreten sind. Es folgt eine Werkspräsentation von Fertigteil-Plastik-Muskeln und -Penissen zum Anschnallen und eine Kamerafahrt durch ein Depot mit abgegossenen Gesichtsmasken unterschiedlichen Ausarbeitungsgrads. „We have created a line of masks that have the texture, warmth and smell of living human beings. The customer can have any face she wants. Every face is unique and lasts a lifetime. She can wear her artificial face to the grave. Our make-up department for corpses eliminates the appearance of death.“ Im Bild dazu Masken-Massenproduktion am Fließband, Anprobe durch eine Kundin, deren Maske ihr fleischliches Gesicht wird, dann spiegelglatte Metallsärge in einer Fertigungshalle. Ein Freak-Film, if ever there was one. Und das Bild eines Übergangs: von der Muschi von Mutters Mumie, aus der hervorgeht, ob Ja oder Nein, zur Matrize als Gussform von Massensubjekten, die die Sterblichkeit nicht anerkennen. Medium dieses Übergangs ist der durch ein patriarchal zugeschnittenes Lohnarbeitsverhältnis erzwungene Reproduktionsakt in der Matratzenfabrik. Wir sind hier auf einem historischen Höhepunkt medialer Ästhetiken/Rhetoriken – in diesem Fall counterculture-poppig ausgestaltet – des Unbehagens an der Art, wie Massen in fixe fordistische Formen gegossen sind: The Holy Mountain ist (neben vielem anderem) ein Stück kryptischer spätpsychedelischer Künstlerkritik am Regieren qua Disziplinierung, Uniformierung, Vereinheitlichung. Wir werden am Ende dieses Beitrags auf Bilder der post-disziplinarisch gerahmten Matratze stoßen – und auf andere Bilder einer heteronormativen Männlichkeit, die sich postpatriarchal, aber um nichts weniger obszön und aggressiv in einem Matratzensaal auslebt. Doch zuvor werden uns einige in der Sequenz des Jodorowsky-Films ausgebreitete Motive wieder begegnen, namentlich bei André Bazin: die Mumie, die Gussform, die Bewältigung der Sterblichkeit durch leibnahe Bilder.

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Bleiben wir zunächst kurz in Bazins Nähe und in der Nähe zum Leib: Für ein phänomenologisches Denken von Film ist besonders relevant, dass Film den Leib im emphatischen Sinn erscheinen lässt, als Medium der „Inhärenz des Ich in der Welt und des Ich im Anderen“, wie Maurice Merleau-Ponty schreibt (Merleau-Ponty 1969, S. 699, 702). Wo diese Inhärenz über ein Modell von Intersubjektivität, bei dem das embodiment als wohlgeformt organisiert vorgestellt ist, hinausgeht, dort taucht der ominöse Begriff „Fleisch“ auf. Bei Merleau-Ponty bezeichnet das Fleisch eine radikale, nicht objektivierbare Form des Mit-der-Welt-, Miteinander-, auch Mit-Dingen-verflochten-Seins; das Fleisch als Medium, „Element“, „inkarniertes Prinzip“, „Seinsstil“ der Verflochtenheit, Ineinandergestülptheit von Innen und Außen, Leib und Welt (vgl. Merleau-Ponty 1986, S. 183f.). Und: Fleisch benennt eine Art des Sozial-Seins, die das bürgerliche bzw. nachbürgerliche Individuum, den männlich-weißen Privatbesitzer bzw. Investor seiner selbst, seines Leibes und Bewusstseins, als Subjektform massiv in Frage stellt. (Diese Infragestellung müsste dann im Weiteren auch für maskulinistische Phantasmen von der Jungfräulichkeit der Welt oder vom junggesellig-maschinellen Gebären gelten, wie sie in den Bild-Diskursen des Katholiken Bazin3 und des Gelegenheitsmachos Benjamin auftauchen.) Jedenfalls: Das Medium ist die Masse ist die Matratze. Oder: We veg out on the couch – auf der Couch sind wir potatoes; auf der Matratze aber sind wir Fleisch. Dazu eine Szene mit einer alten Matratze und gleich zweimal Neuem Fleisch – das Ende von David Cronenbergs Videodrome (CAN 1983): Da ist der Held des Films, Max, der Fernsehproduzent (James Woods), dessen Physis und Bewusstsein bereits durch das titelgebende Mediensignal mutiert sind, im Rahmen des Verschwörungsplots auf ein verlassenes, rostiges Lastschiff im Hafen von Toronto geflohen. Dessen Laderaum hat offenbar schon vor ihm Obdachlosen Zuflucht geboten: Max findet zwischen diversen Zeitungs- und Kleidungsfetzen auf dem Boden eine schmutzige alte Matratze vor, auf der er sich kurz kraftlos und mutlos niederlässt; er rückt sie noch ein wenig an der Schiffswand hoch, um besser auf ihr sitzen zu können – das ist es aber schon

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So heißt es bei Bazin: „[N]ur die Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, das den

Gegenstand von den Gewohnheiten, Vorurteilen, dem ganzen spirituellen Dunst befreit, in den ihn meine Wahrnehmung hüllte, ließ ihn wieder jungfräulich werden, so dass ich ihm meine Aufmerksamkeit und meine Liebe schenkte.“ (Bazin 2004, S. 39)

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mit der Gemütlichkeit in der Fluchtpause, denn die Fusel-Flasche und die Zigarettenpackung, die auf der Matratze liegen und die er kurz betrachtet, sind beide leer. Diese meine ausführliche Beschreibung der (auf der Matratze lokalisierten) Dinge und Handlungen, die ja Nebensachen sind, mutet wohl kurios an, wenn mensch den weiteren Verlauf der Szene kennt; anderseits könnten gerade diese allzumenschlichen Handlungen des Sich-heimisch-machen-Wollens – ein Schlückchen, ein Zigarettchen: leider nein, aber immerhin eine zurechtgerückte Sitzmatratze – durchaus sinnträchtig sein im Verhältnis zu dem, was folgt. Max wird beim Ausruhen gestört: Das Bild seiner schon vor ihm ganz ins tödliche Videodrome-Universum abgetauchten Geliebten Nikki (Deborah Harry) spricht unvermutet aus einem im Laderaum stehenden altarartigen Fernsehgerät zu ihm. Er müsse noch einen letzten Schritt machen, um sein altes leibliches Leben hinter sich zu lassen, sagt Nikki bzw. ihr mit Max dialogisierendes Video‑/TV-Bild und verstrickt ihn in eine Situation der Selbstpreisgabe an das dispositive Bild, das mehr als nur reproduktiv, vielmehr produktiv, in der Szene gar präproduktiv ist, denn: Das Fernsehbild zeigt, was Max gleich im Laderaum tun wird. Es zeigt dem auf seiner Matratze Sitzenden, wie er sich erhebt und sich mit seiner schon zuvor zur hand gun mutierten Hand und den Worten „Long live the New Flesh!“ in den Kopf schießt; woraufhin das Fernsehgerät explodiert – anstelle von Technikschrott jedoch Fleischwürste aus sich heraus‑ und Max vor die Füße schleudert – und Max in identischen, nun nicht mehr über frame und grain des Fernsehbildes vermittelten Bildern das eben Wahrgenommene wiederholt: Er erhebt sich von der Matratze, um in die Matrize überzugehen, indem er die hand gun ansetzt, „Long live the New Flesh!“ sagt – Schuss, Schwarzfilm, Abspann. Ich erinnere: Für Benjamin ist Film eine Form der Einübung von Schockwirkungen und die Masse als Matratze eine Art, unser gewohntes Verhalten, zumal im Wahrnehmen, radikal zu erneuern, neu zu gebären. Das Verhalten Kunstwerken gegenüber; letztlich auch jenes Fernsehbildern gegenüber. Vielleicht fällt uns zu Maxens Matratze in Cronenbergs Szene Wirklichkeitsverlustkritik nach Art der kulturpessimistischen Rede von der „Welt als Phantom und Matrize“ ein: die Beziehung von Bild und Welt auf den Kopf gestellt, sodass das Bild dem, was geschieht, vorangeht. Aber wir würden uns da wohl in metaphysischen Scheinproblemen verlieren. Die Wirklichkeit medialer Bilder ist untrennbar von deren Wirksamkeit. Das heißt: Wahrnehmen, Han-

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deln, Alltag, Subjektivität, Sozietät kann nur im medialen Mit-Sein mit Bild-Dingen und deren überraschender Eigentätigkeit gedacht werden. Dabei geht es eben nicht um Trug und Wahrheit, sondern um die Art, wie Gesellschaft jeweils verstanden wird. In der Einleitung zu seiner Philosophie der com-munitas als geteilte, nämlich einander wechselseitig auferlegte Bürde (munus als Amt und Last) merkt Roberto Esposito an: Die Totalität als Fülle und Substanz-Ganzheit, in deren Zeichen Gesellschaft zumeist verstanden wird – am schlimmsten in der Rede vom „Volksganzen“ etc. –, das totus in der sozialen Totalität also komme (dem Linguisten Benveniste zufolge) von dem älteren Wort tomentum für „vollgestopft“ und „gepolstert“ her (Esposito 2004, S. 9, insb. Anm. 6). Mit der Polsterung sind wir also wieder bei und auf der sozialen Matratze. Aber wenn die Matratze, die die Masse ist, als gepolsterte soziale Totalität und Fülle erscheint, dann gilt – mit Benjamin gedacht und gesagt – immer auch, dass aus ebendieser Fülle „alles hervorgeht“, dass alles regelrecht hervorquillt, sich entblößt und exponiert. Der genannte Sozialphilosoph Esposito trägt vielleicht nicht umsonst das Exponierte im Namen, versteht er doch Gesellschaft ebenfalls wesentlich als ein Einander-ausgesetzt-Sein, als gegenseitige Entblößung, Enteignung, nachgerade Gefährdung. Aus der Matratze geht hervor: Wir sind einander ausgesetzt. Wieder (und wieder mit Benjamin) verweist dies auf Prekarität als Lebensweise, etwa im Verkehr; im Straßenverkehr, von dem im „Kunstwerk“-Aufsatz zu lesen ist, oder aber im folgenden Film in jener Art Verkehr, die Massentourismus heißt. Zwei Matratzenmomente auf vollgestopftem Strand in einem sozialsatirischen Klassiker des modernen Horror- wie auch Blockbuster-Kinos: Steven Spielbergs Jaws – Der weiße Hai (USA 1975). Wir haben hier nicht mehr disziplinierte Subjekte vor uns, sondern eher einen Konformismus des Genießens (wie er von Adorno bis Žižek als zentrales kapitalistisches Subjektivierungsmoment kritisiert wird): Die Pflicht, an die der Bürgermeister des Atlantik-Badeorts (Murray Hamilton) die Strandgäste erinnert, ist die Pflicht, Spaß zu haben – als Beitrag zur sozialen Wellness. Vom Obrigkeitsvertreter aufgefordert, trotz der Sorge um mögliche Haiattacken gefälligst vorbildlich und ordnungsgemäß Badefreuden auszuleben, gehen erst einige locals, die gelbe Luftmatratze folgsam in der Hand, ins Wasser – und in der Folge auch die eben dadurch zu motivierenden Tourist_innenmassen. Prompt attackiert wenig später der weiße Hai einen auf seiner Luftmatratze im Meer strampeln-

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den Buben; seine aus dem Wasser hochbrodelnde Blutfontäne scheint fast aus der Luftmatratze (die in seine von fern sichtbaren Zuckungen verwickelt ist) hervorzuquellen.4 Leute gehen rein (ins Wasser, mit der Matratze), und dann geht es in blutigen Massen hervor aus der Matratze. In Jaws haben wir es mit einer Luftmatratze zu tun; aber das Hervorgehen geht im Horrorfilm auch mit konventionellen Schlafzimmermatratzen: Mensch geht hinein, Masse quillt heraus. Wie in Cronenbergs Videodrome ist auch hier ein Fernseher im Spiel – in jener Szene von Wes Cravens A Nightmare on Elm Street (USA 1984), die heute nicht zuletzt insofern markant erscheint, als in ihr der damalige Nachwuchsschauspieler Johnny Depp seinen großen Auftritt oder vielmehr Abgang hat: Vor einem auf seiner Hüftgegend abgestellten Fernsehgerät, unter den an die Stereoanlage angeschlossenen Kopfhörern auf seinem Jugendzimmerbett eingeschlafen, ohne die eben gespielte US-Nationalhymne als Fernsehsendeschluss-Signation zu hören, wird er von Freddy Kruger (mitsamt Fernseher und Stereoanlage) durch die Bettwäsche hindurch in die Matratze hineingezogen und verschwindet. Zurück bleibt ein rundes schwarzes Loch auf weißem Betttuchgrund, aus dem gleich darauf plötzlich eine enorme Blutfontäne hochschießt und sich an der Decke ausbreitet. Allerdings geht Blut bei der Matratze nie heraus, ohne auch in sie hineinzugehen. (Im Regelfall schießt Blut ja nicht an die Decke und verteilt sich dort großflächig.) Wir sind damit bei der Matratze als Speicher, als zu entziffernder Text, aus dem etwas hervorgehen wird – z.  B. eine Täterschaft. Und damit sind wir auch bei der Ontologie des Films von André Bazin. Ein Stück weit scheint Bazin so zu denken wie die Polizei, zumal wie die Forensik. Bazin sagt sinngemäß: Das automatisierte fotografische Bild, der Lichtabdruck der Körper und Dinge, enthebt diese selbst der Zeit, das heißt rettet sie vor der Vergänglichkeit: Film als „die Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit“ mumifiziert die Welt in ihrer Dauer, balsamiert sie ein, nimmt einen Abdruck von ihr. Das

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Bezeichnenderweise folgt die heute vielleicht prominenteste, in Oscar-, Spielberg‑

oder Universal-Pictures-Montagen wohl am häufigsten verwendete Einstellung von Jaws direkt auf den blutquellenden Todeskampf des Buben auf bzw. in der Luftmatratze: Es ist die (in Hitchcocks Vertigo [USA 1958] kanonische) Zoom-Fahrt-Kombination, die uns hier das entgeisterte Gesicht des das Strandgeschehen überwachenden Polizeichefs (Roy Scheider) in einem schwindelerregenden Bildtiefeneffekt nahebringt.

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in etwa sagt Bazin.5 Die Polizei sagt: Kein Verbrechen wird jemals verjähren, je ganz vergangen sein (wenn es nicht gerade etwa Nazi-Verbrechen waren, die, wie sich immer wieder zeigt, oft allzu schnell verjähren). Jede alte Spur lässt sich lesen. Oder sie lässt sich zumindest erst einmal rekonstruieren, wenn nur die Erinnerung an die Matratze zur Verfügung steht, wie in einem besonders komplex gelagerten Mordfall, den die true-crime-Serie Autopsie – Mysteriöse Todesfälle in der Fallgeschichte mit dem Titel „Die mysteriöse Matratze“ präsentiert (ausgestrahlt auf RTL II am 9. April 2014). Um es kurz zusammenzufassen (die Spielszenen der Tat- und Ermittlungs-Reenactments sind nicht wirklich der detaillierten Beschreibung wert): Von einer blutdurchtränkten Matratze sind, nachdem sie aus einer Wohnung in Los Angeles entsorgt wurde, nur die Erinnerungen eines Zeugen geblieben, der sich bei der Polizei meldet und sich als Hinweisgeber zur Verfügung stellt; nach seinen Angaben über Form und Größe des Blutflecks auf dem Liegemöbel rekonstruiert eine Forensikerin diesen mittels Blutkonserven, die sie auf eine ähnliche Matratze entleert, und stellt so fest, dass jemand auf dieser Matratze bis zu vier Liter Blut verloren haben muss – weshalb wohl ein Gewaltverbrechen vorliegt: „Ein so hoher Blutverlust kann nicht durch einen Unfall oder ein Versehen passiert sein“, heißt es lapidar im Voice-over. Matratzen tragen Spuren, zumal von physischer Gewalt, fungieren somit ihrerseits als bewahrende Bilder von Leibern, ihren Leiden und anderen Erfahrungen. Film geht mit sozialen und fleischlichen Massen nicht durchgängig so um wie die Forensik und die Polizei. Zwar bemüht Bazins Filmtheorie – neben der Anspielung auf christliche Mythen wie das Schweißtuch der Veronika und (naheliegend angesichts der BlutBild-haften Autopsie-Matratze) das Turiner Grabtuch – die Metapher vom Lichtbild als Fingerabdruck (Bazin 2004, S. 39, 42). Doch es ist klar: Der Abdruck des Lebendigen, die Einbindung des Lebendigen ins Bild seiner Veränderlichkeit, das als Mumie der Veränderung fungiert, wie es bei Bazin heißt, das ist eine Art, an sozialem Leben und seinen Wendungen so „dranzubleiben“, dass es ein Mit-Sein als Berührt-Sein zumindest impliziert. Vorsichtiger formuliert: Film heißt „am Leben bleiben“, dranbleiben am sozialen Leben, in einer solchen Weise, dass dabei 5 „Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, es ist gleichsam die Mumie der Veränderung.“ (Bazin 2004, S. 39).

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ein Gefordert-Sein, gar Heimgesucht-Sein des wahrnehmenden Subjekts durch andere, vielleicht eine Ethik der Teilung in der Empfindung und zumindest Potenziale für solidarisches Handeln relativ hohe Chancen haben ins Spiel zu kommen. Eine Ermittlerin, deren Lesen auf und unter der Matratze weit über das Sammeln von Daten hinausgeht, präsentiert uns ein Krimi der ukrainestämmigen Kanadierin Larysa Kondracki: The Whistleblower erschien 2010, drei Jahre bevor dieses titelgebende Wort rund um Edward Snowden zum Allgemeinsprachbesitz wurde. Im Film deckt eine US-amerikanische Polizistin (Rachel Weisz) im Dienst der UNO-Truppen in Bosnien auf, dass ihre männlichen westlichen Kollegen die Nutznießer des Handels mit verschleppten slawischen Mädchen sind; in einer prägnanten Szene liest sie Spuren in einem finsteren Matratzen-Lager, in dem Zwangsprostituierte festgehalten worden sind, tastet mit dem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über die mit Zigarettenstummeln und gebrauchten Spritzen übersäten schmutzigen Matratzen, hebt eine davon hoch und findet darunter in den kahlen Boden geritzte Zahlen, die – vergleichbar Kritzeleien und der Zählung von in Haft verbrachten Tagen durch Striche auf Gefängniszellenwänden – in einem noch zu entziffernden Code vom leidvollen (und ganz dem Regime der Quantifizierung unterworfenen) Alltag der festgehaltenen Frauen zeugen. Unter die Matratze schauen, wo eigentlich niemand hätte hinschauen sollen: Suchen trägt in dieser Szene Züge von Fürsorge und von Erinnerungssolidarität mit etwas, das nicht ganz vergeht; und Whistleblowing bedeutet hier eine Wendung gegen Männerbünde und gegen neokoloniale westliche Hybris gegenüber Bewohner_innen des Balkan. Wer auf oder bei Matratzen liegt, ist, so zeigen es viele Filmbilder, zumal aus Horrorfilmen (in einem nicht genrepuristisch, sondern etwas weiter gefassten Sinn, also inklusive The Holy Mountain und Whistleblower), Ausschuss aus der Masse, ist obdachlos im nicht nur transzendentalen Sinn. Bei Cronenberg, um auf ein weiteres Filmende von ihm kurz einzugehen, sterben die Leute am Schluss häufig durch Selbstmord (zumal Kopfschuss) oder Selbstopferung, und nicht nur in Videodrome sterben sie neben einer Matratze. Neues Fleisch ist Übergang, ein Hervorgehen; aber als zugerichtetes Sozialmaterial ist es die Kehrseite von Altem Fleisch, das sich aussetzt und zurückbleibt, wie die Heldin Rose (Marilyn Chambers), zugleich patient zero, in dem Viren-Quasi-Zombie-Film Rabid – Rabid: Der brüllende Tod (CAN 1976): Bestürzt über die späte Er-

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kenntnis, dass sie womöglich Auslöserin der Montreal heimsuchenden Tollwut-Epidemie ist, hat sie sich freiwillig der Gewalt eines Infizierten ausgesetzt. In der Schlussszene liegt ihr junger, toter Körper zwischen weggeworfenen Matratzen und Müllsäcken auf einer Hinterhofdeponie, bis die allerorts brutal durchgreifende Seuchenpolizei – in weißen Plastikanzügen, Gasmasken und schwerer Bewaffnung – anrückt und Rose (in Zeitlupe) in den Laderaum eines Müllwagens wirft. Apropos Müll: Die erste Hitsingle des Wiener Quasi-Entertainers Rainhard Fendrich war 1982 „Strada del sole“ – ein Popsong als Matrize, aus der rassistische Italiener-Klischees hervorquollen. Eine üble Textstelle des Liedes lautete „Mei Freindin is o’boscht mit an Italiano, des Göld hams’ ma gstessn, jetzt steh i alla do“ (also: „Meine Freundin ist abgehauen mit einem Italiano, das Geld haben sie mir geklaut, jetzt steh ich allein da“), und weiter: „Er wollte Amore mit bella ragazza, auf sentimentale und auf der Matratza.“ Keine Angst: Ich leite jetzt vom Horror zur Comedy über; nicht mit Rainhard Fendrich (das wäre ja die Fortsetzung des Horrors), aber: Was aus den zitierten Zeilen von „Strada del sole“ hervorgeht, ist in etwa dies: Der Mensch auf der Matratze ist infamer Mensch, ist der oder die abjekte Andere, deren sozialer Anspruch als illegitim gilt, ist Opfer von Projektionen und Ressentiments, von Ausbeutung und Entwertung, eingeschlossen ins Soziale durch Ausschluss aus politischen Garantien von Rechten und Agency. Dies aber weiß nun kein Filmkomiker so gut wie Jerry Lewis. Es wird in der Rezeption der Filme von Jerry Lewis oft betont, dass dieser die Art, wie moderne Menschen in Gesellschaft sind, vor allem als eine Frage ihrer neuartigen Beziehungen zu Medienbildern versteht und dementsprechend zeigt (etwa bei Deleuze 1991, S. 90–92): die Infektion, die Mimesis, das Reenactment verstanden als Formen der Beziehung zu Bildern; Bilder wiederum verstanden im Zeichen ihrer Wirklichkeit, bei der es nicht zuletzt um die Wirksamkeit einer Matrize geht, könnten wir sagen. Ebenso besessen ist Lewis von der Matratze – nicht nur, aber vor allem in seiner klassischen Phase um 1960. Die Matratze ist dabei kategorisch entweder eine zu kleine – oder keine. Letzterer Problemfall liegt vor, als der neu eingetroffene Haushälter des Mädchenpensionats in The Ladies Man – Ich bin noch zu haben (Jerry Lewis, USA 1961) zu Bett gehen will: Bei seinem Sprung in den oberen Teil eines Stockbetts zeigt sich, dass dieser nur aus einem Rahmen mit Betttuch und Polster (ohne Rost und Matratze) besteht; Jerry landet auf dem unteren Teil, und als

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er sich dort zur Ruhe betten will, versinkt er in der morastartigen Matratze. Die Matratze, auf der er in seinem ersten Auftritt zu Beginn von Cinderfella – Aschenblödel (Frank Tashlin, USA 1960) liegt, ist wiederum zu klein: Sein Bett ist zwar so groß wie das prunkvolle seiner Stiefmutter, die ihn als Arbeitssklaven im Haus hält und zu Filmbeginn wie jeden Morgen mit Anweisungen per Haustelefon aus dem Schlaf reißt; als er die über das gesamte Bett reichende Bettdecke zurückschlägt, um aufzustehen, zeigt sich, dass auf der großen Fläche des Metallfederrosts eine winzige Kinderbettmatratze liegt – und auf dieser wiederum Jerry, dessen Beine über die Matratze hinausragen. In Who’s Minding the Store – Der Ladenhüter (Frank Tashlin, USA 1963) wiederum arbeitet er als Matratzentester in der straßenseitigen Verkaufsauslage eines großen Warenhauses: Nun, die Matratze liegt bereit, aber anstatt etwa öffentlichen Testschlummer zu absolvieren, muss Jerry, wie es heißt, erst einmal richtig müde und bettschwer werden; also muss er, schon ganz entkräftet im grauen Trainingsanzug, vor den Augen amüsierter Schaulustiger und unter süffisanter Lautsprecherkommentierung durch einen Abteilungsleiter endlos auf einem Fahrrad-Hometrainer strampeln und danach noch mehrere Runden um den Häuserblock laufen. Jerry Lewis arbeitet in seinen Filmrollen immer als Dienstleister in der Verkaufs- und Pflegebranche; und immer wieder geht aus seiner Arbeit das Moment der Sklaverei überdeutlich hervor und aus seinen Matratzen das Moment des Matratzen-Lagers.6 Das Lager als Ausnahmeraum und ‑zustand, in dem Rechtlosigkeit auf legaler Basis administriert wird, um es halb mit Agamben (2002), halb mit Blick auf gegenwärtige Migrationsbekämpfungsdispositive der EU zu formulieren. Weit weniger traumatologisch gepolt könnten wir ausgehend vom Matratzentest in Who’s Minding the Store noch einmal an Benjamins „Kunstwerk“-, vielmehr: „Reproduktions“-Aufsatz denken, in dem die Rede ist von der „Erweiterung des Feldes des Testierbaren“ (Benjamin 1977, S. 151/Anm. 17) – und von dorther Jerry in der ständigen Ausweitung der Testzone sehen: Alles muss erprobt und justiert werden, und zur Matratze tritt einmal mehr, gleich zweimal mehr, die Fernseh-Matrize hinzu – das wirklichkeitswirksame und zu Zeiten der Sendungsempfangsantenne noch ständig zu justierende Bild, das bei Cronenberg seine Medialität als Fleisch 6 Zu Trauma, Gewalt und Entrechtung bei Jerry Lewis vgl. meinen Text-Abschnitt in: Robnik et al. 2013.

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heraustreten lässt, bei Jerry Lewis hingegen die Störung als veritables verschneites Bild. Denken wir an eine weitere Matratzentest-Szene in Who’s Minding the Store, in der es mit bloßem Probeliegen allein nicht getan ist: Eine Kundin verlangt, um die Qualität einer Matratze einschätzen zu können, dass oberhalb derselben ein ebenso großes Fernsehgerät platziert werden müsse, wie sie es bei sich zu Hause im Schlafzimmer hat, weshalb Verkäufer Jerry den schwergewichtigen TV-Koloss auf eine fragile Leiter- und Surfbrett-Konstruktion wuchtet (mit zu erwartendem Slapstick-Resultat). Und in The Disorderly Orderly – Der Tölpel vom Dienst (Frank Tashlin, USA 1964) kommt der metaphorische Schnee im Zimmer nicht aus dem Bettzeug wie im Märchen von Frau Holle, sondern aus dem Fernsehgerät im Einzelzimmer eines Luxussanatoriums, dessen (wie es früher hieß) „verschneites“ Bild Jerry als überengagierter Pfleger vergeblich einzurichten versucht; die Matratze des verstellbaren Bettes wiederum verschlingt, nachdem die Federn der Verstellmechanik infolge des Schneechaos im Zimmer zuschnappen und der Rost zuklappt, die auf ihr liegende und fernsehende Sanatoriumspatientin, von der nur noch die zappelnden Beine herausschauen. Der satirische Sadismus rund um ein Krankenbett, das zuschnappt, und eine Matratze, die den auf ihr liegenden Körper verschlingt, begegnet uns in späteren Hollywood-Comedys, etwa in The Naked Gun – Die nackte Kanone (David Zucker, USA 1988): in der Szene mit Police-Squad-Lieutenant Frank Drabin (Leslie Nielsen) am Bett seines im Dienst schwer verwundeten und von der versehentlich betätigten Klappmatratze noch mehr geschundenen (nämlich wie ein Sandwich Kopf zwischen die Füße zusammengefalteten) Kollegen Nordberg (O. J. Simpson). Es klappt, das heißt: Es beißt.7 Die Matratze ist oft nicht Matrix, aus der Neugeborenes hervorgeht, nicht Quell, sondern quer, Qual und allzu nah am Gestell. Sie ist Verlegenheit, wo die Macht sich Fundamente wünscht, sie schafft Unruhe, wo Alltag ausruhen möchte. Ihre Gestopftheit wird vom Hervortreten der Entblößung heimgesucht. Sie legt sich auch dort quer, wo etwa bestimmte Medientheorien und ‑praktiken sich das Kino gern zurechtlegen möchten, als etwas, das ganz rein und direkt

7 Letzteres ist ein Zitat aus dem bisweilen an verlangsamte Screwball-Comedy erinnernden Dialog von Videodrome: „It bites“, sagen sowohl Fernsehproduzent Max als auch Bianca O’Blivion, die Tochter eines Marshall MacLuhan nachempfundenen Medientheoriegurus, über die Kassette mit dem Videodrome-Programm.

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ist: Die einen sagen, Kino ist ganz Matratze, und sie meinen in diesem Fall, Kino sei ganz Alltagsmöblierung mit schicken Spielflächen und kultistischen Knotz-Ecken. Die anderen sehen Kino vor dem anderen Fluchtpunkt, vor dem der Matrize als Quell, als primärer Entstehungsort, sehen Kino als reinen Ethos schöpferischer Lebensintensität und Affektproduktion. Das wären zwei Seiten der Repräsentationskritik, die sagt, das Moment der Repräsentation sei eine ideologische Verzerrung, die es abzustreifen gilt, damit das Bild in seiner Reinheit hervortritt – als Biotop oder aber als Bioskop, als schöne Wohnung oder aber als Freisetzung der Kreativität, als dem faulen Fläzen verfallene Futon-Matratze oder aber als postoperaistisch-deleuzomarxistische Multituden-Matrize, jedenfalls als Direktzugriff aufs Vitale schlechthin. Ich meine hingegen, dass Matratze und Matrize Grenz- und Tendenzwerte einer Theorie von Medialität sein könnten – wobei, ähnlich wie beim Affekt als Intervall (vgl. Deleuze 1989, S. 96f.), vor allem der Abstand zu den jeweiligen Vollendungszuständen zählt. Wichtig am Kino ist die Differenz in der Kuschelecke und die Negativität im Lebendigen. Anders gesagt: Aus der Matratze geht hervor, wie sehr sie ein unverzichtbares Quantum an Repräsentation ist, das auch die anschmiegsamste soziale Macht braucht – auch die formende Modulation der Deleuze’schen Kontrollmacht, die die Gussformen bzw. Matrizen des Disziplinarregimes abgelöst hat. Hier hallt Bazin in der Deleuze’schen Sozial- und Machttheorie nach: Deleuze überschreibt seine Unterscheidung zwischen Film – als Bazin’scher Abdruck der Dauer und Veränderung und insofern als sich selbst umformende Form – und Foto – als Fixierung und Formvorgabe – mit dem Begriffspaar „Modulation“ und „Gussform“; ebendieses Begriffspaar kehrt später in seinem Aufsatz zur Logik der Formung von Kräften, Prozessen und Subjekten in der „Kontrollgesellschaft“ wieder (vgl. ebd., S. 43; Deleuze 1993). Hierin liegt wohl die Verlegenheit einer Formung, die am Leben ansetzt: Sie braucht den Abstand zu sich, zu ihrer „reinen Präsenz“, den Aufschub und das Intervall als Zone, in der sich ein Selbstverhältnis bilden kann, um zu wirken; mit der Matratze wird ebendieses Unreine (dieses nie ganz Vitale und Präsente) an der Macht zum Bild. Zumindest wird es das in zwei Clips aus jüngeren Hollywood-Komödien, mit denen wir zuletzt von Leslie Nielsen am Bett von O. J. Simpson zu Leslie Mann am Busen von Megan Fox kommen, und von Jerry zu Ferrell, nämlich zu Will Ferrell, hier zusammen mit Owen Wilson und Vince Vaughn.

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So, who’s minding the store now? Zwei Szenen mit Verkaufspersonal und Ladenbesitzer_in und mit Momenten von Verlegenheit, jeweils anders verteilt: Judd Apatows This Is Forty – Immer Ärger mit 40 (USA 2012) und die einzige luzide Szene aus Shawn Levys The Internship – Prakti.com (USA 2013). In This Is Forty will die Boutiquebesitzerin, die sich mit den Erscheinungen des Alterns herumschlägt, ihre kesse junge Angestellte, die sie verdächtigt, immer wieder Geld aus der Ladenkasse zu stehlen, zur Rede stellen, während diese gerade Verkaufswaren, nämlich Lingerie, anprobiert. Und da kommt die Chefin von ihrem Vorhaben ab: Mit dem Eingeständnis „You have an amazing body!“ verliert sie sich zuerst im Anschauen und dann, nach kurzem Reden darüber, ob die boobs der Angestellten for real sind („You wanna touch ’em? Touch ’em!“), im kurzen Betasten und Wiegen ihres Busens: „Wow! They really are amazing!“, gesteht die Chefin. „Huh ... that’s firm for real. They’re like a memory matress! Like tempurpedic!“ „Wie so ’ne Kaltschaummatratze!“ lautet das anerkennende Wort der Chefin in der deutschsprachigen Synchronfassung. Der Busen als memory mattress, die tempurpedic ist, also nach jedem Eindruck wieder in ihre Form zurückfindet: Fast recovery lautet da ein Stichwort. Da geht es um ein anderes Konzept von memory als jenes der Disziplinierung, auch ein anderes als Benjamins Spiel von Schock und Gewöhnung: Unter kontrollkapitalistischen Bedingungen heißt Gedächtnis, heißt Subjektivierung eben diese ständige Offenheit für Eindrücke und Formungszugriffe bis zum Grad der Verwundung – allerdings bei gleichzeitiger fast recovery, geschmeidiger Einarbeitung in ein flexibles Selbst. Das zweite Bild dafür in einer (nicht durchgängig pointierten) rezenten sozial-, berufs- und lifestylesatirischen Hollywood-Comedy ist Will Ferrells Selbstverwundung in Form eines riesigen Hals-Tattoos: „Make reasonable choices“ lautet, so übersetzt er es im Verlauf der Szene im Matratzen-Discounter Sleep’n’Snooze, das dreizeilige Mantra über seinem Business-Hemdkragen, geschrieben in einer jener asiatischen Schriften, die gerne zum genadelten Einprägen fernöstlicher Lebensweisheiten und Motivationssprüche verwendet werden. Die Selbstverwundung, Selbstverunstaltung ist jedoch integriert in alltägliche Optimierung von Lebendigkeitspotenzialen: Der halstätowierte Abteilungsleiter der Matratzen-Discounter-Kette versteht sich als He-Man und Bonvivant, Experte in Sachen Analverkehr, der als life changer fungiert („Have you done the back door yet? Knock, knock, it’s me, with my peepee! A life

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changer – it is a life changer!“, so labert er einen Angestellten voll, den er eben noch wegen Versäumnissen bei der Matratzenwartung gedemütigt hat), und er agiert in genuin schizophrener/schizogener und notorisch Peinlichkeit produzierender Weise den in sich widersprüchlichen (allerdings für die flexibilisierte neoliberale Kontrollgesellschaft typischen) Habitus des transgressiven Genießers und despotisch zur Hochleistung mahnenden Chefs in einer Person aus. („This is an awkward situation“, sagt der Angestellte folgerichtig verlegen.) In beiden Szenen haben wir es mit Selbstverhältnissen zu tun, für die nicht die Gussform, die matrice, formungsrelevant ist, sondern Prozesse der Modulation – Modulation als Selbstführung. Es geht (im Sinn der soziologischen Analyse flexibilisierender Führungstechniken und des Durchgreifens des Organisationsmodells „Projekterfahrung“ auf Alltags- und Lebenszeiterfahrung insgesamt, siehe Boltanski/Chiapello 2003) um nichts weniger denn ums Leben als Projekt – always make delicate choices, even reasonable ones: Wie geht es mir und meinem Körper mit 40? Wie integriere ich Business-Punk-Habitus und öden Arbeitsalltag? In beiden Szenen wird die Matratze zur Repräsentationsfolie, die dazwischentritt, zum Objekt eines Vergleichs: für die Flexibilität, von der die Chefin (nicht nur am Busen ihrer Angestellten) nicht genug haben kann, wie auch für den Kontrast zwischen tätowiertem back door man und mattress salesman. Damit habe ich nun auch die Ausschöpfung von Zeitbudgets optimiert: sowohl des Vortragszeitbudgets als auch des Budgets der zum Lesen eines Beitrags in diesem Buch aufzuwendenden Dauer. Insofern ist ein Schlusswort, ein Schlussgag, aus der Matratzen-Discounter-Szene von The Internship angebracht, ein Satz, der den Aufschub und Abstand in seiner Buchstäblichkeit würdigt: Als Abteilungsleiter Will Ferrell sich mit nicht wirklich ironischen schnalzenden Hieben auf den Hintern seines Angestellten zwecks Begutachtung der Gesäßpolsterung einer Kundin, die ihrerseits eine Matratzenpolsterung begutachtet, abwendet, wird der gedemütigte Angestellte auch schon von seinem arbeitslosen Kumpel auf eine grandiose Geschäftsidee hin angesprochen, die den beiden eine große Zukunft verschaffen wird: „We can’t talk about this later! The future doesn’t know later!“, drängelt der hochmotivierte Kumpel, worauf der mit seinem Matratzenjob nicht ganz unzufriedene Verkäufer sophistisch antwortet: „What are you talking about? All the future is is later – that’s literally what the future is: it’s later!“

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alles

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Kracauer 1969 Kracauer, Siegfried: History. The Last

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Bazin, André: Ontologie des photographi-

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Merleau-Ponty 1986

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Esposito 2004 Esposito, Roberto: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: diaphanes 2004.

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Drehli Robnik

Filme

1988 The Naked Gun – Die nackte Kanone

1958 Vertigo – Vertigo: Aus dem Reich der Toten (Alfred Hitchcock, USA 1958).

1960 Cinderfella – Aschenblödel (Frank Tashlin, USA 1960).

1961 The Ladies Man – Ich bin noch zu haben (Jerry Lewis, USA 1961).

1963 Who’s Minding the Store – Der Ladenhü-

(David Zucker, USA 1988).

2010 The Whistleblower – Whistleblower: In gefährlicher Mission (Larysa Kondracki, CAN/USA/D 2010).

2012 This Is Forty – Immer Ärger mit 40 (Judd Apatow, USA 2012).

2013 The Internship – Prakti.com (Shawn Levy, USA 2013).

ter (Frank Tashlin, USA 1963).

1964 The Disorderly Orderly – Der Tölpel vom Dienst (Frank Tashlin, USA 1964).

1965 Viva Maria! (Louis Malle, F/I 1965).

1973 La montana sagrada – The Holy Mountain (Alejandro Jodorowsky, Mexiko/USA 1973).

1975 Jaws – Der weiße Hai (Steven Spielberg, USA 1975).

1976 Rabid – Rabid: Der brüllende Tod (David Cronenberg, CAN 1976).

1983 Videodrome (David Cronenberg, CAN 1983).

1984 A Nightmare on Elm Street – Nightmare: Mörderische Träume (Wes Craven, USA 1984).

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Alice Pechriggl

LGBT**: Matrizen des contrat sexuel – Matratzen des Begehrens im Aufbruch1 Das Wort „Matrix“ hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

vielfältige Verwendung gefunden, nicht zuletzt in der Gender-Theorie und der Gruppenpsychoanalyse, auf die ich vorab kurz eingehe: Bei Wilfred Bion und Siegmund H. Foulkes, den beiden Begründern der Gruppen(psycho)analyse, bezeichnet „Matrix“ die Verbindung des Psychischen zum Somatischen respektive die Gesamtheit aller unbewussten, vorbewussten und bewussten Äußerungen, die sich – verbal, imaginativ und auch somatisch – in einer (psychoanalytisch arbeitenden) Gruppe manifestieren (Bion 1991; Foulkes 1992). Die Gruppenmatrix ist für Foulkes gleichsam die Gruppe selbst, insofern sie sich psychoanalytisch zu begreifen trachtet und im Zuge dessen immer neu gestaltet. Für Judith Butler (1991) ist die „heterosexuelle Matrix“, weniger dynamisch und mehr strukturalistisch verstanden, eine Art unhintergehbares Dispositiv, das nicht nur gesellschaftlich, sondern gleichsam transgesellschaftlich gefasst wird und das von ihr ausgeschlossene homosexuelle Begehren als konstitutives Moment hervorbringt. Die Lesben-Schwulen-Transgender-Bewegung (LGBT**) hat allerdings – im Ausgang der in diversen Matratzen-Wunsch-Ensembles verschwunden geglaubten „sexuellen Revolution“ und im Anschluss an die Aids-Krise – diese Matrix ebenso einfallsreich dynamisiert wie radikal verändert (durch die EU-Grundrechtscharta, den Pacs, Gesetze zur Homopart-

1

Ich danke Cristina Beretta und Gerhard Unterthurner für wertvolle Hinweise

und Anregungen sowie den Teilnehmer_innen der Tagung „Matratze/Matrize“ für ihre konstruktiven Fragen und Anmerkungen.

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nerschaft, Adoptionsrecht für Schwule und Lesben sowie eine zwar konflikthafte, aber auch ernsthafte Auseinandersetzung auf zivilgesellschaftlicher und rechtlicher Ebene etc.). Verbinden wir die beiden Begriffe, die der diesem Buch zugrunde liegende Tagung den Titel gaben, dann lässt sich die Frage stellen, welche Relevanz der Matratze bzw. der Matte als Matrix im Sinne einer Grundlage sexueller und erotischer Dispositionen und kreativer Akte zukommt. In der psychoanalytischen Theoriebildung, in der es doch zentral um Sexualität zu gehen scheint, kommt ihr so gut wie überhaupt keine Rolle zu. Wieso? Eine erste These hierzu lautet, dass die Verfechter_innen des heterosexuellen Normbegehrens ihre Normierungen immer von Neuem instituieren bzw. konstituieren müssen; die vorgebliche Natürlichkeit oder naturrechtliche Konventionalität muss mit allen Mitteln gegen die postulierte „Abweichung“ und ihre ständig erneuerten, polymorphen Erfindungen verteidigt werden. Dass die Verfechter_innen des Normbegehrens dabei auf ein transzendentes und immer reaktionärer operationalisiertes Naturrecht rekurrieren, entspricht nicht nur der herkömmlichen politischen Metaphysik des Bios (griech. für „das Lebendige“), dieser Rekurs scheint sich, auf der somatischen Ebene, durch die Restaurierung der Konventionalität in der Doppelbettmatratze (ja dem Schlafsystem bestehend aus Matratze und Lattenrost) auch neu zu begründen. Die weitgehende Ausblendung des erotischen Körpers und seiner Unterlagen aus den philosophischen Geschlechter- und Sexualitätstheorien erfordert theoretische Imaginationen und Improvisationen, die ich – vorerst probeweise – zur Diskussion stellen möchte.

Sexuelle Matrix und gesellschaftliches Imaginäres Ich möchte versuchen aus der Verbindung der Worte Matrize/Matrix und Matratze/matrah eine begriffliche Verknüpfung zu bilden, die dem queeren Begehren einen spezifischen Platz einräumt, ohne seine Verbindung zur Norm zu kappen und ohne das nicht-queere Begehren zum stereotypen Normbegehren zu stilisieren bzw. es darauf zu reduzieren. Ich tendiere vielmehr dazu, das sexuelle Begehren im Sinne Magnus Hirschfelds und Sigmund Freuds auf einem Kontinuum zwischen homo-, bi- und heterosexueller Objektwahl und Identifikation anzusiedeln.

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Allerdings ist ein Kontinuum eine gleichsam geometrische Figur, im gegenständlichen Fall lässt sich diese Figur über die Konstruktion des normalen und des konträren Ödipus errichten und wieder dekonstruieren.2 Anders die Matrix der Gruppenpsychoanalyse.3 Ich verwende Bions Matrix-Begriff ergänzend zu dem von Foulkes: Bions Begriff der Matrix bezeichnet das leib-seelische Leben vor seiner klaren Differenzierung in psychische Vorstellungen, während der Foulkes’sche Begriff der Matrix weiter gefasst ist und alle leiblichen, affektiven, psychisch-phantasmatischen bzw. sprachlichen, impliziten, expliziten, unbewussten, vorbewussten oder bewussten Vorstellungen, Gedanken, Wünsche und Äußerungen in einer Gruppe umfasst. Dieser Foulkes’sche Begriff der Matrix trägt der Besonderheit der gesellschaftlichen Verfasstheit jeder Psyche und der psychischen bzw. gesellschaftlich imaginären Dimension des Gesellschaftlich-Geschichtlichen Rechnung (Castoriadis 1984); zugleich begründet er die imaginative Offenheit und Veränderbarkeit durch die Gruppe bzw. jede_n in ihr anwesende_n Einzelne_n. Was Cornelius Castoriadis das „Magma“ der gesellschaftlich imaginären Bedeutungen nennt (ebd.), bezieht sich auf die zu Bedeutungen gewordenen und damit sprachlich oder bildlich kommunizierten Vorstellungsgefüge.4 Die Affektivität und das Begehren sind hier nur implizit angesprochen. Dagegen wäre in Anlehnung an Foulkes die gesellschaftliche Matrix das Magma aller Vorstellungen, Affekte, Wünsche, geäußerte und nicht geäußerte, bewusste, vorbewusste und unbewusste, die in der jeweiligen Gesellschaft (oder den miteinander verbun2

Im Gengensatz zum „normalen“ Ödipus bezeichnet bei Freud der „konträre“ Ödi-

pus die in allen Menschen ebenso vorhandene, aber zumeist unterdrückte gleichgeschlechtliche Objektwahl und die gegengeschlechtliche Identifikation. 3

Foulkes und Bion entwickelten, relativ unabhängig voneinander, im Zweiten

Weltkrieg die Praxis der Psychoanalyse in Gruppen und allmählich auch eine eigene Theorie dazu. Bions Buch Erfahrungen in Gruppen (Bion 1991) gilt als eines der beiden Gründungswerke der Gruppenpsychoanalyse oder kurz Gruppenanalyse (group analysis). Der andere Begründer der Gruppenanalyse ist Siegmund H. Foulkes. 4

Der französische Philosoph Cornelius Castoriadis hat mit seinem 1975 zuerst

in Frankreich erschienenen Buch Gesellschaft als imaginäre Institution den Begriff des gesellschaftlichen Imaginären geprägt und für die Sozial- und Kulturwissenschaften systematisch aufbereitet. Das Imaginäre ist nicht unwirklich, sondern als Produkt der Einbildungskraft aller in einer Gesellschaft zusammenwirkenden Menschen geradezu seinskonstitutiv für die jeweilige Gesellschaft. Ohne „zentrale imaginäre Bedeutungen“ wie Freiheit, Gott, Fortschritt etc. sind bestimmte Epochen überhaupt nicht zu begreifen.

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denen Gesellschaften) wirksam sind. Das Problem mit einem derartigen Begriff ist, dass er infinit ist, nach allen Seiten flieht, aber das soll hier vorerst nicht stören und ist jeglichem Matrix-Begriff spätestens seit Platon (chôra) und Aristoteles (protê hylê – erste Materie) inhärent. Versuchen wir ein Vorstellungs- und Denkexperiment, um die Einfügung der Matratze in eine aktuelle Begehrensmatrix zu skizzieren und somit auch gleich die gesellschaftlich-geschichtliche sowie imaginäre, das heißt vorstellungsbezogene Dimension besser nachvollziehbar zu machen: Welche Fantasien tauchen zum sexuellen Begehren auf, hier, jetzt? Sind es Fantasien, die den Sex eher auf der Matratze ansiedeln, auf einer Couch oder im Schlafzimmer, oder eher auf dem Fußboden, im Liegen, Sitzen oder Stehen, im Wald oder am Strand, im Hotelzimmer. Jede_r wird irgendwelche Fantasien oder Erinnerungsbilder dazu haben, oder eben einen Blackout, was auch auf ein Phantasma verweist. Und die Gruppenmatrix ist die Gesamtheit aller in einer gegebenen Zuhörer_innenschaft (oder – virtuellerer – in der diachron gefassten Leser_innenschaft) versammelten Vorstellungen, Wünsche, Affekte, Gefühle, somatischen Zustände und Posturen, die mit diesem Vorstellungs-Wunsch-Affekt-Gefüge verbunden sind. Da wir hier (angesprochen ist das Publikum der Tagung) nicht psychoanalytisch oder therapeutisch als Gruppe arbeiten, werden diese Fantasien und Vorstellungen nicht geäußert, und es werden auch nicht die vorbewussten oder unbewussten Ebenen dieses Gefüges einsichtig; aber jede_r kann sich zumindest eine ungefähre Vorstellung davon machen, was sich hier so in den Köpfen und Leibern zuträgt (ein sensibler Mensch, oder eventuell ein Hund mit seinen im Vergleich zum Menschen unendlich vielfältigeren olfaktorischen Differenzierungen, würde wohl merken, dass es hier im Vergleich zu vorher irgendwie, irgendwo rundgeht oder knistert). Nun, kommen wir wieder auf den akademischen Boden begrifflicher Verknüpfung und fragen wir uns, welche Funktion die Matratze in der Sex-bezogenen Fantasie- und Affektwelt einer Gesellschaft oder Gruppe hat. Es ist zwar bereits schwierig, die auf das sexuelle Begehren bezogene Matrix von der restlichen gesellschaftlichen Matrix zu unterscheiden (wo hört das Sex-bezogene Imaginäre auf, wo fängt es an); ich möchte aber in Anlehnung an Jürgen Link, der einen „Trieb“ zum Sich-Betten entdeckt zu haben meinte (Link 1998), die Frage aufwerfen, ob nicht tatsächlich der Tod die einzig reale Grenze dieser überbordenden Matrix ist, und keineswegs die religiöse oder sittliche Sexualmoral, die gerade in der Verteufelung ihre Obsession bestätigt.

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Damit verbunden liegt der Schlaf, Hypnos, als Verwandter von Thanatos, ebenso angrenzend wie gegensätzlich neben dem sexuellen Begehren und um dieses herum; er lullt es sozusagen ein und durchdringt es unablässig auf der Ebene der Vorstellungslust: Wenn auf der Ebene der Vorstellungslust das Einschlafen nach dem Sex wie dessen Telos (Ziel und Zweck) erscheinen mag, dann kann die besonders angenehme Matratze, ja das ideale Comfort-Schlafsystem dieses Telos auch ohne den körperlich anstrengenden Sexakt erreichen helfen; je leichter dies geht, je näher (in jeglicher Hinsicht) die Partner_innen einander sind, desto seltener wird das Begehren als sexuell-körperliches, das heißt immer auch als minimal aggressives und übergriffiges, eine Kluft zu überwinden haben; diese dem sexuellen Begehren unentbehrliche Mangel-Kluft stellt der regressive Zustand der Verliebtheit permanent her, mit allen Anstrengungen und Verrücktheiten, die damit verbunden sind. Insofern nun Eros und Hypnos sich vermengen, möchte ich also – Matratzenmatrix oblige – der These nachgehen, dass das sexuelle Begehren und der Sex im ehelichen oder eheähnlichen Matratzenbett einzuschlafen droht und als solcher zum hypnotisierten/hypnotisierenden Problem werden kann und sehr oft auch wird. Bislang wurde diese Problematik zumeist psychologistisch oder zivilisationstheoretisch diskutiert und der Gewöhnung zugeschrieben oder – psychoanalytisch inspiriert – dem vom Inzesttabu gestreiften Freundschafts- bzw. Geschwisterverhältnis, das sich allmählich zwischen Eheleuten und Partner_innen an die Stelle der begehrlichen Verliebtheit oder Geilheit drängt. Ich möchte die Relevanz dieser Aspekte keineswegs geringschätzen, aber es gibt noch weitere Aspekte, die selten diskutiert werden und mir ebenso relevant erscheinen in dieser Dynamik ausschleichenden (oder „laschierenden“) sexuellen Begehrens: die Topografie der Leiber, die Architektonik des Begehrens als eines in Raum und Zeit sich anbahnenden; weiters die Matrix des sexuellen Begehrens im Sinne Bions, das heißt im Sinne des „protomentalen“, protorepräsentationalen Leib-Seele-Komplexes, der innerhalb der erweiterten Gesellschafts- oder Gruppenmatrix schwingt, begehrt, aufbegehrt, flieht, kämpft, fürchtet, dissoziiert oder assoziiert, heimkommt oder fremdgeht, genießt und schläft bzw. träumt, in Trance oder in Flow gerät, zuckt und – wach oder schlafend – außer Atem kommt und sich in regelmäßiger Atmung wieder beruhigt.

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Jürgen Link hat wie schon angesprochen in einem Artikel mit dem Titel „Massendynamik und As-Sociation“ einen „Trieb“ nach sicherem Sich-Betten in der „As-Sociation“ konzipiert. Dabei geht es ihm um eher urtümliche, von Canettis Masse- und Macht-Analyse inspirierte Sichtweisen auf primitive Settings von Nachtlager und Urvertrauen inmitten einer bedrohlichen Wildnis, die – nach innen verlagert – weniger Depression, sondern eher Paranoia wird. Wie spekulativ Links Ansatz auch sein mag, er hat den Vorzug, eine für unsere Fragestellung bahnbrechende Hypothese aufzustellen (das ist ja der Sinn des spekulativen Denkens, und nicht die Fixierung von Dogmen): Es ist die Hypothese von einem „verläßlichen sozialen Bette-Körper, ohne dessen Basis es keine individuellen Liebesnester geben kann“ (Link 1998, S. 7). Es geht dabei um die für das sexuelle Begehren notwendige Spannung von assoziativer Geborgenheit und Gefahr, welche gleichsam die gattungsgeschichtliche Matrix des Zufluchtsorts „Liebesnest“ ausmacht. Diese das sexuelle Begehren und die Sexualität umgebende und immer wieder hervorbringende Spannungsmatrix ist sozial, gruppenhaft strukturiert und an die „Natur“ angelehnt, inmitten der Natur aus dieser herausragend und zugleich gegen sie aufgestellt; sie ist nicht kleinfamiliär und schon gar nicht monogam, das heißt dyadisch strukturiert. Die dyadische Struktur (Regression in der Verliebtheit, Exklusivität etc.) erfordert, um der ekstasis willen, diese weiter gefasste Matrix der As-Sociation, die Link mit konkreten Utopien wie Woodstock in Verbindung bringt. Diese haben als je spezifisches „anonymes Kollektiv“ (Castoriadis 1984) aus ihren vielen promiskuitiven Mitten eine ebenso große Vielzahl an verliebten Pärchen von kürzerer oder längerer Dauer hervorgebracht. Die strukturierte Kleinfamilie als umgebende Matrix ist in dieser Betrachtung zu klein; sie ist so klein und eng wie ihr selbstbezüglich Inzesttabu-fixierter Handlungsspielraum, und so droht das in diesem Setting oder Betting verankerte sexuelle Imaginäre bereits an der zu engen Ausrichtung, der Spannungslosigkeit einer idealisierten, immer weicheren Matratze, ja eines ganzen Schlafsystems aus Matratze und Lattenrost schläfrig auszuklingen, fading out. Und so wie die Matrix der as-sociativen Geborgenheit zusammen mit der Angst das ausnahmehafte Liebesnest bedingt, so geht in der kleinfamiliären Enge unter dem christlich-bourgeoisen Telos reproduktiver Sexualität die Promiskuität nicht nur unter, sondern sie geht ebenso aus dieser Enge wieder hervor, ob als Cruising-Gelände,

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wie es Helge Mooshammer in seinem Buch Cruising analysiert (Mooshammer 2005), ob als Strandpartys oder als allerorts auftauchende gratis dating applications.

Exkurs zum transzendentalen Schema der Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft Um den Matrix-Begriff in seiner Bion’schen Bedeutung für den Versuch einer Verknüpfung von Matrix und Matratze in Bezug auf das Begehren zu vertiefen, möchte ich mich kurz dem Kant’schen Schematismus und seinem Begriff der Einbildungskraft zuwenden, um deren Verankerung im Psyche-Soma zu betonen, das heißt im Somatischen und nicht mehr nur im Psychischen. Zeit und Raum sind bei Kant als gleichsam objektive „reine Formen der Anschauung“5 zentral, doch für die Zeit gibt es auch eine andere, zwischen außen und innen, zwischen Anschauung und Formalem angesiedelte Dimension. In seiner Kritik der reinen Vernunft (Kant 2006) führt Kant diese vermittelnde und mittlere Dimension der Zeit zuerst über die „Form des inneren Sinns“ ein und über den Schematismus sowie mithilfe des Begriffs der „transzendentalen Einbildungskraft“ weiter aus.6 Ohne auf die Aporetik des Kant’schen Schematismus genauer eingehen zu können, gehe ich davon aus, dass ein zwischen innerem Schema und wahrgenommenem Objekt vermittelndes „transzendentales Schema“ eigentlich nur über eine originäre Zeitraum-Raumzeit kohärent denkbar ist. Diese ist als von Affekt-Vorstellungs-Wunsch-Rhythmen und -Engrammen geprägtes Körperschema vorzustellen, mithin als Schema und zugleich als Schema-bildende Matrix (im Bion’schen Sinn) der Vorstellungen und gesellschaftlichen Bedeutungen. Der Raum war von Kant nur im transzendentalen und wahrnehmungstheoretischen Sinn begrifflich als reine Form der Anschauung gesetzt. Das heißt nicht, dass er den Raum als wirklichen, je vorgefundenen oder instituierten/instituierenden auf dieses formale a priori reduziert hätte. Der von seinem Topos, also von der spezifischen Lokalität nicht zu trennende Raum ist, etwa als Raum der Architektur oder der Malerei, ein Raum a posteriori und nicht Gegenstand seiner Untersuchung. Kant geht 5 Kant 2006, Transzendentale Ästhetik, § 2–4. 6 Ebd., Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe.

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in seiner Transzendentalphilosophie (welche die begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung untersucht) also nicht auf diesen doppelten Aspekt von Raum ein, während er dies für die Zeit zumindest andenkt. Er tut dies, indem er die Zeit einmal als a priori, das heißt als transzendentalphilosophisch notwendige reine Form der Anschauung (von Objekten) setzt, ein anderes Mal, indem er sie als Form des „inneren Sinns“ entwickelt und als minimal am Empirischen Teilhabendes voraussetzt sowie als an der Schnittstelle von Intelligiblem und Sensiblem erlebtes Phänomen a posteriori beschreibt. Die Zeit als Form des inneren Sinns ist als Bedingung der Möglichkeit der Hervorbringung des Schemas durch die Einbildungskraft gewissermaßen auch eine innere (Raum)Zeit, sie ist als solche aber nicht nur ein konkretes, a posteriori zu analysierendes, sondern auch ein grundlegendes, transzendentales Phänomen, ohne dessen differierendes und differenzielles Wirken die Psyche (die Einbildungskraft) kein transzendentales Schema aufbauen könnte. Da Kant unter der Ägide einer von Descartes geprägten Dichotomie zwischen res cogitans (Geist) und res extensa (Körper) dachte, ist das Schema rein psychisch, wenn auch mit den Sinnen in Verbindung, und damit im rein zeitlichen Bereich der res cogitans beschrieben, nicht aber körperlich, also im Bereich der räumlich gefassten res extensa (als solches ist es bestenfalls angedacht oder implizit vorausgesetzt). Wenn wir allerdings die Frage nach transzendentalem Schema und transzendentaler Einbildungskraft im Anschluss an bestimmte neurowissenschaftliche und psychoanalytische Thesen vertiefen, kommen wir mit dem inneren Körperschema auf einen der „inneren Zeit“ analogen „inneren Raum“, ja auf eine/n innere/n Zeitraum/Raumzeit als res extendenda, in der und über die das frühkindliche Psyche-Soma seine das Denken vorbereitenden Vorstellungs-, Affekt- und Wunschschemata herausbildet, stets begleitet von einer zuerst konkretistisch agierenden (magischen) Sprache. Ganz zu Beginn erlebt das infans – also das Kind, das noch nicht die Sprache hat und dessen Psyche weitgehend undifferenziert tätig ist, was die Unterscheidung zwischen leiblichen und abstrakten Phantasmen bzw. Vorstellungen anlangt – die Sprache als radikal fremde Sprache der Anderen; es ist überfordert und beginnt zugleich durch die Sprache sich in der gesellschaftlichen Matrix heimisch zu machen (Piera Aulagnier spricht in diesem Zusammenhang von „Gewalt der Antizipation“, ein Begriff, der eine der Grundlagen ihrer Theorie der psychischen Entwicklung und der von spezifischem Misslingen geprägten Entwicklung der Psychose darstellt [Aulagnier 1975, S. 135–139]). Wer

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diese Kluft zwischen Entfremdung und notwendigem Heimischwerden in der Gesellschaft durch den Spracherwerb nicht bewältigt, ist der Psychose ausgesetzt bzw. umgekehrt, wer in die folie à deux eines Elternteils oder mehrerer Elternteile gezogen wird, vermag diese Kluft nur schwer bis gar nicht zu bewältigen, weil dessen Grundschema oder originäres Phantasma, als das und über das die Psyche re-präsentiert (also die Objekte und erlebten Zustände symbolisierend vorstellt), zu brüchig ist. Die verschiedenen Arten von frühem „Raum“, die das originäre Körperphantasma prägen und einbetten, sind ihrerseits geprägt vom gesellschaftlichen Körper-Imaginären. Nur innerhalb dieses Imaginären kann der Körper physisch wie auch psychisch und als Subjekt wie auch als Objekt der Erfahrung er-wachsen: als sexueller, gegenderter, als desexuierter oder asexueller Körper, als funktionierender oder dysfunktionaler Körper, als frei tanzender Körper oder als formierter Körper, der für das Fließband oder das Schlachtfeld instituiert bzw. zugerichtet ist und seinerseits als metaphorisches Schlachtfeld beackert oder gerettet wird, wenn schon nicht im Krieg dann zumindest im Krankenhaus, wo es auch bessere Matratzen und sogar eine Heil(ung)slehre gibt. Worte wie Einnisten, Liebesnest, Höhle, Schützengraben, Gaskammer sind nicht nur an gesellschaftliche Bedeutungen gebunden, sie evozieren mit den Wortvorstellungen immer auch von (Lust/Unlust-)Ambivalenz geprägte Wunsch- und Affektbündel, einmal mehr im Sinne von genießenden, dann wieder mehr im Sinne von perversen Rückkehr-Idyllen, einmal im Sinne der Sexualisierung kollektiver Utopien, dann im Sinne der Sexualisierung von Gewalterfahrungen und Tod(esängsten) oder in den Mischformen zwischen diesen Polen.

Hypnos



Eros

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Bevor ich mich, abschließend, dem Korporalen zuwende, möchte ich auf die Frage zurückkommen, wie das komplementäre, aber vor allem auch antagonistische Verhältnis zwischen Eros und Hypnos, also zwischen sexuellem Begehren, Kuschelbedürfnis und Schlafwunsch, möglicherweise lösbar ist. In der Matratzenmatrix des ehelichen, nicht mehr nur heterosexuellen Normbegehrens, sondern auch im normalisierten LGBT**-Eros (der ja lange eher im Feld der Promiskuität angesiedelt war – der schwule tendenziell mehr als der lesbische) wird der

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Antagonismus gleichsam durch die Normalisierung selbst sublimiert bzw. durch diverse Abspaltungen verleugnet, Abspaltungen, welche in europäischen Gesellschaften hauptsächlich einem patriarchalen Ehe-Imaginären entstammen (Mutter – Hure; monogame Wahrheit und Treue – promiskuitiver Betrug etc.). Die Sublimierung in der Partnerschaft geschieht hier zumeist auf Kosten des sexuellen Eros. Dagegen wird der promiskuitive oder abenteuerliche sexuelle Eros oftmals auf Kosten der Philia, also der Liebe/Freundschaft sprich Partnerschaft, bloß ausagiert: im Fremdgehen, im Cruising, im Flirt auf der Straße, in der Affäre, dem Gang zu Prostituierten oder im One-Night-Stand, bei der Strandparty ohne Matratze oder im Bordell. Seltener gelingt er als gemeinsam Verhandelter, am ehesten noch im Cruising oder im Swingerclub. Das Geheimnis, an dessen Entschlüsselung die meisten monogamen Partnerschaften scheitern, ist ja gerade die Kunst, den Antagonismus zwischen derart heterogenen Registern wie Eros und Hypnos dynamisch zu lösen. Welcher Art von Begehrensmatrix, welcher Art von Anti- oder besonderer Matratzen bedarf es dafür, und imaginieren wir sie eher als Heterotopien im Sinne Foucaults oder eher als Fragmente einer allzu vertrauten Welt, ja der Normalität? Das Matratzen-bezogene Beispiel, das Foucault in seinem Heterotopie-Text anführt, ist eines aus der Kindheit. Es bezieht sich auf die glücklichen und lustigen Momente, die viele von uns kennen, wenn Kinder im Bett der Eltern herumspringen, einander Polsterschlachten liefern und dabei die Bettwäsche noch mehr in Unordnung bringen, als es der Liebesakt der Eltern „normalerweise“ tut (Foucault 2013). Es steckt darin eine Sehnsucht, die vielleicht im Liebesakt – zumindest unbewusst – erinnernd mitvollzogen wird und die der Spannung von Eros und Hypnos innerhalb des Matratzen-Imaginären Ausdruck verleiht. Und auch wenn die vornehmlich schwule Cruising-Praxis zuweilen als Prototyp begehrens- und erkenntnispoietischer Neuerungen firmieren mag, so ist auch die Matratze (zumal ohne Gestell), auf der wir einander umlegen und dennoch weich fallen, Teil einer Vermittlungsmatrix, in welcher der Hypnos-Eros-Antagonismus zugunsten einer Eros-Hypnos-Begehrensmischung in den Hintergrund rückt und die Sexualität lebendig zu halten vermag. Es muss also nicht immer ein Moosbett im Wald, ein Sandstrand, ein anonymer Koitus in der „freien Natur“ sein, wenn wir die Liebe machen, um uns und sie dabei neu zu er/finden.

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Korporales Zu Spinozas Körper als eigener Seinsweise (Spinoza 2007) kommt der Aspekt der Hervorbringungsweisen, also das, was ich „somatische vis formandi“ nenne, sowie deren Verbindung zur Vorstellungswelt (des Einzelnen und der Gesellschaft/Sprache/des Symbolischen bzw. des gesellschaftlichen Imaginären und Korporalen). Die Matratze ist also sowohl materielle Grundlage der Wunsch-Ensembles sowie des sexuellen, (peri-) hypnischen Imaginären und Korporalen als auch selbst Teil der Vorstellungs- und Wunschgefüge, die sich auf ihr und um sie herum zutragen. Wenn nun die Topografien und Vorstellungsmodi des Paramatratzen-Sex (Cruising, Sex on the Beach, auf dem Boden, am Schreibtisch, im Wald, auf dem Heuboden etc.) manche konventionellen Liegegewohnheiten, ja die gesellschaftliche Matrix des Ehebettes als Schlafsystem zersetzen, dann nicht zuletzt im Sinne einer aus dem Privaten in die promiskuitive Vergesellschaftung reichenden Reaktivierung des sexuellen Begehrens, das in der idealtypisch kommoden und kommodifizierten Monogamie-Matratze eingeschläfert zu werden droht. Wenn wir es marxistisch formulieren wollen: Die promiskuitiven, mehr oder weniger gefährlichen Praktiken oder Fantasien sorgen für die Zirkulation des sexuellen Begehrens innerhalb einer Partnerschaft oder dem, was viele als bürgerliche Liebe begreifen bzw. zu leben versuchen. Wenn nun sowohl im Eros als auch im Hypnos der kleine Tod angerufen wird, dann nicht zuletzt deshalb, weil das Oszillieren zwischen (Über-) Spannung und Entspannung an die Grenzen der Lebendigkeit rührt. Vermittels der Ambivalenz und des Einreißens der Schlafsystem-Matrix ist auch das Verhältnis zwischen Sicherheit und Geborgenheit einerseits, Gefahr der Ansteckung und Liebestragik andererseits evoziert, in dem der Tod nicht nur durch Aids oder Syphilis, sondern auch durch drohenden und immer wieder vollzogenen Suizid schon einen Fuß in der Schlafzimmertür hat. Das mag – nicht nur durch religiöse Zwangsmoral bedingt – der Preis für die höchste Lust in der sexuellen Verliebtheit sein, vor deren psychische Gefahren die Anonymität des Cruising, des Darkrooms oder des One-Night-Stands ebenso bewahrt wie die Vertrautheit in der monogam belegten Matratze oder „in den Federn“. Womit gesagt werden soll, dass diese – die Topoi der Promiskuität und jener Paradetopos der Ehe bzw. der Partnerschaft – aus der Perspektive des Eros gar nicht so weit auseinanderliegen; es scheint jedenfalls eine Verbindung zu geben, die

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in der Spannung versprechenden, aber aus der Mode geratenen Federkernmatratze noch angedeutet ist. Ich denke, dass darin einer der Gründe nicht nur für die Ausblendung jeglicher Matratzenmatrix, sondern vor allem für die Blindheit gegenüber der hier skizzierten Eros-Hypnos-Begehrenstheorie (welche die Hetero- und LGBT*-Communities letztlich transzendiert) innerhalb der klassischen Psychoanalyse liegt. Denn diese stilisiert bis heute den normalen Ödipus als Paradigma jeglichen Begehrens und mit ihm die reproduktionsteleologische Sexualität auf gleichsam religiöse Weise hoch. Sie tut dies nicht zuletzt mithilfe der in allen klassischen psychoanalytischen Praxen reproduzierten Freud’schen Couch samt ältlichem Teppich auf der Couch und über der Couch – an der Wand. Für eine Neuerfindung des Begehrens oder für sich verändernde Gruppenmatrizen des Begehrens ist in diesem Universum wenig Platz. Doch die Menschen hören nicht auf, ihr Begehren neu zu erfinden und immer von Neuem aus/zu leben, aus/zu agieren und aus/zu verhandeln, zu zweit und in der Gruppe, privat, öffentlich und schließlich auch politisch.

Li t e r at u r

Foulkes 1992 Foulkes, Siegmund H.: Gruppenanalyti-

Aulagnier 1975 Aulagnier, Piera: La violence de l’interprétation, Paris: PUF 1975.

Bion 1991 Bion, Wilfred: Erfahrungen in Gruppen (1961), Frankfurt a. M.: Fischer 1991.

Butler 1991

sche Psychotherapie, München: Pfeiffer 1992.

Kant 2006 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781), Stuttgart: Reclam 2006.

Link 1998 Link, Jürgen: Massendynamik und As-So-

Butler, Judith: Das Unbehagen der Ge-

ciation, in: kultuRRevolution, Nr. 36, 1998,

schlechter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp

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1991.

Castoriadis 1984 Castoriadis, Cornelius: Die Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984.

Foucault 2013 Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013.

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Mooshammer 2005 Mooshammer, Helge: Cruising, Wien: Böhlau 2005.

Spinoza 2007 de Spinoza, Baruch: Ethik (1677), Stuttgart: Reclam 2007.

Georges Teyssot

„Wohnen im Gewoge“. Sehnsucht zwischen erogenen und hysterogenen Zonen In seinem Mann mit der gebrochenen Nase schuf Auguste Rodin „das Gesicht eines Lebendigen“, das „voll von Bewegung war, voll von Unruhe und Wellenschlag“, wie Rainer Maria Rilke in seinem berühmten Aufsatz über den Bildhauer schreibt. Die Kunst Rodins, argumentiert der Dichter, löste sich vom klassischen Kanon, der monumentale Ruhe (gravitas) über Bewegung (celeritas) stellte. Es gebe ja „nur Bewegung in der Natur; und eine Kunst, die eine gewissenhafte und gläubige Auslegung des Lebens geben wollte, durfte nicht jene Ruhe, die es nirgends gab, zu ihrem Ideale machen“ (Rilke 1920, S. 25). Rilkes lyrische Vision beschwört ein in einem kontinuierlichen Fließen befindliches Universum, das der französische Bildhauer in seinen Skulpturen festhalte, verfestige und kristallisiere. Unabhängig davon, ob dies in den Steinformen der archaischen Kunst oder in den fließenden Linien des Jugendstils geschieht, bleibt die Welle das Bild, zu dem Rilke ständig zurückkehrt – Symbol von Leben und Tod sowie von Ebbe und Flut in der irdischen Welt (vgl. Guerrand 2009). Jugendstil und Art nouveau bedienten sich des Motivs der brechenden Welle, um die Idee des „Kunstwollens“, die Schriftstellern wie Rilke bestens bekannt war, mit bemerkenswerter Anschaulichkeit darzustellen. In einer Notiz über die „neue Kunst“ in Berlin, die im Juli 1898 erschien, äußerte sich Rilke wie folgt über die Möbel von Henry van de Velde: „[...] alles in hellem Holz, leicht, ruhig, gesund. Alle Bewegung breites Wellenschlagen, ein rhythmischer Ausgleich von Last und Kraft. [...] Wie in festen Angeln schwingt die Bewegung. [...] Jede Linie lebt sich aus.“ (Rilke 1989, S. 8891) 1 Bericht in der Wiener Rundschau über die Neueröffnung der Berliner Kunsthandlung von Keller und Reiner.

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„Wohnen

Abb.  1  Karl Haus

im

Schmoll

von

Ludwig

Eisenwerth,

Gewoge“

Meeres

Habich,

Idylle,

im

Badezimmer,

um

1901

Der angedeutete Ausgleich von Last und Kraft versetzt den Künstler offenbar in die Lage, die diversen Elemente eines Kunstwerks miteinander in Einklang zu bringen und eine Art Einheit herzustellen (Abb. 1). Rilkes Schriften gehörten neben denen von Stefan George (dem Dichter und Übersetzer von Charles Baudelaire) zum literarischen Gepäck des jungen Walter Benjamin. Rilke und Benjamin hatten eines gemeinsam: Sie gingen nach Paris. In erster Linie, um ihre Ausbildung zu vervollkommnen, aber auch, um eine Berufung zu suchen. Beide wurden fündig. Rilke schrieb den Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Benjamin arbeitete an seinem als Hauptwerk geplanten Passagen-Werk. Durch ihren Aufenthalt und ihre Studien machten die beiden Schriftsteller Paris zum Ort der entfremdeten Moderne – ebenso gastfreundlich wie ungastlich, unbewohnbar und unzugänglich und voller Geheimnisse und Rätsel, die darauf warteten, gelöst zu werden. Benjamins Eindrücke während seiner ersten Reise im Jahr 1913 nehmen bereits seine spätere Sicht auf die französische Metropole als eine Stadt vorweg, die man „bewohnen kann wie sonst nur die eigenen vier Wände“, eine Art „Intérieur in freier Luft“ (Arendt 1989, S. 211). In Abschnitt S des Passagen-Werks, der sich mit dem Jugendstil befasst, schreibt Benjamin: „Vielleicht sollte man versuchen, den Jugendstil bis in seine Auswirkung in die Jugendbewegung verfolgend, diese Betrachtung bis an die Schwelle des Krieges heran(zu)führen.“ (Benjamin

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1991, Bd. V/2, S. 686) Diese Anmerkung verrät nicht nur die epistemologischen Ambitionen des Autors, sie hat auch einen autobiografischen Hintergrund: Benjamin wurde im Alter von zwölf Jahren in die berühmte Hermann-Lietz-Schule Haubinda in Thüringen gesandt, wo er von 1904 bis 1907 blieb, ehe er an seine Berliner Schule zurückkehrte, wo er 1912 das Abitur ablegte. Wie er sich später erinnert, war Haubinda der „Acker, in den die Samen meines spätren Lebens damals gesät worden waren“ (Benjamin 1991, Bd. IV/1, S. 435). Ein Textfragment von 1913 beschreibt die Landschaft von Haubinda: „Auf einer sehr sanften Höhe steht ein Haus [...]. Man nennt es einen Fachwerkbau [...].“ Von dort kommen „die herrlichen (V)ierzehnjährigen mit den roten Mützen [...]. Morgen am Sonntag werden die Jungen mit den roten Mützen in alle Winkel dieser Landschaft wandern“ (Benjamin 1991, Bd. VI, S. 195). Typisch für Haubinda (und für andere Reformschulen der Ära) war die offen homoerotische Atmosphäre, die dort herrschte (Pulliero 2005, S. 473; Williams 2007, insb. S. 123–145). Benjamin war die Ambivalenz der Jugendbewegung, an der er bis 1915 aktiv teilgenommen hatte, keineswegs entgangen (Tackels 2009, S. 45). Sicherlich kannte er auch andere männlich dominierte Gruppen wie die Wandervögel, die Ausflüge für Jugendliche organisierten. Ihr utopisches Projekt sei die „Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung“, urteilte Benjamin mit einer gewissen Verachtung (Benjamin 1991, Bd. VI, S. 102). Obwohl er für einzelne Auswüchse der neuen Volkskultur nur Spott übrig hatte, war diese Phase von größter Bedeutung in der Entwicklung von Benjamins Denken. Der Jugendstil in der Kunst und die Jugendbewegung in Gesellschaft und Politik erschienen ihm als zwei Seiten derselben Medaille (Hau 2003). Die Dramen von Henrik Ibsen und Frank Wedekind wie auch die von der Jugend inspirierten philosophischen Ideale Friedrich Nietzsches signalisierten einen Aufbruch, mit dem sich Eros und Sexus mit aller Macht in den Vordergrund drängten. Benjamin hoffte, der Kunstströmung ihr Geheimnis und der Reformbewegung ihre latente Sexualität zu entlocken: „Man kann sagen, daß die Münchener ,Jugend‘ [die 1896 von Georg Hirth gegründete Zeitschrift] das Zentralorgan dieser geheimnisvollen ,Emanzipationsbewegung‘ gewesen ist“ (Benjamin 1991, Bd. VI, S. 153). In einem Brief vom 6. Juni 1929 meldet er seinem Freund Gershom Scholem, dass er an einer Studie über den Jugendstil arbeitet, eine Ankündigung, die er in einer späteren Korrespondenz mit Hugo von Hofmannsthal wiederholt (Benjamin 1978,

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im

Gewoge“

S. 494, 497f.). Die einzigen konkreten Spuren dieses Vorhabens finden sich in einer Serie von Notizen mit dem Titel „Schemata und Glossen zum Jugendstil“ aus den Jahren 1930/31 (Benjamin 1991, Bd. VI, S. 151f.), in Materialien, die im Abschnitt S des Passagen-Werks versammelt sind (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 674–697) sowie in einem kurzen Exkurs in „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, verfasst im Mai 1935 für das Institut für Sozialforschung (Benjamin 1991, Bd. V/1, S. 52f.). Mit ein wenig Hintergrundrecherche könnte es indessen möglich sein, Benjamins Überlegungen zum Jugendstil zu rekonstruieren. Benjamin richtete seinen Blick nicht nur auf mögliche zukünftige Entwicklungen, sondern erstellte zugleich eine Archäologie der vom Jugendstil verfolgten Experimente, die ihn zurück zur Kunst des 19. Jahrhunderts führte, zu Baudelaire und zu dem Karikaturisten Grandville. Wie die häufigen Hinweise in den Skizzen zur „Berliner Kindheit“ bestätigen, war Benjamin mit dieser Epoche vertraut: „Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt.“ (Benjamin 1991, Bd. IV/1, S. 261) Bei Grandville kündigte sich erstmals die Idee an (aus der die Surrealisten später großes Kapital schlugen), dass sich in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, so sehr sie Fortschritt und Komfort idealisierte, ein Gefühl des Unbehagens breitmachte – das Freud als das Unheimliche identifizierte. Zuvor war der bürgerliche Wohnraum noch ein Ort der Melancholie gewesen, in dem die Langeweile zu Hause war (Adorno 1962). Grandvilles Kunst verstörte Baudelaire dermaßen, dass er sich eine Wohnung vorstellte, die sich durch eine Serie von optischen Täuschungen in ein Panoptikum der Unheimlichkeiten verwandelt: „[...] wie in einer Wohnung [...], wo die Möbel die Füße in die Luft reckten und die Schubladen hinein- statt hinauszuschieben wären“ (Baudelaire 1977, S. 323). Der Topos des auf dem Kopf stehenden Tischs ist in der Literatur des 19. Jahrhunderts häufig anzutreffen, so auch in der berühmten Passage des Kapitals, wo Karl Marx unter dem Titel „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ die Verwandlung eines industriell gefertigten Objekts in ein „übersinnliches Ding“ beschreibt (Marx 1962, S. 85). Die Verwandlung von Gegenständen in „magische Dinge“ mit „mystischem Charakter“ zeigt sich in der steigenden Zahl der Weltausstellungen im ausgehenden Jahrhundert. Benjamin stand dem Jugendstil – der in anderen Ländern und Regionen auch unter den Bezeichnungen Fin de Siècle, Sezessionsstil, Art

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nouveau, Belle Époque, Modern Style, Modernismo, Stile Liberty oder gar Wellenstil firmierte – anfangs ablehnend gegenüber, da er ihn als Unterdrückung von Technik deutete: „Sein Rückgriff auf technische Motive geht aus dem Versuch hervor, sie ornamental zu sterilisieren.“ (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 692) Benjamin suchte nach einer Genealogie, die von Grandvilles Karikaturen über die Symbolik Baudelaires nicht nur zu den geschwungenen Formen des Jugendstils, sondern auch zur technischen Rhetorik des Futurismus und zu den Allegorien des Surrealismus führen konnte (Stoessel 1986, S. 438). Angetrieben von seiner Abneigung gegen den Purismus Le Corbusiers propagierte Salvador Dalí 1930 im Rahmen seiner surrealistischen Adaption des Art nouveau dessen Wiederbelebung in der Baukunst als „Verwirklichung verfestigten Verlangens“ (Dalí 1974, S. 134).2 Ganz ähnlich unterstrich André Breton 1933 in der Zeitschrift Minotaure die enge Verwandtschaft zwischen Zeichnung, Skulptur und mediumistischer Malerei. Schließlich empfänden alle „dieselbe Freude am nie enden wollenden Schwung, sei es ein wachsender Farn, ein Ammonit oder eine embryonale Krümmung“ (Breton 1934, S. 234–236).3 Die „aufwühlende ornamentale Jugendstilarchitektur“ des katalanischen Modernismo beschrieb Dalí so: „Keiner kollektiven Anstrengung ist es gelungen, eine so reine, so beunruhigende Traumwelt zu schaffen wie die Jugendstilbauwerke“. In ihnen, so seine psychoanalytische Deutung, verwirkliche sich „der überaus heftige, grausame Automatismus in der Art, wie sich eine Kindheitsneurose abspielt“ (Dalí 1974, S. 134). Von solchen Positionen gestärkt, beabsichtigte Benjamin eine Studie über den Jugendstil zu schreiben. Allerdings musste er bezüglich dieses Vorhabens einen Rückschlag einstecken, als Dolf Sternberger im September 1934 einen Beitrag zum selben Thema veröffentlichte, den Benjamin im Passagen-Werk mehrmals zitiert (vgl. Sternberger 1934). Licht in die Angelegenheit brachte für Benjamin Friedrich Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra, die „sich in erster Linie die tektonischen Elemente des Jugendstils im Gegensatz zu seinen organischen Motiven zu eigen“ mache. Zarathustra liefere „ein genaues Gegenstück zu dem tektonischen Grundphänomen dieses Stils, nämlich dem Überwiegen der Hohlform über die ausgefüllte“ (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 691f.). Die Pausen in der Rhythmik des Propheten Zarathustra fanden ihr Echo in 2 3

Siehe das französische Originalzitat bei Benjamin (1991, Bd. V/2, S. 680). Siehe das französische Originalzitat bei Benjamin (1991, Bd. V/2, S. 682).

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im

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der Artikulation von Leerräumen und Intervallen im Jugendstil – eine Resonanz, die 1908 Verbindlichkeit fand, als Henry van de Velde von Harry Graf Kessler den Auftrag erhielt, eine Prachtausgabe von Also sprach Zarathustra für den Leipziger Insel-Verlag zu gestalten (van de Velde 1992, S. 306). Durch Begebenheiten wie diese schien der Nietzscheanismus – oder besser der Zarathustrastil – die Gedankenwelt der Zeit zu durchdringen (de Cauter 1996, S. 13–26; Ploegaarts 1999). Bereits 1898 hatte van de Velde ein nietzscheanisches Motiv aufgegriffen – das Wechselspiel von Festkörpern und Leerräumen –, als er gegenüber Kessler und dem Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe erklärte, dass jede Linie einen Gegenpart erhalten solle, sodass „einander durchdringende weibliche und männliche Linien“ entstehen könnten (van de Velde 1992, S. 197). Der Jugendstil stieg in der Folge zur erotischen Kunst par excellence auf (vgl. Quiguer 1979, S. 26; Waldberg 1964). Als Emblem dafür hing im Darmstädter Wohnzimmer von Peter Behrens eine Kopie von dessen Der Kuss (1898) an der Wand. Das zuerst als kolorierter Kupferstich in der Zeitschrift Pan veröffentlichte Bild zeigt die einander zugewandten Gesichter zweier Frauen, als würden sie in einem Spiegel miteinander verschmelzen. Um die Verdichtung des narzisstischen Ich zu steigern, treffen sich die Münder zu einem Kuss, während rhapsodisch verschlungene Locken die Liebenden rahmenhaft umwallen (solche fließenden Haarwellen wurden rasch zu einem dominanten Motiv des Jugendstils). Auch die zeitgenössische Literatur war reich an Sinnbildern universaler Fruchtbarkeit, die in Oden auf den sich ständig erneuernden Kreis des Lebens kulminierten. Otto Julius Bierbaum griff dieses Thema in seinem „Faunsflötenlied“ auf, das er Behrens widmete und von dem Maler Heinrich Vogeler4 illustrieren ließ: „Sing, Flöte, dein Gebet der Lust!/ Das ist des Lebens heiliger Sinn.“ (Bierbaum 1901, S. 352) In seinem bekannten Brief an Benjamin vom 2. August 1935 schrieb Theodor W. Adorno: „Anstelle von Innerlichkeit steht im Jugendstil Sexus. [...] gerade weil einzig in ihm das private Individuum sich nicht als innerlich, sondern leibhaft begegnet“ (Benjamin 1978, S. 681). Es folgten Zitate

4

Der Maler und Architekt Heinrich Vogeler wurde durch seine Radierungen sowie

durch Gemälde wie Frühling (1898) oder Melusine (Triptychon, Worpswede, um 1910) bekannt. Er war Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede nordöstlich von Bremen. Rilke hielt sich mehrmals in Worpswede auf und verfasste mehrere Texte über Vogeler; vgl. Hansmann 2011, S. 96–115; Vogeler 1997; Baumann/Losse 1997.

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von Ibsen, Maurice Maeterlinck, Gabriele D’Annunzio und Wedekind, der mit seiner Lulu die Erregung und Befriedigung fleischlicher Lust auf die Bühne brachte (nicht ohne dabei gegen die Regeln der guten Gesellschaft und des guten Theaters zu verstoßen) (Quiguer 1979, S. 74). Wedekinds Figuren hoffen, sich durch die Unterwerfung unter die Macht des Eros von ihren Ängsten zu befreien, auch wenn sie dadurch auf eine Bahn geraten, die ihnen Tod und Untergang bringen muss (Wedekind 1994). Der ungezügelte Lebenstrieb, der sich über die bürgerliche Moral hinwegsetzt, wird als möglicher Ausgleich mit Elementar- und Urkräften in Szene gesetzt (Quiguer 1979, S. 75). Lulu, die unvergesslichste Figur aus Wedekinds Dramen, verdichtet sich über ihr individuelles Wesen hinaus zur Allegorie der Begierde (ebd., S. 79). Benjamin definiert den Jugendstil, das kulturelle Umfeld widerspiegelnd, als „Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität“, die sich des Instruments der Frau bedient (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 394). Aber welcher Typ (oder welches Wunsch- und Trugbild) der Frau ist hier gemeint (Loubet 2012)? Claude Quiguer identifiziert in seiner brillanten Studie Femmes et machines de 1900 zwei Pole des Weiblichen um die Jahrhundertwende: der eine ist Lulu, die tragische Heldin und Erneuerin der Begierde, der andere eine bleiche, fleischlose Gestalt, die sich fast ins Nichts verliert (Quiguer 1979, S. 146). Sternberger befasste sich in seinem Aufsatz von 1934 gleichfalls mit dem entkörperten Aspekt des Jugendstils: „Der unmittelbare Leib aus Knochen, Fleisch, Muskeln, Haut, Nägeln und Haaren schien zu verblassen, ward aufgelöst in dies treibende Sehnen und verschlungen in dies allgemeine Wachsen – ,der Leib war nirgend zu finden‘. [...] Aber auch jene ganz feinen, dünnen, fast abgezehrten Mädchenkörper [...] haben eine ursprüngliche Verwandtschaft mit dem Bilde des Astralleibes, sind Seelenleiber.“ (Sternberger 1956, S. 25f.) Jugendliche Lichtwesen dieses Typs entfalten ihre Reize auf den Wandteppichen und Glasfenstern des Fin de Siècle. Besondere Vorliebe genossen offenbar weiß gekleidete Feen, Traumgestalten, die auf Zehenspitzen über Blumenwiesen und Lichtungen trippeln, wobei sich ihr jungfräuliches Weiß scharf vom Dunkel des umgebenden Waldes abhebt. In Wedekinds Buch Mine-Haha (1903), von dem Benjamin ein Exemplar besaß, berichtet die Erzählerin von ihrer idealisierten körperlichen Erziehung in einem Internat inmitten eines großen Parks: „Wir fühlten unser Selbst in den Beinen und Füßen beinahe noch mehr als in den Augen und Fingern. Von keinem der Mädchen ist mir im Gedächtnis

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im

Gewoge“

geblieben, wie sie sprach. Ich weiß von jeder nur noch, wie sie ging.“ (Wedekind 1906, S. 76) Die von hohen Mauern umschlossene Anstalt (die in ihrer Organisation an die Haubinda-Schule erinnert) präsentiert sich als Heterotopie mit einem unverkennbar „eroto-topischen“ Aspekt. In dieser geschützten Zone, verborgen vor den Argusaugen der bürgerlichen Moral, können Knaben und Mädchen – seien sie real oder fiktiv – die Voraussetzungen einer freien Erziehung schaffen. Die erotische Stimmung, die von solchen Internaten ausging – utopisch und zum Allermindesten zweideutig –, hat sich wohl am deutlichsten im grafischen Werk von Fidus (Künstlername von Hugo Höppener, 1868–1948) niedergeschlagen. Die symbolistischen Drucke dieses Künstlers beschwören eine verspielt-sinnliche Welt, in der nackte Mädchen in monderleuchteten Gärten Reigen tanzen und in der Jünglinge ihre Arme zum Lichtgebet erheben (de Bruyn 2001). Sich auf diese Werke beziehend, kommentiert Benjamin: „Der Jugendstil forciert das Auratische. Nie hatte die Sonne sich besser in ihrem Strahlenkranze gefallen; nie war das Auge des Menschen strahlender als bei Fidus“ (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 692). In der übersteigerten Reinheit dieser etwas platt geratenen Jugendstilfiguren schlummert eine unterdrückte Sinnlichkeit (Quiguer 1979, S. 195). Benjamin sah in diesen Eigenarten ein sich selbst wiederholendes Klischee, das für Huren, Lesben und blasse Jungfrauen charakteristisch sei, denn diese hielten „sich rein von Fruchtbarkeit, wie der Priester sich von ihr rein erhält“ (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 690). Dieser Punkt war ihm so wichtig, dass er ihn wiederholte: „Die Pointe der technischen Welteinrichtung liegt in der Liquidierung der Fruchtbarkeit. Das Schönheitsideal des Jugendstils bildet die frigide Frau“ (ebd., S. 694). Sodann machte er sich daran, eine eigene Typologie der Weiblichkeit der Jahrhundertwende zu entwerfen, für die er in der Literatur drei Linien oder Schemata ausmachte: die „hieratische Linie“ (von Stéphane Mallarmé bis Stefan George), die „Linie der Perversion“ (von Baudelaire bis Oscar Wilde und Aubrey Beardsley) und schließlich die „Linie der Emanzipation“ (von den Blumen des Bösen über Ibsen bis zum Zarathustra) (ebd., S. 691). Dieselbe Triade ist in der bildenden Kunst nachweisbar. So erscheint der hieratische Aspekt in Max Klingers Penelope (1895) oder im Antlitz verführerischer, verzaubernder Medusen wie jener von Fernand Khnopff oder Franz von Stuck (Leeming 2013; Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2007; Königlich-Belgische Kunstmuseen 2004; Mendgen 2002). Der perverse Strang durchzieht die Gemälde von Giovanni

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Segantini und Ferdinand Hodler (Christen 2008) wie auch die Bild- und Bauwerke von Hermann Obrist und August Endell. Die Emanzipation manifestierte sich in den Tanzvorstellungen von Loïe Fuller und Isadora Duncan, wahrhaftigen sculptures vivantes (Laffon 2009; LaMothe 2006), sowie in den Bildern von Fidus und Vogeler (Abb. 2).

Abb.  2  Heinrich

Vogeler,

Titelseite

Deutsche

Kunst

und Dekoration, April–September 1902, Bd. 10, 2. Sonder-Heft mit einer begleitenden Studie von Rainer Maria Rilke

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„Wohnen

im

Gewoge“

Innerhalb dieser Taxonomie und neben Behrens’ emblematischem Kuss zählt eine weitere Figur zum Grundrepertoire des Jugendstils, nämlich jene des Liebespaars, das sich nahekommt, ohne sich zu berühren (Quiguer 1979, S. 178). Die aus dieser berührungslosen Nähe resultierende Choreografie von Gesten und Blicken illustriert vielleicht am besten Die Liebe der Seelen (1900), ein Gemälde des belgischen Symbolisten Jean Delville. Benjamin beobachtete eine derart unerfüllt bleibende körperliche Nähe bereits bei Ibsen: „Motiv der Unfruchtbarkeit: Ibsens Frauengestalten schlafen nicht mit ihren Männern; sie gehen ,Hand in Hand‘ mit ihnen irgend etwas Schrecklichem entgegen“ (Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 690). Die korrespondierende Geometrie des Jugendstils konstruiert Gemeinsamkeit als Abstand wahrende Annäherung. Damit verwandt ist die Kategorie der Sehnsucht – gleichfalls ein Leitmotiv des Jugendstils, das zugleich moralische und ästhetische, lyrische und visuelle Aspekte vereinte. Das Wort „sehnen“ bezeichnete um 1900 das Leiden einer Seele an unterdrückten Wünschen, die imstande waren, gewaltige Kräfte freizusetzen (Quiguer 1979, S. 185). Diese Energie erregte die Aufmerksamkeit mehrerer zeitgenössischer Kommentatoren, darunter auch die Sternbergers, der in Bezug auf ein platonisch vereintes, doch getrennt lebendes Paar bemerkte, ein solches Sehnen könne abstrakte Vibrationen, ja sogar grafische Wellen auslösen, die „wie Drähten“ folgend den leeren Raum erfüllen (Sternberger 1938, zit.  n. Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 694). So verwandelte sich das Interieur in ein Behältnis berauschender Gefühle, Launen und Neigungen, die heikle und prekäre Situationen im zwischenmenschlichen Umgang hervorriefen. Binnen kürzester Zeit nahmen sich Künstler und Schriftsteller dieser Thematik an, darunter Edith Wharton, die in ihrer Kurzgeschichte The Fullness of Life (1891) eine Architektur enttäuschter Hoffnungen entwarf: „Manchmal dachte ich, die Natur einer Frau ist wie ein großes Haus mit vielen Zimmern: Da gibt es die Eingangshalle, durch die jeder kommt, der ein und aus geht; den Salon, in dem man förmliche Besuche empfängt; das Wohnzimmer, das den Familienmitgliedern vorbehalten ist; doch dahinter, weit dahinter, gibt es noch andere Zimmer, deren Türklinken niemand herabdrückt; niemand kennt den Weg dorthin, niemand weiß, wohin sie führen; und im innersten Zimmer, im Allerheiligsten, sitzt einsam die Seele und lauscht auf Schritte, die niemals kommen“ (Wharton 1968, zit.  n. Gilligan 2003, S. 225). Für Wharton wie für viele andere frustrierte Frauen aus dem Bürgertum war der weibliche Körper ein Haus, in dem gewisse Räume

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Abb.  3  C a r l

Max

Rebel,

In

Sehnsucht,

1902

unerforscht blieben – eine Absage an die Idee des Verzichts, durch den die aristokratische Zimmerflucht nur zur Hysterie führen musste und durch den jener geheimste Raum, das sancta sanctorum, symbolisch leer blieb (Carroy 1993, S. 455f.). Aus diesem Grund war das bürgerliche Heim wie der Körper eines Patienten angeordnet, mit Zimmern als Gefühlsmetaphern. Das Interieur teilte sich in erogene und hysterogene Zonen. Der Prozess des Sehnens glich einer steten Akkumulation potenzieller Energie, ähnlich einer elektrischen oder magnetischen Ladung, die in zwei Zuständen existierte: organisch emittiert und künstlich induziert. Gefangen zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen gaben diese Elementarkräfte, die hysterische Krämpfe auszulösen vermochten, den Anstoß zur Erotisierung der Räume (Quiguer 1979, S. 191) (Abb. 3). Die physische Transformation diverser Energien in konkrete Form scheint ein Bindeglied zu sein, das die verwobenen Stränge des Symbolismus, des Jugendstils, des Expressionismus und der Kristallschöpfungen von Paul Scheerbart und Bruno Taut vereint (Prange 1991). So

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„Wohnen

Abb.  4  und  5  Victor

im

Horta,

Erkerfenster

des

Gewoge“

Hôtel

Max

Hallet,

Brüssel

fängt Hermann Obrists biomorphe Zeichnung Phantastische Blüte (1896) die plastische Kristallisation eines erotischen Schauers ein (Adam 2009, S. 94; Franz 2007). Die Fassade und die Innenräume des Münchner Ateliers Elvira, 1896/97 von August Endell entworfen, wurden von einem Gewebe fließender Ornamente belebt (Herz/Bruns 1985). Der Bildhauer Pierre Roche überzog (mit dem Architekten Henri Sauvage) die Wände von Loïe Fullers Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1900 mit schleierartigen Wellen, die dem wehenden Kostüm der Tänzerin nachempfunden waren (Cooper Albright 2007; Birnie Danzker 1995). Bei dem von Victor Horta erbauten Hôtel Max Hallet in Brüssel (1903–1906) scheinen Ziegel, Stein, Holz, Metall und Glas miteinander zu verschmelzen. Aus der Rückwand an der Gartenseite schwellen drei Erkerfenster hervor, die ein dreiteiliges Glashaus bilden (Aubry 2006, 2005a, 2005b) (Abb. 4 und 5). Und in Scheerbarts Roman Münchhausen und Clarissa (Scheerbart 1906) taucht die Idee beweglicher Trennwände auf (Qui-

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guer 1979, S. 372). Allen diesen Beispielen aus der Jugendstilzeit waren die Attribute Mobilität und Transparenz gemeinsam. Die synthetische Hybridisierung, die ihnen zugrunde lag, übertrug die Versuche des anbrechenden 20. Jahrhunderts, Tiermorphologien nachzubilden, auf die Architektur, um zu einer allumfassenden Plastizität zu gelangen, die als lebendig empfunden wurde. Die neuen Regeln in Kunst und Architektur um 1900 waren also einerseits natürlich, den Gesetzen des Wachstums,

Abb.  6 Glasfenster von Raphaël Évaldre, nach einer Zeichnung von Paul

Henri

Privat-Livemont,

Saintenoy,

Hôtel

im

Wohnzimmer

Paul

Saintenoy,

des

Architekten

Brüssel,

1900

159

„Wohnen

im

Gewoge“

des Gezeitenwechsels verpflichtet, und andererseits darauf ausgerichtet, künstliche Monstren hervorzubringen – oder, wie Sternberger sich ausdrückte, „alles hier verwandelt sich in irgendetwas anderes“ (Sternberger, zit.  n. Quiguer 1979, S. 3915). Benjamin bezeichnete in seinem eigenen Versuch der Interpretation des Jugendstils diesen als „erste[n] Versuch, mit der Freiluft sich auseinanderzusetzen. [...] Diese Geburt des plein airs aus dem Geiste des Interieurs ist der sinnliche Ausdruck für die geschichtsphilosophische Situation des Jugendstils: er ist das Träumen, man sei erwacht“ (Benjamin 1991, Bd. V/1, S. 496). Nähme man Benjamin beim Wort, könnte man die Bauwerke des Jugendstils als „Freiluftarchitektur“ bezeichnen oder mit Rilke (der vom Motiv des Wellenschlags besessen war) fordern, dass kein Dach über dem Kopf bleibe als die Welle: „Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge/ und keine Heimat haben in der Zeit.“6 Genau diesen Wunsch verbildlicht ein Glasfenster, das Raphaël Évaldre und Henri Privat-Livemont 1898 für das Wohnzimmer des Brüsseler Architekten Paul Saintenoy entwarfen: La Vague überblendet die ikonografischen Symbole der brechenden Woge und der fließenden weiblichen Locken zu einer Arabeske (Abb. 6). Interieur und Exterieur verdrehen sich zu einer topologischen Schleife. Das zum Interieur gehörende Glasfenster präsentiert auf seiner durchsichtigen Fläche eine Strandszene, also ein Bild der Außenwelt. Die Außenarchitektur im Innenraum ist in ein ganzheitliches Raumkonzept eingebettet. Lampen und Lichtschalter, Rohre und Hähne, Stahlrippen und Fliesen fügen sich zu einer plastischen, pflanzen- und tierartigen Gesamtform – nicht ohne eine Serie von Mutationen einzuführen, die fähig ist, Trennwände in lebende Membranen zu verwandeln. Indem er das Bauwerk in eine durchlässige Haut hüllt, bringt der Jugendstil die Außenschale zur Kristallisation und verleiht den Astralkörpern einen Schleier, dessen Transparenz Scheerbart sicherlich gefallen hätte.

5

Übersetzt von Bernhard Geyer.

6 Rainer Maria Rilke, Die frühen Gedichte, Leipzig: Insel 1913, Motto auf S. 1, zit.  n. Benjamin 1991, Bd. V/2, S. 684.

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„Wohnen

im

Williams 2007 Williams, John Alexander: Turning to Nature in Germany. Hiking, Nudism and Conservation, 1900–1940, Stanford: Stanford University Press 2007.

A bbi l d u ngsnac hw e is e Abb. 1: Karl Schmoll von Eisenwerth, Meeres Idylle, im Badezimmer, Haus Ludwig Habich, um 1901, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Oktober 1901–März 1902, Bd. 9, S. 27. ETH-Bibliothek, ETH-BAU, Zürich.

Abb. 2: Heinrich Vogeler, Titelseite Deutsche Kunst und Dekoration, April–September 1902, Bd. 10, 2. Sonder-Heft mit einer begleitenden Studie von Rainer Maria Rilke, S. 299. ETH-Bibliothek, ETH-BAU, Zürich.

Abb. 3: Carl Max Rebel, In Sehnsucht, 1902, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Oktober 1901–März 1902, Bd. 9, S. 272. ETH-Bibliothek, ETH-BAU, Zürich.

Abb. 4 und 5: Victor Horta, Erkerfenster des Hôtel Max Hallet, Brüssel. Fotografie: Georges Teyssot.

Abb. 6: Glasfenster von Raphaël Évaldre, nach einer Zeichnung von Henri Privat-Livemont, im Wohnzimmer des Architekten Paul Saintenoy, Hôtel Paul Saintenoy, Brüssel, 1900. Fotografie: Christine Bastin und Jacques Evrard, Brüssel.

164

Gewoge“

Sibylle Trawöger

Ein Blick unter die Matrize.

Annäherungen an die Kontemplation mittels der „Ästhetik des Performativen“ ausgehend von der Eremitage des Linzer Mariendoms

Das Projekt „Turmeremit“ im Mariendom1 in Linz wurde 2009 initiiert, als Linz Kulturhauptstadt Europas war. Dafür wurde im Turm der Kirche auf ca. 68 Metern Höhe eine bewohnbare Stube eingerichtet.2 Bereits das sechste Jahr besteht für „spirituell Suchende“ die Möglichkeit, als „Eremit/in“ diese Stube eine Woche lang zu bewohnen. Dieses Angebot wird von vielen Menschen aus unterschiedlichsten Altersgruppen (die Altersspanne der bisherigen „Eremit/innen“ liegt zwischen 17 und 85 Jahren), aus unterschiedlichsten sozialen Kontexten und mit unterschiedlichsten (a‑)religiösen3 bzw. weltanschaulichen Auffassungen genützt, um den Lebensalltag zu unterbrechen, sich zu erholen, innezuhalten und der eigenen „spirituellen Suche“ nachzugehen. Persönliche wie gesellschaftlich gängige Lebens- und Orientierungskonzepte – die ich im Zuge meiner Annäherungen im metaphorischen Sinne mit dem Terminus „Matrize“ überschreiben möchte – werden in Zeiten des bewussten „Rückzugs in die Stille“ meist konkret bearbeitet, auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls verabschiedet. 1

Die Bauzeit der flächenmäßig größten Kirche Österreichs im neugotischen Baustil

ist auf 1862–1924 zu datieren. Der Mariä-Empfängnis-Dom (kurz: Mariendom) ist Kathedrale der Diözese Linz und Pfarrkirche. Ausführlicheres zum Mariendom findet sich bei Voglhuber 2004. 2

Die Eremitage des Mariendoms ist ca.6 m2 groß, mit angrenzender Toilette. Sie ist

mit dem Nötigsten ausgestattet: einem Tisch mit Stuhl, einer kleinen Kochnische mit Wasserzu- und -ablauf, elektrischem Stromzulauf sowie einer regulierbaren Heizung, einer Garderobe und einem Bett mit einer Matratze. Das kleine Fenster erlaubt einen Blick nach Osten über die Stadt. 3

Nicht alle Teilnehmenden fühlen sich der römisch-katholischen Kirche zugehörig.

Einige würden sich selbst nicht als „religiös“ bezeichnen.

167

Ein

Blick

unter

die

Matrize

Im Juli 2013 musste die Matratze der Eremit/innenstube ausgewechselt werden. Die Denk-, Erholungs- und Gebetsprozesse der Eremit/innen hatten ihre Spuren hinterlassen; die alte Matratze hatte ausgedient. Dieser Matratzenwechsel kann einerseits als Bild für ein persönliches Geschehen während Exerzitienzeiten stehen und andererseits als Bild für einen Matrizenwechsel im wissenschaftlichen Kontext dienen. Im Folgenden soll über diesen Bildimpuls ein ausgewählter Grundaspekt einer christlichen Gebetspraktik, der Kontemplation, mittels der Überblendung mit der kunst- und kulturwissenschaftlichen Theorie der „Ästhetik des Performativen“ verdeutlicht werden. Das Eremit/innenprojekt greift mit seinem Titel und der Form der Umsetzung4 auf eine seit dem Frühen Christentum bestehende Tradition zurück: auf die Exerzitien. Exerzitien bezeichnen allgemein unterschiedlichste Arten von geistlichen/spirituellen Übungen, denen für eine gewisse Zeit intensiv nachgegangen wird und die die Übenden prägen.5 In Bezug auf das Wortspiel „Matratze/Matrize“ des vorliegenden Bandes könnten Exerzitien als Matrizenpräger, also – in metaphorischer Anlehnung an den frühen Buchdruck – als Patrizen verstanden werden; denn die vollzogenen Praktiken sowie die Reflexions- und Gebetsprozesse während der Exerzitien prägen eine spezielle spirituelle Haltung, die sich wiederum auf Alltagsvollzüge auswirkt. Diese ersten Annäherungen an die Exerzitien- oder Eremit/innenzeit werden mit der Kontemplation, speziell der kontemplativen Gebetsprak-

4 In der Fasten- und Osterzeit, der Sommer-, der Advents- und Weihnachtszeit bewohnt jeweils von Freitag bis Freitag – also genau sieben Tage lang – eine Person die Eremitage. Die jeweilige Person zieht sich für diesen Zeitraum bewusst vom Alltag in die „Stille“ zurück. In der Zeit des „Rückzugs in die Stille“ lässt man möglichst wenig äußere Einflüsse auf sich einwirken. Konkret heißt das z.   B., dass Handys, Computer, Bücher, Radio usw. in dieser Zeit reduziert bis gar nicht verwendet werden. Täglich zur Mittagszeit erhält der/die Eremit/in einen spirituellen Impuls und findet am Stiegenaufgang des Turms einen Rucksack mit einem Mittagessen sowie Abendessen und Frühstück vor. Einmal am Tag findet zudem ein Gespräch mit der geistlichen Begleitung statt. Die/Der Eremit/in wird von einer Person begleitet, die bereits auf eigene Erfahrungen mit spirituellen Suchprozessen zurückgreifen kann, diese eingehend reflektiert hat und somit befähigt ist, auch andere Menschen auf ihrem individuellen Weg zu begleiten. (Eine Begleitung des Rückzugsprozesses ist in der christlichen Tradition, z.  B. bei den Wüstenvätern/-müttern, dem Starzentum usw. verankert.) Die restliche Tagesgestaltung obliegt der Verantwortung der Eremit/innen. 5 Ausführlicher vgl. z.  B. Imhof 2009, S. 1106f.

168

Sibylle Trawöger

tik, noch verdeutlicht.6 Beten verstehe ich als ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch, das allerdings nicht auf ein rein verbales Geschehen reduziert werden darf.7 Beim kontemplativen Gebet versucht sich der/die Betende auf das je eigene Dasein und auf das Dasein Gottes im gegenwärtigen Moment absolut und je von Neuem einzulassen. Es wird versucht, an diskursiven Gebeten, bildhaften Vorstellungen und letztendlich an jeglichen Matrizen nicht anzuhaften, um sich so auf die Wahrnehmung der (Gottes‑)Gegenwart einzulassen. Ein solches als geglückt erfahrenes Dasein in der (Gottes‑)Gegenwart wird in der christlichen Tradition oftmals mit „Bei-sich-Sein“ (lat. secum esse) umschrieben.8 Die Wahrnehmung der ereignenden Gegenwart vollzieht sich methodisch vorerst über die gerichtete Aufmerksamkeit auf die Materialität des Körpers und dessen leibliche Regungen. Konkret wird in einzelne Bereiche des Körpers hineingespürt und die Aufmerksamkeit unter anderem auf die Rhythmik der Atmung „gerichtet“.9 Es gibt in der (orthodox‑)christlichen Tradition aber auch derzeit unterschiedliche Varianten des kontemplativen Gebets, welches auch beispielsweise als „Herzensgebet“, „Jesus-Gebet“ oder „Ruhegebet“ bezeichnet wird. Die starke Betonung von Körper und Leib ist aber allen Varianten inhärent10 – mit der „gerichteten“ Aufmerk-

6 Es gibt natürlich eine Vielzahl von Exerzitien-, Gebets- und Meditationsformen, und so mag meine Auswahl – also die Beschränkung auf die Kontemplation – auf den ersten Blick als willkürlich erscheinen, allerdings möchte ich mit Willers 2000 und anderen argumentieren, dass ein kontemplativer Grundzug allen Formen des Gebets und der Meditation inhärent ist. 7 Vgl. auch Koll 2007, S. 139. 8

Dieses „Bei-sich-Sein“ meint keinesfalls ein „Sich-Verschließen“ vor der Welt, den

Anderen und vor Gott oder ein Verharren in der Passivität. Ganz im Gegenteil ist damit angedeutet, dass nur der Mensch, der ganz „bei sich sein“ kann, auch ganz in der Welt bei den Menschen und bei Gott sein kann. Vgl. zum Beten im Sinne des „Bei-sich-Seins“ Willers 2000. 9 Zur ausführlichen Einführung ins kontemplative Gebet vgl. z.  B. Jalics 2011. 10 Hinter den Termini „Körper“ und „Leib“ stehen vielfältige ausdifferenzierte Diskurse, auf die im Folgenden nicht eingegangen wird. Die Relevanz des Körpers/Leibes in Spiritualität und Theologie soll an dieser Stelle aber über zwei Zitate eines zeitgenössischen „Lehrers“ der Kontemplation, Emmanuel Jungclaussen, belegt werden: „Der Leib ist der Tempel des Heiligen Geistes und das Instrument der Gottes-Begegnung.“ (Jungclaussen 2013, S. 12) „Sich selbst im Leib als Kirche zu erleben, sollte jedes Mal eine Art Heimkehr sein: Ich kehre heim zu mir selbst, in meinen Leib, weil dort jemand [Gott] auf mich wartet.“ (Ebd., S. 28; zur „Heimkehr“ vgl. die Ausführungen zu habitare secum) Weiterhin sei z.  B. auf die Arbeit des Fundamentaltheologen René Buchholz verwiesen: „Das Somatische nach seiner stofflichen, widerständigen, sinnlichen Seite ist

169

Ein

Blick

unter

die

Matrize

samkeit auf die Materialität der Leiblichkeit kann unter anderem von den der Gottesbegegnung hinderlichen Matrizen Abstand genommen werden. Zur fundamentaltheologischen11 Annäherung an die Kontemplation ist die Auseinandersetzung mit der „Ästhetik des Performativen“ von großem Gewinn. Exemplarisch zeigt sich das an einem zuvor erwähnten Grundaspekt der Kontemplation – nämlich der Körperlichkeit und Leiblichkeit unter starker Betonung der Prozess‑ bzw. Ereignishaftigkeit. Diesen Aspekt überblende ich mit ausgewählten Überlegungen des Philosophen Dieter Mersch zur „Materialität“. Merschs posthermeneutische Einbettung seiner „Ästhetik des Performativen“ sensibilisiert auch in hohem Maße für die Phänomene der ständigen Produktion und Reproduktion von Sinnmatrizen. „Posthermeneutik“ bestimmt Mersch als eine „Überschreitung oder einen Sprung aus jenem ‚Apriori der Interpretation‘ heraus [...] – ein Sprung oder eine Transzendenz, welche jedoch gleichzeitig nicht umhinkönnen, innerhalb des Schemas der Interpretation und des Mediums der Diskursivität zu verbleiben“ (Mersch 2010, S. 9). Posthermeneutik mahnt also im „Medium“ des wissenschaftlichen Diskurses ein, dass Sprache und die damit verbundenen Differenzierungsleistungen den ereignenden präsenten Moment nicht gänzlich zu erfassen vermögen. Den Terminus „Hermeneutik“ fasst Mersch sehr weit: „Nicht nur beinhaltet er im engeren Sinne das Schema der Interpretation, das, was im allgemeinsten Sinn auf ‚Verstehen‘ geht, sondern auch sämtliche Register der Erzeugung von Sinn durch Differenzsetzung, sei es durch Zeichen oder Systeme der Unterscheidung, sowie die Modelle oder Methoden ihrer Reflexion.“ (Ebd., S. 11f.) Hermeneutische Unternehmungen in diesem weiten Sinne können das „Unabgegoltene“, das „Überschüssige“, das „Sich-Entziehen-

[...] nicht bloß Mittel oder Umweg der Selbstmitteilung Gottes, sondern gehört gerade in der inkarnatorischen Zuspitzung zu ihrer bleibenden Konkretion.“ (Buchholz 2005, S. 401) 11

Versteht man die Fundamentaltheologie als diejenige Disziplin der Theologie,

die u.  a. darum bemüht ist, einzelne Glaubensthematiken (vorrangig aber nicht nur in deren konfessionellen Ausprägungen), den (christlichen) Glauben als Ganzes sowie die theologische Reflexion innerhalb der gegenwärtig vorherrschenden Plausibilitäten in Wissenschaft und Gesellschaft zu verantworten, so ist sie ein genuin interdisziplinäres Unternehmen. Der interdisziplinäre Dialog mit der Philosophie hat eine lange Tradition. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit kunst- und kulturwissenschaftlichen Theorien scheint mir zudem – v.  a. im Bereich der Etablierung einer „theologischen Wahrnehmungslehre“ – äußerst fruchtbar.

170

Sibylle Trawöger

de“ (ebd., S. 13), das „Vorgängige“, das „Unverfügbare“ (Mersch 2011, S. 15) bzw. das „Widerständige“ (Mersch 2010, S. 14) nicht erfassen. Auf die Grenzen hermeneutischer und semiotischer Methoden je von Neuem aufmerksam zu machen, ist ein Anliegen der Posthermeneutik. In diesem posthermeneutischen Umfeld ist Merschs „Ästhetik des Performativen“ anzusiedeln.12 Sein Verständnis von Ästhetik wird wesentlich aus der Artistik13 und der Aisthesis14 gespeist. Der Bezug von aisthetischer Ästhetik und Artistik, als „Praxis der Kunst“, verlangt „sich [...] Erfahrungen auszusetzen“ (Mersch 2011, S. 161f.): Mersch baut seine „Ästhetik des Performativen“ auf den Erfahrungsqualitäten auf, die avantgardistische und post-avantgardistische Kunst15 innerhalb der Kunstgeschichte seines Erachtens erstmals eindrücklich zugänglich machen. Die Avantgarde breche mit dem seit der Renaissance bestehenden Verständnis der Werkästhetik16 und die Post-Avantgarde vollziehe die „performative Wende“ hin zur Ereignisästhetik (ebd., S. 163). Im Kontext der Ereignisästhetik meint 12

Mersch bezieht sich insbesondere auf die Ästhetik und die Kunst der (Post‑)Avant-

garde, um wesentliche posthermeneutische Aspekte herauszuarbeiten: „Die Ästhetik scheint die bevorzugte Domäne zu sein, worin sich ein gleichermaßen Undarstellbares wie Rätselhaftes manifestiert, das sich nicht auf Hermeneutik reduzieren lässt.“ (Mersch 2010, S. 16) 13 Mit Artistik ist die „Praxis der Kunst“ gemeint. Merschs Ästhetik geht nicht vollständig in der Theorie auf, sondern lehnt sich formal und inhaltlich an die künstlerische Praxis/Forschung an (vgl. Mersch 2011, S. 161). 14

Mersch ist zu jenen zeitgenössischen Ästhetiker/innen zu zählen, die zwischen

„ästhetischer Wahrnehmung“ und „allgemeiner Wahrnehmung“ keine unüberwindbare Trennlinie ziehen, sondern Ästhetik aus der Wahrnehmung (griech. aisthesis) heraus (neu) verstehen. Sein Ansatz steht demnach der Neuen Ästhetik von Gernot Böhme (2001) nahe sowie der Aisthesis von Wolfgang Welsch (1993) und lässt sich gegenüber Martin Seels (1997) Position abgrenzen. Analog dazu nehme auch ich zwischen einem ästhetischen und einem religiösen/spirituellen Wahrnehmungsprozess keine absolute Trennung vor und nütze die „Ästhetik des Performativen“ zur Analyse und Systematisierung von „religiösen Wahrnehmungsprozessen“. 15

„So lässt sich die Geschichte der Avantgarde aus der Figur eines Dreiecks ent-

ziffern: Konstruktivismus, Dadaismus und Surrealismus bilden die drei Seiten einer Konstellation, auf die sich sämtliche nachfolgenden Projekte beriefen und aus denen sie ihre spezifische Kraft und Dynamik bezogen.“ (Mersch 2011, S. 251) Im Kontext der Post-avantgarde geht Mersch auf unterschiedliche Künstler/innen ein. Die Werke von Joseph Beuys (vgl. ebd., S. 266–278) und John Cage (vgl. ebd., S. 278–289) werden einer ausführlichen Analyse unterzogen. 16 „Die ‚Werkästhetik‘ ist eine relativ junge Erfindung. Sie beschränkt sich auf den schmalen Zeitkorridor der letzten drei- bis vierhundert Jahre. Von ‚Kunst‘ spricht denn auch die Philosophie seit Hegel, vorher galt die Rede von den ‚schönen Künsten‘.“ (Mersch 2011, S. 166)

171

Ein

Blick

unter

die

Matrize

„Performativität [...] zunächst Akt, Vollzug, Setzung. Setzungen gründen nicht vorrangig in Handlungen, sondern in Ereignissen.“ (Ebd., S. 9) „Setzung“ will Mersch „in der Bedeutung einmaliger Statuierung“ verstanden wissen (ebd., S. 246) und betont damit den unvergleichbaren Charakter von Setzungen. An der Setzung, die eng mit dem Ereignis verbunden ist, wird zudem das Moment der Intentionslosigkeit hervorgehoben. Folgend verliert die kategoriale Trennung von Akteur/in und Rezipient/in ihren Nutzen, alle sind am Vollzug Beteiligte und werden vom Vollzug „bestimmt“. Wesentlich am Ereignis ist demnach der nicht-intentionale Charakter, der Widerfahrnischarakter. In vier Punkten soll das „Widerfahrnis“ (Mersch 2002, S. 38) konkretisiert werden: (1) Das Widerfahrnis geht von dem/der Anderen aus. Der Alterität wird Vorrang eingeräumt. (2) Das Widerfahrnis erscheint im paradoxen Geschehen des Entzuges. Erscheinen meint Ereignen.17 Mit Erscheinen, bzw. Ereignen, wird wiederum die Prozesshaftigkeit betont. Inhaltlich wird – in losem Anschluss an Lyotard – dem „Dass“ vor dem „Was“ Priorität eingeräumt. Dieses „Dass“ umschreibt Mersch als „das ‚Andere‘ des Denkens, das, was sich nicht seinen Kategorien und Zeichen fügt: das ‚Entgegenkommende‘, das in die Wahrnehmung hineinsteht, die ‚Einzigartigkeit des Augenblicks‘, die sprachlos macht, oder die ‚Differenz‘, die keinen Namen duldet, vielmehr aus der Fassung bringt und entsprechend Begriff und Zugriff entmächtigt“ (Mersch 2011, S. 11). Das „Dass“ erscheint im Modus des Entzugs. Entzug meint dabei zweierlei: zum einen, dass das, was erscheint, in der Ambivalenz von Präsenz und Absenz erscheint und somit keinesfalls vollständig in sprachlichen Kategorisierungsleistungen eingefangen werden kann; und zum anderen wird mit dem Terminus „Entzug“ der prozesshafte Charakter des Erscheinens angedeutet – sozusagen das „Ziehende“ am „Entzug“ in Richtung zum Anderen hin, zur Alterität, die sich eben einer vollständigen intentionalen Bemächtigung entzieht.

17

Das substantivierte Verb hebt die Dynamik des Geschehens noch deutlicher hervor

als das Substantiv „Ereignis“.

172

Sibylle Trawöger

(3) Es bedarf einer bestimmten Haltung des wahrnehmenden Subjekts, um die Aufmerksamkeit auf das „Dass“ des Widerfahrnisses zu richten. Diese Haltung wird unter anderem mit den Erörterungen zum „Nichtblick“ konkretisiert (Mersch 2002, S. 96). Der „Nichtblick“, mit dem ein „nichtintentionales Schauen“ bezeichnet ist (ebd.), kann mit der kontemplativen Haltung verglichen werden. Es geht nicht um eine ergebnisorientierte, wertende Beobachtung eines Phänomens oder Vorgangs, sondern um ein „Gewahren“ dessen, was sich zeigt, indem es sich zeigt. Dieses Gewahren setzt eine Offenheit gegenüber dem voraus, was in einer Ambivalenz von Präsenz und Absenz im „Widerfahrnis des Anblicks“ angeht. Dem ereignenden „Entgegenkommenden“ kann in der Haltung des „Nichtblickes“ nicht ausgewichen werden. (4) Mersch betont die Unmöglichkeit, sich der Reaktion auf das Widerfahrnis zu enthalten. Selbst, wenn nicht offensichtlich oder aktiv auf ein bestimmtes Ereignis reagiert wird, ist es unmöglich sich des „Antwortens“ zu entziehen. Jedes Schweigen, Nichtbeachten usw. ist eine „Antwort“. Sobald sich das Ereignis ereignet, kann man sich der persönlichen Verantwortung nicht mehr entziehen. Anhand der engen Verknüpfung von Antwort und Verantwortung zeigt Mersch die Verbindung einer Ästhetik, im Sinne der Aisthesis, zur Ethik auf. Das in den vier Punkten verdeutlichte Widerfahrnis wird insbesondere bei der „Setzung“ der „Materialität“ relevant. Materialität und somit auch Körper oder Leib werden nicht als statisch gegeben angesehen, sondern in ihrer widerfahrenden Ereignishaftigkeit bedacht. Fokussiert wird die „Evokation“ des Materiellen (ebd., S. 83).18 Im Wahrnehmungsakt wird das Hauptaugenmerk nicht auf den Inhalt des Prozesses gelegt, sondern auf das jeweilige „Dass“ des Ereignens. Der posthermeneutische Grundduktus mahnt an, dass dieses „Dass“ des Widerfahrnisses 18

Vgl. auch Mersch 2002, S. 134: Es „ist unter dem Ausdruck ‚Materialität‘ kein

vordergründiges Stoffliches zu verstehen, vielmehr etwas, was sich von dort her erst ereignet: Erscheinen, das kein ‚Etwas‘ beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein ‚Wirken‘, das geschieht. Seine Form ist das Ereignen, sein Zeitmodus das absolute Präsens: der Augenblick.“ Die vielen weiteren Anknüpfungspunkte zur religiösen kontemplativen Praktik, die im Zuge dieses Artikels nicht verfolgt werden können, wie an diesem Zitat erkennbar der Augenblick bzw. das Präsens, liegen auf der Hand.

173

Ein

Blick

unter

die

Matrize

nicht vollständig auf den Begriff zu bringen ist. Mithilfe von Merschs Reflexionen zur „Setzung“ bzw. zum „Ereignen“ der „Materialität“ kann der hohe Stellenwert der Körperlichkeit und Leiblichkeit innerhalb von (kontemplativen) Exerzitien betont werden. Die Prozess‑ bzw. Ereignishaftigkeit des „Rückzugs in die Stille“, die an die Wahrnehmungen und Erfahrungen in der Welt gekoppelt ist, wird deutlich. Theologisch kann somit die religiöse Erfahrung bzw. der existenzielle Glaubensvollzug (fides qua creditur) vor der Vermittlung von religiösen Grundinhalten (fides quae creditur) eingehend bearbeitet werden.19 Im Prozess der Erfahrungsgenerierung den Schwerpunkt der Reflexion auf die Wahrnehmung des „Entgegenkommenden“ bzw. dessen, was mir „widerfährt“, zu legen, ist mittels der „Ästhetik des Performativen“ möglich. Die umfassende Wahrnehmung des „Dass“ des Ereignisses kann die Relativität von Deutungsprozessen zum Vorschein bringen. Das ereignishafte Widerfahrnis steht der Intentionalität eines einzelnen Subjekts entgegen. Dennoch darf das Subjekt nicht nur in einer passiven Rolle verstanden werden, denn es ist eine grundsätzliche Offenheit gefordert – die zuvor mit „Nichtblick“ umschrieben wurde –, um für das „Widerfahrnis“ empfänglich zu werden. Durch die kontemplative Praktik kann versucht werden diese Offenheit einzuüben. Das Subjekt bewegt sich demnach im „Chiasmus“20 von Passivität und Aktivität. Ersichtlich wird, dass die „Ästhetik des Performativen“ für die Annäherung an die Kontemplation bzw. an die kontemplative Gebetspraktik äußerst dienlich ist; andere Theorien und methodische Zugänge können diese nicht in der Art und Weise beleuchten. Eine theologische Arbeit mit der „Ästhetik des Performativen“ kann auch aufzeigen, dass die Relevanz der Theorie über den kunstwissenschaftlichen Bereich hinausgeht, und somit unter anderem eine „Ausweitung des [performativen] Feldes“ unterstützen (Fischer-Lichte 2012, S. 131), wie sie beispielsweise die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte konstatiert (vgl. Fischer-Lichte 2004).

19

Zur Differenzierung von „Glaubensakt“ und „Glaubensinhalt“ vgl. z.  B. Böttigheimer

2009, S. 48–50. 20

Merschs philosophisches Denken bedient sich Chiasmen und Paradoxa (vgl. dazu

Mersch 2010, S. 107–109, 205–219). Den Chiasmus zwischen Passivität und Aktivität beschreibt und bearbeitet Mersch mithilfe des Terminus „Passibilität“ (vgl. ebd., S. 92, 334).

174

Sibylle Trawöger

Neben diesen Überblendungen zu Grundaspekten der Kontemplation, nämlich der „Setzung“ der „Materialität“ und dem damit einhergehenden Versuch, Lebens-, Orientierungs- und Sinnmatrizen jeglicher Art nicht anzuhaften, könnte Merschs wissenschaftliches Unternehmen im Gesamten zur Kontemplation in Analogie gesetzt werden. Deutlich wird dies, wenn er der Frage nachgeht: Wie von dem „Dass“, dem Ereignis, von dem, was sich zeigt, sprechen? Es „ginge [...] um die Öffnung einer Aufmerksamkeit, die sich antwortend der Vorgängigkeit dessen zuwendet, was (sich) ereignet und als eine Art ‚Empfänglichkeit‘ beschrieben werden müsste, die nicht schon präformierten Strukturen der Sensibilität gehorcht“ (Mersch 2002, S. 39). Die praktische Ausübung der Kontemplation fordert, ähnlich wie eine posthermeneutisch eingebettete „Ästhetik des Performativen“ im wissenschaftlichen Kontext, dazu auf, Matrizen sensibel wahrzunehmen und gegebenenfalls zu „wechseln“. Zusätzlich wird die Verwobenheit von wissenschaftlichen und persönlichen Sinn- und Orientierungsmatrizen mit dem konkreten leiblichen Dasein in Lebens- und Arbeitsrealitäten, im Sinne des Ereignens von Materialität, offensichtlich. Mit dem Bild des Matratzenwechsels in der Eremit/innenstube kann schlagwortartig festgehalten werden: So wie die Eremit/ innen Prägungen in der Matratze hinterlassen, wie also die „Evokation“ des Körpers die Matratze prägt (welche zur Abnützung und zum Austausch der Matratze führen), so können Denk- und Orientierungsmatrizen der Eremit/innen durch den Aufenthalt (auf der Matratze) in der Eremitage geprägt werden. Die bisherigen Überlegungen zur „Materialität“ bezogen sich vorrangig auf Körper und Leib im kontemplativen Gebetsprozess. Abschließend wird nunmehr die Ausdehnung dieses Konzepts auf Räumlichkeit und Gegenstände angedeutet. Zusätzlich soll der Frage nachgegangen werden, wie ein Grundaspekt von Exerzitien, nämlich das „Bei-sich-Sein“, anfangshaft von Menschen erfahren werden kann, die sich aufgrund äußerer oder innerer Lebensumstände nicht auf einen mehrtägigen „Rückzug“ in der Eremitage bzw. ein anderes Exerzitienangebot einlassen können oder möchten. Am Beispiel des Modells der Eremit/innenstube wird dies angedeutet: Der originalgetreue Nachbau der Eremit/innenstube ist im „Erdgeschoss“ des Mariendoms in einem Seitenschiff prominent ausgestellt und dient der öffentlichen Vermittlung des Eremit/innenprojekts sowie der dahinterstehenden spirituellen und theologischen Grundgehalte. Die „Reproduktion“ der

175

Ein

Blick

unter

die

Matrize

Eremitage wird zu sehen gegeben, im  Sinne des von Irene Nierhaus und Andreas Nierhaus konkretisierten „Zu-sehen-Gebens“ (Nierhaus/ Nierhaus 2014, S. 21).21 Über das „Zeigen“ der Rauminstallation wird nicht nur „Wohnwissen“ (edb., S. 9) über ein mögliches Wohnumfeld zeitgenössischer „Eremit/innen“ generiert bzw. Einblick in einen möglichen Rückzugsort gegeben, sondern es wird – so meine These – auch eine spirituelle Grunderfahrung der Exerzitien, das „Bei-sich-Sein“, anfanghaft vermittelt. Mystiker/innen aus unterschiedlichen Epochen verwenden für die spirituelle Erfahrung des „Bei-sich-Seins“ oftmals Gebäudemetaphern zur Verdeutlichung und sprechen vom „Bei-sichWohnen“ (lat. habitare secum).22 Theresa von Avila beispielsweise spricht diesbezüglich von einer Kammer in der großen Burg, in der die Seele wohnt (vgl. Theresia von Jesu 1973). Das Innerste der Seelenkammer wird als Raum beschrieben, der idealerweise für die Gottesbegegnung empfänglich ist; diese Gottesbegegnung wird häufig mit Lichtmetaphern umschrieben. Türen und Fenster der Seelenkammer als Verbindung und Vermittlungsmöglichkeiten spielen dabei eine große Rolle.23

21

Vgl. dazu die weiteren Ausführungen von Irene und Andreas Nierhaus im von

ihnen herausgegebenen Band Wohnen Zeigen: „Wohnen Zeigen fokussiert [...] jene Akteur_innen, Instanzen und Institutionen, die im ‚mächtigen‘ Zeigen eines ‚richtigen‘ (Be-)Wohnens durch ‚richtig‘ agierende Bewohner_innen die gesellschaftspolitische Dimension des Wohnens verdeutlichen. Im Zeigen wird ein Wohnwissen erzeugt, das an der Organisation der Wohnbauten und Wohnräume wie des Wohnhandelns teilhat, ebenso wie an den Bildwelten des Wohnens und an den Vorstellungen über Bewohner und Bewohnerinnen. Wohnen ist ein Argumentationsnetzwerk, das eine Fülle von Bewertungen, Bedingungen und Artikulationen bereithält und das auf Äußerungen und Darstellungen drängt. D.  h., Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.“ (Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 9) In Anlehnung an die Ausarbeitungen von Nierhaus und Nierhaus muss diese prominente Präsentation der Eremitage – die im Mariendom ganzjährig öffentlich zugänglich ist – auch kritisch hinterfragt werden. Der grundsätzlich damit verbundene Anstoß, nämlich einen Impuls zu setzen, der gängige Lebens- und Orientierungsmatrizen ebenso wie persönliche „Wohnmatrizen“ hinterfragen lässt, sei im Folgenden herausgearbeitet. 22

In der christlichen Tradition ist habitare secum erstmals in den Schriften von

Gregor dem Großen belegt, vgl. Tibi 2014. 23

Die Kunstwissenschaftlerin Heike Schlie bringt das auf Grundlage ihrer Analysen

spätmittelalterlicher Andachtsbilder auf den Punkt: „‚Wo[h]nen‘ ist die Metapher für alles, was sich in der Seele befindet. Dabei spielt die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle: Die Seele ‚sieht‘ Gott und nimmt ihn in sich auf. Deswegen spielen Fenster und Türen als offene und geschlossene Öffnungen der Seelenkammer eine Rolle.“ (Schlie 2004, S. 99f.)

176

Sibylle Trawöger

Abb.  1  Vorderansicht

der

Reproduktion

der

Eremitage

Wie lässt nun die Reproduktion der Eremit/innenstube und deren öffentliche Präsentation im Mariendom die Erfahrung des habitare secum für Kirchenbesucher/innen erahnbar und anfanghaft erfahrbar werden? Der Mariendom ist – wie bereits erwähnt – flächenmäßig die größte Kirche Österreichs, im neugotischen Baustil errichtet und trotz bunter Glasfenster eher dunkel. In Anlehnung an Gernot Böhme kann zudem von „besonderen Atmosphären in kirchlichen Räumen“ gesprochen werden (Böhme 2013, S. 150). Die Kirchenbesucher/innen befinden sich demnach bereits in einer besonderen „Gestimmtheit“,24 wenn sie vor die Reproduktion der Eremit/innenstube treten. Die Eremit/innenstube hebt sich nun vom umgebenden Raum ab: Sie ist klein, hell beleuchtet und zwar einfach, aber modern-wohnlich mit diversen Alltagsgegenständen eingerichtet. Die Konfrontation beider Räume – die hier in Wort- und Bildmaterial (Abb. 1, 2 und 3) nur angedeutet werden kann – führt zu einem irritierenden Bruch in der Raumerfahrung, der im Sinne von

24

Der Terminus „Gestimmtheit“ lehnt sich an Böhmes Verständnis von Atmosphären

an: „Atmosphären haben [...] als gestimmte Räume etwas quasi Objektives.“ (Böhme 2001, S. 49)

177

Ein

Blick

unter

die

Matrize

Mersch auch eine nicht zu übergehende Alteritäts- oder Widerfahrniserfahrung hervorrufen kann, die die Aufmerksamkeit der Kirchenbesucher/innen im „Dass“ der Reproduktion der Eremit/innenstube bündelt. Durch Sichtfenster kann Einblick ins Innerste genommen werden und im Zuge von Domführungen kann der Stubennachbau auch betreten werden. Die Eremit/innenstube kann so als metaphorischer Referenzraum der „Seelenkammer“ betrachtet und erfahren werden. Sie ist idealtypisch präsentiert: hell erleuchtet, gut geordnet und empfangsbereit. Die „Evokation“ der Reproduktion der Eremit/innenstube kann in einem weiteren Schritt zum Überdenken der eigenen Lebenshaltung bzw. von Sinn- und Orientierungsmatrizen führen.25

25

Der Ausstellungsraum bietet somit nicht nur die Möglichkeit, die eigenen Wohn-

umstände zu reflektieren. Der Nachbau der Eremit/innenstube kann auf das Projekt bezogene Fragen aufwerfen (wie z.  B.: Welche Menschen bewerben sich als Eremit/in? Was sind deren Beweggründe?), die weiterführen können und eigene Einstellungen und Haltungen überdenken lassen (Wäre diese Form des Rückzugs für mich passend? Sehne ich mich nach einer Form der Unterbrechung meines Alltags? Was bedeutet Stille für mich? U.  v.  a.  m.) sowie Sehnsüchte wachhalten.

178

Sibylle Trawöger

A b b.   2  Hinteransicht

Abb.  3 Ein

Blick

des

durch

das

Na c h b a u s

Sichtfenster

der

der

E re m i t ag e

Vorderseite

des Nachbaus der Eremitage auf einen Teil der Innenausstattung

179

Ein

Blick

unter

Li t e r at u r

die

Matrize

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Sibylle Trawöger

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Welsch 1993 Welsch, Wolfgang: Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: ders. (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, in Zusammenarbeit mit Ivo Frenzel et al., München: Fink 1993, S. 13–47.

181

Insa Härtel

„Sogar das Bett“ – Verwahrloste Matratzen. Zum Phänomen Messie-Sendung

2004, zur Zeit der medienpräsenten Olympiade und kurz vor der Präsidentschaftswahl, bleibe ich als Visiting Scholar in den USA ab und zu am Fernseher hängen und stoße dabei auch auf Home-Makeover-TV-Shows wie Trading Spaces1 (ausgestrahlt vom Kabelsender TLC), in der Nachbar/ innen wechselseitig Wohnräume füreinander aufmöbeln und jeweils am Ende in Augenschein nehmen. Oder die Sache stellt, wie in While You Were Out (TLC), für die nichtsahnend heimkommenden Bewohner/innen insgesamt eine Überraschung durch Familienmitglieder oder Freund/innen dar. Ich erinnere mich an angestrichene Teppiche oder ähnliche Sinnenreize – und an den Eindruck, dass die Beteiligten von den Ergebnissen anscheinend keineswegs immer begeistert waren. Zu Trading Spaces heißt es etwa: „Each show culminates in the big reveal, which can elicit reactions ranging from glee to awkward silence to hot tears of remorse. It is this climactic unveiling/money shot that is Trading Spaces’ addictive agent“ (Paulk 2006, o.  S.). So kann sich mit der großen Enthüllung auch eine sexuelle Assoziation einstellen, insofern der Begriff money shot eben nicht nur auf eine besonders kostspielige, spektakuläre oder emotionale Aufnahme, sondern auch auf die im Porno gezeigte Ejakulation verweist. Höhepunkt meiner US-Fernseherfahrung wiederum bildete die Sendung Extreme Makeover: Home Edition (ABC).2 Hier wird beispielsweise eine Familie gezeigt, die alles verloren hat und nicht mehr weiterweiß – bis der Sender sie mit unmäßigen Gaben überhäuft: etwa einem perfekten Haus, inklusive eines neuen Stylings.3 Am Ende sind alle völlig geschafft, so mein damaliger Eindruck; ich nahm mir vor, dem bei Gelegenheit forschend nachzugehen. 1 Basierend auf der BBC-Sendung Changing Rooms. 2 Vgl. zu der Sendung z.  B. Palmer 2007. 3 Bei Extreme Makeover: Home Edition handelt es sich auch um ein Spin-off der Sendung Extreme Makeover, wo die Kandidat/innen selbst verschönert werden sollen.

183

„Sogar

das

Bett“



Verwahrloste

Matratzen

Auftakt In Deutschland ist die vielleicht bekannteste Renovierungsshow der Ikea-lastige Einsatz in 4 Wänden (RTL) mit der „Wohnexpertin“ Tine Wittler. Einsatz in 4 Wänden – Spezial wiederum, in dem es nicht nur um einzelne Zimmer, sondern um ganze Häuser geht, wurde nach einer Umkonzipierung auf besonders schwere Fälle wie z.  B. baufällige oder auch vermüllte Häuser ausgerichtet. „Egal wie hoffnungslos der Fall auch scheint, Tine Wittler verwandelt selbst das heruntergekommenste Messiehaus in eine gemütliche Wohn-Oase und macht damit zahlreiche Menschen glücklich“, heißt es in einer Sendungsinformation.4 Die „gemütliche Wohn-Oase“ merken wir uns ... und sind bei den Messies angekommen. Achtung Messies! (kabel eins), Das Messie-Team – Start in ein neues Leben (RTL II), Raus aus dem Messie-Chaos – rein ins Leben (kabel eins), Messie-Alarm! (SAT.1) ... Wenn ich mich im Folgenden mit dem Phänomen ‚Messie-Sendung‘ befasse, geht es mir um Formen und Figuren dieser episodisch offenbar fernsehtauglichen kulturellen Reinigungsrituale: Wie funktionieren und wirken sie, welchen (Lust-)Gewinn versprechen sie – und was verdichtet sich dabei z.  B. in der Matratze als Schlafstatt? Es geht mir nicht um die Schicksale betroffener Subjekte.5 Weiterhin ist mein Beitrag kein Fertig-Produkt, sondern ein Auftakt, eine Forschungsidee, ‚zugemüllt‘ mit Facetten, Hinsichten, Tendenzen. Ausgehend von einer ausgewählten Sendung geht es um die Hervorbringung von Motiven und Fragen für die Weiterarbeit. Es handelt sich um die zweite Folge der zweiten Staffel von Das Messie-Team – Start in ein neues Leben, erstausgestrahlt im Januar 2012 unter dem Titel „Ein schweres Erbe“. In der Ankündigung heißt es unter anderem: „Peggy (29) ist mit ihrem geerbten Elternaus [sic] völlig überfordert. [...]. Sie lebt auf dem Dachboden und kann sich nur mühsam den Weg zu ihrer Matratze zu [sic] bahnen.“ (Text: RTL II)6 Die Sendung beginnt mit einem Zoom auf ein grünes Haus: Die Kamera dringt durch das Fenster ins Innere, sodass man optisch gleich im Müll landet – wie auch akustisch, wenn von einem „mit alten Le-

4

http://www.clipfish.de/special/einsatz-in-4-waenden/home/, letzter Aufruf am

3.9.2014. 5 Was diese betrifft, können solche Sendungen auf andere Art kritisiert werden. 6 http://www.fernsehserien.de/das-messie-team-start-in-ein-neues-leben/episodenguide/staffel-2/14632, (letzter Zugriff am 3.9.2014).

184

Insa Härtel

bensmitteln, Kot und Unrat“ vollgemüllten Haus die Rede ist. Mit musikalischer Untermalung bahnt sich die Kamera ihren Weg, nimmt Füße ins Bild, die auf dem und durch den Müll balancieren. Eine im unappetitlichen Gemenge essende bzw. sich inmitten des Drecks das Gesicht waschende Peggy wird sichtbar. Im Kommentar beginnen die Superlative „in Deutschlands schlimmstem Messie-Haus“. Ein Zoom auf Kot, wie zum Beweis. Anschließend Messie-Küchenbilder; „die junge Frau hat die Kontrolle über ihr Leben verloren“ (0:00:15). – Insgesamt kommen etwa Zoom, Close-up, Slow Motion und Rückblenden zum Einsatz, dazu diverse Töne; Handkamera-Aufnahmen des Geschehens wechseln unter anderem mit Szenen, in denen die Protagonist/innen direkt in die Kamera sprechen.7 An dieser Stelle erhält nach den ersten Erläuterungen durch den Voice-over-Sprecher, der gewissermaßen durch eine ‚neutrale‘, autorisierte Schilderung ‚von außen‘ den Blick des Betrachtenden ausrichtet (vgl. in anderem Kontext Rota 2012, S. 203), die im Müll sitzende Protagonistin Peggy selbst eine Stimme – der man von Anfang an kaum glauben kann: „Ich bin keen Messie“ (0:00:17).

A b b .   1

u n d

2

7 Etwa zum audiovisuellen Stil von Makeover-Shows vgl. Rota 2012.

185

„Sogar

das

Bett“



Verwahrloste

Matratzen

Mit Blick auf ein Foto beginnt die familiäre Einbettung des ‚Messietums‘. „Vor vier Jahren stirbt Peggys Mutter. Ihr Vater fängt an zu trinken und verwüstet das Haus. Peggy kann ihn nicht stoppen“ – bis auch er vor einem Jahr stirbt und, so heißt es, die Tochter allein bleibt „mit ihrem Hund, einem Haus voller Müll und Ratten“ (0:00:40). Später erfahren wir: „Als der Vater noch lebte, durfte Peggy nichts wegschmeißen. Jetzt könnte sie, schafft es aber alleine nicht mehr“ (ab 0:06:11). Geblieben ist Peggy in dieser Narration nur eine 58-jährige enge Kollegin – Peggy wird als Briefzustellerin eingeführt – mit Namen Barbara, die versucht Peggy zu helfen, wo sie kann, die bis vor wenigen Monaten auch nicht wusste, wie ihre Freundin lebt, und die außerdem deren Familie kennt, in der schon Vater und Mutter bei der Post tätig waren. Man erfährt im Verlauf der Sendung, dass Peggy an ihrer Mutter sehr gehangen, sie, ganz blau und kalt, tot im Bett gefunden und dass sich seitdem alles geändert hat. Wir hören, dass Peggy dem Vater und denkbar auch der Mutter, die offenbar beide getrunken haben, stets die Schuld gibt, aber auch selber „komplett verwahrlost“ ist (ab 0:26:45). Angesichts der dringenden Hilfsbedürftigkeit (Suizidgedanken tauchen auf) naht die Rettung, das Messie-Team schreitet ein. „Ein schwerer Auftrag für die erfahrenen Messie-Experten“ (0:01:16). „Wir sind jetzt da, Peggy“ (0:01:37, 0:25:47). Peggy wird von der Messie-Therapeutin Sabina Hankel-Hirtz in den Arm genommen; die professionelle Hilfe kommt durchaus auch fürsorglich daher. Durch die signalisierte persönliche Anteilnahme wird der Kontakt gleichsam ‚humanisiert‘ und die gleichzeitig etablierte Überlegenheit legitimiert bzw. Expert/innen dieser Art „take on the role of authoritarian and/or compassionate ‚parents‘“ (Rota 2012, S. 201). – Der weitere Ablauf: Nach dem Vorspann wird das Haus ausführlich besichtigt, zunächst (ca. 15 Minuten) mit dem Kommentator unter Beteiligung von Peggy und Barbara, dann gemeinsam mit der Messie-Therapeutin und dem ebenso erfahrenen Entrümpler Dennis Karl (ca. weitere 10 Minuten) – in aller Fassungslosigkeit. Parallel für Heim und Psyche kann dann die Hilfe beginnen. „[...] du musst anfangen“, so Sabina, „dich wieder ganz doll lieb zu haben, dann kannst du auch das Haus lieb haben, so wie du auch deine Tiere lieb hast“ (ab 0:29:18). Am Ende wird nicht nur das Haus renoviert sein, sondern auch Peggy ist vorher extra noch einmal zum Friseur gegangen (1:19:52). Doch Schritt für Schritt: Vom Messie-Team wird, wenn es – wie hier – Not tut, zunächst eine Schädlingsbekämpfung veranlasst. „In

186

Insa Härtel

dem feuchten, stinkenden Müll haben sich seit Jahren Unmengen von Ungeziefer eingenistet“ (0:31:05). Anschließend kann die Entrümpelung erfolgen – wobei es immer mehr Müll zu entdecken gibt. Vorab erfolgt mit Peggy noch eine Übung im Sortieren nach dem Ampelprinzip: Der Farbe grün wird alles zugeordnet, was raus soll, der Farbe gelb das, wo sie sich noch nicht so im Klaren ist, und rot das, was sie auf jeden Fall behalten will (0:32:26). Das klappt nicht auf Anhieb. – Peggy wird (mit Hund) im Hotel untergebracht, macht „Urlaub von dem Haus“ (0:54:43). Das Putzteam kommt; es hat schließlich „richtig zu kämpfen“, und es zeigt sich, dass „gewisse Sachen [...] nicht mehr zu reinigen“ gehen (1:05:32, 1:05:49). Dann rücken die Handwerker an, um Peggys Wohnräume wieder bewohnbar zu machen, und haben ebenfalls „keinen leichten Job“ (ab 01:09:10). Peggy soll sich schließlich neue Möbel aussuchen (1:15:07, s.  u.). Den „Feinschliff“ übernehmen die Expert/innen persönlich (1:19:06) – bevor dann der große Augenblick gekommen ist: Wie wird Peggy „auf ihr neues Zuhause reagieren“ (ab 1:19:36)?

Maßlosigkeit Messie, mess: Unordnung, Verschmutzung, Chaos, Schweinerei, Schwierigkeiten. Was verbindet sich in der vorgestellten Folge von Das Messie-Team mit dem in Szene gesetzten Messietum? Es geht mir hier allein um die Funktion der Messie-Figur für die betrachtende Masse (auch wenn man die Bedeutung für betroffene Subjekte teilweise vielleicht nur schwerlich ausblenden kann). Aus dieser Perspektive lässt sich sagen: Der Messie in Bild und Ton steht für Maßlosigkeit. „[S]o dieses Ausmaß“, wie Barbara sagt, „das kann sich wahrscheinlich niemand vorstellen“ (0:15:31).8 Erstens zeigt sich eine Maßlosigkeit im Zerfall von Ordnungsstruktur als wucherndes Ansammeln und Vermischen, als unbeherrschte Undifferenziertheit. Eine Überlagerung von Lebensmitteln und Exkrementen, Kot und Küche, eine ‚Reinigung im Dreck‘ hat sich schon gezeigt (s.  o.): als ob Nicht-Zusammengehöriges, Reinzuhaltendes und Dreckiges immer wieder in sich zusammenfällt. Und wenn nicht mehr 8

Diese Aussage ist hier auf die Nachbar/innen bzw. deren Vorstellung, wie es in

Peggys Haus aussieht, bezogen.

187

„Sogar

das

Bett“



Verwahrloste

Matratzen

unterschieden werden kann, „was wichtig ist“ (dazu 0:33:09) und was nicht, führt das psychoanalytisch besehen direkt zum Kot zurück, mit dem sich – nach Freud eine Art erstes „Geschenk“ (Freud 1999b, S. 406) – ein Objekt konfiguriert, in dem „zugleich das Wertvollste und das Wertloseste eine innige Verbindung eingehen“ (Ruhs 2010, S. 142). Mit den Ausscheidungen wird hier auch eine Lust an verschwimmenden Grenzen angesprochen, am Auflösen, Verunreinigen. Man könnte auch sagen: Eine sexuelle Dimension ist dieser Sendung nicht unbedingt vorrangig durch den enthüllenden money shot am Schluss eingeschrieben, sondern liegt während des gesamten Verlaufs gerade auch im Ausmaß des Vermüllens und Verschmutzens. Der „traurige Höhepunkt des Messie-Haushaltes“ (0:51:33), der nach Aussage des Experten Dennis in seiner jahrelangen Laufbahn selbst schon der Höhepunkt ist (0:01:31), erwartet die Entrümpler in Peggys Schlafzimmer unterm Dach, das alles übertrifft (vgl. 0:52:04). Kumulationspunkt wäre gewissermaßen die Matratze – wo schließlich alle Dämme einzureißen scheinen. „Mit Deospray und Chinaöl gegen den entsetzlichen Gestank“, so heißt es; wobei die Entrümpler „überzeugt“ sind, dass der Geruch „nicht allein von verwesten Ratten“ kommt: „... das Bett als Klo benutzen und wenn’s stinkt, dann halt ’ne[n] neue[s] Bettlake[n] drüber“ (ab 1:02:03). Man bedenke in diesem Zusammenhang, wie das Kind, in Anlehnung an Abraham formuliert, davon entwöhnt werden muss, sich und seine Umgebung mit „Exkreten zu verunreinigen“, und auch die Lust am Ausscheidungsvorgang selbst ist aufzugeben. Dem Erwachsenen gewöhnlich verstellt ist dann etwa, wie der „Strom des warmen Urins [...] an der Haut Lustgefühle“ hervorruft, „ganz wie die Berührung mit der warmen Masse des Kotes“ (Abraham 1923, S. 29). Und so sehr die Ausscheidung zugleich eine Möglichkeit darstellen kann, Aggression9 im wahrsten Sinne des Wortes auszudrücken, so sehr handelt es sich auch um ein Sich-Verströmen. Das ‚Laufenlassen‘ kann auch zu einer zweiten Variante von Maßlosigkeit führen, wie sie die Messie-Sendung inszeniert: die der Hingabe an das Schwachsein, des ‚Es-geschehen‘‑ und ‚Alles-fallen-Lassens‘. Solches führt hier zu dem einigermaßen paradoxen Effekt, dass man kaum

9

Klein etwa spricht von „in der Phantasie in gefährliche Waffen“ verwandelten

Exkrementen oder davon, dass „das Nässen einem Schneiden, Stechen, Brennen, Überschwemmen, die Stuhlstange Angriffswaffen und Geschossen gleichgesetzt“ würden (Klein 1930, S. 351f.).

188

Insa Härtel

noch gehen kann, weil man sich gehen lässt:10 Schon in der Anfangssequenz ist kurz zu sehen, wie beschwerlich die Fortbewegung (der beruflich immerhin für postalische Beförderung zuständigen Peggy) durch die Räume ist; später hören wir von einem „Hürdenlauf über Flaschen und Müll“ (0:04:49). Und eben die Matratze scheint sie nur mühsam zu erreichen (s.  o.). Wie wiederum die Wanne seit Monaten verstopft bzw. der Wasserfluss in weiten Teilen unterbrochen ist, so sind einige der Zimmer „durch den aufgestapelten Müll“ (0:11:55) unzugänglich. Die Küche hat Peggy „seit einem Jahr nicht mehr betreten“ (0:04:56, vgl. 0:11:59) und das Sterbezimmer der Mutter „war jahrelang durch die Abfallberge versperrt“ (0:48:15). Der nur mühsame Weg zur Matratze, der Hürdenlauf, das Versperrte – das wahrgenommene Hindernis kann durchaus wunschgenerierend wirken: „Warum sonst müßten wir uns etwas wünschen, wenn uns nichts im Weg stünde?“ (Phillips 1997, S. 135) In der Sendung erhält das drohende Steckenbleiben neben mäandernden Wünschen und Lüsten auch eine Dimension der Schuld: Peggy hat sich ihrem Schicksal gewissermaßen zu sehr hingegeben und balanciert auf einem schmalen Grad zwischen (schuldhaftem) Sich-Ausliefern und (schuldlosem) Ausgeliefertsein. – Hierzu einige Anmerkungen: Begreift sich Makeover-TV mit seinem Vorher-nachher-Prinzip quasi im Dienst einer Transformation gewöhnlicher Menschen zu Up-to-date-Versionen ihrer selbst (Frances Bonner n. Palmer 2007, S. 169), so liegen Annahmen einschlägig gouvernementaler Rationalität nicht fern und sind auch durchaus angestellt worden (vgl. etwa Ouellette/Hay 2009;11 dazu auch Sender 2012). Auch wenn diese Logik wohl nicht einfach aufgeht (s.  u.), ließe sich etwa an Responsibilisierung, Wertsteigerung durch Neuerfindung denken – oder einen therapeutischen Ethos auch im Sinne eines Beharrens auf dem Selbst als herausragendem Ort sozio-moralischer Transformation (Lewis 2009, S. 5). Auch in Situationen, in denen persönliche Verantwortung und Möglichkeiten an Grenzen zu stoßen scheinen, wie bei den vom Unglück (z.  B. schwere Krankheiten oder Verletzungen)12 getroffenen Familien in Extreme Makeover: Home 10 Vgl. in der Sendung auch einen Nachbarn, der äußert: „[I]ch hab auch Frau und einen jungen Sohn eingebüßt, aber ich kann mich nicht so gehen lassen“ (0:56:06). 11

Dort geht es letztlich um „the remodelling of welfare and the remaking of citizens“

(Ouellette/Hay 2009: 42). 12 „In many cases the desperation of families is a direct result of the fact that agencies of the state have abandoned them“, schreibt Palmer. „For example, in one case a

189

„Sogar

das

Bett“



Verwahrloste

Matratzen

Edition, verdienen die Wohltaten offenbar vor allem jene, die versuchen, ihre Probleme selbst in den Griff zu bekommen, statt gleich nach Hilfe zu rufen: „The kind of families we’re looking for“, so der executive producer Tom Forman, „are quietly trying to solve their problems themselves and it’s a neighbour or co-worker who submits an application on their behalf“ (zit.  n. Palmer 2007, S. 169). Auf andere, aber in der Logik vergleichbare Weise darf Messie Peggy zwar der Hilfe bedürfen; es bedarf aber zugleich eines Minimums an Verantwortungsübernahme, die sie zunächst wie ‚kindlich‘ verweigert, wenn sie teilweise auf Schuldlosigkeit beharrt. „Ich bin keen Messie. Ich hab dazu einfach die Kraft nicht gehabt.“ (0:00:17, s.  o.) Wiederholt wird thematisiert, wie Peggy ihrem verstorbenen Vater die Schuld zuschiebt – und sie doch auch selber hat: „[A]uch sie hat seit Monaten nichts weggeräumt“ (0:14:40); „sie selber ist auch komplett verwahrlost“ (0:26:57), so Sabina; und später: „[I]ch fühle einfach, dass Peggy auch einen Großteil mit schuld ist, dass es da so aussieht“ (0:30:07). Es ist, als würde Peggy zunächst versuchen, eine Art Opferdiskurs zu fahren, um dann von extern re-responsibilisiert zu werden: Die dem Vater aufgebrummte Schuld wird teils auf Peggy zurückgeschoben und ihre Eigen-Entschuldung diagnostiziert. Sabina: „Peggy, was hast du denn hier oben in den Töpfen gemacht.“ – Peggy: „Ich war das nicht.“ – „Das heißt, das hat jemand hochgestellt.“ – „Mein Vater. Und ich weiß nur, was er gemacht hat, tut mir leid.“ – „Das heißt, während Du geschlafen hast, hat der die Sachen rein ...“ – „Ja, natürlich.“ (Ab 0:52:31) Dann ein Szenenwechsel, in Peggys Abwesenheit kommentiert Sabina: „Peggy hat einen Realitätsverlust. Sie hat eine Wahrnehmungsstörung. Sie behauptet, der Vater hätte all das in ihr Zimmer getragen. Es ist einfach etwas, dass sie versucht abzuwehren, dass sie auch selber diese Dinge in ihr Zimmer geschleppt hat.“ (Ab 0:52:42) Und drittens: Peggy trauert nicht richtig – und diese Unterlassung nimmt wiederum maßlose Formen an. Sabina: „Peggy, die Trauerarbeit hat von dir noch gar nicht richtig stattgefunden.“ – Peggy: „Konnt ja nie, ’ch konnt ja nie.“ – „Das machen wir im nächsten Schritt, wir beide, ja? Dass wir über die Trauer reden, damit du ’nen neuen Start bekommst“. family had to watch their son die because ambulances and police refused to go into their neighbourhood for fear of their lives“ (Palmer 2007, S. 166).

190

Insa Härtel

– Die schluchzende Peggy nickt (ab 0:37:43). Das nicht ordnungsgemäß betrauerte verlorene Objekt, hier vornehmlich verkörpert durch die tote Mutter im Bett, führt dazu – das wird nahegelegt –, dass sie eben all diese Dinge selbst in ihr Zimmer schleppt. Dadurch zeigen diese, was in ihr steckt: Maßlosigkeit in der Beziehung zum Objekt. Freud zufolge bewirkt die Trauer letztendlich einen Verzicht des Ich auf das Objekt, indem dieses „das Objekt für tot erklärt“; ihm selbst wird die „Prämie des am Leben Bleibens“ geboten (Freud 1999c, S.  445) – während die Melancholie demnach gerade auf diese „Prämie des Verzichts“ verzichtet (Knellessen 2013, S. 4). Bei allen Schwierigkeiten der Abgrenzung, die sich zeigen, gilt die Trauer Freud hier auch als „Normalaffekt“ (Freud 1999c, S. 428); und das „Normale ist, daß der Respekt vor der Realität den Sieg behält“ (ebd., S. 430). Es soll – nach und nach – eine „fein säuberlich[e] und vollständig[e]“ Ablösung vom Objekt erfolgen; der Wunsch wird aufgegeben angesichts der Realität (Knellessen 2013, S. 5, 10).13 Mit der Trauer geht es demnach auch um „eine Abgeklärtheit gegenüber der Realität“ (ebd., S. 10). Und wenn die Messie-Therapeutin vom Realitätsverlust Peggys spricht, so könnte man bezüglich der Melancholie denken, dass sie „diesem Druck der Realität [...] nicht nachgeben will, dass sie dem Realitätsprinzip nicht genügt“ (ebd., S. 5). Ein solches Festhalten am Objekt sei „masslos“ (ebd.), so könnten Melancholie und Messie in diesem Punkt nun fast gleichlautend bezichtigt werden – gegenüber dem Anspruch ‚normaler‘ Trauerarbeit, deren Aussichtslosigkeit sie zeigen. „Loslassen, ein großes Problem für Messies, doch Peggy muss lernen, sich zu trennen“ (0:49:10). In einer Art Übergang vom belebten zum unbelebten Objekt wird in der Sendung ein Zusammenhang hergestellt zwischen Peggys mangelnder Trauerarbeit und dem Festhalten der „Erinnerung an ihre Mutter in wertlosen Gegenständen“ (0:38:02) – und damit letztlich dem Festhalten an den Gegenständen selbst. Auch für diese gilt es als kulturell ‚normal‘, sich ‚realitätsgerecht‘ von ihnen lösen, sich ihrer entledigen zu können. Sich aktiv trennen – sich gleichsam souverän vom Müll absondern – bedeutet dann potenziell auch eine Bestätigung, selbst „kein Abfall zu sein“, wie sich mit Porath formulieren ließe (Porath 2001, S. 276); Ab-

13

Knellessen setzt sich auch mit den freudschen Anordnungen auseinander.

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„Sogar

das

Bett“



Verwahrloste

Matratzen

fälle können auch dazu dienen, „das Begräbnis der Person in die Ferne zu rücken“ (in wieder anderem Zusammenhang: Calvino zit.  n. Ecker 2001, S. 175f.). Während der in seinem Müll ‚begrabene‘ Messie deutlich macht, wie wenig reibungslos dies funktioniert. – Peggy stellt die verkommenden Reste, die Unmöglichkeit ihrer restlosen Entledigung bzw. deren Eigenleben gleichsam aus und konfrontiert so gesehen auch mit einer gesellschaftlichen Zweckwidrigkeit. Wohingegen im Verlauf der Sendung der Abfall in große Container verfrachtet wird, aus der Sicht entweicht und damit genau ein mögliches säuberliches Verschwinden suggeriert wird, das heißt – wie bei der Trauer – eine gelungene Ablösung, die Möglichkeit eines reibungslosen Funktionierens bzw. der Anspruch darauf.

Zum

Vorschein

bringen

Mit der hier vorgeführten Messie-Figur wird so insgesamt eine Art Distinktionsgewinn versprechendes Gegenbild heraufbeschworen und erkoren: ein Gegenbild zu dem, was sortiert ist und ohne überflüssige Hindernisse vorankommt und funktioniert. In diesem Sinne ließen sich das große Aufräumen und Reinigen samt anschließender Neuausstattung auch als eine Art Abwehr des Maßlosen lesen. Auf den ersten Blick kommen Sendungen wie die besprochene Folge von Das Messie-Team durchaus als Ordnungsstifter daher. Nach der harten Arbeit des Sortierens, Entsorgens und mit Aussicht auf einen Neuanfang bleiben Protagonist/innen wie Zuschauer/innen anscheinend befreit zurück. Der Wunsch nach einer ‚realitätsgerechten‘ Ablösung vom Müll scheint befriedigt, der Abfall außer Sicht. Versteht man dies als Abwehr, so wird aber das ‚Wegzuräumende‘ mit zum Vorschein gebracht, wie die Psychoanalyse es etwa für Zwangshandlungen (z.  B. beim Reinigungszwang) beschreibt, welche immer auch „etwas von der Lust“ wiederbringen, „die sie zu verhüten bestimmt sind“ (Freud 1999a, S. 137). Gerade bei der Ausübung der zur Schau getragenen Tugend – hier etwa mittels des überaus konsequent betriebenen Entrümpelns & Co – wird dann „de[r] antagonistische[ ] Trieb“ befriedigt, der „schließlich das ganze Abwehrsystem durchdringt“ (Laplanche/Pontalis 1994, S. 424); im Klartext: Gerade, wenn man in die Sauberkeit „verliebt“ ist, zentriert man seine ganze Existenz auf den Schmutz (ebd.).

192

Insa Härtel

Auch die Existenz der Messie-Sendungen kreist um Schmutz und Abfall; lang und breit und ritualisiert wird – im Zeichen seiner Überwindung – im übelsten Müll und in dessen anhaltender und gründlicher Beseitigung geradezu geschwelgt; wodurch man sich beim Betrachten andauernd mit der maßlosen Vermischung, dem Sich-gehen-Lassen, dem Dysfunktionalen beschäftigen kann. In diesem Sinne werden in den Messie-Sendungen kulturelle Anforderungen an säuberliche Realitätsanpassung, eigenverantwortliche Selbstoptimierung etc. nicht einfach wieder ein- und durchgesetzt, sondern immer auch in ihrer Ambivalenz verhandelt, insofern sich in der mächtig inszenierten Tendenz, die Sache wieder in Ordnung zu bringen, genau der Konflikt zwischen durchaus entgegengesetzten Strebungen manifestiert. So betrachtet, verunmöglichen die ‚Messies‘ hier auch eine Reibungslosigkeit jener gouvernementalen Rationalität bzw. zeigen gerade das ‚zu Beseitigende‘ als Grundlage deren Wirkens. Die Matratze, das Schlafzimmer, das Bett können hier als verdichtetes Bild fungieren. Die Bedeutung der Schlafstatt in der besprochenen Sendung deutet sich etwa darin an, dass die letzte Einstellung just das neue Schlafzimmer zeigt (1:26:36). Der Reihe nach: Insgesamt, so viel haben wir schon erfahren, ist das Bett in dieser Sendung selbst ein mehr als ambivalentes Objekt. Es ist doppelt mit Schrecken assoziiert: Peggy hat ihre tote Mutter in deren Bett gefunden – und Peggys eigenes Schlafzimmer wird eben zum „traurige[n] Höhepunkt des Messie-Haushaltes“ (0:51:33, s.  o.). Sie schläft laut Entrümpler „praktisch in dem schlimmsten Zimmer, was es da gibt“ (0:27:09).14 Ist der Schrecken im einen Fall mit Trauer oder deren mangelhaftem Vollzug assoziiert, so im anderen mit Skandal, Lotterbett oder auch empörenden Lüsten. Was, wie schon ausgeführt, darin kumuliert, dass Peggy offenbar auch ihre Ausscheidungen in die Matratze hat einsickern lassen, wie sich den Entrümplern offenbart, als sie sich „erst ganz zum Schluss“ an ihr Schlafzimmer wagen (1:01:33). Im weiteren Verlauf darf sich Peggy unter anderem ein neues Bett (im Sonderangebot) nach ihrem Geschmack aussuchen (ab 1:16:30). Doch wird im Fall des Schlafzimmers nicht nur das Mobiliar erneuert, sondern der gesamte Raum ‚verschoben‘: „Peggys altes Schlafzimmer 14 An anderer Stelle sagt Sabina: „Das glaubt uns kein Mensch. Hier, hier schläfst du? Nein – wo? [...] da hast du dich reingelegt?“ (0:21:27)

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das

Bett“



A b b .

Verwahrloste

Matratzen

3

im Dachgeschoss war am schlimmsten vermüllt und wird in Zukunft nur noch als Speicher genutzt“ (1:22:53); ein neues wird eingerichtet, Peggys Matratzenleben quasi komplett umstrukturiert. „Das neue Schlafzimmer. Peggys Rückzugsoase. Die Farbe Grün beruhigt und gibt ihr Sicherheit.“ Peggy: „Sieht schön aus.“ – Sabina: „Ja, wer hat das ausgesucht?“ – „Ich.“ – „Ja, genau!“ – „Super.“ – „Kannst du dich erinnern, wie du geschlafen hast?“ Peggy bestätigt dies (ab 1:23:03). Die alte Situation wird im Rückblick gezeigt. Ist also eine grüne, beruhigende Rückzugs-Oase entstanden – eine Metapher, die wie erwähnt auch bei der RTL-Wohnexpertin Tine Wittler auftauchte –, so folgt auf deren Einführung in der Sendung eine jener Rückblenden, die es im Verlauf auch vorher schon in verschiedenen Variationen gegeben hat. Hier sehen wir Peggy auf ihrer alten (als solche kaum erkennbaren) Matratze: Zu dieser ‚bahnt‘ sich die Kamera ihren Weg – nachdem Sabina eben gefragt hat, ob sie sich erinnern kann, wie sie geschlafen hat. Der darauf einsetzende elektronisch verzerrte, wiederholt gespielte Glockensound entwickelt nicht zuletzt durch die weiter rhythmisierenden Herzschlaggeräusche durchaus suggestive Wirkung – was im Kontext bedrohlich wirken, aber auch ‚glockenhafte‘ Anklänge an Meditationsmusik oder gar ‚herzrhythmisch‘ Vorstellungen intra-uteriner Existenz evozieren kann. Ebenso ist das dazugehörige Bild von Ambiguität geprägt: Peggy in einer Position im Bett liegend, die rechte Hand fast

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A b b .

4

u n d

5

schon wie in liegender Denkerpose, während die linke einen Zipfel der Decke greift, welche vergleichsweise hell, das heißt weniger düster und dreckig wirkt. Die Kamera kreist ein Stück, bevor sie auf Peggys Gesicht zoomt, man erkennt das florale Muster des Kissens. Diese Ruhestatt, so könnte man assoziieren, ist selbst schon wie eine ‚Oase‘ inmitten des Mülls. In einer gewissen, durchaus friedlichen Ruhe wirkt Peggy hier fast wie ein zu groß geratenes, träumendes, dralles Kind. Aus dieser Szene, die (als auch optisch abgesetzte Rückblende) in gewisser Weise selbst wie ein Traum erscheint, geht es dann zurück in die Jetztzeit und weiter zu der Frage von Sabina, ob das so bleibt: „Peggy, bleibt das so?“ – „Das bleibt so.“ (Ab 1:23:29) Was bezogen auf die Bildersequenz zunächst selbst eine Spur irritierend ist: Ist hier der neue oder doch der alte Zustand gemeint? Peggy verspricht alles.15 Und dass sie es hoch und heilig versprechen muss, gibt einen Hinweis, dass das Ergebnis so sicher nicht ist, dass man bei aller offenkundigen Erleichterung auch am Schluss die Spannung nicht wirklich losgeworden ist. Gar nicht so klar scheint dann, welcher Zustand der jeweils reizvollere sein kann. Ist das Bett ‚vorher‘ überdeterminiertes Bild, als

15

Sabina: „Versprichst du mir das?“ – Peggy: „Das verspreche ich dir.“ – „Ja?“ – „Ja.“

– „Ganz hoch und heilig?“ – „Hoch und heilig.“ – „Mach was da draus.“ – „Mach ich.“ (Ab 1:23:31)

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Ort des Schreckens, des Todes, der hemmungslos-‚perversen‘ Lüste und oasenhaft kindlicher Rückzugsort, zu dem man sich seinen Weg bahnen will und muss, so könnte man vielleicht sagen: In der beruhigend, leicht steril wirkenden ‚bereinigten‘ Oase ‚nachher‘ wird in einer Art ‚Normalisierung‘ der Situation das, was der Höhepunkt war, aus dem vormals schillernden Bild abgezogen. Das Schlafzimmer ist nun (in mehrerlei Hinsicht) nicht mehr der Gipfelpunkt; es ist verschoben, das heißt nicht mehr unter dem Dach ganz oben – und Peggy gefällt am Ende die Küche am besten (1:22:39). So betrachtet lässt die geschilderte Sequenz erneut die Doppelwertigkeit auch der Ersetzung aufscheinen. Es wird eben nicht nur die neue Schlafstatt gezeigt, sondern immer auch noch einmal das Ersetzte mitsamt seiner Exzesse, Wünsche, Hindernisse. Die Vorher-nachher-Logik gerät dabei wie zu einer Ausstellung der spannungsreich-widersprüchlichen Tendenzen selbst, die sich hier weniger in zeitlicher Abfolge ablösen, sondern vielmehr wie parallel laufen. So kann man insgesamt sagen, dass das ordentlich angestrebte ‚Nachher‘ zu einer Art Vehikel gerät, das auch die gegenteiligen Strebungen immer wieder ans Licht bringen kann. Das Ans-Licht-Bringen von mehr oder minder ‚Verborgenem‘ wiederum ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn das, was die Maßnahmen der Sendung mit den Schädlingen bekämpfen, wird in ihr regelrecht bloßgelegt, in Bild und Ton ‚festgehalten‘. Man erinnere sich etwa an den penetrierenden Zoom durch das Fenster des Hauses ganz am Beginn – ruckzuck ist man in das dreckige Geheimnis eingedrungen. Verwandtes zeigt sich auch auf anderer Ebene, wenn die Messie-Therapeutin im Namen zu organisierender Hilfe den Nachbar/innen, die bislang meist nichts davon wissen, den schlimmen Zustand des Hauses quasi offenlegt (vgl. ab 0:42:05). Oder wenn sie ‚einfach spürt‘: „[D]a steckt ganz viel ‚hinter‘“ (0:27:12), soll doch das ‚Hinter der Fassade‘ ans Licht. Zum Vorschein kommt dabei auch, dass die Sendung ihre eigene Form des Sichtbar-Machens und Zuschauen-Lassens in die Darstellung nicht nur aufnehmen, sondern sogar ‚verschreiben‘ kann: Peggy wird – als Teil der Therapie – noch einmal mit „harte[n] Video-Bilder[n] aus ihrem Messie-Alltag“ konfrontiert, um sie „vor einem Rückfall“ zu schützen, wie es heißt (1:10:45). Wir schauen uns dann teils ‚über Peggys Schulter‘ noch einmal den alten Zustand des Hauses an bzw. ihr – und damit auch uns selbst – beim Zuschauen zu ... „dass sie jetzt einfach mal ’ne neue Perspektive bekommt und auf eine neue Art und Weise auf ihre Ver-

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.

6

wahrlosung schaut“ (1:11:47). Bereitstellung neuartiger Perspektiven: Die TV-Sendung entwirft damit auch ein Bild von sich und dem, wie sie wirkt. Dass dieserart Sendung auch eine Erzählung über sich selbst ist, zeigt sich nicht zuletzt in der Wiederholungsstruktur. So wie der Messie immer mehr Müll ansammelt, so sammeln sich dann die hiesigen Messie-Sendungen an: von Episode zu Episode, von Staffel zu Staffel, von Sender zu Sender – nach seinem Auftauchen zieht das Phänomen ‚Messie-Sendung‘ in den teils eher als ‚ruchlos‘ geltenden privaten Sendern Kreise. Man könnte sagen: Die Rückfallgefahr, gegen die man sich in der betrachteten Sendung anscheinend abzusichern sucht, bewahrheitet sich durch ihr Format, ihr Zeremoniell: Es geht ja Folge für Folge immer wieder von vorne los mit dem Müll. Und so wie das Makeover in Form von Reinigung und Wiederherrichtung die Rituale des Messies in der Sendung unterbricht und für einen ‚Neuanfang‘ sorgt,16 so wird das Messie-Sendungsformat schließlich selbst zunehmend weggeräumt. Eine Reinigung dann nicht nur in der Sendung, sondern auch von dieser selbst.

16

Vgl. etwa: Peggy: „Ja, das ist ein Neuanfang für mich“ (1:26:24).

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das

Bett“



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Matratzen

Kommt es zu solcherart Abwendungen, weil das Gezeigte plötzlich uninteressant geworden ist? Weil wie bei einer ‚gelungenen Trauer‘ Zug um Zug die Libido von dem Objekt gelöst ist?17 Ein ‚Los‘, das – wie Peggys müllentleertes Haus – Platz für etwas Neues macht? – Oder, wenn solches eben nicht restlos möglich ist, wie nicht zuletzt die ‚Messies‘ nahelegen, wird die ‚Ablösung‘ dann auch verstehbar als eine, die wieder in sich konflikthaft ist? Dann wäre man z.  B. einerseits erleichtert, dass man den ambivalenten Messie-Sendungs-Trash – ja, dessen rituelle Wiederholung selbst – insgesamt scheinbar erst einmal losgeworden ist. Wobei der Wunsch nach Entledigung andererseits wieder auch darauf deuten kann, wie sehr diesem Trash die abgewehrte Lust innewohnt. Eine Verschiebung auf andere Bilder oder Bildungen scheint immer dann notwendig zu werden, wenn „die alte Lösung“ – hier dann die Sendung – „in ihrem Kompromißcharakter, als Wiederkehr des Abzuwehrenden, allzu durchsichtig geworden ist“ (in anderem Kontext Pfaller 2002, S. 153, mit Bezug auf Freud). Wird das Sendungsformat also möglicherweise auch dann abgelöst, wenn es sich schließlich zu sehr in den Dienst der abgewehrten Tendenz gestellt hat? In den Dienst einer erregenden, kulturell dysfunktionalen, exzessiv zweckwidrigen Maßlosigkeit? Hat sich gerade in der Kreise ziehenden Wiederholung eine immer auch bedrohliche und allzu offensichtlich werdende Annäherung an jene Lüste gezeigt? Was bei allen Fragen sicher zu sein scheint, das ist, dass das Verhandeln kultureller Konflikte und Lüste weitergeht und -treibt. Auch Fortsetzungen sind dabei keineswegs ausgeschlossen, wie neue Folgen von Das Messie-Team 201418 zeigen.

17

Vgl. in Freuds „Trauer und Melancholie“: „Jede einzelne der Erinnerungen und

Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.“ (Freud 1999c, S. 430) 18

198

Das Jahr, in dem dieser Text erarbeitet wurde.

Insa Härtel

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Verwahrloste

Matratzen

II. STADTKÖRPER UND WOHNPOLITIKEN:

/

BEHAUSUNG.

Christiane Keim

„Betten und Matratzen an die Sonne“.

Die Neue Wohnung und der Normalisierungs- und Sexualisierungsdiskurs in der Weimarer Republik

Im Jahr 1926 konzipiert der Architekt und spätere Bauhaus-Direktor Hannes Meyer sein Interieur Co-op als Wohnung und erklärt im Aufsatz „Die neue Welt“ in der Schweizer Architekturzeitschrift Das Werk, für den halbnomadisch lebenden „Weltbürger“ bedeute der „Lokalbegriff der ‚Heimat‘“ nichts mehr (Meyer 1926, S. 221). „Jedes Zeitalter“, so Meyer weiter, „verlangt seine eigene Form. Unsre Aufgabe ist es, unsre neue Welt mit unsren heutigen Mitteln neu zu gestalten.“ (Ebd.) Zur neuen Welt gehörte nach Meyer nicht nur der „Weltbürger“, sondern auch dessen mit „Standardprodukten“ eingerichtete Wohnung, für die „Gemütlichkeit und Repräsentation [...] keine Leitmotive“ mehr darstellen dürften (ebd., S. 222). Eine Fotografie im Abbildungsteil des Artikels zeigt das Interieur Co-op als einen sparsam möblierten Innenraum: in der Ecke ein Klapptisch, auf dem ein Grammofon steht, rechts davon ein an einem Nagel aufgehängter Klappstuhl und, von der Rückwand in die Raummitte hineinragend, ein Bett. Kann man hier aber überhaupt von einem Bett sprechen? Mehr einer Pritsche als einem bequemen Ruhelager ähnelnd, verfügt das Möbel weder über eine Matratze noch über Bettzeug. Stattdessen sehen die Betrachter_innen einen Stahlfeder-Draht-Rost vor sich, von konischen Stützen an den Seiten über Bodenniveau angehoben; über die Liegefläche ist eine mit Rosshaar gefüllte Decke aus Leinenstoff gebreitet (Kieren 1990, S. 139) (Abb. 1). Meyer, so informiert uns Martin Kieren, hatte in seiner Wohnung im Baseler Luftgässlein ein Co-op-Zimmer eingerichtet und dieses bei Bedarf auch Kolleg_innen zur Nutzung überlassen (ebd., S. 138). Für die nachfolgende Rezeption sollte dies allerdings weniger bedeutsam

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1926.

werden als der Umstand, dass die Installation auf Ausstellungen und in Zeitschriften gezeigt wurde. Meyer stellte das Interieur 1927 auf der Bauhaus-Ausstellung in der Sowjetunion vor; 1926 hatte er das Foto mit der Bildunterschrift „Die Wohnung“ in den bereits genannten Aufsatz „Die neue Welt“ eingefügt. Als Fotografie ist das Zimmer der Nachwelt überliefert und Teil des Bilderrepertoires einer medial vergegenwärtigten Wohn-Moderne geworden. Die Architekturhistoriografie schreibt Hannes Meyer die Autorschaft für das Interieur Co-op zu und betrachtet das Konzept als schöpferische Einzelleistung des Architekten. Die Gedanken Meyers zur modernen Zeit und den Forderungen, die diese an Architektur und Architekt_innen stellte, repräsentieren allerdings keineswegs allein nur seine Ideen. Eine moderne Wohnung für den modernen Menschen zu

206

Christiane Keim

konzipieren, so lautete vielmehr der Auftrag, dem sich alle Architekt_innen und Planer_innen der Avantgarde des sogenannten Neuen Bauens in den 1920er Jahren verpflichtet fühlten. Die Mehrzahl von ihnen gelangte, zahlreiche Differenzen in Einzelfragen ungeachtet, zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Meyer. „Der moderne Mensch“, schreibt etwa Walter Gropius 1925/26 über die „Grundsätze der Bauhausproduktion“, brauche „moderne, ihm und seiner Zeit gemäße Wohngehäuse“ (Gropius 1988, S. 93). Im gleichen Sinne äußern sich Sigfried Giedion und Bruno Taut. Für den „heutigen“ Menschen, der „mitten im Getriebe“ stehe (Giedion 1929, S. 9), müsse mit der modernen Wohnung eine „absolut korrespondierende Hülle“ geschaffen werden (Taut 1928, S. 94). Die „Schöpfungen der Industrie“, weiß Taut, hätten das Leben grundlegend verändert, daher sei es nun dringend geboten, auch die Wohnung und das Wohnen neu zu gestalten (ebd.). Mit den „Schöpfungen“ bezieht sich Taut nicht allein auf industriell hergestellte Produkte, sondern ebenso auf Neuerungen in Produktionsabläufen und Betriebsmanagement, die mit Namen und Unternehmen des amerikanischen Automobilherstellers Henry Ford sowie den Experimenten des Betriebswirts Frederick Winslow Taylor verbunden waren: Die Prinzipien des Fordismus und Taylorismus, namentlich Massenproduktion von Waren durch Standardisierung der Formen und die Zerlegung von Arbeitsprozessen in zeitlich fixierte Einzelschritte, galt es auf den Wohnungsbau zu übertragen (vgl. Ronneberger 1999, S. 432–464). Mit dem Schlagwort „rationalisierung im bauwesen“ fasst Walter Gropius die „Denkungsweise“ zusammen, die alle „pioniere unter den modernen architekten“ zur Erfindung neuer Konzepte antreibe (Gropius 1926/27, S. 25). Tatsächlich kann der Begriff Rationalisierung als Oberoder besser noch Schlüsselbegriff für den zeitgenössischen Planungskontext angesehen werden. Unter der Maxime der Rationalisierung suchten in den 1920er Jahren Interessensvertretungen, Institutionen und Wissenschaftler_innen nahezu aller Disziplinen, gesellschaftliches Zusammenleben und Handeln auf der Basis von ‚objektiven‘ Richtlinien wie Vernunft und Effizienz neu zu ordnen; irrationale Herrschaftsverhältnisse sollten durch rationale Beziehungsstrukturen ersetzt werden (Reese et al. 1993, S. 1–16). Als Instrument staatlicher Interventionspolitik war Rationalisierung bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und praktisch erprobt worden. In der auf dem Prinzip des Sozialstaates aufgebauten Weimarer Republik erfuhr die Idee nun eine

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und

Matratzen

an

die

Sonne“

beträchtliche Aufwertung. Unter staatlicher Federführung wurde der Ausbau von Versorgungssystemen vorangetrieben, die städtebauliche Infrastruktur ausgebaut und, als vorrangige sozialpolitische Maßnahme, der Wohnungsbau gefördert (Ronneberger 1999, S. 437). Unter der Leitmaxime der Rationalisierung überlagerten sich die Vorstellungen und Handlungsfelder der politisch Verantwortlichen mit denen der Planer_innen. Rationalisierung muss dabei als eine Zielvorgabe betrachtet werden, die immer zwei in ihren Anwendungs- und Wirkungsbereichen voneinander zu unterscheidende, gleichzeitig aber stets miteinander verkoppelte Bezugsebenen umfasst: Die Kurzformel Rationalisierung zielt einerseits auf ein Denkmuster oder ein verbindliches und geteiltes Wissen, das allen Vorgängen und Entscheidungen vorgeschaltet war, andererseits aber auch auf das konkrete technische und organisatorische Instrumentarium, mit dem die Planvorgaben umgesetzt werden konnten.

Soziale

Rationalisierung

und

Wohnungshygiene

Für die Planlegung der modernen Neuen Wohnung war ein Teilbereich des Rationalisierungsdiskurses von besonderer Bedeutung: die Debatte, in der und über die Körperlichkeiten und Sexualität verhandelt wurden. Zentraler Ansatzpunkt dieser Debatte, an dem die Argumentationsstränge immer wieder zusammenliefen, war die Kategorie der Hygiene. „Hygiene wurde zu einer wesentlichen Funktion der Architektur“, stellt Andreas K. Vetter in seinem Buch Die Befreiung des Wohnens fest, das sich mit dem Neuen Bauen auseinandersetzt und dabei den Blick vor allem auf die Schnittstellen zwischen den Konstrukten des Neuen Menschen und der Neuen Wohnung richtet (Vetter 2000, S. 239). Zu einer Annäherung zwischen der Architektur und der Hygienewissenschaft, die sich als eigenständige Disziplin im Feld der Medizin- und Biowissenschaften herausgebildet hatte, kam es dabei schon lange vor dem hier behandelten Zeitraum. Im Zuge eines im 19. Jahrhundert einsetzenden Prozesses zur Verwissenschaftlichung des Sozialen, der von einer Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und Gesellschaft ausging, konnte sich die Hygiene als Handlungsfeld für die Diagnose und Anamnese gesellschaftlicher Problemstellungen etablieren. Der Stellenwert, den sie in diesem Feld erlangte, hatte weittragende

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Christiane Keim

Konsequenzen „sowohl für die Formen der Alltagswahrnehmung von Normalität und Abweichung, für kulturelle Werthaltungen und Praktiken als auch für eine Neudefinition von staatlichen und politischen Handlungsfeldern“ (Kaufmann 1998, S. 348). Und politisches Handeln schien vor dem Hintergrund kulturpessimistischer Zeitdiagnosen dringend geboten. Um die vermeintlich drohende, durch Einwirkung gesundheitsschädlicher und kräftezehrender Lebensumstände herbeigeführte Degeneration der Gesellschaft aufzuhalten, forderten die Vertreter_innen der Hygienewissenschaft reformpolitische Initiativen ein. Von einem biologistisch-eugenischen Verständnis von Gesellschaft als Volkskörper ausgehend, der ständig kontrolliert und optimiert werden müsse, wurde als Zielvorgabe die Herstellung einer „krankheits- und devianzfreie[n] Gesellschaft“ (ebd., S. 363) proklamiert. Um 1900 prägte der Mediziner Alfred Grotjahn den Begriff Sozialhygiene und avancierte in der Folge zum renommiertesten Protagonisten dieses zunehmend an Bedeutung gewinnenden Spezialgebiets (Rodenstein/Böhm-Ott 1996, S. 477ff.) Das Aufgabengebiet der Sozialhygiene, das darin bestand, „rechtzeitig und umfassend allen gesundheitlichen Gefahren und Schädigungen entgegenzuwirken und die Bedrohten und Betroffenen der heilenden Behandlung zuzuführen“ (Maier 1926, S. 65), erstreckte sich auch auf die Versorgung mit Wohnraum. „Die Tätigkeit der Hygieniker im Bereich des Wohnens beschränkte sich nicht nur auf die Analyse von Wirkungszusammenhängen, sondern bestand vor allem darin, zu verkünden, was gesunde Wohnungen waren und wie sie hergestellt werden konnten.“ (Rodenstein/Böhm-Ott 1996, S. 501) Vertreter_innen der sozialen Hygiene kommunizierten ihre Überzeugungen in einer Vielzahl einschlägiger Zeitschriftenartikel in Handbuchtexten und Ausstellungen zum Thema (Maier 1926, S. 65).

Normierungen und Normalisierungen: Der gesunde Körper in der gesunden Wohnung In den 1920er Jahren wurde das Band zwischen Sozialhygiene und Wohnbauplanung noch fester geknüpft. Für die Architekt_innen des Neuen Bauens waren die Vorgaben der Hygieniker_innen nicht allein Referenzrahmen, sondern vielmehr Orientierungsmarke ihres Tuns. Erkenntnisse und Anweisungen aus den Reden und Schriften

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und

Matratzen

an

die

Sonne“

der Fachvertreter_innen wurden einschließlich ihrer kultur- und bevölkerungspolitischen Implikationen übernommen und vorrangig in die Planungen integriert. Folgt man den empirisch gesättigten Ausführungen von Andreas K. Vetter, zeichneten sich auch und gerade die Projekte der Architektur-Avantgarde dadurch aus, dass sie Hygiene und Körperpflege in den Mittelpunkt ihrer Projekte rückten (Vetter 2000, S. 238–283). Tatsächlich fehlt in keinem der zeitgenössischen Texte zur Neuen Wohnung – seien es die Protokolle der interessenspolitisch ausgerichteten CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne)-Kongresse (Steinmann 1979), einschlägige Artikel in Architekturbüchern und ‑zeitschriften oder populäre Wohnratgeber – der Verweis auf die Bedeutung, die der Kategorie Hygiene zukam. In einem Artikel zur Wohnungsbaupolitik von Frankfurt am Main, die in ein großangelegtes Stadtplanungsprogamm eingebettet war, kennzeichnet Ernst May die Schaffung von „gesunde[n] Wohnungen“ als Hauptaufgabe (May 1927, S. 94). In der gleichen Zeit, in der das Neue Frankfurt konkrete Gestalt annahm, erklärt der Bauhaus-Meister Georg Muche die moderne Wohnung zum Raum für die „pflege der körperlichen und geistigen gesundheit des menschen“ (Muche 2000, S. 239). Le Corbusier und Bruno Taut, die Überzeugungen ihrer Kolleg_innen zur Bedeutung der Wohnhygiene teilend, delegieren einen Teil der Verantwortung an die Bewohner_innen, indem sie an diese appellieren, ihren eigenen Beitrag zu leisten: So fordert Le Corbusier die Bewohner_innen seiner Häuser auf, nach nackten Wänden und Räumen zu verlangen (Le Corbusier 1982, S. 99). Taut wendet sich in seinem Buch Die Neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin gezielt an die Hausfrauen und weist diese an, „überflüssige Möbel“ aus den Wohnungen zu entfernen, die verbliebenen Gegenstände einer strengen Inventur zu unterziehen und, wo immer nötig, zu glätten und zu reinigen (Taut 1924, S. 61). Unablässiges Aus-Räumen und Rein(e)-Machen sollte den hygienischen Zustand der Wohnungen sichern und bei den Wohnsubjekten ein Wohlbefinden auslösen, das sich außer auf ihre physische Verfassung auch auf psychische Dispositionen und sozialethische Haltungen auswirkte. Mit einer veränderten Wahrnehmung des Wohnraumes und der Dinge des Wohnens müsse sich, davon zeigte man sich überzeugt, auch der Begriff vom Wohnen wandeln. Eine „herrliche Raumbefreiung“ verspricht Taut seinen Leserinnen als Effekt der Reinigungsarbeiten und stellt ihnen damit gleichzeitig ein neues, eben befreites Lebensgefühl in Aussicht (ebd.).

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Die Essentials der Wirkungszusammenhänge, die das Konzept der Neuen Wohnung wesentlich bestimmten, setzt das Umschlagbild von Sigfried Giedions Programmschrift in einer Art Bild-Text-Collage suggestiv in Szene: „Befreites Wohnen“ verkündet der Titel in großen Lettern, um daneben, in blockweise durchs Bild wandernden Wortgruppen, die Indikatoren dieser Maxime anzuzeigen: „Licht, Luft, Oeffnung“ (Giedion 1929). Die Fotografie zeigt die praktische Umsetzung des Programms: Ein Paar ‚wohnt‘ auf dem lichtdurchfluteten Balkon seines Zuhauses. Den Außenwohnräumen wie Balkonen und Terrassen galt das Augenmerk der Wohnungshygieniker_innen in besonderem Maße. Selbst wenn die Innenräume klinisch sauber gehalten wurden, konnte dies den Aufenthalt an der frischen Luft nicht ersetzen. Entsprechend zählte auch für die Architekt_innen das „Luft- und Lichtbad“ selbstverständlich zum „Wohnprogramm des modernen Menschen“ (Dexel 1928, S. 114). Liegestühle, wie sie die Frau auf Giedions Coverbild nutzt, sollten für die Bequemlichkeit im Freien sorgen, aber auch Matratzen und ganze Betten fanden auf den Außenflächen Platz. Das Freiluftbett der 1924 nach dem Entwurf von Robert Mallet-Stevens erbauten Villa Noailles in Südfrankreich ist das bekannteste Beispiel für eine Einrichtung, wie sie in der zeitgenössischen Einzelhaus- und Villenarchitektur häufiger anzutreffen war (Vetter 2000, S. 259–262). In den geringer bemessenen Etagenwohnungen kam die Aufstellung eines Freiluftbettes nur selten in Betracht. Der Aufruf „Betten und Matratzen an die Sonne“ auf einem Plakat des Deutschen Hygiene-Museums bezieht sich denn auch nicht auf den Transfer von Betten ins Freie als vielmehr auf das morgendliche Auslüften des Bettzeugs, das Spuren und Gerüche von Schlafgebrauch und Sexualität beseitigen sollte (Rodenstein/Ott 1996, S. 506). Wo den Bewohner_innen der Freiluftschlaf versagt blieb, sollte immerhin das Schlafzimmer auf „peinlichste Sauberkeit angelegt [sein]“ und auf die notwendigsten Möbel, Bett und Schrank, beschränkt bleiben (Dexel 1928, S. 114f.). „Je mehr man aus dem Schlafzimmer entfernen kann, um so besser“, schließt sich Ludwig Neundörfer in seinem Ratgeber Wie wohnen? an (Neundörfer 1930, S. 5). „Ganz glatte Flächen, aus gesundheitlichen Gründen (Staub!) notwendig“, erläutert die Legende zu einer Fotografie, die eine Schlafzimmereinrichtung zeigt (ebd., S. 27). Die hier vorgestellten Betten entsprechen einem Typus, den der Möbeldesigner in Mays Frankfurter Team, Ferdinand Kramer, 1925 entwickelt und über die städtische Hausrat GmbH Frankfurt am Main vertrieben hatte (Abb. 2). „Hygienisch

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sanitäre Möbel“ sollten die modernen Wohnungen in Frankfurt erhalten (Kramer 1928, S. 9). Die Verpflichtung auf Standards der Hygieneforschung hatte für Vertreter_innen des Neuen Bauens vorwiegend prophylaktische Funktion, sie konnte aber auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden. Das Gastzimmer in dem von Le Corbusier geplanten Einzelhaus auf der Stuttgarter Weißenhofausstellung ließ sich nach der Aussage des Bauleiters Alfred Roth im Bedarfsfall umstandslos in ein Krankenzimmer verwandeln, da es über eine Glastüre mit der offenen Terrasse und dem Sonnenbad verbunden war (Roth 1977, S. 29). Was für Roth und Le Corbusier eher einen Nebenschauplatz darstellte, stand für den ebenfalls an der Weißenhofausstellung beteiligten Peter Behrens im Mittelpunkt seines Planungskonzeptes. Behrens erweiterte die Wohneinheiten seines Hauses durch umlaufende Terrassenflächen; die Tag- und Nachtnutzung der Außenräume sollte sowohl der Abwehr von Krankheiten dienen bzw. zumindest ihre weitere Verbreitung verhindern wie auch Erkrankten, speziell Tuberkulosepatient_innen, Linderung ihrer Beschwerden verschaffen (Behrens 1927, S. 296). Ein weiteres Mal ist es Giedions überwiegend auf Bildmaterial aufgebaute Programmschrift Befreites Wohnen, die den stets virulenten Zusammenhang zwischen dem herzustellenden ‚Gesunden‘ und dem abzuwehrenden ‚Kranken‘ prägnant zusammenfasst. Über die Hälfte der Fotoreproduktionen im Buch, stellt Beatriz Colomina in Die Krankheit als Metapher in der modernen Architektur fest, zeigen entweder Sport- oder Krankenhausgebäude (Colomina 1997, S. 60). Während bei Giedion der kranke Körper, im Hospitalbett oder auf der Terrassenliege ausgestreckt, immer als malader, insuffizienter vorgeführt wird, tritt der gesunde Körper den Betrachter_innen in der Bildrepräsentation einer strahlenden jungen Frau im Tennisdress gegenüber. „Wer heute von Sport und Gymnastik kommt“, heißt es in der am Rand aufgeklebten Textzeile, „trägt ein befreites Körpergefühl in sich, das auch das kerkermässig verklemmte Haus nicht mehr verträgt. Licht, Luft, Oeffnung.“ (Giedion 1929, o.  S., Abb. 83) Die Darstellung der Tennisspielerin ist die einzige Abbildung im Buch, die eine den Bildraum ausfüllende, den Betrachter_innen frontal zugewandte Ganzkörperfigur zeigt. Das „befreite Körpergefühl“ als Quintessenz des Neuen Wohnens inkarniert Giedion im Bild der Neuen Frau, die zum Ende der 1920er Jahre längst vom modischen Phänotyp zum „Alltagsmythos der Zwanziger Jahre“ (Sykora 1993, S. 9) oder anders ausgedrückt: zum Prototyp der modernen Zeit geworden war.

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Abb.  2  Ferdinand

Kramer:

Standardbett,

1925.

In der intensiven Beschäftigung mit dem Paradigma der Gesundheit durch die Avantgarde-Architekt_innen sieht Colomina eine Reaktion auf biomedizinische Körpervermessungen, die „zu einer Neustrukturierung der Architektur selbst“ geführt hätten (Colomina 1997, S. 64). Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen soll diese Feststellung spezifiziert werden. Die Fokussierung auf Hygiene und Gesundheit seitens der Architekt_innen, so kann festgehalten werden, war mehr als eine Reaktion auf das Wissen der Bio-Medizin. In ihr zeigte sich vielmehr das Einverständnis mit diesem Wissensstand sowie die Teilhabe an einem Diskurs, der von Beginn an transdisziplinär organisiert war. Anders ausgedrückt: Die Architekt_innen verstanden sich als Akteur_innen einer Regulierungstechnologie, die unter der Bezeichnung „soziale Rationalisierung“ im Dienste gesellschaftlichen Fortschritts agierte. An Michel Foucaults Thesen zur Bio-Macht und den damit verbundenen Rationalitätsbegriff

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Sonne“

anschließend lässt sich diese Technologie als eine Machtform lesen, die „das Leben in seine Regie genommen hat“ (Foucault 2014, S. 67). Mittels Geburtenkontrolle, Gesundheitsprophylaxe und anderem mehr, so Foucault, betreibe die Bio-Macht die Disziplinierung und Normalisierung des Einzelkörpers, um den gesunden und leistungsfähigen Gesellschaftskörper herzustellen (ebd., S. 69f.). Im Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsvorsorge wird dieser Zielsetzung sehr konkret und unmissverständlich Ausdruck verliehen: „Jede Krankheitsverwahrung oder Heilung bedeutet, einen Menschen als einen bloßen Verzehrer zu einer Werte schaffenden Kraft umzuwandeln.“ (Maier 1926, S. 12)

Sexualisierungen: Eigenbetten und die Wahrung d e r S i t t l i c h k e i t Foucault entwickelt seine Theoreme zur Bio-Macht ausgehend von seiner Geschichte der Sexualität. Am Kreuzungspunkt von Körper und Bevölkerung situiert, müsse der Sex zur „zentralen Zielscheibe“ für die Bio-Macht werden (Foucault 2014, S. 75). Das Dispositiv der Sexualität spielte auch für die Planungskonzepte der Avantgarde-Architekt_innen eine konstitutive Rolle. Die bereits zitierten Anweisungen zu einem gesunden Wohnen bezogen sich explizit oder implizit auf Sexualpraktiken. „Die Trennung der Geschlechter muss auch in Zeiten größerer Wohnungsnot oberster Grundsatz einer gesunden Wohnungspolitik sein“, schreibt Ernst May 1930 (May 1930, S. 38). „Durch entsprechende Sicherungen und Kontrolle muss Fürsorge getroffen werden, dass solche kleinen Wohnungen nicht ihrer Bestimmung zuwider überbevölkert werden.“ (Ebd.) May bezieht sich hier auf die Untervermietung von Betten an Schlafgänger, wie sie im proletarischen Haushalt verbreitet war, und warnt vor den moralischen Gefahren dieser Praxis. Deutlicher wird Peter Behrens in der Erläuterung zu seinem Terrassenhaus auf dem Weißenhof, wenn er einen der Ansteckungsherde, dem man mit den Wohnungskonzepten prophylaktisch entgegenwirken wollte, näher charakterisiert: Durch die Abtrennung der einzelnen Schlafstellen (auf den Terrassen) sollten „Ansteckungsgefahren, die der großstädtische Verkehr leider mit sich zu bringen pflegt, vermieden werden“. Aus dieser Abtrennung ergäben sich Vorteile „in hygienischer und sittlicher Hinsicht“ (Behrens 1929, S. 296). Mit der Bezeichnung „großstädtischer

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Verkehr“ spielt Behrens auf ein promiskuitives Sexualverhalten an, wie es vermeintlich im Milieu der Bohème oder als gewerbsmäßige Prostitution auf den Straßen der Großstädte anzutreffen war. Geschlechtskrankheiten, hervorgerufen durch „wahllose[n] Geschlechtsverkehr, wie er sich am entartetsten in der Prostitution darstellt“ (Maier 1926, S. 68), galten Wohlfahrtspfleger_innen und Sozialhygieniker_innen als ein Hauptangriffspunkt ihrer Arbeit. Promiskuität und Triebhaftigkeit wurden als anomale, degenerative Dispositionen gebrandmarkt, die aufs Schärfste zu bekämpfen seien. Zwangsbehandlungen und „ständige Überwachung der Gefährdungszentren“ seien beim Umgang mit Männern und Frauen, die der Prostitution nachgehen, zu beachten, zitiert Hans Meier die Frauenrechtlerin und Vorsitzende der Gesellschaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten Anna Pappritz (ebd., S. 72f.). Für Bruno Schwan, Geschäftsführer des Deutschen Vereins für Wohnungsreform, waren nicht allein die Straßen der Großstadt, sondern auch die Wohnungen Schauplätze sexueller Degeneration. Verbrechen gegen die Sittlichkeit – Unzucht, Kuppelei, Notzucht, Blutschande und Ehebruch – seien „Wohnverbrechen“, schreibt er 1929 (Schwan 1929, S. 40). Als geeignetes Mittel der Prävention empfiehlt Schwan das „Eigenbett“. Erst wenn man „auch den Geringsten abends [...] in sein Eigenbett schicken könne[ ]“, sei man berechtigt, „von einer wahren Kultur“ zu sprechen (ebd., S. 29). Für Verheiratete konnte der Anspruch auf ein Eigenbett nur das Anrecht auf ein gemeinsames Ehebett bedeuten, denn in der Ehe war Sexualverkehr nicht nur erlaubt, sondern mit dem Ziel der Fortpflanzung eigens erwünscht. Den Schutz von Ehe und Familie garantierte die Weimarer Verfassung ebenso wie das Recht auf eine gesunde Wohnung. Aber auch der eheliche Sexualverkehr sollte, so Anna Bergmann in ihrer aufschlussreichen Untersuchung Die verhütete Sexualität, unter die Kontrolle des Staates gebracht werden. Das ab 1910 aufgelegte Programm zur „Rationalisierung der Fortpflanzung“ als bevölkerungspolitischer Entwurf hatte nicht nur eugenische, auf eine qualitative Auslese gerichtete Ziele, es legte auch der ehelichen Sexualität den Triebverzicht auf. „Normale Sexualität unterlag einer Katharsis von sinnlicher Lust, denn Heterosexualität hatte nur ein Motiv: dass der ‚männliche Fortpflanzungstrieb‘ und der weibliche ‚Mutterinstinkt‘ in Funktion traten.“ (Bergmann 1998, S. 272) Voraussetzung dafür waren Schlafräume, die Eltern von den Kindern und Kinder verschiedenen Geschlechts vonei-

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nander trennten. Wohnmodelle, bei denen diese Abtrennung vernachlässigt wurde, riefen selbst bei grundsätzlichen Befürworter_innen des Neuen Bauens ablehnende oder zumindest irritierte Reaktionen hervor. So bei Marie-Elisabeth Lüders, die im Auftrag der Reichsforschungsanstalt für Wirtschaftlichkeit im Bauwesen die Wohnungen der Weißenhofausstellung untersuchte. In ihrer Rezension für die Werkbundzeitschrift Die Form schrieb Lüders in süffisantem Ton über das Elternschlafzimmer im Einfamilienhaus Le Corbusiers, das eine nur halbhohe Zwischenwand zum Bad vorsah: „Hier befinden sich neben dem Elternschlafzimmer durch eine halbhohe Wand davon getrennt – Bad und Bidet!! Jedes Kind, dessen Erfindungsgabe sich diese einzigartige Möglichkeit nicht zunutze macht, kann nur aufrichtig bedauert werden.“ (Lüders 1927, S. 316) Auch Hans Bernoulli, der die Stuttgarter Wohnungen für die Schweizer Zeitschrift Das Werk in Augenschein nahm, bereitete Le Corbusiers Wohnkonzept offensichtlich Unbehagen. „Soll dieses Ineinanderfließen von Räumen eine Art Programm bedeuten für das Wohnen selbst?“, schreibt er, gleichfalls bezogen auf das Einfamilienhaus. „Oder handelt es sich bloß – wie wir vermuten – um ein Weiterspinnen des Atelierwesens, da neben der Staffelei auf einem wackligen Tisch ein improvisiertes Diner aufgestellt wird [...], wo das Gelieger [gemeint ist die Bettstatt] stets bereit ist für Modell und Freundin, ergänzt durch Bad und Bidet?“ (Bernoulli 1927, S. 263). Das Schlafzimmer weist wenig Ähnlichkeit mit einem Künstleratelier auf, allein der fehlende Raumabschluss und das Bidet im Badezimmer evozieren beim Kritiker die Vorstellung sexueller Libertinage, die er im Künstlermilieu vermutet. Die von den Kritiker_innen getadelte Einbeziehung des Bades in das Schlafzimmer ging auf die Entwurfsidee des Architekten Le Corbusier zurück und war nicht etwa durch wirtschaftlich begründete Beschränkungen im Raumangebot motiviert. Im sozialen Wohnungsbau der 1920er Jahre und vor allem in der Zeit der Wirtschaftskrise ab 1929 spielten dagegen wirtschaftliche Erwägungen bei der Wohnungsgröße wie bei der Anzahl der Zimmer eine entscheidende Rolle. In den Minimalwohnungen, die nach 1929 die einzig noch verbliebene Option der Wohnraumversorgung darstellten, war eine den Maßgaben von Hygiene und ‚Sittlichkeit‘ entsprechende Trennung der Räume aus Platzmangel nicht mehr durchführbar. Die Wohnung für das Existenzminimum, wie sie für die Siedlung Frankfurt-Westhausen konzipiert und eingerichtet wurde, erhielt Klappbetten, mit denen sich deren Hauptraum im Tag/

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Nacht-Turnus von einem Wohn- in ein Schlafzimmer und vice versa verwandeln ließ. Giedions Befreites Wohnen zeigt ein Foto des Raums in beiden Nutzungsvarianten, das heißt mit hoch- bzw. heruntergeklapptem Bett. Die Bildlegende verweist darauf, dass der Vorhang, der das hochgeklappte Bett verbarg, auf der Darstellung der Tagesnutzung bewusst ausgespart bleibe: „der Deutlichkeit wegen“ (Giedion 1929, o.  S., Abb. 37). Giedion unterscheidet hier also sorgsam den Zeige-Modus für die mediale Repräsentation vom Gebrauchs-Modus, wie er sich allein in der Wohnpraxis realisierte. Erst im Gebrauch, wenn es hinter dem Vorhang verborgen blieb, erfüllte das Klappbett seine Funktion, aus der wirtschaftlich bedingten (Raum-)Not eine wohnhygienische und sittlichkeitskonforme Tugend zu machen. Hinter dem Vorhang verschwand das Bett aus dem Blickfeld, so als stünde es den Forderungen nach einer intimisierten Privatsphäre entsprechend in einem separaten, abgeschlossenen Raum.

Askese E i n e

contra „Leibverwöhnung“: S c h l u s s b e t r a c h t u n g

Hannes Meyers Co-op-Interieur, mit dem dieser Artikel beginnt, und die Wohnung für das Existenzminimum, die am Ende einer Reihe von Beispielen für den Konnex von Rationalisierungsdiskursen und dem Konzept der Neuen Wohnung steht, sind verbunden durch den programmatischen Minimalismus der Raumausstattung. Dabei ist es jeweils das Bett, an dem diese Programmatik sich zeigt: In der Kleinstwohnung stellt das Bett die Verschiebemasse dar, die ein regelhaftes Be-Wohnen erst ermöglicht; im Co-op-Interieur steht die pritschenartige Liege für die moderne Lebensweise des stets mobilen Neuen Menschen, dem häusliche Gemütlichkeit kein Bedürfnis mehr ist. In ihren sozialen Kontexten sowie in Bezug auf die Adressat_innen unterscheiden sich die beiden Modelle jedoch voneinander. Während die Kleinstwohnungen unter dem Diktat der Wirtschaftskrise für den sozialen Wohnungsbau entstanden, hatte Meyer bei seiner Charakterisierung des Bewohners der „Neuen Welt“ vorrangig eine Künstlerexistenz im Sinn. Die Aufgabe, die Welt zu gestalten, schreibt Meyer den Künstler_innen, auf die er im Text mehrfach zu sprechen kommt, ins Stammbuch. An anderer Stelle im Artikel heißt es: „Das Künstleratelier wird zum wissenschaft-

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lich-technischen Laboratorium und seine Werke sind Ergebnisse von Denkschärfe und Erfindungskraft.“ (Mayer 1926, S. 223) Das Co-opZimmer kann also als Atelierraum gelesen werden, dem ein dem technischen Fortschritt verschriebener Künstler- bzw. Architektentypus als idealer Bewohner entspräche. Meyers Kollege Le Corbusier hat diesen Typus in Ausblick auf eine Architektur charakterisiert: „Die Ingenieure sind gesund und männlich, aktiv und nützlich, moralisch und fröhlich“ (Le Corbusier 1982, S. 31). Keineswegs bei allen Protagonist_innen der Neuen Wohnung ist der Neue Mensch so eindeutig männlich definiert. Bei Giedion entfaltet, wie gezeigt, der gesunde Körper seine Strahlkraft im Bild der Neuen Frau; Kramer und die Planungsgruppe um May wiederum entwickelten ihre Wohnkonzepte zum überwiegenden Teil für ein Zusammenleben in der Kleinfamilie. Ein Vorbild für Idee und Praxis eines befreiten Wohnens scheint der asketische Künstlertyp aber schon zu sein. Wenn ws Betten auch Matratzen sowie Plumeaus und Kissen – mit klinisch weißen Bezügen – aufweisen, so zeichnet seine mit Segeltuch oder Ledergurten bespannten Liegen, die im Wohnzimmer der Typenwohnungen oder in Kindergärten Verwendung finden sollten, eine ähnliche, als Absage an den Komfort wirksame Textilarmut aus wie Meyers Co-op-Bett. Für eine sinnliche, mit emotionalen und erotischen Erfahrungen verbundene „Leibverwöhnung“, wie sie Heidi Helmhold für das Bett als „textilintensives“ Möbel beschreibt (Helmhold 2012, S. 67), hatte das Konzept von Neuer Wohnung und Neuem Menschen keine Verwendung. Ein zerwühltes oder gar mit Spuren einer Liebesnacht kontaminiertes Bett war für Wohnungshygieniker_innen wie für Wohnungs_planerinnen Anathema.

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Christiane Keim

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Christiane Keim

A bbi l d u ngsnac hw e is e Abb. 1: © Eduard Carl Hoffmann, Basel

Abb. 2: © Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Müller-Wulckow

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Schlaf, Gesundheit und Moral.

Zur Geschichte des Schlafs und den „nachtheiligen Folgen“ warmer Federbetten

Der Schlaf ist eine anthropologische Konstante. Seine Thematisierung und Diskursivierung hat immer schon stattgefunden – ob nun die Schlafzimmerausstattung, Schlafmittel, erklärende Schlaftheorien oder die Arbeitsbedingungen in der Moderne betreffend. Der an sich also ahistorische Schlaf eignet sich trotz und gerade wegen seiner Konstanz sehr gut als Thema für historische Forschungen – beispielsweise wenn man untersucht, wie unter früheren, also für uns zunächst fremden gesellschaftlichen Bedingungen mit dem Phänomen umgegangen bzw. wie es erforscht wurde. In meiner Forschung untersuche ich, wie Schlaf und Schlaflosigkeit im wissenschaftlichen Diskurs und in populären Gesundheitsratgebern vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert thematisiert wurde. Während der Recherche wurde schnell deutlich: Über Schlaf wurde vor allem dann in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten verhandelt, wenn er ein Problem darstellte – sei es theoretisch in Form einer wissenschaftlichen Fragestellung oder praktisch in Form von Schlafproblemen. In diesem Beitrag stelle ich überblicksartig die zentralen Thesen meiner Forschungsarbeit vor (vgl. Kinzler 2011; Kinzler 2014). In der Zeit zwischen Aufklärung und frühem 20. Jahrhundert verband sich der Schlafdiskurs mit mehreren breiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen im Kontext etwa der medizinischen Aufklärung oder des Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts. Analysiert man, wer in welchem Kontext über den Schlaf publizierte, stellt sich zugleich heraus, wie und aus welchen Perspektiven im bürgerlichen Zeitalter nicht nur Körperkonzepte, sondern auch das vorherrschende

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Schlaf,

Gesundheit

und

Moral

Menschenbild geprägt wurden. Das lange 19. Jahrhundert lässt sich auf den Schlaf bezogen grob in drei Abschnitte unterteilen, in denen sich der Schlafdiskurs auf je spezifische Art verdichtete. In einem vierten Abschnitt möchte ich anhand eines konkreten Beispiels aus der Ratgeberliteratur der Aufklärungszeit die für die beginnende Moderne typische enge Verbindung von hygienischen und gesellschaftlichen Normsetzungen herausarbeiten. Exemplarisch wird gezeigt, welche gesundheitlichen und moralischen Probleme das Schlafen in Federbetten für die Zeitgenoss_innen – treffender: für eine kleine, diskursprägende Gelehrtenschicht – darstellte.

1. Schlaf in Aufklärung und Romantik (um 1800) Die Aufklärung säkularisierte den Schlaf und bereitete seine Einfügung in die romantische Naturphilosophie vor. „Säkularisierung des Schlafs“ im 17. und 18. Jahrhundert bedeutete: Manchen Zeitgenoss_innen galt der Schlaf noch als Joch, das Gott dem Menschen wie andere Mühsale als Strafe nach dem Sündenfall auferlegt hatte (vgl. Grulich 1768). Mit der Aufklärung sollte nun aber der – prinzipiell perfektible – Mensch Eigenverantwortung für seine Gesundheit wie für seine Moral übernehmen. Besonders die Gesundheitskatechismen der Volksaufklärer, aus denen an späterer Stelle noch zitiert wird, prägten das Bild des selbstbestimmten Menschen, der auch in Bezug auf sein Schlafverhalten dem Imperativ der Mäßigung folgte, um seine Lebenskraft zu erhalten (vgl. Sahmland 1991). Philosophen und Mediziner suchten nach Zweck und Ursache des Schlafs und verorteten ihn in der Interaktion zwischen Leib und Seele. Der antike spiritus animalis, für dessen Wiederherstellung der Schlaf verantwortlich galt, blieb dafür, wenngleich immer wieder in leicht modernisierter Gestalt, etwa als Nervensaft, die Brückenkonstruktion (Müller 1991; vgl. Nudow 1791). Dies änderte sich zur Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Anwendung der neuen Reizlehren auf den Schlaf (vgl. Vogel 1801). Damit verlagerten sich die Ursachen von Schlaf und Schlaflosigkeit tendenziell auf die Umwelteinflüsse. Um 1800 begannen die Naturphilosophen, den Schlaf in den Gesamtorganismus der Natur und des Kosmos einzubetten: Der Mensch war für sie von den Kräften und Gesetzen der Natur bestimmt, etwa durch den Wechsel von Tag und Nacht. Man kann sagen, dass der Schlaf in der Romantik für einige

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Sonja Kinzler

Jahre nicht im eigentlichen Sinne problematisiert wurde, sondern sich vielmehr problemlos in naturphilosophische Systeme integrieren ließ (Kinzler 2011).

2. Schlaf in der Zeit der Verwissenschaftlichung und Industrialisierung (um 1850) In der Mitte des 19. Jahrhunderts, also zur Zeit der Industrialisierung, wurde der Schlaf einer naturwissenschaftlichen Erforschung unterzogen, etwa in der Ermüdungsforschung (Rabinbach 1992). Den Fortschrittsoptimismus der Aufklärer ließen nun immer stärker spezialisierte Naturwissenschaftler wieder aufleben. Physiologen, Psychophysiker, Chemiker oder Nervenärzte versuchten mit den Mitteln ihrer jeweiligen Disziplin, den Schlaf zu vermessen und zu ergründen. Auch sie glaubten daran, den Menschen vervollkommnen und den Schlaf verstehen sowie die Notwendigkeit des Schlafs letztlich überwinden zu können. Allerdings führte für sie der Weg dazu nicht mehr über die moralische Selbstperfektionierung, sondern über eine technische Fremdperfektionierung: Nicht mehr die Kant’sche Selbstkontrolle oder die Erziehung nach Rousseau’schen Idealen konnten den Ausschlag geben. Jetzt ging es um die technische Beherrschung der Maschine Mensch (de La Mettrie 2001; Sarasin 2001), deren Körperkraft in physikalischen und chemischen Gesetzen erfassbar schien (Kinzler 2011).

3. Schlaf als erschöpften

Problem der von der Moderne Bürger_innen (um 1900)

Die Wende zum 20. Jahrhundert ist geprägt von einer Hochkonjunktur des Themas Schlaflosigkeit, die mit der Modekrankheit Neurasthenie einherging (Gijswijt-Hoftstra/Porter 2001). Den Glauben an den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt erschütterten unter anderem die Rückschläge, die die Ermüdungsforschung der Psychophysiker in dieser Zeit erfuhr: Gerade die geistige Ermüdung wollte sich nicht wie erhofft vermessen lassen (Rabinbach 1992). Dies führte aber nicht zu einer Rückkehr in die weiterhin als spekulativ gebrandmarkte Naturphilosophie mit ihrem zyklischen Natur- und

225

Schlaf,

Gesundheit

und

Moral

Menschenbild. Als Bremse im Zeitalter der Beschleunigung lässt sich die Konjunktur der „Nervenerschöpfung“ auffassen, in deren Zeichen sich die eigentlichen Akteure der Modernisierung, die Bildungs- und Wirtschaftsbürger – und ihre Frauen –, gegen die Anforderung wehrten, reibungslos funktionieren zu müssen. Daher kamen im Schlafdiskurs nun auch Nervenärzte und Psychiater zu Wort, die Therapien gegen die „nervöse Schlaflosigkeit“ entwickelten (z.  B. Flatau 1901). Indem eine wachsende Gruppe von Schlaflosen die Diagnosen ihrer eigenen Empfindlichkeiten als Neurasthenie und die Wahl der pharmazeutischen und naturheilkundlich-diätetischen Therapie mitbestimmten, hatten sie als Patient_innen bzw. Konsument_innen nun auch deutlich mehr Einfluss auf das zeitgenössische Körper- und Menschenbild. Der Schlaf wurde, mit anderen Worten, ein Stück weit demokratisiert und kommerzialisiert (Kinzler 2011). Lange vor der Institutionalisierung der Forschung in Schlaflabors ab der Mitte des 20. Jahrhunderts war der Schlaf also nicht etwa nur am Rand verschiedener philosophischer, medizinischer und gesellschaftlicher Debatten Thema. Das liegt wesentlich daran, dass der unvermeidliche Schlaf – oder sein Ausbleiben – Nacht für Nacht quer zu den Ansprüchen des von den Zeitgenoss_innen der jeweiligen Epoche als rationalisiert wahrgenommenen modernen Lebens lag. Die Vorstellung, in einer modernen Welt zu leben, die nicht zuletzt den Schlaf beeinflusse, gab es bereits im 18. Jahrhundert. Neben vielen weiteren Konstanten, die sich durch den Schlafdiskurs im langen 19. Jahrhundert verfolgen lassen – von der allgegenwärtigen Modernekritik über den Topos vom gestressten Gelehrten bis zu Elementen aus der antiken Diätetik –, ist die Bezeichnung des Schlafs als „Rätsel“ (Anonymus 1775, S. 378) oder als „Mysterium der Natur“ (Ideler 1846, S. 168) wissenschaftshistorisch vielleicht am bedeutsamsten. Die Historisierung des Schlafs führt also keineswegs zu einer teleologischen Vor-Geschichte der neurowissenschaftlich dominierten Schlafforschung, wie wir sie heute kennen – und die den Schlaf in Schlaflabors analysiert und daraus Therapien ableitet, den Schlaf aber letztlich doch nicht beherrscht. Weiterhin haben wir den Schlaf also nicht unter Kontrolle, weder wissenschaftlich-abstrakt noch persönlich-konkret (Kinzler 2014). Abend für Abend müssen wir uns den Ungewissheiten der Nacht ausliefern. Und Schlafprobleme kennen wir auch heute noch zur Genüge.

226

Sonja Kinzler

4 . Z u r Ve r b i n d u n g vo n hyg i e n i s c h e n u n d gesellschaftlichen Normsetzungen: das Beispiel des Schlafens in Federbetten Wie eingangs angekündigt, soll im Folgenden anhand des Topos der schädlichen Federbetten ein etwas detaillierterer Blick auf die Verbindung von moralischen und Gesundheitsfragen in der Zeit der Aufklärung geworfen werden (Kinzler 2011; Mohrmann 1994). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, die die Forschung als medizinische Aufklärung bzw. staatliche Medikalisierung bezeichnet hat (vgl. Loetz 1993). Dabei ging es um die allmähliche Integration von Individuen und Gruppen in ein entstehendes staatliches Versorgungsnetzwerk im Sinne des aufgeklärten Absolutismus. Erklärte Ziele, die in einigen deutschen und anderen mitteleuropäischen Ländern unter anderem durch die Einrichtung einer „Medicinalaufsicht“ sichergestellt werden sollten, waren „Bevölkerungsvermehrung, Sicherheit des Lebens und Wohlfahrt der Untertanen“ (Dinges 2000, S. 263). Dazu kamen die Bekämpfung von Seuchen und die Einrichtung von Krankenhäusern (ebd., S. 263–295). Die Fach‑ und Ratgeberliteratur nicht nur zur privaten, sondern auch zur öffentlichen Hygiene erfuhr nun einen bemerkenswerten Aufschwung. Die sogenannte hygienische Volksaufklärung machte sich daran, neue Ideale und Regeln für die gesunde Lebensführung so breit wie möglich in allen zur Verfügung stehenden Medien zu popularisieren. Wo und wie kamen nun die Federbetten ins Spiel? Bis ins 20. Jahrhundert hinein wetterten Ärzte gegen ihre Verwendung, wenn auch mit wenig Erfolg: Sie waren weiterhin beliebt und gehörten in vielen Familien zu den wertvolleren Aussteuerstücken (Kinzler 2011, S. 133). Die Kritik an den Federbetten war in der Aufklärungszeit aufgekommen und schnell ein fester Bestandteil in den bald weit verbreiteten Gesundheitskatechismen geworden. Dabei handelte es sich um preiswerte kleine Handbücher oder Fibeln, die pädagogisch aufbereitete Regeln der Lebensführung vermittelten. Ihr Vorbild waren die religiösen Katechismen, die im Schulunterricht bereits fest verankert waren (Sahmland 1991; Stolberg 1998, S. 305–317). Wie eng die Vorstellungen von gesunder und moralischer Lebensführung miteinander zusammenhingen, zeigt sich beispielsweise sehr deutlich am entsprechenden Abschnitt im Gesundheitskatechismus für den Bürger und Landmann zum Gebrauche in Fei-

227

Schlaf,

Gesundheit

und

Moral

ertagsschulen in den kurpfälzischen Staaten von 1804, wo im bewährten und beliebten Frage-Antwort-Schema erklärt wird: „Was kann bey den Menschen einen gesunden, ruhigen Schlaf befördern? Arbeitsamkeit, Mäßigkeit im Essen und Trinken, Keuschheit, gesunde Schlafzimmer, und ein gutes Gewissen. Was kann den ruhigen Schlaf stören? Faulheit, Unmäßigkeit im Essen und Trinken, Unkeuschheit, gar zu warme Schlafzimmer und Federbetten, schreckhafte Träume, Kummer, Sorgen, Verdruß, Zorn und ein böses Gewissen.“ (Wetzler 1804, S. 55) Eine Vielzahl von Kriterien, die nach den Worten der Volksaufklärer den Schlaf und seine Qualität ausmachten, bieten sich für ausführlichere medizin-, sozial- oder mentalitätshistorische Analysen an. So stand das Gebot der Mäßigkeit im Zentrum bürgerlicher Lebensführung. Auch wiederholten sich Ratschläge wie derjenige, dass man nach Möglichkeit das Bett nicht teilen solle (z.  B. ebd., S. 47–58); ein für die Mehrheit der Zeitgenoss_innen sehr realitätsfremdes Ansinnen. Mit Blick auf die Federbetten stellt sich aus heutiger Sicht die Frage: Was spricht denn gegen sie? Federn und Daunen kennen wir ja auch heute noch als Füllmaterial für Kopfkissen und Zudecken (Plumeaus). Dabei ist zu beachten, dass es bei den Diskussionen um Federbetten immer auch um mit Federn gefüllte Schlafunterlagen ging, an deren Stelle die Hygieniker nun dringend Matratzen, am besten mit Rosshaarfüllung, empfahlen. Gesunde Schlafzimmer sollten generell dunkel, still, sauber, kühl, trocken und gut belüftet sein (Hufeland 1803). Diese Ideale wurden aber nach einhelliger Expertenmeinung durch die kuscheligen Federbetten untergraben, in denen man zu leicht schwitze (vgl. Wildberg 1828, S. 311; Klencke 1875, S. 245), die eine ungünstige, halb sitzende Körperhaltung und damit die Faltenbildung beförderten (Rosch 1837, S. 18) und die körperliche und moralische Nachteile mit sich brächten. Und diese „nachtheiligen Folgen“ (Hufeland 1803, S. 78) schienen nicht etwa durch Schmutz, Wanzen und Flöhe verursacht zu sein, sondern dadurch, dass das lange und weiche Liegen das damals scheinbar immer verbreitetere, gefährliche Laster der „Selbstbefleckung“ förderte. Der Starhygieniker der Zeit, Christoph Wilhelm Hufeland, der seinen zahlreichen Leser_innen das Befolgen der Gesundheits- und Lebensregeln mit dem Versprechen auf Lebensverlängerung schmackhaft machte, stellte selbst die inhaltliche Verbindung zu einer der unter Medizinern sowie interessierten Lai_innen heiß diskutierten Debatte her: derjenigen um die Onanie (Hufeland 1797; Hufeland 1803, S. 112f.; Tissot 1761).

228

Sonja Kinzler

Die medizinische Argumentation des Onaniediskurses basierte auf der Annahme, dass die „Vergeudung des männlichen Samens“ die „Verkrüppelung des Körpers und Geistes“ nach sich ziehe (Fischer 1831, S. 35). Erklären ließ sich der rege Geschlechtstrieb im Schlaf wie das Entstehen der Träume mit der sogenannten Einbildungskraft. Außerdem machten „Ausschweifungen aller Art“ die „Geburtstheile“ reizbar, sodass nicht etwa mehr die „große Keuschheit“ früherer Zeiten als Ursache galt, sondern vielmehr ihr Gegenteil (vgl. Davidson 1796, S. 68f.). Mit dem Onaniediskurs berührte der Schlafdiskurs also eine Überschneidungsfläche von bürgerlicher Moral und medizinisch-hygienischen Argumenten (vgl. Eder 1994, S. 61). Die Onanie selbst galt nicht als ein rein männliches Phänomen. Der Schlafdiskurs, in dessen Rahmen die Onanie hier thematisiert wurde und der von Männern bestimmt wurde, scheint auf den ersten Blick ein geschlechtsneutraler Diskurs über den Menschen gewesen zu sein (Kinzler 2005). In den Wissenschaften vom Menschen, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatten, galt seit etwa 1800 als – nicht unbedingt ausgesprochene – Norm des Menschen der gesunde Bürger, genauer der gesunde männliche Bürger. Mit der überwiegenden Identifizierung des Menschen als Mann war etwa zeitgleich die Entwicklung einer „weiblichen Sonderanthropologie“ verbunden (Honegger 1991). Auch wenn die historische Literatur über den Schlaf geschlechtliche Unterschiede kaum thematisierte, war der Diskurs prinzipiell also keineswegs geschlechtsneutral. Der Schlaf der Frauen scheint den meisten Autoren schlicht nicht weiter erwähnenswert. Trotzdem manifestierten sich in den Quellen in Einzelfällen Annahmen einer weiblichen Sonderanthropologie, die dabei mit der gängigen sozialen Rolle der Frau gekoppelt wurden. So argumentierte beispielsweise ein Nervenarzt in seiner Allgemeinen Diätetik für Gebildete 1846: „Männer pflegen sich an eine festere Regel des Schlafs zu gewöhnen, als Frauen, welche [...] gerne lang schlafen, als ob sie sich einen Vorrath an Ruhe für die Zeit sammeln müßten, wo sie mit der Pflege kleiner Kinder beschäftigt, oft Monate lang keinen erquickenden Schlaf finden. Freilich können sie dabei auch leichter ausdauern, als Männer, weil ihr Tagewerk lange nicht so angreifend ist, und in einer Art Halbschlaf verrichtet werden kann.“ (Ideler 1846, S. 172) Die Betrachtung des Schlafs über eine längere Zeitspanne eröffnet also Einsichten in die Modellierung unseres Denkens und Diskursivierens dieses Phänomens in unterschiedlichen historischen und kulturel-

229

Schlaf,

Gesundheit

und

Moral

len Kontexten. Dabei zeigt sich auch, dass die Rede über den Schlaf geschlechtlich markiert und mit bestimmten Moralvorstellungen verknüpft wurde. Ein Beispiel dafür ist, wie gezeigt werden konnte, der Topos der Federbetten, also eines mit dem Schlaf verknüpften Dings, über das Gesundheit und Moral (kulturell) geprägt werden.

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232

Gabu Heindl

Matrizenbau und Matratzenlage: von Wohnraumspekulation zu Obdachlosigkeit Matrize

/

Matratze

Im 21. Jahrhundert lebt bereits mehr als die Hälfte der Menschheit in Großstädten, in unterschiedlich dichten Agglomerationen, die, mit David Harvey formuliert, unter kapitalistischen Bedingungen Ungleichheit produzierende Maschinen sind (Harvey 2009). Verstärkt wird dies aufgrund der Matrizen gegenwärtiger Stadtplanungen – Matrize verstanden als Vorgabe oder Struktur –, die großteils der allgegenwärtigen neoliberalen Hegemonie entsprechen. Die Matratze ist im neoliberalen Kontext zwar ein vermeintlich unbedeutendes Element, sie gewinnt jedoch durch den in aktuellen urbanen Gerechtigkeitstheorien reaktivierten Begriff der spatial (in)justice an Gewicht: In abstrakter Form als Zähl- und Zeichnungs-Element in den Grundrissen Sozialer Wohnbauplanungen ist sie Indikator dafür, wie viele Menschen in den zumeist flächenoptimierten Wohnungen leben sollen. Während Luxuswohnungen immer größer werden, wird die Grundfläche von Sozialwohnungen kleiner – bei gleichbleibender Anzahl an Betten, die im Grundriss eingezeichnet werden. Zugleich werden Obdachlose und ihre mobilen Schlafstätten – oft Matratzen – aus dem zentralen Stadtbild verdrängt; häufig aus genau den Bereichen des öffentlichen Raums, die im Rahmen des internationalen Städtemarketings zur informellen touristischen Erholung gedacht sind, wie etwa Parks, deren Wiesen zum Rasten, gar Liegen einladen sollen.

235

Matrizenbau

Wien:

und

New

Urban

Matratzenlage

Governance

Auch in Wien gibt es Wettbewerbsrhetorik und ein Buhlen zugleich um TouristInnen und InvestorInnen. Planungshistorisch ist die Stadt jedoch weltweit bekannt für die umverteilende Wohnbaupolitik in der Ära des „Roten Wien“ während der sozialdemokratischen Alleinregierung in der Zwischenkriegszeit ab 1923 (Blau 1999). Gegenwärtig geht es, wie in vielen europäischen Städten, aber auch in Wien darum, die fordistisch, das heißt hierarchisch (top-down) organisierte wohlfahrtsstaatliche Stadtplanung umzubauen zu einer dienstleistungsorientierten effizienten Administration, die sich mit dem Begriff New Urban Governance assoziiert und die BewohnerInnen Wiens als „Kunden“ bezeichnet. Die Verwaltung bemüht sich um neue Kooperations- und Verhandlungsprozesse und um die Implementierung von diskursiven und kommunikativen Modellen der Partizipation. Wobei gewisse Formen der Partizipation und horizontalen Entscheidungsstruktur vor allem InvestorInnen ansprechen: So wird die Immobilienwirtschaft derzeit in Wien sehr früh in den Prozess der Stadtplanung einbezogen bzw. werden Verantwortlichkeiten, die bislang bei der öffentlichen Hand lagen, an diese abgegeben. New Public Management führt so auch dazu, Aufgaben und Kompetenzen von den lokalen Regierungen an neue Governance-Strukturen wie Public-private-Partnerships oder private Agenturen abzugeben (Astleithner/Hamedinger 2003, S. 54). Die Durchsetzung neoliberaler Planungsimperative wird forciert mit Verweis auf die gegenwärtigen Wachstumsprognosen: Wien wird für die nächsten zehn Jahre, das heißt bis 2025, ein Wachstum um 250.000 EinwohnerInnen vorausgesagt. Dieser Wachstumsschub erfolgt nach Jahren der Sanften Stadt-Erneuerung, eine Form der Stadtplanung, die darauf reagierte, dass die Stadtbevölkerung stagniert bis eher geschrumpft ist. Der gegenwärtige Wachstumsdiskurs hingegen scheint programmatisch unsanft zu sein: Er macht Druck auf die Stadtplanung, erzeugt eine tendenziell fast panische Stimmung in Hinblick auf drohenden Wohnungsnotstand und Bedarf an Infrastruktur. Das bildet die Basis für eine Entwicklung, die allgemein als Privatisierung der Gewinne, Kollektivierung der Verluste bezeichnet wird – und die das Kapital im Verlauf der aktuellen „Krise“ weltweit recht erfolgreich verstärkt hat: Der Bau von Wohnungen und Büros ist zu einem noch profitableren Markt geworden; die Umsetzung wenig gewinnträchtiger, aber für die Allgemeinheit unverzichtbarer Infrastrukturen bleibt hingegen der Öffentlichkeit aufgegeben. Aufgrund

236

Gabu Heindl

fehlender Umverteilungsmechanismen schrumpfen zugleich die kommunalen Budgets – trotz des Bevölkerungswachstums. Eine Situation, in der die neoliberale Logik weiter nahelegt, auch für gewisse öffentliche Aufgaben die finanzielle Unterstützung von Privaten anzunehmen – letztlich eine zunehmende (Teil‑)Privatisierung öffentlicher Güter und Aufgaben. Öffentliche Planung wird aufgegeben zugunsten einer neoliberalen „Führung“.

Verpartnerungen Wo die kommunalen Budgets schwinden und die Wohlfahrtsstaatlichkeit bröckelt, rangeln sich Städte um Aufmerksamkeit von InvestorInnen. Nach der neoliberalen Devise there is no alternative scheint es (auch in Wien) keine Alternative zu geben zu InvestorInnen-Kuschelkurs, stadtplanerischer Wegbereitung (u.  a. Anlass-Widmungen) für private Spekulations-Vorhaben oder Public-private-Partnership-Modellen: Wenn Kommunen für gewisse kommunale Aufgaben keine Budgets sicherstellen, „helfen“ ihnen heute InvestorInnen – und hilft zugleich die Öffentlichkeit den privaten Einzelprofitinteressen. Unhinterfragter Knappheitsdiskurs auf öffentlicher Seite und Wachstumsstress aufgrund des prognostizierten Bevölkerungswachstums bilden dabei die Matrix für Privatisierungen von bislang öffentlichen Gütern: Straßen, Parks, Archive, Kultur- oder Universitätsbauten sind Objekte der Verpartnerungs-Begierde. So verlautbarte vor Kurzem auch die Wiener Stadtbaudirektion, dass die öffentliche Finanzierung der nächsten Schulneubauten nicht mehr gesichert ist und sie die nächsten großen Schulbauprojekte daher in Public-private-Partnerships bewerkstelligen möchte. Zugleich ist der Wiener Stadtbaudirektion bewusst, dass sie damit die Sicherung ihrer Qualitätsstandards aus der Hand gibt und dass gerade bei öffentlichen Infrastrukturprojekten Public-private-Partnership-Modelle als Finanzierungsstrategie für die Öffentlichkeit wirtschaftlich nachweislich ungünstig ist (Rügemer 2008).

Matrize

Luxus,

Rhetorik

G e re c h t i gke i t

Im Video zum Wiener Stadtentwicklungsplan 2025, der Vision von Wien in zehn Jahren, scheint immer die Sonne. Im Text des Stadtentwicklungs-

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Matrizenbau

und

Matratzenlage

plans, der kaum mehr Pläne enthält – also kein Plan im eigentlichen Sinne mehr ist –, kommt rund hundertmal das Wort „sozial“ und etwa zwanzigmal das Wort „gerecht“ vor (STEP 2025). Doch „[n]icht das tatsächliche Erreichen ‚gesellschaftlicher Integration‘ und/oder ‚sozialer Gerechtigkeit‘, sondern die konstante Rede davon in Kombination mit institutionalisierten Maßnahmen, deren inklusionsfördernde Effekte jedoch nicht strukturell nachweisbar sind, sondern lediglich propagiert werden, [...] erscheint als wohlfahrtssystematische Funktionslogik“ (Sandermann 2010). Dass die Frage, was für wen gerecht ist, vor allem eine politische Position einfordert, wird durch die verwaltungstechnischen Forderungen nach einer gerechten Stadt evident, aber nicht problematisiert. Augenscheinlich problematisch wird es jedoch, wenn die Stadtverwaltung den hoheitlichen Akt von (Um‑)Widmungen zentraler Grundstücke für den Luxuswohnungsbau übernimmt und auf Kritik mit dem Argument antwortet, dass es ja in einer vielfältigen Stadt auch Luxuswohnungen geben müsse. Das klingt, als ob es sich bei zukünftigen BesitzerInnen von Luxuswohnungen um eine zu fördernde Minderheit handelt. Die Unterstützung von luxusorientieren Immobilien durch Politik und Verwaltung im Namen der Vielfalt ist jedenfalls Teil des internationalen Städtewettbewerbs – eines Wettbewerbs um weitere InvestorInnen, die bevorzugt in Privatimmobilien investieren. Wie beim folgenden beispielhaften Projekt.

Neoliberal:

Das

„b e s o n d e re“

Projekt

Der Wiener Stadtpark wurde 1862 als zweiter öffentlicher Park in Wien eröffnet, Resultat einer großflächigen Umgestaltung der Stadt, die auch den Abriss der Festungsanlagen rund um das historische Zentrum sowie den Bau der Wiener Ringstraße umfasste. Unmittelbar südlich des Stadtparks ist gegenwärtig ein Projekt geplant, das von der Marketingabteilung des Investors „das besondere Projekt“ betitelt wurde und mit einem bislang ungesehenen Maß an Werbung begleitet wird – und zugleich die an Stadtplanung interessierte Öffentlichkeit in Wien spaltet. Das betreffende Grundstück wurde im Jahr 2008 von genau dem Wiener Stadterweiterungsfonds verkauft, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge des Ringstraßenbaus zum Zweck der Finanzierung von Monumentalbauten an der Ringstraße gegründet worden war. Auf

238

Gabu Heindl

dem Grundstück liegt sowohl die langjährig bestehende Institution des Wiener Eislaufvereins, der einen noch gültigen Pachtvertrag besitzt, als auch das Hotel Intercontinental aus den 1960er Jahren. Nachdem die Liegenschaft sehr günstig an eine gemeinnützige Gesellschaft verkauft wurde, ist sie zwischenzeitlich im Eigentum eines nicht gemeinnützigen Großinvestors, der als Ergebnis eines internationalen Architekturwettbewerbs die Rundum-Erneuerung des Hotels, die Modernisierung des Eislaufvereins (ohne dass dieser das „bestellt“ hätte) und ein 73 Meter hohes Hochhaus mit Luxuswohnungen (ohne dass die Widmung des Grundstücks dem entspricht) plant. Damit für das von ihm erwünschte Bauvolumen bei gleichbleibender Gesamtfläche des Eislaufvereins genug Platz ist, schlägt das prämierte Projekt vor, einen circa 9 × 100 m großen Abschnitt der öffentlichen Straße miteinzubeziehen, also zu privatisieren. Für das Hochhaus und die Einverleibung des öffentlichen Raums bedarf es einer Umwidmung durch die Gemeinde Wien. Selbst dass das Hochhaus Wien den Status des UNESCO-Weltkulturerbes kosten könnte, ist dabei noch instrumentalisierbar für die Kampagne des Investors, weil es die KritikerInnen des Projekts spaltet und weil die SchützerInnen des Weltkulturerbes diejenigen übertönen, die den Skandal in der anlassbezogenen Stadtplanung für privatwirtschaftliche Interessen ohne den entsprechenden öffentlichen Mehrwert sehen. Als baurechtlich erforderlicher öffentlicher Mehrwert wird von den Projektwerbern etwa die Sanierung des „heruntergekommenen“ Areals genannt. Dafür war das vorangegangene „Kaputt-Reden“ des zentralen Stadtraums eine erfolgreiche diskursive Strategie. So wurde das Areal um den Eislaufverein (sowohl die brüchige Fassade als auch die proletarische Nutzung) vom Investor und von der Stadtverwaltung so lange schlechtgeredet, bis es für Letztere ohne Alternative schien, den Investor darin zu unterstützen, die Situation zu „verbessern“. Der derart diskursiv induzierte Wertverlust steigert somit den symbolischen Wert der Investitionen des Investors für die Öffentlichkeit in doppeltem Sinn: Erstens scheint das Projekt unumgänglich, und zweitens erscheinen die Investitionen, die vom Investor im Rahmen eines städtebaulichen Vertrags bei einer Umwidmung getätigt werden müssen – etwa eine Sporthalle für die benachbarte Schule –, großzügig angesichts der städtischen „Baustelle“, derer sich der Investor annimmt. Die Strategie geht selbst im Fachdiskurs auf: Vor Kurzem begann ein Artikel in der Fachzeitschrift Architektur und Bauforum damit, dass „[b]ei dem zum Schandfleck ver-

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Matrizenbau

und

Matratzenlage

kommenen Filetgrundstück inmitten der Stadt mit dem in die Jahre gekommenen Hotel, dem Eislaufplatz, der jeden Sommer als ‚Sand-City‘ zweifelhaftes Strandflair vermitteln soll, [...] trotz Widmungsgewinn das Risiko für Investor Michael Tojner groß und eine Rendite keineswegs sicher [ist]“ (Groihofer 2014).

Ne u e

G r u n d ri s s - D e b a t t e :

Matratzen

zählen

Ein Blick in den Grundriss des geplanten Wohnungsturms, der für die Rendite sorgen soll, ist aufschlussreich. Denn: Die Luxuswohnungen besetzen jeweils ein ganzes Geschoss des Hochhauses, sind somit ungefähr 500 m2 groß. Die Grundrisszeichnung kommt ganz ohne die Zeichnung von Betten (oder Matratzen), ja sogar komplett ohne Zimmer-Einteilung aus – 500 m2 Wohnfläche in bis zu 70 Metern Höhe im Zentrum von Wien werden nicht ver- oder gekauft, um den Wohnbedarf einer gewissen Anzahl an Menschen zu decken. Was hier nicht ausgesprochen, aber impliziert wird, war vor Kurzem explizit in der Wiener Innenstadt auf einer Verkaufswerbung am Fassadengerüst eines Gebäudes in Sanierung zu lesen: „You don’t have to love Vienna to live in these apartments, owning them will do“. Dort aber, wo in Wohnungen gewohnt werden muss, kommt die Matratze ins Spiel: Im geförderten Wiener Wohnbau, der sich in Wien beinah ausnahmslos im „niedrigeren“ Bereich der Wiener Bauklassen I bis V abspielt (also bis zu max. 26 m Höhe), werden bis heute selbstverständlich Bettmatratzen in die Grundrisse eingezeichnet, um zählbar zu machen, wie viele Menschen untergebracht werden können. Besonders wichtig ist dieser Nachweis in den Wohnungen von Sozialwohnprojekten, die unter dem gegenwärtigen Knappheits-Regime unter „Smart Living“ subsumiert werden, unter anderem weil sie mit besonders wenig Quadratmetern an Fläche auskommen – eine Person auf 40 m2, zwei Personen auf 55 m2, drei und mehr Personen auf 70 m2. Die mittlere Wohnfläche pro Kopf in Österreich betrug 2011 im Vergleich dazu rund 44 m2. MigrantInnen steht jedoch im Schnitt rund ein Drittel weniger Wohnfläche zur Verfügung, und allein unter MietwohnerInnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft verfügen mehr als 60.000 über weniger als 10 m2 Wohnfläche pro Person (Statistik Austria 2012). In diesem Kontext macht es Sinn, an die Grundriss-Debatte des frühen 20. Jahrhunderts zu erinnern, als Architekten wie Bruno Taut,

240

Gabu Heindl

Ernst Hiller oder Alexander Klein sich über die Zimmereinteilung in Wohnungen Gedanken machten. Dabei wurden Wohnungskonzepte mit gleich großen, nicht-vorprogrammierten Zimmern im Vergleich mit denen des sogenannten „Kabinensystems“ diskutiert, in dem die Zimmer samt Einrichtung für ihre jeweilige Funktion zu Kleinsträumen optimiert wurden, etwa zu Mini-Schlafkojen oder Kleinst-Küchenkabinen (Kähler 1997). ArchitektInnen haben immer wieder an derartigen Wohnraumoptimierungen mitgearbeitet – recht prominent z.  B. die TeilnehmerInnen des zweiten Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM II, 1929), die sich mit einer „Wohnung für das Existenzminimum“ befassten. Bis heute steht in der Planungsdebatte viel zu oft ein Selbstverständnis kreativer Architektur als Kunst einer „humanen“ und „smarten“ Flächenreduktion im Vordergrund und nicht die Frage, warum es überhaupt ein Existenzminimum gibt (vgl. auch De Carlo 2005).

Privat

im

öffentlichen

Raum

Warum ist abgesehen von der Immobilienwirtschaft aber auch der öffentliche Raum für Privatinvestitionen so interessant? Das „besondere Projekt“ wirbt damit, die Fläche des Eislaufvereins in der warmen Jahreszeit zu einem Ort mit besonderem urbanem Flair zu machen. Pikant dabei ist: Der Wettbewerbsentwurf schlägt wie schon erwähnt vor, das private Grundstück um einen fast 1.000 m² großen Streifen in die öffentliche Straße zu erweitern. Wenn städtische Flächen durch Private bespielt werden (in Pacht oder Eigentum), scheint das für die Öffentlichkeit in finanzieller Bedrängnis vorteilig: Sie hat vermeintlich weniger Verantwortung und Kosten. Zu behaupten, sie trage dann dafür keine Kosten, wäre falsch, denn schließlich zeichnet sie für die gesamte Infrastruktur und urbane Qualität rund um das Stück „urbanen Flair“ verantwortlich. Im Rahmen der gesteigerten Kommerzialisierung des Alltags ist der öffentliche Raum besonders lukrativ: Die Pacht eines urbanen Straßenabschnitts kann in zentralen Gebieten viel Umsatz einbringen. Die Witterung stellt zwar für Außenraum-Gastronomie ein Risiko dar, was jedoch unter postfordistischen Arbeitsbedingungen abschätzbar wird, nachdem Arbeitskräfte auch in dieser Branche sich daran gewöhnen mussten, prekär und flexibel zu arbeiten, also zum Beispiel nur bei entsprechender Witterung Arbeit zu haben. Ein urbaner, städtischer

241

Matrizenbau

und

Matratzenlage

Lifestyle ist zur Ware geworden, die sich diejenigen, die es können, etwas kosten lassen. In The Culture of Cities analysiert Sharon Zukin schon 1995 die Logik, nach der Parks und öffentliche Räume in New York privatisiert wurden. „Central Park, Bryant Park, and the Hudson River Park show how public spaces become progressively less public: they are, in certain ways, more exclusive than at any time in the past 100 years. Each of these areas is governed, and largely or entirely financed by a private organization, often working as a quasi-public authority. [...] These private groups are much better funded than the corresponding public organizations. Design in each park features a purposeful vision of most remarkable visible features: gates, private security guards, and eyes keeping the space under surveillance. The underlying assumption is that of a paying public, a public that values public space as an object of visual consumption.“ (Zukin 1995, S. 29) Die privaten Organisationen beziehen sich dabei unter anderem auf William H. Whyte, der die Sicherheit von städtischen Räumen durch die Anwesenheit möglichst vieler „normaler“ Menschen gewährleistet sieht. Durch ihre Anwesenheit (und Gleichheit) wären BewohnerInnen selbst Schlüssel-AkteurInnen für Sicherheit (Whyte 1980). Die „normalen“ ParkbenutzerInnen können sich durch Whytes Konzept der frei bewegbaren Sessel selbst ihren Platz in den New Yorker Parks einrichten. Als kontroll-architektonischer Nebeneffekt wurden Bänke, auf denen man/frau liegen könnte, durch nicht zum Liegen geeignete Sessel ersetzt. Der Stadtpark in Wien hat eine andere „Sesselgeschichte“: Bis zum Jahr 1956 gab es im Stadtpark Sessel, von einer privaten Firma aufgestellt, für deren Benutzung die ParkbesucherInnen zahlen mussten. Sogenannte „Sesselfrauen“ (oder wie früher gängig: Wiener „Sesselweiber“) holten Gebühren ein und betreuten die Sessel-Benutzung. Danach wurden Parkbänke zur freien Benutzung aufgestellt. Heute wird jedoch von Verwaltungsseite offen über das „Problem“ der Form der Bänke gesprochen: dass man/frau eben darauf liegen kann. Planungsverantwortliche oder auch BürgerInnen fordern längst unverhohlen von PlanerInnen neuer urbaner Möblierung, dass sie eine Nutzung durch Obdachlose verhindern soll. Der Künstler Nils Norman (2009) dokumentiert seit einigen Jahren derartige Kontroll-Architektur in Städten. Während Obdachlose nicht dort liegen sollen, ist das freizeitliche Herumliegen von nicht-obdachlosen Menschen in städtischen Parks längst eine Normalität. Die Wiesen in den Parks sind heute offen für „freie“ Benutzung;

242

Gabu Heindl

urbaner Lifestyle auf städtischen Wiesen und Freiflächen trägt gerade im Tourismus-Marketing bei zum weltoffenen Image einer Stadt. Dabei geht diese Freiheit zurück auf die Recht-auf-Stadt-Bewegungen der 1970er und 80er Jahre (in Wien z.  B. auf Proteste im Volksgarten oder den Kampf um die Nutzung der Wiese im Burggarten).

Matratzen

im

Park

Heute geht es um eine andere Form von Recht auf Stadt. 2005 ist eines der nobelsten Restaurants Österreichs, das Steirer-Eck, in den Wiener Stadtpark gezogen, und zwar in das Gebäude der ehemaligen Milchtrinkhalle, der Meierei, die mitten im Park liegt. Meierei ist die Bezeichnung für Parkgaststätten, die früher primär Milchprodukte ausgeschenkt haben (und nicht nur Milchschaum auf Trend-Kaffeesorten oder Prosecco). Der Stadtpark war über Jahre hinweg auch ein zentraler Ort für Obdachlose. Ende 2013 – zeitgleich mit der Konzeption des oben erörterten Projekts für das Grundstück von Hotel Intercontinental und Wiener Eislaufverein – wurden die Obdachlosen in einer überraschenden Aktion, quasi über Nacht, durch die Polizei aus dem Stadtpark vertrieben. Legale Basis für die Vertreibung ist die Wiener Kampierverordnung aus dem Jahre 1985, mit der das freie Kampieren verboten wurde. Die Tatsache, dass selbst von KritikerInnen der Vertreibungsaktion über Auslegungen der Verordnung diskutiert wurde, anstatt die Legitimität der Vertreibung an sich zu bestreiten, entspricht der ungleichen Form, wie Gesetze, Regelungen, Verordnungen gehandhabt werden: So gelten bestimmte Rechtsnormen (wie etwa die Kampierverordnung) als unhinterfragbar, als ob es nicht möglich wäre, sie zu ändern. Andere Normen werden jedoch gern geändert – im Sinn der Anpassung hoheitlicher Akte an Markterfordernisse und deren Vorgaben. Das geschieht eben da, wo genau neben dem Stadtpark ein Investor „Großes vorhat“, um hier aus dem Song „Der Investor“ (2013) der in der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung aktiven Hamburger Diskurs-Punkband Die Goldenen Zitronen zu zitieren: „Hey hello hello, ich bin der Investor ... Wir haben hier Großes vor.“ So viel ist ersichtlich: In der unternehmerischen Stadt gibt es zwischen erfolgreichen UnternehmerInnen und marginalisierten Gruppen eine verstärkte Schieflage, die unter anderem mit der Kapitalisierung

243

Matrizenbau

und

Matratzenlage

von Grund und Boden und Immobilien zu tun hat. Es gibt (nicht nur) in Wien, wie bereits dargelegt, kaum stadtplanerische Mittel der Regulierung, um Spekulationen in diesem Bereich zu unterbinden oder Wertsteigerungen durch (Um‑)Widmungen oder öffentliche Investitionen an die Gesellschaft rückzuverteilen. Durch den gegenwärtigen Alarmismus, dass die Stadt wächst und zugleich nicht genügend Wohnraum bietet, steigt zugleich der Wert von Grund und Boden sowie von Immobilien rasant an, gerade in zentralen Lagen. Im (Selbst‑)Bild einer Stadt im internationalen Städtewettbewerb und Buhlen um Privatinvestitionen gibt es für Matratzen von Obdachlosen keinen Platz – wiewohl gerade Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit Ergebnis neoliberaler Stadtplanung sind. Von daher: nicht aus den Augen und nicht aus dem Sinn. Gerade wegen der Offensichtlichkeit von Reichtum in den zentralen Lagen ist die Sichtbarkeit von Armut, solange sie besteht, notwendig.

Appendix:

Matter

Urbanismus

Matt, nicht glänzend; nicht repräsentativ, sondern nutzungsoffen: lieber nicht-heroisch als heroisch – jedoch so, dass aus dem Anerkennen von Schwächen unerwartete Ermächtigungen entstehen können: Matter Urbanismus, eine Form von Aktualisierung des stadtplanerischen Konzepts mat urbanism, ermöglicht eine Kritik gegenwärtiger Stadtplanungsmatrizen aus Perspektive der Planung selbst, und zwar einmal mehr durch eine Matratzen-Optik. Neben dem Adjektiv „matt“ steckt im Begriff „Matter Urbanismus“ auch das englische Hauptwort matter, mit dessen Hilfe im Sinn eines Historischen Materialismus die Stadt nicht über ihre bloßen Baustoffe, sondern über soziale Verhältnisse und Konflikte verstanden werden kann. Und dann liest sich darin noch die Matte: Die Matratze als Lager (oder das Bodenkissen) im Sinn der Wortherkunft matrah markiert einen Beginn von Sozialem Raum. So ist die Tatami, eine 180 × 90 cm große Strohmatratze, einzigartiges Basismodul und General-Matrize für die traditionelle japanische Architektur. In der westlichen Architekturgeschichte ist gewebter Stoff, das Lager, schon für Gottfried Semper von ursprünglicher Relevanz, vor allem aber erhält der Begriff mat im mat building und mat urbanism einen hohen Stellenwert: Auf dem CIAM X

244

Gabu Heindl

Abb.  1 Groundscraper,

Candilis-Josic-Woods,

Freie

Universität

Berlin,

Modell

in Dubrovnik im Jahr 1956 haben verschiedene ArchitektInnen, vor allem Peter und Alison Smithson, die mat buildings als flache komplexe Raumlandschaften beschrieben, welche die Interaktion und aktive Inbesitznahme des Zwischenraums fördern sollen. Shadrach Woods hat im Rahmen eines Projekts von Candilis-Josic-Woods für die Freie Universität Berlin (1963–73) die Flachheit solcher Strukturen als groundscraper bezeichnet und sie in ihrer Eigenschaft als horizontales, dicht gewebtes Netzwerk von offen zugänglichen Stadträumen als „demokratischer“ als skyscraper beschrieben (Abb. 1). In ihrem Artikel „How to recognize and read MAT-BUILDING“ gibt Alison Smithson folgende Definition eines

245

Matrizenbau

und

Matratzenlage

Abb. 2 Artikel von Alison Smithson: „How to recognize and read MAT-BUILDING“

mat building: „Mat-building can be said to epitomize the anonymous collective; where the functions come to enrich the fabric and the individual gains new freedoms of action through a new shuffled order, based on interconnection, close knit patterns of association and possibilities for growth, diminution and change.“ (Smithson 1974) (Abb. 2) In einem solchen Urbanismus-Verständnis sind „close-knit patterns“ wichtig für ein Funktionieren von Stadt, das als dichtes Gewebe verstanden wird. In Bezugnahme auf Smithsons einflussreichen Text erweitert Stan Allen das Konzept über den Maßstab des Gebäudes hinaus in den urbanen Maßstab: In seiner Konzeption von mat urbanism geht es ihm um die Einbindung der Landschaft in das Stadtgewebe von mat buildings. Auch er beschreibt dabei die interaktive, horizontale Verflechtung der CIAMX-Raum-Netz-Gefüge als demokratischen Raum. Mat buildings stehen für nicht figurative, anti-repräsentative, nicht monumentale Architektur (Allen 2002). Einer Horizontalität aber, die zu endlosen suburba-

246

Gabu Heindl

nen Stadtflächen führt, standen die Smithsons kritisch gegenüber; sie plädierten für Dichte durch Horizontalität. Aufgrund ihrer multiplen Permeabilität könne die dicht gewebte Struktur eines mat building, eines groundscraper, zahlreiche Zugänge und Vernetzungsmöglichkeiten bieten – anders als die lineare und exklusive Erschließung eines skyscraper.

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Abb. 2: Smithson 1974, S. 573.

248

Matratzenlage

Anna-Katharina Riedel

Mehrfach besetzter Platzhalter.

Die Figur der Matratze in der medialen Berichterstattung über den Protest und die Unterbringung von geflüchteten Menschen1

Am 8. Mai 2014 erschien in der Online-Ausgabe der Tageszeitung Berliner Kurier ein Artikel, der sich thematisch auf die Räumung eines Schlaflagers von Geflüchteten durch die Polizei bezieht. Er trägt den Titel „Die Matratzen sind weg, die Flüchtlinge bleiben“. Ergänzt wird der Text durch eine Fotografie, auf der Matratzen, bunte Decken und große

1

Die Bezeichnungen „geflüchtete Menschen“ und „Geflüchtete“ werden hier verwendet,

um Menschen zu bezeichnen, die nach Deutschland kommen, um dort zu leben, und die keinen deutschen Pass besitzen. Es ist ausdrücklich festzuhalten, dass die Benennung der Menschen von außen einen Eingriff in deren Lebenswelt markiert und sie auch stigmatisiert. An dieser Stelle kann ein Zitat von Napuli Paul Langa, einer Aktiven aus dem Kontext der aktuellen Berliner Protestbewegung, erklärend sein: „And for me, even refugee is not our names, we are people, I have my name, refugee is something given to me. The name given to me. I don’t like refugee. I rather call myself people of no right“ (Langa zit.  n. Doppler/Vorwergk 2014, S. 52). Sie erläutert des Weiteren aber auch: „[P]eople know refugees“ (ebd.), und hält den Begriff aus diesem Grund in Protestzusammenhängen für sinnvoll. In diesem Text soll die Bezeichnung auch nicht vergessen machen, dass die benannten Personen keine homogene Gruppe sind, die eine bestimmte „Flucht“ gemein haben, sondern jeweils individuelle Gründe, Vorstellungen und Wünsche haben, wegen derer sie die Entscheidung trafen oder treffen mussten, nach Deutschland zu kommen. Auch soll an dieser Stelle konstatiert werden, dass die Bezeichnung nur einen Teil der Biografie der Menschen benennt und sie nicht vollständig repräsentieren kann. An manchen Stellen wird deshalb der Versuch unternommen, die Menschen kontextabhängig mit Bezeichnungen zu benennen, die ihr Handeln situativ passender fassen als „Geflüchtete“, beispielsweise mit den Bezeichnungen „Protestierende“ oder „Besetzer_innen“. Der Begriff „Flüchtling“ wird in diesem Text in Anführungszeichen gesetzt, da er keine angemessene Wortwahl zur Bezeichnung von Menschen darstellt: Die Endung „-ling“ ist negativ konnotiert und ruft Assoziationen wie Schwäche und/oder Ablehnung hervor.

251

Mehrfach

A b b.   1  „Die

besetzter

Matratzen

sind

Platzhalter

we g “,

Berliner Kurier (Online-Ausgabe), 8.5.2014, Screenshot

dunkelgraue Plastiksäcke zu sehen sind (Abb. 1). Die Dinge sind übereinandergehäuft, zuunterst liegen die Matratzen, obenauf die gefüllten, zugeknoteten Säcke, und zwar draußen, auf asphaltiertem Boden – offenbar wurden die Textilien und Säcke mitten auf einer Straße platziert. Die Dinge sind von Bodenhöhe aus fotografiert. Die Kameraperspektive ist so niedrig, dass der Asphalt der Straße im Vordergrund der Fotografie fast die Hälfte des Bildraums füllt. Mittig im Bild, direkt vor dem Stapel aus Matratzen, Decken und Säcken, stehen ein Paar schwarze Halbstiefel und ein einzelner umgefallener Turnschuh. „Die Matratzen sind weg, die Flüchtlinge bleiben“ – das Bild scheint genau das Gegenteil davon zu zeigen. Menschen sind keine zu sehen, obwohl sie es sind, die der Überschrift zufolge „bleiben“. Nur Matratzen, Decken, die, wie der Text informiert, mit Kleidern gefüllten Plastiksäcke und die Schuhe sind (noch) da. Die Schuhe setzen die durch die Text-Bild-Beziehungen aufgerufene Frage nach dem Verbleib der „Flüchtlinge“ in besonderem Maß ins Bild. Stärker noch als die Texti-

252

Anna-Katharina Riedel

lien und die Säcke wirken sie wie Hinterlassenschaften einzelner, bestimmter Personen und erscheinen wie verlusthafte Reste menschlicher Anwesenheit. Die Unterschrift des Bildes lautet „Matratzen und Säcke wurden von der Polizei entfernt“. Wie der Artikeltitel benennt auch die Bildunterschrift im Grunde genau das Gegenteil dessen, was auf der Fotografie sichtbar gemacht wird. Wenn die Matratzen und Säcke entfernt wurden, wie es in der Unterschrift heißt, wäre es nicht möglich, sie abzubilden. Auf der Fotografie, im Titel des Artikels und in der Bildunterschrift wird eine auffällige Beziehung zwischen den Worten „Flüchtlinge“ und „Matratzen“ hergestellt. Der Titel des Artikels setzt die Substantive „Matratzen“ und „Flüchtlinge“ durch seinen Satzbau explizit parallel. Die Bildunterschrift ruft in Verbindung mit dem Bildinhalt die Frage auf, ob tatsächlich die Matratzen und nicht eher die „Flüchtlinge“ „von der Polizei entfernt“ wurden. Und die Fotografie, die ja einen Artikel zur Räumung eines Protestcamps illustriert, zeigt die Matratzen wie Platzhalter für diejenigen, um die es in dem Artikel eigentlich geht. Wo im Titel des Artikels und in der Bildunterschrift verbal die Abwesenheit bzw. das Verschwinden der Matratzen betont wird, werden sie mit der Fotografie prominent ins Bild gesetzt. Trotz der gegensätzlichen Aussagen tritt die Matratze so mehrfach auf, nämlich textuell und bildlich. Die Figur der Matratze taucht in den Bildern und Texten der medialen Berichterstattung über Geflüchtete, deren Proteste und Widerstand sowie deren Unterkünfte auffällig häufig auf. Dabei hat die Matratze nicht nur eine Bedeutung, sondern verweist auf zahlreiche Bedeutungszusammenhänge und repräsentiert diese als Bildmotiv. Wird die Matratze eigentlich mit Tätigkeiten wie „schlafen“ und „ruhen“ assoziiert und im Wohnraum und insbesondere im Schlafraum verortet, so verändert sich die Sichtweise auf den Gegenstand, wenn er außerhalb des Wohnraums in Erscheinung tritt oder dieser sich verändert. Eine Matratze aus dem Schlafbereich in den öffentlichen Raum zu verlagern, bedeutet, dass sie aus einem Kontext, welcher mit Intimität, Ruhe und Privatheit verbunden wird, herausgenommen wird und in einem ihr „fremden“ Zusammenhang neu verortet werden muss. Das Schlafzimmer wird in westlicher Kultur als „intimer Spezialort der Ruhe“ sowie als „Schutzzone der Intimität“ verstanden (Selle 2011, S. 121). Wenn das Schlafzimmer als intimer Raum gilt, dann muss in naheliegender Konsequenz die Matratze als Teilstück, vielleicht sogar als besonderes Teilstück dieses

253

Mehrfach

besetzter

Platzhalter

Zusammenhangs gelten. Die Unterkünfte und Sammellager, in denen geflüchtete Menschen in Deutschland untergebracht werden und wohnen müssen, haben mit dieser Bedeutung von „Schlafzimmer“ jedoch nichts oder nicht viel gemeinsam. Zum Teil existieren zwar Wohnheime, in denen es Schlafräume gibt, allerdings werden auch diese größtenteils von mehreren Menschen bewohnt, die zudem oftmals beim Bezug der Zimmer nicht miteinander bekannt sind, sodass diese Räume keinesfalls mit separaten Schlafzimmern westlich-industrieller Wohnsituationen verglichen werden können. Auch die Situationen in temporären Protestcamps erinnern kaum an westliche Schlafzimmer, denn in den Camps schlafen und leben Menschen in Zelten und provisorischen Bauten räumlich dicht beieinander. Dazu kommt die Negierung der Schutzzone auch insofern, als die Protestierenden stets damit rechnen müssen, mit einer polizeilichen Räumung konfrontiert zu werden. In diesem Beitrag sollen einige bebilderte Artikel als Beispiele für die mediale Berichterstattung zu den Protesten Geflüchteter und zu ihren Unterkünften untersucht werden. In den untersuchten Abbildungen ist die Matratze sowohl im Innen- als auch im Außenraum zu sehen. Man könnte zunächst annehmen, diese Abbildungen wären sinnvollerweise entlang der Begriffspaare „Innen – Unterbringung“ und „Außen – Protest“ aufzuteilen. Eine solche Kategorisierung ist jedoch insofern nicht haltbar, als der Protest der Geflüchteten zum Teil explizit „Innen“ und „Außen“ verknüpft und Unterbringung und Unterkünfte zentrale Elemente des Protests sind. Was die Berichte eint, ist, dass die Figur der Matratze in einen Zusammenhang mit der Forderung nach Bleiberecht gebracht wird. An einem Ort zu „bleiben“ und sich dort dauerhaft aufzuhalten, bildet einen nahtlosen Übergang zum Wohnen. Vor diesem Hintergrund wird die Analyse von Bild- und Textmaterial exemplarisch zeigen, dass die Figur der Matratze im zu betrachtenden Diskurs unterschiedlichen Darstellungsweisen unterliegt, mehrere Bedeutungen haben kann und in ihrer Funktion in den untersuchten Fotografien oft als mehrfach besetzter Platzhalter fungiert. Sie kann als Instrument zur Generierung von Anerkennung dienen, zugleich können mit ihr aber auch negative Zuschreibungen, Formen von Normierung, Voyeurismus und Kontrolle verbunden werden. Die Sichtbarkeit der Matratze im ausgewerteten Bildmaterial ist immer als produktive Macht zu verstehen, der Doppelcharakter einer solchen Visibilität ist dabei aber immer mitzudenken (vgl. Schade/Wenk 2011, S. 104f.). Die

254

Anna-Katharina Riedel

Untersuchung der Mehrfachbedeutungen der Figur der Matratze wird durch diese theoretische Überlegung, die den Blick auf die möglichen Gleichzeitigkeiten von Bedeutungen schärfen soll, gerahmt. Dabei wird angenommen, dass auch „das Wechselspiel von Visualität und Literalität“ (Spitzmüller/Warnke 2011, S. 169) Auswirkungen auf die Rezeption hat. Text- und Bildmaterial wirken in ihrem jeweiligen Wechselspiel und produzieren auch über ihre erstmalige Anordnung als Text/BildPaar hinaus gemeinsam, einzeln und/oder in Verknüpfung mit weiteren Texten, Bildern und weiteren Repräsentations- und Darstellungsweisen vielfältige Bedeutungen und können auch die Inhalte dieser Repräsentationen beeinflussen. Zum besseren Verständnis des Diskurses, an dem die Texte und Bilder, die hier einer Analyse unterzogen werden sollen, mitwirken, werden im Folgenden einige Bemerkungen über die Proteste2 von Geflüchteten in der Bundesrepublik Deutschland vorangestellt. Die Verschärfung des deutschen Asylrechts Anfang der 1990er Jahre, die davor und danach andauernde Stimmungsmache gegen Asylbewerber_innen durch verschiedene politische Akteur_innen und in Teilen der Bevölkerung sowie die pogromartigen Ausschreitungen rassistischer Gewalt an Orten wie Hoyerswerda, Mannheim oder Rostock-Lichtenhagen markieren Ereignisse, welche die heutigen Situationen von geflüchteten Menschen in Deutschland nach wie vor beeinflussen und ihr Leben bestimmen, regulieren und maßgeblich erschweren. Proteste gegen die deutsche Gesetzgebung in Bezug auf den Umgang mit Geflüchteten gibt es schon seit den 1980er Jahren, der Zusammenschluss Protestierender aus unterschiedlichsten Ländern lässt sich medial jedoch erst seit einigen Jahren beobachten. Geflüchtete aus ganz Deutschland bündeln dabei ihre Kräfte in gemeinsamen Protestformen und kämpfen verstärkt für ihre Rechte. Ihre Forderungen beinhalten unter anderem die Schließung sämtlicher Sammellager, das Recht auf Arbeit und Ausbildung, die Unterbindung 2 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es genauso wenig den einen Protest gibt, wie es die Geflüchteten gibt. Die Protestformen der Personen sind vielfältig und können nicht als ein homogenes Ganzes zusammengefasst werden. Die Relevanz der Eigenständigkeit der verschiedenen Aktionsformen wird anerkannt. In diesem Text liegt diese Anerkennung der Verwendung des Wortes „Protest“ stets zugrunde, und auch wenn der Begriff aus strukturellen Gründen stellenweise im Singular benutzt wird, soll keinesfalls eine Generalisierung von Protestformen vorgenommen werden.

255

Mehrfach

besetzter

Platzhalter

von Diskriminierungen seitens der Gesetzgebung3 und das Recht auf einen im Hinblick auf Ort und Dauer frei gewählten Aufenthalt, also Bewegungsfreiheit statt Residenzpflicht. All diese Rechte gehören im heutigen Alltag in Deutschland als einem westlichen Industriestaat zu dem, was als selbstverständlich für jede_n angesehen wird. Geflüchteten werden diese Rechte durch die aktuell geltenden Asylgesetze und ihre Umsetzung und Auslegung konsequent entzogen. Angefangen mit einem Marsch im Jahr 2012 von Würzburg nach Berlin setzten sich aus diesen Gründen Protestbewegungen in Gang, die bis heute andauern und durch das aktive Handeln und die unterschiedlichsten Aktionen der betroffenen Menschen auch unabhängig von den Tätigkeiten verschiedener Hilfsorganisationen für Aufmerksamkeit sorgen. Ausschlaggebend für den Marsch war der Suizid von Mohammad Rahsepar in einer Sammelunterkunft in Würzburg im Januar 2012, der für verstärkte mediale Aufmerksamkeit sorgte (vgl. Jakob 2013a). Die Forderungen der Protestierenden sind seit den 1990er Jahren ähnlich, die aktuellen Bewegungen greifen allerdings zu Formen, welche ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit erregen: Hungerstreiks, Kundgebungen, Demonstrationen, die Besetzung öffentlicher Räume und leerstehender Gebäude sowie die Einrichtung von Protestcamps sind Mittel der Geflüchteten, um auf ihre Notsituation aufmerksam zu machen (vgl. Jakob 2013b; Schmidt 2002; Haase/Jugl 2011). Die folgenden Betrachtungen beruhen allesamt auf Artikeln der Tageszeitungen Berliner Zeitung, Berliner Morgenpost, Die Welt und Süddeutsche Zeitung sowie des Nachrichtenmagazins Focus, die zwischen Juli 2013 und September 2014 in den Online-Ausgaben dieser Medien erschienen sind.4 Dabei liegt der räumliche Fokus der Berichte auf Berlin und München. Inhaltlich setzen sich die Artikel unter anderem 3

Die explizite Benennung von Diskriminierungen durch die deutsche Gesetzgebung

soll nicht verschleiern, dass sich auch in alltäglichen Zusammenhängen vielfältige Diskriminierungsformen aufzeigen lassen. 4

Der Rahmen dieses Textes erforderte eine erhebliche Selektion des gesichteten

Bild- und Textmaterials. Die Darstellung der Matratze im Zusammenhang mit der Berichterstattung über geflüchtete Menschen ist wie oben ausgeführt ein sehr häufig wiederkehrendes Bild- und Textmotiv. Sie taucht in Tageszeitung ebenso auf wie in Wochenzeitungen, sowohl in konservativeren als auch in liberaleren Blättern. Die Bandbreite der hier nicht dargestellten Inhalte und Fotografien bereichern und beeinflussen die Beobachtungen, wie es dem Verständnis von diskursiven Strukturen und Dynamiken entspricht.

256

Anna-Katharina Riedel

Abb.  2 „Flüchtlinge

bringen

Verkehr

zum

Erliegen“,

Berliner Morgenpost (Online-Ausgabe), 8.7.2013, Screenshot

mit den Besetzungen der Gerhart-Hauptmann-Schule und des Oranienplatzes in Berlin sowie der anschließenden Räumung des Protestcamps auf dem Platz auseinander. Außerdem wird die Unterbringung von geflüchteten Menschen in der Erstaufnahme-Einrichtung im bayerischen Zirndorf thematisiert. Es werden sowohl Betrachtungen aus Innen- wie auch aus Außenräumen ausgewertet. Dabei wird von der Existenz normativer Annahmen von Wohnen und der Negierung dieser durch die Art und Weise der Unterbringung geflüchteter Menschen ausgegangen. Diese Feststellung scheint zentral für die folgenden Betrachtungen und die Funktion der Matratze als Platzhalter in diesem thematischen Zusammenhang. Die Berliner Morgenpost veröffentlichte in ihrer Online-Ausgabe am 8.  Juli 2013 einen Artikel mit der Überschrift „Flüchtlinge bringen Verkehr in Kreuzberg zum Erliegen“. Die zum Text montierte Fotografie zeigt eine dicke weiße, leicht schmutzig-fleckige Matratze, die quer im Bildvordergrund auf dem Boden liegt (Abb. 2). Wieder liegt die Matratze

257

Mehrfach

besetzter

Platzhalter

im Stadtraum, diesmal direkt auf dem steinigen Untergrund des besetzten Oranienplatzes in Berlin-Kreuzberg. Auf der Matratze liegt eine Person ausgestreckt, entspannt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Dahinter, parallel zur Straße, liegt eine weitere Matratze auf dem Boden. Die Matratze im Vordergrund und der auf ihr liegende Körper sind komplett zu sehen. Die liegende Person lässt sich als junger Schwarzer5 „Mann“ lesen. Neben ihm sind zwei weitere Personen zu sehen, der Inszenierung nach ebenfalls relativ junge Schwarze „Männer“. Der eine von ihnen sitzt auf einem Klappstuhl, der andere steht. Beide wirken ähnlich entspannt wie die liegende Person. Sie schauen beide von der_dem Betrachter_in weg in den Bildraum hinein, wo hinter einer weiteren, schlechter zu erkennenden Person einige Klappbänke sowie zwei große bemalte Transparente zu sehen sind, die vor den Wohnbauten, die im Hintergrund des Bildes die Straße säumen, über die Fahrbahn gespannt sind. Trotz der Transparente, die auf einen Protest verweisen, ist die Stimmung ruhig. Festgehalten scheint ein Moment vor oder nach einer Protestaktion, auf die das Bild nur durch Andeutungen verweist und die sich vor allem durch die Bildunterschrift „Flüchtlinge blockieren Oranienstraße“ als solche ausgemacht werden kann. Im dem Artikel, zu dem dieses Bild gesetzt ist, ist von 40 Personen die Rede, die am Oranienplatz mit Matratzen, Sitzbänken und Stühlen die Fahrbahn blockierten. Interessanterweise ist von dem Protest selbst, geschweige denn von den 40 Personen, kaum etwas zu sehen. Wenn eine Korrespondenz zwischen dem Bild und der Bildunterschrift bzw. auch der darüber platzierten Artikelüberschrift „Flüchtlinge bringen Verkehr in Kreuzberg zum Erliegen“ hergestellt wird, muss der_die Betrachter_in davon ausgehen, dass die auf der Fotografie gezeigten Personen „Flüchtlinge“ sind. Die Behauptung, der Verkehr sei „zum Erliegen“ gekommen, scheint das visuell in Szene gesetzte Liegen auf der Matratze sprachlich aufzugreifen. So wird suggeriert, dass die im Bildvordergrund auf der Matratze liegende Person den Verkehr aufhält, ja zum Erliegen bringt, dabei liegt sie weder auf der Straße, noch gibt es dort irgendeinen auf5

Der Begriff „Schwarz“ wird in der deutschsprachigen Kritischen Weißseinsfor-

schung groß geschrieben, um darauf hinzuweisen, dass damit eine politische Kategorie gemeint ist, die so les- und sichtbar gemacht wird. Der Ansatz wendet sich gegen biologisierende Zuschreibungen und stellt stattdessen die politische und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit der mit „Schwarz“ bezeichneten Personen in den Vordergrund (vgl. Arndt et al. 2009).

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Anna-Katharina Riedel

zuhaltenden Verkehr. Wird dieser tatsächlich irgendwo „zum Erliegen gebracht“, so geschieht das außerhalb des Bildes. Dennoch kommt der Matratze in dieser Darstellung die Rolle eines Instruments zur Blockade zu, das an einem bestimmten Ort positioniert wird, um einen gewünschten Effekt zu erzielen. In dieser Situation wäre der Ort die Straße und der Effekt, dass kein Verkehr mehr auf dieser zustande kommen kann. Obwohl auch der Stuhl und die Bänke den Verkehr hätten einschränken oder komplett eindämmen können, wird die Matratze mit der liegenden Person in den Vordergrund gerückt und verbildlicht die verwendete Redewendung „den Verkehr zum Erliegen bringen“. Die Funktion der Matratze als Ding, auf dem gelegen wird, sowie Innehalten, Ruhen und Schlafen als Tätigkeiten, welche an das Liegen gekoppelt sind, werden in diesem Zusammenhang durch das Benutzen der Redewendung aufgerufen. Das Liegen auf der Matratze ist zudem räumlich mit einer Schlafstätte, einem Innenraum assoziiert. Im Artikel der Berliner Morgenpost aber befindet sich die Matratze im Außenbereich, in der Öffentlichkeit, mitten auf einem Platz in Berlin-Kreuzberg, direkt neben einer sonst befahrenen Straße. Dieser Widerspruch in der Verortung der Matratze im Raum bewirkt, dass die Blockadefunktion stärker wahrgenommen werden kann, als dies beispielsweise bei einer Bank oder einem Stuhl der Fall wäre. Diesen beiden Gegenständen liegt die Zuschreibungskette „schlafen – wohnen – bleiben“ nicht in dem Maß zugrunde, wie es bei der Matratze der Fall ist, sie werden, vor allem in ihrer Visualisierung als Klappstuhl und Klappbank, mobiler wahrgenommen. Die Entscheidung, eine Matratze in einer störenden Funktion zu gebrauchen, mag flexibel getroffen werden. Durch die benannten Assoziationen der Matratze mit Privatheit, Ruhe, Intimität und Wohnen ruft ihre bildliche Präsenz hingegen eher die Vorstellung von Beständigkeit als von Mobilität auf. Somit ist das Bild in der Kombination mit der Redewendung doppelt wirkungsmächtig: Durch den gewählten Bildausschnitt wird die Matratze mit ihren erläuterten Bedeutungen prominent im Vordergrund gezeigt und nimmt einen Großteil der Bildfläche ein. Die Formulierung „zum Erliegen bringen“ greift diese optische Dominanz auf der Wortebene auf. Die Matratze fungiert hier als Blockade-Instrument und verschafft den Protestierenden durch ihre Positionierung im öffentlichen Raum zudem Sichtbarkeit. Ihre Präsenz erzwingt so eine Konfrontation des öffentlichen Umfeldes mit dem, was gesehen wird.

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Mehrfach

besetzter

Abb. 3  „Aus Die

Welt

der

(Online-Ausgabe),

14.9.2013,

Platzhalter

Wüste“, Screenshot

In der Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt erschien am 14. September 2013 ein Artikel mit der Überschrift „Aus der Wüste über das Meer nach Kreuzberg“. Bebildert wurde er mit der Fotografie eines Innenraums (Abb. 3). Zu sehen ist die Ecke eines Raumes, der mit Matratzen und Textilien offenbar als Übernachtungsort für mehrere Personen hergerichtet wurde. Die Matratzen liegen im Vordergrund des Bildes nebeneinander auf dem Boden, darauf Kissen und Decken, alles ordentlich zusammengelegt. An mehreren Haken und einer Leiste an der Wand, auf zwei Heizkörpern und auf einem kleinen Schränkchen sind Kleidungsstücke und einige andere Dinge aufgehängt und, ebenfalls ordentlich zusammengefaltet, abgelegt. Der zu sehen gegebene Raumausschnitt scheint, so gut es geht, „bewohnt“ zu werden. Durch zwei große, halb offen stehende Fenster fällt Licht in den Raum, draußen ist das Grün von Bäumen zu sehen. Die Bildunterschrift lautet „Das Klassenzimmer, in dem etwa 40 malische Flüchtlinge auf Matratzen hausen“ und ist Teil eines Arti-

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Anna-Katharina Riedel

kels, der im Kontext der seit Ende 2012 andauernden Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin veröffentlicht wurde. Wie bei Abbildung 1 ist in der Bildunterschrift von „Flüchtlingen“ die Rede, obwohl diese auf dem Bild nicht zu sehen sind. Stellvertretend für die Anwesenheit der angeblich 40 Menschen liegen auf diesem Bild wieder Matratzen. Sie funktionieren in diesem Zusammenhang als mehrfach besetzte Platzhalter: So stehen sie auf der Fotografie als Symbol für den Protest der Besetzer_innen der Schule. Sie können als die vergegenständlichte Forderung nach Bleiberecht gelesen werden: Die Aneignung eines Gebäudekomplexes mit dem Ziel, diesen zu besetzen, bis gestellte Forderungen erfüllt und/oder Dialoge ermöglicht werden, wird in der Abbildung durch das Liegen der Matratzen auf dem Boden verbildlicht. Die bewusste Benutzung der Matratzen in Räumlichkeiten, die nicht fürs Schlafen, Wohnen oder einen dauerhaften Aufenthalt vorgesehen sind, stellt aus, dass genau solche Räumlichkeiten in Wirklichkeit fehlen: Die Matratzen machen in diesem Zusammenhang also den Mangel an Wohnraum sichtbar. Außerdem ersetzen die Matratzen in der Text-Bild-Beziehung die benannten Personen und weisen durch ihre Abbildung in der gezeigten Räumlichkeit auch auf die Auflösung westlich-industrieller Wohnraumtopografien hin, deren Ordnungen und Grenzen eng mit soziokulturellen Strukturen verknüpft sind. Die Verwendung des Verbs „hausen“ ist dabei insofern wichtig, als es direkt mit den Handlungen der Menschen in dem Raum in Verbindung steht und in diesem Satz anstelle von Worten wie „leben“ oder „wohnen“ gebraucht wird. „Hausen“ hat jedoch eine andere Konnotation als die beiden letztgenannten Verben. Durch seine Verwendung werden die Wohnverhältnisse und die Art des Wohnens der darin lebenden Menschen be- und abgewertet. Insbesondere verweist der Begriff „hausen“ auf einen vor allem auf ein Nächtigen fokussierten, sowohl dinglich als auch sozial ordnungslosen Aufenthalt.6 Bei dieser Fotografie stellt sich die Frage, warum der Begriff „hausen“ genutzt wird, obwohl die Dinge in dem abgebildeten Ausschnitt des Raumes den räumlichen Gegebenheiten entsprechend ordentlich platziert sind.

6 Das Wort „hausen“ hatte nicht immer diese negative Konnotation. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird die Veränderung der Wortbedeutung über die Jahrhunderte und die eindeutige inhaltliche Abgrenzung zum Wort „wohnen“ deutlich (Deutsches Wörterbuch 2003, Sp. 658).

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besetzter

Platzhalter

Die Matratzen liegen nebeneinander, die Decken und Kissen sind am Kopfende zusammengefaltet, was als Ablage dienen kann, wird als solche genutzt. Der Zustand wird jedoch nicht als bestmögliche Ordnung anerkannt, stattdessen weist der Text darauf hin, dass hier ein Mangel an standardisierter Einrichtung und deren Benutzung sichtbar würde. Im Wort „hausen“ versprachlicht sich das Fehlen von Betten, Regalen und Schränken, die Nähe zum Boden sowie das nahe Beieinanderliegen der Schlafstätten. Vor allem wird mit dem Begriff der Aufenthalt der selbst nicht abgebildeten Menschen bezeichnet und auf spezifische Weise markiert. Die an den Bildrändern angeschnittenen weiteren Matratzen und Kissen lassen darauf schließen, dass mehr Menschen in diesem Raum leben, als allein aufgrund der gezeigten Matratzen zu vermuten wäre. An dieser Stelle kann die Bildunterschrift erneut herangezogen werden, die ja ausdrücklich von „40 malische[n] Flüchtlinge[n]“ spricht. Der Eindruck von Enge, mangelnder Privatsphäre und Unordnung wird also nicht nur durch den Gebrauch des Wortes „hausen“ hervorgerufen und verstärkt, sondern auch dadurch, dass die Zahl 40 und der dazu gewählte Bildausschnitt in Kombination auftreten und so verhindern, dass Zahl und tatsächliche Größe des Raumes in einen Zusammenhang gestellt werden können. Die Matratzen stehen durch ihre Präsenz in den Räumlichkeiten einer Schule für die fehlenden Orte, an denen geflüchtete Menschen leben könnten. Gleichzeitig werden durch die Art und Weise, wie sie in dem gezeigten Raum positioniert sind, Vorstellungen von der „richtigen“, also der westlich standardisierten Weise zu wohnen gerade dadurch aufgerufen, dass sie nicht bedient werden: fehlende Möbel, keine abgetrennten Schlafzimmer, mangelnde Privatsphäre – dies sind die Dinge, die zu sehen sind und an deren Bedeutungsproduktion die Matratze als Figur erheblich mitwirkt. Die Verwendung des Wortes „hausen“ als Synonym von „wohnen“ bedeutet in der obigen Verbindung, dass der Art und Weise, wie Menschen in den abgebildeten Räumen leben, eine negative Wertung zugeschrieben wird. Diese Wertung soll durch folgende Ausführungen weder erklärt werden, noch soll der Eindruck erweckt werden, dass sie in irgendeiner Art und Weise legitim sei. Vielmehr kann der Blick auf eine allgemeine Definition von „wohnen“ insofern aufschlussreich sein, als durch sie augenfällig wird, welche thematischen Verschränkungen der Begriff birgt und welche Assoziationen durch ihn hervorgerufen werden können. Die Soziologen

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Anna-Katharina Riedel

Hartmut Häußermann und Walter Siebel bezeichnen modernes Wohnen auch als die „symbolische Gestaltung von Vorstellungen über die richtige Art zu leben“ (Häußermann/Siebel 1996, S. 15). Sie beschreiben vier Bedeutungen, nach denen die Besonderheiten dieser Wohnweisen definiert werden. In ihrer funktionalen Bedeutung sei die Wohnung ein „Ort der Nicht-Arbeit“, in ihrer sozialen Bedeutung ein „Ort der Familie“ (ebd.). Des Weiteren gelte die Wohnung in sozialpsychologischer Hinsicht als „Ort der Privatheit und Intimität“, die rechtlich-ökonomische Bedeutung liege in der Regulierung von Wohnen durch Gesetze, Verordnungen und Verfügbarkeiten. Wenn nun der Versuch unternommen wird, diese vier Bedeutungen mit dem verfügbaren Material aus dem medialen Diskurs über die Unterbringung geflüchteter Menschen in Deutschland zu konfrontieren, wird schnell deutlich, dass sie entweder hinfällig oder negiert werden. So kann die Unterkunft in einem Sammellager oder Übergangswohnheim nicht oder nur sehr ansatzweise als „Ort der Nicht-Arbeit“ erlebt werden, wenn einige der dort lebenden Personen nur ein eingeschränktes Recht besitzen, überhaupt einer Arbeit nachzugehen und/oder die äußeren Umstände das Ausüben einer Arbeit erschweren. Außerdem kann auch eine arbeitende Person einen gemeinschaftlichen Schlafraum im Gegensatz zu einem privaten Schlafbereich nicht als ‚Ort der Nicht-Arbeit‘ erleben. Die Bedeutung der „Familie“7, welche bei Häußermann und Siebel als heteronormativ strukturierte Gruppe von „Mann, Frau und ihren Kindern“ definiert ist (ebd.), ist ebenfalls nicht greifbar: Menschen verlassen ihr Herkunftsland nicht immer als „Familie“, vorausgesetzt es existiert überhaupt eine Gruppe, welche diese Merkmale „erfüllt“. Und selbst wenn es der Fall sein sollte, dass eine „Familie“ zusammen in einem Land und in einer Stadt in einer Unterkunft untergebracht wird, lässt sich diese Situation dann nicht mit dem vergleichen, was „Familie“ eigentlich meint: die Abgeschlossenheit einer „sozialen Einheit des Wohnens“ (ebd.). An dieser Stelle ist die Verknüpfung mit der dritten Bedeutung erhellend: In Sammellagern, Übergangswohnheimen oder Erstaufnahme-Einrichtungen kann eine Privatsphäre und/oder Intimität weder für die eventuelle Gruppe „Familie“ noch für eine Einzelperson gewährleistet werden. Einzig die vierte Dimension des Wohnens, die rechtlich-ökonomische, lässt

7

Das Wort „Familie“ wird im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt, um darauf

hinzuweisen, dass dessen Bedeutung im Text eine eingeschränkt heteronormative ist, in der Lebensentwürfe, die nicht diesem tradierten Konzept entsprechen, nicht vorkommen.

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Abb.  4  „Menschenwürdig

besetzter

ist

das

Platzhalter

nicht“,

Süddeutsche Zeitung (Online-Ausgabe), 28.8.2014, Screenshot

sich im Kontext der behandelten Thematik klar beschreiben: Die Unterbringung von geflüchteten Menschen in den jeweiligen Unterkünften ist ein Ablauf, der ausschließlich durch Gesetze und Verordnungen geregelt wird. Auch die Umgebungen, welche sich Geflüchtete im Rahmen von Protestaktionen aneignen, erzwingen Arten des Wohnens, in denen Abgeschlossenheit, Privatsphäre und Intimität entweder nicht gegeben sind oder nur in Ansätzen gelebt werden können. Die Matratze funktioniert im Zusammenhang mit dem Themenkomplex „wohnen“ insofern als Symbol, als sie diesen durch ihre schiere Präsenz immer wieder aufruft und in den Fokus rückt. Die verschiedenen Bedeutungen von „wohnen“ werden als von Person zu Person und von Lebensrealität zu Lebensrealität unterschiedlich wahrgenommen. Nichtsdestotrotz bergen sie die Standards, aus denen sich das zusammenfügt, was als „modernes Wohnen“ bezeichnet wird. Es kann festgehalten werden, dass gerade die Matratze als variable Figur in diesem Kontext genutzt wird. Nicht nur weist sie durch ihre Platzierung an Orten, die nicht als traditionelle Wohnräume gelten, darauf

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Anna-Katharina Riedel

Abb.  5 „Auffanglager Zirndorf vor Kollaps“, Focus

Online,

29.8.2014,

Screenshot

hin, dass genau diese fehlen. Auch die Tatsache, dass die Matratze nicht in Kombination mit einem Bett/Bettgestell auftaucht, macht eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm in Bezug auf die Art des Wohnens sichtbar. Die Matratze wird allerdings auch als Instrument zur Regulierung und Zuweisung genutzt: Indem Matratzen in Räumen ausgelegt werden, wird scheinbar vermittelt, dass diese Räume zum Leben und Wohnen genutzt werden müssen. So kann die Matratze auch als Normalisierungsgegenstand betrachtet werden, der anzeigt, wie und an welcher Stelle ein Raum der Norm entsprechend genutzt werden sollte. Das Wort „hausen“ birgt im Zusammenhang der Berichterstattung über ge-

265

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besetzter

Platzhalter

flüchtete Menschen und deren Darstellung noch eine weitere Thematik in sich, nämlich die der „Hygiene“. Unter „hausen“ wird das Leben in schlechten Wohnverhältnissen verstanden. Die durch die Unterbringungsverhältnisse erzwungene Nähe zum Boden, die Enge und die Tatsache, dass viele Menschen einen Raum teilen müssen, lassen den Schluss zu, dass im Gebrauch des Wortes „hausen“ im Zusammenhang mit Abbildung 3 auch westliche Hygienenormen mitverhandelt werden, deren Erfüllung unter diesen Bedingungen auf den ersten Blick schwer einzuhalten sind und die der Erzeugung eines negativen Bildes von der Wohnsituation einer Gruppe von Menschen zugrunde liegen. In den Online-Ausgaben der Süddeutschen Zeitung und des Nachrichtenmagazins Focus erschienen Ende August 2014 zwei sehr ähnliche Fotografien. Sie zeigen jeweils einen Ausschnitt desselben Raumes in einem Erstaufnahmelager im bayrischen Zirndorf (Abb. 4 und 5). Die beiden Artikel, die mit den Fotografien bebildert wurden, behandeln die Unterbringung geflüchteter Menschen in den in Zirndorf zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten. Anstatt die Bilder einzeln zu beschreiben, sollen sie miteinander ins Verhältnis gesetzt und verglichen werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung und im Zusammenhang mit den dazugehörigen Texten ausmachen zu können. Zu sehen ist auf beiden Bildern ein Raum in einer zweckentbundenen Kapelle. Dies ist der genauen Betrachtung der Abbildungen zu entnehmen. Außerdem deuten auch die beiden Bildunterschriften darauf hin: Die Fotografie in der Süddeutschen Zeitung (Abb. 4) erschien mit dem Satz: „In Zirndorf müssen Flüchtlinge in einer umfunktionierten Kapelle schlafen“, und im Focus (Abb. 5) heißt es: „Auch in der Kapelle, im Frühstücksraum und in den Gängen wurden Matratzen ausgelegt“. Auf beiden Abbildungen ist im hinteren Teil des Bildes eine Wand mit vielen Fenstern zu sehen, die über eine komplette Seite des hallenartigen Raumes verlaufen. Auf Abbildung 4 ist der Lichteinfall durch diese Fenster wesentlich stärker, der Raum ist hier sehr hell. Durch die Kombination beider Abbildungen werden die Größenverhältnisse und Begrenzungen des gezeigten Raumes vorstellbar. An den Wänden des Raums liegen Matratzen, die eine Art Rahmen bilden, in dessen Inneren sich weitere Matratzen befinden. Auf den Matratzen liegen Laken und zum Teil auch Decken, Kissen und weitere Textilien, auch Taschen und ähnliche Aufbewahrungsgegenstände sind zu erkennen. Die Laken und Decken sind zum Teil zerwühlt, der Gebrauch der Matratzen als Schlafstätte ist

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Anna-Katharina Riedel

dadurch erkennbar. Die durch die Fenster hereinfallende Helligkeit in Abbildung 4 erzeugt in Kombination mit den größtenteils weißen Matratzen, Laken und Decken ein gleißendes Weiß, das es schwer macht, die Gegenstände optisch voneinander abzugrenzen. Anders als bei den Abbildungen 1 und 3, die jeweils keine Menschen zeigten, diese aber in ihren Bildunterschriften benannten, werden hier die „Flüchtlinge“, die in der Bildunterschrift von Abbildung 4 erwähnt werden, zum Teil gezeigt. Der Text zur Abbildung aus dem Focus benennt zwar keine Personen, das dazugehörige Bild zeigt sie aber ebenfalls. Die abgebildeten Menschen befinden sich jeweils im rechten Teil der Bilder. Zu sehen sind auf beiden Abbildungen jeweils zwei Personen, die mit dem Rücken zum Raum auf Matratzen an der Fensterfront liegen. Zwei bis drei auf Matratzen sitzende Personen können an der hinteren Wand des Raums erkannt werden. Im vorderen rechten Teil der Bilder liegen zwei Personen, eine davon unter einer Decke. Während die Abbildung aus der Süddeutschen Zeitung lediglich die Beine der liegenden Personen zeigt, sind auf der Abbildung im Focus beide liegenden Personen fast ganz, das heißt ungefähr bis zum Schulterbereich zu sehen. Keines der beiden Bilder zeigt die Gesichter der Menschen, sodass diese wiederzuerkennen wären. Dies wird durch die Rückenansichten der liegenden und sitzenden Personen verhindert sowie durch die Wahl des Bildausschnittes bei den beiden Personen im rechten Vordergrund. Diese bildliche Darstellung der Personen bewirkt in beiden Medien eindeutig eine Entpersonalisierung. Diesem Text liegt Beate Rösslers Definition von Privatheit zugrunde, welche besagt, dass etwas dann als privat gilt, „wenn man selbst den Zugang zu diesem ‚etwas‘ kontrollieren kann“ (Rössler 2001, S. 23f.), also unter anderem die Kontrolle darüber hat, wer, wann und aus welchem Grund in die als privat geltende Räumlichkeit eindringen kann.8 Von den

8 Rössler unterscheidet zudem zwischen der dezisionalen, der informationellen und der lokalen Privatheit. Bei der dezisionalen Privatheit geht es um den Schutz vor „Fremdbestimmen bei Entscheidungen, Handlungen“, bei informationeller Privatheit darum, inwieweit der Zugang zu persönlichen Daten geschützt oder ungeschützt ist, und lokale Privatheit verweist ganz konkret auf die räumliche Ebene, auf der Privatheit durch den unerwünschten Zutritt anderer verletzt werden kann (vgl. Rössler 2001, S. 25). Sammellager und Übergangswohnheime zwingen Geflüchtete in einen Zustand, in dem keine der drei Dimensionen von Privatheit (gänzlich) gegeben ist, sei es aufgrund der immer noch existierenden Gutscheine zum Erwerb von Lebensmitteln, der Residenzpflicht oder natürlich der Art und Weise der Unterbringung selbst.

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besetzter

Platzhalter

Abbildungen ausgehend wird deutlich, dass eine Umsetzung dieser westlichen Definition von Privatheit in der dort dargestellten Umgebung nicht möglich ist. Die Positionierung der Matratzen im Raum, ihr enges Nebeneinander und die Laken, Decken und Gegenstände, die zum Teil nicht klar einer Matratze zuordenbar zu sein scheinen, vermitteln optisch den Eindruck von nicht vorhandener Privatheit, Intimität und Rückzugsmöglichkeit. Das grelle Licht und das daraus resultierende Weiß auf Abbildung 4 verstärken dies, die Reihe Matratzen an der Fensterfront beispielsweise sieht auf der Fotografie oberflächlich wie eine durchgängige weiße Fläche aus. Die Matratzen weisen auch auf dieser Abbildung erneut auf fehlende Räumlichkeiten für geflüchtete Menschen hin. Zudem lassen sie durch die Art, wie sie auf den Fotografien zu sehen sind, auf die mangelnde oder nicht vorhandene Privatheit in diesem Räumlichkeiten schließen. Die Präsenz der vielen, größtenteils zur Gänze sichtbaren Matratzen auf den Fotografien steht im krassen Gegensatz zu der zum Teil fragmentierten und entpersonalisierenden Darstellung der wenigen Personen im Bild. Dies verdeutlicht auch der Zusammenhang mit der Wortebene: Die Überschrift zu Abbildung 5 ist „Auffanglager Zirndorf vor Kollaps: Flüchtlinge stapeln sich in Zelten und Garagen“. Erneut ist der direkte Zusammenhang zwischen Text und Bild nicht gegeben, denn zu sehen sind zwar viele Matratzen, die durch ihre offensichtliche Benutzung auch den derzeitigen Besitzer_innen zuzuordnen wären, aber diese sind nur in kleiner Anzahl und mit dem Rücken zum Bild oder durch den Bildausschnitt fragmentiert zu sehen. Die Verwendung des Substantivs „Kollaps“ ruft die Assoziation auf, dass die Präsenz der Geflüchteten ein sehr plötzlich zustande gekommenes Ereignis sei. Der Begriff lässt den Schluss zu, dass die im Artikel geschilderte Situation durch ihr angeblich plötzliches Eintreten weder kontrollierbar sei noch der Verantwortung bestimmter Akteure unterliege. Zudem lässt sich in puncto Entpersonalisierung die Kombination mit der Überschrift insofern als verstärkend betrachten, als das Verb „stapeln“ nicht in erster Konsequenz auf den menschlichen Körper, sondern auf Dinge bezogen ist. Die Abwertung der Menschen im Focus-Artikel entsteht also unter anderem klar durch die visuelle Darstellung und die Wortwahl. Die Matratze ist währenddessen als omnipräsent im Bild wahrzunehmen und unterstreicht so durch ihre Präsenz die Abwesenheit der Personen. An dieser Stelle sei abschließend auf die Parallelen hingewiesen, die durch die Art und Weise des medialen Umgangs mit Geflüchteten sichtbar werden: Nicht nur können in dem gesichteten Bildmaterial Entpersona-

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lisierungen der Menschen festgestellt werden, auch in den begleitenden Texten und Bildunterschriften ist die Rede von vermeintlichen Gruppen wie „Afrikanern“ oder „malischen Flüchtlingen“. So wird der Eindruck von Homogenität erzeugt. Die Verwendung metaphorischer Umschreibungen wie beispielsweise „Flüchtlingsströme“, die „weiter anschwellen“, besetzt die Zusammenhänge dann eindeutig negativ, indem sie die Flucht von Menschen als Bewegung erscheinen lässt, die außer Kontrolle geraten könne und die auch noch „natürlichen Ursprungs“ sei, wenn der Wassermetaphorik gefolgt wird.9 Die Figur der Matratze verweist dabei auf mehrere Themen und ist in ihrer Funktion als mehrfach besetzter Platzhalter variabel. Die Matratze funktioniert unter anderem als aktives Mittel zur Blockade und zur Besetzung von Orten und Räumen, aber auch als Argumentationsgrundlage in Bezug auf das Aufzeigen von Mängeln. Es ist allerdings auch auffällig, dass sie oft anstelle der Menschen abgebildet wird, um die es in den Medienberichten geht. So funktioniert die Matratze auch als Instrument zur Aufrechterhaltung eines entpersonalisierenden Umgangs mit geflüchteten Menschen. In den gesichteten medialen Beiträgen wird der Eindruck vermittelt, dass die Geflüchteten in keiner der geschilderten Situationen an der „richtigen“ Stelle sind. Die diskutierten Bild- und Textbeispiele zeigen auf, dass die Matratze durch ihre Präsenz in der Berichterstattung über Geflüchtete stets darauf hinweist, dass Wohn- und Lebensraum fehlen und gleichzeitig Bleiberecht eingefordert wird. Die Matratze übernimmt durch ihre Sichtbarkeit also eine Zeigefunktion. Während ihre Anwesenheit Mängel sichtbar macht, steht sie gleichzeitig auch für den Versuch, innerhalb eines nicht-normativen Zustandsgefüges eine Norm einzuhalten. Dadurch, dass in Erstaufnahme-Einrichtungen und Unterkünften für Geflüchtete Matratzen in bestimmten Räumlichkeiten auf bestimmte Arten positioniert werden, wird durch ihre Anwesenheit auch ein Raumzusammenhang vorgegeben, in dem die Menschen sich bewegen müssen. Demzufolge findet eine Normalisierung statt, die durch die Matratze umgesetzt wird. Die Abbildungen 4 und 5 zeigen exemplarisch auf, dass die Lebenssituation

9

Die Erkenntnis, „Rassismus und Sprache haben ein eheähnliches Verhältnis“, wird

hier augenfällig und die gegenwärtige Ausdrucksweise vieler Medienberichte weist erhebliche Parallelen zu der in den 1990er Jahren verwendeten Rhetorik auf (Schmidt 2002, S. 204; siehe auch oben).

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besetzter

Platzhalter

Geflüchteter unter anderem von einem Mangel an Privatheit gekennzeichnet ist. Die Forderung nach Bleiberecht lässt sich damit insofern in Verbindung bringen, als Privatheit auch Teil von Wohnen und vor allem auch längerfristigem Aufenthalt ist. Die Vermutung, dass Geflüchteten Privatheit systematisch vorenthalten wird, liegt demnach nahe. Die Frage wäre an dieser Stelle, welche Bedeutung die Entscheidung der Protestierenden, aktiv zu handeln, ihren gegenwärtigen Zustand beispielsweise in Form eines Protestcamps „auszustellen“ und sich gleichzeitig einen öffentlichen Raum anzueignen, mit Blick auf Rösslers Definition von Privatheit haben kann. Wenn aus einem nicht-privaten Zustand die Entscheidung getroffen wird, sich selbstermächtigend Zutritt zu einem Ort zu verschaffen, der institutionell nicht dafür vorgesehen ist, könnte das als Aneignung eines Stücks lokaler Privatheit verstanden werden. Die Tatsache, dass der Zustand einer Besetzung oder Blockade jederzeit durch institutionelle Gewalten wie politische Entscheide und Polizei formal und physisch aufgehoben werden kann, setzt dieser Form von Privatheit allerdings deutliche Grenzen. Festzuhalten bleibt, dass sich die Art von Öffentlichkeit verändert, welche die Protestierenden durch ihr Handeln herstellen: Wenn von einem vorwiegend nicht-privaten Zustand ausgegangen wird, muss diesem eine Öffentlichkeit immanent sein. Wird diese teilweise öffentliche Nicht-Privatheit dann aktiv in einen konkreten Teil von Öffentlichkeit getragen, ist sie eine andere als die vorige. Die Matratze taucht in beiden Szenarien auf. Ihre Funktion als mehrfach besetzter Platzhalter lässt sich an diesem Beispiel exemplarisch abschließend zusammenfassen: Nicht nur zeigt sie in den fotografierten Innenräumen den Ort auf, an dem geschlafen wird oder werden soll, und verweist gleichzeitig durch ihre Anordnung in den Räumen auf einen Zustand von mangelnder und/oder nicht existierender Privatheit. Sie markiert ebenfalls den Mangel an Orten/Räumen, die für Geflüchtete fehlen, was sowohl im Innen- als auch im Außenraum geschieht. Im Außenraum ist die Wahrnehmung der Matratze noch prägnanter, weil sie tradiert mit einem Innenraum verbunden wird und diese gewohnte Verortung des Gegenstandes negiert wird. Somit erhält sie eine Störund Irritationsfunktion, die aufgrund der durch ihre Positionierung geschaffenen Öffentlichkeit stark wahrgenommen wird und eine Konfrontation mit ihrer Präsenz unausweichbar macht.

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Zugriff am 10.12.2014).

Abb. 2: „Flüchtlinge bringen Verkehr in Kreuzberg zum Erliegen“, in: Berliner Morgenpost (Online-Ausgabe), 8.7.2013, Screenshot, http://www.morgenpost. de/berlin-aktuell/article117828995/ Fluechtlinge-bringen-Verkehr-in-Kreuzberg-zum-Erliegen.html (letzter Zugriff am 10.12.2014).

Abb. 3: Til Biermann: „Aus der Wüste über das Meer nach Kreuzberg“, in: Die Welt (Online-Ausgabe), 14.9.2013, Screenshot, http://www.welt.de/politik/ausland/article119963852/Aus-der-Wueste-ueberdas-Meer-nach-Kreuzberg.html (letzter Zugriff am 10.12.2014).

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Elke Krasny

Wohnen als Krise.

Von der Diskursformation der UN-HABITAT-Konferenz 1976 Mitte April 1976 erschien das Buch The Home of Man der britischen Ökonomin und Gründerin des International Institute for Environment and Development in London Barbara Ward. Ward war in den 1960er und 70er Jahren weltweit als Policy-Beraterin aktiv und als Rednerin sehr nachgefragt. The Home of Man ist als Bestseller angelegt: Leicht lesbar, in journalistischer Sprache, mit prägnanten Aussagen, bekräftigenden Adjektiven, knappen Sätzen und kurzen Kapiteln wird ein globales Krisenszenario des auf Wachstumslogik beruhenden Kapitalismus beschworen, werden die Endlichkeit der Ressourcen verdeutlicht und Handlungsansätze für ein Überleben in der Zukunft diskutiert. „Is the Future Possible?“, „Cities under Pressure“, „A New Economic Order“ oder „Planetary Housekeeping“ lauten die einprägsamen Überschriften, die die Kapitel des insgesamt rund 300 Seiten umfassenden Buchs einleiten (Ward 1976, S. 67–76, 192–201, 258–268, 276–287). Wards zentrale Botschaft ist, dass es in der Verantwortung der Menschen liege, ob die weltweite Krisensituation als ausweglos oder als Möglichkeit zur Erneuerung wahrgenommen werde: „[...] it is in human settlements that nearly all people play out their individual lives, benefitting or suffering from a world system which can be judged to be in either a crisis of dissolution or the throes of regeneration.“ (Ward 1976, S. viii) Der Erscheinungstermin des Buches war strategisch geplant: Knapp sieben Wochen vor dem ersten Konferenztag der UN Conference on Human Settlements, die vom 31. Mai bis 11. Juni in Vancouver stattfand, war The Home of Man im Buchhandel erhältlich. Das Buch sollte eine massenwirksame und allgemein verständliche Argumentationsgrundlage und Orientierungshilfe für die bevorstehende Konferenz liefern. Bereits vier Jahre zuvor hatte Barbara Ward in Zusammenarbeit mit dem Naturwissenschaftler René Jules Dubos eine ähnliche Aufgabe für eine United Nations Conference übernommen, und zwar für die

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UN Conference on the Human Environment 1972 in Stockholm. Damals verfasste Ward als Hauptautorin den Text Only One Earth: The Care and Maintenance of a Small Planet: an Unofficial Report Commissioned by the Secretary General of the United Nations Conference on the Human Environment. Als Diskussionsbasis für die UN Conference on the Human Environment vorbereitet, ist somit das bis heute wirksame Konzept der Nachhaltigkeit eingeführt worden. Eine ähnlich grundlegende, global angelegte politische und philosophische Neuorientierung sollte dann auch 1976 wieder auf den Weg gebracht werden und die ökonomischen, ökologischen und urbanistischen Argumente für den Weltsiedlungsgipfel der Vereinten Nationen präzise bündeln, analytisch verdichten und massentauglich popularisieren. Das Konzept der Nachhaltigkeit, das Ward begrifflich in Only One Earth entwickelt hatte, prägte entsprechend auch ihren Zugang in The Home of Man. Der vorliegende Essay widmet sich zwei Veröffentlichungen, anhand derer sich die Formierung eines hegemonialen Diskurses der UN Conference on Human Settlements, die auch als HABITAT-I-Konferenz bezeichnet wird,1 nachvollziehen lässt. Die erste bereits vorgestellte Publikation, The Home of Man, diente der Konferenzvorbereitung. Die zweite, nach der Konferenz verfasste Publikation mit dem Titel The Vancouver Declaration on Human Settlements beinhaltete die auf der Konferenz erarbeiteten Prinzipien und Empfehlungen und zielte auf die internationale Implementierung dieser Vorschläge. Beide Veröffentlichungen, die an eine globale Öffentlichkeit adressiert waren, gehen von einer weltbedrohenden Krise der Gegenwart aus, die sich in den rasanten Urbanisierungsprozessen manifestiert und deren Bewältigung internationale Maßnahmen erfordert. Von daher sind beide Veröffentlichungen zukunfts- und handlungsorientiert ausgerichtet. Trotz dieser vergleichbaren Zielsetzungen gibt es auch entscheidende Unterschiede zwischen den Texten. The Home of Man ist von einer einzelnen Autorin verfasst und macht sich zur Aufgabe, der UN Conference on Human Settlements vorab ihre programmatische Rechtfertigung zu liefern. The Vancouver Declaration on Human Settlements hingegen ist ein kollektiv erstelltes Dokument, das von der UN-Konferenz verabschiedet worden ist. Es umfasst

1

Die Habitat-II-Konferenz fand 20 Jahre später, also 1996, in Istanbul statt und

verabschiedete die HABITAT-Agenda. Die Habitat-III-Konferenz wird 2016 in Quito stattfinden.

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Elke Krasny

neben der Erläuterung der Voraussetzungen und Prinzipien auch praktische Empfehlungen, die „64 Recommendations for National Action“ (The Vancouver Declaration 1976, o.  S.). Im Folgenden werde ich diese beiden Veröffentlichungen im Hinblick auf ihre hegemonialen ideologischen Orientierungen befragen und analysieren. Durch die Zusammenschau beider Texte soll deutlich werden, wie ein spezifischer Krisendiskurs die Grundlage für die Ableitung international gültiger Neuorientierungen, Prinzipien und Empfehlungen lieferte. Dabei stellen sich zentral die Fragen, ob und wie sich in den ideologischen Orientierungen eine neue westliche Diskursformation verdichtete und hegemonial wurde und inwieweit sich sowohl in The Home of Man als auch in The Vancouver Declaration on Human Settlements Konflikte innerhalb dieser Diskursformation ausmachen lassen. Des Weiteren soll der Versuch unternommen werden, anhand der Analyse der Texte nachzuvollziehen, inwieweit die herrschenden politischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse zwischen den hochindustrialisierten Ländern des Nordens, die sich Mitte der 1970er Jahre vielfach bereits an der Schwelle zur De-Industrialisierung befanden, und den Ländern des Südens, die nach unterschiedlichen Maßstäben und unter jeweils anderen finanziellen Bedingungen in Infrastruktur, Industrialisierung und städtisches Wachstum investierten, textuell und diskursiv reproduziert wurden. Bevor ich mich nun der Untersuchung der beiden ausgewählten Texte und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Diskurs, den diese zu formieren suchten, zuwende, möchte ich einige methodische Anmerkungen zu der von mir gewählten Vorgehensweise machen. Ich möchte darlegen, in welcher Weise sich mein Forschungsinteresse an der UN-HABITAT-Konferenz und dem hegemonialen Diskurs, der durch diese hervorgebracht und verbreitet wurde, mit dem Themenkomplex von Matratze/Matrize verbindet, und daher ausführen, wie der von mir als programmatisch aufgefasste Titel Matratze/Matrize: Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur methodisch wirksam wurde. Matratze und Matrize stellen einen Denkzusammenhang her oder vielmehr einen zu theoretisierenden Komplex. Die Matratze ist eine Unterlage. Sie ist der Ort, an dem Menschen schlafen, sich erholen, sich wiederherstellen, sich fit machen für den nächsten Arbeitstag, für den nächsten Schultag. Die Matratze kann auf einem Bettgestell oder direkt auf dem Boden zu liegen kommen.

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In der Vancouver Declaration findet sich unter „Guidelines for Action“ (Paragraf 8) folgender Satz: „Adequate shelter and services are a basic human right [...].“ (The Vancouver Declaration 1976, S. 7) Dieser Satz, der das Recht auf Obdach als grundlegendes Recht formuliert, initiierte ein Nachdenken über Übersetzungen von shelter ins Deutsche. Das Duden Oxford Großwörterbuch Englisch bietet folgende Übersetzungsmöglichkeiten an: „Schutz, Unterkunft, Zuflucht“ (Duden Oxford 1999, S. 1518). Die sprichwörtliche Redewendung „ein Dach über dem Kopf haben“ liegt nahe. Diese Redefigur verdichtet Schutz, Unterkunft oder Zuflucht auf das Dach, welches wiederum für das ganze Haus steht. Der Kopf wiederum steht für den Menschen. „Das Dach über dem Kopf“ bedeutet folglich das Zuhause für den Menschen. Die rhetorische Figur, die das Verhältnis zwischen Dach und Zuhause, Kopf und Mensch herstellt, nennt man Pars pro Toto: Der Teil steht für das Ganze. In welchem Verhältnis steht die Matratze zu Schutz, Unterkunft oder Zuflucht? Gibt es die Möglichkeit, das Pars pro Toto einzusetzen, um zwischen der Matratze und dem Zuhause eine ähnliche sprichwörtlich verdichtete Beziehung wie zwischen dem Dach und dem Zuhause herzustellen? Weder „die Matratze“ noch „das Kissen unter dem Kopf“ überzeugten mich. Jedoch ging es mir mehr um die konzeptuelle und empirische Möglichkeit, ausgehend von der Matratze über das Haus, das Recht auf Obdach, über Schutz, Unterkunft und Zuflucht zu sprechen. So wie das Dach für Schutz vor Wetter und Gefahren steht, steht die Matratze für die Wiederherstellung und die Erholung des Körpers im Schlaf. Aus der Perspektive der feministisch-marxistischen Arbeitstheorie betrachtet, kann die Matratze als der Ort der Reproduktion von Leistungsfähigkeit und Arbeitskraft sowie der sexuellen Reproduktion begriffen werden, die wiederum langfristig die Reproduktion der Arbeitskraft bezogen auf das Individuum und auf zukünftige Generationen sichert. Um dies gewährleisten zu können, bedarf die Matratze einer Unterkunft, eines Obdachs, das sie umgibt, das die schlafenden Menschen aufnimmt und schützt. In einem nächsten Schritt soll die Verbindung zwischen der Matrize und meinem gewählten Untersuchungsgegenstand vorgenommen werden. Die Matrize, die Mutterform, ist das, was der Vervielfältigung vorausgeht. Sie ist laut Fremdwörter-Duden „bei der Setzmaschine die in einem Hohlkörper befindliche Hohlform zur Aufnahme der Patrize“ oder „bei der Formung eines Werkstücks derjenige Teil des Werkzeugs, in dessen Hohlform der Stempel eindringt“ (Duden 1982, S. 478). Um

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eine Beziehung zwischen der Matrize und den Veröffentlichungen The Home of Man sowie The Vancouver Declaration of Human Settlements denkbar zu machen, greife ich auf eine andere rhetorische Figur zurück, nämlich die Metonymie. Ein sprachlicher Ausdruck wird hierbei in einem nichtwörtlichen, übertragenen Sinne verwendet bzw. es wird ein Ausdruck durch einen ersetzt, mit dem eine verwandtschaftliche (Ähnlichkeits)Beziehung besteht. Beispiele dafür wären „das Weiße Haus verkündet“ oder „der Westen handelt“. Die Metonymie baut eine enge Beziehung zwischen Ursache und Wirkung auf. Auf dieser Ebene möchte ich ein metonymisches Verhältnis zwischen der Matrize und der Wirkungsweise der beiden Publikationen herstellen: Ich fasse diese Publikationen als diskursive Matrizen auf. Sie entwerfen Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung und setzen durch Vervielfältigung auf Weiterwirkung gegen genau jene Ursachen, die ihr Entstehen verursachten. The Home of Man setzte auf Vervielfältigung der behandelten Fragestellungen und Themen durch die internationalen Debatten im Rahmen der UN-Konferenz, durch policy maker und Entscheidungsträger, aber auch durch eine geänderte Lebenspraxis im Alltag. Umgesetzt und realisiert werden sollten die Prinzipien und Empfehlungen der Vancouver Declaration auf internationaler, nationaler und individueller Ebene. In den „General Principles“ der Vancouver Declaration findet sich unter Punkt 13 der folgende Satz: „All persons have the right and the duty to participate, individually and collectively in the elaboration and implementation of policies and programmes of their human settlements.“ (The Vancouver Declaration 1976, S. 5) Alle Menschen haben sowohl das Recht als auch die Verpflichtung an der Erzeugung all jener Matrizen mitzuwirken, die für die Implementierung und Umsetzung des Rechts auf Obdach entscheidend sind. Mitwirkung ist auf beiden Ebenen gefragt, auf der Ebene der Matrize und auf der der Umsetzung. Diese doppelte Figur der Mitwirkung findet sich auch im nächsten Abschnitt der Vancouver Declaration, den „Guidelines for Actions“: „1. It is recommended that Governments and international organizations should make every effort to take urgent action as set out in the following guidelines. 2. It is the responsibility of Governments to prepare spatial strategy plans and adopt human settlement policies to guide the socio-economic development efforts. Such policies must be an essential component of an over-all development strategy, linking and harmonizing them with policies on industrialization, agriculture,

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social welfare, and environmental and cultural preservation so that each supports the other in a progressive improvement in well-being of all mankind.“ (Ebd., S. 6) Die auf den genannten rhetorischen Figuren Pars pro Toto und Metonymie basierenden Verbindungen, die zwischen dem Paar Matratze/Matrize sowie dem Recht auf Obdach und der Verpflichtung zur Mitwirkung an der Realisierung dieses Obdachs als Existenzsicherung bestehen, verstehe ich auch als Ausdruck von Realverbindungen, die sich materiell, ökonomisch und politisch manifestieren und analytisch darstellen lassen. Die Redefiguren begreife ich also zugleich als Realfiguren. Das hat für die methodische Vorgehensweise Konsequenzen. Die Operationen des Pars pro Toto und der Metonymie, der engen Verbindung zwischen dem wörtlichen Sprachgebrauch und seiner übertragenen, nichtwörtlichen Verwendung, liefern entscheidende Einsichten in die Formation des zu untersuchenden Diskurses, zu der die UN Conference on Human Settlements maßgeblich beigetragen hat. Ich wende mich zunächst den Titeln zu und setze mich mit dem Verhältnis zwischen human settlements und Habitat auseinander. Der Vancouver-Konferenz war die Etablierung der UNHHSF vorausgegangen: „On 1 January 1975, the UN General Assembly established the United Nations Habitat and Human Settlements Foundation (UNHHSF), the first official UN body dedicated to urbanization.“2 Erst Jahrzehnte nach der Einrichtung der UNHHSF wurde daraus ein offizielles UN-Programm. „On 1 January 2002, through General Assembly Resolution A/56/206, Habitat’s mandate was strengthened and its status elevated to a fully-fledged programme in the UN system, giving birth to UN-Habitat, the United Nations Human Settlements Programme.“ Der Hauptsitz des HABITAT-Programms befindet sich in Nairobi, d.h. im dortigen Büro der Vereinten Nationen, das 1996 von der UN-Generalversammlung etabliert wurde.3 Auf der Ebene des Diskurses ist die Analyse des Verhältnisses zwischen Habitat und human settlements von Interesse, um so die ideologische Positioniertheit in der Argumentation

2

Dieses und das folgende Zitat sind der Selbstdarstellung von UN-HABITAT im In-

ternet entnommen, siehe unhabitat.org/history-mandate-role-in-the-un-system/ (letzter Zugriff am 3.3.2015). 3

Vgl. die Homepage des UN-Büros in Nairobi, www.unon.org (letzter Zugriff am

4.3.2015).

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nachvollziehbar zu machen. Habitat ist laut Duden „1. a) der Standort, an dem eine Tier- od. Pflanzenart regelmäßig vorkommt; b) Wohnplatz von Ur- u. Frühmenschen. 2. a) Wohnstätte, Wohnraum, Wohnplatz; [...]“. (Duden 1982, S. 292) Habitat ist ursprünglich ein Zeitwort, die dritte Person Singular des lateinischen Verbs habitare, also „er, sie, es wohnt“. Aus dieser Aktivität wird durch eine metonymische Verschiebung der Ort, an dem die Aktivität des Wohnens stattfindet. Unter Habitat wird dementsprechend der als natürlich begriffene Lebensraum einer bestimmten Spezies verstanden. Das Habitat des Menschen ist die Erde. Folglich steht die Erde den Menschen zur Besiedlung zur Verfügung. Hier lässt sich auf der diskursiven Ebene des Titels des UN-Programms deutlich die anthropozentrische oder menschenzentrierte ideologische Orientierung erkennen. Barbara Ward erzeugt mit dem Titel The Home of Man durch die Redefigur des Pars pro Toto die Welt als Zuhause für die Menschheit vergleichbar der Verwendung des Begriffs Habitat für den Planeten Erde. Diese Titel zielen auf eine Gesamtheit ab, indem sie zwischen Habitat und Siedlungsraum, zwischen dem Planeten Erde und dem Zuhause der Menschen durch die rhetorischen Verfahren von Metonymie und Pars pro Toto ein korrespondierendes In-eins-Fallen herzustellen suchen. Anhand der Mittel dieser rhetorischen Verfahren zeigt sich ihre ideologische Orientierung und Wirkungsabsicht, welche herrschende Dichotomien unter den umfassenden Gesamtheitsgedanken der Singularität, der Einzahl – die Erde als das Habitat, als das Zuhause für den Menschen – stellt. Theoretikerinnen wie Donna Haraway, Stacy Alaimo, Jane Bennett, Karen Barad oder Rosi Braidotti haben den anthropozentrischen Normativismus, der sich im historischen Rückblick im Habitat und in den human settlements gleichermaßen wie in The Home of Man verdichtet, aus einer posthumanistischen, materialistisch-feministischen Perspektive kritisiert und die ideologische (Wieder)Belebung von Dichotomien wie Natur und Kultur, Mann und Frau, menschlich und nicht-menschlich herausgearbeitet. In When species meet kritisiert Haraway „the culturally normal fantasy of human exceptionalism“ (Haraway 2007, S. 11). In ihrem Prolog zu The Home of Man führt Ward die Gründe an, warum es so schwierig geworden ist, die Problematik des Lebensraums der Menschen in ihrer Gesamtheit zu überschauen. „There are two reasons why it is exceedingly difficult to get a coherent grip on the issue of the human habitat – the settlement, where all the world’s peoples [...] live

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out their lives and go their deaths. The first reason is that this habitat includes everything. What can we leave out when we talk of the complete life cycle of mankind? So whatever is written about our habitat must submit to being incomplete. [...] The second reason is even more daunting. At no time in human history has the man-made environment of life been in such a state of convulsed and complete crisis.“ (Ward 1976, S. 1f.) Wenn in den Lebensraum der Menschen alles mit eingeschlossen ist und sich nichts außerhalb der menschlichen Einflusssphäre befindet, dann wird das ideologische Konstrukt einer allein auf den Menschen zentrierten Argumentation weiter fundiert. Die Abfolge der Argumentationsschritte lässt den anthropozentrischen Normalisierungsprozess deutlich hervortreten. „The home of man“, „the human habitat“, „the settlement“, „the man-made environment“: Die Erde wird zum menschlichen Lebensraum, der durch die Besiedlung zu einer von Menschen gemachten Umwelt wird. Der Kreis hat sich geschlossen: Die Erde ist von Menschen für Menschen gemacht, sodass sie hier (über)leben (können). Von allen anderen, von den nicht-menschlichen Lebewesen, wird nicht gesprochen. Die durch diese Argumentation etablierte Dichotomie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen, deren Zuhause gleichfalls die Erde ist, wird stillschweigend vorausgesetzt bzw. verschwiegen. Wiewohl sich Ward aus einer ethischen Perspektive für das Überleben des Planeten Erde einsetzt, worin auch der Lebensraum der nicht-menschlichen Bewohner_innen mit eingeschlossen wäre, wird immer aus einer anthropozentrischen Sicht für das Ergreifen der notwendigen Überlebensmaßnahmen plädiert. Rosi Braidotti hat sich kritisch mit dieser anthropomorphisierenden Normativität und hegemonialen Perspektive auseinandergesetzt. „Thus, the earth environment as a whole deserves the same ethical and political consideration as humans. This position is helpful but it strikes me as a way of humanizing the environment, that is to say as a well-meaning form of residual anthropomorphic normativity, applied to non-human planetary agents. [...] Species equality in a post-anthropocentric world does urge us to question the violence and the hierarchical thinking that result from human arrogance and the assumption of transcendental human exceptionalism.“ (Braidotti 2013, S. 86) Ist die eine ideologische Orientierung des sich formierenden Diskurses, die sich im Prolog von The Home of Man abzeichnet, die der Normalisierung des Anthropozentrismus, so ist die andere die der menschen-

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gemachten Krise, in der sich die Erde als Lebensraum der Menschen befindet. Die Krise, von der im Prolog gesprochen wird, bezieht sich auf die wachsende Weltbevölkerung. „Today, with now four thousand million beings on the planet, the added thousand million has only taken fifteen years. This rate of growth means that in the first decade of the next century, a whole new world equivalent in numbers to this one, will be piled on top of the present level of population.“ (Ward 1976, S. 2) 4 Der Mensch selbst ist Ward zufolge also die Ursache der Krise. Um die Krise zu bewältigen und somit ein Überleben der Menschheit zu ermöglichen, plädiert Ward für ein Denken und Handeln, das sich der Interdependenz verpflichtet. Sie spricht von „planetary interdependence“ und „planetary housekeeping“, welches soziale, politische und ökologische Beziehungen gleichermaßen umfasst (ebd., S. 258, 276). Im Vorwort zu Wards Buch schreibt Enrique Peñalosa, der Generalsekretär der UN-HABITAT-Konferenz: „I also think this book is a synthesis of Barbara Ward’s writing, teaching, and lecturing, in which she has so eloquently pleaded for a new understanding of the interdependence of peoples, for planetary management of both the human and natural environment, and for the moral as well as economic justification and need for a new world order.“ (Penalosa 1976, S. viii) Wiewohl prinzipiell Wards Plädoyer für Interdependenz, Miteinander-Verbundenheit oder, anders formuliert, Voneinander-Abhängigkeit zuzustimmen ist, bleibt die Aufgabe der Kritik bestehen, die aus dieser Interdependenz abgeleitete Positionierung der neuen Weltordnung auf den ihr zugrunde liegenden hegemonialen Diskurs hin zu befragen und zu analysieren. In diesem Diskurs der planetarischen Interdependenz manifestieren sich zwei Konflikte, die einer älteren Logik binärer Dichotomien folgen. Diese Konflikte sind gleichermaßen auf der Ebene der Theorie angesiedelt wie auf der Ebene der politischen und ökonomischen Realsituationen. Der erste Konflikt lässt sich in Wards Buch ausmachen: „It is taking place within two wider but equally unstable contexts, one social, the other ecological“ (Ward 1976, S. 5). Der Konflikt besteht zwischen dem Sozialen und dem Ökologischen – anders ausgedrückt, zwischen Kultur und Natur. In diesem Zusammenhang habe ich mit Haraway und Brai-

4 Laut worldometer.info lebten am frühen Vormittag des 28. April 2015 7.311.173.870 Menschen auf der Erde, www.worldometers.info/world-population/ (letzter Zugriff am 28.4.2015).

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dotti auf zeitgenössische theoretische Verhandlungen dieses Konflikts aus Perspektiven verwiesen, die einen normativen Anthropozentrismus kritisieren. Der zweite Konflikt ruht auf dem ersten Konflikt. Es handelt sich um den Konflikt zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, der Ökonomie wie Politik mit dem Sozialen und Ökologischen in vielen unterschiedlichen Konflikten, Kämpfen, Konkurrenzen und systemischen Krisen verbindet. „The Fifties saw the postwar reconstruction of Western Europe and Japan through the farsighted generosity of the United States, the relinquishing – easily or reluctantly – of Europe’s political empires, the redevelopment of planetary institutions in the United Nations, and the setting up of two international financial bodies, which as fundraising and disbursing bodies, were given weighted voting in favor of the major lenders. They thus reflected very specifically the world’s immediate post-colonial balance of economic forces – seventy-five percent of the wealth in the developed ‚Northern Lands‘, seventy-five percent of the population in the largely undeveloped ‚South‘.“ (Ebd., S. 260). Hier wird deutlich, dass ein Diskurs der planetarischen Interdependenzen, der mit planetarischen Management-Absichten einhergeht, innerhalb von herrschenden Ungleichheitsverhältnissen agiert. Zugleich wird deutlich, dass mit der Etablierung einer neuen globalen Handlungsmaxime, welche akzelerierte Urbanisierung und Nachhaltigkeit zusammenzubringen suchte, die Gefahr besteht, herrschende Ungleichheitsverhältnisse nicht nur zu reproduzieren, sondern zu intensivieren. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass bei der UN Conference on the Human Environment, welche vier Jahre vor der UN-HABITAT-Konferenz in Stockholm stattfand, die Mehrzahl der Länder des globalen Südens ursprünglich eine Konferenzteilnahme nicht in Betracht gezogen hatte. Nur das unermüdliche Lobbying von Maurice Strong, dem Generalsekretär der Konferenz, führte letztlich dazu, dass insgesamt 114 Regierungen in Stockholm vertreten waren. Bei der Eröffnungsrede betonte der schwedische Ministerpräsident Olof Palme die ökologische und ökonomische Ausbeutung der Welt durch die industrialisierten Länder. „[...] his critique was emblematic for the general tensions between developed and developing countries, which continued throughout the conference [...].“5 Hatten Fortschritt und

5

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www.environmentandsociety.org/ (letzter Zugriff am 6.3.2015).

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Wachstum die hegemonialen Diskurse im Zeitalter der Industrialisierung und Moderne bestimmt, so lassen sich anhand der in diesem Essay analysierten Positionen Wachstumsbeschränkung und Nachhaltigkeit als zentral für die neuen hegemonialen Diskurse von Postindustrialisierung und Postmoderne ausmachen. Planetarische Wachstumsbeschränkung verbunden mit dem Konzept der Nachhaltigkeit verknüpfte den Alarmismus der Krise gleichermaßen mit der Bevölkerungsexplosion und dem akzelerierten und größtenteils ungeplanten Wachstum der Städte des globalen Südens sowie dem sich abzeichnenden Ende des Wachstums, welches auf Industrialisierung und Ausbeutung von nicht erneuerbaren Energien beruhte. Mit der Argumentation der Krise des Wachstums verbanden sich folglich sehr unterschiedliche Tatbestände, vor allem akzeleriertes Wachstum und Wachstumsgrenzen, verschränkt mit einer Weltordnung, die auf eine Ablösung der Moderne und auf einen Neubeginn durch Nachhaltigkeit setzte. Es muss die Frage gestellt werden, inwieweit mit diesen neuen Orientierungen ein neokolonialer Machtdiskurs des globalen Nordens, verknüpft mit moralischen Argumenten der Wachstumskontrolle, etabliert wird. Die These, die ich hier tentativ formuliere und die weiterer Präzisierung und Ausarbeitung bedarf, ist, dass an die Stelle des Diskurses der Moderne der Diskurs der Nachhaltigkeit tritt. Die Argumente der planetarischen Interdependenz, des planetarischen Managements und der Wachstumsbeschränkung verbinden sich zu einem Paradigma der Nachhaltigkeit, das, im historischen Rückblick betrachtet, die herrschenden Ungleichheitsverhältnisse zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, aber auch die Ungleichheitsverhältnisse innerhalb der Städte des globalen Nordens und globalen Südens nicht nur reproduzierte, sondern auch akzelerierte. Vor diesem Hintergrund ist es von Interesse, dass durch diese planetarische Perspektive, die sich auf das menschliche Habitat, die Erde, bezieht, auch jeder einzelne Mensch in seinem Wohnen, das interdependenter Teil des Planetarischen ist, angesprochen wird. Die Perspektive des planetarischen Managements umfasst somit den Maßstab des Globus ebenso wie den Maßstab des Individuums. „Everything comes together in settlements. That is why they are the prime examples and signals for a world in which nothing any longer can be held apart.“ (Ward 1976, S. 290) Die von der UN Conference on Human Settlements verabschiedete Deklaration weist im Titel weder den Begriff Habitat noch den

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Begriff planetarisch auf. Sie heißt Vancouver Declaration on Human Settlements. Alle Handlungsebenen, Rechte, Pflichten, Verantwortlichkeiten werden damit wieder in den überblickbaren und planbar erscheinenden Maßstab menschlicher Siedlungen verlagert, von dem ausgehend die Notwendigkeit einer „New International Economic Order“, „institutional changes“ und „international solidarity“ verlautbart wird (The Vancouver Declaration 1976, S. 3). In der metonymischen Verschiebung und Verdichtung zwischen Ursachen und Wirkungen und in der durchgängigen Verwendung einer Pars-pro-Toto-Logik werden in den analysierten Texten, The Home of Man und The Vancouver Declaration on Human Settlements, planetarische Interdependenz und planetarisches Management, Ökologie und Soziales miteinander verknüpft. Dies führt zu einem von neokolonialen Machtverhältnissen gekennzeichneten hegemonialen Diskurs, der die Moderne durch die Nachhaltigkeit ablöst und dies mit dem Habitat, dem Siedeln, dem Wohnraum, dem Wohnen verbindet sowie Obdach oder Raum für das Wohnen als Voraussetzung des Überlebens der Einzelnen und den Wohnraum des Planeten Erde als Voraussetzung für das Überleben der Menschheit argumentativ, ökonomisch und politisch miteinander verschränkt. Diese planetarische Perspektive stellt von der Matratze, auf der die Reproduktion erfolgt, bis zur Erhaltung der Welt und ihrer Ressourcen für zukünftige Generationen Verbindungen von Rechten und Pflichten nach individuellen, lokalen, urbanen, nationalen, internationalen und globalen Maßstäben her und positioniert auf all diesen Ebenen die Nachhaltigkeit als hegemonialen Nachfolgediskurs der Moderne.

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Elke Krasny

Li t e r at u r Braidotti 2013 Braidotti, Rosi: The Posthuman, Cambridge/Malden: Polity Press 2013.

Duden 1982 Duden. Das Fremdwörterbuch, Bibliographisches Institut Mannheim, Wien/Zürich: Dudenverlag 1982.

Haraway 2007 Haraway, Donna J.: When Species Meet, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2007.

Peñalosa, Enrique Peñalosa, Enrique: Introduction, in: Barbara Ward: The Home of Man, New York: Norton & Company 1976, S. vii-ix.

The Vancouver Declaration 1976 The Vancouver Declaration on Human Settlements, vom Bericht der UN-HABITAT-Konferenz in Vancouver (Kanada) vom 31.5. bis 11. Juni 1976.

Ward 1976 Ward, Barbara: The Home of Man, New York: Norton & Company 1976.

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III. VERÖFFENTLICHUNG UND   PRIVATISIERUNG:

/

IDENTITÄT.

Angelika Bartl

Beweisstück Matratze.

Dokumentarische Blicke ins Wohnen der Anderen Mit Etablierung der Fotografie Ende des 19. Jahrhunderts setzt eine Flut dokumentarischer Bilder des privaten Wohnens ein, die bis heute anhält. Zu denken ist etwa an Berichte über vermeintlich authentische, ideale Familien-, Paar- und Singlehaushalte in Wohnzeitschriften und

Wohnratgebern oder an ethnologisch inspirierte Fotografien fremder Wohnräume, wie sie zuhauf in (populär‑)wissenschaftlichen Publikationen und Archiven zu finden sind. Aber auch unabhängige journalistische und künstlerische Produktionen widmen sich seit Langem dem Motiv des Privatraums, mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Erweitert werden kann diese Reihe noch um den großen Bereich des Bewegtbildes, wobei aktuell besonders doku-fiktionale TV-Serien und ‑Reportagen wie Einsatz in vier Wänden, Frauentausch oder MTV Cribs ins Auge fallen, die das ‚echte‘ Wohnen ihrer real-life-Protagonist_innen spektakulär in Szene setzen. Diesen heterogenen Materialbereich werde ich im Folgenden deutlich eingrenzen, auch wenn der Text keine detaillierte Diskussion einzelner historischer Werke anstrebt. Er widmet sich vielmehr einer strukturellen Fragestellung, in der es um die Verschränkung dokumentarischer Bildrhetoriken mit der Thematik des privaten Wohnens geht. Die zentrale These ist dabei, dass der Bildinhalt ‚Privatheit‘ nicht nur ein beliebiges Motiv des Dokumentarischen ist, das lose und gewissermaßen ‚passiv‘ in der medialen Form enthalten ist, sondern ein Element, das über seine spezifischen Konnotationen aktiv zur dokumentarischen Authentizitätsrhetorik beiträgt. Dieser These wird der Text in drei Schritten nachgehen: Zunächst werde ich anhand mehrerer Positionen der Dokumentarfotografie einen Einblick in verschiedene Modi dokumentarischer Interieurdarstellungen geben. Die Auswahl wurde dabei so getroffen, dass in allen Fotografien das Motiv der Matratze bzw. der Schlafstatt eine prominente Rolle spielt.

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Beweisstück

Matratze

Dieses Motiv eignet sich deshalb besonders gut für das Vorhaben dieses Textes, weil die Matratze im zwiebelschalenartig gedachten Privatraum (Rössler 2001, S. 18) als dessen zentralster Punkt – als der Ort privaten Rückzugs – vorgestellt wird und somit metonymisch für lokale Privatheit im Allgemeinen steht.1 Auf den eher materialbasierten ersten Teil werden im zweiten Teil einige theoretische Überlegungen folgen, die sich der besonderen Verknüpfung des Motivs des Privaten mit dokumentarischen Bildrhetoriken widmen. Im dritten Teil werde ich diese Überlegungen abschließend mit einem praktischen Beispiel konfrontieren: mit einer Fotoarbeit des Künstlers Wolfgang Tillmans, anhand derer sich ein reflexives Spiel mit der Verknüpfung beider Dimensionen aufrollen lässt.

Die Matratze im Positionen dokumentarischer

Bild: Privatheit

In der Geschichte der Fotografie zählen Einblicke in private Innenräume schon sehr früh zum gängigen Repertoire einer mit dokumentarischen Ansprüchen verbundenen Produktion. Bereits der Fotopionier William Henry Fox Talbot zeigt in seinem Band The Pencil of Nature (1844–46) die Aufnahme einer Porzellanvitrine, deren Zweck er damit erklärt, im Fall eines Diebstahls den (privaten) Besitzstatus der abgebildeten Objekte belegen – sprich: dokumentieren – zu können (Talbot 2011, o.  S.). Auch wenn dieses Beispiel fotografischer Inventarisierung noch nicht als dokumentarisch im eigentlichen Sinn zu bezeichnen ist, deutet es bereits an, dass das Motiv des innenräumlichen Privaten in der Folge zu einem privilegierten Sujet der Dokumentarfotografie werden wird. Ein Beispiel, das vielfach an den Beginn der sozialdokumentarischen Fotografie gestellt wird, sind die Arbeiten des 1870 in die USA emigrierten Dänen Jacob Riis. Als Polizeifotograf in New York dokumentierte Riis die zum Teil miserablen Wohnbedingungen der Migrant_innen in den Armenvierteln der Lower East Side und publizierte seine Fotografien 1890 in dem Band How The Other Half Lives (Riis 1971). Eingebettet in 23 Textkapitel zeigen die Fotografien unter anderem obdachlose Kinder,

1 Zum Konzept lokaler Privatheit siehe ebenfalls Rössler 2001, S. 255–304.

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Angelika Bartl

Abb. 1  Jacob „Five

Riis:

Lodgers

Cents

in

a

Crowded a

Bayard

Street

Tenement

Spot“,



1889

die zusammengerollt auf Straßen oder in Innenhöfen schlafen, sowie immer wieder provisorische, meist überfüllte Nachtquartiere. Viele dieser meist illegalen temporären Schlafstätten wurden im Zuge von Polizeirazzien mitten in der Nacht fotografiert, unter Einsatz des damals neu erfundenen Magnesiumblitzes (Solomon-Godeau 2003, S. 61f.). Das vermutlich bekannteste Foto dieses Bandes ist die Abbildung eines illegalen Nachtasyls in der Bayard Street (Abb. 1). Zu sehen ist ein Ausschnitt eines gedrungenen Innenraums ohne große Raumtiefe. Links im Bild befindet sich ein Ofen, der mit verschiedenen persönlichen Dingen zugestellt ist, davor steht ein Paar Schuhe. Im Hintergrund öffnet sich eine fensterlose Nische, in die eine erhöhte Ebene eingezogen ist. Auf dieser Ebene sowie am Boden des restlichen Raums sind mehrere Personen auf provisorischen Nachtlagern in Decken gehüllt. Sie schlafen oder blinzeln – vermutlich vom Blitzlicht aufgeschreckt – verstört in die

293

Beweisstück

Matratze

Kamera. Im rechten Bildvordergrund ragen außerdem die zugedeckten Beine einer weiteren Person ins Bild, wodurch nicht nur die Ausschnitthaftigkeit des Bildraums, sondern auch die Nähe und Präsenz der Kamera im Sinn dokumentarischer Unmittelbarkeits- und Echtheitsrhetoriken vermittelt wird. Der in diesem Bild raffiniert in Szene gesetzte Sozialdokumentarismus wurde vonseiten ideologie- und repräsentationskritischer Fototheoretiker_innen scharf kritisiert (u.  a. Sontag 2004, S. 58, 66; Stein 1983, S. 9–16; Solomon-Godeau 2003, S. 60–64). Wie diese bemerken, waren Riis’ Fotografien schlafender oder halbbewusst in die Kamera blinzelnder Personen kaum an sozialen Strukturveränderungen interessiert, sondern präsentierten der New Yorker Ober- und Mittelschicht effektvoll die Devianz des ‚Lebens der Anderen‘.2 Insgesamt zielt How The Other Half Lives ideologisch darauf ab, die fremden Lebensformen der Migrant_innen durch christlich-bürgerliche Lebenskonzepte des amerikanischen Mainstreams zu ersetzen, die Riis vor allem in den Werten einer intakten Familie sowie eines geordneten Heims verortet (Czitrom 2007, S. 116f.). Auf das implizite Wertesystem des ‚richtigen Wohnens‘ gehen die Kritiker_innen des Riis’schen Sozialdokumentarismus allerdings kaum ein. Diskutiert wird vor allem das Problem des dokumentarischen Realismus und seiner technikbasierten Objektivitäts- und Echtheitsrhetorik. Problematisch ist ihrer Meinung nach vor allem die Tatsache, dass die über die Kameratechnik argumentierende indexikalische Rhetorik der Fotografien das Leid der repräsentierten Personen individualisiere, das heißt an deren persönliches (privates) Schicksal binde und so ihren Status als bemitleidenswerte Opfer naturalisiere und festschreibe. Die politischen Bedingungen für die soziale Misere würden auf diese Weise effektiv verschleiert. In ihrem Text Wer spricht so? plädiert Abigail Solomon-Godeau dementsprechend dafür, deutlich zu machen, wer (oder was) tatsächlich im Dokumentarischen spricht: eben nicht die vermeintlich selbstevidente ‚Realität‘ des abgebildeten Elends, sondern konkrete soziale Konstellationen, die in der Aufnahme wirken. Dazu zählt sie vor allem die Ideologie des fotografischen Apparats und seiner Evidenzrhetorik sowie den kulturell und institutionell geprägten Blick 2

Dass dies auch durch eine explizit rassistische Kommentierung der Bilder erfolgte,

wird in der neueren Forschung betont (Czitrom 2007, S. 109–115).

294

Angelika Bartl

der Fotograf_innen und ihres Publikums (Solomon-Godeau 2003, S. 72). Allerdings bezieht sie diese Erkenntnis vorwiegend auf die verabsolutierte, indexikalische Semantik des Dokumentarischen, während sie die motivische Dimension des dokumentarischen Blickregimes – und damit auch das Motiv des privaten Wohnens – nicht näher diskutiert.3 Expliziter argumentiert in dieser Hinsicht der Philosoph Jacques Rancière, der in seinem Buch Die Aufteilung des Sinnlichen (2006) ausdrücklich die Bedeutung des Motivischen für die Konstitution des Ästhetischen hervorhebt. Mit Blick auf den Status der Fotografie in der Moderne schreibt er: „Damit eine technische Tätigkeitsform – ob es sich nun um den Gebrauch von Worten oder einer Kamera handelt – der Kunst zugerechnet werden kann, muss zunächst ihr Gegenstand kunstfähig sein. Die Fotografie ist nicht aufgrund ihrer technischen Natur zur Kunst geworden. [...] den Kunststatus der Fotografie garantier[t] [...] vielmehr das Interesse am Beliebigen: die Auswanderer von Steglitz’ Zwischendeck, die Brustportraits von Paul Strand oder von Walker Evans. Zum einen kommt die technische nach der ästhetischen Revolution; und zum anderen ist diese vor allem vom Ruhm des Beliebigen charakterisiert, der zunächst ins Gebiet der Malerei und Literatur fällt, bevor er Fotografie und Film erfasst“ (Rancière 2006, S. 53). Nach Rancière ist demnach ein spezielles Bildinteresse dafür verantwortlich, dass die fotografische Praxis in der Moderne zunehmend an autonomer ästhetischer Bedeutung gewann. Konkret nennt er das Interesse am Leben der ‚einfachen Bevölkerung‘ – der Migrant_innen, Handwerker_innen, Wanderarbeiter_innen etc. Im Begriff des ‚Beliebigen‘ ist jedoch, wie ich ergänzen möchte, generell das Aufkommen einer neuen Sensitivität für das ‚normale‘ Alltagsleben der Menschen enthalten, das sich auch und vor allem auf der Bühne der privaten Innenräume – in ihrem Wohnalltag – abspielt.4 Nachvollziehbar wird dies etwa in den zahlreichen dokumentarfotografischen Projekten, die sich mit dem privaten Lebens- und Wohnall3 Erwähnt wird der inhaltliche Aspekt nur in einer Nebenbemerkung (Solomon-Godeau 2003, S. 55). Dies ist umso erstaunlicher, als die Autorin im Text sogar zwei Abbildungen nutzt, auf denen liegende Personen zu sehen sind: neben einer Fotografie von Riis (Mitternacht in der Ludlow Street, 1888–90) ist dies das Foto Mann im Bett, 1940, von Aaron Siskind (ebd., S. 61f.). 4 Zur Bedeutung des Wohnens in der Moderne und zu seinen visuellen Bezügen vgl. u.  a. Nierhaus 1999.

295

Beweisstück

A b b .   2   Wa l k e r Hale

Matratze

Evans: County,

Bud

Fields

and

Alabama,

His

Fa m i l y, 1936

tag der Menschen befassen – und dabei vielfach den intimen Raum des Schlafzimmers zeigen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte Walker Evans, der seit den 1930er Jahren immer wieder Schlafzimmer der Arbeiter_innenklasse sowie seines eigenen privaten Umfelds fotografierte. Auch in seiner bekanntesten Publikation – dem mit James Agee veröffentlichten Band Let Us Now Praise Famous Men (1941) über drei Pächterfamilien aus dem Süden der USA – zeigt Evans zahlreiche Innenraumaufnahmen, darunter eine Bildfolge, in der die Mitglieder der Familie Fields gemeinsam und einzeln auf und neben einem Bett sitzend zu sehen sind (Evans/Agee 1960) (Abb. 2). Wie Michael Leicht in einer Studie über die Repräsentationspolitik dieses Werkzusammenhangs bemerkt, zeichnen sich die Fotografien der weißen Pächterfamilien auf den ersten Blick dadurch aus, dass sie „nicht

296

Angelika Bartl

auf Mitleid und Betroffenheit setz[en], sondern die Nachdenklichkeit und Ernsthaftigkeit der beteiligten Personen beton[en]“ (Leicht 2006, S. 46). Auch bei den Interieuraufnahmen kann „eine bemerkenswert aufgeräumte und saubere Klarheit“ festgestellt werden (ebd., S. 49), die die Würde und Erhabenheit des ärmlichen Lebens in Szene setzt.5 Evans’ Fotografien scheinen damit der zuvor gezeigten Betroffenheitsund Opferfotografie von Riis diametral gegenüberzustehen. Mit Blick auf das Konzept des Privaten zeigt sich jedoch, dass beide Fotoprojekte – trotz ihrer Unterschiede – auch repräsentationspolitische Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese betreffen vor allem die Tatsache, dass sich beide Arbeiten am Ideal intakter familiärer Beziehungen sowie der im geschützten Wohnraum gewährleisteten individuellen Selbstentfaltung orientieren. Bei Riis ist diese Vorstellung freilich nur indirekt-negativ enthalten, indem seine Bilder genau die Abwesenheit der bürgerlichen Normvorstellungen privaten Wohnens zeigen: eben keine behütete Kindheit, sondern im Freien schlafende, unbeaufsichtigte Kinder, und eben kein intimes, persönliches Schlafzimmer als Rückzugsort, sondern gedrängte Schlaflager ohne jede Privatsphäre. Im Gegensatz dazu inszeniert Evans die genannten Werte bürgerlicher Privatheit ausdrücklich positiv: als Werte, die selbst unter ärmlichen Bedingungen aufrechterhalten werden können. Beiden dokumentarischen Positionen unterliegt somit, ob positiv oder negativ inszeniert, ein ähnliches Konzept bürgerlicher Privatheit. Auch bei zwei jüngeren Positionen der amerikanischen Dokumentarfotografie, bei Diane Arbus und Nan Goldin, gehören private Räume – und insbesondere Schlafzimmer, Betten und Matratzen – zum festen Bildinventar. So sind etwa in Arbus’ Arbeiten aus den 1960er Jahren, die vor allem Außenseiter_innen der amerikanischen Gesellschaft zeigen, die Protagonist_innen meist in ihrer privaten Umgebung abgebildet, vor oder auf dem Bett stehend, liegend oder sitzend (Abb. 3). Ähnliches gilt auch für die Arbeiten von Goldin, die vorwiegend Personen mit ungewöhnlichen Lebensentwürfen in deren privatem Umfeld fotografiert. Besonders in den Aufnahmen aus den 1980er Jahren über die subkulturelle

5

Dabei handelt es sich ausdrücklich um einen ersten Eindruck, den Evans’ Foto-

grafien v.  a. im Vergleich zu anderen Dokumentarfotograf_innen seiner Zeit erwecken. Eine differenzierte Analyse der zum Teil auch widersprüchlichen Bedeutungsebenen in seinem Werk liefert Leicht an anderer Stelle, vgl. Leicht 2006, S. 145–154.

297

Beweisstück

Matratze

Abb. 3  Diane Arbus: Transvestite at her Birthday Party, N.Y.C., 1969

Drogenszene in Manhattan tritt immer wieder das Bett in Erscheinung, als Bühne, auf der die Körper in ihrer Nacktheit, Verletzlichkeit und Sexualität inszeniert werden (Abb. 4). Anders als bei Riis und Evans wird im Fall dieser beiden jüngeren Fotopositionen das Konzept lokaler Privatheit allerdings nicht mehr vorwiegend mit klassischen, bürgerlich-familiären Werten aufgeladen. Es dient vielmehr dazu, anderen Lebensformen einen geschützten Entfaltungsraum zu geben, der in den Fotografien als Gegenmodell zum gesellschaftlichen Mainstream in Szene gesetzt wird (vgl. dazu Lange 2004, S. 123). Die Bilder sind Ausdruck der Rebellion gegen die (hetero‑)normative, bürgerliche Zurichtung des Privaten – allerdings nach wie vor, ohne die Vorstellung des Privatraums als intimer Rückzugsort grundsätzlich aufzugeben.

298

Angelika Bartl

Privatheit

als

besonderer

Authentizitätsgarant

Die angeführten Beispiele zeigen, dass über formale und ideologische Unterschiede hinweg eine besondere Anziehungskraft zwischen dem Motiv lokaler Privatheit und dokumentarischen Bildrhetoriken besteht. Um diesen Befund theoretisch fassen zu können, bietet sich ein Konzept an, das die Filmwissenschaftlerin Monika Beyerle in einer Studie über das amerikanische direct cinema der 1960er Jahre entwickelt hat. In dieser Untersuchung beschreibt Beyerle verschiedene formale Authentisierungsstrategien, wie die wackelige Handkamera, extreme Kameraschwenks und ungewöhnlich lange Einstellungen. Darüber hinaus identifiziert sie auch stärker inhaltsgebundene „besondere Authentizi-

Abb. 4  Nan

Goldin:

Heart-Shaped

Bruise,

299

1980

Beweisstück

Matratze

tätsgaranten“ (Beyerle 1997, S. 114–137). Dieses Konzept der Authentizitätsgaranten leitet Beyerle von Maya Derens Begriff der „vertical attacks“ ab, deren Funktion es ist, den linearen (‚horizontalen‘) Erzählfluss eines Films zu unterbrechen und ihm wie durch ein Vergrößerungsglas eine besondere emotionale und authentische Tiefe zu geben (ebd., S. 96). Für das direct cinema führt Beyerle unter anderem zwei Beispiele an, die auch für die hier verhandelten fotografischen Interieurdarstellungen relevant sind. Das eine Beispiel ist die Innen-Außen-Struktur der von ihr untersuchten Filme, das heißt die Tatsache, dass die Kamera häufig von einem Außenraum ins Innere von Gebäuden vordringt, in denen sich das filmische Geschehen entfaltet. Die kontrastive Inszenierung von Außen vs. Innen suggeriert dabei einen privilegierten Insiderblick hinter die Kulissen, der das Gezeigte als ‚eigentliche Wahrheit‘ zu legitimieren vermag (ebd., S. 124). Das andere Beispiel von Beyerle ist der häufige Einsatz von in Großaufnahme gezeigten Gesichtern. Diese Aufnahmen werden aufgrund der starken Affektivität, die mit dem Motiv des Gesichts verbunden ist, „als besonders intime Augenblicke von großer emotionaler Nähe und Intensität wahrgenommen“ (ebd., S. 120). Sie vermitteln den Eindruck, man könne „hinter die Fassade eines Menschen“ blicken (ebd., S. 121), das heißt Einblicke in dessen ‚wahre‘ Persönlichkeit gewinnen. Beide Elemente befördern damit eine Rezeptionshaltung, die die Medialität der Filme verdrängt und das Gezeigte mit echter, unmittelbar erlebter Realität verwechselt. Überträgt man Beyerles Beispiele auf die Dokumentarfotografien des Privaten, so zeigt sich, dass auch hier eine Innen-Außen-Struktur von zentraler Bedeutung ist. Allerdings wird diese in den Fotografien nicht mehr über die (narrative) Kamerabewegung hergestellt, sondern ist in deren Bildlichkeit selbst angelegt. Ausgangspunkt dafür ist das seit der Moderne dominierende Gegensatzdenken von privater und öffentlicher Sphäre, wobei Erstere als intimer, in sich geschlossener Rückzugsbereich des Subjekts vorgestellt wird, während Letztere als offener, außenräumlicher und letztlich ‚fremder‘ Sozialraum gedacht wird (vgl. Nierhaus 1999, S. 94). Dieser diskursive Gegensatz wird im Fall der fotografischen Darstellungen privater Wohn- und Lebenszusammenhänge jedoch insofern ad absurdum geführt, als das visualisierte ‚Innen‘ des Privaten – paradoxerweise – nur über einen öffentlichen Blick von ‚außen‘ erfahrbar wird. Darstellungen des Privaten implizieren damit eine Innen-Außen-Struktur, die durch den Blick der Betrachter_innen immer wieder neu aufgeführt

300

Angelika Bartl

Abb. 5  Wolfgang

Tillmans:

Jurys

Inn,

2010

wird. Der besondere Reiz dieser Bilder liegt gerade darin, einen Blick hinter die Kulissen der öffentlichen Realität zu ermöglichen; einen voyeuristischen Blick, der auf dem ‚perversen‘ Vergnügen basiert, das verborgene Privatleben anderer Menschen beobachten zu können.6 Dokumentarische Interieurs sind also grundlegend in einer voyeuristischen Struktur des visuellen Ein- und Vordringens in eigentlich ‚verbotenes Terrain‘ angelegt.

6

Ich orientiere mich hier an einem Begriff des Voyeurismus nach Jacques Lacan,

dem zufolge das schauende Subjekt seine ‚perverse‘ Subjektivität aus der Tatsache gewinnt, etwas Verbotenes zu tun (Lacan 1996, S. 190).

301

Beweisstück

Matratze

Dieser strukturelle Voyeurismus wird in den Bildern allerdings kaum als solcher bewusst gemacht. Meist wird er durch eine moralische Begründung des Blicks (wie bei Riis) oder durch das Erzeugen des Eindrucks, selbst unmittelbar Teil des repräsentierten privaten Wohn- und Lebensalltags zu sein (und damit vermeintlich keine visuelle Grenzverletzung zu begehen), verdrängt. Letzteres gelingt meist dadurch, dass der Kamerablick im Bildraum selbst verortet und mit einem anwesenden, teilhabenden Subjekt verbunden wird, sodass sich die repräsentierte Nähe identifikatorisch auf den tatsächlich fremden/öffentlichen Betrachter_innenblick überträgt. So setzt beispielsweise auch Goldin häufig Groß- und Detailaufnahmen ein, arbeitet mit einer betont spontanen Schnappschussästhetik sowie mit ihrem eigenen Auftauchen in den Bildern und betont immer wieder, dass es ihr ‚eigener privater Freundeskreis‘ sei, den sie in ihren Fotografien dokumentiere (vgl. u.  a. Goldin 1992, S. 5–7). Neben diesen Elementen ist aber auch die diskursive Aufladung der Privatsphäre selbst von zentraler Wichtigkeit. Denn diese zeichnet sich, wie die Philosophin Cornelia Klinger in ihrem Aufsatz „Krise war immer ...“ bemerkt, durch einen „merkwürdig zwischen Naturalisierung, Sakralisierung und Idealisierung oszillierenden Charakter“ aus, der sich aus ihrer spezifischen Position als „heterogene Restkategorie“ der Moderne ergibt (Klinger 2013, S. 86). Ins Private wird „all das relegiert [...], was im Öffentlichen keinen Platz hat bzw. haben soll [...]. [Es ist einerseits] Relikt all dessen, was im Modernisierungsprozess als Vergangenheit zurückbleibt oder zurückgesetzt wird, andererseits Reminiszenz unerfüllt gebliebener Zukunftshoffnungen“ (ebd.). Wir haben es also mit einer Art ideologischem Sammelbecken zu tun, in dem alle verworfenen und verdrängten Seinsbereiche des modernen Lebens – mythisch überhöht – Platz finden dürfen. Privatheit wird zum geschichts- und gesellschaftsfernen Numinosum; zu einem Ort, an dem sich das Leben vermeintlich unverfälscht und herrschaftsfrei entwickelt und entfaltet. Diesen mit Hoffnungen und Sehnsüchten, Ängsten und Abscheu vollgefüllten Raum bezeichnet auch Irene Nierhaus mit Blick auf das Schlafzimmer der Moderne „‚als affektbetonte[n] Intimbereich‘“, der vor allem der Entwicklung von „Gefühlsbindungen und Tugenden“ dienen soll (Nierhaus 1999, S. 94). Mit dieser starken affektiven Aufladung ist das Motiv des Privatraums – analog zu den Gesichtsaufnahmen des direct cinema – geradezu

302

Angelika Bartl

dafür prädestiniert, als ‚besonderer Authentizitätsgarant‘ des Dokumentarischen zu fungieren. Bilder des Privaten vermitteln den Eindruck, tiefe Einblicke ins ‚wahre‘ Leben der Menschen zu geben, das heißt deren vermeintlich unverfälschtes Sein und Wirken authentisch vermitteln zu können. In diesem Zusammenhang stellt die Matratze – als metonymisches Sinnbild des Privaten – ein besonders wirkungsvolles Bildelement dar, das wie ein Barthes’scher Realitätseffekt (Barthes 1982) beiläufig und unbemerkt die Präsenz eines ‚natürlichen‘ Körpers sowie die ‚wahre‘ Subjektivität der repräsentierten Anderen bezeugen zu können scheint. Als unaufdringliches, aber umso eindringlicheres Beweisstück appelliert die Matratze an affektiv besetzte Vorstellungen von existenzieller Körperlichkeit und Intimität, an Regeneration und Sexualität genauso wie an Bewusstlosigkeit, Krankheit und Tod (vgl. etwa Selle 1993, S. 118 –129). Die Matratze kann damit innerhalb von Wohnbildern als authentisierendes Bildelement par excellence bezeichnet werden. Zusammengefasst kann also festgehalten werden, dass in den dokumentarischen Bildern des privaten Wohnens der Anderen zwei motivisch begründete und ineinander verhakte Authentisierungsebenen wirken: zum einen die voyeuristische Struktur des Blicks hinter die ‚Kulissen‘ des Öffentlichen und zum anderen die besondere mythische Aufladung dieses ‚dahinter‘ liegenden Raums des Privaten selbst. Dass sich diese beiden Authentisierungsebenen auf ganz unterschiedliche Weise und mit zum Teil konträren politischen Zielen überlagern können, hat selbst die kleine Auswahl an fotografischen Dokumentarpositionen im vorigen Textabschnitt gezeigt.

Wo l f g a n g

Tillmans,

Jurys

Inn,

2010

Ein Beispiel, das mit den Authentizität versprechenden Konnotationen des Motivs ‚Privatheit‘ auch selbst medien-reflexiv spielt, ist die Fotoarbeit Jurys Inn aus der Werkserie Neue Welt (2010–2012) von Wolfgang Tillmans (Abb. 5). Die hochformatige Fotografie zeigt eine fensterlose Raumecke mit Schreibtisch in einem standardisierten, unpersönlich eingerichteten Hotelzimmer. Prominent in der Mitte des Bildes befindet sich ein Fernsehmonitor, der auf dem hinteren Ende eines Holztischs steht, welcher entlang der rechten Wandseite diagonal in den Bildraum führt. Weiter vorne auf dem Schreibtisch steht eine Lampe mit rot-orangem Schirm, unter

303

Beweisstück

Matratze

dem Tisch steht ein Mülleimer, davor ein hellgepolsterter Stuhl. Außerdem ist ein rechteckiger, hochformatiger Wandspiegel über dem Schreibtisch angebracht, sowie links an der fast bildparallelen anderen Wandseite ein abstraktes Gemälde in warmen Rottönen. Interessanterweise spiegelt sich ein Teil des Gemäldes im Spiegel über dem Tisch und ist somit auf beiden Wandseiten sichtbar. Diese Spiegelung wird noch durch eine weitere ergänzt, die sich auf dem zentralen Fernsehmonitor abbildet. In diesem ist – stark verkleinert – der eigentlich unsichtbare restliche Raum des Hotelzimmers zu sehen: ein Bett mit aufgeschlagenem, zerwühltem weißen Bettzeug, daneben ein Lehnstuhl und darüber die Kante eines weiteren Gemäldes in gleichem rot-orangem abstraktem Stil. Es scheint kein Zufall zu sein, dass das aus dem Monitor weiß herausleuchtende Bett genau auf der Mittellinie des Bildes, leicht über dem Bildmittelpunkt, angeordnet ist. Seine besondere Position trägt nicht nur der Tatsache Rechnung, dass Betten insgesamt das zentrale Möbelstück von Hotelzimmern sind, sondern sie verweist noch auf ein anderes Alleinstellungsmerkmal des Bettes in der Fotografie: Es ist das einzige sichtbare Objekt, das durch seinen offensichtlich benutzten Zustand auf einen konkreten, privaten Gebrauch des ansonsten sterilen Raums hinweist, ihn mit individueller Körperlichkeit auflädt. Mit dem zerwühlten Bett sehen wir einen einzigartigen, intimen Augenblick, der der Abbildung – ganz im Sinn der vertical attacks – eine affektive, authentisierende Tiefe gibt und so den spezifisch dokumentarischen Unmittelbarkeitscharakter der Fotografie begründet, die ansonsten auch als inszenierte Werbefotografie einer beliebigen globalen Hotelkette hätte durchgehen können. Dieser mit dem benutzten Bett verbundene Eindruck vermeintlich authentischer Privatheit wird in Jurys Inn allerdings nicht einfach affirmativ gesetzt, sondern bleibt ambivalent. Von Bedeutung ist dafür etwa der Umstand, dass sich das Bett in einem Hotelzimmer, das heißt in einem Transitraum befindet, in dem sich Privatheit nur temporär und partiell herstellen lässt. Doch vor allem sind dafür mehrere Hinweise auf die Medialität der Fotografie verantwortlich, die die dokumentarische Transparenz- und Unmittelbarkeitsrhetorik durchkreuzen und damit auch die zuvor genannten authentisierenden Strukturen und Konnotationen des Privaten im/als Bild unsicher werden lassen. Zu nennen ist dabei zunächst die Funktion des abstrakten Gemäldes im Bild. Sowohl die Bild-im-Bild-Situation an sich als auch insbesondere die Tatsache, dass es sich um abstrakte Malerei handelt (die seit Clement Greenberg

304

Angelika Bartl

mit dem Begriff der Medienspezifität verbunden ist), fungiert dabei als reflexiver Kommentar auf den Bildstatus der Fotografie. Es wird erkenntlich, dass die Fotografie keineswegs auf transparente Weise ‚die Wirklichkeit‘ zugänglich macht, sondern in erster Linie selbst ein reales, materielles Objekt ist. Diese medienreflexive Dimension wird durch die Tatsache unterstützt, dass das Motiv des abstrakten Bilds aufgrund der Spiegelungen noch an zwei weiteren Stellen auftaucht, wodurch sich eine fast symmetrisch ausgerichtete Struktur mit der Form eines auf dem Kopf stehenden Dreiecks ergibt. Die scheinbar ästhetisch anspruchslose, einfache (Schnappschuss‑)Fotografie wird damit als ein nach präzise kalkulierten, abstrakten Kompositionsregeln inszeniertes Artefakt erkennbar. Dass sich die Bild-im-Bild-Situation durch die beiden Spiegelungen herstellt, führt dabei noch eine Präzisierung ein. Als Verweis auf die spezifisch fotografische, dokumentarische Widerspiegelungsrhetorik macht dies darauf aufmerksam, dass Fotografien ganz besondere materielle Objekte sind – eben nicht nur ‚rechteckige Flachwaren‘, sondern Medien, die die Eigenschaft besitzen, ein (Vorstellungs‑)Bild der Wirklichkeit zu erzeugen. In Jurys Inn kann diese explizit sichtbar gemachte Realismus-Funktion auch speziell auf die authentisierende Funktion des zerwühlten Betts bezogen werden: als Verweis darauf, dass die dokumentarische Bildwirkung der Hotelzimmer-Fotografie wesentlich dem gespiegelten Detail des privat genutzten Betts geschuldet ist, wobei diese Wirkung aber zugleich auch als Teil der künstlerischen Inszenierung erkennbar bleibt. Eine besondere Pointe ist in diesem Zusammenhang, dass sich in Tillmans Fotoarbeit das Bett – als Verkörperung des Privaten und des damit verknüpften ‚authentischen Augenblicks‘ – ausgerechnet in einem Fernsehmonitor als dem materiellen Signifikanten für Medialität spiegelt. Diese Zusammenstellung verweist dabei erneut eindrücklich auf die Tatsache, dass die authentisierende Wirkung das Betts (bzw. des Motivs des Privaten) ein medialer/semiologischer Effekt ist, den sich die Fotografie zunutze macht, und eben nicht ontologisch aus einem vermeintlichen ‚Wesen‘ des Privaten begründet werden kann. Darüber hinaus ist die Spiegelung des Betts im Monitor aber auch als ein Kommentar auf den zugleich privaten und öffentlichen Charakter des Fernsehens lesbar: das Fernsehen einerseits als eine zutiefst private Tätigkeit, die in den eigenen vier Wänden stattfindet; und andererseits das Fernsehen als ein Massenphänomen, das die öffentliche Meinung prägt, das heißt die singulären Privathaushal-

305

Beweisstück

Matratze

te zu einer Unterhaltungs- und Wissensgemeinschaft verbindet wie kaum ein anderes Medium. Die Vorstellung des Privaten als komplett isolierter, reiner Rückzugsort wird auf diese Weise erneut als Mythos entlarvt, ohne seine relative Existenz zu ignorieren. In Jurys Inn verweist das Fernseh-Bild vom Privatraum ‚Bett‘ also einerseits auf die Instabilität und Durchlässigkeit der Kategorien öffentlich und privat, zeigt aber auch die reale Wirksamkeit ihrer diskursiven Bedeutung – insbesondere jene des Bildmotivs des Privaten als besonderer Authentizitätsgarant des Dokumentarischen.

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307

Elena Zanichelli

Ein Bett im Stadtraum? Félix González-Torres’ Untitled (1991) ‚im‘ Museum of Modern Art, New York 1992 Im Themenkomplex „Matratze/Matrize – Substanz und Reproduktion im Wohnen“ impliziert oder suggeriert der Schrägstrich zwischen Matratze und Matrize eine Reihe vermeintlicher Dissonanzen zwischen den genannten Medien, die jedoch eine semantische Konsonanz mit der Reproduktion teilen.1 Das Ausstellen ausgewählter Bilder von Matratze(n) im Kunstkontext wird öfter als Pars pro Toto für ‚das Bett‘ verhandelt. Dabei handelt es sich um Darstellungen, die, als Reproduktionen „lokaler Privatheit“ (Rössler 2001) gedeutet, einen Effekt von Privatheit im Sinne einer strategischen Veröffentlichung auslösen (können). In den 1990er Jahren schien sich durch die Ausbreitung von detailreichen Geständnissen aus Privat- und Intimleben vor allem in der internationalen Medienlandschaft die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vollständig aufzulösen. Georg Seeßlen schrieb etwa im Jahre 1998 in seinem Artikel „Mediopoly II – Die Sex-Variante. Wie und warum das Medium das Private öffentlich macht“: „Die Anwesenheit des Mediums verpflichtet zur Schamlosigkeit“ (Seeßlen 2000, S. 91). Dabei verwies er unter anderem auf Fernseh-Talkshows, nicht zuletzt auf die Dramatisierung von banalem Alltagsgeschehen – eine Dramatisierung, die erst durch die Kamera, beispielsweise via Homevideo, erfolgte (ebd., S. 104f.). 1

Meine Analyse von González-Torres’ Untitled (1992) basiert auf meiner an der

Humboldt-Universität zu Berlin 2012 verteidigten Dissertation Privat – bitte eintreten. Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre (Bielefeld 2015). Eine frühere Fassung ist erschienen als Zanichelli 2013. Für Hinweise und Unterstützung danke ich Karlheinz Lüdeking, Bettina Uppenkamp, Valeria Schulte-Fischedick.

309

Ein

Bett

Rekonzeptualisierungen

im

Stadtraum?

des

Privaten

Öffentliche Geständnisse, nackte Tatsachen, Enthüllungsgeschichten, Privatbilder: Das sind also keine Erfindungen des Web 2.0 und der damit assoziierten social media. Parallel zu den (nicht neuen) Zeitdiagnosen hinsichtlich der Tendenz oder gar Gefahr einer Entgrenzung der Bereiche öffentlich und privat – Richard Sennett (2002) sprach bereits 1974 von einer Tyrannei der Intimität – ist bei künstlerischen Arbeiten aus diesen Jahren eine regelrechte Konjunktur des Privaten zu beobachten, die so charakteristisch ist, dass sich an ihr eine Semantik des Privaten formulieren lässt. Viele in den 1990er Jahren entstandene Arbeiten geben vor, eigene, private Lebenserfahrungen unverstellt wiederzugeben. Emblematisch hierfür ist etwa Tracey Emins installative Arbeit mit dem unverwechselbaren Originaltitel: My Bed (1998/99). Beate Rössler hat in ihrer Studie Der Wert des Privaten dargelegt, dass persönliche Gegenstände die Privatheit der Räume – „die Privatheit des Hauses, der Wohnung, des Zimmers“ – im Sinne der lokalen Privatheit mit konstituieren (Rössler 2001, S. 255). Doch: Nicht nur Objekte als persönliche Gegenstände, sondern auch herkömmlich als privat konnotierte Handlungen wurden in den 1990er Jahren im Ausstellungsraum ‚live‘ vorgeführt: Elke Krystufek etwa befriedigte sich selbst in der Performance Satisfaction (Kunsthalle Wien, 1994). Gerade am Beispiel der Arbeiten von Emin und Krystufek bemängelte jedoch die Kunstkritik, hier werde das „als persönlich Begriffene [...] schlicht in Kunst transformiert“ (Graw 1996, S. 60). Wurde demnach das Private auch im Kunstbetrieb – nicht nur in Fernseh-Talkshows und Boulevard-Magazinen – ganz unvermittelt zur Schau gestellt? In künstlerischen Praktiken der Repräsentation des Privaten wurde zunächst eine Undifferenziertheit zwischen persönlichen Erfahrungen oder Befindlichkeiten und den davon im Bild zurückbleibenden Spuren suggeriert. Basierend auf mehr oder minder expliziten Subjektdarstellungen versprach dieser Suggestionsmechanismus (Ein‑)Blicke ins Private. Dass aber dieses ‚Private‘ speziell für diese Einblicke hergerichtet, quasi mit einem Schlüsselloch versehen wurde, verdeutlicht, dass die Präsenz des Privaten im betretbaren Kunstraum über Rhetoriken funktioniert, die Intimität und Authentizität als Kennzeichen des Privaten ausstellen. Über Rhetorik/en des Privaten zu reden heißt auch, auf die den Begriff ‚privat‘ charakterisierende konnotative Mehrdeutigkeit hinzuweisen.

310

Elena Zanichelli

Anhand von Untitled (1992), einer Plakatwand von Félix González-Torres, möchte ich exemplarisch Überlegungen zu Strategien der Repräsentation des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre vorstellen. Das Werk bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Privatheit, Öffentlichkeit und Geschlecht sowie die darin implizierten Aufteilungen. Die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer hat diesen Zusammenhang als „verschwiegene Relation“ bezeichnet, die durch das „liberale Trennungsdispositiv“ reguliert wird (Sauer 2001, S. 184). Dabei betont Sauer, dass politische und staatliche Öffentlichkeit in der Moderne erst durch die (fiktive) Trennung von der Privatsphäre entstand. Die Politikwissenschaftlerin Beate Rosenzweig wiederum fasste den fundamentalen Widerspruch des Privaten folgendermaßen zusammen: Einerseits gründe es auf dem individuellen Freiheitsrecht, aus dem die Konstitution und Grenzziehung des Privaten als ein Akt der Selbstbestimmung hervorgeht. Andererseits erweise sich das grundlegende „liberale Trennungsdispositiv“ als „ein soziales Konstrukt, dessen vermeintlich freiheitsrechtliche Begründung auf der Entrechtung und dem (vielfach repressiven) Ausschluss von Frauen und sozial marginalisierten Männern aus der Sphäre des Öffentlichen gründet. Privatheit ist folglich unabdingbar verknüpft mit der Konstruktion von hegemonialen sozialen Geschlechtsidentitäten und daraus abgeleiteten gesellschaftlichen und politischen Rollenzuweisungen“ (Rosenzweig 2010, S. 25). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass in den letzten Jahrzehnten die Trennlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit selbst zum Gegenstand fortdauernder Reformulierungen geworden ist (Nierhaus 1999, S. 12). Im Folgenden möchte ich nun zeigen, wie es künstlerischen Arbeiten – diesoder jenseits von Enthüllungsspektakel und Narzissmus – gelingt, die Ambivalenz, von der das ‚Private‘ gekennzeichnet ist, produktiv einzusetzen. Wie verhält es sich mit Rollenzuweisungen im urbanen Raum – in einem Raum, der als öffentlich betrachtet wird und von dem die Privatheit herkömmlicherweise ausgeschlossen wird?

Urbane

Großplakatwand

als

Ausstellungsfläche

Anlässlich seiner vom Museum of Modern Art 1992 organisierten Solo-Ausstellung entschloss sich der Künstler Félix González-Torres, im Innenraum des Museums die Plakattafel Untitled zu zeigen. Die Fotovorlage

311

Ein

Bett

im

Abb. 1b  Félix

Stadtraum?

González-Torres,

Untitled,

Detail (Foto), Großplakatwand, New York 1992

A b b.   1 a   Fé l i x

G o n z á l e z -To r re s ,

G ro ß p l a k a t w a n d ,

Ne w

Yo r k

Un t i t l ed , 1992

– eine schwarzweiße Großaufnahme des Kopfendes eines Bettes – war ein Jahr zuvor entstanden. Die eigentliche Ausstellung war jedoch außerhalb des Museums, nämlich im städtischen Raum New Yorks zu sehen. Das Museum stellte Broschüren zur Verfügung, die darüber informierten, wo sich die einzelnen Plakattafeln befanden – unter anderem in der Bronx, in Manhattan (der Großteil) sowie in Queens und Long Island (Abb. 1a, b). Untitled war nicht die erste Plakatwand, die Gonzaléz-Torres in New York ausstellte. Bereits 1989 hatte der Künstler ein sogenanntes „dateline“ piece als Großplakatwand für das New Yorker Sheridan Square konzipiert, an dessen unterem Rand eine handbemalte Aufschrift zu lesen war, die sich auf den Kampf um Homosexuellenrechte bezog: „People with

312

Elena Zanichelli

AIDS Coalition 1985 Police Harassment 1969 Oscar Wilde 1895 Supreme Court 1986 Harvey Milk 1977 March on Washington 1987 Stonewall Rebellion 1969“ (Abb. 2). Der Eintrag „Supreme Court 1986“ verweist auf den Rechtsfall Bowers v. Hardwick und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der USA, gemäß den „age-old community standards, and religious dogma“ Geschlechtsverkehr zwischen zwei Erwachsenen gleichen Geschlechts (sprich nicht reproduktiv) für illegal zu erklären – Michael Hardwick war von einem Polizisten im Bett mit einem anderen Mann überrascht worden (González-Torres 1994, S. 91). Der Eintrag „Stonewall Rebellion“ wiederum bezieht sich auf die Aufstände von Gästen des Stonewall Inn, einer schwulen/queeren Sze-

A b b.   2   Fé l i x Großplakatwand,

G o n z á l e z -T o r r e s , New

Yo r k

Untitled, 1989

313

Ein

Bett

Abb. 3  Adolph

Menzel,

im

Ungemachtes

Bett,

Stadtraum?

ca.

1845,

Kreide, gewischt, auf grünlich-grauem Papier, 22,1 × 35,5 cm

ne-Bar in der Christopher Street in Greenwich Village: Die Bar war der Schauplatz einer gegen die ansässige Szene gerichteten Polizei-Razzia in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969. Das Sheridan Square ist wenige Straßen vom Stonewall Inn entfernt. Mit dem Wissen um die historische Bedeutung des Standorts könnte man also die Aufstellung der Plakatwand am Sheridan Square mit dem Monument als Denkmal bzw. Erinnerungsort in Beziehung setzen – der Kunst im öffentlichen Raum schlechthin. Doch auch aus einer biografisch-persönlichen Perspektive sind die Aufschriften auf der Plakatwand bedeutsam: González-Torres erzählte, dass er mit seinem Freund Ross Laycock am Christopher Street Day an dem Platz vorbeigezogen war (ebd.). Bereits zur Entstehung seiner Einzelausstellung im New Museum in New York 1988 – wo er unter anderem frühere „dateline“ pieces im kleineren Format ausstellte (González-Torres 2006a, S. 121) – erklärte González-Torres: „This work is mostly personal. It is about those very early hours in the morning, while still half asleep, when I tend to visualize Information, to see panoramas in which the fictional, the important, the banal, and the historical are collapsed into a single caption. [...]

314

Elena Zanichelli

This work is about my exclusion from the circle of power where social and cultural values are elaborated and about my rejection of the imposed and established order“ (ebd.). Auf einen solchen Morgen könnte sich auch die 1991 entstandene Aufzeichnung eines ungemachten Bettes beziehen. Als zentraler Gegenstand des (Schlaf‑)Zimmers scheint das Bett prädestiniert zu sein, den Zufluchtsort des Privaten zu repräsentieren. Dem Bett schrieb 1993 der Medientheoretiker Vilém Flusser eine zentrale Bedeutung für die als „Weltmitte“ bezeichnete Wohnung zu, „aus der wir in die Welt vor[stoßen], um uns auf sie wieder zurückzuziehen“ (Flusser 1993, S. 89). Gemeint sind also Tod und Geburt. Flusser weiter: „Mein Kriterium ist autobiografisch. Ich wähle folgende Welten, deren Mitte das Bett ist: Geburt, Lesen, Schlaf, Liebe, Schlaflosigkeit, Krankheit und Tod“ (ebd., S. 91). Als „Stimmung“ des Bettes sei laut Flusser „Leiden“ – zusammen mit „Passion“ – das zentrale Merkmal dieser Welten (vgl. ebd.) (Abb. 3).

Bettgeschichten oder (künstlerische) Obsessionen im (und am) zerwühlten Laken Immer wieder sind auch (kunst‑)historische Darstellungen vom ungemachten Bett als realitäts-, wirklichkeits‑ bzw. obsessionsnah gedeutet worden. So sind etwa in Dürers frühem Selbstbildnis von 1493 die Kissen Beweis seiner zeichnerischen Bravour – offensichtlich haben Dürer die plastischen Möglichkeiten dieses Alltagsgegenstands interessiert. Die Federzeichnung hält als Studie das Entstehen unterschiedlicher Formen des Kissens als „,Plastiken‘ des Zufalls“ fest (Rübel 2012, S. 131). Darauf bezog sich nicht zuletzt Adolph Menzels Ungemachtes Bett von 1845: Diese Zeichnung gilt in Michael Frieds Lektüre von Menzels Realismus als „unmissverständliche Suggestion einer Art lebendiger Beziehung zwischen den Kissen [...] und der nahe am Kopfende liegenden Steppdecke mit ihren Spalten und Falten“ (Fried 2008, S. 57). Kissen und Matratzen tauchen auch in verschiedenen Weiblichkeitsfantasien oder Phantasmen zum (weiblichen) Körper auf: so in Hans Bellmers inszeniertem Foto Poupée von 1934, später im surrealistischen Magazin Minotaure veröffentlicht. Noch 1992 wird in der während einer Coast-to-Coast-Reise gedrehten Videoarbeit Double Bind das Standbild vom morgens zerwühlten (Motel‑)Bett wieder und wieder gezeigt, von der Künstlerin Sophie Calle lakonisch kommentiert:

315

Ein

Bett

im

Stadtraum?

„No Sex Last Night“ bzw. „Sex Last Night“. Double Bind (1992, Video, 76 Min.) galt der Entstehung, dem Aufblühen und Scheitern der Liebesbeziehung zwischen Calle und dem Co-Autor dieser Arbeit, ihrem zeitweiligen Ehemann Gregory Shephard. Auch der Kulturwissenschaftler Walter Seitter attestiert dem Bett die Bedeutung „eines weittragenden und auch identitätsstiftenden Präsentseins“, denn: „Wo man schläft, da wohnt man“ (Seitter 2001, S. 183). Das scheint die Hauptfigur der von Lena Dunham erdachten HBO-Serie Girls (seit 2012), die auch von Dunham gespielte angehende Schriftstellerin Hannah Horvath, buchstäblich genommen zu haben: Hannahs Bett gilt als Schauplatz sowohl ungeschönter erotischer Begegnungen als auch wiederholter Hemmnisse ihres Schaffensprozesses in der denkbar prekären Arbeitswelt des sich gemächlich gentrifizierenden Brooklyn (Abb. 4). Dass das Bett und seine (fotografische) Reproduktion als Zeichen von Intimität gelesen werden, belegt auch Thomas Jungs und Stefan

316

A b b.   4  Hannah

H o r va t h

auf

Girls

ihrem

Bett,

(HBO),

(Lena 2012,

D u n h a m) Screenshot

Elena Zanichelli

Müller-Doohms 1995 veröffentlichte kultursoziologische Studie über Darstellungen der Schlafraumkultur, der zufolge Natürlichkeit und Intimität „durchweg auf Zeichen, die private Geborgenheit oder ‚natürliche Behaglichkeit‘ im privaten Schlafraum semantisieren“, bezogen werden (Jung/Müller-Doohm 1995, S. 258) (Abb. 5a, b). In González-Torres’ Nahaufnahme lassen die leicht heruntergezogenen Laken sowie die Spuren auf den Kopfkissen vermuten, dass dort noch vor kurzem zwei Personen gelegen haben (Abb. 1b, Abb. 5a). Die Präsentation der Aufnahme im öffentlichen Raum verstärkt den Effekt einer intimen Präsenz: Es wirkt, als sei das Bett gerade erst verlassen worden, die

A b b. 5 a   Fé l i x

G o n z á l e z -To r re s ,

G roß p l akatwan d ,

New

Yo r k

Un t i t l ed , 1992

Abb. 5b  Jeff Koons, Made in Heaven (Detail), Großplakatwand,

New

York

Kissen noch warm. Um Barthes’ prominente Definition in Bezug auf die Indexikalität der Fotografie verkürzend zu paraphrasieren, könnte man sagen, dass zwei gerade da gewesen sind (Barthes 1989, S. 86). Doch erst mit dem Wissen über die Entstehung der Arbeit wird die Aufnahme zum Ausdruck einer schmerzvollen Absenz: Wie man durch die Pressemitteilung erfuhr, handelt es sich um das Bett, in dem der Künstler mit seinem wenige Monate vor der MoMA-Einladung zur Einzelausstellung an AIDS verstorbenen Partner Ross Laycock seine Nächte verbracht hatte. Das

317

1990/91

Ein

Bett

im

Stadtraum?

Bett wurde so zum öffentlichen Ausdruck eines ‚authentischen‘ Schmerzes – und als solcher auch immer wieder von Rezensent/innen gedeutet. Dass der Künstler vorwiegend mit Strategien der queer culture als Bloßstellung bzw. Unterwanderung gesellschaftlich sanktionierter Definitionen von Geschlechterrollen und ‑normen arbeitete, führte jedoch ferner zur Annahme, es handele sich hier offensichtlich um ein Bett, in dem ein schwules Paar geschlafen habe. Viele Rezensent/innen hoben das Bett als Ort des Leidens hervor, so hieß es in der Kunstzeitschrift Art in America: „[O]nce a place of private pleasure, [the bed] has been transformed into a memorial, a site of public pain“ (Shottenkirk 1992, S. 132). Die Kunstkritikerin Lourdes Lee Valeriano berichtete in ihrem Verriss kurz vor der Ausstellungseröffnung im Museum of Modern Art etwa von der Frage eines Lieferanten, Carlos Pabon, als er ein Plakat in der Nähe eines fünfstöckigen Gebäudes in Manhattan sah: „It’s trying to tell you something. Is it for a furniture store?“ (Valeriano 1992, S. B1) Im Magazin The New Yorker wurden weitere Bedeutungsfelder der enigmatischen Plakatwand besprochen, die auf den ersten Blick wie eine Werbung für Bettwäsche aussehe, jedoch das Verhältnis von An- und Abwesenheit sowie Obdachlosigkeit problematisiere (Goings On About Town 1992, S. 10).

„Some private spaces are more public than others“: die ideologischen Grenzen des Bettes In der Tat war das ‚Bett‘ als Zeichen geteilter Intimität Anfang der 1990er Jahre zu einer sozial und juristisch umkämpften Zone geworden. Dieser Sachverhalt führte González-Torres anlässlich seines Vortrags am 2. Oktober 1993 am California Institute of the Arts in Valencia zur Beobachtung, die Grenzen zwischen den Bereichen öffentlich und privat seien selbst ideologisch. Er nahm darin unter anderem Bezug auf die bereits erwähnte Grundsatzentscheidung des Supreme Court im Fall Bowers v. Hardwick und erklärte prägnant: „[S]ome private spaces are more public than others“ (González-Torres 1994, S. 91). Die Installation des Schwarzweiß-Fotos Untitled (1992, Abb. 1b) auf öffentlichen Plakatwänden platzierte das Bett in einem Raum, der herkömmlicherweise vorwiegend durch andere (Bild‑)Verwendungen charakterisiert war. Anfang der 1990er Jahre etablierte sich mit Kampagnen der Firma Benetton eine vom Fotografen Oliviero Tosca-

318

Elena Zanichelli

ni zusammen mit dem Geschäftsführer Luciano Benetton konzipierte Werbestrategie. Auch dort lag der Fokus auf großformatigen, unkommentierten Bildern – in Erinnerung geblieben sind etwa die blutverschmierten Kleider eines im Jugoslawienkrieg gefallenen Soldaten aus Bosnien. Toscanis Bildauswahl löste kontroverse Diskussionen aus und führte in manchen Fällen zu juristischen Auseinandersetzungen. Im Unterschied zu herkömmlichen Werbekampagnen wurden Toscanis Bilder, etwa von dem Journalisten Furio Colombo, als ‚realitätsnah‘ gedeutet (Toscani 1997, S. 130). 1992 thematisierte Toscani AIDS. Öffentliche Empörung löste vor allem das Porträt des mit HIV infizierten sterbenden jungen Mannes David Kirby aus, der von seinen Angehörigen umgeben im Bett fotografiert wurde. Anfang der 1990er Jahre präsentierte das Whitney Museum of American Art in New York Jeff Koons’ Einzelausstellung Made in Heaven als Großplakatwand, ähnlich einer Filmankündigung. In Kombination mit dem verheißungsvollen Titel spielte hier das von Koons und seiner damaligen Ehefrau, der Pornodarstellerin Ilona Staller, auf einem Felsen improvisierte Schlafgemach offensichtlich auf den Sündenfall an (Abb. 5b). Im Unterschied zu Benettons Werbestrategie, die den AIDS-Tod in einer Pietà-ähnlichen Ikonografie mit dramatischen Tönen und Farben darstellte, und im Gegensatz zu Koons’ künstlerischer Selbstinszenierung in erotisch-kitschiger Pose zeigte González-Torres ein beinahe indifferentes und anonymes schwarzweißes Bild. Zudem blieb das Museum of Modern Art als ausstellungsorganisierende Institution leer, zumal das einzeln darin gezeigte Plakat von González-Torres ursprünglich nicht vorgesehen war. Die urbane Platzierung von González-Torres’ Plakaten ist sowohl in Bezug auf die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes als auch auf traditionelle Einzelausstellungen in Institutionen als Störelement bzw. Verweigerungsgeste zu verstehen. Es handelt sich um eine künstlerische Strategie, die eine Rhetorik des Privaten dadurch freisetzt, dass sich der persönliche Hintergrund der Arbeit weder innerhalb der Museumsräume noch im öffentlichen Raum allein erschließen lässt. Obwohl die an Plakatwänden angebrachte Arbeit formal an Werbeplakate anknüpft, weist Untitled eindeutige Botschaften gerade zurück – seien es aufklärerische oder kommerzielle. Vielmehr löst sie eine Vielzahl heterogener und zum Teil widersprüchlicher semantischer Assoziationen aus, welche die Diskussion zur Trennbarkeit der Sphären des Öffentlichen und des Privaten kunstinstitutionell einbetten.

319

Ein

Bett

im

Stadtraum?

Die vorgestellte Arbeit veranschaulicht den Schrägstrich zwischen Matratze und Matrize als wechselseitige Durchdrungenheit von Innen‑ und Außenraum, ja als Korrelation von Privatraum und öffentlichem Raum. Anders formuliert: Anstatt eine verheißungsvolle Auflösung der Grenzen zwischen den Bereichen heraufzubeschwören, werden hier die Strukturmerkmale des Begriffs ‚Privatheit‘ vorgeführt, inklusive ihrer Ambivalenzen. Solche Überschreitungsstrategien sind erfolgreich, wenn sie die Ambivalenz der Dualität öffentlich/privat im Rahmen der Funktionsmechanismen des Kunstsystems erörtern: wenn sie deutlich machen, welche Privaträume unter welchen Bedingungen öffentlicher sind als andere.

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Abb. 4: http://14bb18348568cf6c48ec-cde16cf5c35d33e882e13bbe648f334c.r8.cf2.rackcdn.com/wp-content/uploads/2013/03/ HBO-Girls-Hannah1.jpg (letzter Zugriff am 28.2.2015).

Abb. 5a: Reinhardt/Kosuth/González-Torres 1994, S. 78.

Abb. 5b: http://imgarcade.com/1/jeff-koons-madein-heaven/ (letzter Zugriff am 6.12.2014).

322

im

Stadtraum?

Tobias lander

Vom Playboy-Bett zu Tracey Emins My Bed – Die Matratze als Kommunikationsmaschine „Sie stehn früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehn früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben“, spottet Lady Narborough in Oscar Wildes 1890 erschienenem Roman Das Bildnis des Dorian Gray über die Landbevölkerung (Wilde 1972, S. 224) und spricht der Matratze dabei ganz nebenbei ab, ein Ort des Denkens oder gar des gedanklichen Austauschs zu sein. Zu Unrecht, denn gut 70 Jahre später wurde in unzähligen Wohngemeinschaften der Gegenbeweis angetreten, als die Matratze als Alternativmöbel das kommunikative Zentrum der Inneneinrichtung wurde, und nach einem weiteren halben Jahrhundert füllen riesige Wohnlandschaften die Wohnzimmer, weich gepolsterte Zwitter zwischen Bett und Sitz, deren ein- bis mehrfach abgewinkelte Form explizit zum Gespräch einlädt. Da sie die Benutzer_innen in einer eher horizontalen Position lagern, sind solche Möbel dem Matratzenlager verwandter als dem Sessel, weshalb sie hier unter den weit gefassten Begriff der Matratze subsumiert werden. Aus einer gegen gesellschaftliche Konventionen rebellierenden Alternativkultur geboren, ist die Kommunardenmatratze Teil einer Revolution des Wohnumfelds (Abb. 1). Dasselbe gilt für die durch neue technologische Entwicklungen in den 1960er Jahren möglich gewordenen Bequemmöbel, deren modulare Verwendung und zwanglose Nutzung im Widerspruch zu überkommenen bürgerlichen Repräsentationsformen und Körperpolitiken steht. Die Matratze ist einerseits ein Ort der Kommunikation, des freundschaftlichen Gesprächs in entspannter Atmosphäre, des gemeinsamen Frühstücks wie auch des Sex – schließlich lässt sich auch dieser als körperlicher Ausdruck kommunikativer Prozesse definieren –, andererseits wird das weiche Lager selbst zu einem die Art und Weise der Kommunikation bestimmenden Element.

325

Vom

Playboy-Bett

Abb.  1  R a i n e r in

der

zu

Tracey

Langhans Highfish-Kommune,

Emins

und München,

My

Bed

andere 1970/71

Jenseits der praktischen Nutzung bleibt die Matratze auch immer ein repräsentatives Objekt: Ist das Ehebett laut Jean Baudrillard neben dem Esstisch das zentrale strukturelle Element der auf „patriarchalische[r] Tradition und Autorität“ beruhenden bürgerlichen Wohnung, in der die Anordnung der Möbel den „regelmäßigen Ablauf des Tages und die symbolische Anwesenheit der Familie“ versinnbildlicht, so entbehrt die Matratze für den Soziologen als „Nullpunkt einer Schlaffläche“ jeder „moralischen Theatralik“ und ist somit ein rein funktionelles Möbel (Baudrillard 2001, S. 23, 26f.). Damit verkennt Baudrillard allerdings, dass auch die zur möglichst universellen Nutzung geeignete Matratze des linken Milieus nicht frei von ‚moralischer Theatralik‘ ist: Wenn das Ehebett für das Prinzip der bürgerlichen Familie steht – als Zentrum einer auf „Eindeutigkeit, Unverrückbarkeit, beeindruckende[n] Gegenwärtigkeit und rangachtende[n] Förmlichkeit“ basierenden Raumgestaltung (ebd., S. 23) –, so symbolisiert die auf dem Boden liegende, bloße Matratze eben dessen Negation. Wir sind es gewohnt, Objekte nicht allein nach ihrem Aussehen

326

Tobias Lander

oder Nutzen zu bewerten, sondern ihre symbolische Metaebenen mitzudenken. Das gilt für das königliche Himmelbett in Versailles ebenso wie für den asketischen Futon in einem Berliner Loft. Stets transportieren die Dinge in unserem Besitz oder Gebrauch auch Botschaften, welche unsere persona ergänzen sollen. Dieser Symbolwert der Dinge wird nicht nur von Produktdesign, Handel und Werbung berücksichtigt, sondern auch von Künstler_innen: Das Objekt – in unserem Falle die Matratze – wird „zum Köder, der die Projektionen von uns Betrachterinnen und Betrachtern auf sich zieht“ (Fischer 2002a, S. 8). Während das zum Gebrauch bestimmte Objekt stets einen gewissen Nutzwert besitzt, ist die Matratze in der Kunst – zumeist im größeren Zusammenhang des Bettes präsentiert – grosso modo Bedeutungsträger. In der Repräsentationsform der mimetischen Malerei erscheint sie als bloßes Zeichen. Da hier jedoch keine Ikonografie der Lagerstatt in der Malerei skizziert werden soll, bewahren die hier gewählten Beispiele ihre Dinghaftigkeit. Zwischen der Rolle der Matratze als Ding im kommunikativen Gebrauch und als kommunikationsauslösendes Bedeutungsvehikel offenbart sich eine dritte Funktion: Als Matrize ihrer Nutzer_innen bewahrt sie die Erinnerung an deren physische Präsenz. Es gibt nur wenige Dinge, die dem Menschen über lange Zeit so nahe sind wie die Matratze: Schließlich verbringen wir ein Drittel unseres Lebens im Bett, lassen nicht nur unseren Abdruck, sondern Nacht für Nacht Hautschuppen und Schweiß auf/in der Matratze zurück, welche im Zusammenspiel mit unzähligen Mikroorganismen den individuellen ‚Schlafzimmergeruch‘ erzeugen. Der Mensch hat sich in sein Bett eingeschrieben und für Guy de Maupassant sind Möbel und Nutzer_in gar eins: „Le lit, mon ami, c’est toute notre vie. C’est là qu’on naît, c’est là qu’on aime, c’est là qu’on meurt [...]. Le lit, c’est l’homme“ (de Maupassant 1882, S. 132, 137). Maupassant schildert das Polster als Negativform des Erlebten, das dadurch wieder und wieder reproduziert werden kann. Als materielles Überbleibsel ihrer Nutzung funktioniert die Matratze hier als eine Art Speichermedium und kommuniziert mit den Betrachter_innen über die Vergangenheit: Sie ist biografisches Objekt.

Baudrillard und die horizontale Kommunikation Seit den 1960er Jahren ist ein prinzipieller Trend zum ‚niedrigen Wohnen‘ auszumachen: „For some time furniture had been proclaiming its mo-

327

Vom

Playboy-Bett

zu

Tracey

Emins

My

Bed

dernity by being made lower“, resümiert Barry Curtis rückblickend die Entwicklung in England und führt weiter aus: „For most consumers this lowering of the centre of gravity and the free fall of the body [...] resulted in the purchase of studio cushions, bean bags and sculpted foam“ (Curtis 1997, S. 192). Für Frankreich hat Jean Baudrillard konstatiert: „Millionen Leder- und Schaumgummisitze, einer tiefer und molliger als der andere“ (Baudrillard 2001, S. 60), der italienische Architekt und Designer Ettore Sottsass entdeckte in Aktionen wie Una stanza nella stanza von 1967 den möbelbefreiten Boden als universell benutzbare Wohnfläche, und alternative Wohn- und Lebensformen von den kalifornischen Hippie-Kulturen bis zu den westdeutschen Kommunen propagierten das antihierarchische Leben auf der Gemeinschaftsmatratze. Auch wenn das konservative Bürgertum diese neuen Lebenskonzepte vor allem auf Drogen und Sex reduzierte und die Massenpresse eher an der nackten Brust von Uschi Obermaier denn am Konzept des politisch gewordenen Privaten interessiert war, gelangte die ‚horizontale‘ Kommunikation in den Mainstream. So bemerkt Thomas Hauffe, dass das in den jugendlichen, alternativen Wohnexperimenten erkundete „Zwischenreich zwischen Sitzen und Liegen [...] Anfang der siebziger Jahre auch von konventionellen Möbelherstellern entdeckt“ wurde, was „zu offenen, demokratischen Wohnlandschaften, zu Kuschelecken und Liegewiesen für ‚bodennahen‘ Zeitvertreib“ führte (Hauffe 1997, S. 163). Möbel aus geformtem Schaumstoff, riesige Kissen und Sitzsäcke bildeten höchst variable Passformen der Benutzer_innen und sollten als Bausteine eines bewusst gestalteten Environments dienen, in dem die größtmögliche Bandbreite der menschlichen Positionierung gewährleistet war. Als marktkompatible Variante der Kommunardenmatratze vermittelten niedrige Sitzangebote eine dem ursprünglich bodennahen und möbellosen Kauern oder Lagern verwandte zeitgeistige Zwanglosigkeit, die einer hierarchielosen Kommunikation Vorschub leistete. Das Sitzen als Demokratisierungsprozess erhielt hier in der Nachfolge des nach der Abschaffung des Sitzprivilegs in der Französischen Revolution reüssierenden Bürgerstuhls seine zeitgemäße Fortführung (Eickhoff 2011, S. 41). Als Inkunabel eines solchen Möbels kann der von Piero Gatti, Cesare Paolini und Franco Teodoro 1968 designte Sacco gelten, der sich zumindest als preiswerter Nachbau in beinahe jeder Wohngemeinschaft der 1960er und 70er Jahre fand. Dieser ausdrücklich als non-poltrona, also ‚Nicht-Sessel‘ bezeichnete Entwurf passt sich durch die bewegliche Füllung aus Polystyrolkugeln der Körperform an, kann Sessel, Hocker oder Liege

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Tobias Lander

sein (Dunas 1996, S. 126). Neben den – durchaus hochpreisigen – Entwürfen für den Design-Aficionado hat sich auch die bezogene und mit Kissen versehene Matratze in alternativen, urban-nomadischen Wohnsituationen erhalten; einen Widerhall dieses „Zwischenreich[s] zwischen Sitzen und Liegen“ kann man zudem in den heute so populären Wohnlandschaften mit ihren großen Sitz- und Liegemodulen ausmachen. In seiner ersten großen Publikation, Le système des objets von 1968, erkundet Jean Baudrillard unter anderem das moderne Wohnmilieu. Doch wenngleich gerade der Sitzsack wie kaum ein anderes Möbelstück für den Wandel der Möblierung steht, ist es unwahrscheinlich, dass sich der Soziologe in seinen aufs Prinzipielle gerichteten Ausführungen explizit auf solche avantgardistischen Entwürfe bezieht, und obwohl sein Werk in einer Zeit des unmittelbaren politischen und gesellschaftlichen Umbruchs entstand, hat er auch nicht die Kommunardenmatratze im Blick. Vielmehr kommentiert er den allgemeinen Drang zum ‚tiefergelegten‘ Sitzen, wobei er die Förderung der Kommunikation für eine grundsätzliche Eigenschaft zeitgenössischen Möbeldesigns hält: „Die modernen Sitze [...] legen Gewicht auf die Geselligkeit und den Gedankenaustausch“, beschreibt Baudrillard die Veränderung des Nutzer_innenverhaltens, wobei ihm insbesondere der nonverbale Aspekt der Kommunikation in den modernen Bequemmöbeln auffällt: „Der Sinn dieser Verwandlung liegt [...] in der aufeinander ausgerichteten Position der Gesprächspartner. Die generelle Anordnung der Sitzplätze und die feine Auswahl des Gegenübers im Verlaufe eines Abends ist allein schon unterhaltend“ (Baudrillard 2001, S. 59). Im Gegensatz zur auf das Gegenüber oder das nähere Umfeld beschränkten Unterhaltung im traditionellen Rahmen – etwa an einem Esstisch mit festen Sitzplätzen – förderte die neue Variabilität des Mobiliars, welches sich wie Sitzkissen oder Polstermodule einfach umstellen ließ, den Ortswechsel, der mit einem Beziehungswechsel zwischen den Anwesenden einherging. Und auch auf den ‚ortstreuen‘ matratzenartigen Liegeflächen ermöglichte die tolerierte Lässigkeit der Benutzung den Platz- und Positionswechsel: Auf dem gepolsterten Lager bedeutete Kommunikation auch eine Kommunikation des sich frei positionierenden Körpers, wodurch der Mensch nun selber zum Baustein eines sich ständig wandelnden Bedeutungsgefüges wurde. In gewisser Weise bildet die Matratze als jugendliches, antibürgerliches Ersatzmöbel oder die moderne Wohnlandschaft die strukturelle Basis für Baudrillards Beobachtungen zu den Möglichkeiten

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Vom

Playboy-Bett

zu

Tracey

Emins

My

Bed

und Schwierigkeiten der Kommunikation im modernen Wohnumfeld, da die Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten durch die freie Positionierung der Nutzer_innen dort von vornherein intendiert ist. Baudrillard erkennt, dass diese Erweiterung jedoch gleichzeitig eine kommunikative Einschränkung auf Signale der Entspanntheit ist: Selbst wenn die matratzenartigen Niedrigmöbel „Gewicht auf die Geselligkeit und den Gedankenaustausch“ legten, böten sie kein Gegenüber: „Unmöglich, sich in Zorn zu reden, recht haben zu wollen und aufdringlich zu überzeugen. Denn diese Sitze begünstigen den reibungslosen Ablauf des Zusammentreffens, sind Prätentionen gegenüber taub, stehen aber für das Spiel zur Verfügung. Vom Grunde dieser Sitze aus brauchen Sie weder eines fremden Blickes gewärtig sein noch den eigenen auf anderen haften lassen: Die Sitze sind nämlich so gebaut, dass alle Blicke nur aneinander vorbeiwandeln“ (ebd., S. 59f.). Zusammengefasst besagt Baudrillards These also, dass die niedrige Sitzposition jeden Widerspruch verhindere und dadurch eine emotionale Selbstbeschränkung bewirke, welche eine ernsthafte Diskussion oder gar einen Disput verunmöglichten. Die bloße Absenkung der Sitzposition zeitigt laut Baudrillard dramatische Auswirkungen, geht er doch davon aus, dass – plakativ formuliert – das Gespräch umso flacher verlaufe, je tiefer die Sitze seien. Angesichts der ausgeprägten antiken Liegekultur, aus der ja durchaus scharfsinnige Denker erwachsen sind und die Baudrillard selbstverständlich bekannt ist, scheint seine These einigermaßen gewagt. Und wie steht es um die Wohnkollektive der ausgehenden 1960er Jahre, in denen schlechterdings „alles [...] diskutiert und auf Kommunenorm gebracht“ wurde (Hüetlin 1997)? Trotz dieser linken Diskussionskultur scheint ein aus gepolsterten Tiefen geführtes Streitgespräch tatsächlich unangemessen, da die entwaffnende Tendenz zur Liegeposition einer forcierten Debatte im Wege steht: Durch die jedweder konzentrierten Handlung abträgliche Horizontalität generieren die Matratzenmöbel eine emotionale Nulllinie, in der ein Gespräch nie zum Disput erwachsen kann und soll. Positionierung und Positur werden zu entscheidenden Elementen der veränderten Kommunikation und vermitteln sowohl eine zum Austausch einladende Grundstimmung als auch die gezielt an das Gegenüber gerichteten Signale. Die körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten werden in beiderlei Hinsicht durch die Grundgestaltung der Sitzbzw. Liegemöglichkeiten verstärkt oder gar erst geschaffen. Die „Selbst-

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Tobias Lander

modellierung am Gegenstand“, wie Gert Selle dies nennt, bewirkt, dass auf den matratzenartigen Spielflächen der Selbstinszenierung Posituren der Lässigkeit präferiert werden (Selle 2004, S. 30). Vielleicht gründet auch hierin Baudrillards Unbehagen gegenüber der Veränderung des Interieurs: Die Matratze unterbindet qua Gestaltung das Kontroverse und animiert das lockere Gespräch und die fließende, weiche Gebärde; sie schafft so eine Aura der ungefährdeten, gleichberechtigten Begegnung. Als auf den Disput setzender homme de lettres hadert Baudrillard offensichtlich mit dieser durch die Gestaltung des Wohnmilieus veränderten Form der Kommunikation. Vielleicht gründet seine Kritik aber auch in einer etwas einseitigen Vorstellung vom sinnvollen Gebrauch der Liegemöbel: Dieter Kunzelmann, selbsternannter Chefprovokateur der Kommune 1, erinnert sich an das Zusammenleben mit Baudrillard Ende der 1950er Jahre in Paris: „Wir haben ihm immer Geld vom Pflastermalen gegeben, damit er [...] Baguette holen soll, und er ist in die Rue St. Denis gegangen und für dieses Geld in den Puff“ (Hüetlin 1997). Anscheinend blieb die Matratze für Baudrillard in erster Linie ein Ort der nonverbalen Kommunikation. Zudem ist die Lässigkeit und Unverbindlichkeit der ‚tiefergelegten‘ Kommunikation für Baudrillard nur ein Aspekt des veränderten Wohnumfelds: „Wir sind im modernen Interieur viel ungebundener. Ein subtilerer Formalismus und eine neuartige Moral bestimmen das Verhalten: Alles deutet auf einen obligatorischen Übergang beim Essen, Schlafen, Zeugen, Rauchen, Trinken, Empfangen, Unterhalten, Meditieren und Lesen“ (Baudrillard 2001, S. 61). Als Inbegriff dieser neuartigen Moral kann der Playboy-Gründer Hugh Hefner gelten: Von ihm ist überliefert, dass alle seine Aktivitäten von geschäftlichen Besprechungen und Telefonaten über das Essen bis zum Sex in seinem selbstentworfenen drehbaren Bett stattfanden, von dem er sich nur selten erhob (Abb. 2). Im Gegensatz zu Baudrillard begriff Hefner die Horizontalität nicht als kommunikative Einschränkung; stattdessen erweiterte er den „obligatorischen Übergang“ zu einer Hybridisierung von Privatem und Beruflichem: Ausgestattet mit allerlei technischem Gerät war das Playboy-Bett eine Maschine, welche laut Beatriz Preciado „die fordistische Hierarchie, in der die horizontale Position der Muße und Erholung zugeordnet, die vertikale hingegen als Bedingung der Kapitalproduktion begriffen wird“, ins Gegenteil verkehrte. Hefner selbst sei zu einem „horizontalen Arbeiter“ geworden (Preciado 2012, S. 103–106).

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Vom

Playboy-Bett

Abb.  2 Rundes,

rotierendes

Ko m m a n d o c e n te r, das

P l ayb oy

zu

Tracey

Bett

mit

Emins

P l ayb oy,

Bed

elektronischem

Entwurfszeichnung

Tow n h o u s e ,

My

Mai

für 1 9 62

Auch die heute inflationär verbreiteten multifunktionalen Wohnlandschaften bestätigen die Prognose Baudrillards: Niedrige Sitz- und Liegemodule bilden einen Rückzugsort, an dem man Ruhe finden und in Ruhe gelassen werden soll, gleichzeitig impliziert ihr – je nach Zeitgeschmack – halbrunder oder ein- oder mehrfach rechtwinklig abknickender Aufbau ein kommunikatives Miteinander. Es ist offensichtlich, dass den Möbeln etwas Zwitterhaftes innewohnt, da sie einerseits den unter dem Stichwort des cocooning bekannt gewordenen Eskapismus in eine private Wohlfühlwelt fördern, sich andererseits aber auch zum geselligen Gespräch eignen sollen. Doch anders als bei der Kommunardenmatratze

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Tobias Lander

nährt sich der Impetus eines egalitären, zwanglosen Miteinanders heute nicht mehr aus einem im weitesten Sinne ‚links‘ zu nennenden politischen Umfeld. Das Environment als Aushängeschild einer libertinären Grundhaltung und als unverzichtbare Diskussionsmaschine scheint in der Privatheit heutiger Wohnzimmer völlig überflüssig geworden zu sein: Die – nicht nur gestalterische, sondern auch gesellschaftspolitische – Radikalität der vorbildhaften Möbelentwürfe endet in der modernen Wohnlandschaft als Manifest eines politisch desinteressierten bürgerlichen Mainstreams, welchem der private Rückzugsort wichtiger scheint als die Bühne des Gesprächs. Die weich gepolsterten Matratzen der Wohnlandschaften bieten sich als Bett mit all seinen privatesten Nutzungsmöglichkeiten an, gleichzeitig präsentieren die Prospekte der Möbelhäuser die Wohnlandschaft als Kommunikations- und Arbeitsstätte des modernen vernetzten Menschen. So manifestiert sich ausgerechnet in diesen Möbelungetümen die Idee des flexiblen, ortsungebundenen Arbeitsplatzes, in denen Projekte auch von der Matratze aus entwickelt werden können: Der „Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte“, um eine Formulierung Walter Benjamins zu gebrauchen, hat aufgehört zu existieren (Benjamin 1991, S. 52). Zwar postuliert Anthony Burgess mit Hinweis auf den von einem tiefen Bett aus regierenden Winston Churchill, man könne „manche wichtige Arbeit wohl zugedeckt im warmen Bett verrichten“ (Burgess 1985, S. 57), dennoch scheint es zweifelhaft, ob solche Bequemmöbel den Ansprüchen des modernen Arbeitslebens entsprechen können: Wie unpraktisch das Playboy-Bett allein in arbeitsergonomischer Hinsicht war, erkannte selbst der „horizontale Arbeiter“ Hugh Hefner, als er schwerwiegende Rückenprobleme bekam. So erscheinen die multifunktionalen Niedrigmöbel als designhistorisches Missverständnis, denn offensichtlich entspringt der Erfolg des Arbeitsbereichs Matratze (jenseits der Sexarbeit) nicht dem nutzerfreundlichen Designs des Möbels, sondern seinem Symbolwert. Wie die Luxusvarianten der Schweizer Taschenmesser, die möglichst viele Funktionen in sich vereinen und dadurch beinahe unbenutzbar werden, erscheint auch Hefners horizontales Multitool eher unpraktisch. Phillippe Starck, der 1998 ein mit diversen Beleuchtungskörpern und Tischen versehenes Sitzmöbel entwarf, nannte es konsequenterweise Lazy Working Sofa: Allein die paradoxe Namensgebung entlarvt hier die Diskrepanz der avisierten Nutzung.

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Vom

Die

Playboy-Bett

Matratze

zu

Tracey

als

Emins

My

Bed

Bedeutungsträger

Der Architekturkritiker Reyner Banham hebt 1960 hervor, dass der erst sieben Jahre zuvor von Hefner gegründete Playboy für Architektur und Design in den USA mehr getan habe als einschlägige Wohn- und Einrichtungsmagazine (Preciado 2012, S. 12). Da das Magazin auch populäre Entwicklungen des Möbeldesigns aufgreift, kann man sich fragen, ob es äquivalent zur Popularisierung moderner Architektur auch dem Trend zum niedrigen Schaumstoffmöbel Vorschub leistete. Schließlich propagiert der Playboy als Zentralorgan eines libertinären männlichen Lebensstils in regelmäßigen Abständen weitestgehend mit Polstern und Liegeflächen ausgestattete Räume als Inbegriff freiheitlich-erotischer Innenarchitektur, angefangen bei der 1956 entworfenen Junggesellenwohnung, in der das Bett als „luxuriöse Spielwiese für alle erdenklichen Verwendungszwecke“ konzipiert wurde, bis zum sogenannten Orgy Room in der Playboy Mansion (Edgren 1998, S. 70). Auch werden Möbelentwürfe vorgestellt, die dem Credo einer sexualisierten Raumgestaltung entgegenkommen (vgl. Playboy 1978, S. 256). Problemlos ist es möglich, jedwede Variante der durch die Größe des Matratzenfeldes suggerierten kollektiven Nutzung gedanklich durchzuspielen. Die Matratze wird zu einem Objekt der Repräsentation, ein Zeichen für die auf ihr vollzogenen Handlungen oder für deren bloße Möglichkeit. Diese Konnotation ist keinesfalls modern, wie der Bericht Albrecht Dürers von der bemerkenswerten Ausstattung des Palasts Heinrichs III. von Nassau in Brüssel von 1520 zeigt: „Item als ich gewest in des von Nassau Hauß, do hab ich gesehen das gut Gemähl in der Capellen, das Meister Hugo gemacht hat, und hab die zween hübschen großen Sall und alle Köstlichkeit in dem Hauß allenthalben, auch das groß Bett, do 50 Menschen mügen innen liegen“ (Dürer 1797, S. 71). Hieronymus Boschs Garten der Lüste oder Jan Gossaerts Herkules und Daiarina, welche es im Palast ebenfalls zu bewundern gab, sind Dürer keinen Kommentar wert, stattdessen begeistert er sich an dem riesigen Bett. Von diesem berichtet drei Jahre zuvor auch Antonio de Beatis: Der Graf von Nassau lade oft zu Banketten und habe „daran Lust, die Eingeladenen trunken zu sehen. Waren sie dann so voll des Weines, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten, so ließ er sie auf besagtes Bett werfen“ (Unverfehrt 2007, S. 71; vgl. de Beatis 1905, S. 117). Unter dem gräflichen Zeremonienmeister bildet die spätmittelalterliche Tradition des Gemein-

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schaftsbettes und jene der höfischen Trinkspäße eine extreme Melange, und man kann sich ausmalen, wie sich Heinrich III. ob des Gerangels der Betrunkenen und Enthemmten amüsierte (Dibie 1989, S. 98). Bemerkenswert ist aber, dass auch das leere Bett noch so faszinierend war, dass Dürer es in seinem Reisebericht erwähnte. Den Künstler erstaunte wohl nicht allein die Größe des Lagers – auch das ob seiner Ausmaße sprichwörtlich gewordene Great Bed of Ware fand Eingang in die englische Literatur und bis heute wird der Bau des größten Bettes der Welt regelmäßig mit einem Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde honoriert –, vielmehr dürfte dieses gargantueske Liegemöbel seine Fantasie entzündet und Bilder orgiastischer Ausschweifungen evoziert haben. Was die unberührte Matratze des Brüsseler Bettes wie jene im Orgy Room des Playboy allein durch ihre schiere Größe vermittelt, sind die gesteigerten Möglichkeiten ihrer Benutzung als Spielwiese des Sexuellen; sie wird zum erwähnten Köder für die Projektionen der Betrachter_innen. In der Betrachtung wird die Matratze zu einem von allen Körperfunktionen separierten Objekt. Die Polsterlandschaften der Pop-Ära erscheinen in den Einrichtungsempfehlungen des Playboy als Äquivalent zu den Great American Nudes von Tom Wesselmann, von denen Eva Gesine Baur gesagt hat, „der sich schamlos gebende Akt [sei] eigentlich steril, das sexuell Tabulose [sei] nicht mehr als ein Werbegag“ (Baur 1995, S. 33). Im Desinfektionsbad der bloßen Repräsentation wird der Sex zu einer klinisch reinen Angelegenheit, und man muss vermuten, dass selbst die angesichts der orgienkompatiblen Schaumstoffflächen evozierten Fantasien auf dem Niveau der keimfreien Playboy-Hochglanzerotik verbleiben: Der Mensch ist in dieser Welt der Oberfläche ein Fremdkörper. Als ähnlich eingeschränkt entpuppt sich der Anspruch des Playboy-Betts von Hefner als erotische Spielwiese: In seiner Bezogenheit auf den Nutzer, der von seinem Bett aus bzw. in demselbigen kommunizieren kann – sei es mittels der technischen Ausstattung vom Telefon bis zum Faxgerät oder durch die Einladung von Gespielinnen –, wirkt es wie die Prothese eines exzentrischen Hedonisten. Obwohl der Hedonismus auch in den Kommunen blühte, wirkt das berühmte Playboy-Bett als das genaue Gegenteil der libertinären Matratzenlager: Wo diese den Nutzer_innen die einfachste und gleichzeitig variabelste Form einer horizontalen Entfaltung boten, erscheint Hefners Bett eher dem Krankenbett mit seiner unterstützenden Mechanik verwandt (Preciado 2012, S. 117).

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Vom

Playboy-Bett

Abb. 3 Robert Emailfarbe,

Gober:

zu

Bed,

1 1 2   ×  1 8 0 , 3   ×  9 9  c m ,

Tracey

1988,

Holz,

D a ro s

Emins

My

Baumwolle, Collection,

Bed

Wolle, S c hwe i z

Zudem sind die vielfältigen kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten vom Bürogespräch bis zum Sex in praxi kaum einlösbar, da sie in der Regel nicht gleichzeitig stattfinden. Ohne ein gleichzeitiges Abrufen der Funktionen wird aber auch der Sinn eines einzigen multifunktionalen Möbels obsolet. Manche Funktionen scheinen per se fragwürdig, z.  B. die Drehbarkeit des Bettes: „Trotz aller [...] Versuche hat Mr. Hefner nie zufriedenstellend erklären können, wofür man ein rotierendes Bett braucht“, erinnert sich ein Gesprächspartner Hefners: „Normalerweise verlor er sich in Monologen darüber, dass man per Knopfdruck ‚unterschiedliche Ambientes kreieren‘ [...] könne, doch es war nicht leicht zu verstehen, warum eine simple Drehung des Kopfes nicht im Grunde denselben Effekt haben könnte“ (Preciado 2012, S. 111). Da es bei Hefner keine Trennung zwischen Arbeits- und Ruhebereich gab – bereits vor der Einrichtung des Playboy-Bettes war ein stetes Kommen und Gehen

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Tobias Lander

zwischen Hefners Schlafzimmer und den Büroräumen die Regel –, erscheint Hefners Matratze als Mittelpunkt seines Playboy-Pornotopias. In dieser Hinsicht erinnert Hefners runde Matratze eher an das Bett des absolutistischen Herrschers, der mittels der Rituale des lever und des coucher ein fein gesponnenes Netz der Abhängigkeiten knüpft, Aktionen auslöst, Hierarchien festigt und wieder zerschlägt: Das Playboy-Bett ist nicht nur die vernetzte Befehlszentrale des Erotikimperiums, sondern Machtinstrument, die Repräsentation des stets im Pyjama erscheinenden Playboy-Fürsten. Beim Playboy-Bett übersteigt der Symbolwert den Nutzwert: Es ist weniger Möbel als Idee und scheint eher in die Sphäre der Kunst zu gehören. Genau dort erwarten wir Objekte, deren eigentliche, ursprüngliche Benutzung nicht mehr möglich ist: Mit dem Wechsel in die Museen und Galerien hat das Ding – falls nicht eine körperliche Interaktion mit den Besucher_innen explizit gewünscht ist – seinen Gebrauchswert in der Regel aufgegeben. Dies gilt beispielsweise für Sarah Lucas’ Au Naturel (1994), eine mittels Gemüse und einem Blecheimer sexualisierte Matratze, welche die Fantasie eines pastoralen Tête-à-tête ironisch bricht. Ganz anders wirkt Robert Gobers Bed von 1988 (Abb. 3), das uns die Matratze sauber bezogen auf einem weißen Bettgestell präsentiert. Nun erstaunt es uns, spätestens seit Marcel Duchamp ein Urinal in die heiligen Hallen der Kunst importierte, kaum mehr, dort mit Alltagsgegenständen konfrontiert zu werden. Doch ist die Verwandtschaft zum Ready-made Duchamps nur scheinbar, hat Gober das Bett doch eigenhändig gebaut. Das Bett stamme aus „der erinnerten häuslichen Umgebung seiner Kindheit“, erklärt Peter Fischer, „und doch ist weit und breit kein Zeichen eines Gebrauchs auszumachen, die Abwesenheit des Benutzers, des Menschen ist geradezu spürbar. Sie konstruiert eine Leerstelle, ein Angebot an uns Betrachter, sie zu füllen, ein Feld für unsere eigenen Projektionen. Gober selber nennt seine Arbeiten [...] Objekte, die man mit seinem eigenen Körper komplettiert‘“ (Fischer 2002b, S. 126). Laut Gober soll man seinen Körper gedanklich auf der Matratze platzieren. Genauso soll der Betrachter der Playboy-Interieurs oder der Möbelprospekte verfahren, wenn er sich an die Seite der attraktiven Personen auf den Fotos denkt: Der häufig aus dem Bild gehende Blick dieser eye catcher verstärkt das Einladende der Situation. Doch ist Gobers Werk weit entfernt von den Wunschwelten der Hochglanzfotos: Sein Bett hat nichts Einladendes. In seiner blütenweißen Strenge und

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Vom

Playboy-Bett

zu

Tracey

Emins

My

Bed

mit dem vergitterten Kopf- und Fußteil erinnert es an Internats- oder Krankenhausbetten, wo laut Anthony Burgess „Laken und Decken [...] schlicht und so straff eingeschlagen [sind], daß sie alte Erinnerungen an Ketten und Riemen und andere Folterwerkzeuge wachrufen“ (Burgess 1985, S. 70). Es entsteht ein diffuses Gefühl der Beklemmung, das sich aber auf jede Betrachterin und jeden Betrachter überträgt. Dies ist kein Bett zum erholsamen Schlummern, kein Objekt zum Gebrauch, nicht einmal in Gedanken: Losgelöst vom Wohnumfeld tritt es mit der Autorität eines Gegenübers auf und schafft eine surrealistische Dimension der Bedrohung und der Repression. Dass die Matratze im Kunstkontext zum kommunikationsauslösenden Faktor wird, ist die Regel, und es geht hier bei Weitem nicht nur um Naheliegendes wie Schlaf, Sex, Krankheit oder Tod – oder im Falle Gobers um das Alptraumhafte seiner erinnerten Kindheit: Das Objekt wird bei Gober zum Katalysator einer über das Phänomen ‚Bett‘ hinausgehenden Betrachtung, in der kunstimmanente Fragen nach dem Verhältnis von Original und Nachahmung, nach dem Konzept des Simulakrums und nach dem Wahrheitsgehalt der Erinnerung aufgeworfen werden. Dadurch rückt das Biografische ein Stück weit in den Hintergrund. Für Louise Bourgeois’ Red Room (Parents) (1994) gilt dies kaum, bildet ihre Biografie doch den Nukleus ihres gesamten Werkes. In Red Room wird die Matratze zu einem Ort der Beziehungskonflikte: Eine rot lackierte Holzplatte versiegelt das Lager und verunmöglicht die Vorstellung des Ehebettes als Ort der Leidenschaft und Liebe. Auch das kleine Kissen mit der gestickten Aufschrift „Je t’aime“ ist nur bedingt Liebesbeweis, liegt es doch wie eine Barriere zwischen den beiden roten Kopfkissen. Bereits das tiefe Rot als Farbe der Erotik und der leidenschaftlichen Liebe zeigt die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlich sanktionierten romantischen Wunschbild und der Realität auf: „Rot ist Selbstbehauptung um jeden Preis [...], voller Widerspruch und Aggression. Es symbolisiert die Intensität der Emotionen“, erklärt die Künstlerin und verweist auf einen durch den schwachen, promiskuitiven Vater ausgelösten innerfamiliären Konflikt (zit.  n. Fischer 2002c, S. 85f.). Dass dieser nicht nur auf die Ehepartner_innen beschränkt ist, bezeugt Bourgeois durch das auf der roten Platte liegende Kinderspielzeug. Während das elterliche Ehebett bei Bourgeois Träger persönlicher Erfahrungen ist und die Allgemeingültigkeit ihrer Aussage auf der relativen Häufigkeit des geschilderten Konflikts beruht, kann die Matratze

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Abb. 4  Ilona Németh: Polyfunctional Woman (Lay Down!), 1996, Bett, Samtpolster, Audio-Installation, 200 × 260 × 45 cm, Ludwig Múzeum – Kortárs Művészeti Múzeum/Museum of Contemporary Art, Budapest

aber auch zum universellen Symbol werden: Polyfunctional Women (Lay Down!) (Abb. 4) hat Ilona Németh ihre mit rotem Samt bezogene Matratze genannt, und allein der Titel der 1996 entstandenen Arbeit evoziert ein Erotikverständnis, das an Hugh Hefner und sein multifunktionales Playboy-Bett erinnert. Gleichzeitig macht der Titel die Matratze zu einem Bild der Frau selbst. Diese im Werktitel vollzogene Gleichsetzung von Frau und Matratze scheint einigermaßen befremdlich, ist sie doch visuell wie umgangssprachlich eine extreme Herabwürdigung: Jene von Männern aufgezwungene Passivität, welche die Frau auf die Bettgespielin reduziert, manifestiert sich in der Kunst beispielsweise in James Rosenquists Werk Bedspring (1962), in der das Bild der Frau wie eine Tierhaut, eine Trophäe in den metallenen Bettrahmen gespannt ist. Bei Cesare Tacchi ist der Frauenkörper schließlich selbst zur ‚Matratze‘ geworden (Gold Woman, 1965). Wo nun auf Tacchis ‚Matratzenhaut‘ die typischen Knöpfe sind, befinden sich bei Németh 26 Löcher, die in samtene Stofffalten gefasst an Körperöffnungen erinnern: „Als ‚erotische Maschine‘ ist dieses

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Vom

Playboy-Bett

zu

Tracey

Emins

My

Bed

Bett bezeichnet worden“, schreibt Susanne Neubauer: „Die Oberfläche des Bettes lässt eine Interpretationsmöglichkeit zu, die sie als ein Feld bereitliegender weiblicher Öffnungen verstehen mag, die der Durchdringung des männlichen Geschlechts harren oder zu ihr verurteilt sind. In diesem Sinne wird es als Metapher des weiblichen Körpers verstanden, welche die Horizontalität des Bettes und die liegende Frau als passiven Part des Geschlechtsakts in eins setzt“ (Neubauer 2002, S. 58). Bei aller irritierenden Überlagerung von Frau und Objekt und der Bordellästhetik der rotsamtenen Oberfläche ist Némeths Matratze trotz der Aufforderung „Lay Down!“ – 2002 wurde diese Anweisung im Kunstmuseum Luzern gar zum eindeutigen „Get Laid!“ – aber keine ‚erotische Maschine‘: Aus den Öffnungen dringen 13 verschiedene weibliche Stimmen, die nur aus nächster Nähe wahrgenommen werden können, und nicht alle sind lustfördernd: Man hört Gähnen, Weinen, schmerzerfülltes Schreien und Atemgeräusche. Dieser akustische Aspekt macht die Matratze zur Repräsentation der Frau als emotionales Wesen, was in gewissem Widerspruch zur Repräsentation der Frau als penetrierbarer Körper steht. Hier werden explizit Fragen nach dem Frauenbild in der Gesellschaft und der Rolle der Frau im Geschlechterdiskurs gestellt, doch scheint die subtile Betonung der emotionalen Komponente etwas eindimensional. In gewisser Weise erinnert Némeths Katalog emotionaler Zustände an die Versuche der frühen Neurowissenschaft, unter dem Schlagwort der Hysterie das Klischee der emotional-animalischen Frau im Gegensatz zum Mann als Verstandeswesen zu zementieren.

Die

Spur

des

Menschen

Dass individuelle Erfahrungen über die Matratze kommuniziert werden, erscheint wegen des Symbolgehalts des Objekts naheliegend. Erst recht gilt dies, wenn die Matratze benutzt wurde: Wie viel authentischer als die mit bestickten Paradekissen und Prunkdecken verschlossenen Fürstenmatratzen in unzähligen Palästen erscheint das im Pariser Musée de l’Armée ausgestellte schlichte Feldbett Napoleons, da seine Bettwäsche noch Falten schlägt und ein Nachthemd darauf wie gerade abgelegt erscheint. Obwohl es genauso repräsentativ ist wie die Fürstenbetten und lediglich eine andere Aussage über seinen Besitzer vermittelt, vermuten wir eine größere Nähe zwischen Objekt und Nutzer.

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Abb. 5 Tracey

Emin:

7 9   ×   2 1 1   ×   234  c m ,

My

Bed,

Duerckheim

1998,

Matratze,

Collection/Tate

Laken,

Kissen,

G a l l e r y,

„I always use secondhand things, because there’s a history to them. The mattresses are always stained“, erläutert die Künstlerin Rachel Whiteread: „The smell of people, just everyday living“ (zit.  n. Manchester 2000). Umso erstaunter ist man, wenn man ihren sauberen Kunststoffabguss der Matratze sieht, der zum Darauf-Liegen ungeeignet an der Wand steht: Lediglich die Fleischfarbe des Materials erinnert an den menschlichen Körper, doch die eigentlichen Spuren der Benutzung sind getilgt. Im Gegensatz zu Whiteread hat Tracey Emin das anfangs erwähnte Diktum Guy de Maupassants – „Le lit, c’est l’homme“ – mit aller Konsequenz verinnerlicht. Emin schafft Werke aus biografischen Notizen und Zeichnungen, Performances oder Installationen: Zusammen bilden sie die Autobiografie der Künstlerin und My Bed (1998) (Abb. 5) ist ein Teil davon, hat sie doch ihr eigenes Bett vom Schlafzimmer in die Galerie verfrachtet. Der Gegensatz zum sterilen, eigentlich nur gedank-

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Objekte, London

Vom

Playboy-Bett

zu

Tracey

Emins

My

Bed

lich sinnvoll nutzbaren Playboy-Bett erschließt sich auf den ersten Blick: Die zerwühlten Laken zeugen wie Zigarettenkippen, Wodka-Flaschen, blutige Tampons und Kondome nicht nur von einem nur schwach ausgeprägten Ordnungssinn der Künstlerin – „erst dann, wenn es wirklich nötig wäre zu putzen, nenne ich es mein Zuhause“ –, sondern auch von ihrem zwischen Genusserfüllung und Verzweiflung schwankenden, selbstzerstörerischen Lebensstil, in dem Alkohol und Nurofen-Tabletten omnipräsent sind, der Sex grundsätzlich hart ist und eine Orangina-Flasche vor allem zur gynäkologischen Selbstuntersuchung taugt (Emin 2009, S. 152, 190ff.). Auf drastische Weise hat die Künstlerin den vielzitierten gap between art and life geschlossen. Emins biografische Kunst wirkt ebenso wie jene von Gober und Bourgeois oft schmerzvoll, und wie Bourgeois bespiegelt sie durchgehend ihre Existenz als Frau, sei es durch die weiblich konnotierte Technik des Quilting von Decken mit Titeln wie Garden of Horror (1998) oder Pysco Slut (1999), auf denen sie sich mit ihrer psychischen Verfassung auseinandersetzt, durch Stickbilder wie Pure Evil (2002), mit denen sie ihre Vergewaltigung mit 13 Jahren verarbeitet, oder eben durch die Präsentation von mit Menstruationsblut verschmutzten Kleidungsstücken und Hygieneartikeln. Wie bei diesen Objekten von Emin wird auch die Matratze als Speichermedium der Erinnerung oft mit Körperflüssigkeiten in Verbindung gebracht, was an der unmittelbaren Nähe zum nackten menschlichen Körper liegt. Anthony Burgess erinnert sich an seine Militärzeit, als er in der unteren Etage eines Stockbettes nächtigen musste, über ihm ein trunksüchtiger, inkontinenter schottischer Sergeant. Dabei war die Nacht für Nacht durchnässte Matratze dem Unteroffizier keinesfalls unangenehm, sondern als „eine Art Tage- oder Nachtbuch einer vergnüglichen Sauferei“ Ausdruck einer etwas abseitigen individuellen Erinnerungskultur (Burgess 1985, S. 43). Auch Tracey Emins biografische Notizen strotzen von Verweisen auf Urin und Fäkalien, auf Erbrochenes und vor allem Sperma, was dem ungemachten und mit Spuren des vielfältigen Gebrauchs versehenen Bett entspricht. Emins Kunst bedient eine auf oberflächlichen Sex, Drogen und Selbstmordfantasien aufgebaute Rock’n’Roll-Attitüde, und ihr ständiges Schwanken zwischen hartem Egoismus und kleinmädchenhafter Verletzlichkeit kann auf Dauer durchaus ermüdend wirken. Die stets um dieselben Themen kreisende Selbstbespiegelung droht zur Plattitüde zu werden, und es stellt sich die Frage, inwiefern die kunstgewordene Biografie bloßes Konstrukt ist, ein marktkompatibles

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Tobias Lander

Beharren auf einer individuellen Künstlerikonografie. Fast wünscht man Emin jenen letalen Ritterschlag der Authentizität, welcher vergleichbare Lebensentwürfe von Janis Joplin bis Amy Winehouse, von Sid Vicious bis Kurt Cobain beschloss, wären da nicht die rührenden Zeichen einer Liebe zum Leben, die zwischen den tragischen Versuchen der Selbstvergewisserung und den deprimierenden Vergangenheitsbewältigungen aufblitzen: ein Vogel auf einem Ast (oder auch auf einem Penis), ein Liebesgedicht auf einer Bettdecke. In Tracey Emins Garden of Horror wachsen noch Blumen und ihre Matratze ist kein Sterbelager, sie ist Here to Stay (1995). In der Rückschau erscheint Emins Bett als Zeitkapsel: „I picked up the bloody condoms [...]. I haven’t seen a condom for years, haven’t had a period for years. There is contraceptive pills there, vodka, cigarettes, I haven’t smoked for 10 years“, offenbart die Britin 2012: „So all these things I’m looking at are all my past“. Obwohl sie dem Kunstwerk eine eigene Geschichte zugesteht, indem sie das 1999 bei einer unautorisierten Kissenschlacht zweier chinesischer Künstler aufgeplatzte Kissen unverändert auf ihrem Bett belässt, glaubt sie an eine atavistische Kraft des persönlichen Kontakts: „This is real“, verweist Emin im Interview auf das am Tag zuvor für eine Ausstellung neuinstallierte Bett, „my body was in this bed yesterday“ (Emin 2012). Anscheinend bedarf die Berührungsreliquie im Tempel der Kunst der ständigen ‚Aufladung‘ mit dem Körper der Bezugsperson, um die Authentizität und Bedeutung des Bettes zu bewahren. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Matratze ihre Funktion als Kommunikationsmaschine in vielfältiger Art und Weise erfüllt. Wir kommunizieren auf der Matratze, wobei die Form des Objektes die Kommunikation beeinflusst, wenn nicht bestimmt: Die Präferenz von Gesten der Entspannung zusammen mit einer eher passiven, horizontalen Positur generiert eine neue Art der affektberuhigten Unterhaltung, die allerdings laut Baudrillard einem produktiven Disput im Wege steht. Wir reden über die Matratze, die mit Verweis auf die Möglichkeit ihrer Benutzung zum Bedeutungsträger wird, zum eine gewünschte Aussage vermittelnden Zeichen, was nicht nur die repräsentativen Prunkbetten vergangener Herrscher_innen belegen, sondern auch die Sex-Spielwiesen des Playboy oder die in den Werbeprospekten der Möbelgeschäfte zwischen häuslichem Rückzugsort und Arbeitsbereich des vernetzten Menschen schwankenden modernen Wohnlandschaften. Matratzen

343

Vom

Playboy-Bett

zu

Tracey

Emins

My

Bed

sind Liebeswerkzeuge und Folterinstrumente, Stätten der Geburt und des Todes, der Träume und Alpträume, der erholsamen Ruhe und des angeregten Gesprächs, der politischen Agitation und der nonverbalen Interaktion, und für manche sind die matratzenverwandten Liegemöbel auch nur der geeignete Platz, um im Feinripp die Sportschau zu gucken: Die enge Verknüpfung mit dem Menschen macht die Matratze zum prototypischen biografischen Objekt, erst recht, wenn ihre vorherige Nutzung Spuren hinterlassen hat. Das hat selbst der dem Kommunizieren auf niedrigen Lagern so misstrauisch begegnende Jean Baudrillard erkannt, als er 1987 wenn nicht seine Matratze, so doch seinen Sessel fotografierte. Sein Körper hat Falten im Überwurf hinterlassen und sich in das Polster eingedrückt, und diese Spuren verweisen auf die Leerstelle des Bildes, auf ihn: Der leere Sessel wird zu einem Selbstporträt in absentia. Es ist nur folgerichtig, dass der ‚Sitzmensch‘ Baudrillard jenes Möbel wählt, in welchem er bevorzugt denkt, liest und schreibt, und genauso konsequent ist es, dass Tracey Emin das schmuddelige, vermüllte Bett wählt. Es ist das Selbstporträt einer Künstlerin am Wendepunkt, der Erinnerungsspeicher eines krisenhaften, obsessiven und gleichzeitig produktiven Lebensabschnitts. „Bettgeschichte ist Lebensgeschichte“, bringt es Jörn Henning Wolf lakonisch auf den Punkt, und über was lohnte sich die Kommunikation mehr als über das Leben (Wolf 1997, S. 107)?

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Tobias Lander

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Tobias Lander

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mit freundlicher Genehmigung.

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Abb. 2: Playboy, Mai 1962, S. 89 (abgebildet unter den Bestimmungen des § 51 UrhG).

347

Andreas rumpfhuber

The working glamour

Das Bett ist heute paradigmatischer Ort zeitgenössischer Formen von Wissens- und Kreativarbeit. Die vormals ultimative Utopie der Industriearbeiter/innen, einmal so glamourös zu sein wie der hofhaltende König oder die Monarchin und nicht zur Arbeit gehen zu müssen, sondern zu Hause im Bett bleiben zu können, hat zwar nichts Exklusives oder gar Royales mehr, wird aber weiterhin mit Luxus und Glamour assoziiert. Das Bett ist aber mitnichten der Ort, an dem wir faul rumliegen können, um uns von der Arbeit auszuruhen oder sich gar vor ihr zu drücken. Das Bett ist heute der Arbeitsplatz der Wissens- und Kreativarbeit. Wie die Arbeiter/innenwohnung muss das Bett immer schon als Teil der modernen kapitalistischen Logik von Produktion und Reproduktion verstanden werden. In einer Ökonomie jedoch, in der Formen der immateriellen Arbeit dominant werden, wird das Bett ein Symbol für den Ort der entgrenzten Arbeitsgesellschaft westlicher, postindustrieller Nationen. War das Bett in der Moderne noch der Produktionsort der Reproduktion, so ist heute die Reproduktion Teil der Produktion. Sogar der Müßiggang und die Untätigkeit sind heute Teil der sogenannten gesellschaftlichen Fabrik (Tronti 1974). In Verlängerung des Begriffs der working poor1 verstehe ich die Kreativ- und Wissensarbeiter/innen im Bett als die working glamour. Sie machen die zunehmende Proletarisierung von vormals bourgeoisen Arbeitsformen deutlich und erlauben uns, die Arbeit des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) in der digitalen Ökonomie sowie dessen Raum zu analysieren. So wird mit dem Arbeitsplatz Bett die Verfasstheit einer seit den 1970er Jahren zunehmend dominant werdenden immateriellen Arbeit, ihrer Subjekte und ihrer Räume und Architektur greifbar. Die Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina konstatiert z.  B. mit Verweis auf einen Bericht des Wall Street Journal aus dem Jahre 2012, dass 80

1

Der Begriff working poor wird in der Literatur unterschiedlich gebraucht, stellt

aber allgemein gesagt eine Gruppe von Erwerbstätigen dar, deren Einkommen trotz mehrerer Jobs unterhalb der Armutsgrenze liegt.

349

The

working

glamour

Prozent aller jungen New Yorker/innen regelmäßig vom Bett aus arbeiten (Colomina 2014, S. 18–23). In der Figur der Arbeiterin und des Arbeiters im Bett wird die Notwendigkeit zur Performance jedes einzelnen arbeitenden Subjektes sichtbar. Es wird aber auch die Vereinzelung und Atomisierung des arbeitenden Individuums im Bett greifbar. Auch wenn es in der Fantasie lustvoll und privilegiert erscheint, im Bett arbeiten zu können, ist es in der Realität auch die pure Erschöpfung, die zeitweilig in Depression sichtbar wird. Als Architekt interessieren mich besonders die damit einhergehende Modifizierung der Arbeitsräume und die Auswirkungen auf die Architekturpraxis selbst, die anhand der Beispiele des Arbeitens im Bett sichtbar werden.

Immaterielle Arbeit und die Entgrenzung der Räume In diesem Zusammenhang muss die erst kürzlich von der spanischen Queer-Theoretikerin Beatriz Preciado publizierte Untersuchung zur Playboy-Architektur erwähnt werden. Am teleologischen Endpunkt dieser Forschung steht das Bett als paradigmatischer Ort der Arbeit. Preciados feministisch-queere Lesart versteht die seit den 1950er Jahren publizierten Designs der Junggesellenapartments sowie die mediale Selbstinszenierung von Hugh Hefner im Pyjama auf seinem rotierenden Bett in Verlängerung der Analysen Michel Foucaults. Für sie wird am Beispiel Playboy der Übergang von den Disziplinarregimen des 19. Jahrhunderts hin zu den Kontroll- und Produktionsformen des ausgehenden 20. Jahrhunderts sichtbar. Der Playboy konstruiert einen konsumorientierten, heterosexuellen Junggesellen, der im Bett arbeitet und dessen Apartment wie eine Maschine funktioniert, die Frauen anlockt und anschließend entsorgt. So überlagern sich im Playboy-Penthouse zugleich die Typologien des Büros mit denen des Stundenhotels (Preciado 2012, S. 62). Hefners rotierendes Bett selbst wird für Preciado zum postindustriellen Dispositiv par excellence. So ist das sich mechanisch drehende, mit Multimedia-Anschlüssen gespickte Bett mehr als nur ein bloßes Möbelstück. Als eine Art Raumkapsel ist es auch eine Prothese des weißen, heterosexuellen Mannes, der seinen selbst konstruierten Innenraum nicht mehr verlässt. Die spezifische Analyse der Playboy-Architektur eröffnet den Blick auf die „Konsolidierung neuer sexueller Identitäten, neuer Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit“ (ebd., S. 35). Hefner verkörpert dabei je-

350

Andreas Rumpfhuber

doch weiterhin die Figur des Feudalherren im Bett. Das Beispiel zeigt die Verlängerung, Modifikation und Verfestigung einer bestimmten männlich dominierten, gesellschaftlichen Machtstruktur innerhalb eines im Zuge des 20. Jahrhunderts neu entstehenden Machtregimes. Es erlaubt eine zeitgenössische Repräsentation der Macht besser zu verstehen und zu kritisieren. In diesem Sinne zeigen aber weder Hefners Praxis als prototypischer horizontaler Arbeiter und seine Liebe zu technologischen Gadgets noch die Playboy-Architektur selbst Ansätze einer emanzipatorischen Praxis. Schon allein die zeitliche Rahmung des Playboy-Beispiels verstellt den Blick auf die erst in den späteren 1960er Jahren einsetzende und heute relevante Proletarisierung dieser feudalen Form des glamourösen Arbeitens, die eng mit der radikalen Reorganisierung unserer Gesellschaften in Europa seit dieser Zeit verbunden ist. Das Dominant-Werden einer neuen Produktionsform, der sogenannten immateriellen Arbeit, geht mit der zunehmenden Auslagerung von Arbeitsprozessen, der Popularisierung kybernetischer Ideen für eine neue flache Gesellschaftsorganisation sowie mit der Einführung von Rechenautomaten in Arbeitsprozesse und dem damit verbundenen Versprechen einher, durch eine bald realisierte Vollautomation eine Freizeitgesellschaft zu schaffen, in der wir dann alle im Bett bleiben und faulenzen können. Es ist eine Arbeit, die mit Kunst, Kreativität und Forschung assoziiert wird und ganz allgemein gesprochen Kommunikation hervorbringt. In einer Vielzahl neo-avantgardistischer Architekturprojekte der 1960er Jahre lässt sich insbesondere ein Freizeitversprechen ablesen. Das Bett, oder zumindest die Matratze, spielte dabei oftmals eine wichtige Rolle. Man lümmelte in irgendwelchen Hüllengebilden herum, kuschelte softporno-mäßig in wabernden Blasen, lies sich von der Maschine für die kommende Gesellschaft rhythmisieren oder organisierte die Freizeit basisdemokratisch in flacher Hierarchie in nunmehr flexiblen und luftigen Gebilden über der steinernen Stadt, in der Tag und Nacht bereits abgeschafft waren. Es waren Projekte, die das populäre Versprechen des europäischen Wohlfahrtstaates affirmierten und eine Zukunft ohne Arbeit fantasierten, die, so der allgemeine Glaube, bereits angefangen hatte. Diese Entwicklung einer Architektur der immateriellen Arbeit, die nicht nur spiegelt, wie der Begriff der Arbeit zunehmend diffus geworden ist, und sämtliche Aspekte menschlicher Tätigkeit zu durchdringen

351

working

The

glamour

scheint, sondern im Moment ihrer Entstehung auch einen emanzipatorischen Aspekt aufweist, lässt sich anhand vieler Beispiele diskutieren (Rumpfhuber 2013): Die Erfindung der Bürolandschaft durch die deutschen Unternehmensberater Eberhard und Wolfgang Schnelle (1956), der Fun Palace der englischen Agit-Prop-Theatermacherin Joan Littlewood und des englischen Architekten Cedric Price (1962–66) sowie Herman Hertzbergers Centraal Beheer (1967–72) im niederländischen Apeldoorn, weiter die Architekturperformance Mobiles Büro (1969) des österreichischen Architekten Hans Hollein, Haus-Rucker-Cos Gelbes Herz (1967/68) in der Baugrube des neuen Polizeipräsidiums in Wien und nicht zuletzt John Lennons und Yoko Onos Gebrauch des Raumes in ihren zwei bed-ins (März und Mai 1969) in Amsterdam und Montreal sind Beispiele von Arbeitsräumen, von denen die meisten parallel zu den und angeschlossen an die Emanzipationsbewegungen der 1960er Jahre entstehen. Als Modelle betrachtet veranschaulichen sie, wie sich die neue immaterielle Arbeit darstellen lässt und welche Möglichkeiten die Architekten, die Künstler/innen und ihre Teams ersinnen, um unter Einsatz der Mittel der Architektur mit dem neuen Arbeitsparadigma umzugehen. In der Bewegung hin zur immateriellen Arbeit erfahren die Räume der Produktion eine Reihe von Konvergenzen: Mensch und Maschine, Haus und Stadt, Leben und Arbeiten, Architektur und mechanische Emotionsmaschine, Kunst und commercial sowie Außen und Innen.

Die

Arbeit

im

Luxushotel

Insbesondere Yoko Onos und John Lennons Appropriation des Hotelzimmers – im Rahmen ihrer zwei einwöchigen bed-ins zuerst im Amsterdamer und dann im Montrealer Hilton – kann als Schablone für die zeitgenössische Form der working glamour verstanden werden. Das bed-in ist eine Folie für ein Leben, in dem das Arbeiten im Bett und vom Hotel aus als äußerste Fantasie der Arbeiter/innen – als äußerste Freiheitsfiktion – zunehmend Wirklichkeit wird. Indem sich Arbeiten, Freizeit und Leben zunehmend miteinander verschränken, werden auch Kippmomente einer scheinbar glamourösen Arbeitsweise sichtbar, die sich zwischen einem entgrenzten Raumanspruch und seiner begrenzten Einlösung darstellen. Die bed-in-Performance ist also weniger als Protestperformance interessant. Sie ist jedoch signifikant für das Ver-

352

Andreas Rumpfhuber

ständnis einer proletarisierten Form der Arbeit im Bett, die nicht länger das Privileg des Bürgertums und seiner Kinder ist. Lennon und Ono eignen sich in ihrer bed-in-Performance den generischen Knotenpunkt eines weltumspannenden Handelsnetzwerkes durch Reorganisierung des Raumes an. Sie agieren unternehmerisch für ihr eigenes Anliegen. Ihre Arbeit besteht aus Kommunikation und ist nur durch ihre Angeschlossenheit an und die Verbreitung durch Medien möglich. Dabei soll die bed-in-Performance in drei Abschnitte unterteilt werden, um das Paradox des unternehmerischen und/oder alternativen Handelns in der zeitgenössischen Wirtschaft zu verdeutlichen: Im ersten Abschnitt in Amsterdam wird die totale Erschöpfung und Depression der Protagonistin und ihres Partners sichtbar. Dann gibt es eine emanzipatorische Wendung, die durch das Nichts-Tun und die darauffolgende Reorganisierung des Amsterdamer Hotelzimmers erreicht wird. Im dritten Abschnitt, der sich mit der Performance in Montreal deckt, wird der emanzipatorische Augenblick der Performance auf herkömmliche Stereotype rückgeführt. In diesem letzten Moment der Performance wird Lennons und Onos Mehrwertproduktion von Dritten abgeschöpft. In der Inszenierung des bed-in konvergieren Lebensraum und Arbeitsraum. Das bed-in wird nicht auf der Bühne eines Theaters oder in einem Stadion, nicht in einem Kunstmuseum oder in einer Galerie arrangiert. Vielmehr findet die Performance in Räumen statt, in denen Lennon und Ono wohnen.2 Diese räumliche Rahmung unterscheidet sich grundlegend von den Orten von Onos Kunst, den Musikstudios, in denen beide arbeiten, oder den Konzert-Arenen, in denen Lennon auftritt. Sind der Kunstraum, das Studio oder der Bühnenraum traditionell vom Wohnen getrennt, wird der alltägliche Lebensraum der beiden im bed-in nun zum zeitweiligen Arbeitsraum und umgekehrt ihr Arbeitsraum zum Wohnraum: Sie bewohnen den Raum ihrer Performance und arbeiten in ihrem Wohnraum. Abseits der Pressekonferenzen und der Besuche, abseits der Telefoninterviews hausen Ono und Lennon in diesen Zimmern, essen und schlafen dort. Die Hilton-Hotels, die Lennon und Ono rund um die Zeit der bed-in-Performance bewohnen, sind allesamt moderne Grandhotels US-amerikanischer Provenienz, demokratische Architekturmaschinen,

2 Seitdem die beiden ein Paar sind, leben sie im Londoner Luxushotel The Inn on the [Hyde] Park. Nur kurz waren sie im Mai 1968 im Haus von Paul McCartney sowie im ehemaligen Apartment von Ringo Starr zu Gast.

353

working

The

glamour

die als Zeichen einer freien, friedvollen Welt, einer offenen, transparenten und kapitalistischen Gesellschaft vorgestellt werden. Diese modernen Luxushotels der Nachkriegsjahre sind alle im Internationalen Stil gebaut. Es sind sachlich-kühle und moderne Gebäudestrukturen mit klar lesbaren Konstruktionen aus Sichtbeton, mit großen Glasflächen und mit thematisch gestalteten Sphären, exklusiven Zimmern, Restaurants und Shoppingbereichen. Die luxuriösen Herbergen, die den US-amerikanischen Standard und eine fürstliche Atmosphäre garantieren, sind räumliche Mischformen, die einerseits bürgerliche Resorts, Freizeitarchitekturen sind und andererseits als Stützpunkte für Handelsreisende, also auch als Arbeitsplätze konzipiert wurden. Die Räume, in denen das bed-in inszeniert wurde, etablieren exklusive private Innenräume einer gehobenen Schicht. Eintritt wird nur dem zahlenden Gast (ob Handelsreisende oder Bourgeoise) gleicher Gesinnung gewährt. Vor allem das Gespräch3 zwischen diesen zahlenden Gästen zeichnet die produktive Sphäre der luxuriösen Hotels aus. Ähnlich wie in den Clubs des 18. Jahrhunderts in England ist das Gespräch, das Austauschen von Informationen die Arbeit. Die Architektur der Grandhotels, ihre Repräsentation und mehr noch ihre programmatische Ordnung im Inneren konstruieren dabei, wiederum ähnlich wie die Londoner Clubs, einen intimen Raum persönlicher und privater Beziehungen, der als zweites Wohnzimmer einen der Adelsgesellschaft entlehnten öffentlichen Charakter hat, welcher die permanente soziale Sichtbarkeit der Mitglieder innerhalb des Innenraums gewährleistet. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die Hotelanlagen der Hilton Corporation, die, meist in Verbindung mit oder parallel zu der offiziellen Repräsentanz der Vereinigten Staaten entwickelt, als Teil der Truman’schen Containment-Politik finanziert und errichtet wurden. Die Designs der US-amerikanischen Architekturfirmen wie SOM oder Pereia und Luckman folgten der Hilton-Parole „to achieve world peace by world trade and travel“ (Hilton Magazine 1963, S. 35), und die Bauten wurden an strategisch günstig gelegenen Außenhandelsposten platziert. Zwischen 1949 und 1966 entstanden in Europa und im Nahen Osten insgesamt 17 Luxushotels, unter anderem in Istanbul, Kairo, Tel Aviv, Jerusalem, Athen, London, Berlin und Rom. 3

Das Gespräch ist die grundlegende Praxis, um im bürgerlichen Sinne souverän

handeln zu können, vgl. Reckwitz 2006, S. 188.

354

Andreas Rumpfhuber

Die Hilton-Hotels sind als autonome Gebäudekomplexe innerhalb einer beliebigen Stadtstruktur konzipiert worden. Sie müssen ähnlich aussehen, gleich funktionieren und wie eine Insel in der jeweiligen Stadt wirken. Maximal optimierte Räumlichkeiten und strategisches Konsum-Arrangement prägen dabei die innere Organisation der herrschaftlichen Grandhotels. Rund um die Rezeption werden mehrstöckige Eingangsbereiche, Shoppingzonen, Cafés und Restaurants platziert. Verkehrswege und Aufenthaltsräume des Dienstpersonals sind funktional strikt von den repräsentativen Gästebereichen des Hotels getrennt. Die einzelnen Zimmer werden nach identischen Standards ausgestattet und zum consumable space (Albrecht/Johnson 2002, S. 21), dem maximal flexiblen Minimalraum, der zum höchstmöglichen Preis vermietet werden kann. Tatsächlich sind die Innenräume der Hotels die kontrollierte und bis ins letzte Detail geplante Fiktion einer vormals äußeren Welt. Die Kristallpalast-Metapher Peter Sloterdijks aufgreifend, lässt sich der Innenraum der Hilton-Hotels als „ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat“, begreifen (Sloterdijk 2005, S. 26). Das Grandhotel stellt nicht nur einen Raum der programmatischen Konvergenz von Arbeitsplatz und Wohnraum dar. Mit dem Raum der American-Style-Luxury-Hotels wird ein möglichst perfekter Konsumraum als Teil eines weltumspannenden Netzwerks konstruiert, der den Mitgliedern Sicherheit und Heimeligkeit suggeriert. Das Hilton in Amsterdam ist mit historischen Szenen opulent dekoriert, ein offener Kamin ist die Hauptattraktion der thematisch gestalteten Raumfolge Holland’s Glory – The Seven Seas – Gateway to Europe im Erdgeschossbereich, die Materialien sind dunkles Holz und Backstein und setzen sich auch bis in die Zimmer fort. Sie werden schon in der ersten Performance in Amsterdam sichtbar.

Das

unternehmerische

Selbst

im

Bett

Oftmals vergessene Bilder des bed-in zeigen Yoko Ono und John Lennon friedvoll und verloren in dem übergroßen Bett des Amsterdamer Hilton liegen. Die Bilder bringen einen Aspekt der unternehmerischen Handlung zum Vorschein, die der französische Soziologe Alain Ehrenberg (2004)„„das erschöpfte Selbst“ nennt. Es ist eine latente Erschöpftheit, die zur Depression werden kann, die Ehrenberg mit dem Verschwinden der Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem, zwischen dem Mögli-

355

working

The

glamour

chen und dem Unmöglichen verbindet und die psychische Ordnung jedes Individuums stark verändert und irritiert. Die Decke bis zum Kinn hochgezogen in dem durch die Hilton-Dekoration düster wirkenden Zimmer, erscheinen Ono und Lennon völlig erschöpft, wie auch die „Ballade von John und Yoko“ zu erzählen weiß, die Lennon kurz nach dem Amsterdamer bed-in mit John McCartney in London aufnahm: „Drove from Paris to the Amsterdam Hilton/ Talking in our beds for a week/ The newspeople said/ ‚Say, what’re you doing in bed?‘/ I said, ‚we’re only trying to get us some peace‘.“ (The Beatles 1999, S. 313) Die letzte Liedzeile – „to get us some peace“ – kann zweierlei bedeuten: Ich kann es einerseits, der Intention des Friedensaktivismus gemäß, als Wunsch lesen, Frieden für die Welt zu bekommen. Andererseits kann die Liedzeile auch bedeuten, dass sich Lennon nach Frieden für sich selbst und seine Frau sehnt. Die eine, unbestreitbare Interpretation folgt der gängigen Erzählung über die medial wirksame Arbeit für den Frieden durch Verweigerung. Die andere Deutung betont die Kehrseite des aus sich selbst heraus handelnden Aktivisten: die Erschöpfung, der Wunsch nach Konfliktlosigkeit, Harmonie und persönlichem Frieden. John Lennon ist weniger der working class hero im traditionellen Sinn, der gegen das System rebelliert, wie es unzählige Biografien darstellen. Er zeigt im bed-in vielmehr Konturen eines neuen Typus des Arbeiters, den man mit Ulrich Bröckling (2007) als unternehmerisches Selbst bezeichnen muss. Lennon arbeitet schöpferisch-unternehmerisch, er ist aktives und selbstständiges Subjekt, er ist innovativ und nutzt imaginierte Gewinnchancen, trägt die Risiken der Unternehmungen und kooperiert eng mit seiner Frau als Team. Das bed-in bezeichnet Lennon als eine Werbekampagne für den Frieden. Es ist ein Event, das die mediale Aufmerksamkeit durch die Hochzeit nutzt, um dann mit der öffentlichen Erwartungshaltung zu spielen: Was kann das skandalöse Plattencover von Two Virgins (1968) noch toppen, auf dem Ono und Lennon nackt abgebildet sind? Ono und Lennon enttäuschen bei den bed-ins die Erwartungshaltung der Journalist/innen und tun zuerst nichts oder führen mit den Anwesenden absurde Gespräche. Im Sinne von Onos Kunstpraxis rahmen sie ein Setting der Verwunderung, in dem Erwartungshaltungen desillusioniert werden. Das bed-in ist im ersten Moment in Amsterdam auch eine künstlerische Performance außerhalb des Kunstraums, die Anleihen an Onos Kunstpraxis nimmt. Alle Journalist/innen, die über das Event am Bett

356

Andreas Rumpfhuber

berichten wollen, werden, ohne es zu wissen, zu Betrachter/innen einer aus der Avantgardekunst der Zeit entlehnten Kunstform, die im ersten Moment pure Verwirrung und Unverständnis stiftet. Erst danach wird die anfänglich depressive Atmosphäre und die Passivität und Absurdität, welche Lennon und Ono durch ihre Performance erzeugen, durch die Reorganisation des Raumes gegen eine aktive und ernst gemeinte Arbeit für das an und für sich unereichbare Anliegen „Weltfrieden“ getauscht. Der Gebrauch des Hotelzimmers ändert sich also vom passiven Einfügen in die bestehende Struktur hin zur aktiven Gestaltung und Handlung. Die beiden richten sich im Hotelzimmer ein: Das Bett wird vor das Fenster geschoben, es werden ausschließlich weiße Überzüge verwendet und viele Blumen rings um das Bett aufgestellt. Zudem werden die Instruktionen, wie der Weltfrieden zu erreichen sei, mit Blockbuchstaben auf Papier geschrieben und für alle sichtbar an das Fenster und die Wände geklebt: „Hair Peace“, „Bed Peace“. Ein Schriftzug wird sogar direkt auf das Fenster des Hotelzimmers geschmiert. Hier arrangieren Yoko Ono und John Lennon ihr freiwilliges ImBett-Bleiben als Werbung für eine alternative Lebensweise gegen den Krieg. Sie appropriieren die bürgerliche Typologie des Grandhotels, die Figur des Aristokraten im Bett wie auch die romantische Figur des Künstlers für eine Instruktion, sich den gesellschaftlichen Zwängen zu entziehen. Ono und Lennon sind in Amsterdam gleichberechtigte Partner/innen. Beide geben surreale und verwirrende Antworten auf die Fragen der Journalist/innen. Schlagzeilen wie „Married Couple Are in Bed“ oder „They Are Getting up Today“ belegen eindrücklich die Ratlosigkeit, diesen emanzipatorischen Moment einzuschätzen. Gleichzeitig ist gerade in der aktiven unternehmerischen Handlung und dem Beginn des Versuchs der Kommunikation auch schon das Scheitern der alternativen, sich entziehenden Lebensweise inkludiert. Um das persönliche Unternehmen, die persönliche Initiative zu erreichen, muss Onos Kunstpraxis mit dem commercial konvergieren. Als Werbung mit avantgardistischen Mitteln der Kunst verspricht sie ein alternatives, besseres Leben. Sie verspricht Freiheit durch eine solipsistische Erfahrung jedes und jeder Einzelnen und ein alternatives Leben innerhalb der Rahmung der Welt, die sich ohne Grenzen ausdehnt. In dieser dritten Wendung des bed-in, das ein Kunst-commercial für den Frieden ist, während dessen bereitwillig Interviews gegeben werden und das das kanadische Fernsehen durch minutiöse Choreografien vereinnahmt,

357

The

working

glamour

wird der Moment der Reorganisation des Raumes, das Unternehmen für den Frieden an gewohnte Storylines und überlieferte Stereotype wie den männlichen Helden, der die Welt retten will, aber auch seine verletzbare, fortan verstummende Frau gegen den bösen Provokateur schützt, rückgebunden. Der öffentlich-rechtliche TV-Sender CNBC nutzt das Format bed-in und lädt Gäste wie den rechtsliberalen Comic-Zeichner Al Capp oder den Komödianten und Bürgerrechtler Dick Gregory an das Bett von Lennon und Ono ein. Die Fernsehanstalt weist im ausgestrahlten Filmmaterial sowohl den Gästen als auch den Gastgeber/innen eindeutige Rollen zu, die Teil der Mythosbildung werden: der zornige, männliche, vielleicht ein wenig naive Held (Lennon), der sich ernsthaft und mit viel Emotion und Passion für den Weltfrieden einsetzt, die ergebene, schöne und exotische Frau (Ono), die den Helden stumm anhimmelt, sowie der brutale, gefühllose, erzkonservative Provokateur und Bösewicht (Capp), der dem Musiker und der Künstlerin vorwirft, die ganze Show ja doch nur für Geld zu inszenieren. Im bed-in wird nichtsdestotrotz die Umrisslinie der Tätigkeit der working glamour in doppelter Weise deutlich: Einerseits ist es die Handlung, ein Arbeitsprozess, dessen Konturen hier deutlich werden, der nur aus Kommunikation besteht. Es ist also, um dem italienischen Philosophen Paolo Virno zu folgen, keine Arbeit, in der ein „Objekt produziert wird, das vom Handeln getrennt werden kann“ (Virno 2005, S. 66). Andererseits ist es eine Produktion als Dienstleistung, die sich der Kulturindustrie und der Virtuosität des Musikers annähert, dessen Arbeit einen „Raum [braucht], der wie die Öffentlichkeit strukturiert ist“ (ebd., S. 71). Mit anderen Worten ist das Paradigma dieses Arbeitens im bed-in als Dienstleistung wie auch als politische Handlung strukturiert und setzt sich der Gegenwart des Anderen aus. Der Ort dieser Praxis ist das Bett und die Matratze: Im Bett hatte der absolutistische König als Weltmittelpunkt Hof gehalten und auf der Matratze sitzt der verträumte, biedermeierliche Künstler-Poet Carl Spitzwegs und hängt seinen Fantasien nach. Im Bett bleiben zu dürfen bedeutet, ein Stück weit frei zu sein, zumindest aber nicht allmorgendlich zur Arbeit gehen zu müssen. Die räumliche Praxis John Lennons und Yoko Onos ist daran interessiert, innerhalb der gegebenen Situation, die die beiden zwangsläufig auch als Subjekte produziert, durch den affirmativen Gebrauch von Architektur und Lebensmodi eine alternative

358

Andreas Rumpfhuber

Praxis zu leben, die sich der vorherrschenden Vorstellung entzieht. Für Lennon und Ono sind die Richtungs- und Grenzenlosigkeit des Raums, also das Generische der Hilton-Architektur, der öffentliche Charakter des Hotels, die Konvergenz von Leben und Arbeiten, aber auch ihre eigene, selbstentdeckte Selbstständigkeit und ihre neue Verantwortung als Personen der Öffentlichkeit eine Qualität und gleichzeitig eine Herausforderung, der sie im bed-in eine Form geben, auch wenn mit der Choreografie des kanadischen Fernsehens diese Praxis schlussendlich an Bekanntes anknüpft und als Mehrwert funktionalisiert wird.

Li t e r at u r

Preciado 2012 Preciado, Beatriz: Pornotopia – Architek-

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359

Angelika LINKE

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden. Zur Protestsemiotik von Körper und Raum in den 1968er Jahren

1  Kö r p e r z e i c h e n

ge s e l l s c h a f t l i c h e n

Wa n d e l s

Perioden verdichteten politischen bzw. soziokulturellen Wandels sind häufig verschränkt mit auffälligen Veränderungen im körperlichen und körperkommunikativen Habitus derjenigen sozialen Formationen, die diesen Wandel tragen oder zumindest direkt in ihn eingebunden sind. Solche Veränderungen lassen sich einerseits von außen, aus der Beobachterperspektive konstatieren, wobei eine gewisse historische Distanz zur Schärfung des Blicks beitragen kann. Andererseits werden solche Veränderungen aber auch zeitgenössisch wahrgenommen und kommentiert. Die Erscheinung des Leibes, in der signifikante Merkmale von Kleidung, Haartracht und Schmuck mit den Musterhaftigkeiten von Haltung, Bewegung, Gestik und Mimik zu einer Gesamtheit verschmelzen, bildet – in der Face-to-Face-Kommunikation – ein nicht übersehbares Körper-Zeichen, das zudem immer schon in den Bezug auf andere Körper eingebunden ist und diese notwendig affiziert. Wir treten vor und oft auch jenseits jeder verbalen Kommunikation in ein körperliches Verhältnis zu unseren Interaktionspartnern ein, in eine gegenseitige optische Wahrnehmung ebenso wie in eine konfigurative Positionierung, d.  h. in eine räumliche Bezugnahme der Leiber. Beides muss nicht bewusst sein, sondern erfolgt im Normalfall auf einer durch Automatismen geprägten, quasi vorbewussten Ebene des Körperhandelns. Entsprechend gilt beides, die optische Wahrnehmung wie die konfigurative Positionierung, auch für solche Begegnungen, die zufällig und für die daran Beteiligten unwichtig sind und deshalb in erster Linie einen spontan-ausweichen-

361

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

den Charakter haben, wie etwa die Begegnung mit uns gleichgültigen Mitmenschen auf Trottoirs und Treppen. Zudem sind Körper nicht nur auf andere Körper, sondern auch auf den umgebenden privaten oder öffentlichen Raum sowie dessen ‚Möblierung‘ bezogen. Und umgekehrt sind beide, privater wie öffentlicher Raum, nicht zuletzt über ihre körperliche Nutzung durch Einzelne wie durch Gruppen in ihrer Ausdehnung definiert und in ihrer Funktion bestimmt – Raum als sozialer Raum kann unter semiotischer Perspektive als Extension wie als Produkt des Körpers betrachtet werden.1 In all den bisher angesprochenen Zusammenhängen kommt die Zeichenhaftigkeit des Körpers auf individueller wie auf kollektiver Ebene zum Tragen. Sie erzeugt sowohl individuelle wie kollektive Identität und ihr kommt in der Selbstdefinition und Selbstverständigung sozialer Formationen wie auch in der Abgrenzung gegenüber sozial, kulturell oder historisch ‚anderen‘ Gruppierungen eine eigenständige Funktion zu.2 Es ist diese Funktion, die ich in den folgenden Überlegungen ins Zentrum stellen und im Kontext der soziokulturellen Umwälzungen der 1968er Jahre genauer fassen möchte. Zuvor werde ich allerdings eine weiter zurückliegende Epoche in den Blick nehmen und, wenn auch nur knapp und skizzenhaft, auf körpersemiotische Veränderungen im 18. Jahrhundert eingehen. Mit diesem historischen Umweg möchte ich einerseits deutlich machen, dass sich Verschränkungen leibräumlicher Zeichenhaftigkeit mit soziokulturellem Wandel grundsätzlich auch in anderen historischen Epochen beobachten lassen (und damit ein durchgängiges Moment der Kultur- wie der Sozialgeschichte bilden), andererseits möchte ich darauf verweisen, dass eine weiterführende Deutung

1 Ein solches Verständnis von Raum nicht nur als immer schon gegebene Voraussetzung und Kontext, sondern ebenso als Effekt menschlicher Präsenz, menschlichen Handelns und einer spezifischen „Sinnordnung“ prägt neuere, kulturanalytisch orientierte Forschungsansätze in unterschiedlichen Disziplinen. Grundlegend hierfür sind Überlegungen Ernst Cassirers, der u.  a. festhält, dass „[der] Raum [...] nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur [besitzt]; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht“ (Cassirer 1985, S. 102, zit.  n. Wirth 2008, S. 16). 2 Rolf Sachsse betont in seiner Einleitung zu Michael Ruetz’ Bildband zu 1968 denn auch, dass das Festhalten von allem, „was unter dem Begriff Körpersprache subsumiert wird“, einschließlich Frisur, Schminke und Accessoires, „neben der bildhaften Verdinglichung [...] die wichtigste Aufgabe der Photographie im Bilden kollektiver Gedächtnisse [ist].“ (Sachsse 1997, S. 18, Hervorheb. im Original)

362

Angelika Linke

solcher Verschränkungen stark an der jeweiligen historischen Situation orientiert, d.  h. kontextualisiert sein muss (und Eins-zu-eins-Deutungen etwa im Sinne eines „Vokabulars“ von Körperzeichen über historische Zeiten hinweg gerade nicht möglich sind). Der kollektivstilistische Wert eines körperlichen Habitus definiert sich immer sowohl paradigmatisch, d.  h. im Vergleich unterschiedlicher Sozialformationen und kultureller Gruppierungen, als auch syntagmatisch, d.  h. durch seine Bezüge zum historischen Vorher und Nachher.

2  „ A l t e Vo m

Te ut s c h e“ 1 7. ins

vs .

„j e t z i ge Te ut s c h e“ : 18. Jahrhundert

Ein erstes historisches Beispiel bietet die Darstellung in Abbildung 1. Es handelt sich um das Frontispiz der wohl bekanntesten und einflussreichsten Umgangslehre des frühen 18. Jahrhunderts, der 1727 erschienenen Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen von Julius Bernhard von Rohr (Abb. 1). Im vorliegenden Kontext interessiert in erster Linie die Behauptung, die das Frontispiz in bildlicher wie sprachlicher Form vornimmt und die gleichzeitig als Legitimation (und Verkaufsargument) für das Buch selbst fungiert: die Behauptung eines historischen Wandels, der im Kontrast von „alten“ und „jetzigen“ Deutschen sowohl visuell als auch verbal auf einen plakativen Nenner gebracht wird. Die Hauptelemente dieses Wandels, welche durch die Darstellung herausgehoben werden, sind erstens die Kleidung und äußere Erscheinung der Figuren, zweitens deren Körperauftritt3 und drittens die Szenerie, vor welcher die Figuren präsentiert werden. Mit Blick auf Kleidung und Äußeres sind vor allem die unterschiedliche Form der Hüte, das Gegenüber von Bart auf der älteren gegenüber der Perücke auf der „jetzigen“ Seite sowie eine insgesamt steifere, den 3 Ich nutze diesen Sammelausdruck, um auf das Ensemble zu verweisen, das sich aus der Haltung von Kopf, Rumpf, Armen und Beinen sowie aus der Orientierung von Körper und Gesicht auf ein Gegenüber ergibt. Dieses Ensemble erscheint in Abbildungen wie den hier und im Folgenden besprochenen notwendig in Form einer Stillstellung zu Betrachtungszwecken – die darin eingefangene Bewegung und Dynamik des Körpers und seiner Gliedmaßen muss entsprechend extrapoliert werden, was notwendigerweise eine gewisse Unsicherheit der Interpretation mit sich bringt.

363

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Abb.  1 Einleitung

zur

Ceremoniel-Wissenschafft

Der

Privat-Personen.

Julius Bernhard von Rohr. Berlin bey Johann Andreas Ruediger, 1728. Frontispiz

Faltenwurf betonende und den Unterkörper stärker ausstellende Bekleidung bei den „alten Teutschen“ gegenüber einer schwingenderen, die Linien des Oberkörpers betonende und insgesamt „schnittigeren“ Kleiderlinie bei den „jetzigen Teutschen“ hervorzuheben. Was die Körperhaltung anbelangt, so werden die „alten Teutschen“ insgesamt statischer präsentiert, ohne Bewegung des Rumpfes, nur mit solcher der Hände, während die „jetzigen Teutschen“ dynamischer gezeichnet sind: Sie sind mit dem gesamten Körper, einschließlich der Beine, in eine ausladendere Begrüßungsbewegung eingebunden. Mit diesen unterschiedlichen Darstellungen korrespondieren schließlich die unterschiedlichen Hintergrundszenarien, vor welche die Figurenpaare platziert sind: Die Silhouette einer Stadt mit Bürgerhäusern im gotisierenden Stil im ersten Fall, der Prospekt einer barockisierenden Palast- und Parkanlage im zweiten

364

Angelika Linke

Fall, in deren Rundarkaden und Boskettenmuster sich die schwungvollen Kostümlinien der Vordergrundfiguren wiederfinden lassen. Der Behauptungscharakter der Darstellung vertraut sichtlich auf die Aussagekraft des gewählten Frontispiz-Motivs im Kontext des Gesamtwerks – Kleidung, Körperauftritt und architektonische Formen werden hier als ein zeichenhaftes Ensemble präsentiert, in dessen Veränderung von „alt“ zu „jetzig“ ein umfassenderer historischer Wandel wie in einem Prisma eingefangen ist und das von der geneigten zeitgenössischen Leserschaft entsprechend gedeutet werden kann. Der Wandel, der hier vorgestellt wird, ist – vereinfachend und plakativ auf zwei Begriffe zugespitzt – der Wechsel vom älteren Stilideal der gravitas4 zu einem neuen Ideal der Leichtigkeit, ein Stilwandel, der an dieser Stelle nicht näher untersucht werden kann, der jedoch als mit den soziokulturellen, wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Veränderungen vom 17. zum 18. Jahrhundert eng verschränkt verstanden werden muss (vgl. aber Linke 2010).

3  „Natürlichkeit“ vs. „Afectation: Neue Körperordnungen am Ende des 18. Jahrhunderts Das zweite Beispiel führt ins letzte Viertel des 18. Jahrhunderts und damit in eine Zeit zunehmender politischer, sozialer und kultureller Spannungen. Die Abbildungen 2 bis 4 kontrastieren ebenfalls wieder kommunizierende Paare. Die Doppelbilder – es handelt sich um Kupferstiche von Daniel Chodowiecki – gehören zu einer längeren Serie, sie entstammen dem Göttinger Taschenkalender für die Jahre 1779 und 1780, wo sie unter dem Obertitel „Natürlichkeit vs. Afectation“ veröffentlicht wurden. Die Kupferstiche dieser Serie zeigen nicht immer, aber häufig Paare von Mann und Frau, wobei die Paare jeweils in derselben Situation, aber mit deutlich unterschiedlichem Körperauftritt dargestellt werden; und sie werden im Göttinger Taschenkalender begleitet von ebenso knappen wie kritisch-satirischen Kommentaren von Georg Christoph Lichtenberg (Abb. 2–4).

4

„Gravität“ ist im Umgangsdiskurs des frühen 17. Jahrhunderts ein durchgängig

positiv konnotierter Schlüsselbegriff, der in erster Linie auf körperliches bzw. körperkommunikatives Verhalten (v.  a. auf Blick, Mimik, Gang) bezogen ist, jedoch auch verbales Verhalten (mit-)meinen kann.

365

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Abbildung 2 zeigt das Paarbild, das den Titel der ganzen Serie – „Natürlichkeit vs. Afectation“ – illustriert, im zweiten Paarbild ist eine Gesprächsszene dargestellt und das dritte Bild schließlich bietet den Anblick zweier junger Paare, welche dem Naturschauspiel des Sonnenuntergangs hingegeben sind, allerdings unter sehr unterschiedlichem Einsatz ihrer Körperlichkeit. Diese und die weiteren Bildpaare addieren sich zu einem Programm, das den epochalen Umschwung von einer adelsdominierten Gesellschaft zu einer bürgerlichen Gesellschaft in körpersemiotischer Verdichtung sowohl darstellt als auch kommentiert (vgl. ausführlicher auch Linke 1996, S. 77ff.). Die einzelnen Bildpaare kontrastieren entsprechend ein im Körperhabitus adlig markiertes Paar mit einem bürgerlichen5, wobei – Kleidung und äußere Erscheinung der „natürlichen“ Paare in jeder Hinsicht einfacher, die Kleider- und Körperlinien insgesamt schlanker und fließender sind, – der bürgerliche gegenüber dem adligen Körperauftritt zurückgenommen erscheint und alles Ausladende wie auch alles allzu sehr Bewegte vermeidet, – der als „natürlich“ apostrophierten bürgerlichen Körpersemiotik als korrespondierender Kontext eine freie Landschaft zugeordnet wird, während die adligen Figuren – wie noch die „jetzigen Teutschen“ bei von Rohr – in barockisierende Gärten gestellt sind. Diese Darstellung „jetziger“ Deutscher vom Ende des 18. Jahrhunderts zeichnet sich also in erster Linie durch eine Zurücknahme des Körperauftritts, ja des Körpers selbst aus (und markiert damit gegenüber dem Körpermuster der „jetzigen“ Deutschen bei von Rohr einen weiteren Paradigmenwechsel). In der Orientierung der Körper der bürgerlichen Paare aufeinander wird zudem ein privater und geschlossener Raum hergestellt, während die adligen Paare in ausgreifender und auf Zuschauer bzw. auf den Bildbetrachter ausgerichteter Gebärde den

5 Ein Teil der Bilder ist aufgrund verschiedener Indikatoren auch so zu lesen, dass zwei bürgerliche Paare gegeneinandergestellt werden, wovon das eine sich allerdings an adligem Habitus orientiert bzw. diesen in grotesker Weise übersteigert. Vgl. hierzu etwa Scharloth 2005, S. 332–390.

366

Angelika Linke

Abb. 2  Daniel Natur

und

Chodowiecki: Afectation.

1780

Abb. 3  Daniel Die

Unterredung,

Abb. 4  Daniel Empfindung,

Chodowiecki: La

conversation.

1779

Chodowiecki: Sentiment.

367

1780

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Raum öffnen und den Körper ausstellen. Dass in der Darstellung Chodowieckis (und im Übrigen auch in den Kommentaren Lichtenbergs) Satire und Moral zusammenfließen, wird überdeutlich: Einem als oberflächlich, theatralisch und affektiert charakterisierten Adel wird ein als ernst, selbstbeherrscht und „natürlich“ konzipiertes Bürgertum gegenübergestellt. Wir haben es hier wohl noch mehr als in Abbildung 1 mit einer normativen Bildaussage zu tun, mit einer Körperprogrammatik, die normativ ein Verhaltensmuster erstellt, das in der vorgeführten Idealisierung und Kohärenz in der zeitgenössischen Realität sicher nicht zu finden war, die als Programmatik aber orientierenden Charakter und darin wiederum Langzeitwirkung hatte. Auf was es mir jedoch in beiden Beispielen ankommt, ist, dass ein tiefgreifender sozialer und kultureller Umbau der Gesellschaft zeitgenössisch in programmatischer Weise an der Körpersemiotik festgemacht wird, dass die Stilistik der Leiblichkeit damit bewusst als Medium und Ausdruck soziokultureller Veränderungen wahrgenommen wird und dass sich also ‚neue Zeiten‘ tatsächlich auch in einem Wandel der Sozialsemiotik des Körpers manifestieren. Dies gilt auch für die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen der 1968er Jahre.

4 1968:

Entdifferenzierungen

Zu den körperbezogenen Elementen, mit welchen sich die protestierenden Jugendlichen und Studierenden, für die später das Label Achtundsechziger üblich werden wird, von der älteren und damit auch Eltern-Generation abgrenzten und die sie in deren Augen wiederum als ebenso irritierend wie auch als politisch-ideologisch und alltagsmoralisch irregeleitet erscheinen ließen, gehörten unter anderem die neue Uni-Form von Jeans und Pullover, die als ‚Gammler-Look‘ terminologisierte neue Nachlässigkeit in der Zurichtung von Kleidung, Haupt- und Barthaar, der Verzicht auf eine ‚ordentliche‘ Einrichtung von Zimmern und Wohnungen sowie als unanständig oder gar ‚vulgär‘ empfundene Formen des körperlichen Auftritts in öffentlichen oder gar offiziellen Situationen. Als diesen unterschiedlichen Anstößigkeiten gemeinsam erweist sich der Aspekt der Entdifferenzierung, und zwar mit Blick sowohl auf die

368

Angelika Linke

vertikalen wie horizontalen Achsen alltäglicher Lebenswelt und ebenso in ganz konkreter wie in metaphorischer Bedeutung.6 Auf Kleidung und Äußerlichkeiten des Körpers werde ich im Folgenden nicht weiter eingehen, obwohl sich gerade darin das, was man aus gegenwärtiger, rückblickender Perspektive als den semiotischen Code der 68er empfindet, vielleicht am plakativsten festmachen lässt7 und die auch in diesem semiotischen Feld beobachtbaren Entdifferenzierungen zu dem die Zeitgenossen irritierenden Gesamteindruck der protestierenden Jugend in hohem Maße beigetragen haben dürften. Beispiele für solche Formen der Entdifferenzierung in der Mode wie in den Bekleidungspraktiken sind etwa die Annäherung von männlicher und weiblicher Kleidung (hier plakativ die Aufnahme der Hose in die weibliche Alltagskleidung [vgl. auch Grob 1985, S. 225f.], aber auch die Aufnahme „weiblich“ konnotierter Farben, Muster und Schnitte in die Männermode [ebd., S. 229f.]) sowie die Annährung von männlicher und weiblicher Haartracht (d.  h. neue Länge und neue Schnitte in den Männerfrisuren, prominent in den aus heutiger Perspektive eher als unauffällig empfundenen „Pilzköpfen“ der Beatles) sowie auch der demonstrative Verzicht auf situationskontextualisierende Kleidung, wie dies etwa für die traditionell deutliche Unterscheidung von Werktags- und Sonntagskleidung bzw. von Freizeit- und Berufskleidung galt. Ich möchte dieses weite Feld hier jedoch nicht weiter ausleuchten, dagegen zwei etwas weniger klar fassbare, jedoch gerade deshalb vielleicht besonders irritierende Formen des Körperauftritts näher thematisieren, nämlich neue Formen des Sitzens und des Liegens, sowie auf eine Entdifferenzierung in der funktionalen Topographie des privaten Raumes eingehen. Alle drei genannten Phänomene, das ‚neue Sitzen‘, das ‚aktive Liegen‘ sowie die neue Alltagstopographie, erachte ich als konstitutive Elemente eines neuen Lebensgefühls, eines neuen Selbstverhältnisses wie eines neuen Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit, das die 68er auszeichnet.

6 Vgl. zu diesem Begriff Link 2001, ich komme unter Abschnitt 5 ausführlicher auf die Verwendung des Begriffs bei Link zurück. 7 Vgl. hierzu die für die angesprochene Thematik wichtige Studie von Grob 1985, deren zweiter Teil (Kap. 9) sich mit dem „Kleidungsverhalten innerhalb der Studentenbewegung“ befasst.

369

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

4 . 1   N e u e s

S i t z e n

Das Sitzen, vor allem das Auf-dem-Boden-Sitzen, kann als ein zentrales Element im Körpercode der revoltierenden Studierenden wie auch ihrer weniger bewegten Generationsgenossen gelten, und zwar sowohl in mehr privaten wie in mehr öffentlichen Spezifizierungen. Das unter dem Label „Sit-in“ firmierende öffentliche Am-Boden-Sitzen als Körpergeste der Raumbesetzung wie auch als konkreter Stör-Einsatz des Körpers zur Blockade von Durchgängen und Wegen ist in den 68er Jahren zunächst auf studentische Protestaktionen bzw. auf den universitären Kontext beschränkt (vgl. Abb. 5), entwickelt sich dann jedoch in den folgenden Dekaden zu einer allgemein genutzten Form des (in erster Linie linken) Protestes, nicht zuletzt etwa im Kontext von Anti-Atomkraft- sowie Anti-Aufrüstungs-Demonstrationen (Abb. 6). Daneben gibt es das Sich-auf-den-Boden-Setzen in öffentlichen und halb-öffentlichen Kontexten, in denen traditionell das Sitzen auf Stühlen oder eine Form von Stehen als angemessen empfunden worden wäre. Dies gilt für universitäre Veranstaltungen in überfüllten Hörsälen (Abb. 7) ebenso wie für Popkonzerte. Mit Blick auf Letztere ist es also nicht nur die Musik selbst, die sie von klassischen Konzerten unterscheidet, sondern auch andere Praktiken des Sitzens (die ihrerseits wieder sowohl mit neuen Bekleidungsformen verbunden sind, d.  h. mit Kleidern, deren Material ein Am-Boden-Sitzen zulässt, wie dies prototypisch bei Jeans der Fall ist, als auch mit einer neuen Nachlässigkeit gegenüber ‚Gebrauchsspuren‘ an Kleidern [vgl. Grob 1985, S. 260ff.]). Dass im Anschluss an ein Konzert der Rolling Stones 1967 in Zürich ausgerechnet das vorhandene Stuhlmobiliar zum Gegenstand eines ungesteuerten Aggressionsausbruchs gemacht und zum größten Teil zerstört wurde – eine Objektwahl, die Polizei wie Presse eher ratlos zur Kenntnis nahmen (vgl. Abb. 8) –, mag in diesem Kontext zeichenhaft sein. Im privaten Bereich bildet das (gesellige wie einsame) Auf-dem-Boden-Sitzen in den 60er Jahren einen Generationencode, der zweifellos in einem Resonanzverhältnis zum öffentlichen Auf-dem-Boden-Sitzen steht, diesem aber unter Umständen sogar zeitlich vorausgeht und nicht auf die politisierten Gruppierungen beschränkt ist. Dieses ‚neue Sitzen‘ ist besonders dann als aktive, semiotisch signifikante Handlung markiert, wenn es in klassisch möblierten Wohnräumen stattfindet, in denen Stühle oder andere Sitzflächen durchaus zur Verfügung stehen. Ein zeitgenös-

370

Angelika Linke

Abb.  5 22.6.1966. Sit-in von 3  0 00 Studierenden

Abb. 6  Demonstration gegen taktische Atomwaffen,

im

F u l d a

Henry-Ford-Bau,

Bildarchiv

der

Abb. 7  Alexander Universität,

HSA

Zeitschrift

FUB,

Mitscherlich, Frankfurt

1 9 8 4

Colloquium

1970

Abb.  8  Das dem

Zürcher

Konzert

der

Hallenstadion Rolling

371

Stones,

nach 1967

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Abb. 9 „Bei einer Party jüngerer Leute geht es heute ganz ungezwungen zu. Da darf man ruhig auch mal auf dem Fußboden

sitzen,

wenn

Abb.  10  Pascha.

372

man

es

mit

Anstand

tut.“

1968

Angelika Linke

sisches Anstandsbuch vermerkt diese ‚neue‘ Form von Raumaneignung als Körpergeste zur Markierung von Ungezwungenheit, die aber durchaus akzeptabel sei, sofern sie „mit Anstand“ erfolge und auf bestimmte situative Settings (hier wird explizit die „Party jüngerer Leute“ genannt) beschränkt bleibe (vgl. die Darstellung sowie den entsprechenden Begleittext in Abb. 9). Durch diese Zuschreibung einer situationskontextualisierenden Funktion wird einerseits der mögliche gesellschaftskritische Aspekt des ‚neuen Sitzens‘, der sich gegen bestehende Körperordnungen wendet, entschärft, andererseits und gleichzeitig wird damit aber auch – sozusagen als nicht intendierter Nebeneffekt dieser Argumentationslinie – der Interaktionsmodus der Informalität aufgewertet. Eine Stabilisierung bzw. Hegemonialisierung dieses situationskontextualisierenden Auf-dem-Boden-Sitzens findet sich schließlich dort, wo schon die Einrichtung von Privaträumen darauf hin angelegt ist, d.  h., wo auch die vorgesehenen Sitzmöbel in erster Linie dazu dienen, das Sitzen auf dem Boden etwas weicher zu gestalten, und nicht mehr dazu, den Körper über den Boden zu erheben – vgl. hierzu die Abbildung 10 des ‚Wohnzimmers‘ der Berliner Kommune 1 (Rainer Langhans beim Telefonieren). Dabei ist festzuhalten, dass solche ‚Möbel‘ für das Sitzen auf dem Boden vielfach Bricolage-Charakter haben, d.  h., es handelt sich oft um Matratzen oder Kissen, die über ihren ursprünglichen Gebrauchskontext mehr eine liegende als eine sitzende Körperhaltung konnotieren (Abb. 10). An diesem Punkt wäre eine ausführlichere Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Möbeldesign lohnend, die hier aber nicht geleistet werden kann. Ganz allgemein lässt sich aber zumindest festhalten, dass auch im Design von Sitzmöbeln die Aufweichung der klassischen Sitzhaltung angelegt ist, insofern als neue Sofa- und Sesselformen auch neue Körperhaltungen evozieren und diese damit zu ‚angemessenen‘ Haltungen machen: Die Parallelen zwischen Protestsemiotik und Designavantgarde sind auffällig (Abb. 11 und 12). Allerdings: Das ‚neue Sitzen‘ auf Matratzen und Kissen, d.  h. auf improvisierten Unterlagen, die gerade nicht von sich aus auf Stützung und Formung des Körpers bzw. bestimmter Sitzhaltungen angelegt sind, markiert in erster Linie einen deutlichen Bruch gegenüber tradierten Sitzpraktiken, d.  h., wir haben es beim ‚neuen Sitzen‘ zunächst mit einer Kontrastgeste zu tun, die die Selbstständigkeit und Freiheit des Körpers betont, während mit dem neuen Möbeldesign, das zudem oft in futuristische Entwürfe höh-

373

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Abb.  11  Sofa.

Joe,

1970.

D’Urbino/Paolo

Abb.  12  Sessel,

1968,

Jonathan

de

Lomazzi.

Afra

und

Pas/Donato Poltronova

Tobias

Scarpa

lenartiger Wohnungsausgestaltung eingebettet ist, der Versuch einer neuartigen harmonischen Synthese von Körper und Möbel angestrebt wird. Diese Gleichartigkeit des Ungleichen erzeugt eine Spannung, der nachzugehen lohnend wäre, und lässt in jedem Fall den Körpercode der 68er als Teil einer allgemeineren Entwicklung erscheinen, welche die hergebrachten Körperordnungen in Frage stellt.

374

Angelika Linke

4 . 2   A k t i v e s

L i e g e n

Das Liegen als „öffentliche“ Körperhaltung hatte bis ins 18. Jahrhundert hinein zumindest im Rahmen fürstlichen Hofzeremoniells einen akzeptierten Ort8; in der historischen Folge und außerhalb zeremonieller Kontexte findet es sich – in Innenräumen – lediglich in einigen wohldefinierten soziokulturellen Nischen wie etwa in der Salonkultur des späteren 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts als weibliche Position des Liegens beim Empfang informellerer Besuche (dann ebenfalls auf entsprechenden Spezialmöbeln wie der Récamiere9) oder – in Außenräumen – als sozialrepräsentativ markierte (und ideologisch aufgeladene) Pose des In-der-Natur-Ruhens. Auch heute, d.  h. unter gegenwärtig gültigen Körperordnungen, ist das Liegen außerhalb entsprechend definierter Räume (wie etwa Freibad und Strand) und Domänen (Freizeit) keine öffentlichkeitstaugliche Körperhaltung; selbst im privaten Bereich der eigenen Wohnumgebung gilt – außerhalb von Krankheitsfällen – eine liegende Haltung in der Gegenwart von anderen als äußerst informell und an der Grenze zur Unhöflichkeit. Nun lassen sich aber gerade in den 68er Jahren ‚aktive‘ und in ihrer Abweichung von gängigen Körperordnungen auch entsprechend demonstrative Formen des kommunikativen Liegens beobachten, wie etwa in Abbildung 13 aus dem Alltag der Kommune 1 in Berlin, in der Fritz Teufel sich sogar sichtlich aktiv anstrengt, um in eine liegende Haltung zu geraten. Auch gegenwärtigem Normempfinden dürfte diese Haltung als markiert auffallen (Abb. 13). Dies gilt wohl in noch stärkerem Maße für Abbildung 14, die einen auf einem Tisch liegenden Studenten zeigt. Tisch samt Student befinden sich im Rektorat der Freien Universität in Berlin, die Szene spielt sich im Rahmen einer Besetzung der Rektoratsräume der FU ab, und dass die anwesenden Polizisten auf normalen Stühlen sitzen, markiert sowohl die Liegehaltung des Studenten wie den Liegeort noch zusätzlich als abweichend. Auch zu dieser Form des Auf-dem-Tisch-Liegens finden sich – wie schon beim Auf-dem-Boden-Sitzen – Parallelen im Bereich privater

8

Hierher gehört zentral die Situation des (fürstlichen) Lever, d. h. des Empfangs von

Besuchern in den Schlafräumen vor und während des Aufstehens. 9 Diese Liegeposition zeigt auch das berühmte Gemälde Jacques-Louis Davids von Julie Récamier auf dem nach ihr benannten Möbel.

375

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Abb.  13  Die

Bohème.

Berlin-Charlottenburg,

Szene Stuttgarter

aus Platz.

der 8.

Kommune   1. März

1968

Geselligkeit, wie Abbildung 15 aus einem Anstandsbuch von 1959 zeigt. Auch hier wird dem ‚neuen Liegen‘ eine kontextspezifische Funktion bzw. eine situationskontextualisierende Potenz zugeschrieben, indem darauf verwiesen wird, dass die Szenerie eben das „bei jungen Leuten so beliebte Kellerfest“ auszeichnet (Haller 1970, S. 177).10 Zusätzliche semiotische Signifikanz wird auch erreicht, wenn ‚aktives Liegen‘ auf der Straße und damit in Staub und Dreck stattfindet wie in Abbildung 16 (Weltjugendfestspiele DDR 1973). Hier wird die Unabhängigkeit der gewählten Haltung von ansonsten als nötig gedachten Voraussetzungen wie etwa einer weichen oder zumindest sauberen Unterlage inszeniert – es ist ein demonstrativ ‚unangepasstes‘ und auch unbequemes Liegen, das gerade deshalb als semiotisch signifikant interpretiert werden musst (Abb. 14 –16).

10

Die ‚Nähe zum Boden‘ und damit eine „Entvertikalisierung“ der Raumnutzung zeigt

sich gerade auch in dieser Aufwertung von Kellerräumen zu Gesellschaftsräumen im sprichwörtlichen „Partykeller“ der 60er und 70er Jahre, der im Kontrast steht zum Ballsaal der Beletage und der den Souterrain, der als Kellerwohnung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sozial markiert ist, bis zu einem gewissen Punkt kulturell neu definiert.

376

Angelika Linke

Abb. 14 Revolutionäre Ruhe. Besetzung des FU-Rektorats. Berlin-Dahlem.

2 7.

Juni

1968

A b b.   1 6

We l t j u g e n d f e s t s p i e l e ,

Ost-Berlin

Abb.  15

1973

Kellerfest

377

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

A b b.   1 7  L i e g e n d e r

Gitarrenspieler

Auch Abbildung 17 zeigt eine Variante solchen ‚aktiven Liegens‘. Diese Abbildung dokumentiert im Übrigen, dass die liegende Position als Element der körpersemiotischen Selbstformierung einer ‚neuen‘ Generation der spezifisch protestsemiotischen Nutzung dieser Haltung nicht erst nachfolgt, sondern zumindest parallel zu ihr funktionalisiert wird: Die Abbildung stammt aus einem zuerst 1957 publizierten Anstandsbuch (Schittenhelm 1967, S. 130) und belegt damit, dass diese Haltung bereits zu diesem Zeitpunkt als Element eines jugendlichen Körpercodes wahrgenommen wurde (Abb. 17). Wie im Übrigen auch die Haltung des Gitarrenspielers zeigt, handelt es sich in all den vorgeführten Liegehaltungen um ein Liegen mit aufgestütztem Oberkörper, was dieses Liegen deutlich als ein kommunikatives und damit eben auch ‚aktives‘ charakterisiert: Beim völlig flachen Liegen ist die Frontalorientierung gegenüber einem Kommunikationspartner, die als Schlüsselsignal für die Aufnahme kommunikativen Kontaktes dient, nicht mehr möglich. Der Liegende ist dann darauf angewiesen, dass sein Gegenüber diese Orientierung herstellt (z.  B. indem er sich über ihn beugt), er würde sich dadurch also selbst auf eine markiert passive Rolle im kommunikativen Austausch beschränken. Dies gilt für das ‚aktive Liegen‘ gerade nicht.

378

Angelika Linke

Insgesamt zeigt sich in diesen Sitz- und Liegehaltungen eine aktive Entdifferenzierung in der vertikalen Achse von Raum- und Körperordnungen. Die Distanznahme vom Boden beim Sitzen und Liegen als durchgängiges Merkmal westlicher Raumordnung sowie die vertikale Ausrichtung des Körpers, die mit einer sozialsemiotischen Aufladung der aufrechten Haltung eng verknüpft ist und die beide Normalformen (sensu Jürgen Link) von Raum und Körperlichkeit darstellen, werden durch die ‚neuen‘ Körperhaltungen sowie die betonte Orientierung nach unten als soziokulturell konstituierte Ordnungen bewusst gemacht und der mit ihnen verbundene (bzw. ihnen zumindest unterstellte) Disziplinierungscharakter auf diese Weise gleichzeitig markiert und durchbrochen.

4 . 3  E n t d i f f e r e n z i e r u n g

von

To p o g r a p h i e n

Die konkrete wie semiotische Aufwertung der Nähe zum Boden, die als Teil einer Raum-Körper-Programmatik der Jugendgeneration der 60er und frühen 70er Jahre gelten kann, zeigt sich auch in Abbildung 18. Das Bett in Form einer Matratze, die direkt auf dem Boden liegt, dürfte für einen großen Prozentsatz zumindest der studentischen Jugend in den späteren 60er Jahren und noch weit in die 70er Jahre hinein Normalität gewesen sein – es ist eine generational und sozial markierte Normalität (Abb. 18). Drei (eng miteinander verknüpfte) Aspekte scheinen mir für die hier wiedergegebene Raumszene bzw. Rauminszenierung11 semiotisch besonders signifikant: – Das Bild dokumentiert einen neuen Blick auf Sexualität: Ein Paar, offensichtlich nackt, im Bett, wird hier in seiner unspektakulären Alltäglichkeit vorgeführt und im Bild dem Blick von Dritten zugänglich gemacht, ohne dass damit pornographische Konnotatio11

Die mögliche Gestelltheit des Bildes (M. Ruetz kommentiert dies in seinem Bild-

band nicht) tut seinem Belegwert keinen Abbruch, insofern Gestelltheit hier weitgehend mit Programmatik zusammenfallen würde (und es in erster Linie diese ist, die hier interessiert). Zudem dürfte das Bild bei Zeitgenossen – abgesehen von den individuellen Personen, die abgebildet sind – einen hohen Wiedererkennungswert besitzen: In Wohngemeinschaften und studentischen Wohnungen waren ähnliche Bett-Arrangements durchaus üblich.

379

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

A b b.   1 8   Na c h t l age r. Berlin-Charlottenburg.

Studentenbude. 12.

September

1968

nen erzeugt werden (sollten). Das Bild steht in seiner Zeit zudem nicht allein: Es evoziert vielmehr weitere ähnliche Bilder aus den 68er Jahren, darunter prominent auch diejenigen von John Lennon und Yoko Ono bei ihrem „Bed-In“ 1969 zunächst im Hilton-Hotel in Amsterdam und dann nochmals in Montreal.12 – Das Bett selbst ist hier nicht in erster Linie als erotisch oder sexuell konnotierter Ort konstruiert, sondern erscheint als ein 12 Vgl. auch einen auf YouTube zugänglichen kurzen Film vom Amsterdamer „BedIn“: https://www.youtube.com/watch?v=GN_ykcjHhRc (letzter Zugriff am 14.5.2009).

380

Angelika Linke

multifunktionaler Aufenthaltsort, an den sich verschiedene Lebensdomänen anlagern: Die im Bett und ums Bett herum versammelten Gegenstände – von der Zeitung über Bücher, Essensreste, Aschenbecher, Kaffeetassen, Schreibmaschine, Kleider, Schuhe bis zum Staubsauger kontextualisieren so unterschiedliche Aktivitäten wie Schlafen, Lesen, Essen, Schreiben, Rauchen, Putzen und Kaffeetrinken, also Kontexte und Aktivitäten, denen ansonsten – vor allem im Rahmen von traditionellen Mittelschichtsszenarien – unterschiedliche Räume oder zumindest durch Möblierung und andere semiotische Anstrengungen klar getrennte Bereiche innerhalb ein und desselben Raumes zugeordnet sind. –  Die Abbildung dokumentiert damit eine horizontale Ent-Differenzierung alltäglicher Lebenswelt, d.  h., sie zeigt die Auflösung einer hergebrachten Wohnraum-Topographie, deren Ordnungen und Grenzziehungen eng mit Rollenverständnissen, Tagesstrukturen und der soziokulturellen Bewertung von alltäglichen Aktivitäts- und Handlungstypen zu tun haben. Zeitgenössischen Betrachtern (nicht nur, aber ganz bestimmt solchen der älteren Generation) dürfte die abgebildete Raumszene als dezidiert unordentlich vorgekommen sein.13 So ist etwa die Schreibmaschine am Bett insofern ein exemplarischer Ausdruck von Unordnung, als Schreibmaschinen in ein Arbeitszimmer, zumindest aber auf einen Schreibtisch (und sicher nicht auf den Boden) gehören. Ihre Präsenz am Bett betont sowohl die Entvertikalisierung des Raumes (Schreibtischarbeit findet eben am Schreibtisch und damit ‚erhöht‘ statt) wie eine horizontale Entdifferenzierung von Arbeitsort und Ort der Ruhe und führt auf diese Weise zu einer Überblendung der Lebensdomänen von Arbeit und Freizeit, von Mühe und Annehmlichkeit sowie der Modalitäten Formalität und Informalität. Womit auch auf dieser kategorial abstrakteren Ebene wieder Unordnung produziert wird, eine Unordnung, die sich allerdings ebenso als neue Ordnung lesen lässt. Paralleles gilt für die Kleider auf dem Boden, Essen und Aschenbecher am Bett etc.

13

Vgl. zu diesem Stichwort der „Unordnung“ mit Bezug sowohl auf körperliches

Verhalten wie auf sprachlich-kommunikative Kontexte Scharloth 2007a.

381

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

5 Anregungskräfte Der Zeitgeist hat auch einen Körper. Und er scheint ihn zu brauchen. Wie an den (wenn auch nur sehr knappen) historischen Rückgriffen auf das 18. Jahrhundert gezeigt, lässt sich auch in anderen historischen Kontexten eine Verschränkung von soziokulturellen Veränderungen einerseits und Veränderungen im Habitus bzw. in der Stilistik des Körpers14 sowie in der ausdrucksbezogenen Nutzung von Raum andererseits beobachten. Der Körper erscheint dabei sowohl als Medium der Aneignung neuer kultureller ‚Haltungen‘ und mentalitärer Dispositionen wie auch als Medium von deren Präsentation und Artikulation.15 Die transformative Potenz körperlicher Performanz scheint also in der Ausbildung, Aneignung und Diffusion kollektiver Identitäten eine zentrale Rolle zu spielen, sei dies im Kontext einer bewussten Programmatik 16 oder aber als unkontrollierter Effekt der – stilistischen – Anregungskraft eines bestimmten Körperauftritts. Mit Blick auf die Unterscheidung gesellschaftlicher Formationen bzw. Kommunikationsgemeinschaften lässt sich zudem parallel zur Sozialsemiotik von Sprache17 auch eine Sozialsemiotik des Körpers konstatieren: Sprachstile und Körperstile sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Wie Joachim Scharloth (2011) anhand von extensiven Quellenanalysen herausgearbeitet hat, lassen sich auch innerhalb der oft als homogen dargestellten 68er-Bewegung verschiedene soziokulturelle Milieus und entsprechende Sprach- wie Körperstile erkennen. Die von mir hier präsentierten Raum- bzw. Körpermuster wären mit Blick auf 14 Zum Stilbegriff sowie zum Verhältnis von Kollektivstil und kulturellem Stil vgl. Linke 2009. 15 Vgl. auch Fahlenbrach, die die expressive Potenz von „Körpersprache“ und „Kleidersprache“ (Fahlenbrach 2002, S. 81) im Kontext der Protestbewegung der ‚68er Jahre‘ betont und z.  B. den reduzierten, auf traditionelle Statusmarkierungen verzichtenden Kleiderstil der an den Vietnam- und Anti-Schah-Demonstrationen Teilnehmenden als Ausdruck einer gegen bürgerliche Kleiderordnungen gerichteten Verweigerungshaltung interpretiert (ebd., S. 200f.), die mit einem Verzicht auf Individualisierung einhergeht: „Der individuelle Körper wird nicht betont, sondern nurmehr, in Form von ‚Massenkörpern‘ in Demonstrationen, Sitzblockaden usw., als politisches Argument eingesetzt“ (ebd., S. 201). 16 Die Körpererziehung von Kindern ist ein Bereich der (zum Teil ganz unreflektierten) Nutzung dieser performativen Potenz. 17

Vgl. hierzu für die ‚Sprache der 68er‘ einschlägig Mattheier 2001, Scharloth 2007a

und 2007b sowie Scharloth 2011.

382

Angelika Linke

Scharloths Kategorisierung dem von ihm so genannten „hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu“ zuzuordnen. Es ist dieses soziokulturelle Milieu, in welchem derjenige Sprach- und Körperstil geprägt wird, der zeitgenössisch in besonders deutlichem Kontrast zum hegemonialen Habitus bürgerlicher Mittelschichten steht und entsprechend auch als besonders provokativ empfunden wird. Andererseits sind es gerade die markanten Charakteristika dieses Körperstils, die offensichtlich ein hohes Anregungspotenzial haben, denn sie sind, wie gezeigt, auch in anderen sozialen Formationen jenseits der Protestgeneration beobachtbar und erweisen sich in struktureller Hinsicht zudem als historisch nachhaltig.18 Und darüber hinaus lassen sich – bei allen Vorbehalten, die solchen grobrastrigen Vergleichen und Interpretationen entgegenzubringen sind – die skizzierten körperhabituellen Veränderungen auch als Abkehr von einem bürgerlichen Körperprogramm verstehen, wie es plakativ in den Kupferstichen von Daniel Chodowiecki (Abb. 2–4) eingefangen ist und das spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts über die Leitformation des Bürgertums eine breite normative Wirkung entfaltet. Der in diesem Programm festgeschriebenen, schmalen und an der vertikalen Achse orientierten Leiblichkeit19 des Bürgers, welche auf ‚Aufrichtigkeit‘ im doppelten Sinn (vgl. Warneken 1990) angelegt und im Gegensatz zum adligen Körperauftritt demonstrativ nicht raumgreifend konzipiert ist, wird im Körperprogramm der 68er Jahre nun ein auf neue Weise raumgreifender Habitus entgegengesetzt, der die Vertikalität aufweicht und im Gegensatz zum klaren Körperprogramm der Chodowiecki’schen Tafeln die Akteure gerade nicht auf ein einheitliches Haltungsmuster verpflichtet.20 Damit lassen sich, wie bereits angedeutet, die hier vorgelegten Beobachtungen und Interpretationen unter den bereits oben eingeführten Begriff der Entdifferenzierung stellen, mit dem Jürgen Link – unter 18

Die Kombination von Arbeits- und Schlafzimmer sowie die räumliche Verbindung

von Kochen und Wohnen (auch ohne den Sachzwang einer kleinen Wohnung) sind seit den 70er Jahren zunehmend zum Standard mittelständischen Wohnens geworden, nicht zuletzt in intellektuellen Kreisen. 19

Dieses körperliche Leitbild kommt am deutlichsten im Herrenkostüm bzw. im

Körperauftritt des Mannes zum Ausdruck, vgl. etwa auch Brändli 1998. 20

Mit dieser Neuformierung von Körperauftritt und Raumbezug wendet sich die

‚68er-Generation‘ nun allerdings nicht gegen eine als genuin „anders“ konstruierte Konkurrenzformation, wie sie der Adel für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts darstellte, sondern gegen die soziale und kulturelle Formation, der sich die Mehrheit der Protestbewegung zumindest der Herkunft nach selbst zurechnet.

383

Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden

Rückgriff auf sein Konzept des Normalismus – die Effekte des von ihm diagnostizierten „anti-normalistischen Impetus“ zusammenfasst, welchen er für die heute unter dem Label ‚1968‘ subsumierten sozialen Bewegungen als konstitutiv erachtet (Link 2001, S. 71). In einem Beitrag zur „Spezifizität der ‚Bewegung von Achtundsechzig‘“ ortet Link diese „Ent- bzw. Umdifferenzierung“ vor allem auf der Makroebene gesellschaftlicher Handlungsfelder und sozialer bzw. kultureller Kategorisierungen (ebd.). Beispiele sind etwa die Infragestellung und Aufweichung der Disziplinenbildung in den Wissenschaften, die kritische Auseinandersetzung mit der Ausgrenzung von Behinderten oder Psychiatrisierten sowie mit den „Normalitätsgrenzen“ zwischen Kunst und Leben oder Kunst und Politik (ebd.). Entdifferenzierung wird damit zu einer möglichen Form der Aushebelung bzw. der Infragestellung von Normalismus (ebd., S. 72). Eben dieses strukturelle Grundmuster der Ent- bzw. Umdifferenzierung lässt sich nun aber – wie gezeigt – auch auf der Mikroebene der Materialität alltäglicher Raum-Leiblichkeit identifizieren, sei dies in der alltagsweltlichen Wohn-Topographie, wo die etablierten Grenzen zwischen Arbeits-, Schlaf-, Ess- und Wohnraum aufgehoben werden und Insignien dieser Funktionsräume – Schreibmaschine, Staubsauger, abgelegte Kleider – in neuer Vermischung zusammenrücken, oder in der Entvertikalisierung des Raum-Körper-Bezugs, die mit dem ‚neuen Sitzen‘ ebenso wie mit dem ‚aktiven Liegen‘ verbunden ist und die symbolische Macht-Konnotiertheit von Vertikalität im Abbau dieser Achse sowohl demonstrativ ausstellt als auch demontiert. Die Alltagsperformanz von Körperauftritt und Raumnutzung erscheint damit als Medium des Ausdrucks wie der Aneignung eines neuen Welt- und Selbstverständnisses, das in dieser Materialisierung eine ebenso handfest-konkrete wie symbolisch-metaphorische Fassung findet. Und es ist diese materielle Ebene, diese Körperlichkeit des Protests, die das Anregungspotenzial entwickeln kann, das zur interaktiven Verbreitung einer ‚Haltung‘ und ‚Einstellung‘ von Körper zu Körper beiträgt, die jenseits (und allenfalls auch vor) jeder bewussten und abstrakteren Reflexion der gesellschaftlichen Umbrüche zur Ausbildung eines bestimmten Generationengefühls der 68er beigetragen hat.

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Abb. 14: Revolutionäre Ruhe. Besetzung des FU-Rektorats. Berlin-Dahlem. 27. Juni 1968, in: Ruetz 1997, S. 233.

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Abb. 8:

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Abb. 9:

A nm . d e r H g . : Bei diesem Text handelt es sich um einen Wiederabdruck, mit freundlicher Genehmi-

„Bei einer Party jüngerer Leute geht es

gung des Verlages De Gruyter:

heute ganz ungezwungen zu. Da darf man

Linke, Angelika: Unordentlich, langhaarig

ruhig auch mal auf dem Fußboden sitzen,

und mit der Matratze auf dem Boden. Zur

wenn man es mit Anstand tut.“, in: Haller

Protestsemiotik von Körper und Raum in

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387

Ilaria hoppe

Das Bett in der Frühen Neuzeit: Praktiken der Vergesellschaftung am Beispiel Florenz Sowohl in ihren Formen als auch durch die damit verbundenen Praktiken unterscheiden sich Bett und Matratze der Vormoderne deutlich von denen unserer Gegenwart: Der Begriff der ‚Matratze‘ ist heute mit einem Alltagsverständnis von Intimität und Privatheit verknüpft, das sich so aber erst seit dem 19. Jahrhundert etabliert hat. Das Bett war zwar auch in der Vormoderne eng mit dem Körper und seinen Bedürfnissen verbunden, doch war es Ort und Gegenstand einer polyvalenten Sphäre, in der die modernen Gegensätze von krank/gesund, privat/öffentlich oder profan/sakral sich fortwährend überlagern und verschieben konnten. Besonders akzentuiert zeigt sich dies in den monarchisch organisierten Hierarchiestrukturen, die sich wesentlich über die Vererbung der Blutslinie und körperliche Präsenz der Herrschaft definierten. In dieser auf Repräsentation des Körpers angelegten Politik und Kultur nahm das Bett, und damit auch das Schlafgemach, eine besondere Stellung ein. Am Beispiel von Florenz lässt sich sowohl die Materialgeschichte des Bettes in der Frühen Neuzeit als auch die Entwicklung des höfischen Appartements paradigmatisch verfolgen. Dieser Überblick gibt zugleich Aufschluss über das frühneuzeitliche Verständnis von Körper und Macht sowie über die Möglichkeiten von Frauen und Männern, dieses Verhältnis zu gestalten.

Praktiken

der

Ve r g e s e l l s c h a f t u n g

Das Wort ‚Matratze‘ leitet sich vom italienischen materazzo ab, das auf das arabische matrah, für Bodenkissen, zurückgeht und auf den orientalischen Einfluss im mittelalterlichen Italien verweist. Die Verwen-

389

Das

Bett

in

der

Frühen

Neuzeit

dung des Begriffes ‚Bett‘ war demgemäß nicht immer an eine Struktur gebunden, wie wir sie heute kennen. Es konnte sich dabei auch nur um eine Schlafstätte handeln, die bei den unteren sozialen Schichten etwa nur aus einem Stück Stoff auf Stroh oder einem strohgefüllten Sack bestand und auf dem Fußboden von Gemeinschaftsräumen wie der Küche zu finden war (vgl. Thornten 1992, S. 11). Diese Form der Vergesellschaftung ist wohl der wichtigste Unterschied zum Alltag der Moderne: Man war eigentlich nie allein und es gab keine Privatsphäre nach unserem heutigen Verständnis, auch nicht beim Schlafen (vgl. Duby 1990, S. 74). In der Oberschicht war seit der Antike die Trennung der Schlafräume nach Geschlechtern zwar üblich, doch nächtigten auch die Mitglieder der Eliten nicht allein, sondern in Anwesenheit ihres Personals. Auf Reisen war es bis ins 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich, mit Fremden, auch unbekleidet, das Bett zu teilen. Erst allmählich kam es zur Vereinzelung und Entfremdung der Körper, was eine tiefgreifende Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen anzeigt, wie sie Norbert Elias erforscht hat: „Erst wenn man sieht, wie selbstverständlich es dem Mittelalter erschien, daß fremde Menschen, daß Kinder und Erwachsene ihr Bett miteinander teilten, kann man ermessen, welche tiefgreifende Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen und Verhaltensweisen in unserer Lebensanordnung zum Ausdruck kommt. Und man erkennt, wie wenig es sich von selbst versteht, daß Bett und Körper psychische Gefahrenzonen so hohen Grades bilden, wie in der bisher letzten Phase der Zivilisation.“ (Elias 1997, S. 323)

Bett

und

camera

im

15.

Jahrhundert

Für ein historisches Verständnis der mit dem Bett verbundenen sozialen Praktiken müssen wir also unsere eigenen modernen Vorstellungen überwinden. In unteren sozialen Schichten war es üblich, Gemeinschaftsräume zu teilen, entweder auf dem Strohlager oder auf einfachen Betten, bei denen eine Matratze auf einem Holzbrett auflag, das durch dreibeinige Schemel abgestützt wurde (vgl. Thornten 1992, S. 112/ Abb. 111). Sofern man es sich aber leisten konnte, investierte man in ein großes Bett, in dem mehrere Personen schlafen konnten, als wichtigstes Prestigeobjekt des Hauses (vgl. La Roncière 1990, S. 186; Contamine 1990, S. 457f.). In den sozialen Eliten gab es beim Schlafen ebenfalls

390

Ilaria Hoppe

Abb. 1  Domenico Fresko,

1485/90,

Geburt

Ghirlandaio, Florenz,

S.

Maria

Mariens, Novella

einen hohen Grad an Vergesellschaftung, doch wurden diese Formen differenzierter organisiert, wovon die Entwicklungen des Appartements (vgl. Guillaume 1994) und besonderer Betten in der italienischen Renaissance zeugen. Auf den berühmten Fresken von Domenico Ghirlandaio in der Tornabuoni-Kapelle in Santa Maria Novella wird die Geburt Mariens in ein Interieur des 15. Jahrhunderts verlegt (Abb. 1). Auch wenn die Darstellung mit Sicherheit idealisiert ist, gibt sie Auskunft über einen repräsentativen Wohnraum der Oberschicht, den man damals camera nannte, also Kammer oder Zimmer (vgl. Kwastek 2001). Die im Bett liegende Wöchnerin empfängt dort wie eine Herrscherin ganz selbstverständlich ihre weiblichen Gäste. Ihre Schlafstatt ist erhöht und von einer umlaufenden Bank mit Truhen umgeben, wie sie wohl bereits im 14. Jahrhundert gebräuchlich war (vgl. Cantelli 1995, S. 472–479). Das Bett nimmt räumlich und funktional eine zentrale Position ein und war auch den Inventaren zufolge stets so groß wie möglich. Die Florentiner Statuten der Tischlerzunft regelten dies sehr präzise und verlangten für

391

Das

Bett

in

der

Frühen

Neuzeit

Abb. 2  Sandro Botticelli, Verkündigung an Maria,

um

1490,

Tempera

auf

Holz,

New York, Metropolitan Museum of Art

Übergrößen eine Sonderabgabe (vgl. Schiaparelli 1908, S. 233f.). Bei gemalten Schlafraum-Szenen ist das Bett „fast immer Schauplatz der Handlung“ (Kwastek 2001, S. 233). Überliefert sind für das Schlafgemach ganz unterschiedliche Aktivitäten: selbstverständlich das Schlafen, aber auch Arbeiten, Spielen oder Beten. In den Truhen bewahrte man nicht nur Bettwäsche und Kleidung auf, sondern auch wichtige Dokumente und Wertgegenstände. In Florenz fanden dafür auch die figurativ gestalteten forzieri Verwendung, Truhen, die anlässlich von Hochzeiten verschenkt wurden (vgl. Baskins 2008). Die Forschung geht mittlerweile davon aus, dass die dekorativ ausgestatteten Räume in den Florentiner

392

Ilaria Hoppe

Palazzi vor allem der Repräsentation des Mannes und seiner Familie dienten (vgl. Kress 2000). Bei Geburt, Krankheit oder Trauer war es allerdings üblich, sich insbesondere innerhalb der weiblichen Netzwerke zu besuchen, so wie man es auch auf dem Fresko sehen kann (Strocchia 1992, S. 172f.). Dies geschah wohl in bescheideneren Räumen, die Frauen auch allein bewohnen konnten. Zu dieser Zeit wurden alle kleineren Wohnräume in den Stadtpalästen als camera oder anticamera bezeichnet, im Gegensatz zum Saal, der größer war und in dem sich auch gänzlich Fremde aufhalten konnten. Graduelle Abstufungen erfolgten zudem durch die Möblierung. So gab es camere, in denen nicht geschlafen wurde, sich aber ein sogenanntes lettuccio befand, eine Art Sofa oder Tagebett. Wie der Raum, in dem sie standen, übernahmen die lettucci gleich mehrere Funktionen wie Ausruhen, Handarbeiten, Lesen oder den Empfang von Gästen. Dabei konnten sie auch eine dem Thron ähnliche Konnotation annehmen. In Frankreich entwickelte sich parallel dazu das lit de justice, ein von einem Baldachin überdachter Thronsessel für die Rechtsprechung des Königs (vgl. Contamine 1990, S. 458). Auf dem Detail der Verkündigung von Sandro Botticelli vom Ende des 15. Jahrhunderts ist das Tagebett am rechten Rand des Bildes durch einen Schleier als besonderer Ort hervorgehoben (vgl. Thornten 1992, S. 147) (Abb. 2). Deutlich sichtbar ist zudem das Gemach mit einem kostbaren Bett dahinter, das aber ohne Tür gänzlich offen steht und eine einheitliche häusliche Sphäre anzeigt, die noch keine stringente Funktionstrennung kannte. Beide Beispiele zeigen das Bett darüber hinaus als eine sakral konnotierte Sphäre, die als Teil der Heilsgeschichte vorgestellt wurde. Davon zeugt auch die Ikonografie von Christi Geburt: Von der Spätantike bis zur Frührenaissance wurde Maria im Kindbett oder auf einem einfach Strohlager liegend dargestellt, in einer Form, die an antike Sarkophage erinnert (vgl. Bergamo 2003). Ein seltener Fall ist auch das Bett als Reliquie in S. Maria delle Grazie in Pistoia, das von einer wundertätigen Heilung im ehemaligen Hospiz zeugt (vgl. Cantelli 1995, S. 476–478).

Das

Himmelbett

als

luxuriöser

Ort

der

Lust

Im Verlauf des 16. Jahrhunderts verfestigte sich die Schlafstätte der Oberschicht zu einem architektonischen Gehäuse, das mit vier festste-

393

Das

Bett

in

der

Frühen

Neuzeit

Abb.  3 Giovanni Antonio Bazzi, genannt Sodoma, H o c h ze i t 1511/12,

vo n Fresko,

A l exa n de r Rom,

und Villa

R oxa n e , Farnesina

henden Stützen und einem Baldachin verbunden war (vgl. Sprenger 2011, S. 163). Vorformen mit Vorhängen und Alkoven, die hygienischen und klimatischen Nutzen hatten, sind seit dem Mittelalter bekannt. Daraus entwickelte sich das Bett als eigenständiges Möbel zu einem Luxusobjekt. Zu seiner Ausstattung gehörten mindestens drei Matratzen: Die unterste war ein mit Stroh gefüllter Sack, darauf kam die eigentliche, mit Wolle oder minderwertigen Federn angefüllte Matratze. Den Abschluss bildete die coltrice, ein mit hochwertigen Federn gepolsterter Überwurf, dessen Etymologie ein sehr breites Spektrum umfasst: von der Materialität als Polster oder Lager bis hin zum Verweis auf seine Funktion für Ehe und Sexualität (vgl. Thornten 1992, S. 165). Die Betten selbst wurden in ihrer Ausführung immer aufwendiger ausgestattet. Das Fresko von Giovanni

394

Ilaria Hoppe

Antonio Bazzi, genannt Sodoma, in der Villa Farnesina in Rom zeigt ein solches kostbares Himmelbett, dessen Elemente mit antikisierenden Schmuckformen gestaltet sind (Abb. 3). Das Fresko ist nur eines von vielen Beispielen mit Bettszenen in der Malerei der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Ausdruck einer eher freizügigen Erotik in Italien vor der Katholischen Reform sind. Solche Darstellungen zeigen das Bett als Ort der Lust und nicht nur als Rahmen normierter Funktionalität. Zugleich reproduzieren die Bilder den dominanten Geschlechterdiskurs der Zeit, in dem der weibliche Körper als passiv-empfangend der Matratze zugeordnet wird, gleichsam mit ihr verschmelzend. Das prominente Fresko, das im Auftrag des potenten Bankiers Agostino Chigi für seine camera entstand, zeigt zudem die soziale Durchlässigkeit von Schlafräumen, da die Szene von Mägden, Sklaven und Putten bevölkert wird. Das Bett wurde also auch in der Kunst nicht zwangsläufig als Ort intimer Zweisamkeit imaginiert.

Bett

und

Schlafgemach

bei

Hof

Die repräsentative Aufgabe von Schlafgemächern führte in der Folge zu ihrer Verdopplung: Insbesondere bei Hofe wurden spezifische Räume für Empfänge mit Prunkbetten ausgestattet und dahinter lag ein weiterer Raum, der dann tatsächlich nur zum Schlafen diente (vgl. Sprenger 2007, S. 165). Damit ging eine immer weiter ausgreifende Differenzierung herrscherlicher Appartements und eines entsprechenden Zeremoniells einher, das im Sinne der repräsentativen Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1990, S. 58–67) Distanz und Nähe zum Herrschaftskörper zu regulieren hatte. Damit ist gemeint, dass die politische Repräsentation an die körperliche Erscheinung von Fürst und/oder Fürstin gebunden war. Überall und zu jeder Zeit standen sie in ihrer physischen Erscheinung für die Herrschaft ein, die sie über ihre Blutslinie geerbt hatten. Sie repräsentierten also nicht das Volk oder eine Gruppe, sondern die Macht an sich. Die Legitimation einer solchen Regierungsform suchte daher die Körper durch Zeremoniell, Architektur, Möbel und Bilder von der sie umgebenden – und wie wir gesehen haben omnipräsenten – Gesellschaft abzugrenzen und dadurch hervorzuheben (vgl. Fantoni 2009, S. 39, 44). Wie sich diese höfischen Appartements entwickelten, lässt sich in Florenz besonders gut nachvollziehen, wo beim Neubau von Stadt-

395

Das

Bett

in

der

Frühen

Neuzeit

palästen im 15. Jahrhundert eine Rationalisierung der Grundrisse zu beobachten ist. Die Gesellschaftsform war zuerst noch republikanisch organisiert, wenngleich die Familie der Medici sich mit zunehmender Macht verstärkt an den Sitten des französischen Hofes orientierte. Allerdings hatten die Frauen des Hauses weitaus weniger Einfluss als Aristokratinnen ihrer Zeit (vgl. Tomas 2003), was sich auch in der Anlage der Räumlichkeiten zeigt. Im Palazzo Medici befand sich der repräsentative Bereich im ersten Obergeschoss, dem piano nobile. Die Flucht aus Saal, camera und anticamera seitlich der Haupttreppe war stets dem männlichen Familienoberhaupt als Wohneinheit mit lettiera und lettuccio zugedacht (vgl. Bulst 1969/70, S. 387). Hinzu kamen die berühmte Kunstkammer und die Kapelle mit den spektakulären Fresken von Benozzo Gozzoli, die häufig ebenfalls für den Empfang wichtiger Gäste genutzt wurde. Insgesamt haben wir es also mit einem höchst öffentlichen Bereich zu tun. Von den Frauen des Hauses haben wir erst relativ spät genauere Kenntnis. Die einflussreiche Alfonsina Orsini logierte beispielsweise vor dem Exil der Medici 1492 wohl in der Flucht zwischen Garten und Innenhof, in der anticamera di piero, das heißt in einem der camera ihres Gemahls nachgeordneten Raum. Alfonsina partizipierte also durchaus am öffentlichen Leben des piano nobile, doch im rückwärtigen Teil mit Verbindung zu den Räumlichkeiten der Kinder im zweiten Obergeschoss (vgl. ebd., S. 389f.). Unter Cosimo I. de’ Medici, der seit 1537 als Herzog über Florenz herrschte, zog die Familie in den mittelalterlichen Palazzo della Signoria und besetzte damit das Wahrzeichen der ehemaligen Republik Florenz. Ab diesem Zeitpunkt heirateten die Medici stets in ihnen an dynastischem Rang überlegene Familien ein. Dies machte eine entsprechende Unterbringung der Herzoginnen notwendig und ein eigenes Frauengemach, das immer aus mehreren Zimmern bestand und über eigenes Personal verfügte, wurde eingerichtet (vgl. Hirschbiegel/Paravicini 2000). Aus den Inventaren aus der Mitte des 16. Jahrhunderts lässt sich rekonstruieren, dass sich das Appartement von Herzog Cosimo I. im ersten Obergeschoss dem großen Saal anschloss. Erneut befindet sich also das Gemach des Familienoberhauptes hinter der Hauptfassade im piano nobile in Kombination mit einem Saal. In das Mezzanin darüber zog seine Mutter ein. Das Gemach für seine Gemahlin Eleonora de Toledo wurde allerdings zuerst im zweiten Obergeschoss eingerichtet, um der Tochter des spanischen Vizekönigs eine standesgemäße Unterbringung

396

Ilaria Hoppe

bieten zu können (vgl. Hoppe 2004, S. 98f.). Nach der Geburt zahlreicher Kinder baute man schließlich das Dachgeschoss im selben Gebäudeteil aus. Diese Situierung versinnbildlicht die Geschlechtertopografie bei Hof sowie ein asymmetrisches Machtgefüge innerhalb der Familie. Die Räume des Fürsten lagen näher an den öffentlichen Bereichen, die der Fürstin abgeschiedener und in Verbindung mit den Räumen der Kinder, wie schon zuvor im Palazzo Medici. Im Gegensatz zu den entsprechenden Räumen im früheren Domizil der Familie war das Quartiere di Eleonora nun mit aufwendigen Dekorationen und einer Kunstsammlung auf Repräsentation ausgerichtet. Wie es auch Benvenuto Cellini in seiner Autobiografie beschreibt, empfing die Fürstin dort Gäste, ging ihren Geschäften und Vergnügungen nach (vgl. Cellini 1957, S. 273–276). Dafür nutzte die Herzogin vor allem die Suite mit der von Agnolo Bronzino freskierten Kapelle, die Camera Verde, und das scrittoio, ein Schreibzimmer (vgl. Edelstein 2003). Das einzige Bett, das inventarisiert wurde, befand sich in dem zweiten Raum hinter der Hauptfassade, die spätere Sala di Penelope, zugänglich von beiden Seiten des Appartements und mit einem Kamin ausgestattet. Im Inventar von 1553 wird ein Prunkbett mit vier Matratzen und einem Daunenüberwurf erwähnt, was aber nicht ausschließt, dass die Herzogin ebenso auf einfacheren, mobilen Betten in anderen Räumen nächtigen konnte (vgl. Conti 1893, S. 58). Die Funktionen waren also im Vergleich mit modernen Räumlichkeiten nicht nur polyvalent, sondern auch dynamisch. Deutlich statischer, im Sinne der Barockarchitektur zugleich moderner, gestaltete sich das Arrangement dagegen im Palazzo Pitti, den die Medici bezogen, nachdem Cosimo I. 1571 die Großherzogswürde erlangt hatte. Der Palast aus dem 15. Jahrhundert war von Eleonora de Toledo zuerst als villa suburbana angekauft worden (vgl. Hoppe 1999, S. 240–242). In der Folge war das Gebäude in eine Residenz mit linearem Grundriss umgestaltet worden, der im Zeremoniell weitere graduelle Abstufungen erlaubte. Großherzog Ferdinando I. de’ Medici verfügte nach dem Umbau über ein großzügiges Appartement im piano nobile, erneut in Richtung der Straßenfront. Seine Gemahlin, Herzogin Christina von Lothringen, logierte in einer dahintergelegenen Suite in Richtung des Gartens. Beide Teile korrespondierten achsensymmetrisch und teilten sich den Zugang zu einem Saal und einer Treppe. Die Räume der Kinder befanden sich erneut über denen der Mutter im zweiten Obergeschoss (vgl. Fachinetti 2000). Diese Aufteilung verdeut-

397

Das

Bett

in

der

Frühen

Neuzeit

licht eine gewisse Gleichrangigkeit des Fürstenpaares, da ihnen gleich viele Räume zur Verfügung standen; doch spiegelt die Zuweisung des hinteren Teils des Appartements an die Großherzogin in Verbindung mit den Räumen für die Kinder erneut das asymmetrische Machtgefüge zwischen Fürst und Fürstin.

Die

Rege n t s c h a f t

in

Poggio

Imperiale

Dieses Raumgefüge und die damit verbundenen Machtkonstellationen änderten sich deutlich während der Regentschaft des noch minderjährigen Ferdinando II. de’ Medici zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Nach dem Tod von Großherzog Cosimo II. de’ Medici 1621 übernahmen seine Gemahlin, Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich, und seine Mutter, Herzogin Christina von Lothringen, gemeinsam mit einem vierköpfigen Florentiner Rat die Regentschaft. Der junge Großherzog wurde zwar sofort als Ferdinando II. inthronisiert, doch führten bis zu seiner Volljährigkeit 1628 die beiden Frauen aktiv die Regierungsgeschäfte. Der Palazzo Pitti blieb offiziell die Hauptresidenz der Medici, doch richtete sich Maria Magdalena unmittelbar oberhalb der Boboli-Gärten eine Villa ein, die nicht bloß Ort der Muße war, sondern auch einen politischen Handlungsraum darstellte (vgl. Hoppe 2012, S. 41f.). Nach Vollendung der Umbauarbeiten 1624 benannte die Regentin die Villa in Poggio Imperiale um – also kaiserlicher Sitz –, womit ein deutlicher Verweis auf ihre Abkunft gegeben war. Maria Magdalena stammte zwar von der in Graz ansässigen Nebenlinie der Habsburger ab, diese stellte jedoch seit 1619 mit ihrem Bruder Ferdinand II. den Kaiser (vgl. ebd., S. 17–34). Zu Poggio Imperiale haben sich deutlich mehr Quellen als zu den früheren Palästen erhalten: Die Hofchronik und das Inventar von 1625 ermöglichen es, die dekorative Ausstattung zu rekonstruieren und sie mit den ursprünglichen Raumfunktionen in Verbindung zu bringen (vgl. ebd., S. 57–76) (Abb. 4). Zur Rechten des Innenhofes schloss sich das Appartement Maria Magdalenas und ihres Sohnes Ferdinando an, wobei diesem nur ein Vorzimmer und ein Schlafgemach zugedacht waren. Repräsentativen Charakter erhielten seine Räume insbesondere durch die Fresken in den Lünetten, die wie in den übrigen Räumen von einer Equipe Florentiner Maler ausgeführt wurden. Sie zeigen in einer genealogischen Abfolge die Taten Habsburger Kaiser. Bemerkenswert ist hier,

398

Ilaria Hoppe

dass die Szene Rudolf I. und der Priester von Matteo Rosselli, die den Ursprungsmythos der Dynastie illustriert, im ehemaligen Schlafgemach situiert ist, genauso wie zur gleichen Zeit im Schlafgemach König Philipps IV. von Spanien im Alcazàr in Madrid, dort als Gemälde aus der Hand von Peter Paul Rubens (vgl. Hoppe 2014, S. 15). Diese Ikonografie zielte auf die Vermittlung einer sakralen Kontinuität der Habsburger-Dynastie. Ihre Darstellung innerhalb repräsentativer Schlafgemächer zeigt an, dass nicht nur an die Frauen des Hauses, sondern auch an die männlichen Mitglieder der Dynastie der Anspruch an Kontinuität und damit an Reproduktion gestellt wurde.

18

24

23

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

25

22

21

26

27

20

28

19

2

16 15

1

Innenhof Flur, ricetto Saal Schlafgemach der Erzherzogin Kabinett Kabinett / Oratorium Galerie, Volticina Innenhof mit Grotte Kapelle Baderaum, stufa Stanzino dipinto Camerino, ricetto Vorzimmer der Erzherzogin Schlafgemach Ferdinando II.

Abb.  4 Rekonstruktion

17

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Erdgeschoss

3

14

4

5

13

12

6 11 10

7 8 9

Vorzimmer Ferdinando II. Flur Haupttreppenhaus Sporthalle Saal des Gästeappartements 1. Raum des Gästeappartements 2. Raum des Gästeappartements 3. Raum des Gästeappartements 4. Raum des Gästeappartements 1. Raum zum neuen Garten 2. Raum zum neuen Garten Loggia 1. Raum von Don Lorenzo de'Medici 2. Raum von Don Lorenzo de'Medici

Poggio

Imperiale,

1625

399

Das

Das

Bett

in

der

Bildprogramm

Frühen

der

Neuzeit

Regentin

Alle übrigen Räume in diesem Flügel von Poggio Imperiale waren der Regentin Maria Magdalena zugewiesen. Saal, Vorzimmer und Schlafgemach bildeten mit dem Freskenprogramm der Berühmten Frauen ein Pendant zur Ausstattung der Räume ihres Sohnes. Im Saal nehmen die Berühmten Frauen die Position ein, die üblicherweise männlichen Helden vorbehalten war. Vier Ölgemälde Florentiner Maler zeigten dort ursprünglich Heroinen der Antike wie Lucretia sowie vorbildliche Herrscherinnen und Witwen, wie Semiramis (Abb. 5) und Artemisia (vgl. Hoppe 2012, S. 95-102). Die Fresken in den Lünetten entfalten eine weibliche Geschichte christlicher Herrschaft, die mit den Darstellungen der ersten Regentinnen Ost- und Westroms, Galla Placidia und Pulcheria (Abb. 6), beginnt und bis zu Isabella von Kastilien fortgeführt wird. Wie Letztere lassen sich die meisten der Heldinnen auf den realen oder fiktiven Stammbaum der Habsburger zurückführen und verdeutlichen die glückliche Herrschaft unter der weiblichen Führung der Dynastie. Ihre Legitimierung baut sich bildlich durch verschiedene Strategien auf: Die Szenen verweisen auf die Tradition weiblicher Herrschaft seit der Antike; sie zeigen Frauen in Rüstung, die wie Männer mit kämpferischen Mitteln ihr Ziel erreichten; schließlich sind alle ausgewählten Exempla äußerst fromme Frauen, die ihr Amt als göttlichen Auftrag verstanden und nur kraft ihres Glaubens ausführten (vgl. ebd., S. 95 –1  24). Das Motiv herrschender Frauen, die im Grunde nur Werkzeuge einer höheren Macht sind, setzt sich im ehemaligen Vorzimmer bzw. der camera zwischen Saal und Schlafgemach fort. Dort sind es Heldinnen des Alten Testamentes, wie Judith oder Esther, die als Gottesstreiterinnen zum Wohle ihres Volkes Geschlechternormen überschreiten. Im Sinne der christlichen Heilsgeschichte symbolisieren sie die Epoche des Alten Bundes, die vom Christentum überwunden wurde (vgl. ebd., S. 124–146). In typologischer Steigerung folgen dementsprechend im ehemaligen Schlafgemach der Regentin die Darstellungen jungfräulicher Märtyrerinnen des Frühchristentums. Einzige Ausnahme ist die Darstellung der heiligen Helena, ebenfalls eine von den Habsburgern vereinnahmte Fürstin und Mutter des ersten christlichen Kaisers Konstantin des Großen. Die Ikonografie des heiligen Kreuzes verknüpft sich hier mit dem Modell der jungfräulichen Märtyrerinnen und verweist auf die besondere, familiengebundene Bedeutung des Kreuzes für die

400

Ilaria Hoppe

Abb. 5  Matteo

Rosselli,

Semiramis,

vor 1625, Öl auf Leinwand, Florenz, Villa della Petraia

Abb. 6 Matteo Rosselli/Domenico Pugliani, Pulcheria, 1623,

Fresko,

Florenz

Villa

Poggio

Imperiale

401

Das

Bett

in

der

Frühen

Neuzeit

Habsburger, dem innerhalb der Pietas Austriaca dynastisch formulierten Fiducem in crucem Christi. Durch das Auffinden einer angeblichen Kreuzesreliquie noch zu Lebzeiten ihres Gemahls hatte Maria Magdalena von Österreich dieses Konzept wiederum für Florenz an ihre Person gebunden und ihm durch die Stiftung eines aufwendigen Reliquiars mitsamt Kapelle im Wallfahrtsort Impruneta nachhaltigen Ausdruck verliehen (vgl. Hoppe 2011). Das Einfügen der heiligen Kaiserin in die Reihe der Darstellungen verwies zudem auf die Fürstinnen im Saal, sodass programmatisch und räumlich ein immerwährender heilsgeschichtlicher Zyklus hergestellt war.

Der

Empfang

im

Schlafgemach

Die fragile politische Situation hatte also eine ambivalente Raumdisposition hervorgebracht, die den Zugang gleich zu mehreren Potentat/innen zu regulieren hatte. Entgegen der sonst üblichen Geschlechtertopografie bei Hof waren die Räume Ferdinandos in das Frauengemach integriert und durch die Darstellung der Habsburger Kaisergalerie auch thematisch mit den Räumen der Mutter verbunden. Eine wahre Nähe zum Herrschaftskörper wurde aber laut Hofchronik nur für Maria Magdalena inszeniert, und zwar in ihrem Schlafgemach. Nach modernem Verständnis ist dies der Raum größter Privatheit, am Hofe Ludwigs XIV. wird es zum öffentlichen Ort einer Inszenierung. In Florenz – so meine These – nahm das Schlafgemach noch eine andere Bedeutung an, die sich wahrscheinlich durch das spanische Hofzeremoniell der Habsburger vermittelt hatte. Die Regentin empfing durchaus im Prunkbett, und zwar nicht nur ihre Familie, sondern auch Diplomaten und Künstler/innen, allerdings nur wenn sie krank war – und dies scheint der entscheidende Unterschied etwa zum französischen Hof zu sein. Zum Beispiel wird in der Chronik ausführlich ein Aderlass beschrieben: In Gegenwart der Mitregentin Christina von Lothringen und aller Ärzte wurden Maria Magdalena am 23. Mai 1624 zur Mittagszeit fünf Zehntel Blut abgenommen. Danach verblieb sie im Bett, da sie zuvor schon der Messe beigewohnt hatte. Ihr Sohn, der Thronfolger, sowie die übrigen Kinder kamen sie dort besuchen, ebenso ihr damaliger Gast, der Herzog von Mantua. Zu diesem Anlass, der kurz nach Vollendung der Bauarbeiten in Poggio Imperiale stattgefunden hatte, überreichte ihr Christina von Lothringen ein wertvolles Geschenk, und zwar

402

Ilaria Hoppe

einen schwarz-gold lackierten Kabinettschrank sowie eine dazugehörige Kuppel, wahrscheinlich um den Schrank wie ein Heiligtum bedecken zu können. Die Erzherzogin habe dafür ihre Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht. Nach dem Essen, das sie wohl ebenfalls im Bett verzehrte, kam die Hofmusikerin Francesca Caccini und musizierte gemeinsam mit den Prinzen und Prinzessinnen.1 Die Forschungen von Magdalena Sánchez über den spanischen Hof unter Königin Margarethe von Österreich, einer Schwester der Florentiner Regentin, haben gezeigt, wie Krankheit auch ganz gezielt als Strategie eingesetzt wurde, um etwa zeremoniellen Pflichten auszuweichen oder die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu ziehen (vgl. Sánchez 1998, S. 156–171). Krankheit wurde also am Hof katholischer Herrscherinnen nicht verheimlicht, sondern ganz im Gegenteil instrumentalisiert. Der erwähnte Aderlass bei Maria Magdalena wurde anscheinend sogar gefeiert, zeigte er doch das kaiserliche und damit zugleich heilige Blut der Regentin. Entsprechend thematisierte das Freskenprogramm hier das Leiden der jungfräulichen Märtyrerinnen, welche ihre Christoformitas bedingte und in der sich die Regentin spiegeln konnte (Abb. 7). Zusammengefasst wird das theologische Konzept durch das Deckenfresko mit der Allegorie des Neuen Bundes, die in einer Hand den Kelch als Zeichen für das katholische Glaubensbekenntnis an die Transsubstantiation hält, mit der anderen in den Himmel weist, als Verweis auf Christi Leib und seine Erlösung. Die Darstellung der Auffindung des Kreuzes durch die heilige Helena erlaubte die Anbindung dieser Ikonografie an die Dynastie der Habsburger und das Konzept der Pietas Austriaca. Diese unauflösliche Verquickung von Religion und Politik, die unter Karl V. als Monarchia universalis aktualisiert worden war, bedingte auch in den neueren katholischen Staatstheorien die beständige Zwiesprache des Souveräns mit Gott. Dieses vorbildliche Verhältnis sollte sich dann wiederum in dem des Souveräns mit seinen Untertanen abbilden. Insofern kam dem Herrscher und der Herrscherin eine Vorbildfunktion zu (vgl. Hoppe 2012, S. 186f.). Im Fall einer weiblichen Regentschaft kam durch das Fehlen einer männlichen Autorität dieses Konzept in die Krise, besonders augenfällig in einem Schlafgemach, dessen eigentliche Bestimmung ja in der Reproduktion und Absicherung der dynastischen 1 Florenz, Archivio di Stato di Firenze, Mediceo del Principato 6080, folio 41 verso–42 recto.

403

Das

Bett

Abb. 7  Anastasio Fresko,

in

Fontebuoni,

Florenz,

Villa

der

hl.

Frühen

Agatha,

Poggio

Neuzeit

1624,

Imperiale

Nachfolge lag. In Poggio Imperiale konnten die ausgewählten Exempla der jungfräulichen Märtyrerinnen diese Leerstelle füllen, da sie sich als entsexualisierte Heiligkeits- und Weiblichkeitsmodelle für die Regentin-Witwe anboten, die wiederum in ihrem Bett liegend wie diese zu verehren war (vgl. ebd., S. 162–168).

Das

Bett

der

Regentin

Das Bett selbst hat sich leider nicht erhalten, wie überhaupt nur wenige aus dieser Zeit, was auf deren überdurchschnittliche Größe zurückgeführt wird (vgl. Kwastek 2011, S. 222). Das Inventar beschreibt es als ein reich verziertes Baldachinbett mit dunkelgrünem Vorhang, aufgestickten Seidenblumen und bunten Fransen, wie wir es aus dem Cinquecento

404

Ilaria Hoppe

bereits kennen (vgl. Hoppe 2012, S. 293f.). Der dunkelgrüne Stoff diente ebenso als Tapisserie wie für die Portieren und die Bezüge der vier Stühle. Zum Bett gehörten die üblichen drei Matratzen und Decken sowie eine carriuola, ein bewegliches Bettgestell für eine Dienerin. Eindeutig identifiziert werden konnten die Kniebank und der Kabinettschrank mit Edelsteinintarsien auf dem ein Calvarienberg zu sehen ist, wahrscheinlich das Geschenk von Christina von Lothringen (vgl. Giusti 1995, S. 40f.). Da Maria Magdalena eine äußerst ambitionierte Sammlerin von Reliquien war, gehe ich davon aus, dass der Schrank für die Aufbewahrung religiöser Schätze diente, wofür auch die aufwendige Verhüllung spricht. Unmittelbar neben dem Bett soll sich eine Marienkrönung auf Silber befunden haben, inmitten von emaillierten und mit Edelsteinen besetzten Verzierungen. Weiterhin verzeichnet das Inventar Gemälde mit religiösen Sujets, wie die Darstellung des heiligen Hieronymus, die mystische Vermählung der heiligen Katherina von Siena, eine Auferstehung Christi venezianischer Provenienz sowie eine Madonna mit Jesus und dem Johannesknaben von Puligo (Palazzo Pitti). Ein besonderes Merkmal der Sammlung in Poggio Imperiale waren die vielen Magdalenen-Darstellungen, die ein weiteres Mal auf das Selbstverständnis der Regentin als heilige Fürstin verwiesen. Sie hatte sich sogar selbst von Justus Sustermans als heilige Maria Magdalena darstellen lassen (vgl. Hoppe 2012, S. 67). Und so fand auch dieses Thema sinnfällig Eingang in ihr Schlafgemach: als Andachtsbild auf der Kniebank, das man Leonardo da Vinci zuschrieb, sowie auf einem großformatigen Gemälde, das Tod bzw. Ekstase der Heiligen zeigt (vgl. ebd., S. 60; Sanger 2014, S. 124) (Abb. 8). Das Liegemotiv des Körpers der Heiligen wird hier mit einer transzendenten Erfahrung verbunden, in der die Heilige alles Weltliche hinter sich gelassen hat. Waren Andachtsbilder in Schlafräumen seit Langem üblich, so war diese Tradition in Poggio Imperiale deutlich forciert worden. Der gesamte Raum war auf eine Sakralisierung hin angelegt und das Bett bildete wie üblich das Zentrum des Geschehens. Dabei kam auch dem Baldachin eine sakrale Assoziation zu und ließ das Bett selbst zu einem „Reliquienbehältnis“ (Sprenger 2007, S. 168) für den fürstlichen Körper werden. Wie auch in anderen Ländern des ‚alten Reiches‘ und anders als in Frankreich war das Prunkbett nicht Teil des Staatszeremoniells, sondern eines alltäglichen Gesellschaftszeremoniells, so wie es auch aus der erwähnten Chronik hervorgeht. Die Funktion des Prunkbettes war der eines Thrones dennoch ähnlich, wie dieser verwies es auch bei

405

Das

Bett

Abb.  8 Rutilio vo r

1 62 5 ,

in

der

Manetti/Francesco Öl

au f

Rustici,

L e i nwa n d ,

Frühen

hl.

Maria

Magdalena,

F l o re n z ,

Uf f i z i e n

Neuzeit

Abwesenheit des Fürsten oder der Fürstin auf dessen bzw. deren Körper (vgl. Sprenger 2007, S. 170f.). In diesem Sinne konnten Ausstattung und Nutzung des Schlafgemachs in Poggio Imperiale eine legitimatorische Funktion übernehmen. Die Regentin im Bett verkörperte aber nicht mehr die Rolle einer Ehefrau oder Mutter, sondern eine christoforme Märtyrerin, die sich zum Wohle der Allgemeinheit, das heißt ihrer Dynastie und damit der symbolischen Ordnung, aufopferte. Anders als in der Moderne markierte das Bett in der Frühen Neuzeit durch seine Materialität wie auch durch seine Funktion das Zentrum des Familienlebens. Es war besonders groß und prunkvoll und diente nicht nur zum Schlafen oder zur Reproduktion, sondern war auch Raum für Kommunikation und Repräsentation. In der höfischen Gesellschaft war das Bett zudem Mittel sozialer Distinktion, da es die Nähe zum Herrschaftskörper und damit zur Macht selbst symbolisierte. Die damit verbundene Sakralisierung dieser Sphäre konnte – ganz im Gegensatz zu normativen Geschlechtszuschreibungen – sogar die Herrschaft einer Frau legitimieren.

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Ilaria Hoppe

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Abb. 8: Borea 1970, Kat.-Nr. 34.

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der

Frühen

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Behagen und Unbehagen auf der Matratze Ich flog extra von Los Angeles nach Bremen, um an der Konferenz „Matratze/Matrize“ teilzunehmen. Die Eröffnungsveranstaltung habe ich trotzdem verpasst. Als ich am Spätnachmittag vom Flughafen ins Hotel kam, legte ich mich ein paar Minuten auf die Matratze. Als ich wieder aufwachte, war es Mitternacht. Äußerst ärgerlich, aber auch irgendwie passend. Wenn man über Matratzen spricht, kommt man unweigerlich auf Passendes und Ärgerliches zu sprechen und manchmal ist beides ohnehin dasselbe. „Was man nicht im Bett tun kann, ist nicht wert, getan zu werden.“ Dieser Ausspruch von Marx – Groucho, nicht Karl – hat mir schon immer gefallen. Komisch ist er gerade deswegen, weil das Passende in ihm ebenso anklingt wie das Unpassende. Dennoch fiel mir erst nach der Einladung zu dieser Konferenz auf, dass so ziemlich alles in meiner Laufbahn mit dem Bett in Verbindung steht. Alles, was ich getan habe und was auch wirklich wert war, getan zu werden, habe ich entweder im Bett, in Beziehung zum Bett oder zum Thema Bett getan. Mein erstes großes Forschungsprojekt endete mit einem Buch über Neurasthenie, ein Nervenleiden, das Ende des 19. Jahrhunderts epidemische Ausmaße annahm. Unter dem Namen Neurasthenie fasste man damals eine ganze Reihe von Krankheiten zusammen, die später als postpartale Depression, manische Depression, Epstein-Barr-Virusinfektion, chronisches Erschöpfungssyndrom sowie als Angstzustände, posttraumatische Belastungsstörung und Neurosen verschiedenster

Art diagnostiziert wurden. Die lange Liste der Symptome enthielt unter anderem Asthma und Magersucht. Das am häufigsten verschriebene Heilmittel war die sechs- bis zehnwöchige Bettruhe, im Prinzip also eine Matratzenkur. Zu den prominenten Patienten zählten Virginia Woolf, George Santayana, Stephen Crane, Edith Wharton, Max Weber, Mark Twain, Jack London, Herbert Spencer, John Muir, Marcel Proust, William James, Henry James, Alice James und viele weitere Jamese sowie

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Theodore Dreiser, Theodore Roosevelt und viele weitere Theodores. Sogar die Ärzte, die das Leiden überhaupt erst salonfähig machten – George Beard und S. Weir Mitchell –, blieben nicht verschont. Scharen von Neurasthenikern wurden ins Bett abkommandiert, um der Matratze Gelegenheit zu geben, ihre Zauberkraft ausüben. Viele standen gar nicht mehr auf, ob sie nun geheilt waren oder nicht. Besonders Schriftsteller arbeiteten gerne in der Horizontalen. Das Bett war also schon lange vor Hugh Hefner, wie Tobias Lander in seinem Beitrag berichtet, eine Kommunikationsmaschine: Wharton, Proust, Colette, Heinrich Heine, Mark Twain, Winston Churchill, James Joyce, George Orwell und viele andere lagen schreibend auf der Matratze. Auch ich halte es so. Ganz im Sinne von Truman Capote, der sagte, er wäre fast ausschließlich ein horizontaler Schriftsteller, beginne ich meinen Arbeitstag, indem ich mich hinlege. Ich nehme den Laptop vom Nachttisch und tippe. Nur wenn ich aus dem Bett steige, höre ich auf zu arbeiten. Auch dieser Text ist ein Produkt der Matratze: im Bett geschrieben, vor der Konferenz im Hotelbett redigiert; vor der Veröffentlichung ein letztes Mal im Bett überarbeitet. Eines meiner Forschungsprojekte, das auf das Neurasthenie-Buch folgte, befasste sich mit der Geschichte des Weinens, der Geschichte der Tränen. Auch hier traf ich Menschen im Bett – Säuglinge natürlich, denn die Kindheit ist die Zeit und die Wiege der Ort, wo wir weinen lernen. Den Rest des Lebens werfen wir uns aufs Bett und heulen, vergraben unseren Kopf im Polster, weil wir von der schrecklichen Welt da draußen nichts sehen und hören wollen. So ergeht es mir an manchen Tagen, wie allen anderen Menschen auch. Später – und ich glaube, das war der eigentliche Grund, warum ich zu dieser Konferenz eingeladen wurde – folgte mein Buch über Faulenzer, Nichtstuer, Bummler, Gammler und Penner. Über Leute also, die sich lieber mal aufs Ohr legen, statt sich auf die Beine zu machen, die lieber nichts tun und mehr Zeit im Bett verbringen, als ihre Mitmenschen für angemessen halten. Auch diese Lebenseinstellung ist mir nicht ganz fremd. Ich benutze das Bett ja nicht nur zum Arbeiten. Jeder Mensch verbringt mindestens ein Viertel, gewöhnlich aber ein Drittel seines Lebens im Bett. Wir schlafen oder versuchen es zumindest und darüber hinaus gibt es eine Menge anderer Dinge, die wir dort erledigen. Schon dem Scharfsinn der Brüder Goncourt entging nicht, dass

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Tom Lutz

sich die drei wichtigsten Dinge im Leben – Geburt, Zeugung und Tod – zumeist in liegender Position ereignen. Wir haben Sex im Bett, lesen ein Buch oder sehen uns etwas im Fernsehen oder auf dem Handy oder Tablet an. Das Bett ist der Ort, wo wir uns ausruhen, erholen, erfrischen und stärken, wo wir unser System neu starten und wo wir träumen. Alledem liegt eine Matratze zugrunde. Auch bei mir. Zurzeit arbeite ich an einem Reisebuch und ich habe festgestellt, dass mich die Momente, in denen ich mich hinlege, besonders begeistern. Im Dunkeln, auf einem niedrigen Bett mit einer hauchdünnen Matratze, in einem Zimmer mit Lehmboden und einer Cola-Flasche als Kerzenhalter, am Rand der großen Dünen der Sahara oder in einem ratternden Schlafwagen, der durch den Morgennebel am Roten Fluss dem Gebirge an der vietnamesisch-chinesischen Grenze zustrebt. Flaubert soll es geliebt haben, die Landschaft liegend von einer Kutsche oder einem Zug aus zu betrachten. Angeblich wollte er gar nicht anders reisen. Ich fühle mich ehrlich gesagt erst dann richtig angekommen, wenn ich auf dem Rücken liegend zum Himmel oder zur Decke meiner neuen Heimstatt hinaufblicke. Ich arbeite im Bett, ich schlafe im Bett, ich träume im Bett, ich tagträume im Bett, ich weine im Bett, ich faulenze im Bett, ich reise von Bett zu Bett, ich verwöhne mich selbst und andere im Bett und manchmal mache ich einfach gar nichts im Bett. Ich bin ein kerngesunder bettlägeriger Mann, ein Mann der Matratze. Das Bett ist wie die Luft – man merkt nicht, dass es da ist, bis es plötzlich nicht da ist, wie in den 24 Horrorstunden, die man verkrümmt in Flughäfen und Flugzeugen zubringt. Wenn alles läuft wie gewohnt, denkt man nicht groß über die Matratze nach. Sie bleibt im Hinter- und Untergrund. Erst wenn etwas schiefgeht, wenn sie frische Bettwäsche braucht, wenn sie alt wird und ausgetauscht werden muss, drängt sie sich ins Bewusstsein. Erst wenn wir umziehen, merken wir, was für ein Riesending sie ist, eine der sperrigsten Sachen, die wir haben, und trotzdem fällt sie uns normalerweise nicht auf. Wo packt man dieses Thema am besten an? Bevor mir auffiel, dass mein ganzes geistiges Streben vom Wunsch getrieben war, flach dazuliegen, dachte ich, ich hätte mir meine Themen aus viel, viel subtileren Gründen ausgesucht. Die Tränen zum Beispiel, weil man nie genau weiß, was sie bedeuten. Natürlich weint man, wenn man traurig ist, aber es gibt auch Freudentränen. Tränen sind Anzeichen echter, reiner Gefühle, aber es gibt auch falsche Tränen,

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Krokodilstränen. Tränen faszinierten mich, weil man sie deuten muss, aber im ersten Moment nicht weiß, wie. Neurasthenie besteht aus einer Melange sich gegenseitig aufhebender Symptome – Teilnahmslosigkeit und Übererregbarkeit, Depression und Manie, Schlaflosigkeit und Schlafkrankheit. Welchen Reim soll man sich darauf machen? Die Ärzte waren ratlos. Sie verschrieben zugleich Bettruhe und Leibesübungen, Zwangsernährung und Fasten. Historiker behaupteten lange Zeit, weil es eben so schön in die gängigen kulturellen Narrative passte, die Bettruhe wäre für Frauen und die Bewegung für Männer gewesen, die Zwangsernährung für Männer und die Fastenkur für Frauen. Fehlanzeige. Wie sich herausstellte, waren die Symptome und Heilmittel gerecht auf beide Geschlechter verteilt. Was all das bedeuten sollte, war herauszufinden. Das gefiel mir. Als die Anfrage kam, etwas zum Thema Matratze zu schreiben, dachte ich: Was ist eine Matratze? Welche Matrize hilft mir zu verstehen, was eine Matratze ist? Ich fand keine Antwort. Das weckte mein Interesse. Die Matrize, das Raster, das ich in der Vergangenheit benutzt habe, um meine diversen Matratzen abzuprüfen, war ein Kompromiss zwischen meinem Hang zur Bricolage, um einen Begriff von Lévi-Strauss zu verwenden, und meinem Wunsch, wissenschaftlich zu arbeiten. Der Bricoleur in mir sucht sich sein Material notgedrungen und zugleich hemmungslos und schamlos aus allen erdenklichen Lebens- und Wissensbereichen zusammen. Der Wissenschaftler in mir versucht, entlang der vertikalen Achse Verbindungen zu möglichst vielen Disziplinen und entlang der horizontalen Achse Verbindungen zu möglichst vielen Geschichtsepochen zu knüpfen. In meinem Buch über Tränen verarbeitete ich zum Beispiel Daten aus den Bereichen Experimentalpsychologie, klinische Psychologie, Neurophysiologie, Physiologie, Soziologie, Kulturanthropologie, Sprachwissenschaft, Archäologie, Geschichte, Literatur, Malerei, Film. Der geschichtliche Bogen spannte sich über 34 Jahrhunderte. Das Ganze summiert sich zu einem enzyklopädischen Wahnsinn, der entweder als Bestätigung oder als Widerlegung der Wissenschaft interpretiert werden kann. Das weitverzweigte Einzugsfeld soll helfen, diskrete historische Narrative – der Krankheit, der Tränen, der Faulheit – oder diskrete wissenschaftliche Argumente aufzubrechen und zu einer Matrize, zu einem analytischen Raster zusammenzufügen.

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Nun ist die Matratze aber keine Geisteskrankheit, kein Gefühlsausdruck, keine Lebenseinstellung. Sie ist einfach ein Objekt, ein Gebrauchsmittel, das Menschen für all die bisher erwähnten Aktivitäten heranziehen, ohne dass sie direkt deren Qualitäten besitzt. Die Matratze hat keinen eigenen Willen und ihre Bedeutung wird wie bei den meisten Gegenständen vom Verwendungszweck bestimmt. Die Verwendung der Matratze unterliegt gewissen Regeln und Gebräuchen, nicht jedoch die Matratze selbst. Ein Freund sagte mir einmal, es gäbe nichts Traurigeres auf der Welt als eine tote Matratze – eine von denen, die auf dem Gehsteig oder am Straßenrand auf die Müllabfuhr wartet. Man kennt das. Eine tote Matratze, verbeult, versifft und ausgedient, nur im äußersten Notfall würde sie noch Verwendung finden. Es ist ein trauriges Ding. Aber eigentlich ist es nur unsere Projektion, oder? Wir belegen die Matratze mit Gefühlen. Unsere Wahrnehmung, unser Empfinden ist von Trauer erfüllt, nicht die tote Matratze. ** Das Wort „Matratze“ hat an sich schon eine faszinierende Geschichte. Es ist weder germanisch noch romanisch noch griechisch, sondern ein Lehnwort aus dem Arabischen, das über das Italienische ins Deutsche gelangte. Das Bett kam mit den alten Römern, aber die Matratze folgte unter diesem Namen erst Jahrhunderte später, ein orientalistisch verklärter Zauberteppich, beladen mit Bildern einer Trägheit und Sinnlichkeit, die das Abendland ersehnte und fürchtete, verachtete und verehrte, ablehnte und zugleich selbst übernahm. Wie die Matratze zusammen mit Seide und Gewürzen in die europäische Kultur eingeschmuggelt wurde, aus dem dekadenten, trägen Morgenland ins stramme Abendland, aus dem enthemmten Osten in den verklemmten Westen – das zu beschreiben, wäre ein Buch wert. Hier sei nur auf die enge Beziehung der gepolsterten Schmuggelware zur Arbeitsethik wie auch zu deren Kehrseite – dem Nichtstun – verwiesen. Verfechter des Letzteren gehen davon aus, dass das höchste Gut auf Erden nicht durch Fleiß, Tugend und Leistung erreicht werden kann, sondern ganz im Gegenteil durch die Unterlassung solcher schweißtreibenden Sisyphus-Vergeblichkeiten. Anstatt ihn zu versetzen, lässt man den Felsbrocken dort, wo er ist, und legt sich ein Stündchen ins Gras.

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Die Einsicht, dass solche Ruhepausen uns das bisschen Weisheit, Ruhe und Genuss verschaffen, deren wir fähig sind, ist ebenso alt wie das Lob der Arbeit. Wenn die Fleißigen warnen, dass der Müßiggang eine Versuchung des Teufels sei, entgegnen die Faulenzer, solle doch jeder, der wolle, aufstehen, sie selbst blieben lieber mit dem Teufel im Bett. Die Partei der Rechtschaffenen reagiert naturgemäß empört auf derartige Provokationen, die gegen die Gesetze der Moral und des Anstands verstoßen, und überträgt ihr Urteil gerne auf ganze Gesellschaftsgruppen. Die Neigung, an der Matratze zu horchen, während andere zur Arbeit gehen, wird spezifischen Menschentypen zugeschrieben, manchmal Ausländern, aber auch anderen Gruppen, die sich aufgrund von Ethnizität, „Rasse“, Geschlecht, Alter, Klasse, Herkunft oder Religion ausgrenzen lassen. Aus welchen Gründen auch immer, man bekommt fast in jedem Winkel der Welt die Klage zu hören, dass irgendwer, irgendeine Art von Mensch unverschämt, arglistig und den Mitmenschen schadend dem Nichtstun frönt. Ich wurde auf diese Logik aufmerksam, als ich Nachforschungen für ein Buch über Wut betrieb. Was den US-Bürger in Rage bringt, ist unter anderem der Gedanke, dass Leute, die offenbar keine Lust und keinen Willen zur Arbeit haben, sich an dem, was er im Schweiße seines Angesichts geschaffen hat, schadlos halten. Gemeint sind nicht Alte, Kranke und Kinder, sondern gesunde, arbeitsfähige Erwachsene, deren arbeitsscheues Verhalten gegen die soziale Ordnung verstößt. Johanna Hartmann erzählte mir während der Konferenz die Mär von Florida-Rolf, von der Bild-Zeitung so tituliert, weil er sich angeblich in Florida am Strand aalte, während er vom deutschen Staat Sozialhilfe erhielt. Arbeit, Fleiß, Rechtschaffenheit und Leistung sind Grundwerte, die man nicht ungestraft verletzt. Dessen ungeachtet mangelt es nie an Verfechtern der Horizontalität, an Manifesten der Immobilität, an Lobliedern auf Muße und Faulheit. Die Figur des Taugenichts erschien zu Beginn der industriellen Revolution auf der Bühne und folgte deren geografischer Ausbreitung: in England um die Mitte des 18. Jahrhunderts, noch im selben Jahrhundert auch in Deutschland, danach in Frankreich, in Italien und den Vereinigten Staaten, etwas später in Russland und noch später in Indien und Japan. Kulturell gesehen war der Taugenichts beileibe keine Randerscheinung. Man denke an Samuel Johnson, um 1750 einer der angesehensten Köpfe Großbritanniens, der seine Schriften mit „The Idler“ oder,

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wenn besser ausgeschlafen, mit „The Rambler“ unterzeichnete. 40, 50 Jahre später erschuf Washington Irving in den USA Rip Van Winkle und andere Langschläfer, und nach wiederum mehreren Jahrzehnten folgte Henry David Thoreau, der gerade zur Zeit, als Riesenfabriken wie Lowell Mills ihren Betrieb aufnahmen, Stadt und Industrie den Rücken kehrte und sich in eine einfache Hütte in der Wildnis zurückzog. Von da an produzierte der technische Fortschritt Aussteiger wie am Fließband. Robert Louis Stevenson und Bertrand Russell zählen zur Schar jener, die Apologien des Nichtstuns verfassten. In jüngerer Zeit riet uns Peter Sloterdijk, im Bett zu bleiben. Gut, die Sonne ist aufgegangen, aber das heißt ja noch lange nicht, dass auch wir aufstehen müssen. Ob man dieser Relativierung zustimmt oder nicht, fest steht, dass die Menschheit älter ist als das Produktionssystem, das wir heute als naturgegeben hinnehmen. Slavoj Žižek liebt es, sich im Bett liegend interviewen und fotografieren zu lassen. Das verlangt sein Selbstverständnis als Kritiker des ökonomischen und ideologischen Status quo, der sich dem modernen Arbeitszwang verweigert. Die genannten Beispiele sind nicht zuletzt deshalb so brisant, weil sie Privates ans Licht der Öffentlichkeit bringen. Wie die bed-ins für den Frieden von John Lennon und Yoko Ono, die Andreas Rumpfhuber bespricht. Wären John und Yoko hinter verschlossenen Türen drei Tage im Bett geblieben, hätte es keinen Skandal und keine Schlagzeilen gegeben. Erst dadurch, dass sie die Journalisten ins Schlafzimmer ließen, wurde ihre Aktion zum Medienevent. Žižek kann so lange im Bett bleiben, wie er will, erst wenn ihn ein Fotograf dort ablichtet, verstößt sein Benehmen gegen den guten Ton. Seine Eskapaden und Allüren haben Žižek den Ruf eines Rockstars unter den Philosophen eingetragen. Andere Zeiten, andere Sitten. Die Matratze galt nicht immer als Reservat der Privatruhe. Jahrhundertelang teilten sich Fremde das Bett, zu Hause und auf Reisen, wie Ilaria Hoppe und Angelika Bartl aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Monarchen hielten liegend Audienzen und die französischen Könige pflegten den Brauch des lit de justice. Noch im 19. Jahrhundert klagt Ishmael in Moby Dick, wie merkwürdig es sei, neben einem tätowierten Südsee-Insulaner zu schlafen – nicht die Tatsache, in der Kajüte neben einem Mann liegen zu müssen, stört ihn wohlgemerkt, sondern einzig das Wesen dieses Mannes. Das Lager mit Fremden zu teilen, war normal, befremdend wirkte allein der wilde Harpunierer. Die Matratze hatte ihren Wechsel

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von der öffentlichen in die private Sphäre noch nicht vollzogen, als Melville schrieb, doch der Prozess befand sich in vollem Gang. Entscheidend ist zudem, dass der Regelverstoß im Fall einer Persönlichkeit wie Žižek symbolischer, rhetorischer Natur ist, dass es sich, wie Elena Zanichelli argumentiert, um Repräsentation als Rhetorik handelt. Man braucht nur ein paar Zeilen von Žižeks Wikipedia-Eintrag zu lesen, um zu merken, dass er nicht ständig auf der faulen Haut liegen kann. Alles in allem kommt er auf ungefähr 80 Buchtitel. Auch Sloterdijk ist ein Akkordschreiber. Beide haben sich durch die gesamte westliche Philosophie inklusive ihrer Randgebiete gelesen, immens schwierige Themen behandelt und massive Textmengen veröffentlicht. Der Verdacht kommt auf, dass Žižeks und Sloterdijks Bettlägerigkeit nur Pose ist, dass sie uns hinters Licht führen, ja geradewegs an der Nase herumführen wollen. Ich würde ihr Manöver rhetorisch nennen. Sie reihen sich damit in eine Tradition, die ich versucht habe, in meinem Buch Doing Nothing nachzuzeichnen. Samuel Johnson, der vorgab, sich in kein Zeitkorsett zwängen zu lassen, der seinen Freunden im Pub vorflunkerte, dass ihm seine Aufsätze binnen Minuten aus der Feder flossen, und der sich bewusst nachlässig gab, war in Wirklichkeit ein Arbeitsfanatiker, der fast eigenhändig ein Wörterbuch der englischen Sprache verfasste. Während er vor aller Welt seine Verachtung für Ehrgeiz und Eifer verkündete, geißelte er sich zeitlebens in seinem Tagebuch dafür, nicht früher aufgestanden zu sein und beflissener gearbeitet zu haben, um in noch mehr Werken daran zu erinnern, wie wenig ihm Werke bedeuteten. 200 Jahre später lösten die Filmregisseure Kevin Smith und Richard Linklater, die sich gerne locker und leger geben, den „Slacker-Boom“ der 1990er Jahre aus. Im wirklichen Leben rackern beide ohne Unterlass. Smith verfasste in den letzten 20 Jahren Drehbücher für zirka 25 Filme und Fernsehserien und hat eine noch größere Anzahl gedreht und produziert. Silent Bob, die fiktive Figur, die er in vielen seiner Filme spielt, ist zu faul, den Mund aufzumachen. In der Zwischenzeit mimte Jack Kerouac den Dharma Bum, der es auf nichts anderes anlegte, als in Tanger oder in einem verschlafenen mexikanischen Kaff mit einer Flasche Wein herumzuhängen. Eigentlich wollte er nur zurück ins Haus seiner Mutter in North Carolina, um Tag und Nacht an der Schreibmaschine zu sitzen. In einem Manifest pries er die „spontane Prosa“, den freien Wortfluss, der sich die Mühe nachfol-

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gender Korrekturen spart. Wer das Originalmanuskript von Unterwegs gesehen hat, weiß allerdings, dass der Text intensiv redigiert wurde. Kerouac hat seine Prosa überarbeitet, überarbeitet und noch einmal überarbeitet. Er war von seiner Arbeit besessen. Man könnte endlos weitere Beispiele anführen. Rückt man einem Faulpelz näher auf die Pelle, wird man fast unfehlbar entdecken, dass sich darunter ein Arbeitstier verbirgt. Man muss wirklich suchen, denn ein echter Faulpelz wäre viel zu faul, um Spuren seines Nichtstuns zu hinterlassen. Auch das Gegenteil trifft übrigens zu. Berühmte Apostel der Arbeitsmoral entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als latente Däumchendreher. Benjamin Franklin verstand es, markige Aussprüche zu prägen, die Max Weber als Musterbeispiele der protestantischen Wirtschaftsethik begriff: „There are no gains without pains“; „Sloth, like rust, consumes faster than labor wears, while the used key is always bright“; „Early to bed, early to rise, makes a man healthy, wealthy and wise“. Alles nur heiße Luft. Ungeachtet seines Geredes war Franklin privat ein Freund des „Luftbads“, bei dem der Patient bei offenen Fenstern stundenlang nackt im Bett liegen musste. Als John Adams nach dem Unabhängigkeitskrieg der 13 Kolonien als Mitglied der amerikanischen Delegation zu den Friedensverhandlungen mit Großbritannien nach Paris entsandt wurde, war er entsetzt von Franklins Indolenz. Er täte nichts, meldete Adams der Regierung in Washington, als mit den Frauen zu tändeln, und nur wenn es ans Essen ging, erschien er pünktlich. In den sechs Wochen, die er in Paris war, schrieb Adams, hätte Franklin keinen Finger gerührt. Mit meiner Beobachtung, dass in jedem Nichtstuer ein Arbeitstier steckt, will ich natürlich nicht andeuten, dass alle Schriftsteller Lügner sind, obwohl das nicht selten zutrifft. Sondern eher, dass die Männer – denn um solche handelt es sich zumeist – vom Orden der Matratze keine effektiven Missionare ihrer Glaubensrichtung abgeben und dem Leistungszwang wenig entgegenzusetzen haben, da sie ja nicht einmal sich selbst und ihre überdisziplinierten Leben reformieren können. Die Prediger des Evangeliums der Entspannung, wie William James sie nannte – selbst ein Workaholic, der sich gegen die Frohbotschaft der Arbeit, die von den Kanzeln Amerikas verkündet wurde, wandte –, oder die Horizontalen, wie Thomas Mann sie nannte, bilden keine richtige Oppositionspartei, denn eigentlich sind sie ein Teil des Systems

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der Repräsentation, ein Teil des Regimes. Sie reden von Faulheit, sie reden davon, dass Ruhe und Nichtstun notwendige Aspekte einer funktionierenden Gesellschaft sind, und gleichen darin den Fürsprechern des Fleißes. Wir stehen – oder liegen – in jedem einzelnen Moment vor der Wahl, ob wir uns an die Arbeit oder ein Nickerchen machen, ob wir es angehen oder es sein lassen, ob wir den Tag nutzen oder in den Tag hineinträumen sollen. Dabei stützen wir uns auf die Matrize unserer Werte, die uns zugleich als Entscheidungshilfe und als Ausrede dienen kann, denn sie bestimmt, welchen Wert wir auf Wissensgewinn, auf Gespräche und auf gemeinsame Wahrheitsfindung oder auf Fantasie und Muße legen. Wir können die Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer ebenso genießen wie die Absonderung von der Außenwelt. Die Matrize hebt sich auf diesem Weg selbst auf – ein Wert annulliert den anderen. So kann es geschehen, dass die Matrize die Matratze zerstört, dass sie uns die Matratze als Fluchtort verleidet, als Refugium, wo wir frei sind von jenen Ängsten, die eine Matrize auslöst, die überspitzte, widersprüchliche Werte auf uns herniederhageln lässt. Wenn wir mit der Matrize ins Bett gehen und uns dort von Sorgen geplagt hin und her wälzen, verliert die Matratze ihren Wert. Im Fall von Jacob Riis – der, wie Angelika Bartl ausführt, das Private durch Öffentlich-Machung auslöschte – geschah dies, wenn die Explosion des Blitzlichtpulvers das Fotomotiv in Brand setzte. Mehrere Mietshäuser, die Riis fotografieren wollte, fingen Feuer und mindestens eines brannte nieder. Bartls Beitrag macht zudem Folgendes deutlich: Der Versuch des Dokumentarischen, Authentizität zu garantieren – die Matratze in eine Wissensmatrize einzufügen –, gilt bei Taugenichtsen als völlig untauglich. Die suhlen sich lieber in der Künstlichkeit. Dafür befriedigen sie die Lust, von der Bartl spricht: die Schaulust des Voyeurs. Nicht nur ihre geheimen Gedanken, auch unsere eigenen geheimen Gedanken werden aufgedeckt. Wir werden Zeugen einer Peepshow, einer Beichte. Anhand der Fotografie eines Hotelzimmers von Wolfgang Tillmans demonstriert Bartl, wie der vorgespiegelte Einblick in die Privatsphäre de facto öffentlich und bis ins Detail durchinszeniert ist. Die Slacker-Story macht kein Geheimnis aus ihrer Künstlichkeit, siehe etwa The Big Lebowski. Aber welche Rolle spielt der merkwürdige Cowboy, der die Filmhandlung kommentiert? Der Cowboy ist eine interessante Figur, denn er verdient sein Brot damit, womit andere sich bloß die Zeit vertreiben. Als er zum Nationalsymbol Amerikas aufstieg, war das Reiten

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bereits reine Freizeitbeschäftigung geworden. Noch etwas zeichnet ihn aus: sein hartgesottenes Einzelgängertum. Er schläft buchstäblich ohne Matratze und trabt entlang der Grenze, die den Tagelöhner vom Tagedieb scheidet. Grenzgänger wie der Cowboy oder der als Taugenichts posierende Künstler zeigen uns, wo die Trennlinie verläuft, aber sie helfen weder uns noch sich selbst aus der Klemme. Für die gesamte Thematik lässt sich kein besseres Sinnbild ersinnen als die Couch Sigmund Freuds. Dort, in der weichen Polsterung der Matratze, soll alle Rhetorik versiegen, soll die Wortgewandtheit der stillen Ruhe weichen. Bettgeflüster, sagt man, sei ehrlicher als öffentliche Rede. Der Traum gilt in der Freud’schen Theorie ebenso wie in der Umgangssprache als unzensierter Ausdruck verborgener Wünsche. Auf der Couch entspannt sich der Patient, versinkt in eine private, heimelige Stimmung und wird dadurch empfänglich für die Annihilation des Privaten. „Wo Es war, soll Ich werden.“ Der Psychoanalytiker deutet den aus der Tiefe des Schlafs gehobenen Traum und verwandelt Bettgeflüster in den Stoff, aus dem Analysen sind. Die Freud’sche Matrize benutzt die Matratze, um die Matratze aus der Welt zu schaffen. Können wir jetzt ein Nickerchen einschieben? Wie ich gehört habe, wird mancherorts, nicht allzu fern von Bremen, die altehrwürdige Tradition des Nachmittagsschlafs aufrechterhalten. Die Wirtschaft der betreffenden Regionen liegt darnieder, bescheinigen Studien des Internationalen Währungsfonds. Wer sich mit der Matratze anlegt, versinkt unweigerlich in einer sehr, sehr tiefen Matrize. Das ist das dicke Ende. Wie man sich bettet, so liegt man.

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M a r i e - L u i s e A n g e re r ist Professorin für Medien- und Kulturwissenschaften/Gender Studies an der Kunsthochschule für Medien Köln. Ihre Forschung konzentriert sich auf Fragen nach Affekt und medientechnischer Entwicklung sowie nach dem Verhältnis von sozialen Fantasien und (neuen) Subjektivierungsformen. Forschungsaufenthalte sowie Gastdozenturen in den USA (San Diego und Santa Cruz), Australien (Sydney), Kanada (Ottawa und Montreal) und an anderen europäischen Universitäten. Publikationen (Auswahl): Vom Begehren nach dem Affekt, diaphanes 2007; Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics, hg. m. Bernd Bösel; Michaela Ott, Berlin/Zürich: diaphanes 2014; Desire After Affect, London: Rowman & Littlefield International 2014. A n g e l i ka B a r t l ist Kunstwissenschaftlerin und Kunstvermittlerin in Berlin. Sie forscht und lehrt zur Kunst der Moderne und Gegenwart mit Schwerpunkt auf Repräsentationen des Privaten, Ästhetiken des Dokumentarischen, Politiken der Rezeption sowie Gender und Postcolonial Studies. 2011 promovierte sie über die Frage des Politischen in dokumentarischen Repräsentationen marginalisierter Personen im Kunstfeld. Bis 2014 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen. Publikationen (Auswahl): Andere Subjekte: Dokumentarische Medienkunst und die Politik der Rezeption, Bielefeld: transcript 2012; Sehen Macht Wissen. ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, Bielefeld: transcript 2011, hg. m. Josch Hönes; Patricia Mühr; Kea Wienand; „Das reflexive Lachen der Anderen. Feministische Kunstkritik, dokumentarische Videokunst und die Frage des Politischen“, in: Frauen Kunst Wissenschaft, H. 48, 2009 („Kanones?“), S. 60–72. Fr a n z i s ka vo n d e n D ri e s c h studierte an der Hochschule für Künste Bremen und lebt und arbeitet als bildende Künstlerin in Bremen. In ihren Foto- und Videoarbeiten beschäftigt sie sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Räumen, Personen und Gegenständen. Seit 2012 ist sie als Lehrbeauftragte an der Hochschule für Künste Bremen, der KSW Akademie für Kommunikationsdesign Hamburg und der Wilhelm Wagenfeld Schule für Kunst, Design und Medien in Bremen tätig. Mit ihrer künstlerischen Arbeit ist sie in zahlreichen Sammlungen vertreten. Ausstellungen (Auswahl): Ausstellung zum Kunstpreis Ottersberg 2015; Flora & Fauna, GFF-Jahresausstellung, Bremen, 2015; PLAY, Bremen,

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2012; Internationale Photoszene Köln, Neues Kunstforum Köln, 2012; Kill Your Darlings, Städtische Galerie Bremen, 2011; Mein Haus. Mein Äffchen. Mein Pferd, Galerie Dechanatstraße Bremen, 2011; Manieren. Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten, Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, 2009; Kolkata Heritage Photo Project im Willy Brandt Haus, Berlin, 2007, im Deutschen Architektur Museum, Frankfurt am Main, 2008, in Mumbai, Indien, 2014. K a t h a r i n a E c k hat 2015 ihre Promotion abgeschlossen; in ihrer Doktorarbeit untersucht sie das Thema des In-Beziehung-Setzens mit Bildtapeten, den sogenannten Papiers Peints, und analysiert exemplarisch Bildtapetenräume mit einem Fokus auf Paarungen bzw. Geschlechteranordnungen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen in Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, Mitglied des Forschungsfelds wohnen +/– ausstellen und Projektkoordinatorin des Forschungsverbunds am MSI: Wohnseiten. Deutschsprachige Zeitschriften zum Wohnen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart und ihre medialen Übertragungen. Sie hat neben einem Abschluss des Masterstudiengangs „Historische Kunst- und Bilddiskurse/Aisthesis“ (Eichstätt, München, Augsburg, Paris, 2009) einen Magisterabschluss mit dem Hauptfach Komparatistik (Tübingen, 2006) und interessiert sich insbesondere für transdisziplinäre Fragestellungen der Literatur- und Bildwissenschaft. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Interieurgestaltungen sowie Theorie des Interieurs und Wahrnehmungsstrukturen, philosophische Ästhetik, Gender Studies in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800, hg.m. Astrid Schönhagen, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen +/– ausstellen, Bd. 2); „Donnant Naissance à la Volupté: Die Amor und Psyche-Tapetenszenen in (kon-)textuellen Ordnungen des Einrichtens um 1800“, in: Barbara von Orelli-Messerli (Hg.): Ein Dialog der Künste. Beschreibungen von Innenarchitektur und Interieurs in der Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, S. 39–53; „Papiers Peints und ihre Wandgeschichten. Kategorisierungs- und Diskursivierungsstrategien für französische Bildtapeten“, in: Elisabeth Fritz et al. (Hg.): Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und historischem Diskurs, Heidelberg 2012, S. 293–308.

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Biografien

I n s a H ä r t e l ist Professorin für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University Berlin. Forschungsschwerpunkte: Konzeptionen kultureller Produktion/kulturelle Transformation, Raum/Fantasmen, psychoanalytische Kunst- und Kulturtheorie, Geschlechter- und Sexualitätsforschung. Publikationen (Auswahl): Kinder der Erregung. „Übergriffe“ und „Objekte“ in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher Sexualität, unter Mitarbeit v. Sonja Witte, Bielefeld: transcript 2014; Plotting against Modernity. Critical Interventions in Race and Gender, hg. m. Sabine Broeck; Karin Esders; Carsten Junker, Sulzbach i. Ts.: Ulrike Helmer Verlag 2014; Herausgeberin von Erogene Gefahrenzonen. Aktuelle Produktionen des (infantilen) Sexuellen, Berlin: Kadmos 2013. Jo h a n n a H a r t m a n n ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen in Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender und ist Mitglied des dort angesiedelten Forschungsfelds wohnen +/− ausstellen. Sie hat Gender Studies und Lateinamerikanistik in Berlin und Sussex studiert und promoviert derzeit mit einer Arbeit über Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren in der BRD. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Konzepte von Raum, Subjektivität, Körper und Geschlecht in Diskursen des Wohnens und der Stadt mit einem besonderen Fokus auf der westdeutschen Nachkriegsmoderne. Jüngste Publikationen: „How to Set a Table (and Other Things): On the Aesthetics and Politics of a Postwar West German Film about Domestic Work“, in: Interiors. Design, Architecture, Culture, H. 2, Jg. 5, 2014; „Möbel, Pläne, Körper. Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren“, in: Irene Nierhaus; Andreas Nierhaus (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014, S. 39–55 (wohnen +/– ausstellen, Bd. 1); „Figuren der Stadt. Lektüre einer Wohnungsbau-Broschüre“, in: Nordico Stadtmuseum (Hg.): „Hitlerbauten“ in Linz. Wohnsiedlungen zwischen Alltag und Geschichte. 1938 bis zur Gegenwart, Salzburg: Anton Pustet 2012, S. 180–196. G a b u H e i n d l ist Architektin, Stadtplanerin und Theoretikerin in Wien und Geschäftsführerin von GABU Heindl Architektur+. Sie realisiert öffentliche Kultur- und Sozialbauten, Stadtplanungskonzepte sowie Ausstellungen und forscht und publiziert zu Arbeit, Urbanität und öffentli-

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chem Raum. Seit 2013 ist sie Vorstandsvorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. Sie hat Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien, an der Geidai University in Tokio und an der Princeton University studiert. 2004–2007 lehrte sie an der TU Delft und an der TU Graz, seit 2007 lehrt sie am Institut für Kunst und Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie hat zahlreiche Diskussionsveranstaltungen konzipiert, Ausstellungen kuratiert und war selbst an diversen Ausstellungen beteiligt, u.  a. Biennale Venedig 2009; Hongkong/Shenzhen Biennale for Architecture 2009, u.  a. mit Mock-ups in Close-up. Architekturmodelle im Film 1919–2014, gemeinsames Projekt mit Drehli Robnik. Publikationen (Auswahl): position alltag/architecture in the context of everyday life, hg.m. M. Bogensberger, Graz: Haus der Architektur 2009; Herausgeberin von Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus, Wien: Turia + Kant 2008; zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, u.  a. Journal for Architectural Education, Umbau, Volume, derive. K a t h r i n H e i n z ist Kunstwissenschafterin. Sie ist Leiterin und Geschäftsführerin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst und Gender (MSI) und Leiterin des Forschungsfelds wohnen +/– ausstellen in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem MSI. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Konzeptionen von Künstler- und Autorschaft in der Moderne und Geschlechterforschung. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin von FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Aktuelle Publikation: Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg, Bielefeld: transcript 2015. H e i d i H e l m h o l d ist Professorin für Ästhetische Theorie und Praxis am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Affektpolitiken von Raum, Materielle Kultur, Raum/Körper-Performanzen. Laufendes Forschungsprojekt: Strafende Räume – Empirische Studie zum Umgang mit Hafträumen in einer Justizvollzugsanstalt. Schwerpunkte in der künstlerischen Lehre: Social Activism auf der Plattform KisA (= Kunst in sozialen Anforderungen), künstlerische Arbeit mit Studierenden in Altenheimen und Flüchtlingswohnheimen; Performances und Rauminstallationen. Publikationen (Auswahl):

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Affektpolitik und Raum. Zu einer Architektur des Textilen, Köln: Buchhandlung Walther König 2012; Abreißen oder Gebrauchen. Nutzerperspektiven einer 50er-Jahre-Architektur, hg.m. Christina Threuter, Berlin: Jovis 2012; Strafende Räume. Wohnpraxen im Strafvollzug, Bielefeld: transcript (im Erscheinen). I l a r i a H o p p e hat Kunstgeschichte, Philosophie und italienische Literatur an der Universität Düsseldorf und an der TU Berlin studiert. 1997–2000 war sie Promotionsstipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg Die Renaissance in Italien und ihre europäische Rezeption an der Universität Bonn. 2004 hat sie an der TU Berlin promoviert; die Dissertation Die Räume der Regentin. Die Villa Poggio Imperiale zu Florenz erschien 2012 im Reimer Verlag. Seit 2005 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Moderne des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist dort u.  a. für den Lehrexport in den transdisziplinären Studiengang Gender Studies zuständig. Im Sommersemester 2015 hatte sie die Vertretung des Lehrstuhls Frühe Neuzeit am Institut für Kunst- und Bildgeschichte inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kunst Italiens in der Frühen Neuzeit, Frauen- und Geschlechterforschung, Architektur und Raumtheorie sowie Urban Art, woraus auch das Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel „Urban Art. Zum Verhältnis von Urbanität und Kunst in der Gegenwart“ hervorgeht. C h ri s t i a n e Ke i m ist Kunstwissenschaftlerin und Universitätslektorin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen sowie assoziierte Wissenschaftlerin am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender. Forschungsschwerpunkte: Gender, Visual Studies, Künstlerwohnen, Architektur und Wohnen in den 1920er Jahren, Erinnerung und Raum. Publikationen (Auswahl): Architektur im Film. Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie, hg. m. Barbara Schrödl, Bielefeld: transcript (im Erscheinen). „Performative Räume – Verführerische Bilder – Montierte Blicke. Zur Konstruktion von Geschlecht im Interieur“, in: Stephan Moebius; Sophia Prinz (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 142–162; „Im richtigen Leben ankommen: Alison und Peter Smithsons ‚Solar Pavilion‘ in Fonthill und das Vorführen der ‚Kunst des Bewohnens‘“, in: Irene Nierhaus; Andreas Nierhaus

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(Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 1), S. 223–243. S o n j a K i n z l e r studierte Neuere und Neueste Geschichte, Landesgeschichte, Amerikanische Kulturgeschichte und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Magisterarbeit befasste sich mit der Rezeption der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung im schwäbischen Nördlingen im 19. und 20. Jahrhundert. Für ihre Promotion zur Geschichte des Schlafs (2005) wechselte sie an die International University Bremen. Von dort ging es weiter ans Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseum, wo sie zwei Jahre tätig war, um sich anschließend in Bremen mit RETROKONZEPTE selbstständig zu machen. Sie ist als Dozentin, Autorin und vor allem als Ausstellungskuratorin in Norddeutschland und Nordeuropa aktiv. Ihre Ausstellungen sind vor allem historischer Natur, dazu kommen Wissenschaftsausstellungen. Nähere Informationen: www.retrokonzepte.de. E l ke K r a s ny ist Kulturtheoretikerin, Stadtforscherin, Kuratorin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien. 2014 hatte sie das City of Vienna Visiting Professorship for Urban Culture and Public Space an der Technischen Universität Wien inne, 2013 eine Gastprofessur an der Akademie der bildenden Künste Nürnberg. 2012 war sie Visiting Scholar am Canadian Center for Architecture, 2011–2012 Visiting Artist an der Audain Gallery (Simon Fraser University, Vancouver) und 2011 Visiting Curator am Hongkong Community Museum. 2006 hatte sie eine Gastprofessur am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen inne. Kuratorische Arbeiten (Auswahl): Suzanne Lacy’s International Dinner Party in Feminist Curatorial Thought, 2015; Über die Kunst des Haushaltens im 21. Jahrhundert, mit Regina Bittner, 2015; Hands-On Urbanism. The Right to Green, 2012; Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture, 2008; Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien, 2008. To b i a s L a n d e r ist Lehrbeauftragter am Kunstgeschichtlichen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Studium an der Schule für Gestaltung Basel und der Universität Freiburg, 2009 Promotion. 2001

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Preisträger der Dr.-Peter-Deubner-Stiftung für aktuelle kunsthistorische Forschung, 2010 Finalist des Terra Foundation for American Art International Essay Prize. Forschungsschwerpunkte: Moderne und zeitgenössische Kunst und Fotografie, Designgeschichte, kunstwissenschaftliche Hermeneutik. Publikationen (Auswahl): Coca-Cola und Co. Die Dingwelt der Pop Art und die Möglichkeiten der ikonologischen Interpretation, Petersberg: Michael Imhof 2012; „Bilder lügen nicht. Pressebild und Kontextdetermination in Allan Kaprows Layout für ‚Die Zeit‘ vom 20. März 1981“, in: Alice Pechriggl; Annamaria Schober (Hg.): Hegemonie und die Kraft der Bilder, Köln: Herbert von Halem 2013, S. 202–227; „Der schöne Schein der bunten Hülle. Warenverpackungen in der Kunst“, in: Michael Fisch; Ute Seiderer (Hg.): Haut und Hülle. Umschlag und Verpackung. Techniken des Umschließens und Verkleidens, Berlin: Rotbuch 2014, S. 154–177. A n g e l i ka L i n ke ist seit 2000 Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich sowie ständige Gastprofessorin an der Universität Linköping, Schweden. 2005 war sie Gastprofessorin an der Washington University in St. Louis und 2009/10 als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Forschungsschwerpunkte sind die Kommunikationsgeschichte der Neuzeit, kulturanalytische Linguistik, Kulturgeschichte der Körpersemiotik sowie historische Sozio- und Textlinguistik. Publikationen (Auswahl): „Körperkonfigurationen: Die Sitzgruppe. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Gespräch, Körpern und Raum“, in: Peter Ernst (Hg.): Historische Pragmatik, Berlin: de Gruyter 2012, S. 185–214; „Historische Semiotik des Leibes in der Kommunikation: Zur Dynamisierung von Körper und Sprache im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert“, in: Arnulf Deppermann; Angelika Linke (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton, Berlin: de Gruyter 2010, S. 129–162; Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, hg.m. Thomas Forrer, Zürich: vdf Hochschulverlag 2014. To m L u t z ist der Gründer und Chefredakteur der Los Angeles Review of Books. Seine Bücher Doing Nothing: A History of Loafers, Loungers, Slackers, and Bums (2006, American Book Award), Cosmopolitan Vistas: American Regionalism and Literary Value (2004, Choice Outstanding Academic Title), Crying: The Natural and Cultural History of Tears (1999, New York Times Notable Book) und American Nervousness, 1903: An Anecdotal History (1991, New York Times Notable Book) wurden in zwölf Sprachen übersetzt

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und standen auf den Bestseller-Listen der New York Times und der Los Angeles Times. Erzählungen und Aufsätze erschienen u.  a. in den Zeitungen und Literaturzeitschriften New York Times, Los Angeles Times, New Republic, Chicago Tribune, Die Zeit, ZYZZYVA, Exquisite Corpse, Salon.com, Black Clock und Iowa Review sowie in zahlreichen Büchern und Fachzeitschriften. Lutz unterrichtete an der Stanford University, der University of Iowa, dem California Institute of the Arts und der Universität Kopenhagen. Gegenwärtig ist er Professor an der University of California, Riverside. I re n e N i e r h a u s ist Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Sie ist Leiterin des Forschungsfelds wohnen +/– ausstellen des Mariann-Steegmann-Instituts. Kunst & Gender in Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen. Seit 2009 ist sie Mitglied des Editorial Board von Interiors: Design, Architecture, Culture Journal, seit 2013 ist sie im Beirat von FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte zur visuellen und räumlichen Kultur, insbesondere zu Beziehungen zwischen Kunst, Architektur und bildnerischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart; medientransversale und theoretisch orientierte Studien zu Bild und Raum mit dezidierter Gegenstandsorientiertheit in kulturwissenschaftlicher Kontextbildung. Publikationen, u.a: Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, hg.m. Andreas Nierhaus, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen +/− ausstellen, Bd. 1); Landschaftlichkeit zwischen Kunst, Architektur und Theorie, hg.m.Josch Hoenes; Annette Urban, Berlin: Reimer 2010; Urbanografien: Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie, hg.m. Elke Krasny, Berlin: Reimer 2008; RÄUMEN: Baupläne zwischen Raum, Geschlecht, Visualität und Architektur, hg.m. Felicitas Konecny, Wien: Selene 2002; Arch6: Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999. Artikel u.  a.: „Im Auge des Piloten. Ordnungen des Territorialen in der Aeropittura des Futurismus“, in: Angelika Bartl et   al. (Hg.): Sehen < > Macht < > Wissen. ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, Bielefeld: transcript 2011, S. 59–74; „Landscapeness as Social Primer and Ground: Visual and Spatial Processes Between Biopolitics, Habitation and the Body“, in: Peter Mörtenböck et   al. (Hg.): Space-Resolution, Bielefeld: transcript 2011, S. 29–42; „The Modern Interior as Geography of Images, Spaces and Subjects: Mies van der Rohe’s and Lilly Reich’s

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Villa Tugendhat 1928–1931“, in: Penny Sparke et al. (Hg.): Designing the Modern Interior: From the Victorians to Today, Oxford/New York: Berg 2009, S. 107–118. A l i c e P e c h r i g g l ist Philosophin und Gruppenpsychoanalytikerin und seit 2003 Professorin für Philosophie an der Universität Klagenfurt. Nach dem Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und der Alten Geschichte an den Universitäten Wien und Florenz sowie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris war sie Gastprofessorin an der Université Paris 8 Vincennes-Saint Denis, der Université Paris 1 Sorbonne und der Universität Wien („Gender Kolleg“ für Graduierte, 2000–2003). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der philosophischen Geschlechteranthropologie (Körperimaginäres), der Geschichte der Philosophie und der Politischen Theorie. Publikationen (Auswahl): Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns, Bielefeld: transcript 2006; Eros, Wien: WUV-Facultas/ UTB 2009. A n n a - K a t h a r i n a R i e d e l ist Master-Studierende der Kunstpädagogik, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen. Ihre Interessen- und Studienschwerpunkte sind Geschlechter- und Subjektkonzepte sowie Rassismus und daraus resultierende Macht- und Gesellschaftsstrukturen. Dabei ist ihr Forschungsansatz intersektional und häufig interdisziplinär. D re h l i Ro b n i k ist Filmtheoretiker, Gelegenheitsfilmkritiker und Edutainer. Er war 1995–2012 als Lektor an Filmwissenschafts- und Medienkunst-Instituten in Wien, Brno und Frankfurt a.  M. tätig und hat 2012–2015 an einem FWF-Forschungsprojekt zur politischen Theorie des gegenwärtigen europäischen Horrorfilms gearbeitet. 2007 hat er an der Universität Amsterdam promoviert. Er forscht zu Beziehungen von Film, Geschichte und Politik mit Schwerpunkten Nazismus und Zweiter Weltkrieg im Film (v.  a. Horrorfilm, Comedy) sowie Deleuze, Rancière, Kracauer und politische Filmtheorie. Derzeit bereitet er ein Forschungsprojekt zu Siegfried Kracauers Kino-Denken als politischer Filmtheorie vor. Publikationen (Auswahl): Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière, Wien/Berlin: Turia + Kant 2010; Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im

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Film, Wien/Berlin: Turia + Kant 2009; Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer, hg.m. Amalia Kerekes; Katalin Teller, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013; Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, hg.m. Thomas Hübel; Siegfried Mattl, Wien/ Berlin: Turia + Kant 2010. A n d re a s Ru m p f h u b e r ist praktizierender Architekt und Architekturtheoretiker mit Forschungsschwerpunkt Architektur und Ökonomie, Räume der Arbeit und des Wohnens. Zurzeit leitet er das Forschungsprojekt Das Büro der Gesellschaft des Österreichischen Wissenschaftsfonds und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste in Wien. 2013 hat er das vom ihm mitinitiierte Projekt des europäischen Forschungsrats (ESF/HERA) Scarcity and Creativity in the Built Environment über Knappheitsdiskurse und Stadtentwicklung mit Fokus auf öffentlichen Wohnungsbau abgeschlossen. Er war Initiator der nicht-institutionellen Seminarreihe Theoriesalon in Wien (2011–2014). Publikationen (Auswahl): Architektur immaterieller Arbeit, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013; The Design of Scarcity, hg.m. Jon Goodbun et al., Moskau: Strelka Press 2014; Modeling Vienna, Real Fictions in Social Housing, Wien/Berlin: Turia + Kant 2014. G e o rg e s Te ys s o t ist Professor an der École d’Architecture der Université Laval in Québec, Kanada. Er hat Geschichte und Theorie an der Universität für Architektur Venedig, an der School of Architecture in Princeton, am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich sowie an der Architekturfakultät der Universität Tel Aviv unterrichtet. Er verfasste die Einführung zu Flesh: Architectural Probes (1995, 2011) von Diller + Scofidio. Gemeinsam mit Diller + Scofidio kuratierte er 1998 die Ausstellung „The American Lawn“ im Canadian Centre for Architecture. Publikationen (Auswahl): A Topology of Everyday Constellations, Cambridge (MA): MIT Press 2013 (Writing Architecture); Walter Benjamin. Les maisons oniriques, Paris: Hermann 2013; The American Lawn, New York: Princeton Architectural Press 1999; The History of Garden Design, 2. Aufl., London: Thames & Hudson 2000; Die Krankheit des Domizils. Wohnen und Wohnbau 1800–1930, Braunschweig: Vieweg 1989. S i by l l e Tr awö g e r studierte Bio- und Umwelttechnik in Wels und München sowie Katholische Religionspädagogik und Fachtheologie in

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Linz und Graz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität in Linz. Der Arbeitstitel ihres Dissertationsprojekts lautet: „Zur Relevanz einer Ästhetik des Performativen für die Fundamentaltheologie“. Forschungsschwerpunkte: Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, interdisziplinäre Auseinandersetzung mit ausgewählten kunst- und kulturwissenschaftlichen Theorien. Publikationen (Auswahl): „‚Perspektiven‘ im interdisziplinären Dialog. Eine Annäherung an Beobachter- und Teilnehmerperspektive“, in: Anna Maria Riedl et al. (Hg.): Interdisziplinarität – eine Herausforderung für die christliche Sozialethik, Münster: Aschendorff 2014, S. 53–72; zus. mit Ansgar Kreutzer: „Distanziert oder involviert? Beobachter- und Teilnehmerperspektive im Verhältnis von Theologie und Soziologie“, in: Ansgar Kreutzer; Franz Gruber (Hg.): Im Dialog. Systematische Theologie und Religionssoziologie, Freiburg u.a.: Herder 2013, S. 23–55. E l e n a Z a n i c h e l l i ist Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Kuratorin und seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kunstgeschichte an der Leuphana Universität in Lüneburg. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, der Film- und Literaturwissenschaft in Parma, Bonn und Zürich wurde sie mit einer Arbeit über das Private in der Kunst der 1990er Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin 2012 promoviert. Neben Lehrtätigkeiten an der Humboldt-Universität (2008–10), der Universität der Künste in Berlin (2012–14) und der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg (2012/13) wirkte sie an verschiedenen Kunstinstitutionen und Ausstellungsprojekten mit (u.a. documenta 12, Kassel 2007). Zuletzt kuratierte sie „Women in Fluxus and Other Experimental Tales“ (Reggio Emilia, Palazzo Magnani 2012/13). Die auf ihrer Dissertation beruhende Monografie Privat. Bitte eintreten! Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre erschien 2015 im transcript Verlag.

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wohnen+/-ausstellen Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen (Hg.) Interieur und Bildtapete Narrative des Wohnens um 1800 2014, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2418-2

Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus (Hg.) Wohnen Zeigen Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur 2014, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2455-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de