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German Pages 128 Year 2012
Mathematik ist überall von
Norbert Herrmann 4., korrigierte Auflage
Oldenbourg Verlag München
Dr. Dr. h.c. Norbert Herrmann lehrte von 1970 bis 2007 angewandte Mathematik an der Universität Hannover. 2002 erhielt er die Ehrendoktorwürde der britischen Brunel University.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Johannes Breimeier Herstellung: Dr. Rolf Jäger Titelbild: Norbert Herrmann Grafik: Irina Apetrei Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik & Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-71291-9 eISBN 978-3-486-71610-8
Vorwort zur 4. Auflage Für jeden Autor ist es eine besondere Freude, wenn eines seiner Werke in der 4. Auflage erscheint. Und so bin auch ich sehr glücklich und möchte zuerst meinem Lektor Johannes Breimeier und dem Oldenbourg Wissenschaftsverlag ganz herzlich danken. Zugleich aber danke ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser; denn nur durch Ihr Zutun konnte das geschehen. Ich danke Ihnen, dass Sie meine Bücher selbst gelesen und offensichtlich anderen weiterempfohlen haben. Viele Zuschriften, die mich per email erreicht haben, zeigen mir Ihr großes Interesse an meinen Büchern. Gerade in letzter Zeit sehen wir, dass immer mehr Autofirmen ihre Fahrzeuge mit Assistenzsystemen ausrüsten, u. a. bieten viele Firmen einen sog. Einparkassistenten an. Dieser sucht, wenn er zugeschaltet ist, automatisch den Straßenrand nach einer geeigneten Parklücke ab und gibt im Erfolgsfall einen Hinweis, dass er bereit ist, unser Auto vollautomatisch in diese Parklücke zu manövrieren. Wir als Autofahrer müssen nur noch Gas geben und bremsen. Es erfüllt mich mit einer gewissen Genugtuung, dass hinter dieser Technik unsere Einparkformel im Kapitel 6 (vgl. ab Seite 39) steht, so wie ich sie bereits im Jahre 2003 in einem Beitrag im Fernsehen vorgestellt habe, vgl. [12]. Es ist doch wunderschön, wenn diese ach so abstrakte Mathematik unseren Alltag mit einer solchen Formel erleichtert. Norbert Herrmann
Vorwort Es war einmal eine Gruppe von Abgeordneten im Bundesstaat Utah der Vereinigten Staaten von Amerika, so um das Jahr 1875 herum. Unter ihnen war James A. Garfield. Die saßen in einer Sitzungspause ihres Parlamentes wohl in der Kantine. Und um sich nicht zu langweilen, schlug einer der ihren, nämlich Herr Garfield, vor, sich doch mal den Pythagoras anzuschauen. Wenn dieser berühmte Satz schon vor 2000 Jahren betrachtet und bewiesen wurde, möchte er sich gerne einen neuen Beweis ausdenken. Zusammen mit seinen Kollegen arbeiteten sie ein Weilchen, und Garfield entdeckte folgende Konstruktion: C
•
β
B
α A • β
•
α
D
E
Abbildung 1: Skizze zum Beweis des Satzes des Pythagoras.
Gegeben sei das schraffierte rechtwinklige Dreieck ABC. Wir zeichnen dieses Dreieck noch einmal etwas gedreht darunter, so dass die Seite AD genau in der Verlängerung der Seite AC liegt. Die Verbindungslinie EB vervollständigt dann die Figur zu einem Trapez; denn die untere Seite ist wegen der rechten Winkel parallel zur oberen Seite. Bei A stoßen die beiden Dreiecke mit ihren Winkeln α bzw. β zusammen. Wegen der Rechtwinkligkeit ergänzen sich diese beiden Winkel zu 90◦ , woraus wir sofort
VIII
Vorwort
schließen, dass der übrig bleibende Winkel bei A ebenfalls ein rechter ist. Schließlich sind die drei Winkel zusammen ja 180◦ . Nun bleibt die kleine Aufgabe, den Flächeninhalt des Trapezes (Mittellinie mal Höhe, wobei Mittellinie gleich (Grundlinie + Oberlinie)/2) mit der Summe der Flächeninhalte der drei rechtwinkligen Dreiecke zu vergleichen. a · b c2 a+b · (b + a) = 2 · + . 2 2 2 Schlichte Auflösung ergibt die Formel des Herrn Pythagoras: a2 + b2 = c2 , Die Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den beiden Katheten ist also gleich dem Flächeninhalt des Quadrates über der Hypotenuse. Diesen Beweis reichte Herr Garfield zur Veröffentlichung ein und tatsächlich wurde der Beweis in der Zeitschrift New England Journal of Education publiziert. Das alles wäre ja schon an sich der Erwähnung wert, dass da Abgeordnete waren, die sich in einer Sitzungspause mit Mathematik beschäftigten. Aber jetzt kommt der noch erstaunlichere Punkt. Der Wortführer dieser Mathefreaks, nämlich James A. Garfield wurde wenig später Präsident der Vereinigten Staaten. Das muss man auf der Zunge zergehen lassen. Da gab es mal vor urlanger Zeit, im vorvorigen Jahrhundert einen Präsidenten der USA, der einen neuen Beweis für den Pythagoras veröffentlicht hat. Er konnte diesen berühmten Satz also nicht nur hersagen, sondern hat ihn vollständig durchdrungen und dann sogar bewiesen. Wir wagen ja nicht eine solch lästerliche Behauptung, dass heutige Politiker vielleicht den Satz des Pythagoras für eine neue Kollektion von Bettwäsche halten. Aber dass sich damals Abgeordnete in ihrer Freizeit mit mathematischen Problemen herumgeschlagen haben, stimmt doch erstaunlich. Heute dringt jedem Mathematiker, der sich durch Preisgabe seines Berufes fast outet, sofort die freudige Botschaft entgegen: In Mathe war ich immer schlecht. Garfield blieb nur ein knappes Jahr Präsident, weil ihn dann ein wohl Verrückter im Bahnhof von Washington mit einer Pistole beschoss. Er überlebte diesen Angriff nicht lange. Ob das aber ein Grund ist, warum heutige Präsidenten, Könige, Kanzler etc. die Mathematik lieber meiden? Wir hoffen inständig, dass dieses Büchlein einen kleinen Beitrag dazu liefert, die Schönheit der Mathematik einem breiteren Publikum nahe zu bringen.
Vorwort
IX
Danken möchte ich meinem Kollegen PD Dr. Matthias Maischak, ohne den ich alle Bits und Bytes hätte persönlich nach München tragen müssen, wobei wohl viele auf der Strecke geblieben wären. Ein großer Dank geht auch direkt an meine Lektorin, Frau Margit Roth. Ihre begeisterte Aufnahme meiner Idee zu diesem Buch war sehr hilfreich. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau, die sogar voller Verzweiflung meinen häuslichen Arbeitsplatz aufgeräumt hat, während ich an anderer Stelle Unordnung im Hause verbreitet habe. Hannover
Norbert Herrmann
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
1
Das Bierdosen-Problem
1
1.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.3
Schwerpunktsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.4
Tiefste Position des Schwerpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1.5
Zweizügiges Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
1.6
Schwerpunkt einer üblichen Dose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
1.7
Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2
Das Diskuswerfer-Problem
2.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.3
Die „verschenkte“ Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.4
Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3
Das Spiegel-Problem
3.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3.2
Singlespiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3.3
Gruppenspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.4
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
11
17
3.5
Das Spiegel-Problem mathematisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
3.6
Ergebnis des Spiegel-Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
XII
Inhaltsverzeichnis
4
Das Bein-Problem
4.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
25
4.2
Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4.3
Das Physikalische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4.4
Analytische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
4.5
Zeichnerische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
4.6
Anwendungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
4.7
Eselsbrücke für π . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4.8
Bemerkungen zur Zahl π . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
5
Das Skizzen-Problem
5.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
5.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
5.3
Der „Beweis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
5.4
Ein erster Verdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
5.5
Die volle Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
5.6
Die Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
6
Das Parallelpark-Problem
6.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
6.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
6.3
Die Formeln von Rebecca Hoyle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
6.4
Kritik an Rebeccas Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
6.5
Der Wendekreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
6.6
Der Mittelpunkt des Wendekreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
6.7
Kleinster Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
6.8
Effektiver Radius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
6.9
Unser Modellauto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
6.10
Neue Formeln zum Parallelparken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
6.11
Die Formeln für ein 45◦ -Manöver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
6.12
Die optimalen Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
6.13
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
33
39
Inhaltsverzeichnis
XIII
6.14
Werte für einige Autos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
6.15
Kleine Denksportaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
7
Das Parkhaus-Problem
7.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
7.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
7.3
Das Vorwärtseinparken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
7.4
Das Rückwärtseinparken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
55
8
Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
8.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
61
8.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
8.3
Physikalischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
8.4
Das mathematische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
8.5 8.5.1
Die Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Das Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
8.6
Deutung des Ergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
8.7
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
8.8
Kleine Denksportaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
9
Das Schnecke-Rennpferd-Problem
9.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
9.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
9.3
Mathematische Formulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
9.4
Lösung der Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
9.5
Berechnung der Treffzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
9.6
Auswertung des Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
10
Das Anstoß-Problem
10.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
10.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
71
77
10.3
Vollständige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
10.4
Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
10.5
Verwandte Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
XIV
Inhaltsverzeichnis
11
Das Bierdeckel-Problem
11.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
87
11.2
Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
11.3
Physikalischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
11.4
Mathematische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
11.5
Die Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
11.6
Anwendung auf das Bierdeckel-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
11.7
Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
12
Das Wahl-Problem
12.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
12.2
Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
12.3
Das Verfahren von d’Hondt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
12.4
Das Verfahren von Hare-Niemeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
12.5
Anwendung auf die Bundestagswahl im Jahre 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
13
Das Herz-Problem
13.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
13.2
Erste Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
13.3
Weitere Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
97
105
Literaturverzeichnis
111
Index
113
1
Das Bierdosen-Problem
1.1
Einleitung
Um es gleich vorweg zu sagen: Der Autor mag keine Dosen, gleich welchen Inhalts. Der Energieverbrauch bei der Herstellung und beim Recycling ist viel zu hoch. Aber unser Problem ist für eine Dose sehr viel einfacher zu lösen wegen der guten Symmetrie. Als Mathematiker kann man die Dose wie einen Zylinder ansehen. Eine Flasche hat diesen komisch geformten Hals, der bei einer exakten Beschreibung ziemlich Kopfschmerzen bereiten dürfte. Also beschränken wir uns zunächst auf eine Dose. Später werden wir einige Bemerkungen zur Übertragung auf Flaschen anfügen.
1.2
Die Aufgabe
Eine Gruppe von jungen Leuten hat sich zum Picknick ins Freie begeben und sitzt nun irgendwo in der Natur im Gras, kämpft mit den Fliegen und – eben der Dose Bier. Denn dieses dumme Gefäß will nicht im Gras stehen bleiben, sondern umkippen und das schöne Bier den Ameisen opfern. Das ist die Aufgabe, wo Physiker und Mathematiker gemeinsam in die Hände spucken. Zunächst kommt der Physiker zu Wort: Wir idealisieren zuerst die Dose als einen vollkommen gleichmäßigen Zylinder, vergessen also den Nippel zum Öffnen an der Oberseite und die Einbuchtung an der Unterseite, lassen auch außer Acht, dass die Farbe nicht gleichmäßig auf der Oberfläche verteilt ist wegen der Beschriftung, und sehen auch über kleine Ungenauigkeiten in der Form großzügig hinweg. Es sei eine ideale zylindrische Dose. Wenn diese Dose nun noch ganz voll ist, liegt ihr Schwerpunkt aus eben diesen geforderten Symmetriegründen genau in der Mitte, klaro. Jetzt aufpassen: Wenn die Dose ganz leer ist, wo liegt dann der Schwerpunkt? Richtig, wieder genau in der Mitte.
2
1 Das Bierdosen-Problem
Wenn wir aber einige Schlucke trinken, wird der Inhalt (leider) weniger und der Schwerpunkt sinkt nach unten. Da er am Schluss wieder in der Mitte ist, folgt logischerweise, er kann nicht immer nur sinken, sondern irgendwann kehrt er um und steigt wieder nach oben bis zur Mitte. Fazit: Es gibt also einen Zustand, wo der Schwerpunkt seinen tiefsten Stand erreicht. Diesen Zustand gilt es zu bestimmen! Denn das ist ja der Punkt, wo die Dose ihre standfesteste Position einnimmt. Dann können wir sie am gefahrlosesten im Gras abstellen. Die Frage lautet also: Bei welchem Flüssigkeitsstand liegt der Schwerpunkt am tiefsten? Oder anders ausgedrückt: Bierdosen-Problem Wieviel Bier muss man trinken, damit der Schwerpunkt seinen tiefsten Stand einnimmt?
1.3
Schwerpunktsbestimmung
Jetzt müssen wir uns ein wenig mit Physik befassen. Wir bezeichnen mit •
M die Masse der vollen Dose
•
m die Masse der leeren Dose
•
H die Gesamthöhe der Dose
•
h die Höhe der Restflüssigkeit in der Dose.
Dann lehrt uns die Physik, dass der Schwerpunkt eines Körpers folgendermaßen bestimmt wird:
· r dV , S= dV
(1.1)
wobei die Integrale jeweils über das gesamte Volumen des Körpers zu berechnen sind. Hier ist die Dichte des Körpers, also die Masse pro Volumen: =
m V
1.3 Schwerpunktsbestimmung
3
Jetzt kommt voll zum Tragen, dass wir eine Dose, also einen bezüglich seiner Längsachse total symmetrischen Körper betrachten. Denn so können wir uns allein auf diese Längsachse beziehen, unser Volumenintegral also als ganz gewöhnliches Integral in Längsrichtung betrachten. Außerdem gehen wir von einer vollkommen homogenen Flüssigkeit in der Dose aus und von einer ebenso homogenen Dose. Dann gibt es drei feste Punkte. Einmal der untere Punkt der Dose, den wir als Beginn des Koordinatensystems mit 0 bezeichnen. Den Punkt, wo die Flüssigkeit zur Zeit steht, bezeichnen wir mit h. Den oberen Endpunkt der Dose nennen wir H.
· r dV S = dV h
=
0
v · x dx +
h 0
v dx +
H h
l · x dx
h
l dx
H
.
Ein Wort zur Dichte. Im Bereich von 0 bis h ist es das Bier inklusive des Dosenmaterials. Wir nennen diese Dichte v , Dichte der vollen Dose. Im Bereich von h bis H ist es nur das Dosenmaterial. Diese Dichte nennen wir l , Dichte der leeren Dose. Als Konstante können wir sowohl v als auch l jeweils vor die Integrale ziehen und erhalten: S = =
H 0 x dx + l · h x dx v · 0h 1 dx + l · hH 1 dx
v ·
h
M h V · 0 x dx + M h V · 0 1 dx +
m V m V
· ·
H h
x dx
h
1 dx
H
.
Hier können wir nun Zähler und Nenner mit V multiplizieren und erhalten S=
H 0 x dx + m · h x dx . M · 0h 1 dx + m · hH 1 dx
M·
h
Ein klein wenig Erinnerung an die Schule sagt uns dann hoffentlich, dass
x dx = x2 /2 + c1 ,
1 dx = x + c2
ist. Wegen der Grenzen am Integral fallen die Konstanten c1 und c2 heraus. So erhalten wir insgesamt die Formel für den Schwerpunkt der Bierdose, wenn sie bis zur Höhe h leer getrunken ist: S=
1 Mh2 + m · (H2 − h2 ) · 2 Mh + m · (H − h)
(1.2)
4
1 Das Bierdosen-Problem
Man beachte, dass wir keinen Fehler dadurch bekommen, dass wir den Dosenboden und die Oberseite nicht extra betrachten, sondern einfach in die Massen mit einrechnen. Damit können wir also jetzt für jede angetrunkene Dose ihren Schwerpunkt bestimmen. Wir machen mal die Probe, indem wir den Schwerpunkt der vollen Dose nach der Formel bestimmen. Unsere heuristische Vorüberlegung sagte uns doch, dass der genau in der Mitte, also bei h = H/2 liegt. Wollen mal sehen: Volle Dose bedeutet h = H, also H − h = 0. Dann fällt in unserer Formel (1.2) sowohl im Zähler als auch im Nenner jeweils der erste Term weg. Es bleibt übrig: S=
1 1 1 Mh2 · = · h = · H. 2 Mh 2 2
Tatsächlich, der Schwerpunkt liegt genau in der Mitte. Betrachten wir den zweiten Fall der leer getrunkenen Dose, also h = 0. Und wieder bleibt von der Formel (1.2) nicht viel übrig: S=
1 1 mH2 · = · H. 2 mH 2
So ein kleiner Test ist nicht wertlos, er gibt einem das Gefühl, mit der Formel nicht ganz falsch zu liegen. Die schöne Formel (1.2) gibt leider noch keinen Hinweis, wieviel man trinken muss, damit der Schwerpunkt seinen tiefsten Stand annimmt. Um das herauszufinden, gibt es zwei Wege. Der erste ergibt sich mit einer niedlichen kleinen Überlegung aus dem hervorragenden Physikbuch von Gerthsen [1]. Der zweite Weg folgt der etwas eintönigeren Analysis durch Nullsetzen der ersten Ableitung.
1.4
Tiefste Position des Schwerpunktes
Bestimmung durch Gedankenexperiment Wie wir uns eingangs überlegt haben, findet man den Schwerpunkt eines Körpers dadurch, dass wir ihn mit einer Nadel zu balancieren versuchen. Das geht natürlich nicht, wenn eine Flüssigkeit im Spiel ist. Denken wir uns daher die Flüssigkeit fest, zum Beispiel gefroren. Dann können wir die Dose getrost zur Seite legen und ihren Schwerpunkt ausbalancieren. Dabei reicht wegen der Symmetrie die Schneide eines Messers. Nun brauchen wir eine Idee. Bei unserer Vorstellung der Aufgabe haben wir eine Kleinigkeit noch nicht ausgeschöpft: Wenn der Schwerpunkt beim Trinken zunächst sinkt
1.4 Tiefste Position des Schwerpunktes
5
und dann wieder steigt, der Flüssigkeitsspiegel aber (leider) immer nur sinkt, muss der Schwerpunkt irgendwann auf der Höhe des Flüssigkeitsspiegels liegen. Halt, das sieht nach einem interessanten Punkt aus: Schwerpunkt liegt im Flüssigkeitsspiegel. Das ist in der Tat der Punkt schlechthin. Wir behaupten nämlich: Wenn der Schwerpunkt im Flüssigkeitsspiegel liegt, nimmt er seine tiefste Position an. Um das zu beweisen, denken wir uns also den Schwerpunkt im Flüssigkeitsspiegel und jetzt die Flüssigkeit eingefroren. Dann können wir die Dose seitlich legen und mit einer Messerschneide ausbalancieren. Die Messerschneide liegt genau unter dem Flüssigkeitsspiegel. Denken wir uns die volle Seite rechts und den leeren Dosenteil auf der linken Seite des Messers. Denken wir uns jetzt etwas Flüssigkeit hinzugefügt (wir vermeiden es, vom Reinspucken zu reden, meinen aber genau das), so wird die linke Seite etwas schwerer, also müssen wir mit dem Messer nach links wandern, der Schwerpunkt steigt an. Das war ja klar. Wenn wir uns jetzt aber etwas Flüssigkeit(-s-eis) entnommen denken, wir trinken also etwas, so wird rechts der Teil leichter, also kippt die Dose wieder nach links, der Schwerpunkt steigt wiederum an. Das ist der Beweis, dass der Schwerpunkt nicht tiefer wandern kann – eine wirklich hübsche Überlegung. Wir müssen also einfach nur in unserer Schwerpunktformel (1.2) die Lage des Schwerpunktes S gleich der Flüssigkeitshöhe h setzen: S = h, und schon können wir aus der entstehenden Gleichung h ausrechnen. h=S=
1 m · (H2 − h2 ) + M · h2 · 2 m · (H − h) + M · h
(1.3)
Das ist jetzt ein bisschen Algebra. Wir multiplizieren mit dem Nenner, können dann einiges wegstreichen und erhalten eine in h quadratische Gleichung: 2m(Hh − h2 ) + 2Mh2 = mH2 − mh2 + Mh2 2mHh − 2mh2 + 2Mh2 = mH2 − mh2 + Mh2 2mHh + Mh2 = mh2 + mH2 (M − m)h2 + 2mHh − mH2 = 0 h2 +
mH2 2mH h− =0 M−m M−m
6
1 Das Bierdosen-Problem
Diese Gleichung lösen wir mit der berüchtigten p–q-Formel: h1,2 = = = = =
mH mH 2 mH2 (M − m) ± − + M−m M−m (M − m)2 √ −mH ± m2 H2 + mMH2 − m2 H2 M−m √ −mH ± mMH2 M−m √ (−m ± mM)H M−m mH M −1 ± M−m m
Das negative Vorzeichen vor der Wurzel zusammen mit der −1 würde insgesamt zu einem negativen Ergebnis führen, was physikalisch sinnlos wäre. Was soll eine negative Flüssigkeitshöhe? Also wählen wir nur das positive Vorzeichen und erhalten mit Hilfe der dritten binomischen Formel unser gesuchtes Ergebnis: √ M m mH √ ·H −1 = √ (1.4) h= M−m m M+ m
Bestimmung durch analytische Überlegung Auch dieses Spiel ist leicht erledigt. Wir betrachten den Schwerpunkt als Funktion der Höhe h des Flüssigkeitsspiegels: S = S(h) =
1 m · (H2 − h2 ) + M · h2 · 2 m · (H − h) + M · h
(1.5)
Nach den Regeln der Analysis müssen wir diese Funktion nach h differenzieren und die Ableitung = 0 setzen. Dies ist eine notwendige Bedingung für ein Extremum. Wir müssten dann noch überlegen, dass die Lösung wirklich ein erwartetes Minimum gibt, indem wir die zweite Ableitung berechnen und zeigen, dass sie an dieser Stelle positiv ist. Das überlassen wir aber wirklich rechnerfreudigen Freaks. Also los geht’s. Wir benutzen die Quotientenregel: f(x) f (x) · g(x) − f(x) · g (x) = g(x) (g(x))2
1.4 Tiefste Position des Schwerpunktes
7
Dies gleich 0 bedeutet, dass wir nur den Zähler = 0 setzen müssen. Daraus folgt: − 2m2 hH + 2m2 h2 − 2mMh2 + 2mMhH − 2mMh2 + 2M2 h2 − mMH2 + mMh2 − M2 h2 + m2 H2 − m2 h2 + mMh2 = 0 Da fassen wir Manches zusammen und ordnen nach Potenzen von h: (m − M)2 h2 + 2mH(M − m)h + (m − M)mH2 = 0 (m − M)h2 − 2mHh + mH2 = 0 h2 −
mH2 2mH h+ =0 m−M m−M
Das ist eine quadratische Gleichung, die wir mit der p–q-Formel auflösen: h1,2
mH ± = m−M = = = = =
mH m−M
2 −
mH2 m−M
mH m2 H2 − mH2 + mMH2 ± m−M (m − M)2 H √ mH ± mM m−M m−M mH mH M ± m−M m−M m mH M · 1± m−M m mH M ± −1 M−m m
Wiederum wie oben sehen wir, dass hier nur das positive Vorzeichen vor der Wurzel physikalisch Sinn macht. Eine negative Höhe ist in der Praxis nicht zu gebrauchen. Also folgt als Endergebnis √ mH M m √ · H, √ − 1 = (1.6) h= M−m m M+ m was in guter Übereinstimmung mit unserer Formel (1.4) von S. 6 ist. Wie gut doch Mathematik und Physik zusammen passen.
8
1.5
1 Das Bierdosen-Problem
Zweizügiges Trinken
Die Strategie für das Picknick ist nun völlig klar. Man braucht zunächst die Maße einer Dose, also ihre Gesamthöhe, ihr Leergewicht und ihr volles Gewicht. Aber halt, in der Formel (1.4) werden doch die Massen benötigt? Keine Panik, wir multiplizieren bei beiden Brüchen sowohl Zähler als auch Nenner jeweils mit der Erdbeschleunigung g = 9.81 m/sec2 , wodurch wir ja nichts verändern (im Prinzip haben wir mit 1 multipliziert), und überall stehen statt der Massen die Gewichte:
Gleer Gvoll Gleer · H
· −1 =
·H (1.7) h= Gvoll − Gleer Gleer Gvoll + Gleer Interessante Erkenntnis am Rande. Statt der Erdbeschleunigung hätten wir natürlich auch jede andere Zahl ungleich Null verwenden dürfen, also z. B. auch die Mondbeschleunigung. Das bedeutet, unser Ergebnis hätte auch auf dem Mond Bestand. Wenn Sie also, liebe Leserin oder lieber Leser, ein Picknick auf dem Mond planen, wo der Boden ja ebenfalls sehr uneben ist, so ist unsere Formel genauso hilfreich. (Merken Sie die Doppelbedeutung dieser Aussage?) Dann haben wir folgende Schritte durchzuführen: 1. Wir wiegen zu Hause eine volle Dose Gvoll und eine leere Dose Gleer und erhalten M und m. 2. Wir messen die Höhe H der Dose. 3. Dann müssen Sie etwas rechnen und die Höhe h des tiefsten Schwerpunktes bestimmen. Vielleicht markieren Sie diesen Stand schon zu Hause auf den Dosen. 4. Beim Picknick besteht dann die Kunst im zweizügigen Trinken. Beim ersten Schluck gerade bis zu der Markierung. 5. Dann können Sie die Dose relativ gefahrlos im Gras abstellen. 6. Beim zweiten Schluck müssen Sie die Dose leer trinken.
1.6
Schwerpunkt einer üblichen Dose
Betrachten wir eine handelsübliche Dose mit 1/2 Liter Inhalt. Ihre Gesamtmasse haben wir gemessen zu M = 537 g. Weil der Inhalt ca. /2 = 500 g beträgt (Bier ist ja fast nur Wasser), hat die leere Dose die Masse m = M − 500 g = 37 g.
1.7 Schlussbemerkung
9
Das setzen wir in unsere Formel (1.4) ein und erhalten:
M −1 m 37 · 16 537 −1 = 537 − 37 37
h=
mH M−m
= 3.33 cm. Bei einer kleineren Dose von 350 ml Inhalt erhalten wir folgende Werte: Gesamtmasse M = 377 g Leermasse
m = 27 g
Gesamthöhe H = 11.5 cm
M −1 m 27 · 11.5 377 −1 = 577 − 27 27
mH h= M−m
= 2.43 cm. Da muss man also bei unseren Dosen von oben ganz schön schlucken beim ersten Mal, bevor man sie ins Gras absetzen kann. Nun, das scheint dem normalen Durstgefühl durchaus entgegen zu kommen. Vielleicht könnte man ja die Industrie bewegen, gleich die Dose mit einem Aufdruck des tiefsten Schwerpunktes zu versehen.
1.7
Schlussbemerkung
Ein Wort zu anderen Behältnissen. Unsere Überlegung, dass der Schwerpunkt seine tiefste Lage annimmt, wenn er im Flüssigkeitsspiegel liegt, trifft natürlich genau so auf andere Verpackungen von Flüssigkeiten zu. So ist unsere Überlegung richtig bei Saft- und Milchtüten, also diesen Paperbacks. Sie sind ebenso symmetrisch in Bezug auf ihre senkrechte Mittelachse. Ja, sie bleibt sogar bei Flaschen und Fläschchen voll erhalten; das ist ja das Schöne an dieser Idee. Da kann die Flasche sogar krumm und schief sein. Lediglich die Grundmaße müssten modifiziert werden, und zwar hier speziell die Gesamthöhe H. Bei Flaschen verjüngt sich der Hals nach oben zu. Da müsste
10
1 Das Bierdosen-Problem
man so einen Mittelwert finden, indem man gedanklich die Flasche oben zylindrisch abschließt. Vielleicht reicht ja der Augenschein, wieviel man da von der Höhe heruntergehen müsste, um eine grobe Näherung zu finden. Wir wollen es aber nicht übertreiben, es soll schon noch ein Spiel bleiben, und darum wünschen wir Prost!
2
Das Diskuswerfer-Problem
2.1
Einleitung
Auch und gerade im modernen Sport ist inzwischen überall Mathematik. Wir wollen hier ein wirklich kleines Beispiel vorrechnen, das in seiner Auswirkung tatsächlich etwas überraschen mag, obwohl es den Experten gewiss bekannt ist, aber wohl nicht der breiten Öffentlichkeit. Es handelt sich um ein Problem beim Diskuswerfen oder auch beim Hammerwerfen, ja selbst beim Kugelstoßen tritt es auf und kann bei Nichtbeachtung den Sieg kosten. Bei all diesen Sportarten kommt es darauf an, aus einem Wurfkreis heraus ein bestimmtes Sportgerät so weit wie möglich von sich fort zu werfen. Dabei müssen individuelle Regeln beachtet werden, die wir hier nicht auflisten wollen. Uns geht es um die gewisse Erleichterung für die Athletinnen und Athleten, dass sie ihr Gerät nicht unbedingt schnur geradeaus werfen müssen. Man offeriert ihnen eine gewisse Toleranz, die z. B. beim Diskuswurf darin besteht, dass man die Scheibe auch noch in den Raum 20◦ nach rechts und links von der Geradeauslinie befördern darf.
2.2
Die Aufgabe
Da erhebt sich unsere Frage: Diskuswerfer-Problem Wieviel Zentimeter verschenkt ein Diskuswerfer, wenn er seinen Diskus nicht genau geradeaus, sondern ein wenig seitwärts wirft?
12
2 Das Diskuswerfer-Problem
Wurf h Wurfraum w
⊗ • M
Abbildung 2.1:Wir zeigen einen normalen Wurf. Der Werfer steht beim Abwurf bei ⊗, wo meistens noch ein Balken eingelassen ist, an dem sich der Werfer abstützen kann.
2.3
Die „verschenkte“ Formel
Graphische Herleitung Wir zeigen einen normalen Wurf. Der Werfer steht beim Abwurf, wenn er klug ist und genug geübt hat, direkt bei ⊗, wo meistens noch ein Balken eingelassen ist, an dem sich der Werfer abstützen kann. Seine Wurfweite haben wir mit w bezeichnet. Das ist die Strecke von ⊗ zum Aufpunkt des Wurfes. Was wird aber gemessen? Zum Messen muss man sich das Maßband vom Aufpunkt des Gerätes ausgelegt denken bis zum Mittelpunkt M des Abwurfkreises. Diese Linie haben wir auch bereits eingezeichnet. Nun kommt der Knackpunkt. Auf dieser Linie wird beim Schnittpunkt mit dem Wurfkreis die geworfene Länge abgelesen. Um es genau zu beschreiben, vergrößern wir die Skizze in dem Bereich, vgl. nächste Seite. Es wird also eine andere Strecke gemessen als die geworfene (natürlich ihre senkrechte Projektion auf den Grasboden). An der Skizze sieht man, dass da eine kleine Strecke verschenkt wird, nämlich die Strecke zwischen den beiden dicken Punkten.
2.3 Die „verschenkte“ Formel
13
w
ϕ
w
• • ψ r ·
M
Abbildung 2.2: Vergrößerung der Abwurfsituation. Zwischen den beiden dicken Punkten sehen wir die Strecke, die beim Wurf verschenkt wird.
Mathematische Herleitung Um diese verschenkte Strecke zu berechnen, erinnern wir uns an einen Satz aus der Geometrie, nämlich den Kosinussatz. Er behandelt ein beliebiges Dreieck mit den Seiten a, b und c und den zugehörigen Winkeln α, β und γ, wie wir es in der Mittelstufe gelernt haben. Dann stellt der Kosinussatz eine Beziehung her zwischen den drei Seiten und einem eingeschlossenen Winkel. Wir schreiben ihn in folgender Form auf: a2 = b2 + c2 − 2bc cos α
(2.1)
Wir betrachten nun die Skizze 2.3. + r mit In dem schraffierten Dreieck wenden wir obigen Kosinussatz auf die Seite w dem gegenüberliegenden Winkel ψ, den wir in der vergrößerten Skizze oben eingetra die gemessene Wurfweite, r der Radius des Abwurfkreises. gen haben, an. Dabei ist w
14
2 Das Diskuswerfer-Problem
Wurf hZ
w w W
M
Abbildung 2.3: Hier haben wir das entscheidende Dreieck MWZ schraffiert. Darauf wenden wir den Kosinussatz an.
Dann lautet unsere Formel: + r)2 = w2 + r2 − 2wr cos ψ (w
(2.2)
auf. Diese quadratische Gleichung lösen wir nach der gemessenen Wurfweite w 2 + 2w r + r2 − (w2 + r2 − 2wr cos ψ) = 0 w Wir erhalten mit ψ = 180 − ϕ 1,2 = −r ± r2 + w2 − 2wr cos(180 − ϕ). w
(2.3)
Das ominöse ± hat hier natürlich nur mathematisch einen Sinn, nicht aber physikalisch; denn vorne steht ja schon −r, also etwas Negatives. Wenn wir davon noch ist aber als phyernstlich etwas abziehen, erhalten wir sicher eine negative Größe. w sikalische Größe positiv oder zumindest nicht negativ. Also werden wir in der Gleichung (2.3) das negative Vorzeichen vor der Wurzel vergessen. Verschenkt wird damit = w − (−r + v = w−w
r2 + w2 − 2wr cos(180 − ϕ))
(2.4)
2.4 Anwendung
15
Wieder muss ein kleiner Test herhalten, um zu prüfen, ob unsere Formel nicht total sinnlos ist. Wir nehmen mal an, ein ganz geschickter Werfer hätte vollkommen geradeaus geworfen, also ϕ = 0 erreicht. Dann dürfte er ja nichts verschenkt haben. Setzen wir das ein, so ist ja cos(180 − 0) = cos 180 = −1, und wir erhalten
v = w − (−r + r2 + w2 − 2wr cos 180) = w + r − (r + w)2 = w + r − (r + w) = 0, also hat er in der Tat nichts verschenkt. Unsere Formel sieht nicht so ganz verkehrt aus.
2.4
Anwendung
Beginnen wir mit dem Diskuswerfen, eine uralte Disziplin, in der sich schon die alten Griechen übten. Männer müssen ein 2 kg schweres Gerät wegbefördern, ein Frauendiskus ist nur 1 kg schwer. Der zugelassene Bereich hat einen Öffnungswinkel von 40◦ . Man darf also nach rechts und nach links um 20◦ von der Mittelinie abweichen. Nehmen wir nun an, ein mittelmäßiger Diskuswerfer – man mag mir diese Herabwürdigung verzeihen, der Autor würde den Diskus wohl keine 20 m weit befördern können – hätte seine Scheibe 50 m weit geworfen. Dabei sei ihm das Gerät um 20◦ nach rechts abgedriftet. Sein Wurfkreis habe einen Durchmesser von 2r = 2.5 m. Wir haben also •
r = 1.25
•
w = 50
•
ϕ = 20◦
Jetzt den Taschenrechner angeschmissen. Es folgt durch einfaches Eintippen aus unserer Formel v = 50 − 49.9264 = 0.0736. Das bedeutet, dass ihm leider nur 49.93 m zugebilligt werden. Das sind jetzt Meter, also hat der liebe Könner 7 Zentimeter verschenkt. Das kann bei Meisterschaften schon den Sieg kosten, wird aber fast dramatisch bei Weltrekorden (oder besser Erdrekorden, vielleicht ist ja doch ein bisschen Bescheidenheit auch hier angebracht). Da geht es doch um einzelne Zentimeter.
16
2 Das Diskuswerfer-Problem
Wir können noch mal ein Beispiel für eine Kugelstoßerin ausrechnen. Männer müssen 16 englische Pfund, also 7.257 kg stoßen, Frauen 4 kg. Der Durchmesser des Abwurfkreises beträgt 7 Fuß, das sind 2.135 m. Ab 2003 ist ein Öffnungswinkel von merkwürdigen 34.92◦ zugelassen (Welches englische Maß steckt wohl dahinter?). Gleichzeitig liest man in der Wettkampfordnung für Leichtathletik, dass dies in 10 m Abstand einen Korridor von 6 m Breite zulässt. Dem Autor ist es nicht gelungen, hier eine Beziehung zum Tangens von 34.92/2 herzustellen. Sei’s drum. Nehmen wir an, die Frau hat satte 20 m geschafft, aber leider nicht geradeaus gestoßen, sondern genau an den Rand, also mit einem Winkel von 17.46◦ . Dann rechnen wir v = 20 − 19.95 = 0.05, also wurden 5 Zentimeter verschenkt. Es lohnt sich daher, in die Technik, genau geradeaus zu stoßen, etwas zu investieren.
3
Das Spiegel-Problem
3.1
Einleitung Spieglein, Spieglein an der Wand: Wer ist die Schönste im ganzen Land?
fragt die neidische Königin im Märchen „Schneewittchen“ und erhält eine für sie garstige Antwort. In den Spiegel zu schauen hat von alters her seinen Reiz. Eine lustige Frage, die immer wieder durch die Gazetten geistert, lautet: Wie groß muss ein Spiegel sei, damit man sich vollständig darin sehen kann? Beliebte Antworten sind: 1. Das hängt vom Abstand ab, den ich vom Spiegel halte! 2. Der Spiegel muss genau so groß sein wie ich selber! Das sieht so einleuchtend aus, aber beide Antworten sind leider falsch.
3.2
Singlespiegel
Betrachten wir zunächst eine Einzelperson, die sich einen Spiegel zulegen möchte. Das folgende Bild 3.1 erklärt die Situation hoffentlich vollständig. Nach dem Spiegelungsprinzip ist der Einfallswinkel α gleich dem Ausfallswinkel β und analog der Einfallswinkel γ gleich dem Ausfallswinkel δ. Schaue ich nun mit meinen Augen in einen Spiegel, der senkrecht an einer Wand mir gegenüber aufgehängt ist, und will meine Füße betrachten, so muss ich meine Augen nur bis zur Hälfte des Abstandes Augen – Fußboden absenken. Mein Sehstrahl trifft den Spiegel unter dem Winkel α. Der gleich große Ausfallswinkel β lenkt dann den Sehstrahl automatisch zu meinen Füßen.
18
3 Das Spiegel-Problem
Wand /
S p i e g e l
γ δ=γ
Haare
6
Augen
j Person α β=α
Füße
?
Abbildung 3.1:Eine Person, die vor einem Spiegel steht, muss nur bis zur Hälfte der Füße hinabund zur Hälfte der Haare hinaufschauen, um sich vollständig zu sehen; also muss der Spiegel – richtig aufgehängt – nur genau halb so groß sein wie die Person selbst.
Das gleiche wiederholt sich, wenn ich meine Haare sehen will. Mein Sehstrahl muss lediglich bis zur halben Höhe des Abstandes Augen – Haare angehoben werden, schon sehe ich, dass meine grauen Haare im Spiegel auch nicht dunkler werden. Zusammengefasst ergibt sich also: 1. Ob man sich vollständig im Spiegel sehen kann, hängt nicht vom Abstand ab, den ich vom Spiegel halte! 2. Der Spiegel muss genau halb so groß sein wie ich selber! Etwas Sorgfalt sollte man walten lassen beim Aufhängen des Spiegels. Wir fassen das als Mathematiker in einem Algorithmus zusammen. Algorithmus zum Spiegelaufhängen für eine Einzelperson 1. Der Spiegel muss an einer senkrechten Wand hängen. 2. Der Spiegel muss so groß sein wie meine halbe Länge.
3.3 Gruppenspiegel
19
3. Er muss so aufgehängt werden, dass ich gerade meine Haare oben am Rand sehen kann. Die Oberkante des Spiegels muss also auf der Höhe meine Augenhöhe + halber Abstand Augen – Haare angebracht werden.
3.3
Gruppenspiegel
Bei mehreren Personen einer Gruppe, also zum Beispiel einer Familie oder einem Kegelclub, die sich alle in ein und demselben Spiegel betrachten wollen vom Kopf bis zum Fuß, muss man etwas sorgfältiger planen. Wand / 66S p i e j g e ?l ?
γ δ=γ
Haare
6
Augen längste Person
α β=α
Füße
?
Haare Augen 6 kleinste Person
Füße
?
Abbildung 3.2:Hier haben wir rechts neben die längste Person die kleinste der Gruppe gestellt. Man sieht, dass ihr Blick nach unten unter den unteren Spiegelrand hinauswandern muss, damit sie sich vollständig sehen kann. Der Spiegel muss also länger sein. Wir haben links durch Pfeile die Länge des Singlepiegels und links daneben die Länge des Gruppenspiegels angedeutet.
Nimmt man die längste Person der Gruppe, so kann man zwar den Spiegel nach ihr oben ausrichten. Der untere Rand ist dann aber durch die halbe Länge dieser Person bestimmt. Eine kleinere Person könnte bei dieser Aufhängung ihre eigenen Füße nicht sehen. Will man den Spiegel nicht an einer beweglichen Vorrichtung anbringen, so dass er auf und nieder gezogen werden kann wie eine Hängelampe, so muss man dem Spiegelverkäufer doch etwas mehr Geld überlassen und einen größeren Spiegel kaufen. Die obere Aufhängung wird von der längsten Person bestimmt.
20
3 Das Spiegel-Problem
Die Länge nach unten gibt die kleinste Person vor, also genau genommen die Person, deren Augenhöhe am kleinsten ist. Der Spiegel muss unten bis zur Hälfte ihrer Augenhöhe hinabreichen. Damit ergibt sich eine Gesamtlänge des Spiegels zu: Gesamtlänge des Gruppenspiegels: Augenhöhe + halber Abstand Haare ↔ Augenhöhe der längsten Person − halbe Augenhöhe der kleinsten Person. Algorithmus zum Spiegelaufhängen eines Gruppenspiegels 1. Er muss an einer senkrechten Wand hängen. 2. Er muss so aufgehängt werden, dass das längste Gruppenmitglied gerade seine eigenen Haare noch im Spiegel sehen kann. 3. Die Oberkante des Spiegels muss also auf der Höhe Augenhöhe + halber Abstand Augen – Haare der längsten Person angebracht werden. Das ganze war nur so eine Vorabend-Band, die uns hoffentlich heiß gemacht hat auf die nun folgende schwerere Aufgabe.
3.4
Die Aufgabe
Verblüffender ist die Frage, die wir nun stellen: Spiegel-Problem Wenn ich mit der rechten Hand wackle, wackelt mein Spiegelbild mit der linken. Wenn ich aber mit dem Kopf wackle, wackelt mein Spiegelbild nicht mit dem Fuss. Warum vertauscht ein Spiegel also rechts und links, aber nicht oben und unten? Wir haben noch niemanden gefunden, der diese Frage nicht amüsant fand. Wie aber ist die Antwort? Dazu müssen wir uns etwas genauer mit dem Spiegel befassen, und zwar mathematisch. Die lieben Leserinnen und Leser, die sich mit Vektoren in der Ebene nicht auskennen, mögen das folgende Kapitel getrost überschlagen. Wir werden am Schluss das Ergebnis im Abschnitt 3.6 (S. 23) zusammenfassen. Dort können sie wieder einsteigen. Das Ergebnis ist nämlich auch für mathematische Laien verständlich.
3.5 Das Spiegel-Problem mathematisch
3.5
21
Das Spiegel-Problem mathematisch
Wir begeben uns in die Ebene und betrachten Vektoren. Um uns nicht mit viel Ballast abzuschleppen und dabei das Wesentliche aus den Augen zu verlieren, wählen wir eine Spiegelung, bei der die Spiegelachse die y-Achse ist. Die untenstehende Abbildung verdeutlicht, dass ein beliebiger Punkt (x, y), den wir mit seinem Ortsvektor a = (x, y) identifizieren, auf den Punkt a∗ = (−x, y) abgebildet wird. y 6 Spiegelachse a ∗ = (−x, y)
a = (x, y) 3
QQ k
Q
Q Q
Q
Q Q
Q
x
Abbildung 3.3: Spiegelung an der y-Achse
Eine solche Abbildung hat sehr einfache Eigenschaften. Wenn wir das Vielfache eines Vektors a abbilden, so können wir erst den Vektor a abbilden und den Bildvektor anschließend vervielfachen, was wir mathematisch so ausdrücken, wenn wir die Spiegelung mit dem Symbol SP abkürzen: SP(k ·a) = k · SP(a). Ein analoges Spielchen können wir treiben, wenn wir zwei Vektoren addieren. Das Bild der Summe können wir auch dadurch erhalten, dass wir erst beide Vektoren einzeln abbilden und dann die Bilder addieren, was sich mathematisch so ausdrückt: SP(a +b) = SP(a) + SP(b). Eine solche Abbildung nennen wir linear. Die Mathematik lehrt uns nun, dass man eine solche Abbildung trefflich durch eine Matrix beschreiben kann. Darunter verstehen wir ein für unsere Zwecke quadratisches Feld, in das wir Zahlen eintragen. Da wir Vektoren in der Ebene betrachten, nehmen
22
3 Das Spiegel-Problem
wir ein 2 × 2-Feld. Mit diesem Feld wird die Abbildung beschrieben. Um es als mathematische Vorschrift zu kennzeichnen, werden wir es mit einer abgerundeten Klammer umgeben. Das sieht dann so aus: 1 2 3 4 Zur Gewinnung der Abbildungsvorschrift nehmen wir uns die beiden Einheitsvektoren e1 = (1, 0) und e2 = (0, 1) vor und bilden sie ab. e1 = (1, 0) → (−1, 0),
e2 = (0, 1) → (0, 1).
Das haben wir so locker vom Hocker hingeschrieben. Aber schauen Sie sich die Zeichnung oben an. Der erste Einheitsvektor e1 = (1, 0) schaut vom Nullpunkt genau nach rechts. Spiegeln wir ihn an der y-Achse, so schaut sein Bildvektor vom Nullpunkt genau nach links. Das ist der Vektor −e1 = −(1, 0) = (−1, 0). Der zweite Einheitsvektor e2 = (0, 1) schaut senkrecht nach oben. Er liegt direkt auf der y-Achse. Sein Spiegelbild bleibt daher einfach an Ort und Stelle liegen. Jetzt kommt die Vorschrift, wie man das Rechenschema, also die Matrix der Abbildung erhält. Die Bildvektoren schreiben wir als Spalten in eine (2 × 2)-Matrix. −1 0 A= . 01
(3.1)
Damit lautet die Abbildung in Matrixschreibweise −1 0 x →x ∗ = ·x. 0 1 Nun müssen wir einen weiteren Begriff, der im Prinzip ziemlich kompliziert zu erklären ist, einführen. Da wir uns hier nur in der Ebene tummeln wollen, haben wir auch nur 2 × 2-Matrizen zu betrachten. Dafür ist unser neuer Begriff simpel. Definition 3.1 Unter der Determinante einer 2 × 2-Matrix a b cd
3.6 Ergebnis des Spiegel-Problems
23
verstehen wir den Ausdruck det (A) = a · d − b · c. Ach, das ist also nur einfach eine kompliziert auszurechnende Zahl. Machen wir ein Beispiel: 2 4 A= ⇒ det (A) = 2 · 1 − 4 · (−3) = 14. −3 1 Das nächste Beispiel zeigt, dass die Determinante einer Matrix auch negativ werden kann: 2 4 B= ⇒ det (A) = 2 · 1 − 4 · 3 = −10. 3 1 Genau das Vorzeichen der Determinante ist unser Unterscheidungsmerkmal. Die Mathematiker haben nämlich herausgefunden: Theorem 3.1 Lineare Abbildungen, deren zugeordnete Matrizen eine positive Determinante haben, erhalten die Orientierung, lineare Abbildungen, deren zugeordnete Matrizen eine negative Determinante haben, vertauschen die Orientierung.
Also jetzt wird langsam ein Schuh draus. Es geht um die Orientierung. Kleine Bemerkung für Puristen: All dies mag ernsthafte Mathematiker nicht erzürnen; wir deuten alles nur mal so an, wer sich weiter informieren will, möchte bitte Spezialbücher über „Lineare Algebra“ aufschlagen.
3.6
Ergebnis des Spiegel-Problems
Zumächst stellen wir fest, dass zwischen den Begriffspaaren „rechts – links“ und „oben – unten“ wesentliche Unterschiede bestehen. Die Begriffe „rechts“ und „links“ haben eine sehr an der Person ausgerichtete Bedeutung. Wo für mich rechts ist, ist für mein Gegenüber links und umgekehrt. Es ist meine persönliche Orientierung, wo rechts und links ist.
24
3 Das Spiegel-Problem
Dagegen sind die Begriffe „oben“ und „unten“ für zumindest die Personen in einer kleineren Umgebung von uns, also zum Beispiel für alle Deutschen einheitlich. Wir alle schauen in die Wolken, wenn jemand von oben spricht. Und jetzt kommt die wichtige Erkenntnis: Für unsere Spiegelungsmatrix A in (3.1) erhalten wir det (A) = (−1) · 1 − 0 · 0 = −1. Die Determinante ist also negativ! Und das bedeutet: Beim Spiegeln wird die Orientierung vertauscht. Das macht man sich am leichtesten dadurch klar, dass man einen Kreis und sein Spiegelbild betrachtet. Fahren wir mit einem Stift auf der Kreislinie von oben gesehen im Uhrzeigersinn entlang, so führt unser Spiegelbild eine Umkreisung im Gegenuhrzeigersinn durch. Zeige ich meinem Spiegelbild so eine Uhr mit Zifferblättern, so läuft sie im Spiegel stets falsch herum, egal, wo ich stehe oder der Spiegel sich befindet. So ist das mit der Orientierung. Der Spiegel vertauscht also gar nicht rechts und links, er vertauscht die Orientierung. Die Orientierung ist personengebunden. Meine Orientierung sagt mir, wo ich rechts finde. Wegen der Vertauscherei beim Spiegeln sieht mein Spiegelbild das ganz anders und nennt es links. Oben und unten aber sind ganz anders geartete Begriffe. Für alle Menschen in unserer Umgebung ist oben und unten dasselbe. Es sind objektive Begriffe, die nicht mit unserer persönlichen Orientierung zusammenhängen. Diese Begriffe werden daher beim Spiegeln auch nicht vertauscht. Das geschieht ja auch nicht mit den Begriffen Osten und Westen. Zeige ich nach Osten, weist mein Spiegelbild in seiner Spiegelwelt ebenfalls nach Osten. Und wenn ich es frage, wo der Eiffelturm steht, zeigt es in seiner Spiegelwelt genau dorthin, wo auch ich hinzeige: nach Paris und nicht nach Moskau.
4
Das Bein-Problem
4.1
Einleitung
Wie schön ist es doch, in der Vorfrühlingszeit durch die Stadt zu schlendern und sich all die fröhlichen Menschen zu betrachten. Wenn dann noch eine hübsche Person des anderen Geschlechtes mit Minirock oder kurzen Hosen auftaucht, möchte das Glück keine Grenzen kennen, wenn man doch nur wüsste, in welchem Abstand die Beine der vorauseilenden Person optimal zu betrachten sind. Die Praxis zeigt, dass es ein recht moralisches Problem ist; denn der beste Abstand sind nicht 0 mm. Dann würde man so von oben herab senkrecht nach unten schauen müssen und von den Beinen wäre nichts zu sehen. Der Blickwinkel wäre 0◦ . Andererseits ist es auch beruhigend zu wissen, dass eine unendliche Entfernung ebenfalls dem Problem nicht gerecht wird; von so weit weg geht der Blickwinkel wieder gegen Null. Es gibt irgendwo dazwischen einen optimalen Abstand. Hier kann die Mathematik wertvollste Hilfestellung leisten.
4.2
Problemstellung
Das Problem lautet also: Bein-Problem In welchem Abstand muss man hinter einer Person hergehen, um deren Beine unter einem optimalen Blickwinkel betrachten zu können?
4.3
Das Physikalische Modell
Um ein physikalisches Modell aufzustellen, müssen wir einige Vereinfachungen einführen. •
Die Straße sei total glatt, so dass wir sie als x-Achse wählen können.
•
Die zu betrachtende Person sei ein Strich. Alle Moralisten werden Beifall spenden.
26
4 Das Bein-Problem
•
Wir betrachten lediglich den Teil des Striches vom Erdboden bis zum Rock- bzw. Hosenansatz, auch dies als reinen Strich (noch mehr Applaus?). Wir vergessen also für die folgenden Überlegungen das Wippen eines Minirockes oder die Haare an den Unterschenkeln.
•
Wir lassen außer Acht, dass wir uns beim Vorwärtsgehen auf und nieder bewegen. Unsere Augenhöhe sei also stets auf demselben Level. Das gleiche gelte für die Person vor uns.
Dann können wir den zeitlichen Ablauf vergessen und uns auf eine Momentaufnahme beschränken. Diese Situation stellen wir in folgender Skizze dar. ψ2 ψ1
ϕ
h−a h a · x Abbildung 4.1: Das Bein-Problem, abstrahiert von sämtlichen körperlichen Gegebenheiten.
Die Bezeichnungen seien kurz zusammengestellt: 1. a
die zu betrachtende Beinhöhe
2. h
meine Augenhöhe
3. ψ1
der Winkel zum oberen sichtbaren Beinende
4. ψ2
der Winkel zum unteren Beinende
5. ϕ
mein Blickwinkel, den es zu optimieren gilt
6. x
der gesuchte Abstand
4.4 Analytische Lösung
4.4
27
Analytische Lösung
Zur Herleitung eines mathematischen Modells müssen wir uns an die Formeln der Trigonometrie erinnern. Wir wählen den Zugang über den Tangens. Es ist tan ψ1 =
x , h−a
x tan ψ2 = . h
Für den in der Skizze eingezeichneten Winkel ϕ gilt dann ϕ = ψ1 − ψ2 = arctan
x x − arctan . h−a h
Dies ist nun eine Formel, in der wir die Augenhöhe h und die Beinhöhe a als gegeben ansehen, in der also lediglich unser gesuchter Abstand x unbekannt ist. Aus der Analysis wissen wir, dass ein Optimum höchstens dort auftritt, wo die erste Ableitung verschwindet. Also berechnen wir die erste Ableitung und setzen sie Null: ϕ =
1+
1
x 2 · h−a
1 1 1 −
x 2 · h−a 1+ h
h h−a − = (h − a)2 + x2 h2 + x2 =0
h
Eine leichte Umrechnung führt uns zu folgendem Ergebnis:
x0 = h(h − a)
(4.1)
Hier müssen wir mathematisch noch rechtfertigen, dass es wirklich ein Maximum ist. Die zweite Ableitung muss für diesen Abstand negativ werden. Es ist ϕ = −
(2h − a)2
a
< 0, h(h − a)
weil alle Terme in diesem Bruch positiv sind und vorne ein Minuszeichen steht.
28
4.5
4 Das Bein-Problem
Zeichnerische Lösung
Nach diesem kleinen Ausflug in die Analysis stimmt es noch freudiger, dass wir hier auch eine geometrische Lösung finden können. Betrachten wir folgende Skizze, in die wir einen Kreis hineingelegt haben, und zwar den Kreis durch die drei Punkte „meine Augen“, „unteres sichtbares Beinende“ und „oberes sichtbares Beinende“. Durch drei solche Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, geht stets genau ein Kreis. Sein Mittelpunkt liegt auf jeden Fall auf der Mitttelsenkrechten zur Strecke a, die wir gestrichelt eingezeichnet haben.
6ψ26 ψ1
h−a
h
ϕ
?
?
6 a x
-
?
Abbildung 4.2:Unser Bein-Problem versehen mit dem Kreis, der durch die drei Punkte „meine Augen“, „unteres sichtbares Beinende“ und „oberes sichtbares Beinende“ geht.
Jetzt benutzen wir folgende Überlegung: Betrachten wir eine feste Strecke a und einen Kreis so groß, dass diese Strecke als Sehne im Kreisinnern untergebracht werden kann. Zu dieser Strecke gehört, wenn man sie vom gegenüberliegenden Kreisrand betrachtet, ein bestimmter Winkel. Wenn wir nun den Kreis etwas vergrößern, wird sich dieser Winkel verkleinern, wenn wir den Kreis umgekehrt verkleinern, wird sich der Winkel vergrößern.
4.5 Zeichnerische Lösung
29
Wir zeigen das an folgenden Skizzen: ϕ1
>
a
ϕ2
>
a
ϕ3
a
Abbildung 4.3: Abhängigkeit des Blickwinkels von der Größe des Kreises. Je größer der Kreis wird, desto kleiner wird der Winkel, unter dem man die Sehne a betrachtet.
Unser Ziel muss es also sein, einen möglichst kleinen Kreis zu finden, der durch die erwähnten drei Punkte geht. Da unsere Augenhöhe festliegt – wir haben in die Skizze die Linie, auf der sich die Augen bewegen, gestrichelt eingezeichnet –, ist der kleinstmögliche Kreis derjenige, der diese Linie gerade berührt. Die Linie ist also Tangente an den Kreis. Wir haben diesen Kreis K in der folgenden Skizze eingetragen. Jetzt müssen wir nur noch für diesen Kreis den Abstand x berechnen. Pythagoras hilft uns: a 2 a 2 a 2 2 h− = − (4.2) x= R − 2 2 2 a 2 a 2 − = h2 − ah + 2 2
= h(h − a), (4.3) und das steht in guter Übereinkunft mit unserem analytischen Ergebnis (4.1) (S. 27).
30
4 Das Bein-Problem
6ψ 6 2 ψ1 h−a h
ϕ
R
ϕ
?
6 a
a 2
?
R
x
-
?
K
Abbildung 4.4: Graphische Lösung des Bein-Problems. Der kleinstmögliche Kreis K ist eingetragen.
4.6
Anwendungen und Ausblick
Betrachten wir als Anwendung einen jungen Mann mit kurzer Hose. Der Abstand von seinem Hosenrand zum Erdboden betrage a = 60 cm. Meine eigene Augenhöhe sei h = 170 cm. Dann ergibt sich ein optimaler Abstand √ √ x0 = 170 · 110 = 18 700 = 136.75. Ich muss also ungefähr im Abstand 1.40 m hinter ihm hergehen. Eine Bemerkung zum geschichtlichen Werdegang dieser Aufgabe. Sie soll seinerzeit von Rellich seinen Zuhörerinnen und Zuhören gestellt worden sein, die ihm vorgeworfen hatten, seine Analysisvorlesung sei zu anwendungsfern. Man findet diese Aufgabe in vielen verschiedenen Einkleidungen. So kann man danach fragen, in welchem Abstand man vor einem Kirchturm stehen bleiben muss, um die Turmuhr optimal betrachten zu können. Mathematisch die gleiche Aufgabe, aber wie langweilig.
4.7 Eselsbrücke für π
4.7
31
Eselsbrücke für π
Hier hatten wir so viel mit Kreisen zu tun, dass wir dieses kleine Schmankerl einschieben möchten. Hatten Sie nicht immer schon Schwierigkeiten, sich π zu merken? 3.14 und dann? Also wir zeigen Ihnen eine Methode, mit der Sie jederzeit 4 Nachkommastellen von π angeben können. Wollen Sie die kennen lernen? Sie müssen jetzt laut und vernehmlich „Ja“ sagen. Betrachten Sie sodann folgendes Bild: 1
W
A Z B Y C X
E
V U T S
F
π
G H I
R 4
6
D
Q
J P
O N 1
M L
K
3
Abbildung 4.5: π hat etwas mit Kreisen zu tun. Wir schreiben daher das Alphabet der großen Buchstaben im Kreis auf. Dann streichen wir alle Buchstaben, die bezüglich einer gedachten senkrechten Mittelachse symmetrisch sind. Es bleiben etliche Buchstaben übrig, die wir in Blöcke eingeteilt haben.
Wir beginnen bei J, Sie haben doch schließlich Ja gesagt. Wir zählen im Uhrzeigersinn, wie viel Buchstaben in jedem Block geblieben sind, fügen an die passende Stelle einen Dezimalpunkt ein und erhalten: π ≈ 3.1416 Ist das nicht genial? Hier sei meinem Freund Rein Luus, vgl. [8], von der University of Toronto Dank für diese Eselsbrücke ausgesprochen.
32
4.8
4 Das Bein-Problem
Bemerkungen zur Zahl π
Die Zahl π ist geometrisch bestimmt als das Verhältnis des Kreisumfangs zu seinem Durchmesser. 1. Im alten Babylonien benutzte man die Näherung π ≈ 3 und auch π ≈ 25/8 = 3.125. 2. Die Ägypter kannten die Näherung π ≈ (16/9)2 = 3.16049 (Wir unterstreichen dir richtigen Dezimalen.). 3. Die Chinesen fanden die Näherung π ≈ 355/113 = 3.14159292. 4. Archimedes1 gab eine Einschränkung nach oben und nach unten an: 3 10 71 < π < , also 3.14085 < π < 3.14286. 3 10 70 5. Vieta2 berechnete π auf 9 Dezimalstellen genau. 6. Ludolf van Ceulen3 führte die Bezeichnung π ein. Daher heißt diese Zahl auch manchmal Ludolfsche Zahl. 7. Schließlich bewies 1882 der in Hannover geborene Lindemann4 , dass π transzendent ist und daher das uralte Problem der Quadratur des Kreies, nämlich die Konstruktion nur mit Zirkel und Lineal eines zu einem Kreis flächengleichen Quadrates unmöglich ist.
1
Archimedes von Syrakus (287 – 212) Vieta, Francois (1540 – 1603) 3 Ludolf van Ceulen (1540 – 1610) 4 Lindemann, Ferdinand (1852 – 1939) 2
5
Das Skizzen-Problem
5.1
Einleitung
In diesem Kapitel wollen wir Sie an einer ganz besonders wichtigen Erfahrung teilnehmen lassen. Wir wollen nämlich versuchen, Ihnen zu zeigen, warum Mathematikerinnen und Mathematiker eine solche Strenge an den Tag legen müssen, wenn sie Aussagen formulieren. Sie alle kennen den Fehlschluss: Wenn es regnet, ist die Straße nass (außer im Tunnel oder unter Bäumen etc.). Wenn aber die Straße nass ist, muss es noch lange nicht geregnet haben. Vielleicht hat ein Bauer nur seine Beregnungsanlage falsch postiert oder ich war mit meiner Gießkanne unterwegs. Nein, ein anderer Fehlschluss soll in diesem Kapitel gebrandmarkt werden. Der Fehlschluss nämlich: Aber das sieht man doch! Oh, was die Welt nicht alles so sieht und was dann doch falsch ist. Hunderte von Beispielen könnte man aufzählen, wir wollen hier aber ein ganz perfides Bildchen malen und versuchen, Sie regelrecht reinzulegen.
5.2
Die Aufgabe
Wir wollen folgendes Problem bearbeiten: Skizzen-Problem Wir behaupten:
(90◦ = 100◦ )
und fragen: Wo liegt unser Fehler in der Beweisführung?
34
5 Das Skizzen-Problem
Zuvor möchten wir Sie an einen Sachverhalt aus der Mittelstufe erinnern. (Oder haben wir da gerade mit der Nachbarin „Schiffeversenken“ gespielt?) Es geht um die Kongruenz von Dreiecken. Einer der vier Kongruenzsätze sagt aus:
Theorem 5.1 Wenn zwei Dreiecke in den drei Seiten übereinstimmen, dann sind sie kongruent, stimmen also in sämtlichen Stücken überein (gleiche Winkel, gleiche Höhen etc.).
Es kann dabei sein, dass die Dreiecke sich deckungsgleich übereinander legen lassen. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass man eines der beiden Dreiecke erst spiegeln muss, bevor man es deckungsgleich bekommt. Beide Möglichkeiten werden mit dem Wort „kongruent“ ausgedrückt.
5.3
Der „Beweis“
Mit dem Begriff „Kongruenz“ zeigen wir nun, dass 90◦ = 100◦ ist. Zum Beweis betrachten wir folgende Skizze. M ·
A
c
c c
a P
D
· N
B D D D D aD D
D D
DD
C
Abbildung 5.1: Skizze zum Beweis, dass 90◦ = 100◦ ist.
In der Skizze habe wir bei A einen Winkel von 90◦ nach unten angetragen, bei B dagegen einen Winkel von ca. 100◦ nach unten. Links und rechts die beiden Seiten zeichnen wir gleich lang. Natürlich sind sie dann nicht parallel. Die Verbindungsstrecke von C nach D ist dann auch nicht parallel zur Strecke AB.
5.3 Der „Beweis“
35
Auf den beiden Strecken AB und CD errichten wir jeweils das Mittellot oder die Mittelsenkrechte. Sie schneiden sich also, wir nennen den Schnittpunkt P. Von P ziehen wir die Verbindungsgeraden nach A, B, C und D. So weit unsere Skizze. Jetzt kommt’s: 1. Für die beiden schräg schraffierten Dreiecke gilt: (a) AM = MB, da in M die Mittelsenkrechte errichtet wurde. (b) AP = PB, da P ja auf der Mittelsenkrechten von AB liegt. (c) PM ist sowieso beiden Dreiecken gemeinsam Also sind alle drei Seiten gleich, sie stimmen daher auch in allen Winkeln überein. Der Winkel bei A ist also gleich dem Winkel bei B: ∠PAM = ∠PBM. 2. Die beiden senkrecht schraffierten Dreiecke sind ebenfalls kongruent, denn (a) AP = PB, da in M die Mittelsenkrechte errichtet wurde. (b) DP = PC, da P ja auf der Mittelsenkrechten von CD liegt. (c) AD = BC nach Konstruktion Also sind auch hier alle Winkel gleich. Der Winkel bei A ist also gleich dem Winkel bei B: ∠APD = ∠CPB Damit haben wir aber gezeigt, dass der ganze Winkel bei A, der ja 90◦ betrug, gleich dem gesamten Winkel bei B, den wir 100◦ groß gemacht hatten, ist, also 90◦ = 100◦ . Klar, dass das Unsinn ist. Aber wo liegt unser Fehler? Seien Sie zunächst dahin versichert, dass der Kongruenzsatz richtig ist. Hier sollten Sie vielleicht noch mal Ihre Schulbücher aufschlagen und nachlesen, aber nicht kritisch, der Satz ist korrekt. Nein, wir haben an anderer Stelle gemogelt.
36
5.4
5 Das Skizzen-Problem
Ein erster Verdacht
Eigentlich sollten wir Sie eine Weile, eine ganze Weile schmoren lassen; denn es sollte sich einprägen, was Sie hier lernen. Aber vielleicht setzen Sie sich mal hin und zeichnen unsere Skizze in Ruhe nach. Es reicht schon ein recht grober Augenschein, dass die rechten Winkel nicht so recht sind, wie sie sein möchten. Sollte der Schnittpunkt vielleicht gar nicht im Innern liegen? Oh, Moment, das können wir auch. Schauen Sie sich folgende Skizze an: P
· M
A
a
N · D
B D D D Da D D D D
DD
C
Abbildung 5.2: Erster Verdacht: der Schnittpunkt liegt gar nicht innerhalb des Vierecks.
Wieder habe wir zwei Dreieckspaare schraffiert. 1. Und wieder behaupten wir, dass AMP ∼ = MBP ist (Das Zeichen ∼ = ist unser Zeichen für „kongruent“). Denn (a) AM = MB, da M ja im Mittelpunkt angelegt wurde. (b) AP = PB, da P auf der Mittelsenkrechten liegt. (c) PM ist sowieso beiden Dreiecken gemeinsam Also wieder alle drei Seiten gleich und damit Kongruenz und deshalb ∠MAP = ∠MBP 2. Für die senkrecht schraffierten Dreiecke haben wir: (a) AP = PB wegen der Mittelsenkrechten über AB. (b) DP = CP wegen der Mittelsenkrechten über CD. (c) AD = BC nach Konstruktion.
5.5 Die volle Wahrheit
37
Also sind auch diese beiden Dreiecke kongruent und damit ∠DAP = ∠CBP. Jetzt müssen wir nur die entsprechenden Winkel subtrahieren, um zu sehen: 90◦ = 100◦
5.5
Die volle Wahrheit
Sie waren ja schon auf dem richtigen Trip, dass mit der Skizze etwas nicht stimmt. Tatsächlich ist es noch viel übler. Um das zu zeigen, müssen wir unsere 100◦ deutlich aufwerten. Nirgends im Beweis haben wir ja etwas von den 100◦ ausgenützt. Das können also ruhig auch 120◦ oder mehr sein. Betrachten wir also die Skizze in folgender Form: P
A
B
M
a a C N D Abbildung 5.3: Skizze zur Wahrheit, dass 90◦ = 100◦ ist.
Der Schnittpunkt liegt in Wahrheit weit oberhalb der Restfigur. Er liegt so weit oberhalb, dass die Verbindungslinie von P nach C außerhalb der Figur verläuft.
38
5 Das Skizzen-Problem
Unsere Beweisführung war vollkommen korrekt, nur wir haben sie auf die falsche Skizze angewendet. Gezeigt haben wir, dass die beiden kleinen Winkel bei A und B übereinstimmen und dass die beiden mit zwei Bögen versehenen Winkel bei A und B übereinstimmen. Über die eigentlich zu betrachtenden 90◦ und 100◦ Winkel haben wir gar keine Aussage gemacht. Das war gemein, nicht?
5.6
Die Moral
Was lernen wir aus der Aufgabe? Mit einer Zeichnung kann man sich leicht in die Irre führen lassen. Skizzen sind ausgesprochen hilfreich bei der Entdeckung neuer Sachverhalte. Aber sie dürfen nicht dazu benutzt werden, irgendetwas beweisen zu wollen. Das müssen wir mit unseren Gedanken vollziehen. Wir wollen nicht versäumen, das Ergebnis dieses niedlichen Problems kurz und griffig, so als Merkregel, zusammen zu fassen. Die Moral von der Geschicht’: Traue einer Skizze nicht!
6
Das Parallelpark-Problem
6.1
Einleitung
Wer kennt nicht die leidige Suche nach einem Parkplatz in einer überfüllten City. Und dann sieht man plötzlich eine Lücke am Straßenrand, weiß aber nicht, ob man hineinkommt. Solch ein Problem stellt eine reizvolle Aufgabe für einen Mathematiker dar. Eine physikalische Alltagssituation möchte analysiert werden. Also muss man zuerst ein mathematisches Modell entwerfen, das die Fragestellung einigermaßen richtig wiedergibt. Das geht normalerweise nur mit erheblichen Vereinfachungen, was Physiker und Ingenieure nicht überrascht; denn sie treiben es seit Jahrhunderten ähnlich. Wir wollen hier zu Beginn eine Lösung dieses Problems vorstellen, das im Herbst des Jahres 2003 zu einem erheblichen Rauschen im Blätterwald der deutschsprachigen Zeitungen geführt hat; Rundfunk und Fernsehen berichteten in mehreren Sendungen. Den Autor hat es gefreut, dass sich daraufhin viele Menschen mit Mathematik befasst und ihn mit Fragen überhäuft haben. Vielleicht erkennen ja auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dass Mathematik nicht nur als Rechenhilfsmittel taugt, sondern bei vielen Alltagsproblemen Lösungen bietet, die manchmal selbst Experten überraschen. Man schaue sich das Ergebnis 8.12 des Rutsch-Problems im Kapitel 8 „Das GlatteisProblem oder das Brotschneide-Problem“ an.
6.2
Die Aufgabe
In der Fahrschule hat man uns gequält mit dem Rückwärtseinparken. Das könnte hier helfen, und genau darum geht es uns in diesem Beitrag. Wie ging das noch gleich? 1. Man stellt sich direkt neben das vordere Auto A in einem Abstand p zu diesem Auto. 2. Man fährt gerade rückwärts, bis der Mittelpunkt unseres Autos, bezogen auf die vier Reifen, auf gleicher Höhe mit dem Ende des Vorderautos A ist. (Wir werden später sehen, dass das verbessert werden kann. Man muss nur so weit zurückfah-
40
6 Das Parallelpark-Problem
Bordstein unser Auto p Auto B
3
Auto A Bordstein
unser Auto Abbildung 6.1: Da ist eine Lücke. Rückwärts hinein heißt die Devise.
ren, bis die Hinterachse unseres Autos mit dem Ende des Nachbarautos übereinstimmt!). 3. Jetzt dreht man das Steuerrad vollständig bis zum Anschlag, so dass man in die Lücke hineinfährt. Dabei fährt man einen Kreisbogen, zu dem der Winkel α gehört. 4. Dann dreht man das Vorderrad vollständig in die entgegengesetzte Richtung, um wieder parallel zur Straße zu gelangen, und fährt den entgegengesetzten Kreisbogen mit dem selben Winkel α. 5. Schließlich fährt man noch ein Stückchen nach vorne, um das hintere Auto B nicht einzuklemmen. Die Fragen, die sich hier stellen, lauten: Parallelpark-Problem 1. Wie breit muss die Lücke g mindestens sein, damit wir dort hineinkommmen? 2. In welchem Abstand p beginnt man das Spielchen? 3. Welchen Kreisbogen sollte man fahren, wie groß ist also der Winkel α?
6.3 Die Formeln von Rebecca Hoyle
6.3
41
Die Formeln von Rebecca Hoyle
Mitte April dieses Jahres ging vor allem in den Online-Versionen verschiedener Tageszeitungen folgende „Formel zum Einparken“ um die Welt (aus satztechnischen Gründen schreiben wir sie in zwei Zeilen): p = r − w/2, g) − w + 2r + b, f) − w + 2r − fg max((r + w/2)2 + f 2 , (r + w/2)2 + b2 )£ min((2r)2 , (r + w/2 + k)2 ) Internetleser, die auf diese Formel stießen, waren verstört, denn die Formel machte so recht keinen Sinn. •
Was soll gleich zu Beginn die geschlossene Klammer, wenn zuvor keine öffnende Klammer vorhanden ist?
•
Was sollen die vielen Kommata mitten im Geschehen?
•
Welche Bedeutung hat das englische Pfundzeichen in der zweiten Zeile?
Angeblich stammt diese Formel von der englischen Mathematikerin Rebecca Hoyle. Nun, zu ihrer Ehre sei gesagt, dass sie in der Tat eine solch unsinnige Formel nicht veröffentlicht hat. Auf ihrer Homepage findet man folgendes Formelsystem, das aus vier einzelnen Formeln besteht: w 2 g ≥ w + 2r + b
p = r−
f ≤ w + 2r − fg 2 w 2 w +f2 , r+ + b2 max r + 2 2 2 w ≤ min 4r2 , r + + k 2
(6.1) (6.2) (6.3)
(6.4)
Dabei ist •
p
der seitliche Abstand zum vorderen Auto A,
•
r
der Radius des kleinsten Kreises, den der Automittelpunkt, das ist der Mittelpunkt des Rechtecks aus den vier Reifen, beschreiben kann,
•
w
die Breite unseres Autos,
•
g
die Breite der benötigten Parklücke,
•
f
der Abstand vom Automittelpunkt zur Front,
42
6 Das Parallelpark-Problem
•
b
der Abstand vom Automittelpunkt zum Autoende,
•
fg
der Abstand zum Vorderauto am Ende des Einparkens,
•
k
der Abstand zum Bordstein am Ende des Einparkens.
Damit klärt sich obige sinnlose Formel weitgehend. Jedes Komma oben trennt zwei Formeln. Dann hat irgendein Textsystem leider das mathematische Zeichen ≥ nicht verstanden und einfach aus dem Zeichen > eine Klammmer ) und aus dem halben Gleichheitszeichen eine Subtraktion gemacht. Wieso allerdings aus dem Zeichen ≤ das englische Pfundzeichen £ geworden ist, bleibt mysteriös.
6.4
Kritik an Rebeccas Formeln
Prinzipiell sind Rebeccas Formeln mathematisch vernünftig, und man kann aus ihnen auch Zahlenwerte, die das Einparken beschreiben, ableiten. Allerdings haben wir einige Kritikpunkte anzugeben. 1. In der Formel (6.3) ist einzig fg unbekannt, lässt sich also daraus berechnen. Man fragt sich aber, welche Bedeutung für das Einparken dieser Abstand zum Vorderauto hat. Die Formel scheint überflüssig. 2. Analoges gilt für Formel (6.4), aus der sich zwar am Ende des Einparkens als einzige unbekannte Größe der Abstand k zum Bordstein berechnen lässt, aber wozu braucht man ihn? Auch diese (richtige) Formel wird für das Einparkmanöver nicht gebraucht. 3. Formel (6.1) scheint sinnvoll zu sein, gibt sie doch der oder dem Einparker den seitlichen Abstand an, den man zu Beginn zum vorderen Nachbarauto halten sollte. 4. Formel (6.2) sieht nach der Hauptformel aus. Sie beschreibt, wie groß die Lücke zu sein hat, um den Parkvorgang sicher zu Ende führen zu können. Wenn wir jetzt aber obige Formeln auf einen typischen Mittelklassewagen anwenden, so sehen wir, dass sie alle nicht recht taugen. Um das zu erkennen, müssen wir uns genauer in den Parkvorgang hineindenken.
6.5 Der Wendekreis
6.5
43
Der Wendekreis
Es ist vermutlich für jeden klar, dass wir mit dem Auto, wenn wir auf einen großen Platz fahren und voll einlenken, einen Kreis fahren (Abb. 6.2, S. 44). Wir haben das probiert und waren sehr erstaunt, dass das Auto nach 360◦ nicht exakt am alten Platz stand, sondern um ca. 30 cm versetzt. Das ging sogar lustig hin und her. Bei jedem erneuten Umlauf stand das Auto woanders. Das lag natürlich am Untergrund, der nicht ganz eben war. Das Steuerrad kann man gar nicht so lange festzurren, die Reifen walken. Alles das spielt zusammen, so dass man nur eingeschränkt von einem Kreis reden kann. Daher findet man in den Wagenpapieren zwar den Durchmesser des Wendekreises; aber da steht z. B. für einen Golf: Wendekreisdurchmesser 11 m. Nicht 10.952 mm, nein glatte 11mm. Alle anderen Maße des Fahrzeugs sind auf Millimeter genau angegeben. Den Wendekreisdurchmesser aber kann man nicht genauer angeben. Gut, damit finden wir uns ab. Für unser Modell gehen wir aber von einem exakten Kreis und einem genau angebbaren Durchmesser aus. Nachfrage bei verschiedenen Autofirmen ergab, dass man den Wendekreis eines Fahrzeugs folgendermaßen bestimmt: Definition 6.1 Befestigt man an der vordersten rechten Ecke des Fahrzeugs einen Stab, der auf dem Boden schleift und fährt man dann den kleinstmöglichen Links-Kreis bei voll eingeschlagenem Steuerrad, so beschreibt dieser Stab auf dem Boden einen Kreis, den Wendekreis des Fahrzeugs. Sein Durchmesser D wird in den Wagenpapieren verzeichnet. Wir wollen mit R den Radius des Wendekreises, also den halben Durchmesser bezeichnen. Bei einem gut gebauten Auto kann man natürlich auch einen Rechts-Kreis fahren und den Stab vorne links anbringen. Die Symmetrie führt zum gleichen Ergebnis, zumindest theoretisch.
44
6 Das Parallelpark-Problem
Abbildung 6.2: Vermuteter Wendekreis eines Autos
6.6
Der Mittelpunkt des Wendekreises
Mathematiker fragen sofort bei einem Kreis nach Radius, den wir gerade eben bestimmt haben, und Mittelpunkt. Wo liegt denn der Mittelpunkt des Wendekreises? Als ersten Verdacht könnte man den Mittelpunkt des Fahrzeugs suchen, indem man zwei Diagonalen zieht. Dort senkrecht die Länge des Radius abtragen, und schon hat man den Mittelpunkt. Könnte so sein, aber halt, nachdenken. Das Auto ist ja nicht symmetrisch in Bezug auf sein Fahrverhalten. Die Vorderräder lassen sich lenken, die Hinterräder sind starr. Stellen Sie sich vor, wie das Auto auf dem Wendkreis langfährt. Wenn wir die Reifen als kleine Geradenstücke ansehen, so fahren die – hoffentlich sehen Sie das? – als Tangenten an diesem Kreis entlang. Da fällt uns aus der Schule etwas ein: Theorem 6.1 Tangenten eines Kreises stehen senkrecht auf dem Radius.
Damit ist klar, dass wir von den Hinterrädern senkrecht, also einfach von der Hinterachse aus in Richtung Mittelpunkt gehen müssen. Direkt in Verlängerung der Hinterachse liegt der Mittelpunkt des Wendekreises.
6.7 Kleinster Kreis
45
×M R -
Abbildung 6.3: Korrekter Wendekreis eines Autos mit Mittelpunkt
6.7
Kleinster Kreis
Jetzt sind wir schon ein ganzes Stück weiter mit unserem Modell zum Einparken. Eine wichtige Frage kommt jetzt. Wo stellen wir uns hin? Wir wollen das Nachbarauto nicht beschädigen. Wir haben gesehen, dass bei einer Linksdrehung unser rechter vorderer Kotflügel den Wendekreis fährt. Aber unser linkes Vorderrad fährt ebenfalls einen Kreis, jedes Hinterrad, ja, jeder Punkt des Autos durchfährt einen Kreis. Diese Kreise können sich nicht schneiden, daher liegen sie alle konzentrisch mit dem einen gemeinsamen Mittelpunkt M. Jetzt fragen wir uns: Welcher Punkt unseres Autos macht den kleinsten Kreis? Wenn wir uns so aufstellen und unser Parkmanöver so durchführen, dass dieser Punkt mit dem kleinsten Kreis das Nachbarauto nicht berührt, so sind wir auf der sicheren Seite. Wir können ohne Beule einparken. Also bitte, welcher Punkt ist so wichtig? Schauen Sie auf die Skizze, in die wir einige Kreise eingezeichnet haben. Ich hoffe, Sie verlieren nicht den Überblick, sondern erkennen mit Adleraugen, dass der äußerste Punkt unseres linken Hinterrads den kleinsten Kreis beschreibt. Wir haben diesen Kreis ja eingezeichnet. Diesen Punkt müssen wir uns also merken. Damit haben wir die Aufstellregel: Wir stellen uns so neben das Nachbarauto, dass unsere Hinterachse genau mit der Stoßstange des Nachbarn in einer Linie liegt.
46
6 Das Parallelpark-Problem
×M
R
Abbildung 6.4: Den kleinsten Kreis macht der linke Außenpunkt unserer Hinterachse.
Dann können wir ruhig das Lenkrad einschlagen und rückwärts fahren, wir haben keine Chance, das Nachbarauto zu beschädigen. In den Fahrschulen werden hier häufig andere Vorschläge gemacht. Der hintere Fensterholm oder die Rücksitzbank oder auch ein Punkt im Außenspiegel schwirren da durch die Landschaft. Kluges Nachdenken bringt uns den richtigen Punkt: die hintere Achse unseres Autos in Linie mit der Stoßstange des Nachbarn.
6.8 Effektiver Radius
6.8
47
Effektiver Radius
Rebecca hat in ihrer Überlegung einen Radius r benutzt, der aber nicht der Wenderadius ist. Betrachten wir folgende Skizze:
×M 6
r
w
R
?
f
Abbildung 6.5: Zum Zusammenhang von r mit R
Wir sehen, dass wir den Zusammenhang zwischen r bei Rebecca und unserem R leicht nach Pythagoras ermitteln können. Aus w 2 = R2 r2 + 2 folgt für unseren effektiven Radius r
w r = R2 − f 2 − . 2 Dabei ist •
f
der Abstand von der Hinterachse bis nach vorne (front),
•
w
die Breite (width) des Fahrzeugs.
(6.5)
48
6 Das Parallelpark-Problem
6.9
Unser Modellauto
Nun zu unserem Auto. Nehmen wir an, dass es folgende Abmessungen besitzt – der Übersicht wegen nehmen wir glatte Werte: •
Wendekreis D = 12 m, also R = 6 m
•
Abstand Hinterachse – Front 3 m
•
Abstand Hinterachse – hinten 1 m
•
Wagenbreite w = 1.5 m
Damit ergibt sich r=
w √ R2 − f 2 − = 36 − 9 − 0.75 = 4.45 2
Wir rechnen also Rebeccas Formeln mit r = 4.45 m durch. Dann ist w = 3.69 m, 2 g ≥ w + 2r + b = 1.5 + 2 · 4.45 + 1 = 11.40 p = r−
Das heißt also, wir sollen zum Nachbarauto einen Abstand von 3.69 m halten. Aber liebe Rebecca, wenn eine Straße nur 6 m breit ist, steht man damit entweder voll im Gegenverkehr oder bereits im gegenüber geparkten Auto. Wenn man eine Lücke von 11.40 m irgendwo sieht, so fährt man vorwärts hinein, denn dort ist ja Platz für zwei Autos. Da wird unser Manöver nicht benötigt. Das kann nicht gemeint sein. Hier sind Rebeccas Formeln zwar richtig, aber viel zu grob. Das ist in europäischen Städten nicht vorstellbar.
6.10
Neue Formeln zum Parallelparken
Neue und bessere Formeln müssen her. Betrachten wir dazu folgende Skizze in Abbildung 6.6, S. 49. Zur Herleitung unserer Formeln machen wir einen Trick: Wir betrachten das Ausparken, nicht das Einparken. Wir gehen also von innen nach außen, weil wir da von der festen Position unseres Autos knirsch am hinteren Auto starten können. Da, wo wir landen, ist dann unser eigentlicher Ausgangspunkt. Der ganze Vorgang ist ja voll reversibel. Betrachten wir also unsere Skizze auf der nächsten Seite. Wir stehen mitten im Parkplatz schön ordentlich am Bordstein. Zum Ausparken fahren wir zuerst rückwärts, bis
6.10 Neue Formeln zum Parallelparken
49
Bordstein unser Auto
α
r
y
-
p x Auto B
r d
3
unser Auto b
Auto A α
Bordstein
f
Abbildung 6.6: Hier ist die Anfangs- und die Endsituation eines Parallelparkvorgangs dargestellt. Unser Auto steht zunächst parallel zum Vorderauto im Abstand p, mit der Hinterachse auf der Höhe der hinteren Stoßstange des Vorderautos, und fährt dann auf den beiden Kreisbögen mit demselben Winkel α entlang in die Lücke hinein bis zur Endposition.
wir gerade eben das hintere Auto nicht berühren. Mathematisch setzen wir diesen Abstand zu 0 mm. Also bitte, das ist die Theorie, in der Praxis sollten es schon 5 cm sein. Dann schlagen wir das Steuerrad vollständig nach links ein und fahren vorsichtig los. Dabei fahren wir einen Kreisbogen, zu dem ein Winkel α gehört. Diesen Winkel lassen wir zunächst so allgemein stehen, weil wir ja eine allgemeine Formel entwickeln wollen. Später müssen wir ihn dann genauer spezifizieren. Haben wir diesen Bogen mit Winkel α durchfahren, so bleiben wir stehen und drehen das Steuerrad vollständig in die andere Richtung, in der wir dann einen Kreisbogen wiederum mit dem Winkel α durchfahren. Das Ende vom Lied ist dann, dass wir außerhalb des Parkplatzes und parallel zur Bordsteinkante stehen; denn wir haben ja beide Male einen Kreisbogen mit demselben Winkel durchfahren. Jetzt kommt ein bisschen Geometrie. Schauen Sie auf die Skizze in Abbildung 6.6. Dort sind der Abstand d unseres Autos zur Bordsteinkante und der Abstand x vom Mittelpunkt der Hinterachse zur Projektion des Berührpunktes der beiden Wendekreise
50
6 Das Parallelpark-Problem
auf den senkrechten Radius eingetragen. Wenn wir die Projektionslinie nach rechts bis zum senkrechten Radius des rechten Autos verlängern, sagt uns die Symmetrie der Anordnung, dass der Abstand wiederum bis zur Mitte unseres Autos oben rechts genau auch x ist. Die Gesamtstrecke ist also 2x. Wenn wir sie jetzt noch um die halbe Autobreite w/2 nach unten verschieben, landen wir genau auf d. Also ist der Abstand d unseres Autos zum Bordstein gleich 2x; x berechnen wir dann über den cosinus des Winkels α: d = 2x = 2 · (r − y) = 2 · (r − r · cos α) = 2r · (1 − cos α)
(6.6)
Der Abstand p zum Nachbarauto ist p = d − w = 2r · (1 − cos α) − w.
(6.7)
Als Lücke erhalten wir g ≥ 2r · sin α + b.
(6.8)
Vergleicht man diese Lücke mit der von Rebecca (6.2), so ahnt man, dass Rebecca einen Winkel von 90◦ , also einen Viertelkreis durchfahren will.
6.11
Die Formeln für ein 45◦ -Manöver
In manchen Fahrschulen wird gesagt, man solle jeweils einen Achtelkreisbogen fahren; ◦ . Dafür sehen die Formeln hübsch einfach aus; denn dazu gehört der Winkel α = 45√ 1 ◦ ◦ es ist ja sin 45 = cos 45 = 2 · 2, also √ 1√ 2 − w = r(2 − 2) − w p = 2r · 1 − 2 √ √ 1 g ≥ 2r · 2 + b = 2 · r + b. 2
(6.9) (6.10)
Für unser oben schon benutztes Standardauto (vgl. S. 48) erhalten wir folgende Werte: p = 1.11 m,
g ≥ 7.29 m
Das ist immer noch zu groß. Kein vernünftiger Autofahrer und sicher auch keine noch vernünftigere Autofahrerin stellt sich im Abstand von 1.11 m zum Nachbarauto auf die Straße. Das Hupkonzert kann man sich ausmalen.
6.12 Die optimalen Formeln
6.12
51
Die optimalen Formeln
Aus der Formel (6.8) sehen wir, dass unsere benötigte Lücke stark vom Winkel α abhängt: Je kleiner wir diesen Winkel wählen, desto kleiner wird die Lücke. Das beste Ergebnis erhalten wir, wenn wir uns direkt neben das vordere Auto stellen. Für p = 0, also den Abstand zum Nachbarauto = 0, erhalten wir den optimalen Winkel α, mit dem wir unser Einpark-Problem lösen: α = arccos
2r − w 2r
(6.11)
Für unser Standardauto ergibt sich dabei α = arccos
2 · 4.45 − 1.5 = 34◦ 2 · 4.45
Unsere benötigte Lücke kann noch kleiner werden, wenn wir bedenken, dass wir beim Ausparken zunächst ganz weit zurücksetzen und dann beim Vorwärtsausparken nur gerade das vordere Auto nicht berühren dürfen. Dieses kann daher noch ein Stückchen näher stehen. Als kleinstmögliche Lücke ergibt sich damit g≥
2r · w + f 2 + b,
(6.12)
was für unser Standardauto bedeutet: g≥
√ 2 · 4.45 · 1.5 + 9 + 1 = 5.73 m
Das sieht doch sehr vernünftig aus. In Vorschriften für den Straßenbau und speziell für Parkplätze findet man die Vorgabe, dass ein Parkplatz am Straßenrand für ein paralleles Einparken mindestens die Länge von 5.75 m haben sollte. Das sieht für unser Auto knapp aus, aber wir füllen ja nicht die ganze Parklücke aus, sondern brauchen Platz zum Rangieren. Das brauchen unsere Nachbarn vorne und hinten ebenfalls, so dass von deren Platz ein bisschen für uns übrig bleibt. Das wird offensichtlich in der Vorschrift mit einbezogen.
52
6 Das Parallelpark-Problem
6.13
Zusammenfassung
Einige Schlussbemerkungen dürfen nicht fehlen. Zunächst fassen wir unser Ergebnis im folgenden Kasten zusammen. Die neuen Formeln zum Einparken Abstand zum Nachbarauto p=0 Winkel des Kreisbogens benötigte Parklücke
2r − w α = arccos 2r √ g ≥ 2rw + f 2 + b
Selbstverständlich sind diese Formeln aus der Theorie geboren und so für die Praxis noch nicht tauglich. •
Einen Abstand von 0 mm zum Nachbarauto kann nur ein Theoretiker einhalten. Für die Praxis müssen da realistische Werte eingesetzt werden. Genau so sind auch alle anderen Werte so gerechnet, dass man gerade eben die Nachbarautos nicht berührt. Jedem Autofahrer sei geraten, hier eine gewisse Toleranz einzuplanen.
•
Wer will denn schon mit Maßband und Winkelmesser auf Parkplatzsuche gehen. Immerhin scheint es vorstellbar, dass ein Autokonstrukteur hier vielleicht Ansätze findet, um einen Computer an Bord mit den entsprechenden Daten zu füttern und das Einparkmanöver vollautomatisch ablaufen zu lassen.
•
Bei Autos mit extrem langer Vorderschnauze kann mit dem beschriebenen Einparkmanöver ein Malheur passieren. Bei der gewählten Startposition würden wir beim zweiten Kreisbogen, wenn wir in die Lücke hineinfahren, das Vorderauto ein bisschen crashen. Aber als Endposition hätten wir hinten noch zuviel Platz. Nun, wie haben ja die Lücke so berechnet, dass wir auf jeden Fall herausfahren können. Wo wir rauskommen, können wir auch reinfahren! Das Problem liegt nur in der Startposition. Den Platz den wir am Schluss hinten noch hätten, müssen wir bei Beginn zurücksetzen. Man startet also nicht mit der Hinterachse auf der Höhe der hinteren Stoßstange des Vorderautos, sondern eben um den freien Endabstand nach hinten versetzt. Wiederum eine Bemerkung, die wir schon an anderer Stelle gemacht haben. Den hinteren freien Abstand kenne ich ja erst, nachdem ich in die Lücke hineingefahren bin, also nachdem ich dem Vorderauto eine kräftige Beule verpasst habe. Klar, so ist das alles nicht gemeint. Das muss ein Bordcomputer alles vorher ausrechnen.
6.14 Werte für einige Autos
6.14
53
Werte für einige Autos
Wir stellen hier aus den Betriebshandbüchern die Werte für einige Autos zusammen. Allerdings sollte die geneigte Leserin oder der versierte Autofreak obige Schlussbemerkungen im Auge behalten. Hersteller
Modell
VW BMW Mercedes Mercedes Audi Opel VW VW Ford Mercedes Opel Mercedes Renault
4er Golf 3er E46 C–Klasse A–Klasse A4 / S4 Limousine Astra 5-türig Passat Polo Focus Limousine 4-türig E–Klasse Corsa Limousine 3-türig Smart Laguna
Winkel
optimale Lücke
42◦ 45◦ 43◦ 40◦ 43◦ 43◦ 41◦ 41◦ 42◦ 42◦ 42◦ 42◦ 46◦
5.50 m 5.96 m 5.88 m 5.27 m 5.94 m 5.42 m 6.08 m 5.29 m 5.87 m 6.27 m 5.16 m 4.00 m 6.14 m
Auf der homepage des Autors www.ifam.uni-hannover.de/~herrmann ist ein Java Applet, mit dem für beliebige Autos der Winkel und die Parklücke berechnet werden.
6.15
Kleine Denksportaufgabe
Schauen Sie sich doch mal die folgende Reihe an. Erkennen Sie das Bildungsgesetz?
∞, M, Ω, 8 , — M , O,… Vielleicht ein Hinweis gefällig? Die Lösung können schon Erstklässler sehen. Noch nicht genug Tipps?. Nun, dann nehmen Sie sich mal ein Blatt Papier, und halten Sie von den Zeichen jeweils die linke Hälfte zu. Hat’s geschnackelt? Für Freunde können Sie ja noch einige Zeichen hinzufügen.
7
Das Parkhaus-Problem
7.1
Einleitung
Da haben wir im letzten Kapitel viel über das Einparken gelernt, wenn uns der freie Parkplatz parallel am Fahrbahnrand anlacht. Wie sieht die Sache aber im Parkhaus aus oder auf einer Straße, wo die Parkbuchten senkrecht zur Fahrbahn angeordnet sind? Dies ist eine recht kleine Aufgabe, die man mit wenigen Hilfsmitteln lösen kann. Wir fügen sie hier an, um nicht so versierten Lesern eine Chance zu geben, mathematische Erkenntnisse anzuwenden.
7.2
Die Aufgabe
Zunächst müssen wir uns über die Aufgabe voll im klaren werden. Worin genau besteht das Problem? Ich denke, alle, die schon einmal im Parkhaus eingeparkt haben, wissen, dass man da einen ziemlichen Abstand von der Parkbucht halten muss sowohl nach vorne bzw. hinten als auch seitlich. Versiertere Einparker haben es vielleicht auch schon rückwärts probiert und wissen daher, dass man bei einem solchen Manöver weniger seitlichen Abstand halten muss. Also das schreit nach einer genaueren Formel. Hier zunächst das Problem: Parkhaus-Problem Welches ist der richtige Standort, um mit seinem Fahrzeug in einem Zug in eine Parklücke, die senkrecht zur Fahrbahn angeordnet ist, vorwärts bzw. rückwärts einzufahren?
56
7 Das Parkhaus-Problem
7.3
Das Vorwärtseinparken
Jetzt muss eine Skizze her, an der wir die Situation vorstellen.
j
Abbildung 7.1: Welch ein Glück, ein freier Platz! Aber wie gelangt man hinein?
Die Skizze sieht ganz schön harmlos aus. Aber wehe, man steht da so nichtsahnend und sucht noch den richtigen Gang und hintendran stauen sich die anderen Fahrzeuge mit feixenden Fahrern. Schweiß bricht aus. Aber halt, wir überlegen mal genau. Unser Trick, um auf die Lösung zu kommen, ist derselbe wie im vorigen Kapitel: Wir stellen uns gedanklich in die Lücke hinein und fahren heraus. Dann erreichen wir die gesuchte Anfangsposition. Wir vereinfachen die Situation dahingehend, dass wir uns, aus der Parklücke gerade rückwärts fahrend, direkt vor den freien Platz stellen. In der echten Situation würde man schon etwas früher anfangen, das Lenkrad einzuschlagen; dadurch können noch etliche Zentimeter gespart werden. Diese Feinheiten überlassen wir gern unseren engagierten Leserinnen und Lesern. Wir wollen hier ja nur das Prinzip erläutern (Abb. 7.2). Hier schlagen wir unser Lenkrad voll ein – in welche Richtung hängt davon ab, wo wir hinwollen – und fahren weiter rückwärts, und zwar einen vollen Viertelbogen. Dazu gehört der Winkel α = 90◦ . Schon haben wir die Position erreicht, von der wir starten müssen, um in die Lücke hinein zu gelangen. Unsere Abbildung 7.3 zeigt uns genau diese Stellung.
7.3 Das Vorwärtseinparken
57
Abbildung 7.2: Wir stellen uns, aus der Parklücke gerade rückwärts fahrend, direkt vor den freien Platz, so dass die Mitte unserer vorderen Stoßstange bei ⊗ steht.
6
r
f ?
f
-
r
Abbildung 7.3: Links haben wir die Endstellung unseres Ausparkmanövers, also die Anfangsstellung zum Einparken.
58
7 Das Parkhaus-Problem
Für die mit ⊗ gekennzeichneten Punkte geben wir nun die Koordinaten an, um unsere Stellung genau beschreiben zu können. Wir nehmen dazu den Punkt in der Mitte der Einfahrt zur Parklücke als Nullpunkt, also Koordinaten (0, 0). Dann hat der Punkt an der Spitze unseres Autos die Koordinaten (−r − f, r − f). Dabei benutzen wir dieselben Bezeichnungen wie im Abschnitt 6.3, vgl. Seite 41: √ • r ist der effektive Wenderadius nach Formel (6.5): r = R2 − f 2 − w2 •
f
ist der Abstand von der Hinterachse nach vorne zur Front.
Wir drücken das noch einmal etwas einfacher aus. Vom Mittelpunkt unserer gewünschten Parkfläche müssen wir einen seitlichen Abstand r + f halten und dabei mit unserer Schnauze r − f nach vorne Luft haben. Damit es noch anschaulicher wird, nehmen wir uns die gleichen Autos wie im vorigen Kapitel vor und schreiben für sie die einzuhaltenden Abstände auf. Hersteller
Modell
VW BMW Mercedes Mercedes Audi Opel VW VW Ford Mercedes Opel Mercedes Renault
4er Golf 3er E46 C–Klasse A–Klasse A4 / S4 Lib. Astra 5-türig Passat Polo Focus Lim. 4-türig E–Klasse Corsa Lim. 3-türig Smart Laguna
seitl. Abstand 6.76 m 6.55 m 6.68 m 6.63 m 6.93 m 6.55 m 7.15 m 6.61 m 6.82 m 7, 20 m 6.49 m 5.07 m 7.14 m
Abst. Parkbucht 0.10 m −0.63 m −0.24 m 0.63 m −0.21 m −0.29 m −0.17 m 0.09 m −0.06 m −0.18 m −0.071 m 0.74 m −0.30 m
Wenn in dieser Tabelle ein negativer Abstand zur (Mitte der) Parkbucht auftritt, so meint das, man möge mit seiner Schnauze um die besagten Zentimeter über den Mittelpunkt der Parkbucht hinausfahren und dann erst einschlagen. Manche Autos haben halt eine furchtbar lange Schnauze.
7.4 Das Rückwärtseinparken
7.4
59
Das Rückwärtseinparken
Durch Erfahrung haben wir gelernt, dass man beim Rückwärtseinparken eine andere Startposition einnehmen kann. Eine Skizze wird uns auch hier genau erklären, wie das kommt.
6
r ⊗
r
H
H H b HH HH HH
⊗
Abbildung 7.4:Wir stellen uns, aus der Parklücke gerade vorwärts fahrend, direkt vor den freien Platz, so dass unsere Anhängerkupplung bei ⊗ steht.
Die Bezeichnungen bedeuten wie früher: •
r ist der effektive Wenderadius nach Formel (6.5): r =
•
b ist der Abstand von der Hinterachse nach hinten.
√ R2 − f 2 − w2
Und da sieht man es. Der seitliche Abstand ist lediglich r + b statt r + f wie zuvor. Vom Mittelpunkt unserer gewünschten Parkfläche müssen wir einen seitlichen Abstand r + b halten und dabei mit unserer Anhängerkupplung r − b nach hinten Luft haben. Der seitliche Abstand ist also geringer als vorher, da ja b sehr viel kleiner als f ist; der Abstand zur Parklücke sollte dann etwas größer als vorher sein, nämlich r statt r − f.
60
7 Das Parkhaus-Problem
Das liegt daran, dass der Mittelpunkt des Wendekreises über der Hinterachse liegt. Beim Rückwärtseinparken können wir daher eine wesentlich engere Position zum Parkplatz einnehmen zur Freude der hinter uns fahrenden Autos. Die können nämlich eventuell noch seitlich außen vorbei huschen, während wir den Rückwärtsgang suchen. Der etwas größere Abstand zur Parklücke hat höchstens den Effekt, dass wir durch Blinken die hinter uns Fahrenden auf „unsere“ Parklücke aufmerksam machen müssen, damit er oder sie sie nicht besetzt. Hersteller
Modell
VW BMW Mercedes Mercedes Audi Opel VW VW Ford Mercedes Opel Mercedes Renault
4er Golf 3er E46 C–Klasse A–Klasse A4 / S4 Lim. Astra 5-türig Passat Polo Focus Lim. 4-türig E–Klasse Corsa Lim. 3-türig Smart Laguna
seitl. Abstand 4.12 m 4.13 m 4.64 m 4.21 m 4.34 m 3.82 m 4.51 m 3.98 m 4.42 m 4.64 m 3.75 m 3.24 m 4.27 m
Abst. Parkbucht 2.74 m 1.82 m 2.38 m 3.05 m 2.38 m 2.17 m 2.47 m 2.72 m 2.34 m 2.38 m 2.67 m 2.57 m 2.57 m
8
Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
8.1
Einleitung
Was hat bloß Glatteis mit Brotschneiden zu tun? Das ist hier die Frage. Wir können noch eins drauf setzen und das Festfressen (Ist das nicht ein hübsches Wort mit seiner Doppelbedeutung?) einer Bohrmaschine hinzunehmen. Alle drei Probleme lassen sich mit denselben mathematischen Methoden bearbeiten? Das ist doch verblüffend, und genau das macht die Mathematik so spannend. Wir schildern zunächst die Aufgaben und machen uns dann an die Lösung.
8.2
Die Aufgabe
Glatteis-Problem Wie kommt es eigentlich, dass bei blockierenden oder durchdrehenden Rädern ein Auto so leicht seitlich wegrutscht? Eine Frage, die man sich so in Einzelheiten kaum selbst stellt, aber jeder, der einmal ins Schleudern geraten ist, fragt sich doch, warum das Auto nicht einfach geradeaus weitergefahren oder besser gerutscht ist. Dann wäre ja gar kein Problem entstanden. Aber nein, es wollte seitlich weg. Brotschneide-Problem Warum schneidet man beim Brotschneiden mit dem Messer hin und her, man will doch nach unten? Auch diese Frage wird sich kaum jemand bisher gestellt haben, aber alle, die wir mit dieser Frage konfrontiert haben, waren überrascht, lachten, wurden nachdenklich und sagten: „Ja, richtig! Warum eigentlich?“ Als Antworten kommen dann häufig die Sägezähne des Messers ins Spiel. Aber das meinen wir nicht. Das bringt zusätzliche Ef-
62
8 Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
fekte. Wir denken, jeder merkt beim Brotschneiden, dass das Messer leichter, ja fast von allein nach unten gleitet, wenn wir es hin und her bewegen. Dies zu erklären ist unser Ziel.
8.3
Physikalischer Hintergrund
Wir wollen hier nur das Autoschleudern betrachten und kommen anschließend auf das Brotschneiden zurück. Tatsächlich liegt beiden Phänomenen derselbe physikalische Sachverhalt zugrunde. Nehmen wir also einen Körper mit der Masse m. Das ist unser Auto. Es habe ein Gewicht G = m · g, wobei g die Erdbeschleunigung ist. Wir vereinfachen nun den Vorgang dadurch, dass wir mit dem Auto auf einer perfekten Geraden fahren, natürlich der x-Achse, die dazu noch in einer perfekten Ebene eingebettet ist, der x-y-Ebene. Sonst wird es zu kompliziert. Außerdem wollen wir uns mit konstanter Geschwindigkeit v = dx dt > 0 fortbewegen, t ist die Zeit. Die Physik lehrt uns, die Reibungskraft R in Richtung der Fortbewegung, also in
dxdass dy Richtung von v = dt , dt , proportional zur Gewichtskraft, also der Kraft senkrecht zur x-Achse, ist. Dabei wird eine dimensionslose Reibungszahl μ eingeführt. ⎛ dx ⎜ dt G·μ R = ⎜ dx 2 dy 2 · ⎝ dy + dt dt dt
⎞ ⎟ ⎟ ⎠
Wir betrachten zwei verschiedene Arten von Kräften, die auf das Fahrzeug einwirken. Zuerst ist da die Motorkraft, die wir in Richtung der Fortbewegung, also der x-Achse einsetzen. Wir bezeichnen sie mit J. Und dann haben wir die böse Seitenkraft z. B. durch Seitenwind, Gefälle, schiefe Fahrbahn o.ä. Sie sei mit K bezeichnet. Eines der physikalischen Grundgesetze, bereits von I. Newton formuliert, lautet: Kraft F
= =
Masse m
× ·
Beschleunigung a
a die zweite Ableitung der Bewegung nach der Zeit, Dabei ist die Beschleunigung d 2x d 2y . Wir fassen nun alles zusammen und beachten nur noch, dass , also a = dt 2 dt 2 die Reibungskraft der Bewegung entgegengerichtet ist. Also erhält sie ein negatives
8.4 Das mathematische Modell
Vorzeichen: ⎛ dx J ⎜ dt G·μ ⎜ ⎝ ⎠− · dx 2 dy 2 ⎝ dy K + dt dt dt ⎛
8.4
⎞
63
⎛
⎞ d 2x ⎜ dt2 ⎟ ⎟ ⎟ ⎟ = m·⎜ ⎜ ⎟ ⎠ ⎝ d 2y ⎠ ⎞
(8.1)
dt2
Das mathematische Modell
Bevor wir uns diese Gleichung etwas genauer ansehen, wollen wir uns noch Gedanken über den Anfangszustand machen. Wir starten mit der Untersuchung zur Zeit t = 0. Das sei also der Zeitpunkt, zu dem das Fahrzeug seitlich zu rutschen beginnt. Da befindet es sich demnach noch genau in der Spur, sei also noch nicht von der x-Achse abgewichen, was wir mathematisch so ausdrücken: y(0) = 0 Zu diesem Zeitpunkt soll das seitliche Rutschen beginnen, eine Änderung dieser Seitenbewegung hat also noch nicht Platz gegriffen. Mathematisch heißt das: dy (0) = 0 dt Diese beiden Bedingungen nennen wir Anfangsbedingungen. Genau das ist die Welt dieses Kapitels, die Untersuchung solcher sog. Anfangswertaufgaben. Sie sind mehr als häufig in den Anwendungen zu finden. Da diese aber in der Regel sehr viel komplizierter gebaut sind, wollen wir uns darauf konzentrieren, solche Aufgaben näherungsweise zu lösen. Um die Autorutschpartie zu Ende führen zu können, wollen wir noch eine weitere Vereinfachung hinzufügen. Zumindest am Beginn des Rutschvorgangs, also für kleine t sei die seitliche Rutschbewegung sehr viel kleiner als die Geradeausbewegung: dy 2 dx 2 dy dx < ⇒ dt dt dt dt Damit können wir die Wurzel im Nenner deutlich vereinfachen. Sie ist gleich dx/dt = v. Da wir das seitliche Rutschen untersuchen wollen, interessiert uns nur die zweite Komponente der Gleichung (8.1): K−G·μ·
d 2y 1 dy · = m· 2 . v dt dt
64
8 Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
Eine leichte Umformung ergibt dann die Gleichung: dy m · v d2 y K·v = + G·μ dt G · μ dt2
mit y(0) = 0,
dy (0) = 0 dt
(8.2)
Wir haben somit eine Gleichung erhalten, in der unsere gesuchte Funktion y(t) auftritt, aber etwas versteckt, es sind nur ihre erste und zweite Ableitung vorhanden. Solch eine Gleichung nennt man eine Differentialgleichung. Es ist schon erstaunlich, wo überall mit dem Auftreten von Differentialgleichungen zu rechnen ist. Mit ihrer Hilfe lassen sich sehr viele, wenn nicht gar die meisten Naturphänomene beschreiben. Zur Interpretation fügen wir die folgenden Bemerkungen an. Remark 8.1 1. Die erste Komponente der Gleichung (8.1) J−
d2 x G · μ dx · = m· 2 v dt dt
beschreibt die normale Fortbewegung auf der Straße, also in x-Richtung. Hier ist μ der Haftreibungskoeffizient. Die Industrie versucht, μ möglichst klein zu machen, was durch Schmierung der Achsen, eine bessere Gummimischung der Reifen usw. erreicht werden kann. μ → 0 bedeutet dann, dass links der zweite Term, also keine Reibungskraft, auftritt. Wir suchen (und finden) sehr leicht eine Funktion, deren zweite Ableitung konstant ist, denn das heißt ja, dass die Beschleunigung konstant ist. Ohne Reibung wird das Auto immer schneller. 2. Die zweite Komponente beschreibt die Querbewegung. Hier ist μ die Gleitreibung. Man ist daran interessiert, diese möglichst groß zu machen. Für μ → ∞ entsteht die Gleichung dy = 0 =⇒ y = const. dt Wegen der Anfangsbedingungen bleibt da nur die Funktion y ≡ 0 übrig. Das heißt dann, dass das Auto stur geradeaus fährt. Seitliches Wegrutschen tritt nicht auf. Als Fazit erhalten wir: Gewünscht wird ein Reibungskoeffizient, der richtungsabhängig und zwar in Fahrtrichtung möglichst klein, quer zur Fahrtrichtung möglichst groß ist. Die Industrie arbeitet daran.
8.5 Die Lösung
8.5
65
Die Lösung
Wir suchen nun eine Lösung der Gleichung (8.2). Wir betrachten also folgende Anfangswertaufgabe: dy m · v d 2 y K·v = + G·μ dt G · μ dt2 y(0) = 0,
mit y(0) = 0,
dy (0) = 0 dt
dy (0) = 0 dt
(8.3) (8.4)
Zur Lösung wenden wir die Laplace-Transformation an. Da wir nicht davon ausgehen können, dass viele unserer Leser mit diesem Verfahren vertraut sind, wollen wir die folgenden Gedankengänge nur kleingedruckt wiedergeben. Damit möchten wir andeuten, dass man dieses Kleingedruckte ruhig übergehen kann. Wir weisen dann mit Großdruck auf das Ergebnis hin, welches uns das oben geschilderte Problem löst.
Laplace–Transformation Kv mv d2 y dy · (s) = L (s) L + Gμ dt2 dt Gμ
Ausnutzen der Linearität des Laplace-Operators und des Differentiationssatzes ergibt: Kv 1 mv 2 · s · L [y](s) − s · y(0) − y (0) +s · L [y](s) − y(0) = · , Gμ s Gμ =0
=0
s>0
=0
Hier haben wir bereits zusätzlich die Anfangsbedingungen durch Unterklammern eingebaut. Da fallen also einige Terme weg. Rechts haben wir unser Wissen von früher, nämlich L [1](s) = 1/s verwendet. Zusammengefasst ergibt sich: Kv 1 mv 2 · s + s L [y](s) = · Gμ Gμ s Das lösen wir auf: Kv (mvs + Gμ) · s2 1 = Kv · (mvs + Gμ) · s2
L [y](s) =
(8.5)
66
8 Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
Nun kommt der schwere Akt der Rücktransformation. Dazu versuchen wir, den Term auf der rechten Seite in einfachere Terme aufzuspalten. Als Hilfsmittel dient die Partialbruchzerlegung; wir machen dazu folgenden Ansatz: As + B C 1 = + 2 2 (mvs + Gμ) · s s mvs + Gμ
(8.6)
Durch Multiplikation mit dem Hauptnenner führt das auf 1 = (As + B)(mvs + Gμ) + Cs2 . Drei Unbekannte A, B und C harren ihrer Bestimmung. Irgendwo müssen wir drei Gleichungen für sie finden. Durch den Hauptnennertrick haben wir die Ausnahme für s = 0 beseitigt. Wir können also sagen, dass diese Gleichung für alle s ∈ R gültig sein möge. Durch Wahl von s = 0, s = 1 und s = −1 erhalten wir dann unsere drei Gleichungen: s=0
=⇒
s=1
=⇒
1 1 = B · Gμ =⇒ B = Gμ 1 (mv + Gμ) + C 1 = A+ Gμ mv = A(mv + Gμ) + +1+C Gμ
Hieraus folgt: mv A(mv + Gμ) + C = − Gμ 1 s = −1 ⇒ 1 = −A + (−mv + Gμ) + C Gμ mv = −A(−mv + Gμ) − +1+C Gμ
(8.7)
Das führt auf −A(−mv + Gμ) + C =
mv . Gμ
(8.8)
Wir subtrahieren (8.8) von (8.7) und erhalten Amv + AGμ + C − Amv + AGμ − C = −
mv mv − , Gμ Gμ
also A=−
mv . G2 μ2
(8.9)
8.5 Die Lösung
67
C berechnen wir durch Einsetzen in (8.7): mv mv + (mv + Gμ) Gμ G2 μ2 m2 v2 = 2 2 G μ
C=−
(8.10)
Das setzen wir jetzt in den Ansatz (8.6) zusammen mit (8.5) ein: ⎡ ⎤ 1 m2 v2 − Gmv 2 μ2 s + Gμ 2 2 G μ ⎦ + L [y](s) = Kv ⎣ s2 mvs + Gμ m2 v2 Kv −mvs + Gμ + = 2 2 G μ s2 mvs + Gμ Gμ 2 Kmv −s + mv mv = 2 2 + G μ s2 mvs + Gμ Gμ 2 Kmv −s + mv 1 = 2 2 + G μ s2 s + Gmvμ =−
8.5.1
Kmv2 1 Kv 1 Kmv2 1 · + · + · G2 μ2 s Gμ s2 G2 μ2 s + Gmvμ
Das Ergebnis
Jetzt ist das Ganze in dem Topf, wo es kocht, wir können also rücktransformieren und erhalten die Lösung: y(t) = −
G·µ K · m · v2 K · m · v2 K · v · t + 2 2 · e− m·v t + 2 2 G ·μ G·μ G ·μ
(8.11)
Zu ihrer Interpretation entwickeln wir die Exponentialfunktion in eine Potenzreihe und betrachten nur die ersten Glieder. Wegen e−λt = 1 − λt +
λ2 t2 λ3 t3 λ4 t4 − + ±··· 2! 3! 4!
eingesetzt in die Lösung ergibt sich 1 G2 μ2 2 1 G3 μ3 3 Gμ Kv Kmv2 t+ t t − t ±··· + y(t) = 2 2 −1 + 1 − 2 2 3 3 G μ mv 2 m v 6 m v Gμ 1 K 2 1 GKμ 3 = t − t ±··· 2m 6 m2 v
68
8 Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
8.6
Deutung des Ergebnisses
Physikalisch lässt sich das folgendermaßen deuten: Für kleines t > 0 ist t3 t2 . Zu Beginn des Wegrutschens, also in der Tat für kleines t, kann daher der zweite Term vernachlässigt werden und die Lösung lautet: y(t) =
1K 2 t 2m
(8.12)
Und jetzt kommt die Entdeckung: In dieser Funktion steckt kein μ drin. Das bedeutet, dass der Rutschbeginn nicht mehr von der Gleitreibung beeinflusst wird. Es ist praktisch ein reibungsfreies Abdriften möglich. Jede noch so kleine Unebenheit oder seitliche Windböe, ja, der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings kann dieses Querrutschen verursachen (wobei bei Glatteis wohl selten ein Schmetterling zu sehen ist). Dann aber ist die Bewegung gleichmäßig beschleunigt, wie der t2 -Term sagt. Und genau das spürt man, und es ist schrecklich unangenehm, wenn man ins Schleudern gerät.
8.7
Ausblick
Wir wollen nicht versäumen, auf einige parallele Vorgänge hinzuweisen, die sich als vor- oder auch nachteilig erweisen. Zunächst die Bemerkung, dass auch ein Wasserfilm auf der Fahrbahn ähnliche Effekte auslösen kann. Wie sagte die Verkehrswacht: Ab 80 km/h fahren Sie Wasserski! Selbst auf einem Sandweg in der Wüste kann man bei hohen Geschwindigkeiten ins „Schwimmen“ geraten und diesen Schleudervorgang auslösen. 1. Die Autoindustrie bemüht sich zur Zeit intensiv um eine ASR, eine Anti-SchlupfRegulierung. Viele neue Autos sind mit ABS, einem Anti-Blockier-System ausgestattet. (a) ASR dient derzeit aber nur zum Anfahren bei Glatteis und nutzt lediglich aus, dass die Gleitreibung deutlich kleiner als die Haftreibung ist. Sie vermeidet also das Durchdrehen der Räder beim Anfahren. Es wäre aber auch sinnvoll, sie während der Fahrt zur Verfügung zu haben, damit man nicht durch fehlerhaftes Beschleunigen auf Glatteis oder regennasser Straße den Rutschvorgang einleitet.
8.7 Ausblick
69
(b) ABS verhindert das Blockieren der Räder beim Bremsvorgang. Beide Systeme müssten zusammenarbeiten, um das überaus nachteilige Durchdrehen oder auch das Blockieren der Räder zu verhindern. So wäre sicherlich mancher Unfall vermeidbar. 2. An vielen Bauteilen lockern sich auf unerklärliche Weise nach einiger Zeit wie von selbst die Schrauben. Hat man nicht sorgfältig genug gearbeitet? Das ist nur eine Erklärung. Wird ein solches Bauteil, z. B. eine Maschine oder eine Schranktür ständig erschüttert, so wird diesmal nicht die Schraube, sondern das sie umgebende Material bewegt, was für die Mathematik aber gleichwertig ist. Eine Bewegung der Schraube senkrecht zum Bohrloch ist fast reibungsfrei möglich, die Schraube lockert sich von allein. Dieser für den Autoverkehr oder Bauteile so verhängnisvolle Sachverhalt hat aber bei anderen Gelegenheiten seine Vorteile. •
So wissen wir jetzt, warum man beim Brotschneiden das Messer hin- und herbewegt. Eigentlich will man ja nach unten schneiden. Durch die seitliche Bewegung ist aber die Reibung für das senkrechte Schneiden praktisch aufgehoben, und wir kommen leicht nach unten. Das ist ja auch das Prinzip jedes Sägevorgangs.
•
Jeder, der mit einer Bohrmaschine hantiert hat, weiß, dass sich der Bohrer am Ende gerne fest frisst. Man kann ihn aber leicht wieder herausziehen, wenn man die Bohrmaschine weiter drehen lässt. Die Bewegung senkrecht zur Drehbewegung, also in Richtung nach außen geht fast reibungsfrei, wenn sich der Bohrer dreht.
•
Haben Sie sich schon einmal selbst beobachtet, wenn Sie einen Mantel oder ein Hemd ausziehen? Sie schütteln mit dem Arm, weil Ihnen die Erfahrung gezeigt hat, dass dann das Kleidungsstück leicht herabsinkt. Drehen Sie doch bitte beim nächsten Mal den Arm nur leicht hin und her. Damit erreichen Sie den gleichen Effekt, und nun wissen Sie auch, warum!
70
8.8
8 Das Glatteis- oder das Brotschneide-Problem
Kleine Denksportaufgabe
5 + 5 + 5 = 550 Das ist offensichtlich falsch. Sie können es aber durch einen Strich richtig machen. 1. Machen Sie aus dem = ein =. 2. Machen Sie aus dem = ein ≤. Es gibt aber noch eine Möglichkeit, mit nur einem Strich eine echte Gleichheit zu erhalten. Machen Sie aus einem der + eine 4 durch Anfügen eines Striches links.
9
Das Schnecke-Rennpferd-Problem
9.1
Einleitung
Dieses Kapitel befasst sich nicht mit den braven Beamten oder auch den lieben Schweizern oder noch anderen Gruppen, die in den Witzspalten ausgesandt werden zum Schneckensammeln und für die diese hurtigen Tierchen zu schnell sind. Nein, nein, im Gegenteil, wir möchten in diesem Kapitel darlegen, dass diese Wesen gar nicht so langsam sind, sondern es unter geeigneten Voraussetzungen sogar mit einem Rennpferd aufnehmen können. Einzige Änderung zum üblichen Aufenthaltsort einer Schnecke: Sie sitzt auf einem Gummiband, das von einem Rennpferd auseinander gezogen wird. Das macht doch keinen Unterschied, werden Sie denken. Das Rennpferd jagt in edlem Galopp davon und die Schnecke kriecht mit atemberaubender Langsamkeit hinterher. Die kommen nie zusammen, mag die Liebe auch noch so groß sein. Aber falsch gedacht. Beharrlichkeit führt manchmal schon zum Ziel. Auch wenn eine alte Volksweisheit die Antwort auf die Frage „Wie wird man am schnellsten reich?“ zu kennen glaubt: Ehrlich währt am längsten!
9.2
Die Aufgabe
Wie schon bei den anderen Aufgaben müssen wir natürlich auch hier einige Vereinfachungen vereinbaren. 1. Sowohl Schnecke als auch Rennpferd verfügen über ein langes Leben, brauchen während ihres Galopps niemals Futter und müssen auch nicht schlafen oder zwischendurch mal austreten. (Old Shatterhand konnte ja auch manchmal eine Woche lang ununterbrochen reiten.) 2. Das Gummiband ist beliebig dehnbar. Manchmal wünscht man sich beim Hosenkauf solch ein Material. Dann beschreiben wir die Aufgabe so: Ein ideal elastisches, beliebig ausdehnbares Gummiband ist am Punkt 0 befestigt. Dort sitzt eine Schnecke. Das Ende des Gummibandes bei Punkt A ist an ein Rennpferd
72
9 Das Schnecke-Rennpferd-Problem
gebunden. Schnecke und Rennpferd beginnen gleichzeitig, sich fortzubewegen; die Schnecke kriecht mit der konstanten Geschwindigkeit vs auf dem Gummiband entlang, das Rennpferd schnellt mit der konstanten Geschwindigkeit vp vs los und zieht das Gummiband samt darauf kriechender Schnecke in die Länge. Schnecke-Rennpferd-Problem (a) Kann die Schnecke das Pferd einholen? (b) Wie lange dauert es, bis eine Schnecke mit vs = 10−2 m/sec ein Rennpferd mit vp = 1 m/sec, das beim Punkt A 1 m von 0 entfernt startet, eingeholt hat?
9.3
Mathematische Formulierung
Wie in der Aufgabenstellung vorgegeben, sei vs vP s(t)
konst. Eigengeschwindigkeit der Schnecke, konst. Eigengeschwindigkeit des Pferdes, Ort der Schnecke zum Zeitpunkt t.
Der entscheidende Witz bei der Aufgabe liegt in der Tatsache, dass gilt: Geschw. Schnecke = Eigengeschw. Schnecke + Geschw. Gummi. Dies erkennt man ziemlich leicht dadurch, dass man sich ein Gummiband nimmt und irgendwo eine Büroklammer darauf befestigt. Zieht man nun das Gummiband auseinander, so stellt man fest, dass die Büroklammer nicht ortsfest bleibt, sondern mit dem Gummiband mitbewegt wird, ohne dass sie kriecht. Jeder Punkt des Bandes hat somit einen Anteil an der Geschwindigkeit des Pferdes. Die Geschwindigkeit der Schnecke am Ort s(t) ist bekanntlich s (t), ihre Eigengeschwindigkeit vs . Die Geschwindigkeit des Punktes des Gummibandes, wo die Schnecke sitzt, berechnet sich, da wir ein linear elastisches Gummiband vorausgesetzt haben, auf Grund der folgenden Proportion: Ort der Schnecke . Ort des Pferdes Der Ort des Pferdes ergibt sich wegen der konstanten Pferdegeschwindigkeit vP und dem Startpunkt A zu: Geschw. Gummi = vP ·
Ort des Pferdes = A +
t 0
vP dt = A + vP · t.
9.4 Lösung der Differentialgleichung
73
Jetzt haben wir alle Teile beisammen, um obige sprachliche Problemstellung in eine mathematische Gleichung zu überführen: s (t) = vs + vP ·
s(t) . A + vP · t
(9.1)
Dies ist eine lineare nichthomogene Differentialgleichung erster Ordnung für s(t). Für Leserinnen und Leser, die nicht so vertraut sind mit einer DGl, wie wir sie abkürzend in der Mathematik nennen, sei wenigstens ein bisschen Erklärung hinzugefügt. In der Gleichung (9.1) ist s(t), also eine Funktion, die den Ort der Schnecke angibt, unbekannt. Wir suchen also eine Funktion s(t), die wir in die rechte Seite von (9.1) einsetzen wollen. Als Ergebnis sollte die Ableitung der gesuchten Funktion herauskommen. Das ist eine spezielle Aufgabe, wie sie sehr häufig in den Anwendungen auftritt. Fast möchte man meinen, die Welt besteht ausschließlich aus Differentialgleichungen. Die höhere Mathematik hat viele Methoden und Verfahren entwickelt, wie man solche Aufgaben lösen kann. Wer sich nicht damit auskennt, kann ohne Verlust den folgenden Abschnitt, in dem wir die Lösung vorführen, überspringen.
9.4
Lösung der Differentialgleichung
Die Frage in diesem Teil der Aufgabe lautet nun: Gibt es eine endliche Zeit t, bei der gilt: Ort der Schnecke = Ort des Pferdes? Den Ort des Pferdes haben wir oben bereits angegeben, aus der Differentialgleichung bestimmen wir nun den Ort der Schnecke. Wir benutzen dazu die Lösungsformel für lineare Differentialgleichungen erster Ordnung, wie sie bei der Einführung vorgestellt wird: t
A · vs d ˜t A + vp˜t 0 t A + vp t d˜t · A · vs = A 0 A + vp ˜t t vs ln(A + vp˜t) = (A + vp t) vp 0 vs A + vp t . = (A + vp t) ln vp A A
s(t) = e− ln A+vp t ·
Dies ist also die Lösung der Differentialgleichung.
74
9 Das Schnecke-Rennpferd-Problem
9.5
Berechnung der Treffzeit
Wir lösen jetzt unsere Hauptaufgabe, wann treffen Pferd und Schnecke zusammen, durch Auflösen der zu untersuchenden Gleichung nach t: 0 = Ort der Schnecke − Ort des Pferdes = s(t) − (A + vp t) = (A + vp t)
⇐⇒ ln ⇐⇒
A+vp t A A+vp t A
=
vp vs
vs vp
ln(
A+vp t A )−1
vp
= e vs
vp
vs ⇐⇒ A + vp t = Ae vp ⇐⇒ t = vAp e vs − 1 .
Damit ergibt sich also stets bei Vorgabe von endlichen Werten eine endliche Zeit für das gesuchte Ereignis. Die Schnecke kann also das Pferd einholen. Man kann sich dies überraschende Ergebnis dadurch klarmachen, dass wir wieder unser Gummiband mit Büroklammer betrachten. Wir hatten ja schon gesehen, dass die Büroklammer nicht ortsfest bleibt, sondern mit dem Gummiband mitbewegt wird. Jeder Punkt des Bandes hat einen Anteil an der Geschwindigkeit des Pferdes. Je weiter nun die Schnecke voran kriecht, desto mehr gerät sie auf Teile des Gummibandes, die immer schneller vom Pferd mitbewegt werden. Schließlich wird die Schnecke über das Gummiband richtig vom Pferd mitgerissen. Da sie immer weiter fleißig kriecht, schafft sie es, das Pferd zu erreichen.
9.6
Auswertung des Beispiels
Setzen wir die Vorgabewerte in die Gleichung für die Zeit t ein: vp = 1 ⇒
m m , vs = 10−2 , A = 1 m, sec sec t = 1(e100 − 1) > 2100 = (210 )10 > (103 )10 = 1030 .
9.6 Auswertung des Beispiels
75
Das ist die Zeit in Sekunden. Rechnen wir das noch schnell in Jahre um, so wissen wir, dass ein Tag 86 400 Sekunden hat. Multiplizieren wir diese Zahl mit 365, so erhalten wir die Anzahl Sekunden für ein Nichtschaltjahr. Das sind 31 536 000. Machen wir es uns etwas leichter und teilen durch 100 000 000 also durch 108 , auf die paar Sekunden kommt es nicht an. Dann erhalten wir t = 1022 Jahre. Die Schnecke wird also das Pferd nach ca. 1022 Jahren eingeholt haben, wobei zu bedenken ist, dass das Weltall ein geschätztes Alter von ca. 1010 Jahren hat. Hoffen wir, dass der geneigte Leser nach dieser langen Rechnung noch etwas lächeln kann.
10
Das Anstoß-Problem
10.1
Einleitung
Wieder so ein unangenehmes Silvester, an dem man sich um Mitternacht so schrecklich viel für das neue Jahr vornimmt. Aber die Vorhaben des alten Jahres sind ja noch längst nicht abgearbeitet. Man sitzt und grübelt schon, wie man die Situation am besten meistert, wenn man gleich mit all den anderen anstößt und jemand die erste Rakete steigen lässt. Da kommt die fundamentale Idee, die die ganze Party schmeißt. Wir stellen einfach mal die Frage in den Raum. „Hier sind 30 Leute beisammen. Gleich will und soll jede(r) mit jede(rm) anderen anstoßen. Wie oft klingelt es dann? Da werden sicher einige Stirne in Falten gelegt. Das klingt doch so einfach. Na, vielleicht 30 mal. Aber jede(r) mit jede(rm) anderen, heißt vielleicht 60 mal? Aber man stößt ja nicht mit sich selber an, also nur 59 mal?“ Nun, als Mathematiker oder Mathematikerin macht man das gleich in einer großen Allgemeinheit.
10.2
Die Aufgabe
Anstoß-Problem Wenn N Menschen zusammenstehen und jeder mit jedem anderen mit seinem Glas anstößt, wie oft klingelt es dann? Jetzt gehen wir die Sache mal logisch an. 1. Wenn nur ein Mensch im Raum ist, so stößt er mit niemanden an, sondern trinkt seinen Frust allein herunter. 2. Sind zwei da, so klingelt es einmal. Wieviel Spannung da sonst noch knistern mag, lassen wir außer acht, wir wollen ja nur Mathematik betreiben.
78
10 Das Anstoß-Problem
3. Bei drei Menschen denken wir so: Zu zweien kommt noch ein dritter hinzu, der muss dann mit den beiden anderen anstoßen, also noch zweimal zusätzlich zu dem einen Mal der ersten beiden. Das macht zusammen 1 + 2 = 3. 4. Jetzt sind wir mutig und betrachten vier Menschen. Denken wir uns drei schon da, für die es 3 mal geklingelt hat. Der vierte kommt hinzu und muss mit den drei anderen anstoßen, also zusammen 1 + 2 + 3 = 6. 5. Jetzt wird es klarer. Bei fünf Personen sind es 1 + 2 + 3 + 4 = 10 Klingeltöne. Aber jetzt kommt der Mathematiker: Wie oft klingelt es bei N Personen? Na, klingelt’s? Richtig, bei N Personen sind es 1 + 2 + 3 + · · · + (N − 1). Man muss also nur immer Zahlen addieren. Jetzt kommt die heißeste Kiste für den Mathematiker. Gibt es für diese Operation vielleicht eine einfache Formel? Versuchen wir, uns an diese Geschichte mit einem Beispiel heranzupirschen. Was sagen Sie zu folgender Frage: Wie groß ist die Summe der ersten 100 Zahlen, also 1 + 2 + · · · + 100? Das ist die berühmte Frage, die seinerzeit ein Lehrer dem kleinen Carl Friedrich1 gestellt hat, um ihn eine Weile zu beschäftigen. Damals war es üblich, dass Lehrer mehrere Klassenstufen zugleich unterrichteten. Das geschah dadurch, dass man Teilen der Schüler längere Aufgaben stellte, die sie selbstständig lösen mussten, während der Lehrer mit den anderen Schülern weiter arbeitete. Hier aber hatte er die Rechnung ohne Carl Friedrich gemacht. Der löste die Aufgabe im Handumdrehen („Die Summe ist 5050!“) und nervte den Lehrer weiter. 1
Gauß, C.F. (1777 – 1855)
10.2 Die Aufgabe
79
Wie hat er das gemacht? Nun, vielleicht ist das ganze ja nur eine Anekdote und entspricht nicht der historischen Wahrheit; aber wir können doch einen recht einfachen Weg aufzeigen, wie man die hundert Zahlen im Kopf addiert. Ob Gauß das damals so gemacht hat, weiß heute niemand mehr. Wir teilen die hundert Zahlen in vier Blöcke. Der erste reicht von 1 bis 49, der zweite enthält nur die 50, der dritte geht von 51 bis 99 und der vierte enthält nur die 100. Den ersten und den dritten Block schreiben wir nebeneinander, beginnen aber den dritten Block von oben nach unten 1 2 .. .
99 98 .. .
48 49
52 51
Unser Falkenauge sieht sofort, dass hier in jeder Zeile als Summe 100 herauskommt. Das sind 49 mal 100. Dann ist da noch die 100 vom 4. Block. Also sind das 50 mal 100, also 5000. Jetzt schwirrt nur noch die 50 vom 2. Block einsam durch die Gegend. Addieren wir sie schnell, so erhalten wir 5050 als Gesamtsumme der Zahlen von 1 bis 100. Genial einfach! Können wir das verallgemeinern? Wir haben doch die hundert Zahlen in vier Blöcke geteilt, indem wir quasi bei der Hälfte einen Schnitt gelegt haben. Nehmen wir an, dass die Endzahl gerade ist, hier 100; dann ist die Hälfte 50. Dann haben wir gesehen, dass sich 50 mal die Summe 100 ergab, indem wir die Blöcke geschickt nebeneinander geschrieben haben; also allgemein n · n. 2 Dazu mussten wir noch unser einsames Mittelelement n/2 addieren, also ergibt sich die Formel Σ=
n n ·n+ . 2 2
Das sieht nach einer geschickten Formel aus, die wir noch wesentlich einfacher schreiben können als Σ=
n n(n + 1) n ·n+ = , 2 2 2
80
10 Das Anstoß-Problem
was Sie hoffentlich leicht nachvollziehen können. Diese Formel haben wir uns überlegt, wenn n eine gerade Zahl ist. Dann konnten wir ja die Mittelzahl finden. Wie ist es bei ungeradem n? Wir behaupten jetzt frech, dass unsere Formel immer richtig ist, auch für ungerade Zahlen, also Theorem 10.1 Für die Summe 1 + 2 + · · · + n ergibt sich stets Σ = 1+2+3+···+n =
n · (n + 1) , 2
für n ≥ 1.
Das ist eine ganz schön lockere Behauptung. Es soll ja schließlich für alle natürlichen Zahlen, also für unendlich viele Zahlen richtig sein. Und das ist eine verdammt große Zahl. Mathematiker haben sich da ein feines Verfahren ausgedacht, wie man solche Formeln beweist.
10.3
Vollständige Induktion
Wir beginnen mit einem nicht so ernst gemeinten Beispiel: Behauptung: 60 ist durch alle Zahlen teilbar. Probieren wir es mal wie ein Physiker: 60 ist durch 2 teilbar, ok. 60 ist durch 3 teilbar, auch ok. 60 ist durch 4, durch 5 durch 6 teilbar. 60 ist durch 7, nee, das ist vielleicht ein Messfehler. Machen wir noch eine Probe zur Sicherheit: 60 ist durch 10 teilbar. Alles klar. Bis auf einen Messfehler keinen Widerspruch gefunden. Ja, so lästern Mathematiker!
10.3 Vollständige Induktion
81
Bei folgender Behauptung hat man schon etwas mehr Arbeit: Behauptung: Die Funktion f(x) = x2 − x + 41 liefert für jede natürliche Zahl x eine Primzahl. Beispiele zeigen: f(3) = 47 ist eine Primzahl. f(10) = 131 ist eine Primzahl. f(20) = 421 ist auch eine Primzahl. Wir verraten es Ihnen. Da müssen sie ganz schön Geduld haben. Bis zur Zahl 40 kommen immer Primzahlen heraus. Erst die Zahl 41 macht die Behauptung kaputt: f(41) = 41 · 41 − 41 + 41 = 41 · 41 So geht das also nicht. Kein Problem, sich Fragen auszudenken, wo Sie sehr lange arbeiten müssten, um einen Widerspruch zu entdecken. Das Berechnen einzelner Beispiele ist manchmal amüsant, hat aber keinen Beweischarakter. Es taugt höchstens, wenn man nach einem Gegenbeispiel fahndet. Wir brauchen ein vollständiges Prinzip zur Beweisführung. Das Berechnen einzelner Beispiele taugt zu nichts. Hier hilft die vollständige Induktion. Das Beweisprinzip der vollständigen Induktion hört sich reichlich apokryph an. Eine Formulierung könnte so lauten: Prinzip der vollständigen Induktion: Wenn eine Aussage für k = 1 richtig ist und wenn aus der Richtigkeit für eine natürliche Zahl k (Induktionsvoraussetzung) stets die Richtigkeit für den Nachfolger k + 1 folgt, dann ist die Aussage für jede natürliche Zahl richtig. Das ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen. Wenn ich etwas für k = 1 weiß und stets beweisen kann, dass es für den Nachfolger gilt, so gilt es also für 2 und dann für 3 und dann für 4 usw. Also gilt es für alle natürlichen Zahlen. Zwei Punkte müssen wir also bearbeiten: 1. Wir müssen einen Anfang finden, für den unsere Behauptung richtig ist: Induktionsanfang. 2. Wir müssen den allgemeinen Schluss von k auf k+1 vollziehen: Induktionsschluss.
82
10 Das Anstoß-Problem
Dass wir ohne den Induktionsschluss nicht auskommen, zeigen unsere Beispiele oben. Betrachten Sie mit mir die Behauptung: Alle Menschen haben die gleiche Haarfarbe, nämlich die meine. Entschuldigen Sie diesen Egoismus, aber vielleicht senden Sie mir ein Büschel Ihrer Haare, dann nehme ich Sie bei der nächsten Auflage als Paradebeispiel. Als Induktionsanfang nehmen wir die Menge, die nur aus mir selbst besteht. Alle Menschen dieser Menge haben dann meine Haarfarbe. Setzen wir jetzt voraus, die Behauptung sei richtig für eine Menge mit k Menschen. Dann nehmen wir eine Menge mit k + 1 Menschen. Ohne große Einschränkung können wir annehmen, dass ich unter diesen Menschen bin. Dann werde ich einfach aus dieser Menge rausgeworfen, und es bleibt eine Menge von k Menschen übrig, die nach Induktionsvoraussetzung alle meine Haarfarbe besitzen. Also haben auch die k + 1 Menschen, wenn ich wieder in den Kreis hinein darf, alle meine Haarfarbe. Und der „Beweis“ ist vollbracht. Unser Fehler liegt hier im Induktionsanfang. Wir wollen doch Menschen vergleichen. Da reicht es nicht, nur einen, nämlich mich selbst zu betrachten. Sobald ich aber eine Menge mit zwei Menschen, wovon einer ich bin, betrachte, wird es schwer fallen zu zeigen, dass der andere meine Weißhaarfrisur hat. Der Induktionsanfang war also fehlerhaft. Kehren wir zurück zu unserer Additionsaufgabe, für die wir behauptet haben: Σ = 1+2+3+···+n =
n · (n + 1) , 2
für n ≥ 1.
Für k = 1 müssen wir nur die 1 addieren. Rechts in der Formel ergibt sich also alles richtig.
1(1+1) 2
= 1,
Machen wir den Spaß auch noch für k = 2. Links bilden wir also 1 + 2 = 3. Prüfen wir = 3. Auch das sieht sehr vernünftig aus. rechts, so folgt: 2(2+1) 2 Jetzt kommt der schwere Schritt. Wir nehmen an, dass die Formel richtig sei für ein beliebiges k. Dann müssen wir ihre Richtigkeit auch für k + 1 nachweisen. Wir müssen also zeigen: 1 + 2 + · · · + k +(k + 1) =
(k + 1)(k + 2) 2
10.4 Anwendung
83
Dabei dürfen und müssen wir ausnutzen, dass wir links von dem unterklammerten Teil die Summe kennen. Damit rechnen wir einfach weiter: k(k + 1) 2(k + 1) k(k + 1) +k+1 = + 2 2 2 k(k + 1) + 2(k + 1) = 2 (k + 1)(k + 2) = 2
· · · + k +(k + 1) = 1 + 2 +
und genau das wollten wir zeigen. Mit diesem Trick könnten wir jetzt unsere Kenntnis von k = 1 auf k = 2, dann auf k = 3, dann auf k = 4 usw. erweitern. Also wissen wir das Ergebnis für alle natürlichen Zahlen.
10.4
Anwendung
Nun zurück zum Anstoßen. Eine Kleinigkeit gilt es zu beachten. Einer alleine wird mit niemandem anstoßen, da kein anderer da ist. Unsere Aufgabe macht also erst Sinn ab zwei Personen. Die stoßen dann genau einmal an. Bei N Personen haben wir daher zu bedenken, dass der N-te mit N − 1 Personen anstößt, also geht unsere Summe nur bis N − 1. Unser Anstoß-Problem lautet daher in mathematischer Form: Wie groß ist die Summe 1 + 2 + · · · + (N − 1)? Nach unserer Formel ergibt sich daher: 1 + 2 + · · · + (N − 1) =
(N − 1) · N . 2
Dazu ein paar Beispiele: Bei 30 Personen klingelt es 29 · 30 = 435, 2 ganz schönes Geklingel, das. Bei 50 Personen sind es schon
49·50 2
= 1225 mal.
84
10.5
10 Das Anstoß-Problem
Verwandte Probleme
Diese Aufgabe, die Summe von N Zahlen zu bilden, tritt auch in anderem Gewand auf. Zum Beispiel kann man fragen, wie oft sich N paarweise verschiedene Geraden im Raum höchstens schneiden können. Es ist nicht ausgeschlossen, dass alle Geraden parallel laufen; dann schneiden sie sich gar nicht. Das Minimum haben wir also schon. Es ist aber ausgeschlossen, dass zwei Geraden übereinstimmen; sie mögen bitte paarweise verschieden sein. Sonst hätten wir ja unendlich viele gemeinsame Punkte. Wie sieht es also mit der Höchstzahl bei verschiedenen Geraden aus? Die Antwort lässt sich wörtlich von oben übernehmen. „Sich schneiden“ entspricht genau dem „miteinander anstoßen“. Also erhalten wir dieselbe Antwort wie oben in Satz 10.1: N paarweise verschiedene Geraden im Raum schneiden sich höchstens in (N − 1) · N 2 Punkten. Betrachten wir als weiteres verwandtes Problem die Abbildung 10.1.
Abbildung 10.1: Kästchenspiel zur Berechnung von 1 + 2 + · + (N − 1).
Es handelt sich um so ein halbes Quadrat mit der Seitenlänge 10. Wir haben eine Menge kleine quadratische Kästchen hineingemalt, alle gleich groß. Nun fragen wir, wieviel solche Kästchen sind das, natürlich bei einer Seitenlänge von N.
10.5 Verwandte Probleme
85
In unserem Beispiel haben wir bei einer Seitenlänge von N = 10 in der obersten Reihe 1 Kästchen, darunter zwei usw., bis wir in der untersten 9 Kästchen zählen. Zusammen sind das 1 + 2 + · · · + 9 = 9·10 2 = 45 Kästchen nach unserer Formel. Mit diesem Kästchenspiel können wir uns aber auf ganz andere Art die Formel für die Summe herleiten. Bei einer Seitenlänge N hätte das volle Quadrat N · N Kästchen. Die Diagonale spielt aber nicht mit. Dort sind N Kästchen versammelt. Die Differenz N · N − N müssen wir auf die obere und die untere Hälfte aufteilen, also durch 2 teilen und erhalten Σ=
N · N − N (N − 1) · N = , 2 2
was genau unsere alte Formel ist.
11
Das Bierdeckel-Problem
11.1
Einleitung
Stellen Sie sich vor, sie sitzen gemütlich mit Freundinnen und/oder Freunden in einer Kneipe beim Bier. Ihre Gläser stehen auf runden Bierdeckeln. Da nimmt plötzlich jemand zwei Bierdeckel und hält sie hoch. Dann schiebt er vor aller Augen die beiden Deckel übereinander. Erst nur ein wenig, dann immer weiter, bis sie genau übereinander liegen, und überlegt laut: Wenn ich die Deckel ganz wenig übereinanderschiebe, ist die überdeckte Fläche sehr klein. Schiebe ich weiter, wird die überdeckte Fläche immer größer. Am Ende ist sie genau so groß wie ein Bierdeckel.
11.2
Die Aufgabe
Jetzt fragt er: Wann ist diese gemeinsame Fläche gerade halb so groß wie die Fläche eines Bierdeckels? Das ist doch nun wirklich eine interessante Frage, deren Lösung jeden anständigen Biertrinker herausfordert und die man als wesentlichen mathematischen Beitrag zur Weltordnung am Biertisch erörtern kann: Bierdeckel-Problem Wie weit muss man zwei Bierdeckel übereinander schieben, damit die gemeinsam überdeckte Fläche gerade die Hälfte eines Bierdeckels ausmacht?
11.3
Physikalischer Hintergrund
Zur Lösung muss man die übliche Einschränkung bei solchen Aufgaben mit einbeziehen: Bei einem abendlichen Disput hat man selbstverständlich keinerlei Hilfsmittel zur Hand. Vielleicht hat jemand einen Stift zum Schreiben und halt eben die Bier-
88
11 Das Bierdeckel-Problem
deckel oder auch das Tischtuch. Aber normalerweise fehlt eine Formelsammlung. Wir werden also alle Formeln herleiten müssen. Bei dieser Aufgabe sind die physikalischen Einschränkungen recht gering. 1. Wir werden natürlich das Ganze nur in der Ebene betrachten, die Bierdeckel also als reine Kreise ansehen. Ihre Dicke spielt ja auch wirklich keine Rolle. 2. Sodann denken wir uns die unendlich dünnen Deckel auch noch ideal kreisrund. Man muss nur mal eine mittlere Lupe nehmen, um diese Annahmen tatsächlich als Einschränkungen der Wirklichkeit zu erkennen. Das ist aber ein typisches Phänomen, wenn man die Natur mathematisch beschreiben will.
11.4
Mathematische Beschreibung
Schauen wir uns die Situation zunächst an der Skizze rechts an.
..................................C .......................................................... ............... . . . . . . . . . . ....... . . .... . . . . . .. ..... ..... LL .......... ..... . . . . ..... . . .... .. .. . . .... . . .... L .... .... ... . . .. .. L ... ... .. .. ... ... L .. .. ... ... L .. .. ... ... L . .. .. ... E .. M α ... L ... .. .F ... . . L B . . ... ... . . L . . ... ... .. .. ... L . . ... ... ... .. .. . . ... LL . .... . . . .... .. .... ..... L ........ .... . ..... . . . . . ...... L ..... ...... ... ......... ......... ......... ...... . . . . . . . . . ................ . L . . . . ............................. .......................................... A
Abbildung 11.1: Zur Bierdeckel-Problematik
Die schraffierte Fläche möchte also so groß sein wie jede der beiden nichtschraffierten (Mond-)Flächen. Nennen wir den (gemeinsamen) Radius der Kreise R, so wird also verlangt, dass die schraffierte Fläche den Inhalt hat F = π · R2 /2.
(∗)
11.4 Mathematische Beschreibung
89
Andererseits besteht die Fläche aus zwei (gleich großen) Kreisabschnitten, deren Flächeninhalte sich als Differenz des zugehörigen Kreisausschnittes mit dem Winkel α und dem aus zwei rechtwinkligen Dreiecken zusammengesetzten Dreieck ABC ergeben zu F = 2 · FAbsch = 2 · (FA − F ). Damit haben wir zugleich zwei Unbekannte eingeführt, nämlich den Radius R und den Winkel α. Wenn das man gut geht! Der Inhalt des Kreisausschnittes berechnet sich nach FA = πR2 ·
α α = R2 . 2π 2
Der Inhalt eines rechtwinkligen Dreiecks ist ja bekanntlich das halbe Produkt der beiden Katheten. Also haben wir mit x = MB = R · cos(α/2), y = MC = R · sin(α/2) F = 2 · x · y/2 = x · y = R2 · sin(α/2) cos(α/2). Das setzen wir oben ein und berücksichtigen (∗) α R2 − R2 · sin(α/2) cos(α/2) = π · R2 /2. F = 2· 2 Nun setzen wir etwas Trigonometrie ein, nämlich das Additionstheorem sin 2γ = 2 · sin γ cos γ und erhalten αR2 − R2 sin α = πR2 /2. Hier lässt sich offensichtlich prächtig durch R2 kürzen, womit nicht nur eine der beiden Unbekannten verschwindet, sondern sich auch zeigt, dass der Winkel α nicht von der Größe der Bierdeckel abhängt. Es gibt einen festen universellen Winkel α, der das hälftige Überdecken bewirkt. Der Winkel α ist eine Naturkonstante! Und dieser Winkel berechnet sich aus der folgenden Gleichung α − sin α = π/2.
(11.1)
90
11.5
11 Das Bierdeckel-Problem
Die Lösung
Dies ist eine sogenannte transzendente Gleichung. Es ist wohl nicht möglich, diese Gleichung direkt nach dem unbekannten Winkel α aufzulösen. Stattdessen müssen wir versuchen, die Lösung näherungsweise zu berechnen. Dazu hat die Mathematik schon lange wunderbare Verfahren bereit gestellt.
Das Fixpunktverfahren Das erste ziemlich simple Verfahren heißt Fixpunkt-Verfahren und geht auf Stefan Banach1 zurück. Versuchen Sie doch mal mit Ihrem Taschenrechner folgendes Kunststück: Stellen Sie ihn auf „rad“ ein. Testen sie ihn, indem Sie die Zahl 3.14159 (eine Näherung für π) eingeben und die Funktionstaste cos drücken. Es müsste ungefähr −1 herauskommen, also vielleicht −0.999999. Dann ist es richtig. Bitten Sie jetzt jemanden, eine beliebige Zahl zwischen 0 und 1, wirklich größer als 0 und kleiner als 1, einzutippen. Danach soll sie/er sehr oft, also z. B. 50 mal die cos Taste drücken. Egal welche Zahl sie/er wählt, immer wird nach einiger Zeit die Zahl 0.7390851333 im Display stehen. Diese Zahl können Sie ja vorher auf einen Zettel schreiben und anschließend als „Zauberer“ präsentieren. Dann sollten Sie das aber nicht wiederholen, sonst merkt sie/er den Schwindel, dass immer diese Zahl herauskommt. Wie geht das, warum passiert das? Nun, Stefan Banach, der das Ganze natürlich in einem viel allgemeineren Rahmen vorgestellt hat, betrachtete sogenannte Fixpunkt-Probleme. Definition 11.1 Gegeben sei eine beliebige Funktion T(x) : [a, b] → R. Dann heißt eine Zahl x∗ Fixpunkt von T, wenn gilt: T(x∗ ) = x∗ .
1
Banach, S. (1892 – 1945)
(11.2)
11.5 Die Lösung
91
Das ist also ein Punkt, der durch die Abbildung T auf sich selbst abgebildet wird. Wir wollen uns hier nicht mit den Fragen, wann es einen solchen Fixpunkt gibt und wann es nur einen einzigen gibt, aufhalten, sondern lediglich das Verfahren von Banach zur Berechnung eines solchen Fixpunktes erläutern. Dazu wählen wir einen beliebigen Startpunkt x0 aus dem Intervall [a, b]. Das ist schon der erste Punkt, wo der Mathematiker Arbeit hat. Er muss zeigen, unter welchen Voraussetzungen man tatsächlich einen beliebigen Punkt wählen kann und immer zum richtigen Ergebnis kommt. Startwert
x0
Dann berechnen wir die erste Näherung durch erste Näherung
x1 = T(x0 ).
Wir zeigen unten am Beispiel, wie einfach das geht. Und weil es so einfach geht, machen wir es noch mal: zweite Näherung
x2 = T(x1 )
und noch mal dritte Näherung
x3 = T(x2 )
und so weiter immer wieder. Wir fassen das Vorgehen im folgenden Algorithmus zusammen. Fixpunkt-Verfahren 1. Wähle als Startwert eine reelle Zahl x0 . 2. Berechne x1 , x2 , . . . nach folgender Formel: xk+1 = f(xk ),
k = 0, 1, 2, . . .
Der Witz an der Geschichte: Banach hat gezeigt, dass unter gewissen Voraussetzungen die Folge von Näherungen x0 , x1 , x2 , . . . gegen den Fixpunkt konvergiert. Und die Rechnerei geht puppig leicht. Betrachten wir folgende Skizze (Abb. 11.2, S. 92). Wir haben eine Funktion T(x) willkürlich gewählt. Die eingetragene Winkelhalbierende ist die Funktion y = x. Um nun den Fixpunkt zu erhalten, wähle man einen Startwert x0 und berechne T(x0 ). Diesen Wert, der ja auf der y-Achse zu finden ist, nehmen wir als neues x1 . Das haben wir dadurch angedeutet, dass wir T(x0 ) auf die Winkelhalbierende projizieren und dann nach unten abtragen.
92
11 Das Bierdeckel-Problem
6
y=x T(x) T(x0 )
h x∗
x2
x1
x0
Abbildung 11.2: Skizze zum Fixpunktverfahren
Das Newtonverfahren Dieses Verfahren fragt nicht nach einem Fixpunkt, sondern nach einer Nullstelle einer vorgelegten Funktion. Isaac Newton2 hatte eine wunderschöne Idee, diese Nullstelle näherungsweise zu berechnen. Wir bieten erst mal seine Formel an: Newton-Verfahren 1. Wähle als Startwert eine reelle Zahl x0 . 2. Berechne x1 , x2 , . . . nach folgender Formel: xk+1 = xk −
f(xk ) f (xk )
Das Newton-Verfahren kann man leicht anschaulich deuten. Betrachten wir die Skizze oben. Wir haben eine Funktion f eingezeichnet, die bei x∗ eine Nullstelle hat. Wir 2
Newton, Sir I. (1643 – 1727)
11.6 Anwendung auf das Bierdeckel-Problem
6
93
y f(x)
d x∗
x1
x0
x
Abbildung 11.3: Skizze zum Newton-Verfahren
starten bei x0 und gehen zum Punkt (x0 , f(x0 )). Dort legen wir die Tangente an den Graphen. Das geht hurtig mit der Punkt-Steigungsform: y − f(x0 ) = m = f (x0 ) =⇒ y − f(x0 ) = (x − x0 ) · f (x0 ). x − x0 Diese Tangente bringen wir nun zum Schnitt mit der x-Achse, setzen also y = 0, und benutzen diesen Schnittpunkt als neue Näherung x1 . Die zugehörige Formel lautet: x1 = x0 −
f(x0 ) , f (x0 )
das ist aber genau obige Newton-Formel.
11.6
Anwendung auf das Bierdeckel-Problem
Nun können wir uns an die Auswertung unserer Bierdeckelaufgabe wagen. Zunächst hilft uns eine grobe Skizze, um überhaupt eine Vorstellung von der Lösung zu bekommen. Dazu formen wir die Gleichung (11.1) ein bisschen um: α − π/2 = sin α.
94
11 Das Bierdeckel-Problem
1.5 1 0.5 0 -0.5 -1 -1.5
-4
-2
0
2
4
6
8
Abbildung 11.4: Skizze für die Bierdeckelgleichung (11.1). Wie zu sehen ist, schneiden sich die beiden Graphen y(α) = α − π/2 und y(α) = sin(α) genau einmal in der Nähe von α = 2.
Wir skizzieren die beiden Seiten dieser Gleichung, also die Funktionen y(α) = α−π/2 und y(α) = sin α. Es gibt also genau eine Lösung unserer Bierdeckelaufgabe. Lösung mit Fixpunktverfahren. Versuchen wir es zunächst mit der Fixpunktberechnung. Dazu müssen wir die Fixpunktform herstellen. Eine einfache Idee besteht in folgender Umformung der Gleichung (11.1) von Seite 89: α − sin α = π/2 ⇐⇒
α = sin α + π/2
(11.3)
Dies ist die Form x = T(x), nur mit α an Stelle von x. Aus der Skizze entnehmen wir den groben Startwert α0 = 2. Berechnen wir den ersten Näherungswert, so ergibt sich α1 = sin α0 + π/2 = 2.5. Dann erhält man ebenso α2 = sin α1 + π/2 = 2, 18509.
11.6 Anwendung auf das Bierdeckel-Problem
95
Das Spiel geht so weiter. Wir haben unsern kleinen Rechenknecht ein wenig arbeiten lassen und haben erhalten: α35 = sin α34 + π/2 = 2.309881 Wenn wir weiter iterieren, so ändert sich am Ergebnis nichts mehr. Also nehmen wir das als Endergebnis. Lösung mit Newton-Verfahren. Nun berechnen wir mit dem Newton-Verfahren die Nullstelle der Gleichung α − sin α − π/2 = 0. Wir betrachten also f(α) = α − sin α − π/2, und damit f (α) = 1 − cos α. Wir starten wieder mit α0 = 2. Dann ergibt sich für α1 : f(α) f (α) α0 − sin α0 − π/2 = 1 − cos α0 = 2.339013
α1 = α0 −
Für das weitere Rechnen bemühen wir wieder unseren kleinen Rechner und listen die Ergebnisse auf: x0 = 2.000000 x1 = 2.310063 x2 = 2.309881 x3 = 2.309881 x4 = 2.309881 Wau, das geht ja erheblich schneller als das mit dem Fixpunkt. Wär’ ja auch verwunderlich, wenn nicht; denn schließlich müssen wir eine viel kompliziertere Gleichung lösen, mit Ableitung usw. Wir haben die sich nicht mehr ändernden Stellen unterstrichen. Als Endwert erhalten wir also beide Male den Winkel im Bogenmaß α = 2.309881.
96
11.7
11 Das Bierdeckel-Problem
Schlussbemerkung
Eine Bemerkung zur Auswertung sollte hier nicht fehlen. Wenn wir den Endwert der obigen Iteration vom Bogenmaß in das Gradmaß umrechnen, so erhalten wir α = 132.3464473◦ ≈ 90◦ + 42◦ . War da nicht mal was mit 42?? Richtig, da hat doch ein Herr Adams (vgl. [6]) die Zahl 42 zur Sinnzahl des Lebens erkoren. Das schien damals völlig aus der Luft gegriffen, jedenfalls war kein Grund für die Wahl dieser Zahl angegeben. Hier mit dieser Bierdeckelgeschichte haben wir eine Begründung nachgeliefert, dass sich der „Sinn des Lebens“ auch in einer einfachen Party-Aufgabe offenbaren kann. Wir sollten noch erwähnen, dass die Strecke l = EF auf der x-Achse, die ein Maß für die Überdeckung sein kann, natürlich vom Radius der Bierdeckel abhängt. Für sie gilt α . l = 2R − 2MB = 2 R − R cos 2
12
Das Wahl-Problem
12.1
Einleitung
Alle vier Jahre ist Bundestagswahl; dazwischen liegen sehr viele Landtagswahlen, Kommunalwahlen, Europawahlen etc. Machen wir doch mal folgendes Spielchen. Da sind 1000 Menschen beisammen, die sich in drei Interessengruppen (das sind dann später die Parteien) verteilen. Sie wollen gerne einen Rat aus 10 Menschen bilden. Bei einer Wahl erhalten Gruppe 1 Gruppe 2 Gruppe 3
450 281 269
Stimmen Stimmen Stimmen
Das sind genau die 1000 Stimmen. Für 100 Stimmen wird es einen Abgeordneten geben, wenn man 1000 richtig durch 10 geteilt hat. Also erhält von vorne herein Gruppe 1 Gruppe 2 Gruppe 3
4 2 2
Abgeordnete Abgeordnete Abgeordnete
Damit sind 8 Abgeordnete vergeben. Was geschieht nun mit dem 9. und dem 10.? Diese armen Menschen können sich doch nicht selbst halbieren oder dritteln. Da sind noch 50 Stimmen der Gruppe 1, 81 Stimmen der Gruppe 2 und 69 Stimmen der Gruppe 3 unberücksichtigt geblieben. Vielleicht wird man allgemeinen Konsenz dahin finden, der Gruppe 2 mit ihren 81 Stimmen noch einen Abgeordneten zu überlassen. Was aber dann mit dem letzten? Sind die 69 Stimmen mehr wert als 50 oder umgekehrt?
98
12 Das Wahl-Problem
12.2
Das Problem
Auch in der großen Politik steckt die kleine Mathematik; denn die muss uns aus diesem Dilemma heraushelfen. Wahl-Problem Wie werden eigentlich die Abgeordnetensitze auf die Parteien verteilt? Viele meiner Leserinnen und Leser wird es erstaunen, dass es hier keine eindeutige Antwort gibt, sondern dass viele Wege zu unterschiedlichen Zielen führen. Dies ist eigentlich ein alltägliches Phänomen in vielen Wissenschaften, wird aber im Bereich der Mathematik nicht erwartet. 1 + 1 = 2 gilt als unumstößliche Wahrheit für das gesamte Universum. Dabei lernen schon unsere Kleinen in der Grundschule, dass ein Computer nur zwei Zahlen, die wir dann 0 und 1 nennen, kennt und mit ihnen rechnet. Dabei ergibt sich dann 1 + 1 = 0, und das ist eine vernünftige Rechnung. Es hängt also von den Voraussetzungen ab, zu welchem Resultat wir gelangen.
12.3
Das Verfahren von d’Hondt
Im Jahre 1882 entwickelte der belgische Mathematiker Viktor d’Hondt ein raffiniertes Verfahren, das zu einer ersten Lösung dieses Problems führte. Dabei nahm er zuerst die Anzahl der Stimmen, die auf die einzelnen Parteien gefallen waren. Anschließend halbierte er diese Zahlen, dann drittelte er sie. Danach teilte er sie durch 4, durch 5 usw. Als Letztes ordnete er alle diese Zahlen in eine Reihe der Größe nach. Jede solche Zahl bedeutete, bei der größten beginnend, einen Abgeordnetensitz. Er musste also nur entsprechend lange dividieren. Wir nehmen unser oben aufgeführtes Beispiel und rechnen mal los. Da sind zuerst die drei Zahlen mit den Stimmen: 450,
281,
269.
Wir halbieren
225,
140.5,
134.5
und dritteln
150,
93.6,
89.6
und vierteln
112.5,
70.25,
67.25
und fünfteln
90,
56.2,
53.8
12.3 Das Verfahren von d’Hondt
99
Das reicht uns zur Ausführung des Beispiels, wie wir gleich sehen werden. Jetzt nehmen wir alle diese Zahlen und schreiben sie untereinander der Größe nach. Wir schreiben in die 2. Spalte, zu welcher Gruppe diese Zahl gehört und in die dritte Spalte die zugeordneten Sitze. 450
A
Sitz A
281
B
269
C
225
A
Sitz A
150
A
Sitz A
140.5
B
134.5
C
112.5
A
93.6
B
90
A
89.6
C
70.25
B
Sitz B Sitz C
Sitz B Sitz C Sitz A Sitz B Sitz A
Man zählt leicht das folgende Ergebnis der Wahl ab: Verteilung der Sitze nach d’Hondt Gruppe A: 5 Sitze Gruppe B: 3 Sitze Gruppe C: 2 Sitze Offensichtlich sind die 50 Stimmen der großen Gruppe A dem Herrn d’Hondt mehr wert als die 69 Stimmen der kleineren Gruppe C.
100
12 Das Wahl-Problem
12.4
Das Verfahren von Hare-Niemeyer
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug der Engländer Thomas Hare ein Verfahren gänzlich anderer Bauart vor. Er ging viel stärker auf die Proportionen der einzelnen Gruppen ein und ihrer Stimmen ein. Dieses Verfahren wurde schon für die Besetzung der Ausschüsse im Reichstag verwendet. In [7] lesen wir weiter, dass der Mathematiker Horst Niemeyer 1970 dieses Verfahren beim Bundestagspräsidenten in Erinnerung gerufen hat. Daraufhin wurde dieses Verfahren bei der Besetzung der Ausschüsse und Gremien angewendet. Der Grundgedanke dieses Verfahrens ist einfach. Man berechnet zuerst das Verhältnis, in dem die Stimmen aufgeteilt werden, indem man die Stimmen einer Gruppe durch die Gesamtzahl der Stimmen teilt. Diese Zahl multipliziert man anschließend mit der Gesamtzahl der zu vergebenden Sitze. Daraus erhält man in der Regel keine ganze Zahl, sondern eine Dezimalzahl. Der ganzzahlige Anteil dieser Zahl ist die Zahl der Sitze, die jede Gruppe auf jeden Fall erhält. Der nichtganzzahlige Anteil – das, was hinter dem Komma steht – entscheidet seiner Größe nach über die restlichen Sitze. Wir führen das an unserem obigen Beispiel durch: Gruppe A hatte 450 Stimmen von 1000 Stimmen erhalten. Das ergibt den Faktor 450/1000 = 0.45. Gruppe B hatte 281 Stimmen von 1000 Stimmen erhalten. Das ergibt den Faktor 281/1000 = 0.281. Gruppe C hatte 269 Stimmen von 1000 Stimmen erhalten. Das ergibt den Faktor 269/1000 = 0.269. Diese Faktoren werden nun mit 10, der Zahl der zu vergebenden Sitze multipliziert: Gruppe A:
0.45 · 10 = 4.5
Gruppe B:
0.281 · 10 = 2.81
Gruppe C:
0.269 · 10 = 2.69
Damit erhält von vorne herein Gruppe A:
4 Sitze
Gruppe B:
2 Sitze
Gruppe C:
2 Sitze
Damit sind 8 der 10 Sitze verteilt. Die restlichen zwei werden jetzt nach der Größe der Reste vergeben. 0.81 von Gruppe B ist der größte Rest, also erhält Gruppe B einen
12.5 Anwendung auf die Bundestagswahl im Jahre 2002
101
weiteren Sitz. Dann ist 0.69 von Gruppe C der nächst größere Rest, also erhält Gruppe C den letzten Sitz. Demnach ergibt sich folgende Verteilung nach Hare Niemeyer: Verteilung der Sitze nach Hare-Niemeyer Gruppe A: 4 Sitze Gruppe B: 3 Sitze Gruppe C: 3 Sitze Hare und Niemeyer haben offensichtlich ein Ohr für kleinere Gruppen, wenn wir das d’Hondt-Ergebnis von Seite 99 vergleichen, wo die große Gruppe A 5 Sitze, die kleine Gruppe C aber nur 2 Sitze erhielt.
12.5
Anwendung auf die Bundestagswahl im Jahre 2002
Bei einer Bundestagswahl werden die Sitze nach einem recht komplizierten Verfahren, einer Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahl, bestimmt. Dazu gibt es die Erststimme für die Mehrheits- oder Persönlichkeitswahl und die Zweitstimme für die Verhältniswahl. Dem Autor ist nicht bekannt, welche Gründe zur Änderung des Wahlgesetzes geführt haben. Aber bis zur Wahl des 10. Bundestages im Jahr 1983 wurden die Zweitstimmen nach dem Verfahren von d’Hondt auf die Parteien verteilt. Seit der Wahl zum 11. Bundestag am 25. Januar 1987 werden die Zweitstimmen nach Hare-Niemeyer aufgeteilt. Betrachten wir hier nur die Zweitstimmen, weil sie über die Gesamtzahl der Sitze entscheiden. Nach dem endgültigen Ergebnis der Bundestagswahl 2002 wurden 47 996 480 gültige Zweitstimmen abgegeben. Davon erhielten SPD CDU CSU GRÜNE FDP Summe
18 488 668 14 167 561 4 315 080 4 110 355 3 538 815 44 620 479
Stimmen. Zu verteilen waren 598 Sitze; davon erhielt die PDS vorweg zwei Sitze direkt gewählter Kandidaten. Es verblieben noch 596 zu verteilende Sitze.
102
12 Das Wahl-Problem
Rechnen wir jetzt aus Jux das Ergebnis des Bundeswahlleiters nach, indem wir HareNiemeyer anwenden. Dazu müssen wir die Stimmen der einzelnen Parteien durch die obige Summe aller auf die fünf Parteien entfallenen Stimmen dividieren und dann das Ergebnis mit 596 multiplizieren. Wir erhalten: SPD CDU CSU Grüne FDP
246,9549 189,2375 57,6369 54,9024 47,2683
Die ganzzahligen Anteile sind die vorweg zu verteilenden Sitze. Danach erhalten SPD CDU CSU Grüne FDP
246 189 57 54 47
Das ergibt eine Summe von 593 vergebenen Sitzen. Es bleiben noch drei übrig, um die das Gerangel nun geht. Die Reste obiger Zahlen ordnen wir der Größe nach: SPD Grüne CSU FDP CDU
0.9549 0.9024 0.6369 0.2682 0.2375
Damit erhält die SPD noch einen Sitz, die Grünen noch einen und die CSU noch einen Sitz. Das Endergebnis dieser Verteilung lautet also: SPD CDU CSU Grüne FDP
246 + 1 = 247 189 + 0 = 189 57 + 1 = 58 54 + 1 = 55 47 + 0 = 47
in guter Übereinstimmung mit dem Bundeswahlleiter.
12.5 Anwendung auf die Bundestagswahl im Jahre 2002
103
Nach d’Hondt hat man etwas mehr Arbeit. Man muss ja die Gesamtstimmen jeder Partei halbieren, dritteln usw. Das muss man ziemlich weit treiben, nämlich bis 1/246tel, um dann die Verteilung richtig vornehmen zu können. Diese fünf Zahlenkolonnen muss man ja der Größe nach ordnen, um damit die Sitzverteilung feststellen zu können. Wir haben ein kleines Rechnerprogramm dafür geschrieben, um uns die Arbeit zu erleichtern. Als Ergebnis folgt: SPD CDU CSU Grüne FDP
247 190 57 55 47
Nach d’Hondt hätte also die CSU einen Sitz an die CDU verloren, was die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag zum Glück nicht beeinflusst hätte. Jetzt muss man natürlich die Sitzverteilung auf die einzelnen Bundesländer umrechnen und dabei die sogenannten Überhangmandate bedenken. So hat z. B. die SPD in Hamburg nach Hare-Niemeyer 5 Sitze gewonnen, aber 6 Sitze durch ihre Erststimmen erhalten. Diese sind natürlich auf jeden Fall gewählt, also wird die Gesamtzahl der Abgeordneten um 1 erhöht. Dasselbe passierte bundesweit für die SPD insgesamt viermal, für die CDU einmal, so dass in der Wahlperiode ab 2002 im Deutschen Bundestag 596 + 2 (PDS) + 5(Überhang) = 603 Abgeordnete saßen. Jedoch wollen wir in diesem kleinen Kapitel nur die Unterschiede von d’Hondt und Hare-Niemeyer erläutern und uns nicht in die hohe Politik einmischen. Darum beenden wir das Spielchen an dieser Stelle.
13
Das Herz-Problem
13.1
Einleitung
Dieses letzte Kapitel sei dem Herzschmerz gewidmet. Jeder und jede möchte doch in Leben mindestens einmal sein oder ihr Herz verschenken. Welche kreativen Ideen könnte eine mathematisch interessierte Person entwickeln? Da sollte man schon mal das Gehirn in Falten legen; denn mit solchen Fragen darf man nicht spaßen. Herz-Problem Wie erklärt ein Mathematiker standesgemäß seine Liebe?
13.2
Erste Lösung
Es wird nicht sehr überraschen, wenn man als Antwort mit einer Formel daherkommt. „Liebste mein, ich schenke Dir mein
y = |x| ± 1 − x2 , −1 ≤ x ≤ 1.“
(13.1)
Das muss man sich nur genau anschauen, dann erkennt man die fundamental einfache Idee in dieser Formel. Also, zunächst möchten wir, dass die Wurzel in dieser Formel brav bleibt. Dazu sollte bitteschön der Term unter der Wurzel nicht negativ werden. Darum die Einschränkung an das x mit −1 ≤ x ≤ 1. Dann sind da zwei Teile, die wir als zwei Funktionen deuten y = |x| und
y = ± 1 − x2 .
Die erste kennt man noch aus der Schule; es ist für x ≥ 0, also in der rechten Halbebene, die erste Winkelhalbierende und für x < 0 im linken Teil die zweite Winkelhalbierende, jeweils oberhalb der x-Achse.
106
13 Das Herz-Problem
y 6 1 y = |x| √ y = + 1 − x2
1
x
√ y = − 1 − x2
Abbildung 13.1: Zur Entwicklung der ersten Herzkurve. Gezeichnet sind die beiden Funktions√ graphen y = |x|, aie beiden Winkelhalbierenden als Halbstrahlen nach oben, und y = ± 1 − x2 , also der Einheitskreis.
Die zweite Funktion kennt man auch, man muss die Funktionsgleichung nur ein wenig durch Quadrieren umbauen.
y = ± 1 − x2
=⇒ x2 + y2 = 1.
Das ist der Einheitskreis, wobei mit dem ,+‘-Zeichen der obere und mit dem ,−‘Zeichen der untere Halbkreis bezeichnet ist. Beide Funktionsgraphen zeichnen wir in ein und dasselbe Koordinatensystem (vgl. Skizze oben). Beide Graphen müssen wir nun addieren, und zwar zum Graphen von y = |x| zunächst den oberen Halbkreis und dann genauso den unteren Halbkreis. Das Ergebnis zeigen wir im Bild 13.2, wieder alles in ein einziges Koordinatensystem gezeichnet. Ist das nicht ein herzallerliebstes Herz? Ihr Töchterchen wird Sie lieben, wenn Sie ihr das ins Poesiealbum schreiben. Aber Achtung. Der Autor spricht aus Erfahrung. Sämtliche Freundinnen wollen dann auch so etwas in ihr Album geschrieben haben. Das kann ganz schön zu logistischen Problemen führen. Erstens braucht man viel Zeit, um alles zu erklären, und dann braucht man viele Ideen. Vielleicht kann auch da dieses Büchlein Hilfestellung geben.
13.2 Erste Lösung
107
y 6
............................... ................................ ...... ......... .......... ... ....... ... ........ . . . ... . ....... ..1 . ... . ..... ... . .... .. ... .... ... . ... ... ... .. . . ... ... ... ... ... . . ... . ... .. ... ... . . ... .. ... .. ... 1 .. .. ... . . ... .... ...... .... .... .... .... .... . . .... .. ..... .... ..... ....... .........
x
√ Abbildung 13.2: Erste Herzkurve nach der Formel y = |x| ± 1 − x2 , −1 ≤ x ≤ 1
1.5 1 0.5 0 -0.5 -1 -1.5
♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦ ♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦ ♦♦♦♦♦ ♦ ♦♦ ♦ ♦♦♦♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦♦♦ ♦♦♦ ♦ ♦ ♦♦♦♦♦♦♦♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦♦ ♦ ♦ ♦♦ ♦ ♦♦ ♦♦ ♦ ♦♦ ♦♦ ♦♦ ♦♦ ♦♦ ♦ ♦♦ ♦♦ ♦♦ ♦♦ ♦ ♦♦ ♦♦ ♦♦♦ ♦♦♦ ♦♦♦ ♦ ♦ ♦♦♦ ♦♦♦♦ ♦♦ -1
-0.5
0
0.5
1
1.5
√ Abbildung 13.3: Unsere Herzkurve nach der Formel y = |x| ± 1 − x2 , −1 ≤ x ≤ 1, etwas verfremdet mit kleinen Rauten, um die Illusion einer Kette zu erzeugen.
108
13 Das Herz-Problem
Wir haben das ganze noch einmal ohne das schmückende Beiwerk der mathematische Erklärung aufzeichnen lassen, sogar mit kleinen Rauten als Punktersatz, um so vielleicht den Eindruck einer Kette zu vermitteln, an der das Herzchen hängt (Abb. 13.3).
13.3
Weitere Lösungen
Mathematiker sind kreative Menschen. So findet man im Internet noch andere hübsche Darstellungen von Herzen.
2 1.5 1 0.5 0 -0.5 -1 -1
-0.5
0
0.5
1
Abbildung Herzkurve gefunden im Internet nach der komplizierteren Formel 2 13.4: Eine
x +|x|−6 2 y = 3 · x2 +|x|+2 ± 36 − x2
Auf der Seite http://www.schulmodell.de/mathe/herz wird folgende Formel genannt: 2 2 x + |x| − 6
2 ± 36 − x y= · 2 3 x + |x| + 2 Ganz analog zu unserer obigen Formel haben wir auch hier eine Einschränkung an die Variable x zu machen, damit die Wurzel wiederum brav bleibt und nicht ins Komplexe
13.3 Weitere Lösungen
109
abwandert: −6 ≤ x ≤ 6. Wer es dreidimensional mag, kann sich ja mal an folgender Formel versuchen: (2x2 + y2 + z2 − 1)3 −
x2 · z3 − y2 · z3 = 0. 10
Vielleicht hilft es beim Plotten, wenn wir die Auflösung dieser Formel nach z verraten: " # 2 # 3 x2 2 # 3 x2 2 10 + y $ 10 + y ± − 2x2 − y2 + 1 z1,2 = 2 4 Zur Veranschaulichung ist hier ein 3-D-Plot in Farbe am besten. Das übersteigt aber den Rahmen dieses Büchleins.
Literaturverzeichnis [1] Vogel, H.; Gerthsen, Ch.: Physik, Springer-Verlag, Berlin et al., 1995 [2] Herrmann, N.: Höhere Mathematik für Ingenieure, Aufgabensammlung, Bd. I, II, Oldenbourg Verlag München et al., 1995 [3] Herrmann, N.: Höhere Mathematik für Ingenieure, Physiker und Mathematiker, Oldenbourg Verlag München et al., 2004 [4] Walker, Jearl: Der fliegende Zirkus der Physik, Oldenbourg Verlag München et al., 2000 [5] Wille, Friedrich: Humor in der Mathematik, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, 1984 [6] Adams, D.: Per Anhalter durch die Galaxis, Heyne, 1998 [7] Internet-Angebot des Deutschen Bundestages, www.bundestag.de/parlament/gremien15/azur/azur− 2, 2004 [8] Luus, Rein: Wie merke ich mir π?, University of Toronto, Priv. Comm., 1985 [9] Meschkowski, Herbert et al.: Schüler-Duden-Mathematik I, II, Bibliogr. Institut Mannheim, 1972 [10] Meschkowski, Herbert et al.: Aufgaben zur modernen Schulmathematik mit Lösungen, Bibliogr. Institut Mannheim, 1970 [11] Wode, D.: Wie ein Auto bei Glätte rutscht, Math. Sem. Ber. 35, 1988 [12] VOX ,Auto Motor Sport TV‘: Einparken, Sendung am 19. Okt. 2003
Index Abbildung lineare, 21 Anfangsbedingungen, 63 Anstoß-Problem, 77 Autoschleudern, 62 Modellgleichung, 63 Bein-Problem, 25 Ergebnis, 27 Bierdeckel, 87 Bierdeckel-Problem, 87 Bierdosen-Problem, 2 Bohrmaschine, 69 Brotschneide-Problem, 61, 69 Bundestagswahl 2002, 101 Determinante, 22 d’Hondt-Verfahren, 98 Dichte eines Körpers, 2 Differentialgleichung lineare, 73 Diskuswerfer-Problem, 11 „verschenkte“ Formel, 14 Eigengeschwindigkeit, 72 Einpark-Problem neue Formeln, 52 Werte für einige Autos, 53 Fixpunkt-Problem, 90 Fixpunkt-Verfahren, 90, 91
Garfield Beweis des Pythagoras, VII Glatteis-Problem, 61 math. Modellgleichung, 64 Modellgleichung, 63 Gruppenspiegel, 19 Gummiband, 71 Hare-Niemeyer-Verfahren, 100 Herz-Problem, 105 Hoyle, Rebecca, 41 Kästchenspiel, 84 Laplace-Transformation, 65 lineare DGl, 73 Matrix, 21 Naturkonstante, 89 Newton-Verfahren, 92 Orientierung, 23 Parallelpark-Problem, 40 Parkhaus-Problem, 55 Werte für einige Autos, 58, 60 π Näherungen, 32 Definition, 32 Pythagoras Satz des, VII
114
Quadratur des Kreises, 32 Reibungskraft, 62 Rennpferd, 71 Rückwärtseinparken, 39 Saft- und Milchtüten-Problem, 9 Schnecke, 71 Schnecke-Rennpferd-Problem, 72 Schwerpunkt Bierdose, 1 Formel für Dose, 6 leere Dose, 4 volle Dose, 4 Singlespiegel, 17 Skizzen-Problem, 33
Index
Spiegel Wie groß?, 17 Spiegel-Problem, 20 Spiegelungsprinzip, 17 Summe der Zahlen 1 bis 100, 78 Treffzeit, 74 Vollständige Induktion, 81 Vorwärtseinparken, 56 Wahl-Problem, 98 Wendekreis, 47 Zweizügiges Trinken, 8