Mama ist auf Dienstreise: Wenn Eltern die Rollen tauschen [1 ed.] 9783666701993, 9783525701997


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Mama ist auf Dienstreise: Wenn Eltern die Rollen tauschen [1 ed.]
 9783666701993, 9783525701997

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Mama

Arne Ulbricht

ist auf Dienstreise

Wenn Eltern die Rollen tauschen

V

Arne Ulbricht

Mama ist auf Dienstreise Wenn Eltern die Rollen tauschen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-70199-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: © huza – Fotolia © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Für meine Familie

Inhalt

Prolog: Eine Party in Wuppertal, 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 Worum es geht – und worum nicht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 Wie alles begann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27 Zahlen und Fakten. Oder: Warum der Rollentausch das Modell der Gegenwart und Zukunft sein müsste . . . . . . . .  53 Von Hamburg nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Was ist das eigentlich, eine Karrierefrau? . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 Wuppertal: Die Zementierung eines Lebensmodells . . . . . . . . .  107 Hätte noch immer alles anders kommen können? . . . . . . . . . . .  129 Mehr Hausmann denn je . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 Was unsere Kinder denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  149 Was zu sagen bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153 Epilog: Sommer 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155

Prolog: Eine Party in Wuppertal, 2015 Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen. Guy de Maupassant

Eine befreundete Mutter feiert Geburtstag und lädt uns ein. Abends kommt der Babysitter, der längst ein Freund der Familie ist und den wir deshalb noch immer »engagieren«, obwohl wir ihn eigentlich nicht mehr brauchen: unser Sohn ist 12, unsere Tochter 9. Die beiden können inzwischen allein ins Bett gehen. Abends auf der Party unterhalten wir uns mal hier, mal dort. Essen etwas und trinken. Ich viel Rotwein, meine Frau ein Bier. Meistens stehen wir als Paar zusammen und sprechen gemeinsam mit anderen Paaren oder gemeinsam mit einer anderen Mutter beziehungsweise einem anderen Vater. Im Alltag ist das Gegenteil der Fall: Wir sehen uns werktags nur abends, weshalb wir gar keine Chance haben, ständig zusammen herumzuhängen. Und mehrmals pro Jahr ist meine Frau eine Woche auf Dienstreise, oder ich bin mit den Kindern während der Schulferien eine Woche allein verreist oder bleibe eine Woche länger in der Bretagne, weil meine Frau wieder arbeiten muss. Bei uns … ist einfach vieles ganz anders. Vielleicht ist mir das an jenem Abend auf dieser Party irgendwann gegen zehn Uhr so bewusst geworden wie noch nie zuvor, obwohl ich nicht mit den Kindern in der Schlange eines Supermarkts stand. Oder mit ihnen im ICE saß. Oder meine Tochter nachts zu mir ins Bett gekrochen ist. Oder ich mit einer Mutter gesimst habe, um irgendein Geburtstagsgeschenk für einen Kindergeburtstag zu organisieren. Denn der Vater der Gastgeberin, der sich immer gern mit uns unterhält und von seiner Tochter schon mal auf eine meiner Lesungen geschleppt worden ist, erzählt uns in begeistertem Tonfall: »Ich kenne übrigens ein Paar, das genau so ist wie Sie!« Pause. Ich bin gespannt. Meine Frau, das sehe ich ihr an, auch. »Er ist Professor …« Hm. Seltsamer Beginn. Nun sind wir noch gespannter. »… und seine Frau auch! Sie hat aber eine höhere Professur als er.«

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Prolog: Eine Party in Wuppertal, 2015

In der Regel antworte ich auf so etwas. Mache irgendeinen Witz. Oft wahrscheinlich einen dummen Witz. Oder ich antworte ironisch, und manchmal kapiert das dann niemand. Doch in dem Moment, in dem ich irgendeinen Unsinn von mir geben will, sagt meine Frau mit freundlicher Bestimmtheit: »Na ja, bei uns ist das ganz anders. Ich verdiene praktisch allein und arbeite voll und mein Mann nur Teilzeit. Und unter der Woche kümmert sich mein Mann quasi allein um die Kinder.« Der Vater nickt, als wäre ihm nun bewusst geworden, dass wir eben kein Doppelverdienerpaar sind, was bei Paaren mit kleineren Kindern auch selten ist – denn meistens reduziert einer oder steigt vorübergehend komplett aus. Ich war anschließend irgendwie glücklich. Ich weiß nicht mal genau, warum. Vielleicht weil im Tonfall meiner Frau ein unterschwelliges »Und das ist auch gut so!« mitschwang. Schließlich ist sie ja diejenige, die bis an den Rand der Erschöpfung arbeitet, während ich mit den Kindern wandern gehe oder nachmittags Siedler von Catan spiele oder neben meiner Tochter im Kino sitzend einschlafe. Es kann sein, dass an diesem Abend meine endgültige Entscheidung fiel, ein Buch über das Thema Rollentausch zu schreiben. Worum es in diesem Buch gehen könnte – und worum nicht – war mir schnell klar.

Worum es geht – und worum nicht!

Für all diejenigen, die den Klappentext nicht gelesen haben und die der Prolog verwirrt hat: In diesem Buch geht es nicht um eine Familie, in der Vater und Mutter in Teilzeit arbeiten und sich dann gleichermaßen um die Kinder kümmern. Es geht auch nicht um ein Lehrerehepaar, bei dem sie eine A15-Stelle und er eine A131-Stelle hat, infolgedessen sie ein bisschen mehr arbeiten muss und ein bisschen mehr verdient und er sich ein bisschen mehr um die Kinder kümmert. Nein: Es geht um ein Paar, das sich aus vielen Gründen sehr frühzeitig für einen radikalen Rollentausch entschieden hat. Und das ist auch im 21. Jahrhundert in einem vergleichsweise fortschrittlichen Land noch immer extrem selten. Obwohl es keine konkreten Zahlen gibt, wie viele Paare sich bewusst für einen dauerhaften Rollentausch entscheiden,2 bietet eine recht aktuelle Studie der OECD3, die in der Süddeutschen Zeitung (vom 21. Februar 2017) untersucht und kommentiert worden ist, manch einen Anhaltspunkt. Im auf der Titelseite platzierten Artikel Deutschland hängt am traditionellen Familienbild werden einige Erkenntnisse der OECD-Studie zusammengefasst. Eines der zentralen Ergebnisse lautet, dass »das Modell des männlichen Hauptverdieners in Deutschland vorherrschend« sei und dass »Mütter überdurchschnittlich oft in Teilzeit« arbeiten und im Schnitt daher nur ein »knappes Viertel zum Familieneinkom1 A13 verdient man als normaler Gymnasiallehrer. A15 zum Beispiel als Oberstufenleiter. 2 Konkrete Zahlen zum Modell, das es nicht wirklich gibt, sind kaum aufzutreiben. In der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe 17./18. Dezember 2016) hieß es auf der Beruf&Karriere-Seite, dass »bei etwa jedem zehnten deutschen Paar (…) die Frau das Geld – ganz oder zum großen Teil« verdiene. Aber was bedeutet »etwa«. Und was ist mit »Paar« gemeint? Sind Paare auch Familien mit Kindern? 3 Weil ich es auch immer vergesse: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Link zur Studie: http://www.oecd.org/berlin/ publikationen/dare-to-share.htm

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Worum es geht – und worum nicht!

men« beitrügen. Die OECD ermutigt daher konkret »Väter (…) in Elternzeit« zu gehen. Im Kommentar schreibt Constanze von Bullion, dass in Deutschland das »Modell Vati-macht-das-schon« dominiere. Sie beklagt, dass jeder fünfte Westdeutsche der Meinung sei, dass »Mütter von Schulkindern nicht arbeiten gehen sollten«. In den zitierten Artikeln geht es auch um die Spätfolgen, die das traditionelle Modell haben kann: »Die Rechnung für so ein Mutterleben kann erbarmungslos sein«, heißt es im Kommentar von Frau von Bullion. Mag sein. Bei uns könnte wiederum die Rechnung des Vaterlebens, also meine Rechnung, erbarmungslos werden, wenn wir uns doch irgendwann trennen sollten. Denn meine Rente wird wegen meiner Teilzeit sehr dürftig ausfallen. Ich habe nur selten mehr als 50 % gearbeitet, oft deutlich weniger, und mein Beitrag zum Familieneinkommen wäre selbst dann unterdurchschnittlich, wäre ich eine Frau: Im Jahr 2016 betrug er brutto gerade mal 16 %. Aber darum geht es mir nicht. Daran, dass Vater oder Mutter längere Zeit Teilzeit arbeiten, kann ich trotz geringer Rentenaussicht nichts Falsches sehen, weil es mit Sicherheit sinnvoll ist, dass ein Elternteil auch in der Schulzeit dauerhaft Ansprechpartner für die Kinder ist. Ein krasses Doppelverdienerpaar mit einem gescheiten Au-Pair-Mädchen (oder -jungen) oder einer klugen Kinderfrau (die auch ein Mann sein darf) ist ein Modell, das selbstverständlich ebenfalls nicht zu verachten ist. Solche Paare sind genauso ungewöhnlich wie ein Rollentauschpaar. Allerdings kommt ihr Modell in der OECD-Studie immerhin vor und wird sogar als Erstes genannt. Auf Seite 151 der Studie heißt es dazu: »Paare mit Kindern können zwischen verschiedenen Erwerbs­ arrangements wählen. Die fünf häufigsten Modelle sind: ȤȤ ›Doppel-Vollzeitverdiener-Modell‹, bei dem beide Partner mindestens 40 Stunden arbeiten, ȤȤ ›Alleinverdienermodell‹, bei dem der Mann mindestens 40  Stunden arbeitet und die Frau nicht erwerbstätig oder arbeitslos ist, ȤȤ ›Hauptverdienermodell‹, bei dem der Mann mindestens 40 Stunden und die Frau zwischen 1 und 29 Stunden arbeitet, ȤȤ ›Doppel-Vollzeitnah-Modell‹, bei dem beide Partner zwischen 30 und 39 Wochenstunden arbeiten,

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ȤȤ ›Vollzeitnah-plus-Teilzeit-Modell‹, bei dem der Mann zwischen 30 und 39 Stunden und die Frau zwischen 1 und 29 Wochenstunden arbeiten.« Wir existieren nach dieser Definition nicht, aber wenn man die Bezeichnungen »Mann« und »Frau« durch »ein Partner« ersetzt, sind wir ein klassisches Hauptverdienermodell. Angesichts dieser Werte stellt sich natürlich die Frage: Aus welchen konkreten Gründen entscheidet sich ein Paar dafür, gegen den Strom bzw. gegen die Statistik zu schwimmen? Haben wir uns tatsächlich bewusst dafür entschieden, diesen ungewöhnlichen Weg zu gehen? War das vom ersten Tag an klar? Habe ich vielleicht sogar eine Frau gesucht, die es mir ermöglicht, Bücher zu schreiben und mich auf diese Weise selbst zu verwirklichen? Es geht in diesem Buch nicht nur um eine Frau, die mehr verdient als der Mann, weil sie halt Vollzeit arbeitet, sondern um eine Frau, die in leitender Funktion in einem großen Unternehmen tätig ist, in der Regel morgens um acht die Wohnung verlässt und abends zwischen sechs und sieben nach Hause kommt. Und das 46 Wochen im Jahr4, von denen sie allerdings zusammengerechnet ungefähr sechs Wochen auf Dienstreise ist. Und es geht um einen Mann, der sich schon mehr um den erstgeborenen Sohn gekümmert hat und nach der Geburt der Tochter beruflich eine Zeit lang komplett ausgestiegen ist, während die Frau zwei Monate nach der Geburt wieder angefangen hat, voll zu arbeiten. Um einen Mann, dessen Lehrerdeputat in den zurückliegenden Jahren nur in Ausnahmefällen die 40 %-Marke überschritten hat, der allerdings in einer Tour brotlose Kunst fabriziert und seit 1997 über ein Dutzend Bücher5 geschrieben hat, die entweder gar nicht erst veröffentlicht wurden oder deren Auflagen an Bescheidenheit schwer 4 Auf diese Art und Weise kommt man übrigens auf eine wöchentliche Arbeitszeit, die sich auf 45 bis 53 Zeitstunden beläuft. Ich weiß, wie ein Leben aussieht, wenn jemand im Schnitt 48 Stunden pro Woche arbeitet. Vielleicht kann ich deshalb oft nicht glauben, dass sich heutzutage Hinz und Kunz damit brüsten oder sich bedauern, »60 bis 70 Stunden pro Woche« zu arbeiten. 5 Zumindest die veröffentlichten Bücher und eine kleine Backlist der Bücher, zu denen ich auch heute noch stehe, finden Sie unter: www.arneulbricht.de

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Worum es geht – und worum nicht!

zu übertreffen sind. (Wobei das natürlich ein weites Feld ist: Meine Lektorin hat angemerkt, dass sich jeder Lyriker über meine Verkaufszahlen freuen würde. Allerdings habe ich mit meinen Buchverkäufen und Honoraren auch im besten Jahr netto weniger verdient, als ich als Lehrer auf einer vollen Stelle für einen Monat bekäme.) Aber war das Leben mit vertauschten Rollen für uns wirklich von Beginn an selbstverständlich? Oder sind wir erst in unsere Rollen reingewachsen? Hatte ich Depressionen, weil ich mich entmannt fühlte an der Seite einer Frau, die deutlich mehr verdient als die meisten Männer, die ich kenne? War ich eifersüchtig darauf, dass sie oft mit männlichen Kollegen zusammenarbeitet? Habe ich befürchtet, dass sie sich auf einer Dienstreise in einen erfolgreichen Mann verliebt, der besser rasiert ist und bessere Manieren hat als ich und weiß, wie man eine Krawatte bindet? Hatte sie Angst, dass ich mit einer Mutter im Bett lande, die sich freut, auch mal einen Mann in einer PEKIP-Gruppe zu entdecken? Oder hat es sie genervt, wenn in 80 % der Fälle, in denen mein Handy gepiept hat, eine Frau eine SMS geschrieben hat? Es geht also um ein Paar, bei dem alles, was mit Lohn, Arbeit und Erziehung der Kinder zu tun hat, genau umgekehrt ist wie bei den meisten anderen Paaren. Und natürlich geht es um die vielen Kuriositäten, die wir erlebt haben: Wie reagiert man darauf, wenn eine Erzieherin ziemlich verwirrt ist, dass der Mann die Eingewöhnung mit dem 15 Monate alten Kind machen möchte? Wie antwortet man auf die legendäre Frage, die berufstätigen Frauen gestellt wird: »Schaffen Sie das auch mit den Kindern?« Und auch Probleme gab es zahlreiche: Wie arbeitet man voll und stillt voll und geht zwischendurch sogar vier Tage auf Dienstreise? Wie löst man das als Frau? Und wie als Mann, wenn das Baby nachts nach Muttermilch brüllt? Und wie verhält es sich mit dem Haushalt? Bügelt der Mann und hängt Wäsche auf usw.? Und ist die Frau damit zufrieden, wenn er es nicht so macht, wie sie es vielleicht ja wirklich gemacht hätte, wenn der Mann erst abends nach Hause käme? Und welche Entscheidung trifft man als Paar, wenn der Frau eine lukrativere Stelle in einer anderen Stadt angeboten wird und sie sofort anfangen soll? Und gab es in all den Jahren eigentlich Situationen, in denen wir den Rollentausch infrage gestellt haben? Hätte

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zu einem bestimmten Zeitpunkt auch alles ganz anders kommen können? Und wie seltsam ist es, wenn der Mann, der kaum etwas verdient, plötzlich den Status eines C-Prominenten genießt und im Fernsehen auftritt? Überdenkt der Mann dann doch alles und bittet die Frau zu reduzieren, um sich mehr Freiraum zu verschaffen? Für alle Zahlenfreaks und diejenigen, die sich nach einem wissenschaftlichen Ansatz sehnen, verweise ich auf das Kapitel »Zahlen und Fakten«, in dem es um Statistisches geht und einige für dieses Buch zentrale Begriffe erläutert werden. Allerdings bilden weder Zahlen noch Statistiken meinen Schwerpunkt. Es ist ein Erfahrungsbericht über eine Familie, in der es eine fast schon klischeehafte Rollenverteilung gibt: Einer kümmert sich um die Kinder, arbeitet in Teilzeit und versucht sich selbst zu verwirklichen, während der andere 110 % arbeitet und der Familie ein unbeschwertes Leben ermöglicht. Nur: Der eine ist der Mann, die andere die Frau. Und der Mann ist auch derjenige, der Zeit und Lust hat, dieses Buch zu schreiben, weshalb das Buch die Situation aus der Sicht des Mannes, der seiner Frau hinterherzieht, schildert. Das heißt nicht, dass die Sicht der Frau nicht vorkommt. An einigen Stellen kommentiert oder ergänzt sie das, was ich geschrieben habe. (Manchmal in einem kurzen Absatz. Manchmal erfolgt ein Hinweis in einer Fußnote. Manchmal lasse ich unsere Diskussionen in meinen Text einfließen.) Und Korrektur lesen musste sie auch … ich will ja im Jahr 2018 keine Scheidung riskieren, weil im Jahr 2017 ein Buch erschienen ist, in dem steht, dass ich zu Beginn unserer Beziehung ausschließlich an Sex gedacht habe. Aber das Buch wäre definitiv ein anderes, hätte sie es geschrieben. Und es wäre auch ein anderes, hätten wir es gemeinsam geschrieben. Und ja: Im Großen und Ganzen ist dieses Buch ein Plädoyer für ein solches Familienmodell, obwohl Rollentauschehen nicht »bessere Ehen« sind. Auch in Rollentauschehen – in unserer jedenfalls – wird gestritten. In manchen Phasen sogar ziemlich häufig, und hin und wieder fliegen richtig die Fetzen. Klassischen Alltagsehezank gibt es fast täglich. (In einer Ehestreitstatistik würden wir vermutlich einen mittleren Platz einnehmen.) Worüber wir uns zanken und inwiefern es sich im Einzelfall um rollentauschbedingten Zank handelt, werde ich noch ausführlich schildern.

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Aber sowohl als Frau als auch als Mann erlebt man in einer solchen Konstellation viel Ungewöhnliches. Eine solche Ehe ist wie eine Reise durch ein vom Massentourismus nicht erschlossenes Gebiet. Solche Gebiete zu bereisen, ist oft aufregend und nicht selten beschwerlich. Das trifft selbstverständlich auf jeden Rollentausch zu. Und es gibt viele Berufe, bei denen sich der Rollentausch anbietet. Immer dann, wenn man eine ähnliche Ausbildung und ähnliche Verdienstmöglichkeiten hat, sollte er eine Option sein. Und es ist ja nicht selten, dass sich Paare während der Ausbildung kennenlernen und deshalb dieselben beruflichen Möglichkeiten haben. Allein an meiner Schule gibt es gefühlt zwei Dutzend Lehrerehepaare, meine Schwiegereltern und mein Schwager und auch meine Schwägerin und meine Nachbarn leben ebenfalls in einer solchen Konstellation. (Nur für einen radikalen Rollentausch hat sich niemand von ihnen entschieden – es ist eben einfach nicht üblich.) Hochinteressant wäre ein Buch über ein Flugbegleiter-Ehepaar. Wenn ein solches Paar sich für einen Rollentausch entscheidet, wäre der Mann ständig mit den Kindern allein zu Hause, weil seine Frau in einer Tour auf Dienstreise wäre. Spannend wäre auch zu erfahren, wie das Leben einer Monteurin aussähe, die ständig in einer klischeehaft männlichen Umgebung unterwegs ist und einen »Männerberuf« ausübt, während der Mann, der eigentlich Erzieher ist – also einen Beruf ausübt, der noch immer vorrangig von Frauen ausgewählt wird – zu Hause bleibt. Die Liste kann man fast beliebig ergänzen. Ein Soldatenehepaar? Vor nicht allzu langer Zeit wäre allein ein solches Paar nicht möglich gewesen. Der Polizist, der zu Hause bleibt, während seine Frau, ebenfalls Polizistin, den gefährlichen Einsatz während eines Fußballspiels leitet? Wie reagiert zum Beispiel das Umfeld, sowohl das familiäre als auch das berufliche, auf eine solche Entscheidung? Es gibt viel Potenzial für Bücher, die dazu noch geschrieben werden könnten. Dieses Buch konzentriert sich jedoch auf eine andere Art des Rollentauschs. Es geht um ein Paar, bei dem nicht nur die Rollen getauscht wurden, sondern auch um ein Paar, bei dem die Frau in allem, was irgendwie mit Noten oder Examen oder Prüfungen zu tun hat, deutlich besser war als der Mann. Es geht um eine Frau, die in einem Unternehmen arbeitet, und um einen Teilzeitlehrer, der sich nebenbei als Künstler versucht.

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Es ist ein Buch für den Rollentausch. Damit ist es aber noch lange kein Buch gegen traditionelle Ehen. Ich selbst bin zum Beispiel in einer traditionellen Familie aufgewachsen. Mein Vater war Richter, meine Mutter Hausfrau, die wieder angefangen hat, in Teilzeit zu arbeiten, als ich sechzehn und mein älterer Bruder neunzehn war. Wir wohnten in einem Neubaugebiet in einem Kieler Vorort direkt am Strand. Wenn wir mittags aus der Schule kamen, stand das Essen auf dem Tisch, und wenn wir krank waren, hat sich meine Mutter um uns gekümmert und ist mit uns zum Arzt gegangen. Ich fand das Leben wunderbar und möchte meine Kindheit gegen keine andere Kindheit eintauschen. Dennoch haben wir – meine Frau und ich – uns für ein ganz anderes Leben entschieden. Und dieses Leben finden wir ebenfalls wunderbar. Nicht immer wunderbar toll. Aber immer wunderbar aufregend. Mein Bruder wiederum ist Professor und hat sechs Kinder. Seine Frau kümmert sich seit Geburt des ersten Kindes um Erziehung und Haushalt. Meines Wissens ist ihr Leben ebenfalls wunderbar. Letztendlich leben sie das Leben, das in der Gesellschaft noch immer als »normal« gilt. So ist mein Bruder noch nie gefragt worden, ob er »das mit den Kindern« auch alles schaffe. Und seine Frau wird nicht bestaunt, wenn sie einen Kinderwagen schiebt und um sie noch weitere Kinder herumhampeln. Dabei hat sie eine ganze Menge davon. Ich wiederum bin oft bestaunt worden, weil ich werktags mit einem vier Monate alten Kind unterwegs war. Und mit zwei Kleinkindern, eines davon in einer »Tragetasche« direkt am Bauch, war ich im Edeka eine lokale Berühmtheit. Es ist eben definitiv etwas Außergewöhnliches, wenn man die Rollen tauscht. Abschließend ein Hinweis zu den Namen: Das ist eine für mich schwierige Entscheidung gewesen. Ich bin der Arne – oder Arne Ulbricht – oder Herr Ulbricht. Das zu leugnen wäre albern, weil auf dem Cover mein Name steht. Allerdings fällt der Name Arne Ulbricht in diesem Buch nicht, weil ich mich aus naheliegenden Gründen dafür entschieden habe, in der ersten Person zu schreiben. Wie sieht es aber mit den anderen Hauptpersonen in diesem Buch aus? Will ich, dass im günstigsten Fall 18.000 Leserinnen und Leser wissen, wie meine Kinder und meine Frau heißen? Will ich, dass deren Namen in Zeitungen oder auf Facebook stehen, sollte das

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Buch besprochen werden? Nein, das will ich nicht. Und meine Frau auch nicht. (Meinen Kindern wäre es vermutlich egal. Noch treffen wir Eltern allerdings solche Entscheidungen.) Soll ich meiner Frau und meinen Kindern deshalb irgendwelche fiktiven Namen geben, damit das Buch lesbarer ist? Nein, das kann ich nicht, weil ich nun mal weiß, wie die drei heißen. Für das Buch gilt also: meine Frau = meine Frau mein Sohn = mein Sohn meine Tochter = meine Tochter Wem das zu zäh ist, der kann sich Namen ausdenken. Wann immer Sie, meine lieben Leserinnen und Leser, die Begriffe (meine) Frau, (mein) Sohn beziehungsweise (meine) Tochter lesen, stülpen Sie ihnen doch die Namen Katja, Linus und Luise über. Oder, wenn Sie das Buch mögen, Ihre persönlichen Lieblingsnamen. Oder, sollten Sie das Buch blöd finden und trotzdem weiterlesen, Namen, die Sie grässlich finden. Bevor ich schildere, wie und wo sich das zukünftige Rollentauschpaar kennengelernt hat, werfe ich zunächst einen Blick zurück.

Ein Blick zurück

Weder fange ich bei Adam und Eva an, noch erhebe ich Anspruch auf Vollständigkeit. Aber grob zu wissen, wie sich die Familie und insbesondere die Rolle der Frau seit Gründung des ersten deutschen Einheitsstaats im Jahr 1871 (nicht) verändert hat, ist sinnvoll, um aktuelle Studentinnenzahlen und familienpolitische Inhalte gewisser Parteien und das zentrale Thema dieses Buchs beurteilen und einordnen zu können. Eine grobe, aber doch aussagekräftige Zusammenfassung für die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet die Bundeszentrale für politische Bildung: »Die hegemoniale Kraft bürgerlicher Lebensformen und Werthaltungen trat nicht zuletzt in der Verbreitung des bürgerlichen Ehe- und Familienideals hervor. Ihm lag die Vorstellung naturhaft unterschiedlicher Geschlechtscharaktere zugrunde, die zu einer geschlechtsspezifischen Aufteilung nicht nur der Arbeit, sondern auch der Lebenssphären von Frauen und Männern führen müsse. Verbunden wurden diese als komplementär begriffenen Eigenschaften in der Ehe, die auf freiwilliger Basis durch Liebe gestiftet und zusammengehalten werden sollte. Der als rational, zielstrebig und durchsetzungsfähig geltende Mann war demnach für das außerhäusliche Leben in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat zuständig. Er hatte den ›Lebenskampf‹ zu bestehen und sich im Beruf zu verwirklichen, ihm oblag es, den Lebensunterhalt zu verdienen und seine Familie sozial wie politisch zu repräsentieren. Die Frau dagegen wurde als gefühlsbetont und fürsorglich betrachtet. Sie sollte dementsprechend ihre Erfüllung als treu sorgende Gattin und Mutter finden, deren ureigene Lebenssphäre im bürgerlichen Haushalt zu finden sei. Hier sollte sie die gemeinsamen Kinder aufziehen und ihrem Ehemann ein Refugium vor den Härten des gesellschaftlichen Lebens bieten. Auch

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Ein Blick zurück

wenn dieses Ideal für weite Bevölkerungsschichten vor allem im bäuerlichen und im proletarischen Kontext nicht realisierbar war, entwickelte es sich doch zu einem Ziel, das weit über das Bürgertum hinaus wirksam war und etwa auch in Facharbeiterkreisen angestrebt wurde.«6 Bedingt durch die Industrialisierung entstand, wie im Text kurz angedeutet, in den Städten eine neue Schicht: das Proletariat. Die Arbeiterfamilien kämpften als Familienkollektiv für ein halbwegs menschenwürdiges Leben oder sie fanden sich mit dem Elend ab. Die Wohnbedingungen waren katastrophal, die Familien lebten auf engstem Raum, verdienten viel zu wenig, Väter versoffen ihr Geld, Kinder halfen bei der Arbeit, nicht selten prostituierten sich die Mütter, um etwas dazuzuverdienen. Und natürlich gingen sie auch arbeiten, übernahmen meistens aber eine Schicht weniger als der Mann, weil sie auch noch für den »Rest« zuständig waren. Abgesehen von der Prostitution und der Kinderarbeit gleicht das Modell einem auch heutzutage extrem populären Modell: Der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau arbeitet Teilzeit und kümmert sich um Kinder und Haushalt. Fazit: Im Großen und Ganzen bestand die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert vor allem darin, Kinder zu bekommen, sie zu erziehen, den Haushalt zu organisieren und in Bauern- und Arbeiterfamilien zusätzlich harte körperliche Arbeit zu verrichten. Im 19. Jahrhundert wuchs inspiriert durch die Französische Revolution ab 1789 (1791 verkündete Olympe de Gouges die Rechte der Frau und wurde später – nicht nur dafür – hingerichtet) und durch die deutsche Revolution 1848/49 allerdings eine bürgerliche Frauenbewegung heran, die begann, sich umzuorientieren, gesellschaftliche und politische Partizipation zu fordern und somit gegen die einseitige Gleichung Frau = Mutter ≠ Erwerbstätigkeit (und ≠ Studium sowieso) zu protestieren. Frauenzeitschriften, die damals gegründet wurden, ermutigten Frauen, sich zusammenzuschließen und nach Freiheit zu streben. Ein Rollentausch, wie meine Frau und ich ihn leben, war zu dem 6 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/kaiserreich/139652/ buerger­liche-kultur-und-ihre-reformbewegungen

Ein Blick zurück21

Zeitpunkt indessen noch kein Thema. Folgerichtig ging es zunächst eher darum, dass Frauen wenigstens studieren durften und auf diese Weise eine höhere Bildung erwerben konnten. So forderte im Jahr 1874 Hedwig Dohm in ihrem Essay »Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau«: »Die Frau soll studieren, (…) weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach eine vom Manne verschiedene geistige Organisation besitzt (…) und deshalb voraussichtlich neue Formen der Erkenntnis, neue Gedankenrichtungen der Wissenschaft zuzuführen imstande sein wird. […] Medizin aber soll die Frau studieren, einmal im Interesse der Moral und zweitens, um dem weiblichen Geschlecht die verlorene Gesundheit wiederzugewinnen. […] Die Frau soll studieren, weil Wissen und Erkenntnis das höchste Gut der Erde ist.«7 Genau! Damals war das eine fast schon revolutionäre Forderung. Heute gilt es als selbstverständlich, aber dass Frauen Kinder bekommen und arbeiten, das ist heute noch immer nicht selbstverständlich. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Frauen schließlich als Gasthörerinnen zugelassen und begannen auf diese Weise sozusagen verdeckt mitzustudieren, bis sie im Jahr 1908 auch im größten deutschen Land, in Preußen, zum Studium zugelassen wurden. (Bildung war auch damals vor allem Ländersache.) Im Jahr 1917, also kurz vor Zusammenbruch des Kaiserreichs, studierten laut Wikipedia (Abruf Februar 2016) 6654 Frauen. In der Weimarer Republik setzte sich die Bildungsemanzipation fort – Frauen durften nun auch wählen und politisch mitbestimmen – und darüber hinaus durfte ein neuartiger, selbstbewusster Typ Frau bestaunt werden: »Mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen zu Beginn der Weimarer Republik erfüllte sich eine von der Frauenbewegung 7 Vgl. http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-wissenschaftliche-emancipationder-frau-4771/1

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Ein Blick zurück

seit langem aufgestellte politische Hauptforderung. Auch im Alltagsbereich boten sich in den 20er Jahren für eine kleine Gruppe von jungen und ungebundenen Frauen neue Möglichkeiten zu bisher unvorstellbaren Lebensplanungen. Veränderte Moralvorstellungen und ein neues weibliches Selbstverständnis boten die Grundlagen für das Erscheinen der sogenannten Neuen Frau im städtischen Alltag. Eine kleine, elitäre Gruppe der weiblichen Bevölkerung, zumeist um die Jahrhundertwende geborene Akademikerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Tänzerinnen oder Künstlerinnen waren die Protagonistinnen der ›Neuen Frau‹. Vor allem in den Großstädten ansässig, brachen sie mit dem traditionellen weiblichen Lebensstil ihrer Mütter, lebten und wirkten jenseits der konventionellen Auffassung von Ehe und weiblichem Bezugsfeld. Vielmehr wollten sie einen Beruf ausüben und in einer »ebenbürtigen Beziehung« leben, was aber keinesfalls die Institution der Ehe oder den Wunsch nach Familie ausschloss.«8 Das Rollentauschmodell gab es allerdings noch immer nicht. Die »Karrierefrau« – was das ist beziehungsweise sein könnte, wird noch geklärt werden –, die in einem größeren Unternehmen wirklich eine leitende Funktion innehat oder als Spitzenpolitikerin mitmischt … Fehlanzeige. Natürlich bestätigen Ausnahmen wie fast immer die Regel: Zu den schillerndsten Persönlichkeiten in jener Zeit gehörten mit Sicherheit die Politikerinnen Clara Zetkin und vor allem Rosa Luxemburg. »Karrierefrau« war man allerdings eher als Künstlerin. Das gewonnene Selbstbewusstsein zerstörten die Nazis. Aber auch nur zum Teil. Vor der NS-Frauenschaft sagte Hitler am 8. September 1934: »Die Welt des Mannes ist groß, verglichen mit der der Frau. […] Die Welt der Frau ist der Mann. […] Ihre Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus. […] Wenn früher die liberalen intellektualistischen Frauenbewegungen in ihren Program8 https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/neuefrau.html

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men viele, viele Punkte enthielten (…), so enthält das Programm unserer nationalsozialistischen Frauenbewegung eigentlich nur einen einzigen Punkt, und dieser Punkt heißt: das Kind (…).«9 Die Vorzeigefamilie setzte sich im Dritten Reich dementsprechend aus dem für das Regime arbeitenden oder kämpfenden (oder tötenden), uniformierten und selbstverständlich arischen Mann und dessen sich um den Haushalt und möglichst viele Kinder kümmernder Frau zusammen. Beruflich erfolgreich im Dritten Reich waren Frauen wie die Regisseurin Leni Riefenstahl oder Schauspielerinnen. Also ebenfalls Künstlerinnen. Ob deren Männer zu Hause blieben und sich um die Kinder kümmerten, darf bezweifelt werden. Das war aber in der Weimarer Republik und auch nach dem Krieg nicht anders. Interessanterweise haben im Verlauf des Dritten Reichs vor allem in den Kriegsjahren viele Frauen studiert. Im Jahr 1943 waren die Männer im Krieg, und Frauen, die nicht verheiratet waren oder in der Rüstungsindustrie arbeiteten … studierten. Knapp 25.000 waren es und damit betrug ihr Anteil knapp 50 %. Allerdings waren es dann nicht die Studentinnen, an denen sich die Nachkriegsgesellschaft orientierte. Es war doch eher das von Hitler gepredigte Frauenbild. Ein Eheratgeber aus dem Jahr 1959 vermittelte folgende Idealvorstellung: »Zwischen den beiden genannten Extremen (Putzteufel und Schlampe) liegt für die Hausfrau das, worauf es ankommt: ihrem Mann ein Heim zu schaffen, in dem er wirklich zu Hause ist, in das er nach des Tages Arbeit gern zurückkehrt.«10 Damit ist eigentlich alles gesagt. Die Politik sah das genauso. So ist der § 1354 des Bürgerlichen Gesetzbuches aus der Kaiserzeit zunächst mit in die Bundesrepublik genommen worden:

   9 Zitiert nach Max Domarus (Hrsg.): Hitler, Reden und Proklamationen, Band 1, Würzburg 1962, S. 450 ff. 10 http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-55972869.html

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Ein Blick zurück

»Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung.«11 Dieser »Gehorsamsparagraf« ist am 1. Juli 1958 weggefallen. Aber an der »Hausfrauenehe« änderte sich erst 1977 etwas. Da war ich bereits fünf Jahre alt. Bis dahin galt noch § 1356. »Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. [2] Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.«12 Die Wochenzeitung »Die Zeit« feierte die Abschaffung der Hausfrauen­ ehe in folgendem Artikel: »Ob die Ehefrauen in der Bundesrepublik am 1. Juli 1977 ein Freudenfest feiern werden? Das Motto müßte sein: die Hausfrauenehe ist abgeschafft. Bisher (und bis einschließlich 30. Juni 1977) gilt noch das durch das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 umformulierte ›alte‹ BGB. Danach ist die Frau in erster Linie zur Haushaltsführung, der Mann zum finanziellen Unterhalt der Familie verpflichtet. Die Ehefrau darf nur dann berufstätig sein, wenn sie dadurch ihre familiären Verpflichtungen nicht vernachlässigt; wenn die Einkünfte des Mannes für den Familienunterhalt nicht reichen, ist sie aber verpflichtet zu arbeiten.«13 Ich weiß nicht, ob es irgendwo ein Freudenfest gab. In jener Zeit erlebte die Emanzipation durch die Gründung der Zeitschrift Emma einen Höhepunkt. Aber im Großen und Ganzen änderte sich an den realen Verhältnissen wenig. Der Mann arbeitete voll, und die Frau kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Ich bin Jahrgang 1972. Meine ersten Erinnerungen habe ich an unsere Reihenhaussiedlung in einem Kieler Vorort. Die Männer gingen morgens zu 11 http://lexetius.com/BGB/1354,2 12 http://lexetius.com/BGB/1356,3 13 http://www.zeit.de/1976/43/hausfrauen-ehe-abgeschafft/seite-2

Ein Blick zurück25

ihren Garagen und fuhren zur Arbeit, und die Frauen blieben zu Hause. Einige der Mütter begannen wieder zu arbeiten, als auch das zweite Kind – fast alle Familien hatten zwei Kinder – in die Schule kam. Meine Eltern haben mir nie eingeredet, wie ich zu denken habe. Aber ich weiß, dass ich damals arbeitende Mütter genauso seltsam fand wie Frauen mit Kopftüchern, die es erst im nächsten Vorort gab. Es war nicht so, dass ich abfällig von ihnen dachte. (Weder von den arbeitenden Müttern noch von den Frauen mit Kopftüchern.) Ich wunderte mich einfach. Das lag vielleicht auch daran, dass sich auch in den Achtzigern nichts änderte. Mir ist nicht eine Familie aus meinem gesamten Friede-Freude-Eierkuchen-Umfeld bekannt, in der es auch nur im Ansatz einen Rollentausch gegeben hatte. Meine Mutter begann, wie erwähnt, wieder zu arbeiten, als ich 16 war. Als ich meine Frau kennenlernte, stellte ich fest, dass ihre Eltern in dieser Hinsicht eigentlich etwas Besonderes waren: Ihre Mutter hatte als Lehrerin an einer Berufsschule eine A13-Stelle, ihr Vater als Grundschullehrer wurde »nur« nach A12 besoldet. Aber: Natürlich arbeitete er voll und sie halb. Und natürlich blieb sie nach der Geburt der Kinder zu Hause und nicht er. Wenn sie sich damals schon für einen Rollentausch entschieden hätten, dann hätten vermutlich selbst die Feministinnen und Hippies verwirrt den Kopf geschüttelt. Es war ein langer Kampf, bis die Frauen sich überhaupt die Möglichkeit erstritten hatten, in einer Ehe wenigstens gleichberechtigt in beruflichen Belangen mitreden zu dürfen. Bizarrerweise gibt es Parteien und Strömungen, die diese ganzen Erfolge am liebsten rückgängig machen würden und, den Eindruck hat man jedenfalls, zur Hausfrauenehe zurückkehren wollen. Ich selbst finde: Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber Männer, die einfach mal zu Hause bleiben, sich um die Kinder kümmern und die Frauen arbeiten lassen, denen auf diese Weise ein wie auch immer gearteter beruflicher Aufstieg möglich ist, könnte und sollte es häufiger geben. (Wenn ich dieser Meinung nicht wäre, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben.)

Wie alles begann

Der (erste) Traum vom Bestseller Ich habe die Kieler Uni nach sechs Semestern Lehramtsstudium (Französisch und Geschichte) Mitte der Neunzigerjahre verlassen, weil ich mich in einem Offenen Brief über eine zu harte Zwischenprüfung im Studiengang Romanistik empört habe. Der Witz war: Viele der wütenden Studenten hatten angekündigt, ebenfalls einen Brief zu schreiben. Letztendlich war ich jedoch der Einzige, der einen solchen verfasst und wirklich jedem Dozenten, dem Dekan und auch dem Kultusminister geschickt hatte. Am Ende solidarisierten sich die Studenten nicht mit mir. Es war auch nicht so, dass sie mich bekämpften. Es schien ihnen plötzlich nur alles herzlich egal zu sein. Einige Dozenten ließen mich spüren, dass ich nicht mehr wirklich willkommen war. Andere wiederum fanden den Brief berechtigt und riefen mich sogar zu Hause an. Aber ich selbst fühlte mich nicht mehr wohl und wechselte die Uni. Eine Kommilitonin schwärmte damals von Tübingen, als sei es das Studentenparadies schlechthin, meine damalige Freundin begann ebenfalls in Tübingen zu studieren, also landete ich nach einem Aufenthalt als Sprachassistent in Nancy in einer schwäbischen Kleinstadt, die sich für den kulturellen Mittelpunkt des Planeten hielt und nicht merkte, dass in dieser »Stadt« gefühlt jeder entweder Student oder Professor beziehungsweise Dozent war, weshalb man nicht durch die Gassen laufen konnte, ohne alle fünfzehn Meter jemanden zu treffen, der nie etwas anderes als Schüler, Student, Lehrer oder Professor gewesen war. Und dann sprachen die meisten noch schwäbisch. Auch im Hauptseminar Geschichte. Für mich gebürtigen Kieler war das nichts. Da ich schon lange ein Buch hatte schreiben wollen, hielt ich nun die Zeit endgültig für gekommen, damit zu beginnen und schrieb Abend für Abend beziehungsweise Nacht für Nacht einen ausufernden Roman über die Freundschaft dreier Jungs, beamte mich wäh-

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rend der Schreibeinheiten nach Kiel und merkte nicht, dass ich fast eins zu eins meine Schulzeit nacherzählte, die lustig, aber nicht unbedingt romantauglich gewesen war. Die vierhundert eng bedruckten Seiten ließ ich zwanzigmal binden, gab dafür sagenhafte 800,– DM aus, verschickte die gebundenen Manuskripte an Suhrkamp, KiWi, Hanser usw., schmiedete Pläne, wie ich mit den zahlreichen Zusagen umgehen würde, und rechnete damit, dass ein Verlag locker mehrere hunderttausend Exemplare meines Meisterwerks verkaufen könnte. Das klingt wahrscheinlich, als würde ich mir das alles ausdenken, und ich wollte fast, es wäre so. Aber ich war wirklich davon überzeugt, dass das lesende Deutschland auf mich und mein Buch geradezu wartete. Woran ich nicht dachte, war: Dass ich irgendwann Lehrer sein könnte oder, noch abstruser, mich um eigene Kinder kümmern würde, um meiner Frau den Rücken freizuhalten. Vor allem dachte ich nicht daran, dass die junge Frau, die ich jeden Sonntagabend bei der Oldies Night in einer Disco im ZOO – einem damals in Tübingen existierenden Veranstaltungsort – beobachtet hatte, diese Frau werden könnte. Im ZOO »tanzte« ich zu Nena und solchen Sachen, trank Bier und beobachtete leicht angetrunken diese junge Frau, die immer mit einer Freundin da war und nicht wie ich Bier, sondern irgendeinen Saft trank. Oft schaute sie zurück, lächelte und schaute dann wieder weg. Das ging ein Jahr so. Kein einziges Mal hatte ich sie in diesem Jahr angesprochen, nur beim Tanzen hin und wieder, selbstverständlich ohne Absicht und Hintergedanken, angerempelt. Dann fand ich einen »Verlag«. Suhrkamp hatte zwar wie alle anderen großen Verlage abgesagt, aber ein Verleger, den ich in Tübingen auf einer absurd schlechten Lesung aus einem absurd schlechten Buch getroffen und angesprochen hatte, wollte das Buch verlegen. Er wollte auch nichts ändern, weshalb ich dachte: »Dieser Mann versteht etwas von Literatur!« Er wollte das Buch aber nicht bloß verlegen und nichts am Text ändern, sondern er wollte auch einen Druckkostenzuschuss haben, und zwar 6.899,– DM. Das klang damals für mich, wie es heute für mich klingen würde, wenn ein Verlag eine Beteiligung von 20.000,– Euro erwarten würde. Ich erzählte meinen Eltern davon, die mir Geld liehen und etwas »spendeten«, und besuchte den Verleger in

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Münster, wo ich mich auf eigene Kosten in einer Jugendherberge einquartierte. Kaum hatten wir uns auf einen schwerfälligen Titel (Vom Werden und Sterben einer Freundschaft) und ein beklopptes Cover geeinigt, ließ ich Flyer drucken, die ich selbst angefertigt hatte, obwohl ich von Design nun wirklich keine Ahnung habe. Und dank dieses Flyers von unterirdischer Qualität … lernte ich die junge Frau kennen.

Flucht aus Tübingen Ein weiteres Auslandsjahr stand unmittelbar bevor: Meine zweite Assistentenzeit verbrachte ich in Massy bei Paris. An meinem vorerst letzten Sonntag im ZOO nahm ich einen Flyer mit, schrieb auf den Flyer meinen Namen und meine Mailadresse und beobachtete die junge Frau noch intensiver als sonst. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und drückte ihr den Flyer in die Hand, murmelte irgendetwas à la »Ich fahre jetzt nach Paris, vielleicht hast du ja Lust, ein Buch von mir zu lesen« und verschwand. Später hat sie mir erzählt, dass sie zu ihrer Freundin, die bei meiner hilflosen Aktion neben ihr stand, gesagt habe: »Schön, so komme ich ja mal nach Paris!« Und sie kam nach Paris. Erst schrieb sie eine lange Mail. Dann schrieben wir uns Briefe. Schon damals wunderte ich mich über einige Besonderheiten: Während ich erst lernte, Mails zu schreiben und das Internet im Jahr 1999 noch ein Mysterium für mich war – in Südamerika war ich noch ein Jahr zuvor in Internetcafés gerannt und hatte die Besitzer mit der Frage »Do you have hotmail?« verblüfft – wirkte ihre erste Mail wahnsinnig professionell. Unter ihrer Mail war zum Beispiel ein automatischer Absender mit Telefonnummern. Da stand »lab. 00…« Und ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. (Jetzt weiß ich: lab. = Labor). Und dann die Briefe. Lange Briefe … ohne Rechtschreibfehler. Mit einwandfreier Interpunktion. Das fiel mir sofort auf, allerdings dachte ich Folgendes definitiv nicht: Boh, ist die schlau, wenn ich die heirate, dann werde ich mich bestimmt um die gemeinsamen Kinder kümmern müssen, denn diese Frau wird ja später die Möglichkeit haben, mehr Geld zu verdienen als ich. Nein, so war das nicht. Ich hatte ja noch kein einziges Mal mit ihr gesprochen. Für mich war das so eine Art Briefaffäre mit ungewissem Ausgang. Die etwas primitive Wahrheit war: Ich dachte vor

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allem an Sex mit dieser Briefe schreibenden Unbekannten und fand die Aussicht darauf verführerisch, weshalb meine Briefe ebenfalls ziemlich lang wurden (allerdings mit ein paar Rechtschreibfehlern und nicht immer einwandfreier Interpunktion). Dann hatte ich meine erste Lesung in Kiel. Es kamen hundert Leute und es wurden fünfzig Bücher verkauft und ich dachte, ich sei endgültig ein Star. Das Problem war, dass ich blind für einige brutale Realitäten war: Zum einen kannte ich 99 % der hundert Zuhörer. Zum anderen kauften vor allem Eltern meiner Schulfreunde das Buch. Ich war auch blind vor Rührung: Es kamen zwei Türkinnen, mit denen ich Tae-Kwon-Do gemacht hatte, die das Buch kauften und mir aus Anlass der Lesung einen kostbaren Kugelschreiber schenkten. Es kam eine der Dozentinnen, der ich damals den Brief geschickt hatte, und sogar einer der wenigen Studenten, die zu mir gehalten hatten, obwohl es dieser Student nicht mal nötig gehabt hatte. Wegen dieses »Erfolgs« war die gefühlte Fallhöhe auch so extrem. Denn nach dieser Lesung begann ein einzigartiger Abstieg: Die Bücher wurden zum Teil nicht ausgeliefert. Viele Buchhändler wollten nicht kooperieren. Der Verleger log mich nachweislich an und schwieg erst, als ich ihm die Mails einiger Buchhändler weitergeleitet hatte, die vergeblich auf die Bücher warteten. (Wie man Mails weiterleiten kann, wusste ich damals noch nicht, weshalb ich die Mails immer abtippte und sie ihm dann schickte.) Aber: Ich schaffte es trotzdem, eine Lesung in Tübingen zu organisieren. Und als ich die junge, Briefe schreibende Frau, von der ich inzwischen wusste, dass sie Biochemie studierte und an ihrer Diplomarbeit schrieb, fragte, ob ich bei ihr übernachten könne, sagte sie ja. Und ich befürchte: Ich dachte immer noch vor allem an die Aussicht auf Sex. Also stand ich an einem schneereichen Abend im Dezember vor ihrer Tür. In ihrem Studentenzimmer bestaunte ich zunächst ihr gefülltes Bücherregal mit vielen englischsprachigen Titeln. Wir begannen uns über Bücher und alles Mögliche zu unterhalten, und dann nahm alles seinen Lauf. Während sie die Arbeiten an ihrer Diplomarbeit abschloss, saß ich in einem Zimmer in Paris und begann Unmengen Rotwein zu trinken und die Insolvenz meines Verlags zu verarbeiten und an meinem nächsten Roman über einen Selbstmörderclub zu schreiben,

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an den ich glaubte und für den ich schon bald Dutzende Absagen erhalten würde. Immerhin legte ich ein solides erstes Staatsexamen ab. Dennoch beschwerte ich mich in einem Offenen Brief über die Absurditäten des Studiums und nahm den Referendariatsplatz, der mir angeboten wurde, nicht an. Stattdessen zog ich zum ersten Mal der Frau hinterher, die die größte Herausforderung meines Lebens werden sollte. Ohne zu ahnen, dass es keineswegs das letzte Mal war. Sie hatte in Hamburg zu promovieren begonnen und sich eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes gesucht, damit sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren konnte. An diesem Prinzip – eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes zu suchen – haben wir bei allen folgenden Wohnungs- und Ortswechseln festgehalten. In Hamburg lebten wir dann auf niedrigst denkbarem Niveau bereits eine Art Rollentausch.

Rollenverteilung vor dem ersten Kind Daran, dass wir irgendwann ein Paar mit zwei Kindern sein könnten, bei dem ein Elternteil, und zwar die Frau, deutlich überdurchschnittlich verdienen würde, verschwendeten wir keinen einzigen Gedanken. Dazu war unser Alltag erstens zu bescheiden und zweitens dachte ich eigentlich immer nur an mein jeweils aktuelles Buch, an dem ich mit erstaunlicher Disziplin arbeitete, und sie immer nur an ihre Arbeit – und nicht daran, was sie irgendwann mal nach der Promotion verdienen könnte. Wir wohnten im nicht besonders coolen Lokstedt an einer mehrspurigen Straße in einer winzigen Zweizimmerwohnung mit Dachschrägen – in der Dusche konnte ich nicht aufrecht stehen – ohne Wasch- beziehungsweise Geschirrspülmaschine. Meine Frau bezog für ihre Tätigkeiten als Doktorandin um die 1000 Euro netto pro Monat. Ich verdiente manchmal nur ein paar hundert Euro, manchmal ein bisschen mehr und manchmal auch gar nichts dazu. Und das in Hamburg. Meine Jobs im ersten Hamburg-Jahr (vor dem Referendariat): 1. Betreuung französischer Austauschschüler 2. Nachhilfe

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drei Wochen lang Gerüstbau in der AOL-Arena Messebau Büroarbeit im Einwohnermeldeamt Fremdsprachensekretär in einer französischen Firma ein halbes Jahr ambulante Krankenpflege in Altona und Volksdorf

Meine Träume: 1. Erfolg mit dem dritten Buch, einem Roman, in dem es um einen Schriftsteller geht, der unter chronischer Erfolglosigkeit leidet und plötzlich eine fulminante Karriere macht. 2. Erfolg mit dem vierten Buch, einem Kurzgeschichtenband über Studenten, die auf verschiedene Weise mit dem Examen kämpfen. 3. Erfolg mit dem fünften Buch, einem Zukunftsroman, zu dem mich der 11. September inspiriert hatte (und der noch schlechter war als mein erstes Buch). 4. Erfolg mit dem sechsten Buch, einem Roman über einen Schnösel, der in die ambulante Krankenpflege rutscht und ein besserer Mensch wird. Wovon ich nicht träumte: 1. Mein Referendariat endlich beginnen zu dürfen und dann Lehrer zu werden. 2. Vater zu werden. 3. Sollte ich doch zufällig Vater werden, mich ums Kind zu kümmern und meine Frau arbeiten zu lassen. a. Allerdings begannen diese Gedanken in jener Zeit zum ersten Mal aufzublitzen (siehe unten). Meine Probleme: 1. Ich bekam pro Buch mehrere Dutzend Absagen. 2. Ich bekam auch Absagen für einen Referendariatsplatz aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, woraus folgte: 3. Mein Leben erstarrte in Erfolglosigkeit. Dass ich meine Arbeit als ambulanter Krankenpfleger höchst spannend fand, tröstete mich ein wenig. 4. Und ja, mit einigen Dingen kam ich nicht klar, weil ich halt ein Mann bin und meine Frau eine Frau, in deren Nähe ich mir

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manchmal vorkam wie ein Zweitklässler, der mit einem Achtklässler Mathe lernt. Meine beiden Langzeit-Freundinnnen vorher waren auch ziemlich schlau. Aber beide waren »normal schlau«. Nicht schlauer als ich. Meine Frau jedoch … liest zum Beispiel doppelt so schnell wie ich. Heute finde ich das lustig, damals hat es mich deprimiert. Und komplizierte Bücher, die liest sie selbst auf Englisch dreimal so schnell wie ich dasselbe Buch auf Deutsch, weil ich die komplizierten Bücher noch langsamer lese, sich an ihrer Lesegeschwindigkeit aber nichts ändert. Ihr Englisch ist besser als mein Französisch. Als ich das merkte, hatte ich regelrecht Komplexe. Schließlich hatte ich zwei Schuljahre in Frankreich gelebt und Französisch studiert. Sie hat in Tübingen und zwischendurch in München studiert und … nun ja … in der Schule Englisch-Leistungskurs gehabt und war mal drei Wochen mit den Pfadfindern in Irland gewesen. 5. Es gab Situationen, da wollte ich einfach mal besser sein als sie. Aber abgesehen davon, dass ich sportlicher war und mich in Geschichte besser auskannte, gab es kaum etwas, wo ich ihr, wie es so schön heißt, das Wasser reichen konnte. Heute bin ich entspannter und bin ganz verstört, wenn ich selbst Bedienungsanleitungen lesen soll – das macht eigentlich immer sie. Weil sie sie im Gegensatz zu mir nicht dreimal lesen muss. Ihre Probleme: 1. Mit der Doktorarbeit ging es schleppend voran. 2. Ihre Chefin im Labor hatte den Chefarzt geheiratet, der dann Klinikchef wurde. Ich mag nicht ausschließen, dass sie irgendwann mal tief in ihrem Inneren den Wunsch gehabt hatte, sie würde einen Mann finden, der wenigstens kleine Erfolge vorweisen konnte … und der war ich in jener Zeit definitiv nicht.14 (Wenn dieser Satz ihre Korrektur überlebt hat, dann war das in der Tat so.) 3. Sie fand mich viel zu empfindlich. So konnte ich damals mit Kritik an meinen »Werken«, die ich für bedeutender hielt als alles, 14 Die kleinen Erfolge kamen später. Und ja: Eine ganzseitige Veröffentlichung eines Textes in der Süddeutschen Zeitung (zum ersten Mal im Jahr 2010) … das ist für einen Autor sogar ein großer Erfolg.

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was Thomas Mann und Günter Grass jemals geschrieben haben, überhaupt nicht umgehen. Das führte dazu, dass wir irgendwann über meine Bücher nicht mehr sprachen. Andererseits gehörte das Schreiben in ihren Augen immer zu meinem Leben derart dazu, dass sie einmal den wundervollen Satz sagte: »Wenn du aufhören würdest zu schreiben, bekäme ich richtig Angst.« All das änderte sich erst 2013. Erstens weil Bücher von mir veröffentlicht wurden, zweitens weil mich Kritik nicht mehr so sehr störte, dass ich vor Wut mit Dingen um mich warf und tagelang beleidigt war. (Ich halte mich inzwischen für einen Autor, der in der Lage ist, über Kritik lange und ernsthaft nachzudenken. Aber über ein paar anerkennende Worte freue ich mich noch immer mehr.) 4. Im Alltag war sie ziemlich schnell genervt, weil mir Ordnung ziemlich egal war. Vor allem wenn ich mal wieder eine wichtige Quittung verloren hatte, gab es Krach. (Einmal hatten wir uns ein Auto geliehen, und als wir losfahren wollten, fand ich den Schlüssel nicht mehr – dann mussten wir ein Taxi nehmen. Das war gar nicht schön.) Das Problem mit der Ordnung eskalierte hin und wieder, als die Kinder auf der Welt waren und der Haushalt in meine alleinige Zuständigkeit fiel. (Dazu komme ich noch.) Unser Leben: 1. Sie verließ morgens die Wohnung in Richtung Klinik, an der sie promovierte, ich jobbte, suchte Jobs oder schrieb Bücher. Und wenn sie ging und ich auf dem Sofa lag, die Beine hochgelegt, einen Becher mit Kaffee in der einen und den Ausdruck eines Kapitels in der anderen Hand, sagte sie seufzend: »Ach, das Künstlerleben.«15

15 Was nur wenige wissen: Auf dem Sofa – inzwischen liege ich manchmal sogar in der Hängematte – ist es zwar sagenhaft gemütlich. Aber wenn man ein 250-Seiten-Manuskript korrigiert, ist und bleibt das konzentrierte, wochenlange Arbeit, auch wenn man sie auf dem Sofa beziehungsweise in der Hängematte verrichtet.

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2. Die Vorstellung, dass unser Leben irgendwann wirklich so aussehen könnte, dass sie Geld verdienen und ich Bücher schreiben und mit jedem neuen Buch auf den Durchbruch hoffen würde, schreckte mich in solchen Situationen nicht mehr. Diese konkreter werdende Idee von unserer gemeinsamen Zukunft, die hin und wieder aufblitzte, entstand im Verlauf der ersten Hamburger Jahre letztendlich aus einem Gefühl der Erfolglosigkeit heraus. Ich glaube, es war in dieser Zeit, als meine Frau das erste Mal sagte: »Bei uns wird später wohl die Frau das Geld verdienen und der Vater sich um die Kinder kümmern.« Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagte. Ich weiß nur noch, dass mir die Aussicht gefiel. Ein wenig lebten wir den Rollentausch ja bereits. Dass ich tatsächlich daran dachte, dass diese Idee irgendwann Wirklichkeit werden sollte, glaube ich allerdings nicht. Es war eine charmante Vorstellung, über die wir lächelten, wenn einer von uns davon sprach. Das wenige Geld, das uns zur Verfügung stand, investierten wir in Kinobesuche und in Theaterkarten – damals selbstverständlich in der billigsten Kategorie. Dann wurde uns die Wohnung zu eng und wir tauschten sie ein gegen eine etwas größere Altbauwohnung im selben Stadtteil, die gefühlt dann doch nicht größer war, weil der Keller fehlte. Dort schrieb ich weiter, bekam weiterhin Absagen und auch eine Zusage: Leider keinen Vertrag mit Vorschuss von einem renommierten Verlag, sondern vom Land Schleswig-Holstein für einen Referendariatsplatz. Wehmütig kündigte ich meinen Job als ambulanter Krankenpfleger, dem ich ein halbes Jahr lang mit Begeisterung nachgegangen war, begann das Referendariat und dachte vom ersten Tag an: Da ich mit meinem nächsten Roman endlich den Durchbruch feiern werde, ist das Referendariat nichts anderes als ein berufliches Provisorium. Vor allem das zweite Referendariatsjahr wurde dann zu unserer Kampfzeit, in der alle möglichen Weichen noch vollkommen anders hätten gestellt werden können. Denn wir lebten nun wie ein klassisches Doppelverdienerpaar. Allerdings mit geringem Einkommen. Wir arbeiteten beide gleich viel, und wir kämpften beide mit dem

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zweiten Teil unserer Ausbildung. Sie mit der Promotion, ich mit dem Referendariat. Ihr Problem bestand darin, dass sie manchmal nicht vorankam, obwohl sie unbedingt vorankommen wollte. Ihr brachte ihre Arbeit Spaß, so wie ihr auch das ganze Studium Spaß gebracht hatte. Dass sie ihre Ziele stets ehrgeizig verfolgte, steht dazu in keinem Widerspruch. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn man eine Tätigkeit spannend und interessant findet und sie zugleich Freude bereitet und Befriedigung verschafft, versucht man erst recht, darin gut zu sein. Entsprechend frustrierend ist es, wenn es nicht läuft wie erwünscht. Mein Problem bestand eher darin, dass ich vorankommen musste, obwohl ich das Referendariat am liebsten gar nicht erst begonnen hätte. Da ich meinen Schriftstellertraum nicht etwa begrub, sondern er immer mehr zu meinem Lebenstraum und gleichzeitig zu meiner Obsession wurde, schrieb ich weiterhin wie ein Besessener. Diese Tätigkeit war es, die ich spannend und interessant fand und die mir zugleich Freude bereitete und Befriedigung verschaffte, weshalb mein Ehrgeiz Buch um Buch wuchs. Ich arbeitete inzwischen auf Hochtouren an meinem siebenten Roman über einen Lehrer, der Amok läuft. Inspiriert dazu hatte mich ein Kollege, der lieb war, von dem ich mir aber nicht vorstellen konnte, dass die Schüler ihn annahmen. Genau dieses Problem war eigentlich das einzige Problem, das ich nicht hatte als Referendar. Die Schüler mochten mich trotz meines konfusen Unterrichts. Manche mehr, manche weniger, aber auf Schwierigkeiten stieß ich zu keinem Zeitpunkt. Mein inniges, oft wahrscheinlich viel zu inniges, gar kumpelhaftes Verhältnis zu den Schülern war damals das Schönste am Beruf, und das hat sich bis heute nicht geändert. Die Schwierigkeiten lagen anderswo. Vor allem in meinem Hang dazu, Dinge, die ich nicht einsehe, einfach nicht zu machen. Da war und bin ich störrischer als die nervigsten Neuntklässlerinnen. So habe ich Lehrproben – also Unterrichtsstunden in Anwesenheit eines Ausbildungslehrers, der meine Darbietungen auch benotete – abgesehen von den beiden Examenslehrproben nie mit dem nötigen Eifer vorbereitet, weil ich das Prinzip nicht eingesehen habe. Denn als Lehrer bist du nur dann gut, wenn du in der Lage bist, spontan auf Unwägbarkeiten zu reagieren. Wenn du mit der heulenden Schüle-

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rin umgehen kannst. Wenn du aufrecht stehen bleibst, obwohl die Stunde dir aus den Händen gleitet.16 Lehrproben sind ein Witz. Jeder begabte Schauspieler kann eine 1a-Lehrprobe inszenieren. Ich hatte auf diesen Unfug, der NICHTS mit Schulalltag zu tun hat, keine Lust und zeigte Alltagsunterricht, was wir eigentlich ja auch sollten, was aber in Wahrheit das Letzte war, was die Ausbildungslehrer sehen wollten. Da ich nebenbei am Buch schrieb, brachte ich insgesamt auch nicht so viel Zeit für die Ausbildung auf wie die anderen Referendare, die sich in den Herbstferien Mitte Oktober nicht verabreden konnten, weil sie Anfang November eine Lehrprobe hatten. (Ist kein Witz. Nein, das ist kein Witz.) Im Rückblick ist das Kurioseste an meinem zweijährigen Referendariat, dass das zweite Referendariatsjahr ein rauschhaftes Erlebnis war: Ich hatte drei Klassen, in die ich gern ging. Die Stimmung war das ganze Jahr hindurch derart herzlich und vertrauensvoll – ich ging mit einigen Zehntklässlern in meiner Freizeit Fußball spielen (was ich vielleicht gar nicht durfte) –, dass mich die Absagen von den Verlagen nicht mehr so sehr frustrierten wie in den Jahren zuvor. Dann übernahm ich zweimal einen Leistungskurs … und die Arbeit verzückte mich geradezu. Allerdings wurde mir im zweiten Staatsexamen dann schwarz auf weiß bescheinigt, dass ich ein schlechter Lehrer bin (Note 3,5). Damals war ich wütend und verbittert. Heute bin ich dankbar und glücklich. Nicht, weil ich es cool finde zu scheitern. Auch heute finde ich es zum Beispiel absolut nicht cool, wenn meine Bücher bei Thalia und Hugendubel nicht liegen, was für den Absatz eine Katastrophe ist, und damals fand ich es nicht besonders cool, mit einer grottenschlechten Note aus dem Referendariat zu wanken, was für meine bevorstehenden Bewerbungen eine Katastrophe war. Aus zwei Gründen würde ich, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dennoch nichts an meiner Referendariatszeit ändern. 1. Ich glaube, ich habe in jener Zeit gelernt, dass man ganz gut durch den Lehrerberuf kommt, ohne sich permanent zu stressen. Ich 16 Gelingt mir bei Weitem nicht immer. Erst neulich habe ich eine Unterrichtsstunde vollkommen entnervt abgebrochen. Aber anschließend muss man solche Debakel irgendwie verarbeiten. Sonst zerbricht man an diesem Beruf.

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riss mich damals nicht um Extra-Aufgaben, nur um als Referendar zu glänzen. Auch heute reiße ich mich nur um etwas, wenn es zu mir passt. Wie zum Beispiel um die Organisation einer Schulzeitung. Und wenn man sich dann richtig Mühe gibt und Zeit investiert, merkt man es gar nicht, weil einem das wirklich etwas gibt. (Allerdings war der Schmerz besonders heftig, als sich niemand für die Zeitung interessierte und sie nach der vierten Ausgabe eingestellt wurde.) Dass ich momentan sehr viel für meine Literaturkurse vorbereiten muss, habe ich auch nicht wirklich gemerkt. (Und die Freude ist besonders groß, wenn die Schülerinnen und der eine Schüler in meinem Hobby-Kurs über sich hinauswachsen und 30-seitige Lesetagebücher abgeben.) Schon im Referendariat mied ich das Lehrerzimmer – ein fast schon grotesker Arbeitszeitvernichtungsraum und ein KonzentrationsSchwarzes-Loch – und verzog mich zum Arbeiten in die Bibliothek. Meine Kollegen hatte und habe ich lieb, aber in der Schule bin ich zum Arbeiten. Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Und was man alles schaffen kann, wenn man versucht, in der Schule selbst jede Sekunde zur Vorbereitung zu nutzen, das ist der reine Wahnsinn. (Seitdem ich konsequent keine privaten Mails mehr in der Schule lese und beantworte, schaffe ich dort noch mehr.) 2. Angenommen, ich hätte besser abgeschnitten und wäre in Schleswig-Holstein direkt im Anschluss an mein Referendariat übernommen und verbeamtet worden … Wie wäre unser Leben dann weitergegangen? Ich kann mir vorstellen, wie: Ich wäre Studienrat geblieben, hätte in den Ferien und manchmal abends etwas geschrieben, hätte vielleicht ein bisschen reduziert, meine Frau hätte sich von einer Befristung zur nächsten gehangelt und vielleicht hätten wir ein schmales Reihenhaus in einem Vorort käuflich erworben … und ja … eventuell wären wir glücklich gewesen. Aber: Mein Leben wäre mit Sicherheit nicht so spannend geworden. Und das Leben meiner Frau ebenfalls nicht. Dann geschah noch etwas in meinem zweiten Referendariatsjahr, was unbedingt erwähnt werden sollte: Gleich zu Beginn, im Herbst 2003, wurde unser erstes Kind geboren. Ein Junge. Mit Sicherheit

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werde ich nie vergessen, wie er nach der Geburt in meinem Arm lag, die Augen öffnete und mich ganz ruhig anschaute, als wollte er mir sagen: Wir beiden werden später viel zusammen sein! Allerdings werde ich auch nicht vergessen, wie ich ihn am ersten oder zweiten Tag im Krankenhaus windeln sollte. Er schrie dabei wie am Spieß und ich hätte auch fast begonnen, wie am Spieß zu schreien, denn ich kam mir verloren und hilflos vor, begann zu schwitzen und strahlte mit Sicherheit das Gegenteil von Gelassenheit und Souveränität aus. Als ich es endlich geschafft hatte, dachte ich: »Na, das kann ja heiter werden …« Aber an meiner ersten Windelwechselkatastrophe lag es nicht, dass wir als Familie nach der Geburt auf eine Art und Weise traditionell lebten, die mich heute fast erschreckt. Es hätte durchaus sein können, dass unser Leben so wie unter 2. dargestellt verlaufen wäre. Warum? Deshalb:

Neun Monate traditionell und zwei Jahre Unsicherheit Meine Frau wurde nach der Geburt von permanenten Rückenschmerzen gequält. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie Rückenschmerzen gehabt und rollte, wann immer sie sich den Rücken hielt oder auf dem Bett lag und vor Schmerzen stöhnte, mit den Augen. Später – nach meinem ersten Hexenschuss – entschuldigte ich mich. Sie hatte es aber nicht mal gemerkt, wie grässlich ich mich verhalten habe. Ich war als Partner in jener Zeit eher so durchschnittlich und als Vater wahrscheinlich okay: Ich ging schon bald mit einer Babytrage allein mit meinem Sohn durchs Viertel und schlurfte durch unsere winzige Wohnung mit ihm am Bauch von einer Ecke in die andere, weil er das mochte. Und ich mochte es auch. Nicht nur, aber auch, weil ich auf diese Weise den kompletten Dr. Schiwago hörte und meine Leidenschaft für Hörbücher entdeckte. (Er hörte übrigens auch den kompletten Dr. Schiwago …) Schon nach wenigen Monaten hatte ich keine Bedenken, mit ihm allein zu bleiben, als meine Frau Lust hatte, mal wieder ins Kino zu gehen. Und was wir damals für vollkommen normal hielten – dass die Frau als Mutter unbedingt auch ihre Freiheiten braucht – war eigentlich ein Indiz dafür, wie es irgendwann in unserem Leben weitergehen würde. Sie konnte loslas-

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sen und verlor zu keinem Zeitpunkt das Interesse an Kultur. Und vor allem: Sie vertraute mir – auch das hielt ich damals für vollkommen normal, weil es ja nicht so war, dass ich keinen Bezug zum Kind gehabt hätte. Das Kind war immerhin mein Sohn. Sie vermittelte mir nie den Eindruck, dass ich was auch immer »falsch« machen würde. Erst später merkte ich: Viele Frauen wünschen sich zwar einen Mann, der sich als Vater ums Kind kümmert, aber in der Regel lassen sie ihre Männer nicht. Übrigens war es nicht so, dass aus diesen vier Stunden dann eine Vater-Sohn-Idylle geworden wäre. Mein Sohn begann irgendwann zu brüllen – wonach, wusste ich nicht – und hörte sehr, sehr lange nicht auf. Wenn Babys zwei Minuten brüllen, kann sich das schon lang anfühlen. Ich weiß, dass ich irgendwann begann, auf die Uhr zu gucken: Am Ende waren es knapp 45 Minuten, die er geschrien hat. Das fühlte sich an wie drei Tage. Aber dann war er eingeschlafen – er schien sich müde gebrüllt zu haben –, es war plötzlich gespenstisch still und ich atmete durch und zeigte, als meine Frau wiederkam, nicht ohne Stolz auf unseren friedlich schlafenden Sohn. Meiner Frau erzählte ich davon anschließend nichts. Vielleicht wollte ich nicht so überfordert auf sie wirken, wie ich es zwischendurch gewesen war. Vielleicht wollte ich ihr auch das Gefühl geben, dass sie ruhig mal weggehen kann. Vielleicht auch beides. Ich selbst ließ trotz dieser 45 Minuten alles auf mich zukommen und las kein einziges Buch darüber, wie man sein Baby behandeln sollte, damit daraus ein kluges Kind wird. Irgendwie sind alle Kinder anders, und dass ich das Kind nicht schütteln sollte oder den schweren Kopf halten muss oder dass ein Kind auch mal Wärme braucht … das war mir alles ohne Ratgeberlektüre klar, ohne dass ich mir deshalb besonders gescheit vorgekommen wäre. Über unsere zukünftige Rollenverteilung dachte ich in jener Zeit allerdings nicht oder nur selten nach. Welche Rolle wollte und sollte ich bei der Erziehung wirklich einnehmen? Keine Ahnung. Dass ich damals keinen Gedanken daran verschwendete, einer der wenigen Väter zu werden, die die Erziehung irgendwann quasi hauptverantwortlich übernehmen würden, zeigte die Nacht, in der mein Sohn wenige Monate alt war und zuckend aufwachte. Wir hatten keine Ahnung, was los war, meine Frau bekam Angst, wir bestell-

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ten ein Taxi und ließen uns um drei Uhr morgens in eine Kinderklinik fahren. Und dort geschah etwas, was ich heute nicht mehr verstehen kann. Als der Arzt sagte, dass Frau und Kind in der Klinik bleiben sollten, freute ich mich, als wäre mir verkündet worden, dass ich Sonderurlaub erhalte. Obwohl ich mich um meinen Sohn wirklich viel kümmerte und einmal fast hatte weinen müssen, als ich nach einer mal wieder missratenen Lehrprobe nach Hause gekommen war und er mich mit einem Lächeln begrüßte, war ich heilfroh, ein paar Tage Ruhe zu haben. Ich bot meiner Frau nicht mal an, sie im Krankenhaus abzulösen (was vermutlich wirklich nicht möglich gewesen wäre, weil sie noch voll stillte). Es kam noch schlimmer: Kurze Zeit später – ihre Rückenschmerzen ließen nicht nach, die Promotion stagnierte und mein Examen näherte sich – fragte sie, ob sie für eine Übergangszeit nach Süddeutschland zu ihren Eltern ziehen solle. Mit unserem Sohn. Ich sagte, ohne wenigstens Alternativen zu besprechen, »ja«, versuchte vermutlich, nicht allzu begeistert zu klingen, und fuhr immerhin jede Woche hin und besuchte Frau und Sohn. Als meine Frau nach meinem versemmelten Examen Ende April ankündigte, bis zum Sommer in Süddeutschland zu bleiben, hatte ich keine Einwände. Ich befürchte, zugeben zu müssen, dass ich mich wieder freute. Warum bloß? Ich dachte zwar noch nicht an unseren zukünftigen Rollentausch, aber unsere Ehe stellte ich nicht infrage. Ich fühlte mich wahrscheinlich einfach wie der arbeitende Vater, der für das Familieneinkommen sorgt, während sich die Frau um das Kind kümmert. Ein solcher Vater war ich allerdings auch damals nicht. Genau genommen war ich an allen beruflichen Fronten geradezu abenteuerlich erfolglos. Was meiner Frau damals durch den Kopf ging, wusste ich nicht mehr, als ich dieses Kapitel schrieb. Deshalb habe ich sie gefragt, und Folgendes hat sie geantwortet: »Ich erinnere mich nicht mehr wirklich daran, welche Gedanken ich mir damals gemacht habe. Ich glaube, ich fand das ziemlich okay, mich von meiner Mutter versorgen zu lassen. Sie war damals noch berufstätig und konnte deshalb nicht zu uns kommen. Also war es für mich logisch, dass ich zu ihr zog. Du warst

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in dieser Zeit oft in der Schule oder hast am Buch gearbeitet und für mich war die Situation zu anstrengend. Ich konnte mich ja kaum bewegen.« Schließlich kamen Frau und Sohn zurück, wir zogen in eine Zweieinhalbzimmerwohnung und sie stürzte sich mit einer Leidenschaft auf ihre Promotion, als hätte sie etwas nachzuholen. Das war übrigens von Beginn an einer der großen Unterschiede in Hinblick auf unsere Arbeitsmoral und sollte später für unsere Entscheidungen ausschlaggebend werden: Sie liebte ihre Arbeit! Ich selbst stand gern im Klassenraum, aber abgesehen davon nervte mich vieles am Lehrerberuf. (Eigentlich alles, was nicht direkt etwas mit dem Kerngeschäft, also dem Unterricht, zu tun hatte. Das ist bis heute so.) Ich liebte das Schreiben. Aber zu dem Zeitpunkt bekam ich nicht mal begründete Absagen für meine Bücher, sondern nur Formbriefe.17 Hatte ich damals ein schlechtes Gewissen, weil ich drei Monate Frau und Kind nur am Wochenende gesehen und mich weitestgehend aus der Erziehung zurückgezogen hatte? Nö. (Stolz bin ich nicht darauf.) Aber immerhin holte ich dann ebenfalls nach, weil auch ich etwas nachzuholen hatte: Ich war von einem Tag auf den anderen wieder ein Vater, der sich um seinen Sohn kümmern wollte. Es war so wie mit dem Meer, das ich nicht wirklich vermisse, obwohl ich vom Meer komme. Wenn ich dann wieder am Meer bin, dann kann ich mich daran gar nicht satt sehen und denke, dass es nichts Schöneres gibt. Ich schob wieder den Kinderwagen durch Hamburg und ging mit meinem Sohn einkaufen. Sonntags fuhr ich oft in aller Frühe mit ihm an die Elbe und machte dort einen langen Spaziergang. Oder nach Eppendorf, wo ich mich in ein Café setzte. Oder in die Schwimmhalle. In jenen Monaten fielen mir zwei Dinge auf: Zum einen war ich etwas Besonderes, weil ich oft mit meinem gerade mal ein Jahr alten Sohn unterwegs war. Andere Väter sah ich nur in Begleitung der Mütter. Zum anderen gefiel es mir, mit meinen Sohn unterwegs zu sein! 17 In Formbriefen steht in der Regel, dass das Buch a) nicht ins Verlagsprogramm passe und b) die Absage kein Werturteil sei, weshalb man c) dem Autor viel Glück bei einem anderen Verlag wünsche.

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Ich war im ersten Jahr ein Vater, der sich damit abgefunden hatte, Vater zu sein und das Vatersein akzeptiert hatte, aber viele Aufgaben eher bei der Mutter sah. Erst im zweiten Jahr, beziehungsweise ziemlich genau neun Monate nach der Geburt, bin ich Vater aus Leidenschaft geworden. Und diese Leidenschaft konnte ich ausleben, denn ich hatte eine Frau, die begann, sich ein bisschen weniger um unseren Sohn zu kümmern als ich (aber wirklich nur ein bisschen). Eine Frau, die mich zwar spüren ließ, wenn ihr etwas nicht passte, die mich aber beim Kind »machen ließ«. Von Beginn an hatte sie uneingeschränktes Vertrauen, so eine Art Urvertrauen in meine väterliche Fähigkeit, dem Kind genauso viel Wärme und Liebe zu geben wie sie. Weil das Baby so unruhig schlief, schlief in jener Zeit immer einer von uns im Wohnzimmer, der andere im Schlafzimmer. Wir wechselten uns ab, aber beim Einschlafen lag meistens ich bei ihm. So entstand nach und nach eine Nähe zu meinem Sohn, die alles, was noch kommen sollte, erst möglich machte. Irgendwann lief ihre Promotionsstelle aus, aber die Arbeit hatte sie noch nicht abgegeben und ihre Verteidigung18 stand dementsprechend noch aus. Sie bekam zwar Arbeitslosengeld, aber da man als Doktorand wenig verdient, bekam sie entsprechend wenig. Und ich bekam gar nichts, weil ich wegen der Referendariatsverbeamtung zwei Jahre lang nichts eingezahlt hatte. Ich ging daher zum Arbeitsamt, wo mir mitgeteilt wurde, dass ich Sozialhilfe beantragen müsste. Habe ich nicht gemacht … ich war doch kein Sozialfall. Uns bedrückte damals ein lähmendes Gefühl, obwohl wir beide wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von uns eine Stelle fand. Wir setzten auf ihre Promotion und auf meine Übernahme in den Schuldienst. Hätte mir in jenen Monaten jemand erzählt, dass ich auf eine Übernahme in den staatlichen Schuldienst noch acht Jahre warten müsste, hätte ich es nicht geglaubt. Und: Ich setzte natürlich weiterhin auf den Durchbruch als Schriftsteller, sie zu der Zeit eher nicht so – seit fünf Jahren gelang mir ja nichts. Es war eigenartig: Wir arbeiteten vor uns hin, ver18 Die »Verteidigung« ist die abschließende Prüfung bei einer Doktorarbeit. (Es gibt auch andere Varianten.)

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dienten praktisch nichts und kümmerten uns um unseren Sohn, der sehr spät einschlief, dafür morgens lange im Bett lag. Wir blieben ebenfalls liegen und hörten 28 Folgen lang, wie Christoph Bantzer von halb neun bis neun im Radio im NDR den Roman Bel Ami von Maupassant19 vorlas, und das Leben schien einerseits extrem leicht, andererseits litten wir unter unserem beruflichen Leerlauf. Erstaunlicherweise war ich dann derjenige, der plötzlich mehr verdiente. Ich übernahm die erste meiner vielen Krankenvertretungen an einem Aufbaugymnasium in Hamburg mit immerhin 16 Stunden – das waren damals in Hamburg 70 % eines vollen Deputats, weil Oberstufe mehr zählte. Wenn ich nicht in der Schule war und nichts vorbereiten musste, kümmerte ich mich um unseren Sohn, sonst kümmerte sie sich, und am Wochenende versuchte ich, ihr ein wenig Arbeitszeit zu verschaffen und machte mit ihm Ausflüge (und natürlich waren wir oft auch gemeinsam unterwegs), nebenbei schrieb ich meinen Roman über den Amok laufenden Lehrer zu Ende und dachte, dass ich an der Schule vielleicht übernommen werden würde und dass dieser Roman mir endgültig zum Durchbruch verhelfen würde. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: 1. Die Stelle lief nach mehreren Vertragsverlängerungen endgültig aus – ich war wieder arbeitslos. Damit endete der einzige Zeitraum in meinem bisherigen Leben – fünf Monate waren es gewesen –, in dem ich mehr verdient habe als meine Frau. 2. Am letzten Januarwochenende nahm ich an einem Literaturseminar mit einem renommierten Lektor teil. Ich dachte und hoffte, er würde mir den Text aus der Hand reißen. Tat er aber nicht. Über meinen Text – alle Teilnehmer mussten etwas Eigenes vorlesen – wurde heftig gestritten. Dabei waren die Fronten einigermaßen klar: Der Lektor fand den Text gut, wenn auch nicht berauschend, der Organisator ebenso, der neben mir einzige männliche Teilnehmer fand den Text auch in Ordnung, die zwölf Teilnehmerinnen fanden den Text hingegen … zum Kotzen. Und ereiferten 19 Was aus heutiger Sicht so eine Art Ironie des Schicksals gewesen sein muss. (Siehe spätere Hinweise auf diesen Autor und den Exkurs Maupassant und ich.

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sich in einer Tour. Die haben sich überhaupt nicht mehr eingekriegt. Puh … Hätte jemand das Gekeife und meine immer verzweifelter werdende Miene und den ratlosen Lektor gefilmt, der Film wäre ein YouTube-Hit geworden. Heute finde ich das lustig und denke gern daran zurück. Damals fand ich die Situation jedoch absolut nicht lustig. Das Gegenteil war der Fall: Ich war am Boden zerstört, packte nachts meine Sachen und hinterließ einen verbitterten Brief. Na ja. War vermutlich nicht gerade der eleganteste Abgang beziehungsweise Umgang mit Kritik. (Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Die Kritik war ebenfalls nicht gerade elegant.) Fazit: Ich hatte den Eindruck, beruflich mal wieder am Nullpunkt angelangt zu sein, während sich meine Frau auf das Finale ihrer Doktorarbeit vorbereitete. Dass das Scheitern an diesem Wochenende – meine letzte Unterrichtsstunde hatte ich bereits gegeben – derart kumulierte, war für mich kaum zu verkraften. Und natürlich wäre einiges anders gelaufen, wäre der Kollege, den ich vertrat, nicht mehr zurückgekommen, und wäre ich übernommen worden und hätte ich zeitgleich einen Autorenvertrag erhalten. Aber so war es nun mal nicht. Und so sollte es auch noch lange nicht sein. (Aus der Hand gerissen worden ist mir bis heute nichts.) Ich war und blieb derjenige mit der Note 3,5 im zweiten Staatsexamen, der für seine Bücher eine Absage nach der anderen bekam. Ich bewarb mich weiterhin erfolglos, bot mein Buch, an das ich weiterhin glaubte, Agenturen an, begann schon mit dem nächsten – mit dem achten – über eine Zeitreise in das Jahr 1932 – und verdiente nichts. Daher war es nur folgerichtig, dass ich im Kindergarten die Eingewöhnungsphase übernahm. Die Erzieherin guckte uns unsicher an, und meine Frau sagte: »Unser Sohn ist es gewohnt, mit seinem Vater allein zu sein.« Bezogen auf die vorangegangenen sechs Monate stimmte das auch. Und dass es tatsächlich kein einziges Problem gab, lag nicht daran, dass ich ein so toller Kerl bin, sondern daran, dass Männer so was einfach können, wenn ihre Frauen sie bloß mal lassen würden. Ich behaupte sogar, dass Männer diese Phasen übernehmen sollten. (Dafür können sie z. B. die so genannten Vätermonate nutzen, zu

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denen ich mich noch äußern werde.) Sie können das einfach besser, denn in dieser Phase braucht man als Elternteil eine Fähigkeit, die eher Väter haben: Man muss das heulende Kind auch mal allein lassen können, ohne selbst zu heulen. Ich werde nie vergessen, wie mein Sohn in den ersten Tagen immer ins »Wartezimmer« schaute und sich vergewisserte, ob ich noch da war. Er sah mich, lächelte, und weg war er. Das war … soooo süüüüß. Und dann war der Tag gekommen, an dem ich »Tschüß« sagen und eine Stunde wegbleiben sollte. Ach, wie er dann die Arme nach mir ausstreckte und verzweifelt heulte, das war ebenfalls sooooo süüüüß. Ich ging trotzdem einfach und machte mir keinerlei Gedanken. Habe ich ein Herz aus Stein? Ist mir das Geheul meiner Kinder egal? Nein, wirklich nicht. Aber vielleicht gehen Männer, die das Kind ja nicht im Bauch oder an der Brust hatten, mit einer solchen Situation einfach rationaler um. Gefahr für meinen Sohn bestand nicht, und dass er da durch musste, das leuchtete mir ein. Zumindest einmal hat mir eine Erzieherin angedeutet, dass die Eingewöhnungsphasen wirklich angenehmer seien mit Männern. Denn: Die Mütter würden manchmal nicht gehen oder sofort zurückkommen, wenn das Kind heulte. Und dann sagen sie zum Kind, wenn sie es eine Stunde lang ausgehalten haben: »Ohhh … ich habe dich sooooooooo vermisst!!!« Meine Kinder waren bedingt durch unsere Ortswechsel in insgesamt vier Kindertagesstätten. Beide in drei verschiedenen. Ich übernahm zweimal die insgesamt vierwöchigen Eingewöhnungsphasen, als unsere Kinder jeweils knapp 15 Monate alt und damit im Windelalter waren. (Die späteren Eingewöhnungsphasen waren deutlich kürzer.) Es gab nirgendwo auch nur ein einziges Problem. Anschließend blieb ich durchgehend der Ansprechpartner der Erzieherinnen. Bezeichnend ist, dass die Erzieherinnen in der Metropole Berlin von Beginn an extrem offen waren, in Wuppertal später aber größte Verwunderung herrschte, als ich zum Muttertag kam und mich von meiner Tochter, die auch niemand anders erwartet hatte, bewirten ließ – meine Frau war zu dem Zeitpunkt – wie so oft im Frühjahr – auf Dienstreise. Aber abgesehen davon, dass die Wuppertaler Erzieherinnen meine Dauerpräsenz und die Abwesenheit meiner Frau verblüfften, war die Zusammenarbeit zwischen ihnen und mir als Vater durchweg ganz vorzüglich.

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Gemeinsam mit einer befreundeten Lehrerin war ich schließlich bei der Verteidigung der Dissertation meiner Frau dabei. Das war eine irrwitzige Veranstaltung, weil wir nichts verstanden, wenn sie von »der Phosphorylierung von Rezeptor-Tyrosinphosphatasen« sprach oder begründete, warum »dieser Proliferationsassay verwendet wurde« oder »die stabile siRNA Transfektion die Expression veränderte« und wir uns daher in einer Tour verwirrte Blicke zuwarfen. Meine Frau hatte es also geschafft, unsere Entscheidung für den Rollentausch war allerdings noch immer nicht endgültig gefallen. Das zeigte sich unter anderem daran, dass ich ihrem Wunsch, eine Postdoc-Stelle in Irland anzunehmen, nichts abgewinnen konnte. Nicht nur das: Ich wehrte mich dagegen. Es war ein hässliches Gespräch, in dem mein unsachlichstes Argument lautete: »Ich habe keine Lust, schon wieder umzuziehen.« Ihr unsachlichstes Argument lautete wiederum: »Dann werde ich halt Sekretärin!« Ich habe verdrängt, wie lange wir uns zankten. Ich weiß nicht mal mehr, ob es nur einen kurzen, aber heftigen Streit gab oder ob sich der Streit tagelang in die Länge zog. Ich weiß nur, dass ich es mir später immer wieder vorgeworfen habe, das Abenteuer Irland nicht gewagt zu haben. Es war das einzige Mal, dass ich mich gegen ihre Karriere entschieden habe. Nicht, weil ich mich für meine Karriere entscheiden wollte, die damals nicht in Sicht war. Sondern aus Trägheit. Und in solchen Dingen war ich eigentlich nie träge, weshalb ich bis heute keinerlei Verständnis für mein damaliges Verhalten aufbringen kann. Dennoch nahm der Rollentausch Konturen an. Sie begann in Hannover als Postdoc zu arbeiten. Vier Tage saß sie in Hamburg im Homeoffice, einen Tag fuhr sie nach Hannover. Die Stelle war befristet, und es war ausgeschlossen, dass sie verlängert werden könnte. Dennoch hatte meine Frau sofort zugeschlagen. Und das hatte sich gelohnt! Denn später waren es genau diese Erfahrungen, die ihre jetzigen Arbeitgeber besonders überzeugten. Sie verdiente wie eine angestellte Lehrerin, und ich übernahm eine Krankenvertretung mit nur sieben Stunden und fand tatsächlich eine Literaturagentur, die sich von meinem Roman über den Amok laufenden Lehrer begeistern ließ. Vielleicht zweifelte ich auch deshalb noch an meiner Rolle. Wieder glaubte ich an den bevorstehen-

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den Durchbruch – nun hatte ich ja eine Agentur!20 Auch (aber nicht nur) deshalb heirateten wir: Ich nahm ihren Namen an, was natürlich zum Rollentausch passt. Der Grund war aber letztendlich ein anderer: Mir schwebte ein Autorenleben unter meinem Geburtsnamen und ein ziviles Leben unter meinem neuen Namen vor. (Als ich Autor war, war ich dann aber vom ersten Buch an immer nur Arne Ulbricht.) Wir feierten zu dritt – nur unser Sohn war dabei. Nahmen uns einen Tag frei, aßen abends bei unserem Lieblingsgriechen direkt gegenüber und informierten anschließend unsere Eltern, die es mit mehr oder weniger Fassung trugen. Diese »Hochzeit zu dritt« war wie ein Vorgriff auf das, was wir schon bald zu dritt meistern sollten. Aber zunächst ging unser Hamburger Leben weiter, und wenig deutete darauf hin, dass es sich schon bald grundsätzlich ändern sollte. Ich schrieb besessen wie immer am Roman über das Jahr 1932 und verbrachte viele Stunden in Berlin und Hamburg, wo ich in Archiven vor allem SA-Akten sichtete. Ich gab Unmengen für Literatur aus und reiste im Sommer 2006 sogar nach Israel, weil der Roman in Israel enden sollte. Das war sozusagen eine Dienstreise. Eine Dienstreise, die ich aus eigener Tasche bezahlte. Meine Frau war allein mit unserem Sohn eine Woche zu Hause, weil ich unterwegs war. Bis zur Leipziger Buchmesse im Jahr 2012 war das meine erste und zugleich letzte »Dienstreise«, während die Dienstreisenzeit meiner Frau noch vor ihr lag. Wir dümpelten ein ganzes Jahr vor uns hin. Sie arbeitete im Anschluss an ihre Tätigkeit in Hannover befristet erst auf einer halben, dann auf einer vollen Stelle an der Klinik, an der sie promoviert hatte, und verdiente auch dort wie eine angestellte Lehrerin auf einer halben beziehungsweise vollen Stelle. Ich übernahm eine weitere Vertretung und begann gleichzeitig festangestellt wenige Stunden an einem Abendgymnasium zu unterrichten. (Das war bereits die vierte Schule, an der ich nach meinem Referendariat arbeitete.) Während es meiner Frau nichts ausmachte, voll zu arbeiten und sie sich mit 20 Eine gute Literaturagentur bietet die Bücher eines Autors an und bekommt im Regelfall 15 % Provision von allen Einkünften. Das heißt: Eine gute Literaturagentur lebt davon, dass sie Autoren erfolgreich vermittelt. In diesem Sinne hatte ich eine gute Agentur.

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Neugierde und Begeisterung auf die jeweils neue Stelle stürzte, war mir allein die Vorstellung, eine volle Stelle an einer Schule zu übernehmen, inzwischen ein Graus. Dazu hing ich zu sehr an meinen Büchern und … an meinem Sohn, um den ich mich gern kümmerte. Und ich kümmerte mich viel um ihn. So viel, dass ich erste klassische Vatererfahrungen machte. Beispiele: Wenn ich sonntags unterwegs war, hörte ich immer wieder den Spruch: »Sonntag gehört Papi mir!« Oft von älteren Männern. Es war auch ein älterer Mann, der fand, dass ich meinen Sohn viel zu dick angezogen hätte, weshalb er schwitzen und sich erkälten würde, während eine ältere Frau an einem anderen Tag der Meinung war, dass ich meinen Sohn zu dünn angezogen hätte, weshalb er frieren und sich erkälten würde. Eine ältere Dame wies mich darauf hin, dass es gefährlich sei, den Sohn im Bus Salzstangen essen zu lassen – schließlich könnte ihm die Salzstange ins Auge stechen, sollte der Bus bremsen. In der Turngruppe war ich der einzige Mann und war ein bisschen genervt, sobald die Leiterin ihre Sätze stets mit »Die Muttis …« begann. Und eine Mutter, mit der ich mich oft unterhielt, betonte, dass das doch nett sein müsse, dass ich mit meinem Sohn zum Turnen gehen könne. Leider weiß ich nicht, ob ich die Gegenfrage stellte oder sie nur »dachte«: Ist doch bestimmt auch für dich schön, mit deinem Sohn zum Turnen gehen zu können! An der Supermarktkasse benahm sich mein Sohn daneben, ich schnauzte ihn an und zog ihn, weil er nicht kam, kurz am Arm. Ein älterer Mann sprach mich daraufhin an und fragte, was ich denn tun werde, wenn mein Sohn größer sei. Ob ich ihn dann schlagen werde. Und ich dachte (und sagte es leider definitiv nicht): Im Gegensatz zu Ihrer Generation kümmere ich mich wenigstens um mein Kind. Wickeltische gab es oft nur in den Damen-WCs (ist heute nicht mehr so, aber heute brauche ich sie nicht mehr), und dort habe ich dann meinen Sohn auch gewickelt. Im Großen und Ganzen hat man mich in der Hamburger Zeit entweder kritisiert und mir damit mehr oder weniger unterschwellig zu verstehen gegeben, dass Frauen »das« besser können. Oder man hat mich zum Alltagshelden erkoren. Beides ist Schwachsinn. Frauen können »das« nicht besser, und Männer, die »das« machen, waren auch damals keine Alltagshelden. Sie

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fielen nur auf. Erstaunlich ist daran, dass meine Hardcore-Vaterzeit ja erst noch bevorstand. Zu der Zeit war ich lediglich ein Papa, der sich viel um das Kind kümmerte. Übrigens gibt es neben der Eingewöhnungsphase eine Sache, die Väter ebenfalls (oft?) besser können: Sie sind beim Arzt viel ruhiger. Das war mein Eindruck, und das sah auch meine Frau so, die einmal fast in Ohnmacht gefallen wäre, als mein Sohn eine Narkose bekommen musste und anschließend vollkommen benommen war. Ein anderes Mal legte sie sich mit einem HNO-Arzt auf eine Art und Weise an, dass er mir heute noch leid tut. Ich selbst finde es natürlich blöd, wenn meine Kinder krank sind, aber im Großen und Ganzen gehe ich mit den Kindern gern zum Arzt. Deshalb habe ich mich auch jahrelang geschämt, meine Frau damals im Krankenhaus so allein gelassen zu haben. Ich beobachte die anderen Eltern (= Mütter) und Kinder gern im Wartezimmer, ich bin mir in der Regel schnell mit den Ärzten einig und verstehe mich fast immer gut mit ihnen. Auch mit der Wuppertaler Kinderärztin verstehe ich mich glänzend. Neulich sagte ich zu ihr, dass es ja eigentlich schade sei, dass die Kinder so selten krank seien, weshalb ich so selten einen Grund habe, zum Arzt zu gehen. In jener Zeit lebten wir schon den Rollentausch. Und ich begann darin aufzugehen und sah meine Rolle zunehmend als selbstverständlich an. Vor allem weil meine Frau inzwischen mehr arbeitete und mehr verdiente und wir uns, wenn wir uns stritten, eigentlich nie über meinen Umgang mit unserem Sohn und später mit beiden Kindern stritten. Miniexkurs Abgesehen von zwei Ausnahmen. Meine Frau ist vorsichtig. Ich bin es oft nicht. Wenn wir zum Beispiel wandern gehen, kommt es daher durchaus zu Auseinandersetzungen, weil ich die Kinder quasi überall klettern lasse – und sie natürlich auch immer mich fragen, ob sie dürfen. (Genauso wie sie meine Frau fragen, ob sie noch mal kurz ans iPad dürfen.) Ich bin auf dem Fahrrad auch oft ohne Helm unterwegs. Immerhin achte ich bei den Kindern darauf. Allerdings habe ich meine Tochter, als sie zu groß geworden war für den Fahrradkindersitz, oft auf dem Gepäckträger mitfahren lassen. Ich benutzte

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das Fahrrad dann nicht wie ein Fahrrad, sondern wie einen Roller. An einem Tag, den ich nicht vergessen werde und meine Tochter wahrscheinlich auch nicht, geriet auf einer leicht abschüssigen Straße ihr Fuß in die Speichen. Das Fahrrad blieb daraufhin abrupt stehen, ich stürzte nach vorn, rollte mich instinktiv irgendwie ab und bin seitdem besonders dankbar für über ein Jahrzehnt Kampfsport. Ich muss mehrere »Rollen« gemacht haben. Denn ich lag einige Meter vom Fahrrad entfernt auf dem Boden. Ich war leicht mit dem Kopf aufgeschlagen und hatte eine kleine Beule, mehr aber nicht. Meine Tochter lag … unter dem Fahrrad und brüllte. Ich sah viel Blut und einen Fuß, der sich richtig ins Rad gedreht hatte. Mit rasendem Herzen befreite ich sie und meine Angst wich der Erleichterung: Sie hatte ein aufgeschlagenes Knie, das heftig blutete, der Knöchel war leicht geschwollen. Sonst war nichts passiert. Wenn etwas passiert wäre … hätten wir tagelang die Megaehekrise gehabt. Weil meine Frau nie und nimmer erlaubt hätte, dass sich unsere Tochter auf den Gepäckträger setzt. Vor allem dann nicht, wenn man »rollernd« fährt. Ob es dazu eine Statistik gibt, weiß ich nicht: Aber ich gehe davon aus, dass Männer weniger zur Vorsicht neigen als Frauen. Das Problem: Sowohl die Frauen als auch die Männer haben meiner Meinung nach recht. Denn hin und wieder müssen Kinder lernen, Gefahren selbst einzuschätzen. Aber wo liegen die Grenzen? Ich habe die Grenze überschritten. Und dafür, wann man eine Grenze überschreitet, haben Frauen vielleicht ein besseres Gefühl. Wie immer bestätigen Ausnahmen vermutlich die Regel. Ansonsten findet meine Frau, dass ich die Kinder ganz grundsätzlich mehr dazu erziehen könnte, ordentlich(er) zu sein … Aber das hat noch nie zu ernsthaften Auseinandersetzungen geführt. Sondern eher zu verzweifeltem Geseufze. Miniexkurs Ende Hin und wieder sehnte ich mich – wahrscheinlich ist das typisch männlich in einer solchen Konstellation  – nach einer Auszeit und gönnte sie mir auch. Ich sah zu dem Zeitpunkt tief in meinem Inneren wohl doch noch nichts Selbstverständliches an unserer Rollenverteilung, die sich immer mehr in die Richtung entwickelte, die unser Leben irgendwann bestimmen sollte. Ich wollte

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damals »belohnt« werden. Ich wollte, dass sich meine Frau manchmal »bedankte«. Diese Erwartungshaltung habe ich leider erst Jahre später ablegen können. Vielleicht lag diese Erwartungshaltung auch daran, dass mein Vater meiner Mutter manchmal wirklich einfach so einen Blumenstrauß gekauft hatte. Ich hatte als Kind nie verstanden, warum. Als ich es dann endlich verstand, hätte ich mich über einen Blumenstrauß zwar nicht unbedingt gefreut. Aber hin und wieder eine DVD … das hätte ich mir schon gewünscht. (Ganz manchmal habe ich sogar eine bekommen, siehe Kapitel »Dienstreisen meiner Frau«.) Und dann geschahen wieder viele Dinge gleichzeitig: Die Agentur fand keinen Verlag für meinen Lehrerroman. Meine Frau wollte ein zweites Kind. (Mir hätte eins gereicht, was ich heute nicht mehr verstehen kann. Aber so ist es wohl immer, wenn das nächste Kind dann erstmal da ist.) Außerdem bewarb sie sich in Berlin auf ein (hoch dotiertes) Stipendium in einem großen Unternehmen, wurde eingeladen und bekam kurz darauf die Zusage. In dieser Zeit wurde sie allerdings auch schwanger, und natürlich legte sie ihre Schwangerschaft offen. Kein Problem, aber es wäre schön, wenn sie dann nach dem Mutterschutz wieder anfangen könnte zu arbeiten, hieß es. Und ich fand und finde diese Einstellung absolut nachvollziehbar und definitiv nicht frauenfeindlich: Warum sollte ein Unternehmen ein zweijähriges Stipendium an eine promovierte Wissenschaftlerin vergeben, wenn sie ein Jahr davon in Elternzeit geht? Irgendwie war das Gespräch, das wir in diesem Zusammenhang führten, wie der endgültige Beginn unseres Rollentauschs. Bevor es um dieses Gespräch geht und darum, wie sich in den folgenden Monaten unser neues Leben – und es war ein neues Leben – gestaltete, Erhellendes aus dem Bereich der Statistiken und weitere Informationen für all diejenigen, die mehr lesen wollen als einen reinen Erfahrungsbericht.

Zahlen und Fakten. Oder: Warum der Rollentausch das Modell der Gegenwart und Zukunft sein müsste

Vorneweg Wie schon im Vorwort angemerkt: Der Rollentausch selbst bietet meiner Meinung nach eine wunderbare und oft spannende Alternative zum herkömmlichen Modell, in dem der Mann das Geld nach Hause bringt, während die Frau ein wenig dazuverdient und sich vor allem um Kinder und Haushalt kümmert. Sobald die Kinder größer werden, stockt die Frau im herkömmlichen Modell ihre Teilzeit auf, während der Mann weiterhin konsequent Vollzeit arbeitet. Das ist ein Modell, an dem nichts Verwerfliches ist. Gar nichts. Und all diejenigen, die jetzt denken, das meint er (also Arne Ulbricht) doch gar nicht so, könnten einfach versuchen, mir folgenden Absatz einfach zu glauben: Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der der Vater gearbeitet hat und die Mutter zu Hause geblieben ist, und ich fand es gut so. Meine Frau ist in einer Familie aufgewachsen, in der der Mann immer Vollzeit gearbeitet hat, während die Frau in Teilzeit beschäftigt war und sich um die Kinder gekümmert hat, und sie fand es gut so. In meinem Wuppertaler Freundeskreis, der inzwischen aus einer Handvoll Männern besteht, arbeiten diese in Vollzeit und ihre Frauen in zwei Partnerschaften in Teilzeit; das andere Modell ist das Vollzeit-Vollzeit-Modell. Ein radikaler Rollentausch war zu keinem Zeitpunkt in einer der Familien ein Thema, und nie sind wir – meine Freunde und ich – auf die Idee gekommen, uns über das Thema zu streiten. Ich habe nie versucht zu missionieren und die anderen umgekehrt auch nicht. Im Großen und Ganzen bin ich allerdings der Meinung, dass sich viel mehr Paare für dieses Modell entscheiden sollten. Nicht nur, weil es spannend ist, gegen den Strom zu schwimmen, sondern weil es die Gesellschaft bunter macht, wenn es auf Partys auch mal eine Männerrunde gibt, in der man über Frauen meckern kann, die nie

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Zahlen und Fakten

zufrieden damit sind, wie Mann den Haushalt macht. Und in einer anderen Ecke stehen dann ein paar seufzende Frauen, die einen Jetlag von der letzten Dienstreise haben und über ihre Männer schimpfen, weil sie beim letzten Supermarkteinkauf mal wieder die Hälfte vergessen haben und es auch noch witzig fanden. Ich erwähnte es bereits im Vorwort, aber doppelt hält bekanntlich besser: Der Rollentausch bietet sich immer dann an, wenn die Frau genauso viel verdienen könnte wie der Mann. Und das ist oft so, weil sich viele Paare in der Ausbildung kennenlernen. Wenn die Frau bereits Meisterin ist und er der Azubi, dann wäre auch das eine perfekte Ausgangslage für einen langfristigen Rollentausch. Oft lernen sich spätere Paare während des Studiums (und selten während der Schulzeit) kennen. Und oft wird schon in dieser Zeit die Basis für einen Rollentausch gelegt. Genauer: Oft könnte in dieser Zeit die Basis für einen späteren Rollentausch gelegt werden. Denn sobald eine Frau ein deutlich besseres Abitur abgelegt oder einen besseren Studienabschluss hat und sich dadurch bessere Ausgangsmöglichkeiten erkämpft hat, sollte das Rollentauschmodell erste Wahl sein. Sowohl Schule als auch Studium zeigen, ja beweisen geradezu, warum es den Rollentausch eigentlich viel häufiger geben müsste.

Abiturientinnen und Abiturienten21 Abi 1992: In meinem Jahrgang gab es eine paar mehr Jungs als Mädchen, die Abitur gemacht haben. Das beste Abitur (1,3) legte ein Junge ab. Das zweitbeste (1,7) ein Mädchen und ein Junge. Abi 1993: Im Jahrgang meiner Frau waren es 39 Mädchen und 30 Jungs, die bestanden haben. Der Preis für das beste Abitur (1,0) ging an ein Mädchen. Auch der Preis für das zweitbeste Abitur (1,1) ging an ein Mädchen. Schon vor einem Vierteljahrhundert war es für Schüler und Studenten also vollkommen normal, dass Mädchen in irgendeinem Kurs saßen und besser waren als man selbst. (Und das wäre vor 21 Wenn ich keine anderen Quellen nenne, beziehe ich meine Zahlen und Informationen vom Statistischen Bundesamt.

Studentinnen und Studenten55

Jahrhunderten nicht anders gewesen, hätte man die Frauen gelassen.) Nie wäre ich damals auf die Idee gekommen, Mädchen könnten weniger leisten oder wären auch nur entfernt »dümmer« als Männer. Frauen sind nicht nur punktuell genauso schlau oder schlauer22 als Männer, sie scheinen auch in der Masse klüger zu sein: Schon 1992 haben mehr Schülerinnen als Schüler das Abitur abgelegt (97.545/88.613). Im Jahr 201523 waren es 30.000 mehr (Gesamt: 342.284/Männer: 156.363 Frauen 185.921)! Also noch mal zum Merken: Deutlich mehr Mädchen als Jungen erwerben die Hochschul­ zugangsberechtigung und damit den höchsten in Deutschland zu erwerbenden Schulabschluss.24 Damit ist eigentlich schon seit einer gefühlten Ewigkeit der Grundstein gelegt für einen späteren Rollentausch. Da der Rollentausch aber noch immer extrem selten ist, könnte man denken, dass die Mädchen nach dem Abitur keine Lust haben zu studieren. So ist es natürlich nicht.

Studentinnen und Studenten Als wir – meine Frau zunächst in Heidelberg und ich in Kiel – Anfang der Neunzigerjahre anfingen zu studieren, studierten mehr Männer als Frauen, aber dass dies so war, merkte man nur in bestimmten Studiengängen. In vielen Studiengängen dominierten Studentinnen sowohl zahlen- als auch leistungsmäßig. (In Französisch saß ich wie 22 Es geht um »schulische Schlauheit«. Das hat nicht unbedingt etwas mit einer gewissen Gewitztheit und Raffinesse zu tun, mit der man entspannt den Alltag oder das ganze Leben zu meistern in der Lage ist. 23 Die konkreten Zahlen für 2016 lagen noch nicht vor, als dieses Buch in Druck ging. 24 An dieser Stelle stand ursprünglich: »Der Grund ist klar: Mädchen lesen mehr!« Meine Frau dazu: »Da machst du es dir zu einfach. Da springen alle Psychologen und Soziologen im Dreieck.« Na gut. Aber dass es ein Grund ist … das glaube ich schon.

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Zahlen und Fakten

zuvor im Französisch-Leistungskurs manchmal als einer von wenigen Männern in einer Veranstaltung. In Geschichte war es umgekehrt. In Geisteswissenschaften saßen aber fast überall mehr Frauen, in den Naturwissenschaften mehr Männer.) Im Jahr 1993 waren zum Beispiel eingeschrieben: Fach

deutsche25 Studenten

deutsche Studentinnen

Germanistik

18.812

50.002

4.565

10.978

BWL

83.756

45.722

VWL

16.037

6.777

Wirtschaftsingenieurwesen

22.453

3.385

Informatik

41.189

5.510

Pharmazie

3.352

8.492

45.180

38.652

7.975

5.724

Bauingenieurwesen

38.686

8.762

Rechtswissenschaften

55.952

41.098

Mathe

23.826

16.460

Physik

33.422

3.987

Geschichte

13.472

9.523

Französisch

1.359

6.622

Biochemie

1.128

698

Sozialpädagogik

Medizin Zahnmedizin

Natürlich kann man sich über meine Auswahl streiten. Französisch, Geschichte und Biochemie habe ich aufgeführt, weil wir das studiert haben. Fest steht: Es studierten im Jahr 1993 zwar viele Frauen auch in »Karrierestudiengängen«, aber insgesamt mehr Männer. In einigen sogar deutlich mehr. Im Jahr 2001 habe ich mein Studium abgeschlossen. Ich war einer von fast zweihunderttausend: von 104.670 Männern und 89.650 Frauen. 25 Das ist jetzt nicht diskriminierend gemeint. Aber es geht um die Situation in Deutschland. Deshalb war es für mich nicht relevant, wie viele Austauschstudenten die jeweiligen Fächer studiert haben.

Studentinnen und Studenten57

Meine Frau hat ihre Ausbildung 2005 mit ihrer Promotion beendet. In diesem Jahr waren unter den 25.952 Promovierten 10.272 Frauen. Diese Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Es müsste das Rollentauschmodell viel häufiger geben! Die bittere, irgendwie auch traurige Wahrheit ist: Viele der Studentinnen haben eine berufliche Laufbahn nicht forciert und stattdessen ihren Männern den Vortritt gelassen. Mehr oder weniger freiwillig. In anderen Berufsgruppen gilt vermutlich dasselbe. Wenn eine Polizistin einen Polizisten heiratet, wird wohl eher er irgendwann Polizeichef und nicht sie. Das ist ja auch kein Problem. Es ist nur ein Problem, das es fast immer so ist. Zurück zu den Studentinnen und Studenten. Wie könnte die Zukunft aussehen? Die Zukunft, die morgen beginnt? Schauen wir uns die Situation von heute doch einfach mal an: Es beginnen noch immer weniger Frauen als Männer ein Studium. Mit »weniger« ist für das Wintersemester 2015/2016 gemeint: Es haben 174.809 Männer und 172.663 Frauen ein Studium begonnen und werden es vermutlich in den Jahren 2020 bis 2022 abschließen. Der Trend ist unübersehbar: Bald werden mehr Frauen ein Studium beginnen als Männer. 2015 haben bereits mehr Frauen als Männer einen Universitätsabschluss geschafft: Den 216.616 erfolgreichen Männern stehen 218.538 erfolgreiche Frauen gegenüber. Bei den Promotionen sind die Frauen mitten in ihrer Aufholjagd (13.052 von 29.218 im Jahr 2015). Und wie sieht die Gesamtsituation der Studentinnen und Studenten im Vergleich zum Jahr 1993 aus? Haben sich in Hinblick auf gewisse Fächer die (absoluten) Studentenzahlen geändert? Oder ist es im Großen und Ganzen beim Alten geblieben? Hier die Tabelle für das Jahr 2015 analog zu meiner Auswahl für das Jahr 1993: Fach Germanistik Sozialpädagogik BWL

deutsche Studenten 15.667

deutsche Studentinnen 51.453

1.341

6.080

110.577

99.995

VWL

13.780

6.231

Wirtschaftsingenieurwesen

46.224

11.393

Informatik

72.664

13.601

Pharmazie

4.080

9.388

58 Fach Medizin

Zahlen und Fakten

deutsche Studenten 30.329

deutsche Studentinnen 48.568

4.437

8.496

33.030

13.065

Rechtswissenschaften

46.695

55.185

Mathe

28.587

25.697

Physik

31.520

11.318

Geschichte

18.541

13.879

Französisch

1.094

5.225

Biochemie

3.130

3.962

Zahnmedizin Bauingenieurwesen

Ups. Oder besser: Wow! Die Frauen sind in einigen Studienfächern vorbeigezogen und haben die Männer zum Teil weit hinter sich gelassen. Ich hoffe, dass die vielen tausend Hochschulabsolventinnen selbstbewusst genug sein und zu ihren Männern sagen werden: »Ich will Kinder haben … aber könntest du zu Hause bleiben?« Es wäre so wünschenswert, wenn die Frauen, die die nötige Power haben, sich irgendwann durchsetzen. Dafür werden sie viel Mut und fast schon revolutionäre Kraft und die richtigen Männer brauchen. Damit meine ich nicht: einen so richtigen Mann wie mich! Bei uns lag der Rollentausch einfach zu nah, weil meine Frau in ihrem Beruf mit höheren Verdienstmöglichkeiten unbedingt arbeiten wollte, während ich von einer Künstlerkarriere träumte. Ich habe keine Ahnung, wie es wäre, wenn wir ähnliche Abschlüsse gehabt und ähnliche berufliche Ziele verfolgt hätten. Denn noch sieht es düster aus: Die meisten Akademikerinnen bekommen nach dem Studium bzw. nach der Promotion ihr erstes Kind. Wer es nicht glaubt, sollte sich mal im eigenen Umfeld umschauen. Die Devise: Erst die Ausbildung, dann der feste (!) Job, dann die Kinder, scheint für so eine Art Naturgesetz gehalten zu werden. Das bestätigt auch der »Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs 2017«, in dem laut Süddeutscher Zeitung (vom 17. Februar 2017) festgestellt worden ist, dass vor allem befristete Verträge an Universitäten viele Frauen in die Kinderlosigkeit treiben würden. Da fragt man sich dann doch verblüfft: Möchte man Kinder nicht deshalb haben, weil man Lust auf Kinder hat? Dieses

Studentinnen und Studenten59

extreme Sicherheitsdenken und der damit einhergehende Mangel an Abenteuerlust sind bestürzend. Als unser erstes Kind geboren wurde, war ich im Referendariat und meine Frau steckte in der Promotion fest. Als das zweite Kind geboren wurde, hatte ich ein Neunstundendeputat an einer Abendschule und meine Frau ein befristetes Stipendium. Übrigens hat man auch an der Schule den Eindruck, dass gefühlt jede junge weibliche Lehrkraft schwanger wird, sobald sie die Probezeit hinter sich hat. Dieser Automatismus beziehungsweise dieser Mangel an Flexibilität, der sich aus der Gleichung »Juhu, ich habe einen festen Job = ich bekomme jetzt ein Kind = ich bleibe dann zu Hause = ich lasse meinen Mann arbeiten« ergibt, ist vor allem für viele Frauen ein Problem: Denn dadurch werden sie gerade am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn behindert: Und zwar nicht durch das Kind. Und auch nicht durch das zweite (und dritte und vierte …) Kind. Nein, die Kinder sind wirklich nicht das Problem. Das Gegenteil ist der Fall: Sie erinnern einen in anstrengenden Zeiten oft auf die liebevollste Art daran, wie unwichtig berufliche Sorgen oder Alltagsproblemchen sein können. Das erste Problem sind 99 % aller Männer, die nicht verzichten wollen oder können und sich in Talkshows einladen lassen, sobald sie während ihrer zweimonatigen Elternzeit dem Kind einmal die Windeln gewechselt haben. Meine Frau kann ein Lied davon singen: Wie oft lernt sie Frauen kennen, die sie gern wegen ihrer hervorragenden Ausbildung einstellen möchte, die aber ein langes »Loch« im Lebenslauf haben, weil sie nach der Geburt ausgestiegen und ihrem Mann den Vortritt gelassen haben. Eine große Chance, den Rollentausch als gleichberechtigtes Modell neben allen anderen Modellen durchzusetzen, bot das im Jahr 2007 auf Initiative der damaligen Familienministerin26 Ursula von der Leyen (CDU) eingeführte Elterngeld. Allerdings hatte die Einführung des Elterngeldes von Beginn an einen Schönheitsfehler.

26 Genauer: Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

60

Zahlen und Fakten

Das Elterngeld Elternzeit und Elterngeld verwechsele ich auch oft, deshalb hier noch einmal die Unterschiede: »Elternzeit bezeichnet den Zeitraum unbezahlter Freistellung von der Arbeit nach der Geburt eines Kindes. Der Anspruch auf Elternzeit besteht bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes. Bis zu 12 Monate der Elternzeit können auch noch auf den Zeitraum zwischen dem 3. und dem 8. Geburtstag des Kindes übertragen werden. Die Elternzeit kann zwischen den Elternteilen aufgesplittet oder nur von einem Elternteil in Anspruch genommen werden.«27 Wer sich wie viel um die Kinder kümmert, ist keine Überraschung:28 Anteil der Eltern in Elternzeit an allen erwerbstätigen Eltern 2015 in % Eltern mit Kind

Insgesamt

Männer

Frauen

jüngstes Kind unter 3 Jahren

20,6

2,5

41,6

jüngstes Kind unter 6 Jahren

12,3

1,5

24,128

Das Elterngeld hingegen ist eine besondere Form des finanziellen Anreizes, um sich trotz Berufstätigkeit für Kinder zu entscheiden. Man bezieht 67 % des Gehalts für zwölf Monate beziehungsweise insgesamt 14 Monate, wenn beide Elternteile nach Geburt des Kindes in Elternzeit gehen. Eigentlich eine gute Idee! Offiziell wird die Leistung auf der Seite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wie folgt beschrieben: »Mit dem Elterngeld unterstützt der Staat Väter und Mütter und ihre jungen Familien, indem wegfallendes Erwerbseinkommen 27 Vgl. für dieses Zitat und die folgenden Zitate und Angaben: http://www.eltern. de/familie-urlaub/beruf/zwei-monate-jobpause-f%C3 %BCr-v%C3 %A4 ter. Wer sich genauer interessiert, der findet unter diesem Link die komplette Gesetzgebung: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/beeg/gesamt.pdf 28 Vgl.: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetArbeit/ Dimension3/3_9_Elternzeit.html

Das Elterngeld61

ersetzt wird. Anspruch darauf haben Eltern, die ihr Kind nach der Geburt vorrangig selbst betreuen wollen und deshalb nicht oder nicht voll erwerbstätig sind.«29   Erläutert wird auch, wann ein Paar nicht nur Anspruch auf zwölf, sondern auf 14 Monate hat: »Eltern können ab der Geburt eines Kindes bis zu 14 Monate Basiselterngeld oder darüber hinaus ElterngeldPlus erhalten. Das Elterngeld wird für Lebensmonate des Kindes gezahlt. Die Eltern können sich untereinander aufteilen, wer wie lange zu Hause bleiben möchte. Das Elterngeld in seiner bisherigen Form, nun Basiselterngeld, kann bis zu 14 Monate bezogen werden. Ein Elternteil allein kann die Leistung für mindestens zwei und für höchstens zwölf Monate beziehen.« Das ist eindeutig. Dennoch gab es ein skurriles Problem bei der Einführung des Elterngeldes, und dieses Problem besteht weiterhin. Von Beginn an geisterte das (Un-)Wort »Vätermonate« durch die Medien. Fast schon gebetsmühlenartig wurde bei jeder erdenklichen Gelegenheit betont, dass, wenn »auch die Väter zwei Monate in Elternzeit« gingen, man das Elterngeld insgesamt 14 Monate beziehen dürfe. Wenn man die Begriffe (Elterngeld, Elternzeit) in eine Suchmaschine eingibt,30 kommt man schnell auf einen Beitrag der Zeitschrift Eltern, dessen Tenor leider keine Ausnahme, sondern die Regel darstellt. Dort heißt es doch tatsächlich: »Neben dem Elterngeld sind sie die zweite Neuerung der Familienpolitik: Vätermonate. Junge Papas können sich nun zwei Monate ganz auf die Erziehung ihres Kindes konzentrieren und der Arbeit vorübergehend den Rücken kehren.« Und: 29 http://www.familien-wegweiser.de/wegweiser/Familie-regional/Elterngeld/ elterngeld,did=75670.html 30 Zum Beispiel in die Suchmaschine duckduckgo.com

62

Zahlen und Fakten

»Zwei Monate länger zahlt der Staat jungen Familien Elterngeld, wenn der Mann seine Vätermonate in Anspruch nimmt, also mindestens zwei Monate lang die Kinderbetreuung übernimmt.«31 Und das ist – siehe oben: falsch! Schlicht und ergreifend: falsch! Falsch!! FALSCH!!! Aber genau so wurde vor und während der Einführung des Elterngeldes überall berichtet. Immer wieder: »Die Vätermonate!« Oft mit dem Zusatz: »Die zwei Vätermonate!« Seltsamerweise ist mir weder damals noch bei Recherchen zu diesem Buch der Begriff »Müttermonate« begegnet. Hängt das damit zusammen, dass sowieso klar ist, dass die Mütter zwölf Monate Elterngeld beziehen? Dass es sowieso klar ist, dass die Mütter keinen Ehrgeiz verspüren, diese Zeit zu nutzen, um zu arbeiten und ihren Männern große Verantwortung zu übertragen – und zwar die Verantwortung für das Baby und den Haushalt? Ich glaube auch heute noch, dass die Verantwortlichen selbst zu keinem Zeitpunkt gemerkt haben, was für eine Chance sie damals eigentlich verpasst haben. Denn es wäre ein Leichtes gewesen, durch das Elterngeld den Vätern den Rollentausch schmackhaft zu machen. Anstatt die »zwei Vätermonate« fast schon pathetisch anzupreisen, hätte man eher folgenden Slogan verbreiten sollen: »Endlich ist es für Väter reizvoll, beruflich ein ganzes Jahr auszusteigen und sich um das Kind zu kümmern. Denn vor allem für Männer ist ein solcher Schritt ein wunderbares Abenteuer!« Das waren die zwei Monate dann übrigens auch! Ein Abenteuer! Die Medien haben die Väter zu Alltagshelden verklärt und über Väter, die sich zwei Monate gemeinsam mit der Frau – man kann die Monate gleichzeitig nehmen – um ein Baby gekümmert haben, berichtet. Oder über Väter, die – das war in jener Zeit der größte Witz – nur noch 30 Stunden gearbeitet haben und deren Aufgabe darin bestand, das Kind zur Kita zu bringen. Und dann die Windelwechselabenteuergeschichten. 31 http://www.eltern.de/familie-urlaub/beruf/zwei-monate-jobpause-f%C3 % BCr-v%C3 %A4 ter

Das Elterngeld63

Es ist übrigens noch immer so, dass Männer wenn, dann zwei Monate Elternzeit nehmen. Die Zweimonateväter sind mehr geworden. Auch deshalb gibt es Grund zu Hoffnung: Je normaler es wird, dass die Väter diese Monate tatsächlich nehmen, desto häufiger wird man vermutlich auch erleben, dass sich Väter in diesen zwei Monaten wirklich um das Kind kümmern. So mit allem Drum und Dran, während die Frau zur Arbeit geht. Und der nächste Schritt wären dann sieben Vätermonate. Also das Modell Halbe-Halbe. Und dann wäre es nur noch ein kleiner Schritt hin zum Rollentausch. Übrigens ist es mit den zwei Vätermonaten wie mit allem anderem auch. Es ist nichts, aber auch gar nichts grundsätzlich an diesen zwei Vätermonaten zu kritisieren. Dass lange Zeit so getan wurde und man auch heute noch den Eindruck hat, als gäbe es nur diese Möglichkeit, ist aber ein emanzipatorisches Armutszeugnis. Letztendlich ist das Elterngeldgesetz dadurch zu einem Rollentauschverhinderungsgesetz geworden. Und die Gesellschaft hat mal wieder ihren Anteil daran. Männer werden gefragt: »Gehst du auch ein paar Monate in Elternzeit?« Oder: »Nimmst du die zwei Monate?« Gleichzeitig käme niemand auf die Idee, zu Frauen zu sagen: »Super, dann kann dein Mann ja ein Jahr zu Hause bleiben, und du kannst schauen, ob du schon in diesem Jahr eine Teamleitung übernehmen kannst!« Das Elterngeld ist übrigens pünktlich zum Berufsstart meiner Frau in Berlin eingeführt worden. Ich war einer der Elternzeitpioniere und rief zunächst tatsächlich in der Behörde an und fragte, ob ich – der Vater – denn auch die zwölf Monate in Anspruch nehmen dürfe, weil mich das Gerede von den Vätermonaten so sehr verwirrt hatte. Ich durfte!

Von Hamburg nach Berlin

Alleinerziehend Als meine Frau das Angebot aus Berlin bekam, zögerte ich nicht: »Na klar komme ich mit nach Berlin! Und ich werde mich um die Kinder kümmern.« Vielleicht dachte ich daran, dass sie sich andernfalls entscheiden könnte, irgendwann zurück nach Tübingen oder Heidelberg zu gehen. Dahin wollte ich nicht. Vielleicht dachte ich auch an meine Weigerung, mich mit ihr auf das Abenteuer Irland eingelassen zu haben, und wollte etwas »gutmachen«. Vielleicht war mir in den zurückliegenden Jahren aber auch einfach bewusst geworden, dass ich von einer 30 %-Stelle an einer Privatschule und Lehraufträgen und vom Schreiben der Bücher über Jahre hinaus nicht viel Zählbares zum Familieneinkommen würde beitragen können. Und ja … vielleicht wollte ich vor allem weiter schreiben, und insofern passte mir der sich anbahnende endgültige Rollentausch. Dann ging alles ganz schnell. Meine Frau kündigte die befristete Stelle in Hamburg. Ich informierte meine Schule, dass ich nur noch das Schuljahr zu Ende unterrichten und anschließend in Elternzeit gehen würde und blieb mit meinem Sohn in Hamburg wohnen, während meine Frau aufbrach, sich eine kleine Wohnung suchte und in Berlin Anfang 2007 zu arbeiten und eine größere Wohnung für eine bald vierköpfige Familie zu suchen begann, während ich den Abschied von Hamburg organisierte. Wir erklärten alles unserem dreijährigen Sohn, und ich erinnere mich nicht an ein einziges Anzeichen von Besorgnis, Angst oder Panik darüber, jetzt erstmal mit Papa allein leben zu müssen. Und ich erinnere mich auch nicht an ein einziges Anzeichen von Besorgnis, Angst oder Panik in den Augen meiner Frau, als sie aufbrach. Und ich selbst? Ich muss zugeben, dass ich mich daran nicht wirklich erinnere. Panik und Angst verspürte ich jedenfalls nicht, aber wenn

66

Von Hamburg nach Berlin

man als Vater Panik und Angst davor hat, mit seinem dreijährigen Sohn ein paar Monate allein zu bleiben, dann muss in den Jahren zuvor auch etwas schiefgelaufen sein oder man hat einen 50-Stunden-Job und dadurch wirklich Probleme, den Alltag zu managen. Dass ich besorgt war, mag gut sein. Wenn es so gewesen sein sollte, hat mich mein Sohn davon aber schnell kuriert, weil er nicht rumjaulte oder abends am Telefon weinte, wenn er mit seiner Mama telefonierte. Im Großen und Ganzen hatte ich natürlich auch viel Glück: Mein Sohn war und blieb gesund! Ich selbst war und blieb ebenfalls gesund. Ich brachte ihn also zur Kita – auf das Personal konnte ich mich zu 100 % verlassen, auch das passte. Tagsüber arbeitete ich an meinen Büchern und nachmittags holte ich ihn ab, ging einkaufen und auf Spielplätze, und abends aßen wir Nudeln mit Erbsen, dann las ich ihm vor und legte mich noch neben ihn, bis er eingeschlafen war. Ein weiteres Glück war: Zweimal pro Woche musste abends unsere sehr zuverlässige Babysitterin kommen, weil ich nun mal an einer Abendschule unterrichtete. Klappte immer! Und wenn sie mal krank gewesen wäre, hätte meine Schule gewiss keine Einwände dagegen gehabt, dass ich meinen Sohn einfach mitgenommen hätte. Klingt fast schon zu schön und einfach, oder? Ja, dafür kann ich aber nichts. Man kann auch Pech haben: Im ersten KitaJahr war mein Sohn oft krank gewesen, und ich hatte mich ständig angesteckt. Wenn ich in diesem Jahr zwei Monate mit ihm allein gewesen wäre und ständig zum Arzt hätte laufen müssen und nachts von einem schreienden Kind aufgeweckt worden wäre, hätte ich vielleicht anschließend keine Lust mehr auf einen Rollentausch gehabt. Aber so war es nicht. In dieser Zeit begann ich einen Umstand an einem Leben als Werktags-Alleinerziehender zu schätzen: Dass ich nicht abends aufräumen musste, empfand ich als recht angenehm! Ich tat immer nur das, was ich tun musste: Müll rausbringen, Wäsche waschen und aufhängen, Geschirr spülen. Bevor meine Frau kam, räumte ich auf. Das war manchmal einige Wochen lang nicht der Fall, weil wir – mein Sohn und ich – am Wochenende meistens zu ihr nach Berlin fuhren. Das führte dazu, dass unser Sohn mit knapp dreieinhalb Jahren schon häufiger ICE gefahren war als andere Men-

Alleinerziehend67

schen in ihrem ganzen Leben. Klassische Bahnkatastrophen inklusive: Einmal fiel ein Zugteil aus. Der andere Teil war entsprechend überfüllt. Ich saß auf einem Koffer, mein Sohn in der Gepäckablage. (Nicht oberhalb der Sitze. In den älteren ICEs gab es in einem Teil des Waggons eine Möglichkeit, sein Gepäck zu stapeln – dort saßen wir.) Im Normalfall – meistens funktioniert ja alles reibungslos, wie die Dauerbahnfahrer wissen – saßen wir nebeneinander und puzzelten gemeinsam, oder ich las, während er mit Wachsstiften riesige Herzen »für Mama« malte. In Berlin schauten wir uns Wohnungen an und übernachteten zu dritt im Zimmer, das sich meine Frau gemietet hatte. Schließlich fanden wir eine Wohnung in Moabit in der Nähe der Spree und der Siegessäule, wo es auf den ersten Blick nicht unbedingt schön war. Aber es sollte nicht lange dauern, bis ich jeden Winkel unseres Kiezes erkunden und mich in unser Viertel verlieben sollte. Als ich alles in Kisten verpackt hatte und zwei LKWs des Umzugsunternehmens vor der Tür stand, war der Abschied endgültig gekommen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich zwei Monate als alleinerziehender Vater hinter mich gebracht hatte. Es war wie von selbst gelaufen. Aber ich war mir schon damals bewusst, dass das alles im Vergleich zu denjenigen, die wirklich alleinerziehend sind, ein Klacks war. Ich konnte es mir leisten, in Teilzeit zu arbeiten. Ich konnte es mir leisten, mir zweimal pro Woche von einer Babysitterin helfen zu lassen. Und ich wusste, dass wir in Berlin wieder als drei- und schon bald als vierköpfige Familie zusammenleben würden. Vor Alleinerziehenden, die wirklich allein für das Einkommen sorgen und wirklich alles allein regeln müssen und es trotzdem schaffen, sich ums Kind beziehungsweise um die Kinder zu kümmern, habe ich größten Respekt. Als einen solchen Alleinerziehenden habe ich mich nie betrachtet. Nach der Wohnungsübergabe in Hamburg – der LKW war schon unterwegs – bestiegen wir wieder den ICE. Dieses Mal ohne Rückfahrschein.

68

Von Hamburg nach Berlin

Berlin – die letzten klassischen Muttermonate Am folgenden Morgen kam der LKW, und abends setzte ich unseren Sohn in den Kindersitz und radelte mit ihm durchs Brandenburger Tor und merkte: Wahnsinn – wir leben im politischen Zentrum Berlins! Und im Zentrum des alten Westberlin. Die nächstgelegene S-Bahn-Station war die Station Tiergarten. Danach kommt in die eine Richtung der Bahnhof Zoo und in die andere Bellevue. Durch Moabit zieht sich die Straße Alt-Moabit, die Moabit quasi in einen deutschen (in Richtung Spree) und einen arabisch-türkischen Teil (in Richtung Westhafen) teilte. Unser Sohn kam in den Kindergarten32, und da er bereits ein geübtes Kindergartenkind war, dauerte die Eingewöhnung exakt einen Tag. Montagmittags setzte ich mich in den ICE, raste nach Hamburg, unterrichtete an der Abendschule sechs Stunden, übernachtete bei Freunden, unterrichtete am Dienstag drei Stunden und fuhr anschließend zurück nach Berlin. Im Mai kam unsere Tochter zur Welt, ich beantragte ab Juli Elternzeit für zwölf Monate und meine Frau beantragte gar nichts. Sie blieb während des Mutterschutzes insgesamt ca. drei Monate zu Hause. In den zwei Monaten nach der Geburt war sie einfach Mutter. Stillte, kuschelte, schlief beim Baby, und abgesehen vom Stillen tat ich das – sofern ich nicht in Hamburg war – auch und dachte währenddessen: Hoffentlich bekomme ich das mit dem Baby hin! Nun war es für mich wirklich kein Problem gewesen, mit meinem Sohn ständig unterwegs zu sein, aber mein Einsatz hatte ja zum einen erst begonnen, als er neun Monate alt war. Zum anderen hatten wir uns dann erstmal »gleichberechtigt« um unseren Sohn gekümmert, und als ich mit ihm ganz allein war, ging er bis 16 Uhr in die Kita. Und überhaupt: Ein neun Monate altes, frisch abgestilltes Kind … das ist etwas anderes als ein zwei Monate altes Baby, das voll gestillt wird. 32 Während der Korrektur ist mir aufgefallen, dass ich doch wieder diesen Begriff benutzt habe. Soll man nicht. Kindertagesstätte ist richtig. Es heißt ja auch nicht mehr Kindergärtner(in), sondern Erzieher(in). Schade. Was verbindet man mit einer Tagesstätte? Und was mit einem Garten? Ich selbst würde meine Kinder lieber in einen Garten schicken. Aber das ist jetzt wahrscheinlich ziemlich romantisch.

Berlin – die letzten klassischen Muttermonate69

Bevor ich Vollzeitvater wurde, nahm ich allein mit meinem nun fast vierjährigen Sohn an einer Eltern-Kind-Freizeit in Eutin teil. Das war schon früh unser Plan gewesen. Wir wollten unserem Sohn zeigen, dass er weiterhin etwas Besonderes ist. Unter den Teilnehmern waren mehrere Familien und eine alleinerziehende Mutter, deren Tochter so alt war wie mein Sohn. Wir fuhren Kanu, machten Ausflüge und besuchten die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg. Das, was in den folgenden Jahren mein Alltag werden sollte, erlebte ich zum ersten Mal in Eutin: Ich hing ständig mit einer Mutter herum. Ich weiß nicht, wer wen zuerst angesprochen hat. Ich weiß nur, dass ich sie nach ihrem Mann fragte, weil sie wie ich einen Ehering trug. Ihr Mann war allerdings tot. Krebs. Insofern war diese Mutter etwas anderes als die Mütter, die ich noch kennenlernen sollte. Sie war alleinerziehend und zu dem Zeitpunkt alleinstehend. Ab dem zweiten Tag machten wir eigentlich alles gemeinsam und wurden tatsächlich mehr als einmal gefragt, ob wir verheiratet seien. Als wir mittags mit unseren Kindern essen gingen, bekam ich die Rechnung hingelegt. Beim Kanufahren saßen die Familien in einem Boot und wir vier auch. Während ich in Hamburg keine einzige Mutter mit Namen hatte ansprechen können, hatte ich in meiner Berliner Zeit bereits engen Kontakt zu einer Mutter, bevor meine Elternzeit begann. Allerdings nicht in Berlin selbst, sondern in Eutin. Und so wie es in Eutin war, sollte es auch in Berlin und in Wuppertal werden. Meine Frau nannte das, was sich entwickelte, irgendwann mein »Mütternetzwerk«. Ich hätte übrigens nichts dagegen gehabt, mit einem alleinerziehenden Vater beziehungsweise mit einem Vater, der mit seiner Frau die Rollen getauscht hatte, meine Zeit zu verbringen. Ich hätte darauf sogar Lust gehabt. Mit einem Mann hätte ich nämlich wunderbar über ein Thema sprechen können, das ich mit den Müttern mied: über Mütter! Aber solche Männer hatte ich bis dahin nicht gefunden und ich sollte sie, abgesehen von einer Ausnahme, auch später nicht finden. Solche Männer saßen in Talkshows oder wurden im Radio interviewt, aber auf den Straßen sah man sie nicht. (Heute, zehn Jahre später, sieht man sie! Und das ist gut so.) Nach meiner Rückkehr aus Eutin begann meine Frau wieder voll zu arbeiten. Und ich stürzte mich in die Elternzeit.

70

Von Hamburg nach Berlin

Elternzeit In den ersten Wochen war ich noch nervös. Auch weil nicht alles gelang und ich mich fragte, ob das an mir liegen könnte. Trank sie nicht sofort aus der Flasche, weil sie die Brust vermisste? Oder gar die Mutter? Oder machte ich etwas falsch? Und warum schrie sie manchmal länger als die üblichen fünf Minuten? Hätte sie auch geschrien, wenn ich einfach arbeiten gegangen und meine Frau zu Hause geblieben wäre? Und stellten sich Mütter eigentlich ähnliche Fragen oder war es für sie selbstverständlich, wenn das Baby nicht gut trank oder wenn es auch mal ausdauernder brüllte? Einige Wochen benötigte ich, um mich an die Situation zu gewöhnen, und meine Tochter brauchte ebenfalls einige Wochen. Heute glaube ich: Bei den meisten Müttern ist das in den ersten Wochen genauso. Es ist – egal ob als Mann oder Frau beziehungsweise als Vater und Mutter – am Anfang einfach etwas komplett Neues. (Vor allem beim ersten Kind. Aber bei jedem Kind geht es ja im wahrsten Wortsinne wieder bei Null los. Und es ist und bleibt wahrscheinlich auch beim zwölften Kind etwas Besonderes.) Schließlich pendelte sich ein Alltag ein, der zur Normalität wurde. Ich brachte meinen Sohn gemeinsam mit meiner Tochter, die im Kinderwagen schlief, in die Kita. Anschließend schob ich sie herum, während meine Frau ihrer Arbeit nachging. Da sie noch kein Einzelbüro hatte, flüchtete sie zum Abpumpen der Milch in das abschließbare Büro einer Kollegin, die gleichzeitig aus dem Mutterschutz zur Arbeit zurückgekehrt war. Ich selbst gab meiner Tochter bei der ersten Milchmahlzeit des Tages das Fläschchen. Dafür musste ich abgepumpte Milch aufwärmen, was lästig war, aber schnell zur Routine wurde. Das Fläschchengeben selbst klappte immer besser, und ich fand es ganz wundervoll, meine Tochter im Arm zu halten und sie dabei zu beobachten, wie sie trank. Nach und nach entwickelte ich ein Gespür dafür, ob sie wirklich genug getrunken oder ob sie lediglich keine Lust mehr hatte. Fragte ich mich in jener Zeit, ob es nicht doch natürlicher gewesen wäre, hätte meine Frau einfach durchgehend die Brust gegeben? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Schließlich hörte ich immer wieder Geschichten von Müttern, die ebenfalls

Elternzeit71

nicht stillten, weil es – aus welchen Gründen auch immer – nicht funktionierte, und die deshalb frustriert waren und letztendlich auch »nur« das Fläschchen gaben. Zur zweiten Tages-Milchmahlzeit traf ich mich mit meiner Frau in einem Café in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Das tat ich in den ersten Monaten durchgehend fünf Tage in der Woche, und das war einer der spürbarsten Unterschiede zu einer Frauenelternzeit. Denn wir organisierten das gemeinsame Mittagessen nur aus einem einzigen Grund: Wenigstens einmal sollte unsere Tochter in den Genuss kommen tagsüber »frisch aus der Brust« trinken zu dürfen. Unsere Tochter wurde sechs Monate voll und dann drei Monate lang abgestillt. Die Vollstillzeit war unsere Cafézeit. Gerade in der Anfangszeit verliehen diese täglichen Treffen meinen Tagen Struktur. Ich brachte unseren Sohn in die Kita. Ich traf mich mit meiner Frau. Ich holte unseren Sohn ab. Meine Tochter immer dabei. Das waren die Fixpunkte eines jeden Tages. Und für meine Frau – das wiederum war gewiss ein spürbarer Unterschied zu einem voll arbeitenden Vater mit Baby – war es natürlich ganz wunderbar, ihre Tochter an ihren langen Arbeitstagen zwischendurch sehen und spüren zu können. Was ich in den ersten Monaten feststellte und was einfach für eine konsequente Väterelternzeit spricht, ist Folgendes: Das Argument, das die vielen Mutter-muss-beim-Kind-bleiben-Befürworter als erstes nennen, ist das Argument »natürliche Bindung«. Ja, das stimmt. Das Baby hat zur Mutter, in deren Bauch es ein paar Monate herumgeschwommen ist, in der Tat eine natürlichere Bindung als zum Vater. Erst recht, wenn die Mutter stillt. Das zu leugnen, wäre lächerlich. Diese Bindung kann eine Väter-Elternzeit beziehungsweise ein Rollentausch nicht zerstören. Sobald die Mutter trotz dieser natürlichen Bindung auch dasjenige Elternteil ist, das diese natürliche Bindung durch das Zuhausebleiben stärkt, baut ein Kind zum tagsüber abwesenden Vater zunächst nicht viel mehr als eine DuziDuzi-Beziehung33 auf. Dass ich irgendwann derjenige war, dem es 33 Meine Lektorin hatte an den Rand geschrieben: »Was ist das?« Ich finde eigentlich, dass das selbsterklärend ist, obwohl man diesen Begriff vermutlich weder im Duden noch auf Wikipedia findet. Also: Es gibt durchaus einen

72

Von Hamburg nach Berlin

eher gelang, unsere Tochter ins Bett zu bringen, ändert daran nichts. Denn natürlich schaffte das auch meine Frau. Und zwar immer. Männer wiederum schaffen es im traditionellen Modell in den ersten beiden Lebensjahren oft nicht. Ich erinnerte mich in jener Zeit sehr lebhaft daran, wie ich eine Bekannte zu einem Dia-Vortrag34 einlud, und sie kam und kam nicht. Schließlich rief ich an, und der Mann nahm den Hörer ab und sagte: »Unser Kind schläft noch nicht, und es schläft nur ein, wenn sie neben ihm liegt.« So so. Ich weiß nicht, was ich damals dachte, aber heute denke ich: So was wäre in einem Rollentauschmodell ausgeschlossen. Denn in einem solchen Modell sind sehr früh beide Elternteile in der Lage, das Kind ins Bett beziehungsweise zum Einschlafen zu bringen. Und natürlich durfte ich – also derjenige, der die klassische Mutterrolle innehatte – schon ins Kino gehen, als unsere Tochter drei Monate alt war, denn ich konnte sie mit meiner Frau alleine lassen. Ich hatte theoretisch alle Freiheiten, weil meine voll berufstätige Frau nie Probleme hatte, mit ihrem Baby auch mal ein paar Stunden oder ein paar Tage (siehe unten) allein zu sein. Der Unterschied: Meine Frau konnte auch ins Kino gehen oder sich mit Freunden treffen. Sie hatte theoretisch auch alle Freiheiten, denn ihr Mann war ja in der Lage, sich ums Baby zu kümmern. Ein konsequenter Rollentausch führt dazu, dass das Kind neben der natürlichen Bindung zur Mutter auch eine intensive Bindung zum Vater aufbaut. Das Baby hat dadurch schon frühzeitig zwei Bezugspersonen – ist das nicht toll? Nein, anscheinend nicht. Denn sonst müsste es ja viel mehr Paare geben, die die Rollen tauschen. Dann müssten es eigentlich so viele Rollentausch-Paare geben, dass man den Begriff »Rollentausch« in diesem Zusammenhang aus dem Lexikon streichen könnte, weil er obsolet geworden ist. Hang dazu (vor allem von älteren Frauen, aber eben auch von ständig abwesenden Vätern), süüüüüße Babys in den Bauch zu pieken oder einmal über den Kopf zu tätscheln und dabei komische Laute von sich zu geben, die manchmal wie »Duzi Duzi« klingen. Das ist ja alles schön und gut. Aber eine echte Bindung baut man so nicht zu einem Kind auf. 34 Das muss so 1994 gewesen sein …

Elternzeit73

Warum wird dieser eindeutige Vorteil eigentlich nie angepriesen von … zum Beispiel Familienministerien? Weil die Politik in Wahrheit denkt, dass die Gesellschaft so weit noch nicht ist? Weil man Angst vor den Reaktionen der Mütter und Väter hat? Übrigens muss man ja nicht gleich die Rollen dauerhaft tauschen. Eine lange und selbstverantwortliche Väterzeit ohne Frau, die einem über die Schulter guckt und einem am Ende doch alles abnimmt – so ist es doch meistens, man muss nur andere Familien beobachten – sorgt bereits dafür, dass man für das Baby als Vater genauso wertvoll wird wie die Mutter und nicht die Baby- und Kleinkindzeit verpennt. Zurück zu unserem Rollentauschalltag: Am Anfang ist meine Frau gelegentlich zu Hause geblieben, um von dort aus zu arbeiten. Ich erinnere mich an wenige (= zwei oder drei) Male, in ihrer Erinnerung war es »oft« (= zwanzigmal). Woran ich mich definitiv erinnere: Ich wollte das nie und habe auch gar nicht erst um den heißen Brei herumgeredet, was sie nur mäßig begeistert hat. Aber zu zweit … dann ist es am Ende doch die Mutter, die vieles übernimmt. (Das wäre übrigens ein Thema für eine Doktorarbeit in Soziologie: Paarverhalten während der gemeinsamen Elternzeit.) Die Väterelternzeit ist spannend, weil man Dinge erlebt, die viele Männer nur vom Hörensagen kennen oder sich schlicht nicht vorstellen können. Für Mütter ist es umgekehrt. Sie verkehren mit Müttern, die alle Ähnliches erleben. Und da eine Mutter zum Baby sowieso eine natürliche Bindung hat, muss die Mutter darum nicht kämpfen. Als Mann ist man sich der Tatsache bewusst, dass man sich Liebe und Nähe Schritt für Schritt erobern muss. Vielleicht gibt man sich als Mann, wenn man wirklich mit dem Baby allein ist, ja auch besonders viel Mühe, weil man denkt: Meine Tochter soll Wärme und Brust meiner Frau zumindest nicht vermissen, wenn ich da bin … also trage ich sie viel herum, lasse sie auf meinem Bauch schlafen und auf mir herumturnen, wann immer sie will. Und ganz ganz ganz vielleicht telefoniert man als Vater in dieser Zeit auch nicht so häufig mit anderen Müttern (oder Vätern) oder mit der eigenen Mutter (oder dem eigenen Vater) und kümmert sich deshalb weniger ums Kind. Allerdings spreche ich vom Jahr 2007, als die Väter noch keine Smartphones hatten. (Zum Vergleich damals und heute kommt noch ein Absatz weiter unten.)

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Väter in Elternzeit geraten in verrückte Situationen. Zum Beispiel war meine Frau, als unsere Tochter noch voll gestillt wurde, vier Tage auf Dienstreise. Vorher hatte sie so berechnend abgepumpt, dass unser komplettes Tiefkühlfach im Kühlschrank mit Tüten voll abgepumpter Milch vollgestopft war. Zugegebenermaßen bekam ich Angst vor der eigenen Courage, als die Tür ins Schloss fiel und ich wusste, dass ich nun nicht nur wie gewohnt den ganzen Tag mit meiner Tochter (und ab dem Nachmittag auch mit meinem Sohn) allein verbringen würde, sondern auch einige Nächte. Konnte ich das schaffen, ohne mir stundenlanges Geschrei anzuhören? Und sollte meine Tochter stundenlange Schreianfälle bekommen, hätte ich dann noch Lust auf das kommende Jahr? Auch in dieser Situation tat ich etwas nicht, was viel zu viele Eltern tun: Weder las ich ein Buch darüber, noch surfte ich auf der Suche nach Ratschlägen stundenlang durchs Netz. (Das ist der einzige Tipp, den ich jungen Eltern gebe: »Macht euer Ding! Lest keine Bücher, man spürt eigentlich, was man wann wie tun sollte und was zum eigenen Kind und zu einem selbst passt.«) Ich gab der Kleinen vor dem Schlafengehen noch etwas zu trinken, und bevor ich ins Bett ging, bereitete ich alles vor. Ich erhitzte Milch, wickelte das Fläschchen in Handtücher und gab ihr dann nachts die lauwarme und wahrscheinlich zu kalte Milch zu trinken. Sie trank, schlief anschließend weiter, und sie lebt immer noch und Bauchschmerzen hatte sie in den zurückliegenden Jahren nur selten. Das liegt natürlich nicht daran, dass ich sie auf diese Art abgehärtet habe. Es zeigt aber, dass es ziemlich egal ist, ob die Milch nun 37 ° C oder nur 24 ° C warm ist, und dass man sich nicht wegen jedes Details verrückt machen lassen sollte. Schon in der zweiten Nacht war ich nicht mehr besonders aufgeregt. Meine Frau erzählte mir in Zusammenhang mit diesem Buch, dass sie uns »und vor allem das Baby« während ihrer ersten Dienstreise nach der Geburt »natürlich« vermisst habe. Daran, ob sie wirklich auf der Reise abgepumpt hat, erinnert sie sich nicht mehr. Daran, dass sie die Abpumpmaschine dabei hatte, aber sehr wohl. Denn die musste sie am Flughafen der Security zeigen, die ein solches Gerät noch nie gesehen hatte, weshalb sie irgendwelchen SecurityMännern erklären musste, wofür Frauen in bestimmten Situationen ein solches Gerät brauchen, was ziemlich peinlich war. (Für die ­Security-Männer vermutlich auch.)

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Mehr aus Neugierde als aus irgendeinem erzieherischen Motiv heraus meldete ich mich gleich im September mit meiner vier Monate alten Tochter zu einem PEKIP-Kurs an. Für alle, die das nicht kennen: »Es kommen meist etwa sechs bis acht Mütter oder Väter mit ihren Babys in einen Kurs. Es wird darauf geachtet, dass die Babys ungefähr im gleichen Alter sind. Im Kursraum sind überall weiche Matten ausgelegt, denn es findet alles auf dem Boden statt. Außerdem ist es sehr warm, weil Dein Baby komplett ausgezogen wird und sich nackt auf den Matten bewegen darf. So steht seinem Bewegungsdrang nichts mehr im Weg. Nackt weint Dein Baby weniger, ist intuitiver und insgesamt zufriedener.«35 Die Beschreibung ist recht fortschrittlich, weil sie sich an Mütter und Väter richtet. Im Jahr 2007 und bei meinem zweiten Kurs Anfang 2008 war ich allerdings der einzige Vater. Und ich war gespannt darauf, auf was für Mütter ich stoßen würde. Würden sie mich akzeptieren in ihrem Kreis? Würden sie mit mir sprechen? Würde ich in einem solchen Kurs nur Esoterikmuttis kennenlernen? Würden sie dort alle im Bikini herumsitzen und erwarten, dass ich eine Badehose anziehe? Nein: Die Mütter waren ziemlich cool. Ich habe mal wieder schlicht Glück gehabt. Es hätten in diesem Kurs ja auch ein paar verklemmte Mamis sitzen können. Oder »Freundinnen«, die niemanden an sich heranlassen. Oder Besserwissermuttis. Oder Mütter, die ernsthaft der Meinung sind, Männer können »so etwas« nicht und sollten es deshalb auch nicht tun. Oder Muttis, die mich ihre Verachtung für meine eigene Frau spüren lassen, weil sie sich eben nicht in dem Maße um das Baby kümmert wie sie. Nein … keine einzige meiner PEKIP-Mütter war so. Ich erinnere mich nicht mal an einen irritierten Blick, als ich den Raum betrat. Und als es losging, war meine Anwesenheit sowieso kein Problem mehr. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass ich bei der Vorstellrunde sagte, dass 35 http://www.netmoms.de/magazin/baby/babykurse/prager-eltern-kind-programm-pekip/#was-passiert-im-pekip-kurs

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meine Tochter bereits mein zweites Kind sei. Und außerdem – Eigenlob stinkt, ich weiß – konnte ich »das« einfach. Sie fiel mir nicht aus dem Arm. Sie trank ruhig, eben nur nicht aus meiner Brust. Ich konnte sie an- und ausziehen und die Windeln wechseln, und das alles machte ich nicht besser, aber eben auch nicht schlechter als die Mütter, die schon beim zweiten Treffen in meiner Gegenwart fröhlich stillten und lachten, als ich zu spät kam und sagte: »Ich habe die Milch vergessen. Das wäre euch nicht passiert!« Ich bin gern zum PEKIP-Kurs gegangen. Es war herrlich zu beobachten, wie die Babys sich nackt auf dem Boden wälzten – das eine pinkelte immer mindestens einmal alles voll – und wie wir am Rand saßen und uns über alles Mögliche unterhielten. Kann sein, dass die Gespräche anders verlaufen wären, wenn ich nicht dabei gewesen wäre. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass die Mütter sich an meiner Anwesenheit irgendwie störten. Ich wurde auch zu den alle paar Wochen stattfindenden Kaffeeklatschtreffen der PEKIP-Mütter eingeladen, und ich ging immer hin. Einmal trafen wir uns bei mir, und es kamen alle. Meine Frau hat nur eine Mutter besser kennengelernt: Diejenige, die meine erste »echte« Freundin unter all den Müttern wurde. Ich frage mich bis heute, ob wir uns anfreundeten, weil sie in meinen Augen am besten aussah und ich mich deshalb besonders um sie bemühte. Das wäre dann typisch männlich und meinetwegen auch typisch dämlich gewesen. Dafür spricht, dass ich meine zweite »echte« Freundin in Wuppertal auf ganz ähnliche Art kennenlernen sollte. (Ich sollte sie Jahre später aus demselben Grund ansprechen … weil sie gut aussah.) Dagegen spricht, dass unsere Töchter fast am selben Tag geboren wurden, dass unsere Töchter die ersten waren, die plötzlich im Raum standen, dass sie in Deutschland geborene Französin war und wir allein dadurch viele Gesprächsthemen hatten und dass sie wie ich kein Auto besaß und alles zu Fuß erledigte. Natürlich stellte sie schon bald die Frage, die ich oft zu hören bekam. Ob meine Frau denn nicht ihre Tochter vermisse. Sie sei ja schließlich nur einmal ein Baby. Und wieder weiß ich nicht, ob ich die Gegenfrage stellte, wie es denn bei ihrem Mann aussehe. Ob er denn nicht seine Tochter vermisse. Sie sei ja schließlich nur einmal ein Baby.

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Irgendwann rief sie mich an, weil der PEKIP-Kurs ausfiel, und wir trafen uns einfach so und es entstand ein Vertrauensverhältnis, das ich so bis dahin in der Regel nur zu Männern gehabt hatte. Wir waren auch ziemlich ehrlich zueinander. Ich fand es nicht richtig, dass sie ihre Tochter fernsehen ließ. Sie fand es nicht richtig, dass ich meine Tochter aus dem Kinderwagen zerrte, damit sie ja nicht einschlief, bevor ich in einem Café saß. Sie selbst erzählte mir im Zusammenhang mit diesem Buch, dass sie froh gewesen sei, im PEKIP-Kurs einen Mann »entdeckt« zu haben. Sie hätte nämlich keine Lust darauf gehabt, mit Müttern über nichts anderes zu sprechen als über die Babys. Mit mir hätte sie sofort begonnen, über Filme und Bücher zu sprechen. Wow. Stimmt. Das ist mit Sicherheit einer der genetisch bedingten Unterschiede zwischen vielen Vätern und Müttern. Väter können selbst im Wartezimmer der Arztpraxis, während das Baby auf dem Schoß fiebert, über den letzten Star-WarsFilm diskutieren, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Mütter diskutieren in einer solchen Situation dann eher über die akuten Krankheiten, und wenn sie damit durch sind, über Impfungen und dann über die zurückliegende bzw. nächste U-Untersuchung.36 Meine Frau war in jener Zeit nicht gerade begeistert davon, dass ich eine Freundin gefunden hatte, aber letztendlich akzeptierte sie es genauso wie ich akzeptierte, dass sie ständig etwas mit männlichen Kollegen zu tun hatte. Ich frage mich oft recht nostalgisch, wie es heute wohl wäre. Zehn Jahre später. Die Antwort lautet: Heute wäre es nicht mehr so. Denn etwas, das damals kaum eine Rolle spielte, ist des Erwachsenen liebstes Spielzeug geworden, und ich selbst gehöre zu den 0,00000000000000001 % aller Menschen, die mit diesem Spielzeug noch immer nichts anfangen können und auch nicht verstehen, was alle anderen daran so toll finden:37 Heute haben alle Erwachsenen 36 Für alle werdenden Eltern: Kinder werden regelmäßig untersucht. Gleich nach der Geburt nennt sich das U1. Dann geht es fortlaufend weiter, bis die Untersuchungen irgendwann zu Beginn der Pubertät aufhören. 37 Ich verstehe es wirklich nicht. Es ist mir sogar ein absolutes Rätsel. Es ist so herrlich befreiend, nicht ständig das Gefühl zu haben, aufs Smartphone gucken zu müssen. Und wenn man eins hat, hat man es ja doch stets bei sich und ist in 18 WhatsApp-Gruppen.

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(bzw. Menschen ab 11) und daher auch alle Mütter ein Smartphone. Neulich war ich bei einer Bekannten zu Besuch, die gerade in Elternzeit war. Sie ließ, während sie in die Küche ging, das Smartphone auf dem Tisch liegen. Es piepte in einer Tour. Sie las uns, als sie Kaffee geholt hatte, die Nachrichten ihrer Eltern (=  Mütter)-WhatsAppGruppe nicht ohne Selbstironie vor. Die Nachrichten lauteten (so ungefähr): »Das war ja nett. Danke!!!! JJ« »Genau, das fand ich auch!!!! JJJ« »Ich fand das auch supernett!!!! JJJJ« »Das war wirklich ein schöner Nachmittag!!!!! JJJJJ« »Ich freue mich schon aufs nächste Mal!!!! JJJJJJ« »Ich auch!!!! JJJJJJ« »Und ich erst!!!! JJJJJJ« »Das wird bestimmt schön!!!! JJJJJJ« »Dann bis morgen!!!! JJJJJJ« »Um elf Uhr???? J« »Ja, um elf Uhr!!!!! J« »Wartet … um 11 Uhr schaffe ich es nicht! Da schläft Leo noch! L« »Na gut, dann um 12 Uhr.« »Supi! JJJJJJ« »Danke! JJJJJJ« »Das wird schön!!! JJJJJJ« »Ich freue mich darauf!!! JJJJJJ« »Moment, sorry, aber um 12  Uhr kann ich nicht. Da bekommt ­Leonie doch ihren Karottenbrei! L« »Na gut, dann gleich um 15 Uhr?« »Supi! JJJJJJ« »Danke! JJJJJJ« »Das wird schön!!! JJJJJJ« »Ich freue mich darauf!!! JJJJJJ« »Können denn nun wirklich alle, ich habe den Überblick verloren? Hi hi.« »Ja!!!!!!!!!!!! JJJJJJJJJJJJ« »Ja!!!!!!!!!!!! JJJJJJJJJJJJ« »Ja!!!!!!!!!!!! JJJJJJJJJJJJ«

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»Ja!!!!!!!!!!!! JJJJJJJJJJJJ« »Ja!!!!!!!!!!!! JJJJJJJJJJJJ« »Also ich nicht. Nachmittags treffe ich mich schon mit Hanna und ihren Kindern. Aber dann viel Spaß ohne mich. LLLLLLLL« »Nee, dann …« Usw. Grässlich!!! Nein, das wäre nichts für mich. Und auf dem Spielplatz sitzen und mir Fotos anderer Babys auf dem Smartphone anschauen … das wäre auch nichts für mich. Weihnachten besuchten uns meine Schwiegereltern. Abends saß unsere Tochter im Wechsel bei meiner Frau, meiner Schwiegermutter und meinem Schwiegervater auf dem Schoß. Immer, wenn gelacht wurde, guckte sie in meine Richtung, und mein Schwiegervater sagte: »Ach, das ist ja ein Papakind geworden!« Und er sagte das mit einem Strahlen – selten habe ich mich derart über anerkennende Worte gefreut. Dennoch war und blieb ich in jener Zeit ein typischer Mann. Denn als meine Frau ankündigte, mit meiner Tochter und meinem Sohn nach Weihnachten für ein paar Tage nach Süddeutschland zu fahren und mir anbot, in Berlin zu bleiben, freute ich mich.38 Und irgendwie fand ich, dass ich mir eine mehrtägige Auszeit verdient hatte. Hm. Ja … so dachte ich damals wirklich. Diese Erkenntnis betrübt mich zehn Jahre später. Denn es war offensichtlich so, dass ich nach einem halben Jahr fand, dass es jetzt mal an der Zeit war, dass meine Frau sich ums Kind kümmerte und ich das tun durfte, wozu ich Lust hatte. Der Gedanke war aus zwei Gründen vollkommen absurd: Erstens hatte meine 38 Kommentar meiner Frau: »Aha – ein typischer Mann freut sich, wenn er sturmfreie Bude hat – warum??? Endlich wieder Zeit für die Geliebte, oder was ist ein typischer Mann?« Zum Glück stand das nur am Rand des Textes. Aber die Frage ist natürlich berechtigt. Sagen wir mal so: Mir sind Mütter mit drei Kindern begegnet, die mir strahlend erzählt haben, sie hätten in den zurückliegenden neun Jahren keine Nacht ohne ihre Kinder verbracht. Nein, damit würde sich ein »typischer Mann«, der sich hin und wieder nach einer Auszeit sehnt, eher nicht rühmen. Meine Lektorin hat an dieser Stelle allerdings angemerkt, sie würde keine Frauen kennen, die sich mit dergleichen brüsten würden.

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Frau nicht das getan, wozu sie Lust hatte, sondern sie hatte gearbeitet, um unsere Familie zu ernähren. (Dass ihr die Arbeit meistens Spaß brachte, steht dazu in keinerlei Widerspruch – als Freizeit hatte sie es nicht empfunden.). Ich hatte mich also nicht um unser Baby gekümmert, damit sie die Beine hochlegen oder ins Kino gehen konnte. Zweitens war der Alltag mit zwei Kindern für mich längst zur Normalität geworden. Ich verstehe mich selbst nicht genau. Vielleicht lag der Wunsch nach einer Auszeit einfach in meiner Natur. Als wir noch keine Kinder hatten, hatte meine Frau mehrere Tage lang eine Freundin besucht. Sie sagte, bevor sie losfuhr (ich weiß noch, wann und wo und mit welchem Gesichtsausdruck): »Ich habe den Eindruck, du freust dich richtig darüber, mal ein paar Tage allein zu sein.« Und ja … ich gab es auch sofort zu. Und auch heute freue ich mich, wenn ich mal ein paar Tage lang mein eigener Boss bin. Dennoch verwirrt mich heute, wie überschwänglich ich mich damals auf die Tage ohne Frau und Kinder freute. Als sei vorher alles eine Dauerbelastung gewesen. Seltsam. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, ließ ich mich in den Sessel fallen und wusste einen Augenblick lang nicht, was ich tun sollte. Dann hörte ich ein Geräusch, stand auf und wollte nachsehen … Aber da war ja niemand mehr. Ich habe keine Ahnung, wie ich mir in jenen Tagen die Zeit vertrieb. Wahrscheinlich war ich jeden Tag im Kino und schrieb an meinem Roman. (Ich überarbeitete in jener Zeit meinen zweiten Roman über den Selbstmörderclub so massiv, dass eigentlich nur noch die Grundidee übrig blieb, ich schrieb Vatergeschichten und bot den Roman 1932 meiner Agentur an.) Ob ich über das Phänomen Väterelternzeit sinnierte, weiß ich nicht. Jetzt tue ich es und stelle erneut fest: Umgekehrt wäre das definitiv nicht möglich gewesen. Hätte ich jeden Tag von morgens bis abends gearbeitet und wäre meine Frau zu Hause geblieben, dann wäre ich nicht allein mit einem acht Monate alten Baby einige Tage nach Norddeutschland zu meinen Eltern gefahren, damit meine Frau sich allein in Berlin mal ohne Baby ein wenig erholen konnte. Ich hätte es gar nicht gekonnt, denn die Bindung zum Baby hätte mir ja vollkommen gefehlt. Eine Mutter hat eine solche Bindung immer.

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In der Folgezeit kam ich mit einer der Vatergeschichten über einen palästinensischen und einen israelischen Vater und ihre Söhne Klaus und Horst ins Halbfinale des vom Tagesspiegel ausgeschriebenen Literaturwettbewerbs. Dort las ich und schied aus. Aber allein dieser Minierfolg half, meine Hoffnungen auf einen literarischen Durchbruch am Leben zu halten. Und für mein Ego war es natürlich dringend benötigter Balsam: Endlich konnte ich meiner Frau mal zeigen, dass nicht alles, was ich machte, vollkommen brot- und hoffnungslos war. Es schienen abgesehen von meinem Agenten doch irgendwo noch andere Menschen – Redakteure und Rezensenten oder Jurymitglieder – zu sitzen, die das, was ich seit Jahren zu Papier brachte, nicht gleich in die Tonne warfen. Ich ging während meiner gesamten Elternzeit viel spazieren und entdeckte nach und nach den Kiez, in dem mich bald viele kannten: der Kassierer und die Kassiererinnen im Edeka, der Postbote, die Buchhändlerin in der Buchkantine, in der ich während des Nachmittagsschlafs meiner Tochter fast jeden Tag saß. Dort wachte sie übrigens auch immer auf und krabbelte im Kinderbereich herum. Buchläden sind eigentlich perfekte Aufenthaltsorte für Klein- und auch Kleinstkinder. Sobald sie einigermaßen gucken und greifen können, fühlen sie sich mit einem Buch in der Hand wohl. Bei schlechtem Wetter schob ich sie in die Stadtteilbibliothek oder fuhr mit der S-Bahn zur Friedrichstraße ins »Kulturkaufhaus« Dussmann. Dort saßen wir in einem Kinderbereich, der es mit dem Småland, dem IKEA-Kinderbereich, locker hätte aufnehmen können. (Zu IKEA bin ich allerdings nie gefahren.) Das klingt wahrscheinlich, als hätte ich so eine Art Vater-DandyLeben geführt. Das ist einerseits Quatsch. Denn natürlich bestand mein Alltag auch aus Haushalt beziehungsweise Organisation, und dazu gehörte in erster Linie ȤȤ Einkaufen, ȤȤ Wäsche waschen, ȤȤ Wäsche auf- und abhängen, ȤȤ so putzen, dass mein Gewissen rein war, ȤȤ Geschirrspüler ein- und ausräumen, ȤȤ Essen zubereiten, ȤȤ und aus anderen lästigen Aufgaben, zu denen ich noch komme.

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Und die ganze Zeit das Baby an mir in der Trage oder neben mir in einem Autositz, den ich mit dem Fuß wippen konnte, oder einfach auf meinem Arm oder zwischendurch mal brüllend auf dem Boden. Andererseits war es schon so, dass ich das Leben in diesen Phasen einfach und angenehm fand und den Eindruck hatte, dass ein Buchladen mit Café für jemanden wie mich auch mit Baby die erste Anlaufstelle sein musste. Und wenn ich dort saß und meinen Kaffee schlürfte und Zeitung las, fühlte ich mich wohl. Sauwohl sogar! Aber darf man sich nicht auch einfach mal wohlfühlen und das, was man tut, genießen ohne gleich ein schlechtes Gewissen zu haben? Eine meiner Hauptanlaufstellen war der Zoo. Zoos sind innerstädtische Oasen ohne Verkehr, meistens mit hervorragenden Spielplätzen, und Wickeltische gibt es auch. In Berlin war ich so oft im Zoo (und im Zoo-Aquarium), dass ich dort Führungen hätte anbieten können. An mehreren Nachmittagen pro Woche holte ich meinen Sohn ab und ging anschließend mit beiden Kindern in den Zoo. Bei gutem Wetter direkt zum Spielplatz, neben dem allerdings das Gehege des legendärsten Eisbären aller Zeiten lag: Knut, der kurz vor Beginn unserer Berliner Zeit geboren wurde und zwei Jahre nach unserer Berliner Zeit gestorben ist. Das führte dazu, dass Hunderte Knut-Besucher versuchten, auf dem Spielplatz auf die Klettergerüste zu steigen, nur um Knut zu sehen. Mich hat der Rummel um Knut von Beginn an genervt. Neben dem Zoo wurde später der Spielplatz in der Elberfelder Straße zu einem meiner Anlaufpunkte – wo Elberfeld ist, wusste ich lustigerweise nicht.39 Dort war ich dann tatsächlich zum einzigen Mal in einer Elternclique, die auf andere wahrscheinlich ziemlich gluckenhaft gewirkt hat. Diese Art Elternfreundschaft entwickelte sich später in Wuppertal lange Zeit nicht, weil in Wuppertal alle Eltern ihre Kinder ständig überallhin mit dem Auto karren und es schwierig war, Kontakt aufzunehmen. Denn kaum hatte man ein Gespräch begonnen, hetzten die Mütter schon wieder zum Auto, schnallten ihre Kinder fest und waren weg. In Berlin waren viele Eltern zu Fuß unterwegs. Einige Eltern besaßen wie wir nicht mal ein 39 Jetzt weiß ich es: Elberfeld ist ein (sehr, sehr großer) Stadtteil Wuppertals, in dem wir seit vielen Jahren leben.

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Auto. Das war vollkommen normal. Unzählige Nachmittage saßen wir auf dem Spielplatz. Paare – bei einigen Paaren war es so, dass beide flexible Arbeitszeiten hatten – und Mütter und ich. Mit diesem Spielplatz verbinde ich neben vielem anderen ein Ereignis, das mir zeigte, wie sehr meine Frau und ich in unsere Rollen geschlüpft waren: An einem Sonntag schauten wir auf ebendiesem Spielplatz unseren Kindern beim Spielen zu, und meine Tochter, die gerade laufen gelernt hatte, kletterte – wie auch immer – auf ein Holzhaus und befand sich plötzlich auf dem Dach ohne Geländer 2,5 Meter über dem Sand. Meine Frau wurde ganz blass und fragte: »Kann sie das?« Ich winkte ab. Natürlich konnte sie das. Meine Frau nickte stumm. Gewisse Eigenarten meiner Tochter kannte ich inzwischen besser als meine Frau und konnte ihre Fähigkeiten auch einschätzen. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn nicht. Wenn wir gemeinsam spazieren gingen, hielt meine Tochter zum Beispiel einfach den Arm hoch und sagte: »Hamm!« Daraufhin gab ich ihr immer ein Stück Brötchen. Meine Frau war beim ersten Mal ziemlich verwirrt und fragte: »Was war das denn?« – »Wenn sie Hamm sagt, möchte sie etwas zum Essen haben.« – »Und dann gibst du ihr auch einfach was zu essen???????????« Ich nickte. Sie schüttelte den Kopf und schien meiner Erziehungsmethode nichts abgewinnen zu können. Aber sie mischte sich auch nicht weiter ein. Natürlich war ich auch derjenige, der oft zu irgendwelchen Untersuchungen gehen musste. Im Wartezimmer in Moabit saß ich gemeinsam mit türkischen Müttern, die oft nicht Türkisch sprachen, sondern fröhlich berlinerten. Fand ich spannend und interessant, und ich hatte den Eindruck, die türkischen Mütter auch. Und wieder frage ich mich: Finden Mütter das ebenfalls spannend, mit anderen Müttern im Wartezimmer zu sitzen? Oder finden sie es eher normal? Für mich waren solche Momente wie eine kleine Reise in ein Universum, zu dem ich bis dahin keinen Zutritt gehabt hatte. (Väter, die allein mit einem Baby im Wartezimmer im Babybereich sitzen, gibt es meiner Erfahrung nach praktisch nicht.) Aber romatisieren möchte ich die Arztbesuche nicht: Wenn ich länger als eine halbe Stunde warten musste und meine Tochter unruhig wurde … dann fand ich es im Wartezimmer ziemlich nervig und anstrengend.

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Ich genoss die Ruhe, wenn meine Tochter schlief. Meistens hetzte ich in solchen Situationen zur Buchkantine oder an meinen Schreibtisch und begann zu schreiben. Letzteres bereue ich heute. Ich hätte mich viel häufiger zu ihr legen und neben ihr dösen sollen. Dieses Am-Schreibtisch-Sitzen, das hatte ich ja immer gehabt und das sollte ich auch anschließend wieder haben. Aber neben dem eigenen Baby einschlafen? Das sollte nie wiederkommen. (Ein drittes Kind war nicht geplant.)

Natürlich war es hin und wieder auch ätzend! Manchmal war es auch anstrengend. Genaugenommen gab es jeden Tag den einen oder anderen Moment, der anstrengend war. Es war nicht so, dass ich in solchen Momenten an unserem Konzept zweifelte, aber ich freute mich darauf, irgendwann wieder arbeiten gehen zu dürfen. Zum Beispiel wusste ich vor allem am Anfang oft nicht, ob sie Durst hatte oder nicht, wenn sie brüllte. Ich wartete in solchen Situationen immer einen Augenblick. Und manchmal schrie sie sich in Rage … ich musste die Milch dann erst aufwärmen, während sie brüllte und brüllte. Anschließend hatte ich ein Fiepen im Ohr. Und vollgekackte Windeln wechseln … also das bringt keinen Spaß. Es ist sogar ziemlich öde. Und wenn sich die Kacke auf dem Rücken verteilt hat, ist es auch recht eklig. Nichts daran ist romantisch und lustig, wenn man das Desaster bereinigen muss. Es gibt Paare, die filmen, wie sie dabei lachend am Wickeltisch stehen. Ich bin überzeugt davon, dass sich das Gelächter in Grenzen hält, sobald die Kamera ausgeschaltet ist. Aber vielleicht gibt es ja wirklich Paare, die gemeinsam ihrem Kind die Windeln wechseln und das saukomisch finden. Für mich gilt: Vollgekackte Windeln wechseln ist nicht schön, aber es ist auch kein Problem. Fertigbrei füttern … das machte mir ebenfalls nie wirklich Spaß. Das war einfach eine große Matsche. Im Radius von einem Meter um meine Tochter herum war meistens alles vollgekleckert. Auch das gehörte aber einfach dazu, und das war mir auch vorher klar gewesen. Wenn man solche Szenen in irgendwelchen Filmen oder in der Werbung sieht, sieht das meistens alles total niedlich und lustig aus.

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Ist es aber nicht. Ich selbst habe versucht, das Füttern mit stoischer Ruhe hinter mich zu bringen. Nachts aufstehen und mit ihr durch die Wohnung gehen, wenn sie das Stillen nicht im Wortsinne gestillt hat? Das habe immer ich übernommen. Wenn es halb vier morgens ist und einen die Müdigkeit fast erdrückt, dann freut man sich in einer solchen Situation darauf, dass die Kinder älter werden. Dasselbe gilt für die Wochenendmorgen. Samstags oder sonntags schläft man gern mal ein wenig länger. Ging nicht. Hat aber nichts mit dem Rollentausch zu tun. Dass ich oft meine Tochter um halb sieben in den Kinderwagen packte und einen Spaziergang machte und ich darin auch irgendwie meine Aufgabe sah, das wiederum hat aber schon etwas damit zu tun. Putzen? Ja, ich musste putzen, und zu keinem Zeitpunkt war meine Frau mit meinen Fähigkeiten als Putz-Haus-Mann zufrieden. Ich könnte hier jetzt drei … wahrscheinlich sogar dreißig Seiten dazu schreiben. Die Kurzversion: Für mich geht und ging es noch nie um Ordnung, sondern um ein Mindestmaß an Sauberkeit. Staubballen und Krümel, die knacken, wenn man drauftritt, oder die am Fuß kleben bleiben, wenn man in der Wohnung barfuß unterwegs ist, mag selbst ich bei meinem sehr dehnbaren Sauberkeitsbegriff nicht. Und auf ein Klo mit dunklen Spuren setze ich mich nicht gern. Und natürlich kommt Müll raus, sobald er anfängt zu stinken. Ich habe mich nie lustvoll, aber doch mit dem nötigen Ernst darum bemüht, solche Dinge zu erledigen. Aber der Rest? Meine Frau und ich hatten und haben das ganz grundsätzliche Problem, dass es mich einfach nicht stört, wenn überall etwas herumliegt. So war ich schon immer. Als ich mit meinem Bruder in Kiel zusammenwohnte, stand mehrere Wochen ein Kasten Selterwasser im Flur. Hat uns beide nicht gestört. Wir haben uns bei Bedarf bedient, und gestolpert sind wir nie darüber. Es ist doch wirklich praktisch, wenn eine Jacke auf dem Stuhl liegt. Dann kann man sie schneller nehmen, als wenn man sie weggehängt hat. Kleidung liegt wunderbar neben dem Bett auf dem (selbstverständlich sauberen) Boden. Man kann sich morgens dann gleich anziehen. In dieser Hinsicht verstehe ich auch die Kinder: Warum soll man Spielzeug wegräumen, wenn man schon einen Tag später wieder damit spielen möchte? Warum soll man halbhohe Schränke nicht als Ablage für alles Mögliche benutzen? Das sind doch optimale

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Ablagen für Gegenstände, die man manchmal braucht. Dort liegt die Taschenlampe doch super! Wenn sie dort nicht läge, wüsste ich eh nicht, wo ich sie suchen sollte, wenn ich sie jedes halbe Jahr brauche. Manchmal sieht es bei uns aus, als hätte am Abend zuvor eine Party stattgefunden. Nur: Bei uns finden eigentlich nie Partys statt. Ich finde das gemütlich. Im Umkehrschluss fühle ich mich in Wohnungen, in denen ich Angst habe, mich auf einen Stuhl zu setzen, weil ich ihn dafür ja verrücken muss, unwohl. Meine Kinder sind wie ich. Noch einen Tick schlimmer. Aber nur einen Tick. Meine Frau hat keineswegs einen Ordnungsfimmel oder so – dann hätte sie sich längst scheiden lassen – aber sie ist seit Jahren manchmal mehr, manchmal weniger genervt von dem, was ich unter Ordnung verstehe. Seitdem wir gemeinsam den Film über Joseph Beuys gesehen haben, ist diese Art der Ordnung für mich eh nichts anderes mehr als Kunst. (Laut Beuys ist alles Kunst!) Aber auch mein Kunstverständnis teilt meine Frau in diesem Punkt nicht. Schade, dass das Interview mit der Autorin Ingrid MüllerMünch erst im Jahr 2016 in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe 17./18. Dezember) abgedruckt wurde, denn darin wirbt sie für »Großzügigkeit und Gelassenheit«, sollte der Mann Aufgaben im Haushalt übernehmen. Frauen müssten halt akzeptieren, dass es dann auch so aussehe, als hätte sich ein Mann um den Haushalt gekümmert. Allerdings hätte auch das nur bedingt etwas genützt. Dass meine Frau einfach nicht »großzügig und gelassen« sein konnte, war ihr Problem und damit auch mein Problem. Mein Problem und damit auch ihr Problem war, dass ich während meiner ganzen Elternzeit und auch später noch erwartete, dass sie mich für alles Mögliche lobt. Sie lobte mich aber nie. Für das Putzen schon gar nicht, weil es in ihren Augen daran nichts Lobenswertes gab. Und auch nicht für den Umgang mit unseren Kindern. Und vor allem im Rückblick tat sie damit, ohne groß darüber nachzudenken, eigentlich das Beste, was sie hätte tun können: Sie sah es als vollkommen selbstverständlich an, dass ich mich ums Kind und um den Haushalt kümmerte. Und weil sie es als so selbstverständlich ansah, lobte sie mich auch nicht explizit dafür, wenn ich Staub saugte oder den Tag mit unserer Tochter und ab dem Nachmittag auch mit unserem Sohn verbrachte.

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Es gab auch immer wieder akute Probleme. Aus einem männlichen Stolz heraus hatte ich mir vorgenommen, meine Frau nicht ständig anzurufen und zu fragen, was ich wie machen müsse. Ich wollte wohl auch auf diese Art »beweisen«, dass ich alles allein schaffe. Nur ein einziges Mal in meiner Zeit als Vollzeitvater rief ich meine Frau an, weil ich nicht mehr weiterwusste. Folgendes war passiert: Ich stand in der Küche und freute mich darüber, dass sich meine Tochter im Kinderzimmer so wunderbar allein beschäftigte. Irgendwann kam sie angekrabbelt, und ich freute mich plötzlich gar nicht mehr. Denn sie hatte dunkelblaue Lippen. Bei näherer Betrachtung stellte ich entsetzt fest, dass sie nicht nur blaue Lippen und eine blaue Zunge hatte, sondern dass ihr gesamter Rachenraum blau war, als hätte sie ein Tintenfass ausgetrunken. Aber wo hatte sie das Tintenfass her? Und wie hatte sie es geöffnet? Leichte Panik ergriff mich, und die Panik verflüchtigte sich auch nicht, als ich feststellte, dass sie »nur« ein Stempelkissen ausgelutscht hatte, und so, wie sie aussah, schien es ihr gut geschmeckt zu haben. Das war der Moment, in dem ich wegen eines akuten Problems meine Frau bei der Arbeit anrief. Ich erreichte sie allerdings nicht. Also rief ich den Kinderarzt an, der mich an die Gift-Notzentrale weiterleitete. Die Dame am anderen Ende der Leitung gab Entwarnung. Tinte in einer geringen Dosis sei nicht gefährlich, sagte sie. (Trotzdem wurde das Stempelkissen aus dem Kinderzimmer verbannt.) Kurz vor Ende meiner Elternzeit fuhren wir nach Amrum, und diese zwei Wochen zeigten zum einen, wie sehr ich einerseits in meine Rolle reingewachsen war, zum anderen zeigten sie, dass ich noch immer nicht in der Lage war, diesen albernen Jetzt-lob-michdoch-endlich-mal-weil-ich-so-toll-bin-Modus abzuschalten. Abends musste ich mich in der Jugendherberge neben unsere Tochter legen, weil sie neben meiner Frau zunächst nicht einschlief. Vermutlich war es nicht günstig, dass ich im Raum war und unsere Tochter mich sah. Das typische Problem. Nur umgekehrt. Einen Tag später ging ich mit ihr auf dem Arm spazieren, und sie brüllte. Ich weiß nicht mehr, warum. Aber sie brüllte heftig. Ich machte mir inzwischen keine Gedanken mehr darüber. Ich wusste, dass sie manchmal brüllte und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie wieder aufhörte. Schließlich hatte ich mich ein ganzes Jahr fast

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jeden Tag von morgens bis abends und auch nachts um sie gekümmert. Und dann geschah das Nervigste, was in einer Väterelternzeit passieren kann. Etwa zwanzig Meter vor mir blieb eine Frau stehen. Zwischen sechzig und siebzig. Dazu muss man wissen: Gewisse Frauen jenseits der fünfzig verspüren den Drang, alles, was Babys machen, zu kommentieren. Ich ahnte Schreckliches und sprach ein Stoßgebet: »Bitte – sprich – mich – nicht – an!« Mein Gebet wurde allerdings nicht erhört. Vielleicht habe ich in solchen Dingen auch zu wenig Übung. (Ich meine im Gebetsprechen.) Sie sagte, als ich in Hörweite war, zu meiner Tochter und nicht etwa zu mir: »Na, ist Mama nicht da?« Statt meinem ersten Impuls nachzugeben und der Dame eine reinzuhauen, bin ich einfach grußlos an ihr vorbeigegangen. Warum hatte ich mich durch diesen Spruch derart angegriffen gefühlt? Ganz einfach: Diese Dame verkörperte das Gros der erwachsenen Bevölkerung, die auch im 21. Jahrhundert noch denkt: Das Baby brüllt, also fehlt die Mama, denn ein Papa kann so was ja nicht! Ich gehe davon aus, dass andere Männer eine solche Bemerkung entweder achselzuckend zur Kenntnis genommen oder gar zustimmend genickt hätten. In meinen Augen stellte dieser Spruch alles auf den Kopf, was ich in diesem Jahr mir, meiner Frau und auch einigen anderen gezeigt hatte: dass der Rollentausch funktioniert! Eine Sache funktionierte aber noch immer nicht und sollte auch lange Zeit nicht funktionieren: Auf Amrum stritten wir – meine Frau und ich – einmal etwas heftiger. Warum? Weil ich mal wieder beleidigt war. Ich wollte, dass sie mir »einfach so« anbietet, einen Nachmittag zu machen, was ich wollte. Quasi als Dank dafür, dass ich so ein toller Kerl war und mich so wahnsinnig toll um die Kinder gekümmert hatte. Als sie es nicht tat, stellte ich sie zur Rede. Voll peinlich. Und dann bekam ich meinen Nachmittag, ging allein spazieren und fand mich während des Spaziergangs einfach nur bekloppt. (Solche Szenen sollten sich noch einige Male wiederholen, und immer lag es an mir, dass wir uns zankten. Dass wir uns ständig wegen der »Ordnung« in den Haaren lagen … das lag wiederum auch an ihr.) An jener Episode lag es allerdings nicht, dass ich mich auf meinen beruflichen Wiedereinstieg zu freuen begann. Das geht nach

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einem Jahr, in dem man nur selten außer Reich- und Hörweite des Kindes gewesen ist, vermutlich auch vielen Müttern so. Nach den Sommerferien kam meine Tochter in die Kita, in der sich mein Sohn seit einem Jahr wohlfühlte, und da auch meine erste Mutterfreundin sich für diese Kita entschieden hatte, hielt die Freundschaft. Als ich Mitte September nach knapp 15 Monaten totaler Auszeit an einer Schule zehn Stunden als PKB-Stelle (Personalkostenbudgetierungsstelle = Krankenvertretung) zu unterrichten begann, war meine Elternzeit zu Ende. Aber zehn Stunden Unterricht – mehr hatte ich auch gar nicht gewollt – bedeuteten, dass ich in Teilzeit deutlich unter 50 % arbeitete. Ich versuchte mich weiterhin selbst zu verwirklichen und schrieb und schrieb und schrieb und kümmerte mich nachmittags um die Kinder, während meine Frau daran arbeitete, sich in der Firma zu etablieren. Irgendwann verfasste ich einen Artikel zum Thema Rollentausch, in dem die Elternzeit breiten Raum einnahm. Darin tat ich das, was wir Lehrer ständig von Schülern verlangen. Ich »reflektierte«. Und das ist in einem Absatz dabei herausgekommen: »Ich habe mich (…) sehr darüber gewundert, dass ich hin und wieder von älteren Frauen zu hören bekommen habe, dass ich jetzt mal sehe, was sie alles geleistet hätten. Tut mir leid, dass ich das nicht bestätigen kann. Also, so schwierig ist das alles nicht. Allein aus diesem Grund habe ich nie verstanden, weshalb es so eine Sensation sein soll, dass Männer das ›auch können‹. Genauso wie Frauen in der Lage sind, Konzerne zu führen, Schuldirektorin oder Bundeskanzlerin zu werden (Deutschland ist ja noch nicht untergegangen, obwohl eine Frau das Sagen hat), genauso sind Männer in der Lage, sich um Babys und dann um Kinder zu kümmern. Der gigantische Erfolg des Buchs Achtung, Baby, in dem ein Promi-Vater von allen möglichen Erfahrungen eines Teilzeitvaters erzählt, ist mir vor diesem Hintergrund noch immer ein absolutes Rätsel.«40 Ich bekam wegen dieses Absatzes eine böse Mail. Ob ich denn wenigstens bereit sei zuzugeben, dass ich eine Haushaltshilfe ge40 Den vollständigen Artikel finden Sie in Eltern 12/2011.

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habt habe. Nein, gab ich nicht zu. Denn eine solche Hilfe gönnten wir uns erst, als ich wieder anfing zu arbeiten. In meiner reinen Elternzeit hatte ich keine Hilfe gehabt, und unsere Eltern wohnten in Süddeutschland beziehungsweise in Norddeutschland, also in maximaler Distanz zu unserem Wohnort. Kein einziges Mal konnte ich unsere Tochter nachmittags wenigstens für eine Stunde bei »Oma und Opa abgeben«. (Ob ich aber zugab, dass meine Frau mit meinen Putzleistungen nie zufrieden war, weiß ich nicht.) Ein Bekannter, der meine Artikel immer mochte, mochte diesen Artikel nicht. Bei ihnen zu Hause war alles immer furchtbar stressig. Wie bei vielen anderen auch. Warum bloß? Weil das Kind manchmal schreit? Weil man nachts nicht durchschlafen kann? Weil man das Kind mal eine Stunde tragen muss? Weil es kleckert, was nervt, aber nicht stressig ist? Weil die Windel vollgekackt ist, was stinkt, aber ebenfalls nicht stressig ist? Meine Mutter sah diesen Artikel auch eher kritisch. Sie hatte, was sie ehrt, nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihr unser Geschrei oft auf die Nerven gegangen war und sie es auch manchmal langweilig gefunden hatte, zu Hause rumzusitzen. Aber damals gab es kaum eine Frau, die nach einem Jahr wieder begann zu arbeiten. Meistens blieb man jahrelang zu Hause. Mit dieser Perspektive wäre ich vielleicht ebenfalls weniger enthusiastisch gewesen. Ich bleibe dabei: Wenn das Kind nicht überdurchschnittlich häufig krank ist, dann ist es definitiv nicht anstrengend oder gar belastend, mit einem Baby tagein tagaus zu Hause zu sein. Erst recht nicht im Vergleich zu einem Fünfzig-Stunden-Job. Eine Mutter, mit der ich mich hin und wieder unterhielt, erzählte, dass ihr Mann (im Unternehmen) belächelt worden sei, als er fünf Monate in Elternzeit ging. Ich fragte: »Arbeitest du denn wieder?« Antwort: »Nein, ich bin auch zu Hause. Wir haben ja noch zwei größere Kinder. Inzwischen lächeln seine Kollegen übrigens nicht mehr. Denen hat mein Mann mal erzählt, wie das so ist mit einem Baby!« Beim besten Willen ist mir zu dieser Aussage nichts eingefallen. Alles, was ich dazu hätte sagen können, hätte arrogant geklungen. Warum kann man eigentlich nicht einfach zugeben, dass es Spaß bringt und dass man die Zeit genießt? Das ist wahrscheinlich so ein deutsches Phänomen: Immer muss alles schwer und anstren-

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gend sein. Niemand arbeitet gern, weil die Arbeit so stressig ist. Man versucht sich mit Stressgeschichten und den Stundenangaben der Wochenarbeitszeit gegenseitig zu überbieten, als gäbe es einen Orden für den gestresstesten Angestellten im Land. Wer es nicht glaubt, sollte mal einen Lehrer oder Lektor oder Journalisten fragen, wie viel er denn so pro Woche arbeite. (Mit all diesen Berufsgruppen habe ich eine ganze Menge zu tun.) Für mich gilt jedenfalls: Das Jahr Elternzeit war eines der entspanntesten und wundervollsten Jahre meines bisherigen Lebens. Das habe ich damals schon konkret so empfunden. Heute mit einigen Jahren Abstand sehe ich das noch immer so. Deshalb kann und will und muss ich einfach mit diesem Buch dafür werben, sich auf einen Rollentausch einzulassen. Man muss davor keine »Angst« haben. Eine solche »Angst« wird leider in den Medien mehr oder weniger unterschwellig geschürt: Auch in der Süddeutschen (Ausgabe 25./26. Februar 2017) stand in einem Artikel von Alexandra Borchardt, in dem es ganz generell um die Optionen geht, die Familien heute haben, Vollzeit-Väter ernteten in »Smalltalk-Runden (…) betretenes Schweigen.« Das kann ich beim besten Willen definitiv nicht bestätigen. Das Gegenteil ist oft der Fall. Man erntet wohlwollendes Staunen und dann kommen eben manchmal Unsinnskommentare à la »Das würde ich nie schaffen.« Aber »betretenes Schweigen«? Nein. Ich kann alle potenziellen Vollzeitväter beruhigen: So ist es nicht. Und basta!

Der Superpapa? Ich bin übrigens auch oft in die eher unangenehme Situation geraten, dass Mütter mich vor ihren Männern gewürdigt haben. Das klang dann meistens so: »Guck mal, Arne macht das doch auch alles.« Ich habe in solchen Fällen gesagt: »Na ja, aber meine Frau arbeitet auch von morgens bis abends.« Manche Väter wiederum sagten – wie gerade erwähnt – zu mir: »Toll, ich könnte das nicht.« Weil die Väter selbst wissen, dass das Quatsch ist – warum sollten sie das nicht können? – meinten sie vermutlich: »Ich kann das doch nicht besser als meine Frau.«

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Ich auch nicht. Darum geht es aber nicht. Väter sollten gar nicht von sich erwarten, es »besser« zu machen, als es die Mütter können. Männer machen das insgesamt gesehen definitiv nicht »besser«. Aber sie machen es eben auch nicht »schlechter«. Sie dürfen sich halt nur nicht von jedem eigenen Fehler aus der Ruhe bringen lassen. Stattdessen sollten sie Mütter beobachten. Denn Mütter machen auch Fehler oder verhalten sich manchmal ziemlich dumm. (Unvergessen die Caffe Latte trinkende, mit einer Freundin quatschende Mutti, die ihr zweijähriges Kind anbrüllte: »Wenn du jetzt nicht aufhörst zu schreien, sperre ich dich ins Auto!« Das fand ich schlicht dumm und falsch. Die Mutter hatte das Kind ja vollkommen ignoriert.) Aber meine ich das alles eigentlich ernst? Finde ich in Wahrheit nicht doch, dass ich der Superpapa bin, der das einfach viel besser kann als viele andere Männer, die Vater werden? Nein, finde ich nicht. Definitiv nicht. Ich selbst habe in einem Artikel zum Thema vorlesende Väter im Jahr 2010 geschrieben: »Ich halte mich keineswegs für die Super-Nanny unter allen Vätern, die beabsichtigt, mit erhobenem Zeigefinger irgendwelche moralischen Ich-Botschaften zu verschicken. Bei uns ist es nun einmal so, dass ich mich generell um die Kinder kümmere. Und das tue ich nicht aus irgendeiner genetischen Veranlagung heraus, sondern weil ich ein schlechtes Zweites Staatsexamen habe. (…) Als Vater tauge ich, das gebe ich zu, oft nur bedingt. Ich bin zum Beispiel auf furchterregende Weise ungeduldig. Wenn ein Kind stürzt und heult, sage ich: Steh auf, war nicht so schlimm!«41 Meine Ungeduld irritiert mich selbst fast genauso wie meine Kinder. Mein Sohn tut mir heute noch leid, weil er mit mir Fahrradfahren lernen musste … das arme Kind! Und von einigen banalen Dingen bin ich ganz grundsätzlich viel zu schnell genervt (und stöhne oder verdrehe die Augen). Zum Beispiel davon, wenn man in meiner Gegenwart die Nase hochzieht. (Machen Kinder oft.) Wenn 41 Süddeutsche vom 28.12.2010.

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man kleckert. (Machen Kinder noch mit zehn ständig.) Wenn sie beim Abräumen (was sie ungern tun), mit dem Geschirr klappern (was sie immer tun). Nein, ich habe viel falsch gemacht und mache noch immer viel falsch. Das gehört dazu. Für einige Fehler schäme ich mich. Mir ist bei beiden Kindern einmal die Hand ausgerutscht (nicht die Faust und auch nicht der Handrücken), und jedes Mal habe ich fast selbst geheult und es am folgenden Tag sofort den Erzieherinnen gebeichtet, die mich kannten und sagten, dass ich auch nur ein Mensch sei. Das ist alles ein Lernprozess. Auch für Frauen, denen das Stillen am Anfang hin und wieder genauso schwerfällt wie den Männern das Fläschchengeben. Einige Fehler sehe ich nicht mehr so eng. Ich habe meine Kinder zum Beispiel manchmal angeschnauzt. Das mache ich längst nicht mehr, aber vielleicht war es ja auch das eine oder andere Mal notwendig. Allerdings habe ich meine Kinder auch vor anderen Kindern angeschnauzt beziehungsweise die anderen Kinder gleich mitangeschnauzt. Unvergessen ist für mich einer der ätzendsten Tage in meinem Vaterleben. Folgendes ist passiert: Wir bekamen in Berlin Besuch aus Hamburg. Der Sohn des Chefs meiner Frau kam mit seinem Au-pair-Mädchen, und ich holte sie am Bahnhof ab. Da das Aupair-Mädchen nur mäßig Deutsch sprach und aus einer Kultur kam, in der man Männern nicht widerspricht, der Sohn wiederum aber nur auf die Au-pair hörte, nicht aber auf mich, ich aber derjenige war, der alles entscheiden sollte und musste, entstand großes Chaos. Plötzlich hörten weder mein Sohn noch das andere Kind mehr auf mich. Sie rannten wie zwei von der Leine gelassene Hunde um die Bushaltestelle in der Nähe des Schlosses Bellevue mitten im touristischen Zentrum Berlins herum und spielten Fangen. Schließlich drehte ich vollkommen durch. Meinen Sohn zerrte ich am Arm und schnauzte ihn an, was ihm einfalle, mir nicht zu gehorchen. Dem anderen Kind warf ich die giftigsten Blicke zu, die ich mir von meiner Tochter abgeguckt hatte, ich pöbelte und schnauzte und merkte nicht, wie ich mich und meinen Sohn blamierte. Meine Tochter im Kinderwagen heulte, das Au-pair-Mädchen schaute mich ängstlich an, und als ich in den Bus einstieg, ließ mich ein Mann vor und sagte: »Sonst schnauzen Sie auch noch mich an.«

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Ich bin vermutlich nicht das einzige Elternteil, das es nicht ausstehen kann, wenn man ihm in die Erziehung reinredet oder sie auch nur kommentiert. Und dieser Spruch war ein Kommentar! In diesem Fall war ich auch nicht besonders glücklich. Aber auch nicht wirklich sauer. Der Mann hatte ja recht. Zwei Stunden blieb ich ruhig. Als es uns nicht gelang, uns darauf zu einigen, wie und wo wir Mittag essen sollten – der andere Sohn antwortete auf meine Frage, was er essen wolle, stets mit »Pups-Kacka«, mein Sohn lachte darüber und kriegte sich gar nicht mehr ein, die Au-pair verstand nichts – drehte ich das zweite Mal durch. Den Rest des Tages schwiegen wir uns alle an, und als ich den anderen Jungen mitsamt Au-pair-Mädchen wieder am Bahnhof ablieferte, atmete ich durch. War ich an dem Tag überfordert? Ja, war ich! Hätte ich mir damals gewünscht, an irgendeiner Schule zu unterrichten, während sich meine Frau mit drei Kindern und einem Au-pair die Zeit vertreibt? Ja, hätte ich. Hätte es meine Frau besser gemacht an jenem Tag? Nein. Sie hätte es sogar viel besser gemacht. Zeigt diese Episode, dass ich als Vater nichts tauge? Nein. Sie zeigt, dass Väter genauso wie Mütter einfach mal einen schlechten Tag haben können. Vielleicht hatte ich in der Nacht zu wenig geschlafen. Stolz auf meine »Vaterleistung« war ich nicht, und noch immer ärgere ich mich darüber, wie wenig Gelassenheit ich zeigte. Aber auf einige Sachen bin ich tatsächlich stolz. In erster Linie darauf, dass ich meine Frau nicht ständig angerufen habe. Das habe ich während der Elternzeit (wegen der blauen Zunge) ein einziges Mal gemacht. Ich wollte meiner Frau das Gefühl geben, sie könne sich tagsüber auf ihre Arbeit konzentrieren und müsse sich keine Sorgen machen, dass ihr Mann das zu Hause nicht hinbekommt. Und diesen Eindruck hätte sie bekommen, wenn ich jeden Tag angerufen hätte. Vielleicht habe ich diesen Ehrgeiz entwickelt, weil ich mir bewusst war, dass ich eine Rolle übernommen hatte, die eigentlich ein klassisches Frauending war. Meine Freundin, die ich im PEKIP-Kurs kennengelernt hatte, fragte schon ziemlich bald, ob ich denn am Wochenende »komplett frei« nehme. Nein. Ich wollte aber drei Stunden am Stück ungestört schreiben (hat fast nie geklappt) und einmal laufen gehen (hat immer geklappt – oft habe ich den Kinderwagen mitgenommen). Dass ich

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in diesem Jahr meinen bislang einzigen Marathon42 gelaufen bin, ist aber wohl kein Zufall. Wer für einen Marathon trainiert, der muss schon vergleichsweise häufig laufen gehen. Ich hatte durchgehend eine gewisse Sehnsucht nach einer Auszeit, habe sie mir aber letztendlich nur selten genommen (und wenn ich es doch getan beziehungsweise darum gebettelt habe, kam ich mir anschließend albern vor). Vielleicht lag das auch daran, dass das Wochenende die einzige Zeit war und auch heute noch ist, in der wir wirklich etwas gemeinsam unternehmen können. Ich habe meiner Frau nie, wenn sie von der Arbeit kam, sofort die Kinder in die Hand gedrückt und selbst die Beine hochgelegt und Fußball geguckt. Ich habe auf den S-Bahnfahrten, sobald es möglich war, meinen Kindern Pixibücher vorgelesen. Ich glaube noch immer daran, dass es für Kinder besser ist, etwas vorgelesen zu bekommen als mit einem Daumen über das Display von Mamas iPhone zu wischen. Und ich glaube auch noch immer daran, dass es für ein Kind nicht förderlich ist, wenn man es sehr früh vor irgendein Video setzt und es auf diese Weise schon im Windelalter daran gewöhnt, dass man sich mit YouTube wunderbar ablenken lassen kann. Kein einziges Mal habe ich eines meiner Kinder vor einem Bildschirm geparkt, um es ruhigzustellen. Klingt angeberhaft und von gestern. Aber dann bin ich in diesem Punkt halt angeberhaft und von gestern. Fazit: Ich war und bin ein Vater mit Schwächen und Stärken. Und das wären 99 % aller anderen Väter auch, würden sie sich auf einen Rollentausch einlassen.

42 Mein Geheimziel lautete: Ich will den Marathon in 3:30 Stunden schaffen. Leider hatte ich mich vollkommen überschätzt, quälte mich ab Kilometer 23 nur noch und humpelte nach 4:23 Stunden ins Ziel.

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Zur Not gehen wir nach Wuppertal – unser zweites Berliner Jahr In Berlin arbeitete ich an einer Schule in Tempelhof. Die Schule schaffte es, meine zehn Unterrichtsstunden auf vier Tage zu legen, was fast schon ein Kunststück war. Das Berliner Schuljahr habe ich in exzellenter Erinnerung. In einem Grundkurs im 13. Jahrgang saßen nur sieben Schüler, von denen allerdings gleich vier ein Einserabitur ablegten. Auf so hohem Niveau hatte ich zuvor noch nie unterrichtet und habe es anschließend nie wieder getan. Für die Vorbereitung einer Doppelstunde brauchte ich länger als für die Vorbereitung eines ganzen Monats Anfängerunterrichts an meiner aktuellen Schule. Und es hat mich nicht gestört. (Allerdings hatte ich auch nur einen einzigen derartigen Kurs.) Jede Stunde lernten die Schüler etwas von mir – und ich von ihnen. Mit einer siebten Klasse zankte ich mich fürchterlich, dann sprachen wir lange miteinander, das Restschuljahr verging wie im Rausch, und am Ende überreichte mir die Klassensprecherin einen Fresskorb, Rotwein inklusive. Die Situation meiner Frau bereitete uns allerdings zunehmend Sorgen. Schließlich war sie inzwischen endgültig diejenige, von deren Einkommen wir dauerhaft zu leben beabsichtigten. Ihr Stipendium war zwar um ein weiteres Jahr verlängert worden, aber ob sie einen festen Vertrag bekommen würde, stand irgendwo in den Sternen. Sobald das Wort Einstellungsstopp im Unternehmen die Runde machte, war sie abends nicht mehr ansprechbar. Was sich (mal wieder) zeigte: Sie liebte ihre Arbeit. Sie wollte in einem Beruf arbeiten, der etwas mit ihrer Ausbildung zu tun hatte. Deshalb war die Aussicht darauf, irgendwann nicht mehr dieser Arbeit nachgehen zu können, für sie ein Graus. Jeder Tag, der verstrich, verschärfte das Gefühl der Unsicherheit. Da das Unternehmen über einen weiteren Firmensitz in Wuppertal verfügte, sagten wir uns in unserem zweiten Berliner Jahr: »Zur Not gehen wir halt nach Wuppertal!« Aber richtig ernst meinten wir das nicht. Tief in meinem Inneren glaubte ich an ihre Übernahme am Berliner Standort. Vor allem wollte ich das glauben. Denn ich wollte nicht weg aus Berlin. Ich

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hatte Hamburg nicht verlassen wollen, nun wollte ich in Berlin bleiben. Berlin war für uns ein Paradies. Innerhalb von 15 Minuten erreichten wir mit dem Fahrrad ein Dutzend Kinos. Während der Berlinale gelang es uns immer, an Tickets zu kommen, weshalb wir im zweiten Jahr frühzeitig eine Babysitterin eingewöhnten. Wir gingen hin und wieder ins Theater und in die Oper und wussten, dass die Kinder älter werden und wir schon in einigen Jahren Zeit haben würden, das gigantische Programm voll auszukosten. Das Kulturprogramm für Kinder war ebenfalls gigantisch: Mein Sohn war in Berlin vermutlich zwanzigmal in irgendeinem Kindertheater. Einige Stücke waren ab zwei – auch meine Tochter kam also frühzeitig in Kontakt mit dieser Art der Zerstreuung. Meine Joggingstrecke führte mich durch den Tiergarten am Brandenburger Tor und Kanzleramt vorbei, und zurück lief ich durchgehend an der Spree entlang. In die andere Richtung war mein Ziel das Schloss Charlottenburg inklusive weitläufiger Parkanlage. Herrlichere Großstadtjoggingstrecken kann es gar nicht geben. Was zu nerven begann, waren eher die Spielplatzgespräche. Die Kinder meiner Spielplatzclique sollten gemeinsam eingeschult werden. Was für ein Drama. Auf die Schule im Einzugsgebiet gingen sehr viele Schüler »mit Migrationshintergrund«. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir unsere »deutschen Kinder« einfach alle an der Schule anmelden sollten. Dann gäbe es schließlich eine starke deutsche Minderheit. Die anderen lachten. Es war gar nicht so, dass sie mich auslachten. Sie lachten, als hätte ich einen Witz erzählt. Am Ende wurde ein Kind extra getauft, damit es auf einer katholischen Schule angemeldet werden konnte. Es begann der Run auf Montessori-Schulen. Ein Paar zog sogar um, um in einem anderen Einzugsgebiet gemeldet zu sein. Und wir selbst zogen ganz weg. Letztendlich kam keines unserer deutschen Kinder auf die Schule im Einzugsgebiet. Mit meiner Freundin aus dem PEKIP-Kurs ging ich im zweiten Jahr wieder häufiger spazieren, denn nun gingen unsere Kinder in dieselbe Kita-Gruppe und wurden Freundinnen (so wie man sich in dem Alter halt befreundet). Mein Berliner Leben war in jener Zeit geprägt durch ein wenig Unterricht, Schreibeinheiten, die Kinder und deren Eltern. Ich hätte

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ewig so weiterleben und bis an mein Lebensende als Krankenvertretung arbeiten und Bücher schreiben können, die niemand verlegen wollte. Den Rollentausch lebte ich, und an meine Erfolglosigkeit hatte ich mich gewöhnt, ohne darüber glücklich zu sein. Und das bedeutet auch: Ich hatte mich daran gewöhnt, dass meine Frau die komplette Verantwortung für unser Einkommen übernommen hatte. Letztendlich hatte sie damit auch die Verantwortung dafür übernommen, welchen Urlaub wir uns leisten konnten und wie unsere zukünftigen Wohnungen aussehen würden. Ich befürchte, ich begann ganz bewusst, ein solches Leben zu genießen. War bequem! Und ich hatte weiterhin Glück: Die Kinder blieben gesund. Allerdings wusste ich noch nicht, wie elend ich mich fühlen sollte, wenn ich gar nichts verdiente. Und davon, wie schwer es werden würde, im Literaturbetrieb nicht unterzugehen, obwohl man mehrere Verlage hat, hatte ich keine Vorstellung. Das sollte erst noch kommen … Meine Frau lebte auch den Rollentausch. Aber daran, dass sich bei ihr der Erfolg nicht einstellen wollte, gewöhnte sie sich nicht. Und ihre Vorstellungen waren nie unrealistisch: Sie wollte einfach auf Grundlage eines angemessenen, branchenüblichen Arbeitsvertrags unbefristet eingestellt werden. Miniexkurs Meine Frau hatte mit diesem Kapitel und vor allem mit den vorigen Absätzen schwer zu kämpfen. Das lag daran, dass ihr nicht passte, wie ich mit dem Wort »Erfolg« umgehe. »Erfolg« sei relativ, schrieb sie an den Rand. Und sie sagte, dass die Arbeit, die sie im Rahmen ihres Stipendiums leistete, anspruchsvoll gewesen sei und sie zu keinem Zeitpunkt ihre Arbeit mit dem Begriff »Erfolg« auch nur in Verbindung gebracht hätte. Das war einfach das, wofür sie studiert hatte. In diesem Zusammenhang diskutierten wir auch darüber, inwiefern mein Berufsleben wirklich erfolglos war. Und ja, natürlich ist das alles relativ. Was bezeichnet man aber überhaupt als »Erfolg«? Eine Definition liefert wie immer Wikipedia (Abruf März 2017):

»Der Begriff Erfolg bezeichnet das Erreichen selbst gesetzter Ziele. Das gilt sowohl für einzelne Menschen als auch für Orga-

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nisationen. Bei Zielen kann es sich um eher sachliche bzw. materielle Ziele wie zum Beispiel Einkommen oder um emotionale bzw. immaterielle Ziele wie zum Beispiel Anerkennung handeln.« Genau. Was war aber ihr selbst gesetztes Ziel? Sie wollte unbedingt in ihrem Beruf arbeiten. Dieses Ziel hatte sie erreicht. Ein weiteres Ziel war: Mit damals über dreißig Jahren – also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Durchschnittslehrerin längst auf Lebenszeit verbeamtet worden ist – wollte sie einen festen, unbefristeten Vertrag angeboten bekommen, der ihrer langen Ausbildung gerecht wird. Zu dem Zeitpunkt bekam sie einen solchen Vertrag aber nicht. Und ich? Ich schrieb seit über zehn Jahren Bücher und hatte mehrere hundert Absagen bekommen. Mein selbst gesetztes Ziel war, veröffentlicht zu werden. Und ein weiteres Ziel, aus dem ich nie einen Hehl gemacht habe, war es, viele Bücher zu verkaufen und im Zweifelsfall davon leben zu können. Ich bekam aber weiterhin eine Absage nach der anderen. Und wie sieht es jetzt (im Jahr 2017) aus? Das ist durchaus interessant. Bücher von mir sind inzwischen veröffentlicht worden. Mehrere sogar. Damit habe ich ein Teilziel erreicht. Aber sie verkaufen sich nicht so, wie ich es mir wünschen würde. Wenn sich irgendwann von einem meiner Bücher aber zehntausend Exemplare absetzen ließen, dann wäre das in meinen Augen ein geradezu sensationeller Erfolg. Frank Schätzing wiederum würde in einem solchen Fall wahrscheinlich monatelang heulen, weil es für ihn und seinen Verlag ein Debakel wäre, verkauften sich »nur« zehntausend Exemplare. Erfolg ist in der Tat relativ. Und mein Erfolg in meinem erlernten Beruf? Auch Jahre nach meinem Referendariat erbarmte sich keine Schule, mich fest anzustellen. Ich bekam nur Krankenvertretungen. In Berlin bin ich bei gefühlt dreißig Grad im Schatten zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden. Der Direktor begrüßte mich mit den Worten: »Wir laden Sie nur ein, weil wir Sie einladen müssen. Die Noten sprechen ja gegen Sie. Aber na gut, dann erzählen Sie mal.« Mir wurde nicht mal ein Glas Wasser gereicht. Das war nicht nur ein Misserfolg, das war eine Demütigung, an die ich heute noch mit Grauen zurückdenke.

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Also: Egal, wie man »Erfolg« definiert. Ich war erfolglos in jener Zeit. Auch relativ gesehen. Meine Frau erntete zwar viel Anerkennung für ihre Arbeit. Aber ein wichtiger Aspekt fehlte, damit auch sie sich in Hinblick auf ihre eigenen Ziele »erfolgreich« fühlen konnte. Sie hatte keinen Arbeitsvertrag. Miniexkurs Ende Und dann wurde am Standort Wuppertal eine passende Stelle ausgeschrieben. Ich ertrug es zunehmend weniger, sie so unglücklich zu sehen, und eine Wahrheit war damals mit Sicherheit auch: Ich hatte eine diffuse Angst davor, dass möglicherweise ich für das Einkommen zuständig werden könnte. Ich stellte mir immer wieder die quälende Frage: Wie soll ich an meinen Büchern arbeiten und vom Durchbruch träumen, wenn ich gleichzeitig voll unterrichten muss? Antwort: Ich kann dann nur noch in den Ferien, in denen ich keinen Berg Klausuren korrigieren muss, und manchmal am Wochenende schreiben. Das hätte mir längst nicht gereicht. Ich erklärte daher sofort meine Bereitschaft, nach Wuppertal zu ziehen. Also bewarb sie sich und wurde, nachdem sie auf die Nachfrage, wie sie das denn mit den Kindern schaffe, erklärt hatte, dass der Vater sich um die Kinder kümmere, in leitender Funktion mit einem hohen, für solche Positionen üblichen Einstiegsgehalt eingestellt. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Bewerbung war unter anderem ihre Berufserfahrung, die sie als Postdoc in Hannover gesammelt hatte. Ich weiß noch genau, wie ich neben zwei Vätern, die ihre Söhne von der Kita abholten, auf einer Bank saß und sagte: »Wir ziehen nach Wuppertal.« Die fielen aus allen Wolken. Aber ich war seltsamerweise erleichtert. Auch – siehe oben – aus egoistischen Gründen. Allerdings betrachtete ich den Rollentausch längst nicht mehr nur als vor allem für mich – siehe wieder oben – angenehme Lösung, sondern als mein Leben. Mehr noch: Obwohl ich unter meinem Misserfolg als Autor litt, konnte ich mir ein anderes Leben kaum mehr vorstellen. Und dabei spielte der Ort keine Rolle. Das galt auch für meine Frau, was folgende Episode zeigt: Kurz bevor sie nach Wuppertal zog, um dort mit der Arbeit zu beginnen,

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rief eine Mutter an. Ich lächelte, als meine Frau in den Hörer sprach: »Ja, ja … warte kurz … ich geb dir mal meinen Mann.« Dann drückte sie mir den Hörer mit den Worten in die Hand: »Irgendeine Mutter.« Ja, es war tatsächlich so, dass ich derjenige war, der schon seit Langem die Kindernachmittagstermine organisierte. In Wuppertal sollte das ins Extreme gesteigert werden. Wir hatten ein wenig Angst, unserem Sohn zu erklären, dass wir Berlin verlassen würden. Dass sich die Eltern seiner besten KitaFreundin in jener Zeit trennten, war traurig, aber für uns wahrscheinlich sogar eine Hilfe. Denn er war soooooo glücklich, dass wir gemeinsam umziehen würden. Vier Monate blieb ich mit den Kindern zunächst allein in Berlin. Meine Tochter war an dem Tag, als meine Frau ging, noch keine zwei Jahre alt. (Wurde es aber wenige Tage später.) Auch diesen Moment werde ich nie vergessen. Wir begleiteten meine Frau ein Stück zum Bahnhof und blieben noch eine Stunde gemeinsam auf einem Spielplatz gleich beim Schloss Bellevue. Andere Eltern waren auch da. Dann gab meine Frau mir und den Kindern einen Kuss, die Kinder sagten »Tschüss, Mama«, guckten, ob ich noch auf meiner Bank saß, und spielten weiter. Einige von den anderen Eltern sagten, dass ihre Kinder durchgedreht wären. Ja, wären sie. Aber wahrscheinlich nicht, wenn der voll berufstätige Vater auf solche Weise Abschied genommen hätte und die Kinder bei der Mutter geblieben wären. Auch unsere Kinder blieben mit demjenigen in Berlin, der sich sowieso die meiste Zeit um sie kümmerte. Den zweiten Geburtstag meiner Tochter feierten wir ohne meine Frau. Es kam meine Freundin mit ihrer Tochter und noch ein weiteres Kind mit Mutter (und Vater, glaube ich). Wenn meine Frau das jetzt liest – und sie liest das Buch, bevor es gedruckt wird – bekommt sie wahrscheinlich einen Schreck: Aber ich mochte diese Zeit.43 Obwohl sie mir nur selten in die Erziehung reingeredet hatte, fand ich es doch angenehm, so aufräumen zu können, wie ich es für richtig hielt. Und vielleicht ist das jetzt wieder ein Unterschied zur traditionellen Ehe: Ich war in jenen Monaten besonders stolz 43 Als sie diesen Absatz las, saß sie gerade neben mir auf dem Sofa. Kommentar: »Warum soll ich einen Schreck bekommen? Das wusste ich schon immer!«

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auf mich und auf uns und auf die Kinder und auf meine Frau. Es klappte einfach. Keine Kinderdepression. Kein Geheul. Wenn Mama anrief, wurde natürlich aufgeregt erzählt, aber es war nicht so, dass die Kinder zu Hause gesessen und sich die Augen ausgeweint und ständig nach der Mama gefragt hätten. Und sie gab mir nicht am Telefon Anweisungen, was ich wann wie mit den Kindern zu erledigen hätte. Und ich schloss aus, dass sie ihre neuen Arbeitgeber enttäuschen oder dass ihr etwas zu viel werden könnte. Die Schule hätte mich noch ein Jahr länger beschäftigt, und auch das war ein gutes Gefühl: Ich, der immer nur den Jobs (und den Verlagen) hatte hinterherbetteln müssen, lehnte ein Angebot ab. Meine Frau wohnte zunächst bei ihrer Tante und suchte uns eine Wohnung in der Nähe ihrer Arbeitsstelle. Ich selbst kannte Wuppertal nicht. Gar nicht. Nicht mal von der Schwebebahn, von der mir alle erzählten, hatte ich etwas gehört. Nur der Name Pina Bausch sagte mir etwas. Sie starb, bevor auch ich mit den Kindern nach Wuppertal zog. So kam ich irgendwann zum ersten Mal in Wuppertal auf dem hässlichsten Bahnhof Deutschlands (der gerade renoviert wird) an und dachte: »O Mann … hier soll ich bald leben?« Den Kindern war es natürlich egal. Ob sie an einem hübschen oder eben hässlichen Bahnhof ankamen, interessierte sie nicht. Sie waren froh, dass sie am Wochenende wieder bei Mama sein konnten. Dann zogen wir endgültig nach Wuppertal in eine geräumige Altbauwohnung mit riesigem Garten. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Wuppertal erwarten würde. Waren die Menschen anders als in Berlin und Hamburg? Würde ich viele Mütter kennenlernen? Fände ich bald Arbeit? Und endlich einen Verlag? Das Leben in Wuppertal, so viel war mir klar, würde unseren Rollentausch endgültig zementieren. Meine Frau hatte kein befristetes Stipendium, sondern einen Arbeitsvertrag für eine gut bezahlte Stelle in leitender Funktion in einem riesigen Unternehmen. Nun war sie eine »Karrierefrau«. Fand ich damals. Aber was ist das überhaupt, eine »Karrierefrau«? Und wie stehe ich heute dazu?

Was ist das eigentlich, eine Karrierefrau?

Im Rahmen dieses Buches habe ich mich immer wieder mit diesem Begriff befasst und zwischendurch auch konkret nach Definitionen gesucht. Unter anderem habe ich folgende gefunden: Definition 1 (eine Definition, die man findet, sobald man den Begriff in eine Suchmaschine eingibt) »Karrierefrau, die; Eine Frau, die Karriere macht oder gemacht hat, im Beruf außerordentlich erfolgreich ist und Anerkennung findet. Der Begriff Karrierefrau ist nicht nur positiv behaftet, ihr wird oft vorgeworfen, dass sie ihr Privatleben rücksichtslos dem beruflichen Aufstieg unterordnet. Eine Karrierefrau zeichnet sich dadurch aus, dass sie kontinuierlich und erfolgreich einen bestimmten beruflichen Werdegang verfolgt. Sie besticht durch Wissen, Fähigkeit, Erfahrung und Ansehen, kann sich problemlos mit Männern gleichen Ranges messen und strebt nach Höherem. Engagement, ein hohes Maß an Durchhaltevermögen, Kompetenz und Zielstrebigkeit muss eine Karrierefrau besitzen, um auch langfristig erfolgreich zu sein. Die Karrierefrau gehört nicht der Gruppe der durchschnittlichen Erwerbstätigen an, welche ein durchschnittliches Gehalt bezieht und zufrieden mit Job und Position ist.«44 Definition 2 »Sie leiten Betriebe, managen Firmen, sitzen in der Politik und in Unternehmensvorständen: Erfolgreiche Frauen sind klug und wissen, was sie wollen. Doch in der Liebe herrscht oft Flaute. 44 http://www.frau-macht-karriere.com/karrierefrauen-biografien-und-erfolgsgeschichten/karrierefrau-begriffsdefinition/932

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Macht Erfolg nur Männer sexy? Nein, glauben Experten. Allerdings ist für erfolgreiche Frauen die Auswahl geringer – denn sie suchen gleichwertige Partner.«45 Definition 3 (duden.de) »Worttrennung: Kar|ri|e|re|frau Bedeutungsübersicht ȤȤ Frau, die dabei ist, Karriere zu machen, bzw. die eine wichtige berufliche Stellung errungen hat ȤȤ (oft abwertend) Frau, die ohne Rücksicht auf ihr Privatleben, ihre Familie ihren Aufstieg erkämpft [hat]« Kommentar des Autors zur Duden-Definition: Die abwertende Definition stimmt nicht. Eine Mutter, die keine Rücksicht auf ihre Familie nimmt (eine »Rabenmutter«), ist eine Mutter, die in Gegenwart ihrer Kinder ständig telefoniert, WhatsApp-Nachrichten schreibt und liest, die Kinder schon morgens vor die Glotze setzt, in ihrer Gegenwart raucht, sie schlägt usw. Und sollte wer auch immer wirklich der Meinung sein, dass arbeitende Mütter Rabenmütter sind, müssten im Umkehrschluss arbeitende Väter auch Rabenväter sein. Allerdings käme niemand auf die Idee, einen Vollzeit arbeitenden Vater als Rabenvater zu bezeichnen. Dieser hässliche Begriff wird nur für Frauen benutzt, auch die OECD bestätigt das in der bereits erwähnten Studie (auf Seite 144): »Auch wenn in der deutschen Öffentlichkeit eine wachsende Akzeptanz berufstätiger Mütter festzustellen ist (…), haftet noch immer ein soziales Stigma an vollzeiterwerbstätigen Müttern, (die abwertend als Rabenmutter bezeichnet werden).« Bleibt zu hoffen, dass wir bald einen grundsätzlichen Sinneswandel erleben und der Begriff Rabenmutter nur noch in Soziologiebüchern auftaucht. Und dort im Geschichtsteil. 45 https://www.welt.de/wissenschaft/article2248631/Karrierefrau-auf-verzweifelter-Partnersuche.html

Zur Not gehen wir nach Wuppertal – unser zweites Berliner Jahr 105

Meinungen von »betroffenen«46 Frauen »Für mich hat der Begriff Karrierefrau etwas ganz Negatives. Über einen Mann würde man nie Karrieremann sagen. Es ist dann einfach ein Mann, der viel und erfolgreich arbeitet. Bei einer Karrierefrau denke ich an eine Person, der es ausschließlich um eine ›mächtige‹ Position geht. Alle anderen Themen fallen über den Rand. Ich denke aber, dass es eigentlich keiner Frau so geht, denn die meisten wünschen sich eine Beziehung, viele davon dann auch eine Familie. Gibt es Karrierefrauen also überhaupt? […] Karriere machen – das ist für jeden was anderes. Ich glaube auch nicht, dass man es sich wirklich aussuchen kann. Bei mir gehört durchaus dazu, dass ich Geld verdienen muss. Ich kenne so viele Familien, in denen das Gehalt von einem/r nicht mehr für alle reicht. Und ich kenne auch Leute, die in Konzernen tätig sind und die das Spiel der Konzerne mitspielen müssen – da muss man alle paar Jahre eine höhere Position anstreben, sonst ist man ganz raus. Will man ja auch nicht. Am besten fände ich, wenn Konzerne und mittelständische Unternehmen es einsehen würden, dass wir alle in Teilzeit besser fahren würden. Momentan ist es doch so, dass entweder »ganz und gar nicht« gespielt wird (einer arbeitet sich doof, einer gibt sich beruflich auf und kümmert sich um Haus und Kinder) oder dass beide ein wenig von ihrer Arbeitszeit abzwacken und dann zum Kita- oder Schulschluss loswetzen und immer zu spät sind. Ich finde, alle sollten auf 60 bis 80 Prozent arbeiten – und die entstandenen »Lücken« am Arbeitsplatz werden mit zusätzlichen Arbeitern in Teilzeit aufgefüllt. Verteilung! Dann machen sich die einen nicht tot. Und mehr haben ein bisschen Arbeit. Kostet halt mehr, klar. Und ein bisschen simpel gedacht, auch klar.« Dorthe Hansen, Redakteurin bei BARBARA

»Als Karrierefrau betrachte ich eine Frau, die sich beruflich frei entfalten kann. Einen ›Karrieremann‹ gibt es bezeichnenderweise 46 »Betroffen«, weil diese Frauen durchaus das sind, was man unter »Karrierefrauen« versteht. Aber sie selbst sehen sich ganz anders …

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nicht, weil der Karrieremann die Norm ist. Karriere verstehe ich eher wie das englische ›Career‹, also als Laufbahn oder berufliche Entwicklung, weniger als einen Aufstieg in Hierarchien.« Dr. Alexandra Borchardt, Chefin vom Dienst bei der Süddeutschen Zeitung

»Erst mal müsste man ja definieren: Was ist eine Karriere? Versuch: die erfolgreiche Tätigkeit in einem ausgeübten Beruf, die den Aufstieg in verantwortungsvolle Positionen möglich macht. Dann wäre zu klären, was eine Frau ist. Und solange die Antwort nicht heißt: hilfloses Geschöpf, das vom Mann umsorgt, behütet und auf Händen getragen wird, wäre eine Karrierefrau dann ›dasselbe‹ wie ein Karrieremann. Nämlich ein (zufällig weibliches) Wesen, das ›Karriere‹ macht/gemacht hat. Mindestens ist der Begriff hoffentlich veraltet und stammt aus einer Zeit, in der Frauen Karrieren schon deshalb nicht machten, weil sie dafür nicht berufstätig genug waren.« Dr. Ulrike Gießmann-Bindewald, Bereichsleitung Schule und Bildung im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht

Abschließen wollte ich dieses Kapitel mit der Definition eines Mannes. Genauer: mit meiner Definition. Allerdings bin ich inzwischen davon überzeugt, dass die zitierten Damen, die eine tiefe Abneigung gegen diesen Begriff zu hegen scheinen, absolut recht haben. Bezeichnenderweise fand meine Frau dieses Kapitel vollkommen bekloppt und wollte daran nicht mitwirken, weil sie den Begriff »Karrierefrau« ebenfalls lächerlich findet. Deshalb ist es vergleichsweise kurz geworden. Letztendlich sollte es ein gesellschaftliches und politisches Ziel sein, dass es als vollkommen normal empfunden wird, dass auch Mütter arbeiten und das Geld verdienen, während sich die Väter um die Kinder kümmern. Diese Mütter sind dann weder Rabenmütter noch Karrierefrauen. Genauso wenig wie voll berufstätige Väter momentan als Rabenväter bezeichnet werden oder das Etikett Karrieremann verliehen bekommen. Deshalb rufe ich an dieser Stelle dazu auf, die Begriffe »Rabenmutter« und »Karrierefrau« aus dem deutschen Wortschatz zu verbannen.

Wuppertal: Die Zementierung eines Lebensmodells

Startschwierigkeiten … … die ich hatte, während meine Frau in Wuppertal richtig aufblühte. Sie wurde von ihren Vorgesetzten geschätzt – der einjährige Probevertrag wurde schon früh in einen unbefristeten Vertrag umgewandelt – und in der neuen Position sah sie eine Herausforderung. Auf meine konkrete Nachfrage, wie ihr Arbeitstag denn so aussehe, schrieb sie Folgendes:  

7:50 mit Bus oder Fahrrad zur Arbeit fahren 8:15 Rechner einschalten, E-Mails lesen, nach Priorität sortieren, auf sehr dringende Anfragen sofort antworten 8:45 tägliche Morgenbesprechung, Aufgabenverteilung in den Teams 9:00 Arbeit an Projekt »X« 10:00 Abteilungsbesprechung 11:00 Weiterarbeit an Projekt »X« 12:00 Mittagspause mit Kollegen in der Kantine und Spaziergang auf dem Campus 13:00 Teambesprechung (eigentlich bis 14:30) 14:00 gehetzt in die nächste Besprechung zu Projekt »X« im Gebäude gegenüber 15:00 Weiterarbeit an Projekt »X«, zwischendurch Unterbrechungen und Problemlösung mit Team 16:00 Planung eines neuen Projekts: Kick-off-Meeting für P ­ rojekt »Z«: Telefonkonferenz mit Kollegen in den USA (Westküste), daher Beginn erst spät am Nachmittag 18:30 Mails lesen, nach Hause 20:00 nach dem Abendessen letztes Mal Mails checken, dann Dienstsmartphone ausschalten, Feierabend!

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Zwischendurch: Mails lesen, mit Kollegen kleine Probleme lösen, gemeinsam auf Dokumente, Analysen oder Mails schauen, diskutieren, neue Vorschläge ausarbeiten, sich abstimmen, viele Telefonate führen So sehen ihre Arbeitstage momentan aus, Grundsätzliches hat sich in den letzten Jahren nicht geändert. Dass sie ihr neues Leben unglaublich spannend fand, wird niemanden verwundern. Bei mir war das anders. Während sie aufblühte, verwelkte ich, denn: 1. Ab Mitte Juli war ich arbeitslos. Krankenvertretungen in Wuppertal gab es zunächst nicht. Während ich also nichts verdiente, ging meine Frau zwei- oder dreimal mit einem Kollegen aus. Ich blieb zu Hause und brachte die Kinder ins Bett. Vielleicht war ich in jener Zeit zum einzigen Mal überhaupt eifersüchtig. Nicht so sehr, weil ich befürchtete, im Leben meiner Frau gäbe es einen anderen Mann. Sondern weil ich mir im Vergleich zu ihren Kollegen wie ein Loser vorkam. 2. Mit den Behörden in Nordrhein-Westfalen führte ich einen Behördenkrieg, der an Absurdität nicht zu übertreffen war. Ich sollte wieder alles Mögliche ein- und nachreichen; mein zweitens Staatsexamenszeugnis wurde nicht anerkannt, weil darauf nur eine glatte, nicht aber die Kommanote eingetragen war, weshalb ich in Schleswig-Holstein offiziell ein Zeugnis mit Kommanote beantragen musste; meine Unterrichtszeiten in anderen Bundesländern wurden zum Teil nicht angerechnet … Es war zum Heulen und zeigte, dass man als Lehrer für Flexibilität nicht etwa belohnt wird, sondern die Höchststrafe erhält. 3. In Wuppertal fühlte ich mich zunächst nicht wohl. Die schönen Ecken fand ich nicht. Es schmerzte mich, dass das Schauspielhaus seine Pforten in dem Jahr dicht machte, in dem Pina Bausch starb. Theater wurde im Foyer des Schauspielhauses gespielt und manchmal im Opernhaus. 4. Die Kinder gingen in die Kita, und der Weg dahin war unangenehm. (Meine Tochter war noch ein Kinderwagenkind.) Wir mussten erst mit dem Bus und dann weiter mit der Schwebebahn fahren. Der Winter 2009/2010 war ein eigentlich toller Schneewinter. Aber wenn man einen langen Weg zur Kita hat, kann

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man Schneemassen nicht so recht genießen. Und dann fiel die Schwebebahn aus. Fünf Monate lang! Das war für uns der Supergau. Ich erinnere mich noch, wie ich eine SMS von meiner Frau mit folgendem Wortlaut bekam: »Schwebebahn fällt fünf Monate aus. Auto kaufen?« Sie überließ mir die Entscheidung, und ich kämpfte mich weiterhin ohne Auto durch den Winter. Aber jeden Tag dachte ich: Bin ich eigentlich noch ganz dicht? Oft war es einfach nur anstrengend und ätzend, weshalb ich stöhnte und ächzte. Aber mit meiner Frau wollte ich trotzdem nicht mehr tauschen. (Ich erinnere mich nicht daran, so gedacht zu haben. Auch dann nicht, wenn der Kinderwagen mal wieder in einer Schneewehe feststeckte.) 5. Die Krankenvertretungsstelle, die ich dann doch fand, war eine Dreimonatsstelle. Solche Kurzdeputate sind eher quälend, weil man sich so schnell nun auch wieder nicht einleben kann. Ein halbes Jahr, besser ein ganzes Schuljahr sollte es schon sein. Immerhin waren die Schüler genauso lustig wie die Schüler an all meinen anderen Schulen. So sagte nach meiner Vorstellung eine Schülerin zu mir: »Sie haben in Hamburg und Berlin gewohnt und jetzt kommen Sie nach Wuppertal? Was für ein Abstieg.« 6. Ja … wir waren, ohne es wirklich gemerkt zu haben, so eine Art »Weltbürger« geworden. Aber wie hätten wir das auch merken sollen? In Berlin haben wir viele Nichtberliner kennengelernt, und in Hamburg war auch nicht jeder ein Hamburger, mit dem man sich unterhielt. Tübingen war eine klassische Studentenstadt gewesen. In Wuppertal war alles anders. Eine Mutter fragte mich schon in den ersten Wochen: »Ich war noch nie in Berlin. Kann man da überhaupt leben?« Oha. Das tat weh, weil ich eigentlich am liebsten nach Berlin zurückgekehrt wäre, und zwar weil man dort so gut leben konnte. Ich lernte nach und nach immer wieder Wuppertaler kennen, die in Wuppertal geboren wurden und zur Schule gegangen waren und die nun ihre Kinder an denselben Schulen einschulten. Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass daran nichts, aber auch gar nichts Bäuerliches ist und jemand mit einem solchen Lebenslauf trotzdem ein spannender Mensch sein kann. Und ein liebenswürdiger sowieso. Es war tatsächlich so eine Art Erkenntnis: Wir waren diejenigen, die nicht normal

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waren … und dass das so war, lag nicht nur am Rollentausch, sondern auch an unseren zahlreichen Umzügen. 7. Meinen aktuellsten Roman Auszeit bot die Agentur nicht an. Zumindest verriet sie mir nicht, an welche Verlage sie das Buch geschickt hatte. Damit war das Buch tot. Ich selbst wollte das Buch nicht anbieten, falls meine Agentur es vorher schon angeboten hätte. Damit hätte ich mich ja bloß lächerlich gemacht. Deshalb bot ich den Roman auch nicht an. Und trennte mich von der Agentur. Mein Start war extrem missglückt und mit vielen Frustrationen verbunden – dass es den Kindern und meiner Frau gut ging, half ein bisschen.

Rollentausch in Wuppertal Im Frühjahr 2010 stand unser Nachbar vor der Tür. Ob ich Interesse daran hätte, an einem Berufskolleg vier Stunden zu unterrichten. Ich nickte und war glücklich, obwohl vier Stunden nur eine 16 %-Stelle sind. Für mich war das, nachdem die Stelle am Gymnasium nach drei Monaten ausgelaufen war, ein beruhigendes Gefühl, wieder einen Fuß in der Tür zu haben. Aus den vier Stunden wurden sechs, aus den sechs Stunden wurden zwölf, und als ich im Jahr 2011 einen Jahresvertrag bekam, jubelte ich zur Verblüffung aller. Für mich war ein Jahresvertrag nichts anderes als eine Sensation. Ein Jahr später wurde ich dann vorübergehend verbeamtet. (Wie das endete? Steht im Kapitel Hätte noch immer alles anders kommen können?) Beruflich hatte ich plötzlich ein Standbein. Aber mehr als 50 % (nämlich 55 %) unterrichtete ich nur in einem einzigen Schuljahr. Anschließend ruderte ich wieder zurück. Da man als Lehrer an einer staatlichen Schule nicht nur das Recht auf Reduzierung, sondern auch auf Ausübung eines vollen Deputats hat, wäre ich zum ersten Mal in der Lage gewesen, unsere Familie mit meinem Gehalt über Wasser zu halten. Aber ich dachte gar nicht daran, und meine Frau wäre vermutlich heillos irritiert gewesen, hätte ich gesagt, sie solle nun reduzieren, nachmittags den Alltag der Kinder organisieren und mich arbeiten lassen.

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Unser Rollentauschalltag begann täglich am Frühstückstisch. Ich deckte und machte Kaffee. Meine Frau fragte oft, bevor sie ging: »Muss ich heute etwas tun?« Sie weiß erst, wenn sie diese Sätze lesen wird, wie sehr ich mich jedes Mal über diese Frage gefreut habe. Das bedeutete für mich jeden Tag aufs Neue: »Ich weiß, dass du alles in Griff hast. Aber muss ich irgendwann irgendwo ein Kind abholen?« Fast immer lautete die Antwort: »Nein.« Damit habe ich sie übrigens auch manchmal genervt. Zum Beispiel hatte ich, als die Kinder noch recht klein waren, einen für mich seltenen Nachmittagstermin und es war mir einfach nicht gelungen, irgendetwas zu organisieren. Die Freundinnen und Freunde der Kinder waren alle verplant, der Babysitter konnte nicht, und dann fragte ich fast schon schüchtern, ob sie nicht Zeit habe. Antwort: »Hä? … ich nehme mir die Zeit. Ich bin schließlich die Mutter!« Meine Frau ging nach dem Frühstück zur Arbeit, ich brachte die Kinder in die Kita bzw. Schule, setzte mich anschließend an den Schreibtisch und schrieb oder fuhr zur Schule. Bevor wir uns eine Haushaltshilfe gönnten, putzte ich zum dauerhaften Missvergnügen meiner Frau auch noch, mehr schlecht als recht – aber ich tat es.47 Je nach Stundenplan musste meine Frau ein- oder zweimal die Woche die Kinder bringen. Sie abholen und am Nachmittag bespaßen musste sie praktisch nie. Ich war in der Regel auch derjenige, der zu Hause blieb, wenn die Kinder krank waren. Glücklicherweise waren sie nur selten krank. Nicht mehr als zwei Tage pro Schuljahr. Und so krank, dass ich sie nicht wenigstens mit in die Schule nehmen konnte, waren sie praktisch nie. (Zwischen 2009 und 2015 blieb aber auch meine Frau mindestens zweimal zu Hause.)

47 Auf meine »Wäscheregel« ließ sie sich übrigens ein. Mein Vorschlag lautete: Wäsche nur zusammenlegen, während wir Fußball gucken! Dazu muss man wissen, dass ich nur Spiele in der Champions League ohne Bayern MünchenBeteiligung gucke sowie Länderspiele, bei denen es um etwas geht. Und inzwischen habe ich es mir ganz abgewöhnt, weshalb manchmal drei Körbe nicht zusammengelegter Wäsche bei uns herumstehen. Das hat meine Frau komischerweise aber ohne zu murren akzeptiert.

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Die Nachmittage ähnelten sich: Oft brachte ich den Sohn zum Freund, die Tochter zur Freundin, oder die Freundin und der Freund kamen zu uns und ich kochte für alle, (fast) immer Nudeln. Nebenbei hatten die Kinder feste Termine (die im Laufe der Zeit immer mehr geworden sind). Mein Sohn besuchte Schwimmkurse, meine Tochter ging zum Turnen, und während das eine Kind sich in irgendeiner Halle austobte, saß ich mit dem anderen Kind immer dabei oder in einem Café in der Nähe. Dann begann mein Sohn mit Tae-Kwon-Do, was für mich fast schon rührend war. Ich selbst habe dreizehn Jahre lang Tae-Kwon-Do gemacht, und zehn von diesen dreizehn Jahren war es mein Leben gewesen. Nun hüpfte mein sechsjähriger Sohn im Tae-Kwon-Do-Anzug durch die Halle. Nebenbei entdeckte ich gemeinsam mit den Kindern Wuppertal, und es geschah das, was ich noch kurz zuvor ausgeschlossen hatte: Ich begann mich in diese unterschätzte Stadt zu verlieben. Vor allem in die Menschen, die im Vergleich zu den Hamburgern und Berlinern auf fast unnatürliche Weise natürlich waren. So waren unsere Kinder in reinen Multikulti-Kitas und später in einer MultikultiGrundschule. In den Einrichtungen gab es nicht nur türkische, arabische und deutsch-russische und deutsch-deutsche Kinder, sondern die Kinder kamen sowohl aus sozial schwachen als auch aus einkommensstarken Familien. Das deutsch-deutsche Professorenkind saß neben dem kroatischstämmigen Kind einer Alleinerziehenden. Und es klappte ganz wunderbar und niemand störte sich daran. In Wuppertal selbst wurde ich Stammkunde der Buchhandlung von Mackensen im Elberfelder Luisenviertel, und meine Kinder wurden dort regelrecht adoptiert. Sie schlurften wie selbstverständlich in die Buchhandlung. Meine Tochter zog früher als erstes ihre Schuhe aus, als wenn sie dort wirklich zu Hause wäre. Im Luisenviertel selbst gibt es abgesehen von dieser wunderbaren Buchhandlung viele spannende Läden und Cafés, und irgendwann merkte ich, dass man von uns aus bequem zu Fuß in dieses Viertel gehen konnte. Ich kaufte mir einen Hackenporsche (so ein Ding, das vor allem ältere Leute hinter sich herziehen), und einige Jahre lang war ich, den Hackenporsche hinter mir herziehend und zwei Kinder im Schlepptau, eine der meist gesehenen Personen im Viertel. Das ging so weit, dass ich in irgendeinem Supermarkt von einer mir unbekannten Per-

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son gefragt worden bin, wo denn die Kinder seien – und eine Mutter, die ich traf, fragte mich schüchtern, ob es eigentlich »dazu auch eine Frau« gäbe. Wahrscheinlich habe ich nicht nur auf sie wie ein alleinerziehender Vater gewirkt. Und dann brach der Abend an. Wenn meine Frau später als sieben von der Arbeit kam, rief sie an. Kam aber nur selten vor. Noch seltener kam sie früher als sechs. Damit meine ich: Alle zwei Monate einmal. In der Regel wurde sie dann von den Kindern mit den Worten begrüßt: »Was machst du denn schon hier?« Und von mir: »Also … Essen steht aber noch nicht auf den Tisch.« Ich glaube, diese Art der »Freude« über ihr frühes Kommen setzte ihr tatsächlich so sehr zu, dass sie es bewusst vermied, früher als sechs zu kommen. (Zumal wir selbst Punkt sechs »früh« fanden, wenn auch nicht »sehr früh« beziehungsweise »zu früh«.) Neulich saß sie allerdings schon um halb sechs auf dem Balkon. Ich war so verwirrt, dass ich vorsichtig fragte, was los sei. (Solche Fragen hasst sie, weil sie immer den Eindruck bekommt, sie sei unerwünscht.) Sie sagte, dass alle schon früh gegangen seien, sie sei eh die Letzte gewesen, und dann sei sie halt auch gegangen. Immerhin gelang es mir, mich für sie zu freuen. Aber auf Dauer hätte ich damit wahrscheinlich – das ist jetzt echt peinlich – Probleme, weil ich mich einfach extrem daran gewöhnt habe, erst zu sechs Uhr das Gröbste aufzuräumen. An den Wochenenden entdeckten wir alle gemeinsam Wuppertal und Umgebung, und zum Glück bietet Wuppertal eine Vielfalt an Ausgehmöglichkeiten: Es gibt ein Marionettentheater, das auch in Berlin und Hamburg zu den besten gehören würde. Das Kinderund Jugendtheater spielt das ganze Jahr hindurch, das Weihnachtsstück ist ein Renner. Dank meiner Kinder haben wir unzähligen Aufführungen beiwohnen dürfen. Das Von-der-Heydt-Museum erfreut sich eines exzellenten Rufs und bietet alle möglichen Kurse für Kinder an. Und die Junioruni lockt Kinder und Jugendliche zu Kursen über jedes nur erdenkliche Thema. Hinzu kommt, dass sich Wuppertal für Ausflüge in alle Richtungen anbietet. So entdeckten wir als Familie das Bergische Land. Radtouren können wir, seitdem die Nordbahntrasse – eine ehemalige Bahnlinie – endgültig zu einem Radweg umgebaut worden ist, vor

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der Haustür starten. Inzwischen kann ich mir das vorstellen, was ich in den Monaten nach meiner Ankunft vollkommen ausgeschlossen habe: in Wuppertal zu bleiben! Wuppertal mitsamt Region war und ist noch immer eine Entdeckung, die wir als Familie ohne Rollentausch nie gemacht hätten. Denn ohne Rollentausch würden wir noch immer in Hamburg leben. Dann wären wir nicht mal nach Berlin gegangen. Wenn wir uns von Beginn an auf meinen beruflichen Werdegang konzentriert hätten, hätten wir auf eine Stelle in Hamburg oder in Schleswig-Holstein gewartet, bis wir schwarz geworden wären. Zu unserem Alltag gehörte auch, dass ich die Kinder ins Bett brachte und ihnen vorlas. Das hätte meine Frau auch gern getan. Aber ich ließ sie nicht und verhielt mich wahrscheinlich wie eine klassische »Gluckenmami«48. Dabei war es meine Frau, die bei meinem Sohn das Talent entdeckte, lange zuzuhören und sich Geschichten vorlesen zu lassen, die eigentlich gar nicht für sein Alter geeignet waren. So las sie ihm, als er gerade drei Jahre alt geworden war, die Kinder aus Bullerbü vor. Und er wollte, dass sie nicht mit dem Lesen aufhörte. Mir selbst brachte das Vorlesen dann so viel Spaß, dass ich es komplett an mich riss. In Wuppertal las ich zuerst meiner Tochter vor, die im Hochbett unten einschlief, während ich anschließend meinem Sohn vorlas. Auf diese Weise bekam sie zum ersten Mal den kompletten Harry Potter vorgelesen, ohne davon etwas mitzubekommen. Das zweite Mal las ich ihr den kompletten Harry Potter vor, als ich nur noch ihr vorlas, während mein Sohn mit meiner Frau Filme sah, die sie nicht sehen durfte (zum Beispiel James Bond49 etc.). Und so pendelte sich der Rollentausch in Wuppertal ein. War also alles binnen kürzester Zeit plötzlich supereasy? Nein. Wie schon in meiner Elternzeit gab es sie, die ätzenden, öden, stressigen Tage. 48 Glucke kommt aus dem Französischen: Als »mère poule« werden Mütter bezeichnet, die die ganze Zeit in unmittelbarer Nähe ihrer Kinder sind. Auch kein schönerer Begriff als »Rabenmutter«. 49 Damit fing mein Sohn an, als er 12 war. Die alten James Bond-Filme sind ab 16, was ein Witz ist. Die Harry Potter-Filme müssten dann ab Teil 3 ebenfalls ab 16 sein. Und die letzten beiden Teile ab 18.

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Oft war einer von den fünf Werktagstagen so, dass ich durchgehend gereizt war. Manchmal auch zwei. Selten keiner. Und wie sah so ein ätzender, öder, stressiger Tag aus? So ungefähr – die Kinder sind in diesem Fallbeispiel vier und sieben. 1:27 »Papa, komm!« Ich hole meine Tochter aus ihrem Bett und freue mich ausnahmsweise nicht, weil ich doch selbst gerade erst eingeschlafen bin. Meine Frau schläft tief und fest. 4:38 »Papa!!!« »Schon gut …« Ich habe längst gerochen, dass sie ins Bett gemacht hat. Passiert nur noch selten. Ich gehe mit ihr aufs Klo. Ziehe sie um. Merke, dass auch mein Oberteil nass ist. Ziehe auch mich um. Dann beziehe ich das Bett neu. Meine Frau schläft tief und fest. 6:40 Mein Wecker klingelt. Eine Hand meiner Frau sucht tastend in meinem Bett, sie nuschelt: »Ist jemand gekommen?« Ich brummele vor mich hin, stehe auf, meine Tochter rutscht zu meiner Frau, die benommen sagt: »Ohhh … du hast ja ein neues Nachthemd an!« 7:00 Alle sitzen am Frühstückstisch und meckern. Meine Frau, weil Brot im Toaster angebrannt ist. Mein Sohn, weil seine Augen jucken. Meine Tochter, weil die Butter zu hart ist und das Brot deshalb zerbröselt. 7:30 Mein Sohn geht allein zur Schule, ich bringe meine Tochter in die Kita. Dort stellen wir fest, dass ich vergessen habe, ihr ein Brot zu schmieren, weshalb sie mich anmotzt. 8:00 Endlich wieder zu Hause. Ich setze mich an den Schreibtisch und will einen wichtigen Brief ausdrucken. Papierstau. Als ich ihn behoben habe, ist die Patrone leer. Eine Ersatzpatrone habe ich nicht. Frustriert rufe ich Mails ab und bekomme eine Absage eines Verlags, der mir schon zwei Wochen zuvor abgesagt hat. Hält doppelt inzwischen besser? Ich schreibe ein Kapitel, doch während ich abspeichern möchte, fährt der Laptop aus Gründen, die ich nicht verstehe, runter. Ich ärgere mich, werfe noch schnell eine Vierzig­grad-Wäsche an und fahre um 9:00 zur Schule. Auf dem Weg fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Waschmittel in die Waschmaschine zu tun.

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9:40 Meine Direktorin fängt mich ab und begrüßt mich mit den Worten: »Herr Ulbricht, Ihre Abiturvorschläge stimmen ja hinten und vorne nicht.« Anschließend sitzen wir zwanzig Minuten in ihrem Büro und kauen alles durch. 10:05 Unterricht. Meine einzige Doppelstunde an diesem Tag. Ein Schüler wirft mit Essen, ich drehe vollkommen durch und lasse anschließend Stillarbeit machen. 12:00 Rückfahrt 13:00 Ich schaufele Nudeln in mich hinein. Hänge Wäsche auf und hoffe, dass meine Frau nichts von dem fehlenden Waschpulver merkt. Ich packe das Geschirr in den Geschirrspüler und mache ihn an. An den Tab denke ich und bin ein bisschen stolz auf mich. Ich setze mich an den Schreibtisch und will arbeiten. Der Postbote klingelt. Ich setze mich wieder an den Schreibtisch und will arbeiten. DHL klingelt. Ich gebe auf und packe Schwimmsachen für meine Tochter und Tae-Kwon-Do-Sachen für meinen Sohn. 15:00 Ich hole meinen Sohn und mit ihm meine Tochter ab: Wir haben einen Schulranzen, zwei Sporttaschen, den Rucksack meiner Tochter und den Hackenporsche dabei. 15:20 An der Schwebebahnstation informiert uns ein Laufband, dass die Schwebebahn nicht fährt. Wir quetschen uns daher Minuten später in einen vollkommen überfüllten Bus. 15:55 Ich liefere meinen Sohn beim Tae-Kwon-Do ab und bringe meine Tochter zum Schwimmunterricht, der um 16:45 beginnt. 17:00 Ich hole meinen Sohn vom Tae-Kwon-Do und mit ihm gemeinsam meine Tochter ab. 18:00 Wir kaufen ein, und weil die Kinder sich nicht beeilen, schnauze ich sie an. 18:40 Ich decke, so schnell ich kann, den Tisch. 18:45 Meine Frau klingelt, die Kinder jubeln und quatschen sie gleichzeitig zu. 18:55 Sie setzt sich, wirft einen kritischen Blick auf den Tisch und fragt: »Hättest du nicht wenigstens Gemüse schneiden können?« 18:56 Ich sage nichts dazu.

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19:20 Sie sagt: »Die Wäsche riecht komisch, hast du etwa das Waschmittel vergessen?« Ich sage: »Neeeee …« 19:30 Ich beginne, die Kinder ins Bett zu bringen und ihnen vorzulesen. 20:30 Meine Frau erzählt davon, wie anstrengend ihr Tag gewesen sei. Ich will gerade etwas dazu sagen, als sie mich unterbricht: »Ja, ja, ich weiß, deine zwei Stunden Unterricht waren bestimmt auch hart!« Puh! Streit beginnen? Ihr sagen, dass ich finde, dass sie es gut gehabt hat, weil sie den ganzen Tag auf der Arbeit gewesen ist und nicht wie ich in einer Tour irgendwohin hin hetzen musste. Nein. Stattdessen: Whiskey! Dann: Rotwein! Anschließend gucken wir eine Folge einer unserer Lieblingsserien … und mit jeder Minute, die vergeht, fällt die Spannung ab. Auch an solchen Tagen habe ich nicht grundsätzlich unser »Modell« infrage gestellt. Aber am Ende eines solchen Tages hätte man mich auch nicht darauf ansprechen sollen. Zu meinem Leben in Wuppertal gehörten übrigens nicht nur Mütter, sondern endlich auch ein anderer Vater.

Der Vater und meine zweite »Mutterfreundin« Während ich in einigen Werktagswochen gefühlt alleinerziehend war, so war unser Nachbar, der zwei Häuser weiter wohnte, wirklich alleinerziehend. Wir wurden zwar keine Freunde, aber wir einigten uns auf einen »Mittwochstausch«. Jeden zweiten Mittwoch waren seine Kinder, die so alt wie meine waren, bei mir. Und umgekehrt. Dann stieg dieser junge (zehn Jahre lagen zwischen uns) und stets fröhliche Vater eines Morgens auf sein Motorrad und kehrte nicht zurück. Es war ein bitterer, tieftrauriger und verstörender Moment, als ich von seinem Tod erfuhr. Die Kinder kamen zur Mutter, mit der ich den Kontakt nicht mehr aufrechterhalten konnte und die inzwischen ebenfalls verstorben ist, weshalb die Kinder bei einem Verwandten aufwachsen. So endete diese Bekanntschaft. Mit ihm war es nicht nur so angenehm, weil er einfach ein liebenswerter (»lebensbejahender«, wie es

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in der Todesanzeige hieß) Mensch war, sondern auch deshalb, weil man mit ihm wirklich etwas planen konnte, ohne dass Rücksprache mit einer Mutter gehalten werden musste. Interessanterweise entscheiden Männer fast nie etwas allein. In Berlin und in Wuppertal sind mir überhaupt nur zwei Väter – der Verstorbene inklusive – begegnet, die in Hinblick auf die Nachmittagsgestaltung ihrer Kindern so etwas Ähnliches wie eine Entscheidungsbefugnis besaßen. In acht von zehn Fällen hieß es, wenn nur der Vater da war: »Meine Frau ruft nachher noch mal zurück.« Selbst beim Modell »beide arbeiten« war es im Regelfall die Frau, die wusste, wann die Kinder Zeit hatten. Deshalb bemühte ich mich, nach Möglichkeit die Mütter direkt zu kontaktieren und begann, die meisten Termine per SMS zu regeln. Umgekehrt war es genauso. Meistens riefen die Mütter mich direkt aufs Handy an oder schrieben eine SMS, und wenn sie zu Hause anriefen und eines meiner Kinder abhob (am Anfang war es nur mein Sohn), hieß es: »Kann ich mal deinen Papa sprechen.« Oder eines meiner Kinder sagte: »Ich geb dir mal meinen Papa.« Das sagten sie auch dann, wenn meine Frau quasi neben ihnen stand. Auch meine Frau reichte das Telefon meistens an mich weiter. Ja, das war eigentlich erstaunlich: Die Wuppertaler Mütter – und daran hat sich bis heute nichts geändert – sprachen mit mir, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und riefen mich an. Sowohl die türkische als auch die russische als auch die moldawische als auch die deutsche Mutter. Und den Vätern – sowohl den türkischen als auch den russischen als auch den moldawischen als auch den deutschen – war das herzlich egal. In solchen Momenten denke ich dann sogar manchmal: Eigentlich ist die Gesellschaft reif für das Rollentausch-Modell! Mit den Müttern freundete ich mich nicht an. Es blieb ein netter, herzlicher und vor allem vertrauensvoller Kontakt, bei dem es allerdings immer um die Kinder ging. Abgesehen von einer Ausnahme. Im Sportverein, in dem mein Sohn Tae-Kwon-Do machte, saß ich zweimal pro Woche. Es ist okay dort, aber es ist eben auch ein Vereinscafé bzw. -restaurant. In einer Endlosschleife läuft Sky ohne Ton. Ich selbst saß mit meiner Tochter am Tisch und puzzelte mit ihr oder spielte Uno oder ließ sie malen, während ich las. Eine Mut-

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ter saß ebenfalls meistens allein an einem Tisch, hatte eine ältere Tochter, die genauso wie der Sohn, der so alt wie mein Sohn war, Tae-Kwon-Do machte. Nach einer Prüfung sprach ich sie an. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich gesagt habe. Mehr als Blablabla tauschten wir anschließend auch nicht aus, und sie wirkte absolut nicht interessiert daran, einen Vater kennenzulernen. Das nächste Mal im Café winkte sie mir dann zu … und ich setzte mich zu ihr an den Tisch. Mit meiner Tochter, um die sich ihre Tochter mit Begeisterung kümmerte. Im Rückblick war das der Beginn meiner zweiten Vater-Mutter-Freundschaft. Wir saßen mindestens zweimal pro Woche knapp anderthalb Stunden lang im Café oder im Sommer draußen auf einer Bank, während meine Tochter auf dem Spielplatz herumturnte. Diese Mutter wurde der erwachsene Mensch, mit dem ich mich über Jahre hinweg mit Abstand am meisten unterhielt. (Abgesehen von meiner Frau natürlich.) Zu Turnieren fuhren wir gemeinsam. Dort saßen wir einen ganzen Tag lang auf der Tribüne und tranken Dosensekt. Und als ich mal allein herumsaß, fragte mich ein Vater: »Wo ist denn deine Frau?« Er meinte die Mutter … und guckte ziemlich verwirrt, als ihr Mann dazukam und sie mit einem Kuss begrüßte, und dieser Mann nicht ich war. Wir schrieben uns schon bald, wenn einer von uns nicht ins Café kam. Es entstand eine Freundschaft, wie ich sie vorher noch nicht und nachher nie wieder erlebt habe. Und natürlich unterhielten wir uns längst nicht mehr nur über unsere Kinder. Sondern über, wie es so schön heißt, »Gott und die Welt«. Diese Art Freundschaft wäre natürlich nie möglich gewesen, wenn meine Frau unseren Sohn hin und wieder zum Tae-Kwon-Do gebracht oder abgeholt hätte. Das hat sie aber erst später getan, als das Training so spät aufhörte, dass sie ihn direkt von der Arbeit abholen konnte. Es waren also letztendlich ganze zwei Mütter, mit denen ich mich angefreundet habe. Und mehr werden es auch nicht werden. Kinder im Alter von zehn Jahren aufwärts verabreden sich allein und fragen anschließend die Eltern, ob das okay ist. Vor allem sitzt man nirgendwo zusammen rum und wartet – sei es auf einem Spielplatz oder in einer Turnhalle. Ach … die Mütter. Sie gehörten zu meinem Vaterleben dazu, während die Väter in der Funktion als Väter eigentlich kaum auftauchten.

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Dass ich so viele kennenlernte und mich mit zweien vorübergehend anfreundete, verdanke ich dem Rollentausch. Und vor allem einer Frau, die das alles akzeptierte. Diese Frau wurde in der Wuppertaler Zeit immer »erfolgreicher«. Ihr Gehalt stieg rasant. Und sie wurde immer häufiger auf Dienstreise geschickt.

Dienstreisen meiner Frau Ungefähr sechs Werktagswochen pro Jahr ist meine Frau auf Dienstreise. Manchmal nur zwei Tage, manchmal sieben Tage (wenn sie am Sonntag fliegt und am Samstag zurückkommt), oft von dienstags bis freitags. Meistens ist sie in Berlin, wo sie tagsüber in Konferenzen sitzt oder was auch immer mit Kollegen plant. Meine Kinder finden okay, dass Mama oft auf Dienstreise ist. Als meine Frau einmal im November und Dezember drei Wochen lang in Folge nur am Wochenende da war, hat meine Tochter allerdings bei der dritten Reise gemeckert. Dann gibt es aber auch mal drei Monate am Stück, in denen meine Frau gar nicht unterwegs ist. (Meine Kinder habe ich extra noch mal gefragt, wie sie das eigentlich finden. Die Antworten finden Sie im Kapitel: Was unsere Kinder denken) Ich selbst gebe gern zu, dass ihre Dienstreisen schon seit langer Zeit zu meinem Leben dazugehören und ich es ab und zu auch befreiend finde, allein zu sein. Zum einen liegt es daran, dass diese Dienstreisen der Beweis dafür sind, dass wir »das« können. (Wobei ich nicht müde werde zu behaupten: Alle können das!) Sie hat sich in solchen Situationen auf mich verlassen und ich mich auf sie. Und unserer Ehe tut es definitiv gut, wenn wir uns hin und wieder ein paar Tage nicht sehen, weil wir die Zeit am Telefon nicht nutzen, um uns zu zanken. Ich selbst mache zu Hause dann mein Ding. Vor allem, wenn sie eine ganze Woche weg ist, sieht es nach sechs Tagen immer recht lustig aus in unserer Wohnung. Wir drei lassen in diesen Tagen noch mehr stehen und liegen als üblich, und es regiert das Chaos. Das Praktische ist: Wenn sie auf Dienstreise ist, bekommt sie unsere »Ordnung« nicht mit. Und ich mache mir einige Tage lang keine Gedanken darüber, ob ich alles aufgeräumt habe. Bevor sie

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zurückkommt, gebe ich mir dann für meine Verhältnisse recht viel Mühe. In der Regel beziehe ich sogar die Betten, bevor sie wiederkommt. Eheidyll trotz Dienstreisen? Ach Quatsch. Wenn ich ausgerechnet in dieser Zeit Ärger an der Schule habe oder mich über einen Verlag ärgere oder über irgendwelche Buchhändler, dann müssen meine Kinder meine Laune ertragen. Wenn ich in einer solchen Stimmung bin, sollte man mich einfach nicht ansprechen. Meistens beruhige ich mich nach einer halben Stunde wieder. Aber dass das so ist, kapiert ja nicht mal meine Frau. Wie sollen das dann Kinder verstehen? Sie sprechen mich daher immer wieder an, ich gifte immer wieder zurück, bin unerträglich – früher haben sie manchmal geheult und ich habe mich geschämt und war deshalb noch schlechter gelaunt – und sie wünschten sich mit Sicherheit nichts so sehr wie eine Mama an ihrer Seite, die die schlechte Laune ihres Papas auffängt. Und umgekehrt auch! Manchmal sind meine Kinder einfach schlecht gelaunt. Meckern übers Essen (meine Tochter). Oder darüber, dass sie abends nur eine halbe Stunde fernsehen dürfen (meine Tochter). Oder darüber, dass sie die Deutsch-Hausaufgabe noch mal machen sollen (meine Tochter). Oder darüber, dass sie die vollkommen verdreckte Hose nicht mehr anziehen dürfen (meine Tochter), Oder darüber, dass sie noch mal duschen sollen (meine Tochter). Oder darüber, dass sie um acht Uhr abends nicht mehr zum Eismann dürfen, wenn es bimmelt (meine Tochter). Oder darüber, dass sie endlich mal aufhören sollen zu zocken (mein Sohn). Ach ja … In diesen Situationen wächst dann mein Respekt vor Alleinerziehenden ins Unermessliche. Denn auch in solchen Situationen bin ich ja nicht wirklich alleinerziehend. Mir fehlt nur ein paar Tage lang die Möglichkeit, wenigstens abends alles auf den Partner abzuwälzen. Ich bin fast nie krank. In den letzten beiden Schuljahren habe ich keinen einzigen Tag gefehlt. Aber als meine Frau einmal auf Dienstreise war, hatte ich Magen-Darm. So mit allem Drum und Dran. Meine Kinder waren nicht mehr so klein, dass ich Betreuung organisieren musste, aber sie waren auch nicht so groß, dass sie alles alleine schafften. Das war für uns alle drei im wahrsten Wortsinne beschissen.

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Als ich dann doch Schriftsteller war (siehe übernächstes Kapitel), war ich auch hin und wieder auf Dienstreise. Zum Beispiel auf der Leipziger Buchmesse. Ich weiß, dass meine Frau das durchaus genießt. Zum Beispiel will sie manchmal einfach zappen beim Fernsehen. Das entspannt sie. Mich nicht. Ich werde ganz nervös dabei. Und wenn ich nicht da bin, sorgt sie abends für Ordnung. Zu wissen, dass das zumindest theoretisch auch in unserer Familie möglich ist, beruhigt sie kolossal. So tun meine wenigen Dienstreisen ihr gut. Und wenn sie unterwegs ist, kann sie im Hotel ja auch machen, was sie will. Insofern sind ihre vielen und meine wenigen Dienstreisen durchaus eine Chance, in den Abendstunden, wenn die Kinder schlafen, nur Rücksicht auf sich selbst zu nehmen. Nebenbei fühlt man sich spätestens am dritten Abend recht lebendig, weil man beginnt, den Partner zu vermissen. (Tue ich sonst eher nicht.) Übrigens kann man anschließend das Zusammensein auch viel mehr genießen. Ich selbst bin froh, dass meine Frau einen Beruf hat, in dem sie ständig auf Dienstreise ist. Sie hätte ja auch von Beginn an sagen können, dass das alles viel zu stressig für sie ist. Zum Bahnhof bringen wir meine Frau nicht, und wir holen sie auch nicht ab, weil sie aus Berlin immer erst spät kommt. Aber wir haben sie schon mal zum Flughafen gebracht – einmal im Jahr arbeitet sie am US-Standort, und auch wenn sie mal woanders in Europa unterwegs ist, fliegt sie meistens. Und irgendwie war es toll, mit ihr zu telefonieren, als sie im Flugzeug saß, und dann zu beobachten, wie ihre Maschine abhob, und zu winken. Und als das Flugzeug nur noch ein Punkt war und Sekunden später ganz vom Himmel verschluckt wurde, waren wir plötzlich zu dritt und für die Kinder war es das Normalste auf der Welt. Vielleicht genieße ich das ganze Drumherum so sehr, weil ich mir bewusst bin, dass es im Regelfall andersherum ist. Im Regelfall ist es der Mann, der auf Dienstreise geht. Und weil das der Normalfall ist, können das Mütter vielleicht ja weniger genießen. Aber vielleicht irre ich mich auch. Neulich haben wir zum ersten Mal geskypt. Sie war gerade aufgestanden, bei ihr war es früh morgens und bei uns nachmittags und meine Kinder jauchzten vor dem Laptop, und irgendwie war die Stimmung ziemlich ausgelassen. Ihre Rückkehr ist auch heute noch oft eine Familienparty. Sogar ich bekomme oft Geschenke. Es ist ja

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nicht so, dass sie mir als Anerkennung in bestimmten Abständen Blumen schenkt, aber besondere Bücher oder eine spezielle DVD, die hat sie mir dann doch immer mal wieder mitgebracht. Einmal war sie während der Schulferien auf Dienstreise in Berlin und unsere Kinder waren bei Oma und Opa. Ich quartierte mich dann auch in Berlin in eine kleine Ferienwohnung ein. Abends trafen wir uns und gingen essen und ins Kino und ins Theater, und irgendwie war auch das etwas, was andere Paare wohl eher selten erleben. »Mama ist gerade in Berlin … dort arbeitet sie manchmal.« Das sagen meine Kinder seit Jahren schon mit einem Tonfall, als seien die Dienstreisen für sie das Selbstverständlichste auf der Welt. Und dann gab es auch noch meine so genannten »Dienstreisen«: Meine Reise mit meinem Sohn nach Eutin war damals die erste von diversen Reisen mit einem oder mit beiden Kindern. Wenn ein Partner allein mit den Kindern herumreist, weil der andere so viel arbeiten muss, sind diese Reisen so etwas Ähnliches wie Dienstreisen. (So wie die Mütter sozusagen meine »Kolleginnen« waren.) Aber bei diesen Reisen handelt es sich natürlich eigentlich um Urlaub. Dass ich so viel mit den Kindern unterwegs war, lag allerdings nicht nur daran, dass ich für sie zuständig war – sondern an meinem Brotberuf: Lehrer! Es ist schon bizarr, wie man immer wieder Lehrern begegnet, die leugnen, dass die Schulferien eine Sensation sind. Selbst wenn man in den Schulferien Unterricht vorbereiten muss oder einen Stapel Klausuren dabei hat, so kann man sich bei geschickter Zeiteinteilung um die Kinder kümmern – es sei denn, sie sind unter drei Jahre alt und brauchen ein Elternteil einfach durchgehend. Meine Frau hat 30 Tage Jahresurlaub. Das entspricht exakt der Länge der Lehrersommerferien (in denen man manchmal etwas vorbereiten, nie aber etwas korrigieren muss – ich wüsste zumindest nicht was). Und bei unserem letzten KarnevalsfluchtBerlinurlaub mussten wir drei am Sonntag allein unsere Bekannten besuchen, weil meine Frau etwas »fertigmachen« musste, und am Montag – an einem ihrer kostbaren Urlaubstage – ist sie morgens nicht mit in den Zoo gekommen, weil sie eine Telefonkonferenz hatte. Lehrer arbeiten oft und manchmal auch viel in den Schulferien, das ist wahr. Als leitende Angestellte in einem Unternehmen

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arbeitet man manchmal allerdings sogar an den nur 30 Urlaubstagen, die man hat. Bei uns trat wegen meiner Lehrertätigkeit nie das Sommerferienbetreuungsproblem auf, was für viele Eltern ein Alptraum ist. Ein Vater, den ich auf einer Familienfreizeit kennenlernte, sagte dazu achselzuckend: »Meine Frau wäre auch gern mitgekommen, aber die Sommerferien teilen wir uns auf.« (Meine Frau hätte auch mitkommen wollen, aber unseren zweiwöchigen Familienurlaub hatten wir zu dem Zeitpunkt schon hinter uns.) An einer klassischen Vater-Sohn-Reise für Väter, die sonst nicht so viel Zeit für ihre Söhne haben, habe ich einmal teilgenommen. Im Harz bauten wir eine Brücke über einen Bach und stärkten so die Beziehung zu unseren Söhnen. War alles schön und gut. Aber irgendwie war ich eben ein vollkommen anderer Vater, der auch ganz andere Gesprächsthemen hatte als die Väter, die »endlich« mal Zeit für ihre Söhne hatten. Vermutlich hätte ich mich auf einer Mutterkur wohler gefühlt. Ein anderes Mal war ich mit meinem Sohn auf einer Familienfreizeit in Berchtesgaden. Ziel einer Wanderung war die hoch gelegene Gotzenalm, wo wir mehrere Nächte in einem Schlafsaal übernachteten. Mein Sohn war damals der Jüngste. Und die einzige Frau blieb im Ort, weil sie schon ziemlich schwanger war. Insofern war ich wieder allein unterwegs mit den Hauptverdienervätern. Die Stimmung war vom ersten Augenblick an hervorragend, und irgendwie fanden die anderen es spannend, dass ich so ganz anders war. Insofern frage ich mich: War vielleicht ich im Harz damals das Problem gewesen? Vielleicht war ich regelrecht arrogant gewesen, weil ich der Meinung war, dass dieses Vater-Sohn-Getue bei den »anderen« ziemlich gekünstelt wirkte. Auf einer Familienfreizeit in Oberstdorf war ich mit beiden Kindern. Ich war der einzige Vater, der allein mit seinen Kindern unterwegs war. Eine alleinerziehende Mutter war auch wieder dabei. Zur Verblüffung der anderen erlaubte ich in der letzten Nacht gleich drei »Freundinnen« meiner Tochter nachts in unserem Sechsbettzimmer zu übernachten. Störte mich nicht. Dass ich mich gleichzeitig um mehrere Freunde und Freundinnen meiner Kinder kümmerte und auch wusste, wann ich sie in Ruhe zu lassen hatte, war ich gewohnt.

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Diese Jugendherbergsfamilienfreizeiten kann ich nur empfehlen. Eltern helfen sich irgendwie gegenseitig, die Kinder lernen Freunde kennen, die aus anderen Bundesländern kommen, und nach dem Frühstück muss man den Tisch abräumen, was leider manchmal die Eltern übernehmen. Als wir als Familie in die Bretagne fuhren, verbrachten meine Kinder und ich auf Vorschlag meiner Frau vorher noch ein paar Tage in Paris. Wir schlappten einen Tag, an dem es so heiß war, dass sich der Asphalt in der Hitze wellte, durch die Stadt. Wir verliefen uns manchmal, ärgerten uns gemeinsam und lachten, wenn wir dadurch einen kleinen Park entdeckten, in dem wir uns ausruhten, wir aßen Baguette im Jardin du Luxembourg, die Kinder ließen mich in der FNAC (vergleichbar mit einem Konglomerat aus Saturn und Hugendubel) lange stöbern und machten es sich in den Comicecken gemütlich, in der überfüllten Metro setzte sich meine Tochter neben den großen Bruder und beobachtete die Menschen, die ein- und ausstiegen. Wir verstanden uns ohne Worte. Klingt so, als wollte ich damit sagen, dass sich eine ganz besonders intensive Beziehung zwischen uns aufgebaut hatte, oder? Ja. Genau das will ich damit sagen. Und dass das so war, lag natürlich am Rollentausch. Und es wäre seltsam gewesen, wäre es anders gewesen. In Paris habe ich das vielleicht wie noch nie zuvor gespürt. Das war schon ein ziemlich tolles Gefühl! Auch deshalb kann ich das Experiment Rollentausch wärmstens empfehlen, und ich werde nicht müde darauf hinzuweisen, dass man der Mutter nichts wegnimmt. Sie hat in der Regel sowieso eine intensive Beziehung zu den Kindern. Das ist und bleibt so. Deshalb kann man – egal ob ein Sachbearbeiter in der Behörde eine Bankkauffrau oder der Krankenpfleger die Erzieherin oder der Lehrer die Lehrerin oder der Arzt die Richterin geheiratet hat – nur gewinnen. (Man verliert nur dann, wenn man durch den Rollentausch insgesamt ein deutlich niedrigeres Einkommen hat – dann verliert man logischerweise Geld.) Ein Jahr später hängten wir drei eine Woche an den FamilienNormandie-Urlaub an und fuhren nach Saint-Malo. Neun Tage waren wir zu dritt unterwegs. Es gab eine Situation, die typisch war: Auf einer Wanderung, auf der wir die Länge des Weges unterschätzt hatten, fuhr ein Bus an uns vorbei. Wir winkten der Busfahrerin zu,

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die bremste und uns einfach mitnahm. Zu dritt machen wir oft das, was zu viert unmöglich wäre: Wir treffen spontane Entscheidungen oder lassen uns vom Zufall leiten. (Meine Frau ist in der Regel derart perfekt organisiert, dass wir in solche Situationen nie geraten. Und im Gegensatz zu mir hat sie stets ein Smartphone dabei.) Auf dem Rückweg von Saint-Malo gönnten wir uns einen dreitägigen Abstecher nach Paris, und dieses Mal durfte ich abends allein durch die Gegend schlendern. Mein Sohn passte auf seine Schwester auf, und in solchen Situationen verstehen sie sich großartig … eben wie Bruder und Schwester. (Zu Hause zanken sie sich oft … eben wie Bruder und Schwester.) Ein Jahr später bin ich allein mit meiner Tochter nach einem weiteren gemeinsamen Normandie-Urlaub nach Saint-Malo gefahren, weil sie sich das gewünscht hatte. In einer sehr günstigen, eher dreckigen und ziemlich kleinen Wohnung in herrlicher Lage trank ich abends Wein und arbeitete an Kurzgeschichten, während ich tagsüber mit meiner Tochter wandern und an den Strand ging oder Ausflüge in die Umgebung machte. Einmal im Supermarkt stritten wir uns. Aber sonst war es die reine Vater-Tochter-Idylle, die etwas Selbstverständliches hatte und ohne den Rollentausch so nicht möglich gewesen wäre. Ich hätte übrigens gern einen Vater mit einer gleichaltrigen Tochter kennengelernt. Den gab es aber nicht. (Und vielleicht habe ich auch Ausschau nach einer solchen Mutter gehalten, aber auch die gab es nicht.) Einen Tag verbrachten wir in Paris, und meine Tochter trabte mir geduldig hinterher, weil ich mir Orte angucken musste, die im Leben Maupassants50 eine Rolle gespielt haben, über den ich einen Roman zu schreiben begonnen hatte. Im folgenden Jahr fuhren meine Tochter und ich von Wuppertal aus nach Etretat. Dort waren wir alle zusammen im Jahr zuvor gewesen (weil ich für den Roman über Maupassant recherchieren musste), und auch diesen gemeinsamen Urlaub mit meiner Tochter nutzte ich ebenso wie den folgenden Familienurlaub auf Korsika und eine Reise nach Cannes allein mit meiner Frau, um für den Roman zu 50 Guy de Maupassant, 1850–1893, der Roman ist 2017 unter dem Titel Maupassant im KLAK-Verlag erschienen.

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recherchieren. (Neulich wurde sie gefragt, ob sie berühmte Franzosen kenne, und sie sagte: »Monet und Maupassant.«) Auf einer unserer vielen waghalsigen Klettertouren und ausgedehnten Wanderungen machte mir meine Tochter für mich vollkommen überraschend das schönste Urlaubsgeschenk. Sie fragte: »Wollen wir im nächsten Jahr nicht mal von einem Ort zum anderen wandern?« Ich hätte übrigens auch in jenem Sommer gern einen Vater mit einer gleichaltrigen Tochter kennengelernt. Den gab es aber nicht. (Und vielleicht habe ich auch wieder Ausschau nach einer solchen Mutter gehalten … aber auch die gab es nicht.) In den ersten Januartagen des Jahres 2017 war ich wieder mit beiden Kindern unterwegs. In Garmisch-Partenkirchen. Wieder auf Vorschlag meiner Frau. Zum Schneeurlaub. Es war wie immer. Schön … in dem Sinne, dass wir eigentlich stets genau wissen, was wir wollen. Und was nicht. Und wie wir unsere Abende gestalten. Usw. Inzwischen denke ich jedes Mal, dass dieser Urlaub jetzt der letzte gewesen sein könnte. Aber dann fällt uns wieder etwas ein. Im Sommer 2017 sind wir drei in der südlichen Bretagne gewandert. Von einem Ort zum anderen. Meine Frau hat uns auf dem Rückweg in Paris abgeholt, wo wir alle noch zwei Tage geblieben sind. Das Reisen hat nicht nur uns drei zusammengeschweißt, sondern auch uns vier. In unserem Alltag bleibt oft nicht viel Zeit. Wir sehen uns abends und am Wochenende, wobei die Kinder an den Wochenenden natürlich inzwischen oft mit Freunden unterwegs sind. Deshalb reisen wir viel. Zu viert. Fünf von den sechs Wochen, die meine Frau Urlaub hat, reisen wir durch Europa. Mit einer Ausnahme immer mit der Bahn (und gegebenenfalls einer Fähre). Übernachtet haben wir sowohl in Jugendherbergen als auch in Viersternehotels, in Ferienwohnungen, auf Schiffen und in Zügen. Ferienanimationen gab es nie für die Kinder. Darum haben wir Eltern uns gekümmert. So gab es meistens das »Urlaubsspiel«. Auf Helgoland haben wir in einer der herrlichsten Jugendherbergen, die es vermutlich auf diesem Planeten gibt, endlos das Kartenspiel Lobo 77 gespielt, in London Bonanza, in Oslo Phase 10. Ich kann diese Art zu reisen nur empfehlen: Vor allem dann, wenn man sich dafür entschieden hat, dass einer sehr viel arbeitet und seine Kinder deshalb wenig sieht, oder wenn beide viel arbei-

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ten. (Aber auch sonst schadet es vermutlich nicht, so zu reisen.) Es ist ein Wahnsinnsgemeinschaftserlebnis, wenn man mit dem Nachtzug nach Basel fährt, dort um sechs Uhr morgens über den Bahnhof wankt und dann in einen TGV nach Marseille steigt, über Nacht in Marseille bleibt und am nächsten Tag auf einem Schiff übernachtet und dann wieder in aller Früh auf Korsika ankommt, wo man von einem Unwetter begrüßt wird. Wir brauchen das jedenfalls. Denn es ist schon so, dass in unserer Familie im Alltag viel gezankt wird. (Am meisten zanke ich, glaube ich, inzwischen mit meiner Tochter.) Über entsetzlich banale Dinge. Erst vor Kurzem ging es in der Küche wieder darum, wie man das Gemüse wäscht und die Diskussion endete, indem ich meine Frau ziemlich gereizt auf den Balkon schickte, weil ich allein kochen wollte.51 Diese Reisen haben daher einen fast schon therapeutischen Zweck: Wir lernen, dass wir uns in Extremsituationen aufeinander verlassen und viel Spaß miteinander haben können und uns nicht nerven, wenn wir sieben Tage am Stück auf engstem Raum zusammen herumhängen. Und für die Kinder ist es noch immer nicht langweilig, mit Mama und Papa in den Ferien auf Entdeckungsreise zu gehen. In all den Jahren geschah übrigens Schritt für Schritt etwas, was ich selbst nicht mehr wirklich für möglich gehalten, sondern nur noch zu hoffen gewagt hatte: Ich wurde Schriftsteller. Im Jahr 2013 war ich sogar kurzfristig »berühmt«. Und bis heute frage ich mich, ob in diesen Jahren unser ganzes Leben doch noch hätte anders verlaufen können.

51 Fairerweise muss ich dazu sagen, dass wir es auch schaffen, solche Dinge mit Humor zu nehmen. (Das ist uns 15 Jahre lang eher nicht so gut gelungen.) Als ich in den neben meinem Bett stehenden leeren Wäschekorb Sachen gelegt habe, die ich am nächsten Tag gut gebrauchen könnte – Bücher, Stifte, Kleidung –, weil ich das praktisch fand, hat meine Frau geseufzt und gesagt: »Komm, da geht noch viel mehr rein!« Dann hat sie alles, was sie im Zimmer gefunden hat und was mir gehört, auch noch in den Wäschekorb getan …

Hätte noch immer alles anders kommen können?

Endlich Schriftsteller: Gefahr für den Rollentausch? Als ich vor vielen, vielen Jahren gehört habe, dass ein Radiomoderator mit russischem Akzent plötzlich Autor geworden ist, weil er von einer Agentin ermuntert worden war, ein Buch zu schreiben, war ich stinksauer. In mir schrie es: Entweder man will unbedingt Schriftsteller werden. Oder man will kein Schriftsteller werden. Und dieses Entweder – Oder bedeutete für mich lange Zeit: Unter keinen Umständen lässt man sich dazu überreden, ein Buch zu schreiben. Geradezu Bauchschmerzen bekam ich, als ich in einem Interview erfuhr, dass ein Witzeschreiber (für Harald Schmidt, glaube ich) einem ihm bekannten Lektor zwei seiner Kurzgeschichten hingelegt und der Lektor zu ihm gesagt hatte: Schön, mach’ mal einen Roman daraus, den bringen wir dann. Wenn man wie ich fast zwei Jahrzehnte lang Bücher schreibt und ständig Absagen erhält, zwischendurch eine Agentur überzeugt hat und auf mehreren Seminaren gewesen ist, dann bekommt man so einiges mit. Das für mich Traurigste war immer wieder zu erfahren: Viele Schriftsteller schreiben keine Bücher und bieten sie dann an (wie ich es bei meinen belletristischen Büchern seit 1997 mache). Viele Schriftsteller werden zu Schriftstellern gemacht. Sie werden veröffentlicht, weil sie bei irgendeinem Wettbewerb mit einer sechsseitigen Kurzgeschichte einen Preis eingeheimst haben und im Anschluss daran »entdeckt« worden sind. Oder sie sind »Prominente« des Kulturbetriebs und werden von Agenturen oder direkt von Verlagen angequatscht. Ich selbst hätte jedes Mal weinen können, sobald ich wieder von irgendeiner Geschichte dieser Art erfuhr. Mein ganzer Zorn auf den Literaturbetrieb entlud sich im Jahr 2010. Im Artikel Wie finde ich (k)einen Verlag schilderte ich mein Verlagssuche-Elend, das groteske Ausmaße angenommen hatte. Ich schickte den Text einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung,

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Hätte noch immer alles anders kommen können?

mit dem ich schon zuvor in fröhlich-freundlichem Kontakt gewesen war, der aber meinen Artikel zum Thema Elternzeit (J) dann doch nicht hatte haben wollen. Dieses Mal schlug er zu. Der Artikel wurde am Eröffnungstag der Frankfurter Buchmesse ganzseitig auf der Literaturseite im Feuilleton gebracht. Auch die nächsten beiden Artikel, die ich schrieb, nahm die Süddeutsche Zeitung an, weshalb ich mich schon als zukünftigen Feuilletonredakteur mit Zweitwohnsitz München sah.52 Der erste Artikel war eine Art Appell an Väter, ihren Kindern vorzulesen. Dank dieses Artikels kam ich in Kontakt mit der Stiftung Lesen, deren ehrenamtlicher Autor ich wurde. Fast jeden Monat erschien auf der Vorleseclubseite der Stiftung Lesen ein Artikel in meiner Kolumne Himmel und Hölle, bis meine Kolumne einem Relaunch der Seite zum Opfer fiel, was im Rückblick betrachtet eine gute Idee war, denn das Ende der Kolumne war letztendlich die Geburtsstunde von Lesen ist cool!53 Im dritten Artikel für die Süddeutsche (Sommer 2011) ging es um das Leben eines Vertretungslehrers. Die Schule, an der ich zu dem Zeitpunkt beschäftigt war, war meine siebente (im dritten Bundesland) nach dem Referendariat. An sechs von diesen sieben Schulen war ich direkt in Abiturprüfungen eingebunden gewesen. In diesem Artikel ging es auch um den Bildungsföderalismus, um Kuriositäten des Vertretungslehreralltags, um das Phänomen, dass Lehrer ziemlich viel meckern und um die Verbeamtung, die ich für falsch hielt. Zu dem Zeitpunkt, als dieser Artikel erschien, hatte ich übrigens nichts weiter als einen befristeten Vertrag. Und auf diesen Artikel hin wurde ich von einem Verlag angemailt und gefragt, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch über dieses Thema zu schreiben. Und ich tat das, was ich anderen Autoren immer übelgenommen hatte: Ich sagte, ohne länger darüber nachzudenken, zu und schrieb das gewünschte Buch über den Schulbetrieb.54 52 Seufz. So dachte ich wirklich. Ich war schon immer ein wenig verträumt und werde es wohl auch immer bleiben. Seufz. 53 Lesen ist cool, erschienen 2016 bei Vandenhoeck & Ruprecht. 54 Lehrer: Traumberuf oder Horrorjob, erschienen 2013 bei Vandenhoeck & ­Ruprecht.

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In einem der Kapitel ging es um die Lebenszeitverbeamtung. Kurioserweise wurde ich genau in jener Zeit selbst verbeamtet. Und zwar drei Monate vor meinem vierzigsten Geburtstag, der damaligen Verbeamtungsdeadline in Nordrhein-Westfalen. Ich war heillos verwirrt und bat schon bald um Entamtung. Aus vielen Gründen. Einer der Gründe war, dass ich es peinlich gefunden hätte, in einem Buch die Verbeamtung zu kritisieren und mich gleichzeitig aller möglichen materieller Vorzüge, die sich aus der Verbeamtung ergeben, zu erfreuen. Ich schrieb dazu einen Artikel, den die Süddeutsche endlich mal wieder nahm – zuvor hatte sie mehrere Artikel abgelehnt – und in der Folge wurde ich von den Medien überrannt und verhielt mich oft genauso dumm wie all diejenigen, die mich als Helden feierten oder mich als Heuchler diffamierten. (All das schildere ich ausführlich in Schule ohne Lehrer55.) Dem Buch tat es natürlich gut. Ich war ständig in der Zeitung, ich war im Fernsehen, ich war im Radio, ich wurde auf Podiumsdiskussionen beklatscht und angepöbelt, ich war plötzlich c-prominent. Und obwohl es mir damals viel zu viel wurde, weil es so plötzlich über mich hereingebrochen war, genoss ich es durchaus, im Rampenlicht zu stehen. Und ich scheue mich nicht zuzugeben, dass ich es später vermisste. Was hat das aber mit dem Rollentausch zu tun? Nun, eine ganze Menge: 1. Meine Frau war zunächst dagegen, dass ich auf meine Verbeamtung verzichtete beziehungsweise sie rückgängig machen ließ. Vielleicht wäre das einem Mann in ihrer Position von Anfang an ziemlich egal gewesen, weil er meinen Teilzeitjob nie ernst genommen hätte. Denn laut einer Studie, die 2017 veröffentlicht wurde, ist knapp die Hälfte aller gut verdienenden Männer der Meinung, dass ihre Frauen nicht arbeiten müssen.56 Sie, die gut verdienende Frau, schien wiederum tief in ihrem Inneren doch daran zu zweifeln, dass der Rollentausch eine Dauerlösung war und wir von ihrem Gehalt entsprechend dauerhaft leben würden. 55 Schule ohne Lehrer, erschienen 2015 bei Vandenhoeck& Ruprecht. 56 Vgl.: https://www.bmfsfj.de/blob/115580/ff787837dde7968d5c3bddd940bc 6b58/maenner-perspektiven-auf-dem-weg-zu-mehr-gleichstellung-data.pdf

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Hätte noch immer alles anders kommen können?

Auf »meiner Seite« war meine Frau eigentlich erst zu 100 %, als zwei Dinge geschahen: Erstens blieb ich kompromisslos. Meine Entscheidung stand fest. Zweitens hat der zuständige Sachbearbeiter zu meiner Direktorin am Telefon gesagt: »Spinnt der?« Meine Frau kritisiert mich zwar ständig, aber darin sieht sie auch ihr spezielles Privileg. Andere hatten mich gefälligst nicht zu kritisieren. (Umgekehrt ist es übrigens genauso.) 2. Plötzlich war ich der berufliche Mittelpunkt, was nach außen hin unser Modell quasi auf den Kopf stellte. Vor allem in den Jahren 2012 bis 2016 habe ich nicht nur mehrere Bücher, sondern auch dutzende Artikel veröffentlicht, und zwar nicht in Nischenmagazinen, sondern in der Süddeutschen, in der taz (dort war ich sogar Kolumnist), auf SPON, im Tagesspiegel, in der Rheinischen Post und in der WZ. Die Wahrheit, die nur zwei Menschen mitbekamen (meine Frau und ich), war allerdings: Viele Zeitungen zahlten nichts oder nur wenig. Und dass ein Artikel genommen worden war, bedeutete noch lange nicht, dass auch der nächste Artikel genommen werden würde. Manchmal war es so, dass ein Artikel wie eine Bombe einschlug und zwei Wochen später das Hauptthema auf der Leserbrief-Seite wurde, mein nächster Artikel bei derselben Zeitung stieß dann aber nicht mal auf rudimentäres Interesse. All das zu verstehen war ein langer Lernprozess, und manchmal erwische ich mich noch immer dabei, wie ich zumindest einen schmerzhaften Augenblick lang daran verzweifele, wenn dergleichen geschieht. Wirkliche Anfragen bekam ich selten. Ich bot an. Das hieß zunächst: Ich schrieb nicht nur ständig und überall, sondern ich überarbeitete bzw. korrigierte auch in einer Tour das jeweils neue Sachbuch, die Texte und den Roman, an denen ich parallel arbeitete, ging auf Lesungen, für die ich in der Regel kein Honorar bekam, erhielt weiterhin Absagen, unterrichtete nebenbei und musste mir von (zum Glück nur wenigen) Kollegen, denen mein so genannter Jammertext57 (in dem es um das ewige Gemecker über das Klausuraufkommen ging) nicht passte, anhören, ich wüsste ja gar nicht, was es bedeute 57 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/lehrergestaendnis-von-arne-­ ulbricht-aerger-ueber-jammernde-lehrer-a-979023.html

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zu korrigieren. Und auch das hat viel mit dem Rollentausch zu tun. Denn eine für mich frustrierende Wahrheit war: Ich arbeitete zwischendurch im Akkord und wann immer mich die Kinder ließen, ich verdiente aber mit dem Schreiben quasi nichts: In den Jahren 2013, 2014 und 2015 kam ich jeweils auf knapp 3000,– Euro. Im Jahr. Vor Steuern. Und Ausgaben hatte ich auch. Daraus ergibt sich … 3. Zunächst die Vorgeschichte: Ich selbst habe dummerweise in irgendeinem Interview mal gesagt, dass ich mich mit einer weniger gut verdienenden Frau nie hätte entamten lassen. (Denn ich war es leid gewesen, als Alltagsheld gefeiert zu werden, weil ich mich wirklich nicht so sah.) Das war großer Quatsch, den ich mir später ständig vorhalten lassen musste. Die Wahrheit war: Ich fand (und finde) die Verbeamtung absurd. Ich hätte mich eh entamten lassen und dazu Stellung bezogen in der Hoffnung, dass viele Nachahmer dafür gesorgt hätten, dass dieser Unfug58 offiziell abgeschafft wird. (Nur zur Info: Die Nachahmer sind ausgeblieben.) Nun zur Hauptgeschichte: Dass ich seit 2013 noch viel exzessiver schreibe als zwischen 1997 und 2012, das konnte ich mir wirklich nur dank meiner Frau leisten. Dank des Rollentauschs. Denn obwohl die Kinder älter und selbstständiger wurden, dachte ich nicht daran, mein Deputat zu erhöhen, um selbst ein wenig mehr zu verdienen und meiner Frau zumindest das Gefühl zu geben, ich leiste einen spürbaren finanziellen Beitrag zu unserem Familieneinkommen. Das Gegenteil war der Fall: Ich reduzierte, um mich noch mehr dem Schreiben widmen zu können, und sie fand das in Ordnung. Für sie war das Schreiben mein Leben, und sie fand, dass sie genug verdiene und ich ruhig weiter an meiner Schriftsteller-»Karriere« arbeiten solle. (Das widersprach dann auf extreme Weise meinem Eindruck, den ich im Zusammenhang mit ihren ersten Reaktionen auf meinen Wunsch nach Entamtung hatte.) Mir wurde in jener Zeit bewusster denn je, dass ich wahrscheinlich zu den gefühlt sieben Männern in der BRD gehörte, die sich auf Kosten ihrer 58 Dass Landesangestelltenprinzip mit seiner Tabellenbesoldung ist übrigens auch Unfug. Aber das ist ein anderes Thema.

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Frauen und mit deren Einverständnis und Unterstützung selbst verwirklichen dürfen. 4. Auch typisch gerade in jener Zeit: Balsam für meine Männerehre war, dass meine Frau auf einigen Lesungen im Publikum saß und mich anstrahlte, als sei sie ungeheuerlich stolz auf mich. Die Ironie des Schicksals seit 2013: Ich war ein bisschen berühmt geworden und wurde hin und wieder beglückwünscht, aber finanziell messbaren Erfolg hatte ich nicht. Meine Frau arbeitete wie eh und je und garantierte uns das Leben, an das zu führen wir uns gewöhnt hatten. Ich selbst wurde im Großen und Ganzen nur selten von schlechtem Gewissen geplagt, denn ich war mir so sicher wie noch nie zuvor: Mein endgültiger Durchbruch stand unmittelbar bevor! Unter endgültigem Durchbruch verstand ich, dass ich nicht nur wahrgenommen wurde, sondern dass ich mit meiner Schreiberei Geld verdienen würde. Meine Frau sollte bitteschön die laufenden Kosten, also Miete, Supermarkt und Urlaube zahlen, aber die Rechnungen für meine Selbstverwirklichung wollte ich selbst begleichen. In dieser Hinsicht war ich auf ziemlich männliche Art und Weise ehrgeizig: Es war mir unangenehm, dass meine Schriftstellerei in der Steuererklärung kaum eine Bedeutung für unser Familieneinkommen hatte. Aber die Aussichten darauf, dass sich genau das ändern könnte, waren besser denn je: Ende 2015 brachte Schwarzkopf & Schwarzkopf meine Pressetexte heraus. Mein Buch Lesen ist cool! sollte Anfang 2016 bei Vandenhoeck erscheinen. Und mein Roman Nicht von dieser Welt beim KLAK-Verlag. Nicht von dieser Welt ist die überarbeitete Version des Romans, mit dem ich zehn Jahre zuvor die Agentur überzeugt hatte: Es geht um einen Lehrer, der Amok läuft. Dieser Roman, da war ich sicher, würde ein kommerzieller Erfolg59 werden, weil alle Medien dem Roman, den ich sehr ernst nahm, mit Sicherheit genauso viel Bedeutung beimessen würden wie meiner Entamtung, die ich selbst nie so ernst genommen habe. 59 Damit meine ich: Ich rechnete damit, dass wir zehntausend Bücher verkaufen könnten.

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Ich plante, spätestens zum Schuljahr 2017/18 aus dem Schulbetrieb auszusteigen,60 als freier Schriftsteller zu leben und meine Frau vom Druck, für das komplette Familieneinkommen dauerhaft verantwortlich zu sein, zu befreien. Und zwar durch meine »Kunst«. Dann kam allerdings alles anders. In jeder Hinsicht. Und letztendlich blieb alles beim Alten. 1. Verschiedene Veranstaltungen mit mir waren gut besucht, aber bezahlt wurde ich selten, und die Auswirkungen waren eher bescheiden. Das sieht man daran, dass 2. die Bücher sich bei Weitem nicht so verkauften, wie ich es in meinen wie immer sehr kühnen Träumen erhofft hatte. Nun war ich natürlich trotzdem definitiv das, was ich so lange hatte sein wollen: Schriftsteller! In dem Sinne, dass ich Bücher schrieb, die veröffentlicht wurden, die man kaufen konnte und die ich auf Lesungen vorstellte. Aber hätte ich mit meinen Einkünften meine Familie länger als einen Monat über Wasser wollen, hätten wir in einem Viermannzelt auf einem Zeltplatz leben müssen. Wenn alles so gelaufen wäre, wie ich es gehofft hatte, hätte meine Frau trotzdem nicht reduziert. Aber wir hätten uns wohl nach einer Haushaltshilfe umgesehen, die uns mehrmals pro Woche Arbeit abgenommen hätte. Wir wären ein Paar geworden, bei dem beide 100 % arbeiten und bei dem sich einer trotzdem mehr um die Belange der Kinder kümmert, und das wäre ich geblieben, weil Schriftstellerarbeitszeiten im Großen und Ganzen flexibler sind als Arbeitszeiten in einem Unternehmen. Aber so ist es nicht gelaufen. Deshalb blieb alles beim Alten. Das war mein einziger Trost, weil ich unser Leben trotz des unerfüllten Traums einer Schriftstellerkarriere immer geliebt habe. Das Jahr 2016, das nicht wie erwartet und erhofft das Jahr meines Durchbruchs wurde, wurde in der zweiten Hälfte erstaunlicher60 Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin super gern Lehrer. Vor allem stehe ich super gern vor Schulklassen. Und ich streite, versöhne und amüsiere mich super gern mit Schülern. Noch immer freue ich mich oft auf den Unterricht. (Stimmt wirklich. Ich habe allerdings nur 12 Stunden.) Aber Schriftsteller sein … das ist einfach mein Lebenstraum!

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weise das Jahr, in dem ich mich am meisten seit Mitte 2008 – damals endete mein Elternzeitjahr – um die Kinder kümmerte. Wenn mir das jemand Ende 2015 erzählt hätte, wäre ich ziemlich belustigt gewesen. Immerhin: »Schlimm« war das natürlich nicht. Ich war es gewohnt, ständig mit den Kindern zusammen zu sein. Und ich war es immer gern gewesen. Bevor ich schildere, warum beide Kinder plötzlich mittags nach Hause kamen, und wie toll, ausgefallen und gesund ich für sie kochte und wie sehr ich mich darüber freute, wenn sie an die Tür meines Arbeitszimmer klopften, schließe ich dieses »Schriftsteller-Kapitel« mit einem Exkurs ab. Exkurs: Maupassant und ich Noch während ich den Roman über Maupassant beendete, begann ich, an Mama ist auf Dienstreise zu arbeiten. Das war kurios, denn ich erzähle in Mama ist auf Dienstreise auch von einem Mann und Vater, der einerseits schreibt und schrieb, um sich selbst zu verwirklichen, der aber andererseits aus seinem Wunsch, ein möglichst unabhängiger (was in der Regel bedeutet: erfolgreicher) Autor zu werden, nie einen Hehl gemacht hat. Gleichzeitig überarbeitete ich die Endversion eines Romans über einen Schriftsteller, der im 19. Jahrhundert lebte und zunächst vor allem geschrieben hat, um der Tristesse eines katholischen Internats zu entfliehen, der aber später aus seinem Wunsch, ein möglichst unabhängiger, erfolgreicher Schriftsteller zu werden, nie einen Hehl gemacht hat. Maupassant hat für seinen Erfolg kämpfen müssen und er hat extrem darunter gelitten, dass sich dieser Erfolg lange Zeit nicht einstellte. Er hat zahlreiche Briefe an befreundete Schriftsteller, an Verleger und auch an Journalisten verfasst. Viele davon waren Bittbriefe. Er hat wie ein Besessener gearbeitet, oft an mehreren und sehr unterschiedlichen Projekten gleichzeitig. Er war Beamter, wollte aber kein Beamter, sondern Schriftsteller sein, und als ihm der Durchbruch gelang, beendete er von einem Tag auf den anderen seine Tätigkeit im Ministerium.61 61 Er hat in zwei Ministerien gearbeitet. In einem als Beamter, im anderen als Angestellter (wenn ich es richtig verstanden habe). Im Gegensatz zu mir hat

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Warum habe ich eigentlich einen Roman über Maupassant schreiben wollen? Das ist allein deshalb verrückt, weil im deutschsprachigen Raum das Zielpublikum überschaubar ist. (Ich bin schon mal gefragt worden: »Wo liegt das eigentlich, Maupassant? In der Bretagne?«) Ich dachte immer, dass ich diesen Roman hatte schreiben wollen, weil mich Maupassant seit der Schulzeit durchgehend begeistert. (Das Buch ist meinem Französisch-Leistungskurslehrer gewidmet.) Und weil mich eine Biografie und ein Reisebericht Maupassants derart fasziniert haben, dass ich im Jahr 2012 in Antibes von einer Sekunde auf die andere dachte: Über diesen Autor muss ich etwas schreiben! Heute denke ich: Wollte ich vielleicht tief in meinem Inneren durch Maupassant etwas über den Autor Arne Ulbricht erzählen? Ich denke, dass das neben meiner Begeisterung ein weiterer, wichtiger Grund war. Folgende Textauszüge – mit freundlicher Genehmigung des KLAK-Verlages zitiert – zeigen es. Und vielleicht vermitteln sie einen ungefähren Eindruck davon, wie schwer es für meine Frau oft war, mit einem solchen Besessenen, manchmal Verzweifelten, dann wieder Berauschten zusammenleben zu müssen. Auszug aus dem Kapitel Bei einer Hure62 An den darauffolgenden Abenden überarbeitete er das Gedicht und skizzierte in seinem Zimmer und im Büro das Thema eines wesentlich umfangreicheren Gedichts über die Liebe zwischen einem Ruderer und einer Wäscherin. Daran arbeitete er mit geradezu fanatischer Besessenheit ganze Nächte hindurch, weshalb er im Büro am Schreibtisch sitzend einige Male einschlief. Während er mit einzelnen Versen kämpfte und durchgehend an Sex dachte – er dachte wie vermutlich alle anderen Autoren auch stets an das, woran er schrieb – und die Seine zu sehen und zu riechen glaubte, fiel ihm ein, dass er eigentlich einen ganzen er seine Arbeit regelrecht gehasst. Jedoch: Gelänge mir ein »echter« Durchbruch … dann wäre ich ziemlich schnell kein Lehrer mehr. 62 Maupassant war nicht verheiratet, hat sich oft mit Frauen, darunter zahlreichen Prostituierten, vergnügt und sich durch seine sexuellen Eskapaden massiv inspirieren lassen. Diese Teile sind selbstverständlich nicht autobiografisch …

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Band bestehend aus Seine-Novellen verfassen könnte, ja sogar sollte. Schließlich hatte er in den zurückliegenden Jahren mehr als genug Stoff für skurrile, erotische und spannende Geschichten gesammelt. Er erinnerte sich zum Beispiel detailliert an jenen Tag, an dem sich der Anker der Etretat während einer nächtlichen Ausfahrt verhakt hatte. Sie hatten alle gemeinsam am Seil ziehen müssen, sogar Robert hatte mit angepackt, bis der Anker sich mit einem Ruck löste und wieder eingeholt werden konnte. Eine Leiche hatten sie nicht versehentlich hochgezogen. Aber wie wäre es wohl gewesen … Guy lächelte, zündete eine neue Kerze an und schrieb im Qualm seiner eigenen Pfeife eine Novelle. Er setzte die Feder lediglich ab, um sie ins Tintenfass zu tunken. Denkpausen legte er nicht ein. Die Novelle war einfach da – er hatte sie noch zügiger verfasst als sein erstes Prosastück – und als er sie anschließend las, änderte er kaum etwas und widmete sich wieder dem Gedicht, in dem die Vögel zwitscherten, während der Ruderer und die Wäscherin es im Mondschein ausgiebig trieben. Das war … wieder … ziemlich pornografisch. Aber war es zu pornografisch? Das würde sich zeigen. Er nannte es Au bord de l’eau. Zumindest der Titel war vollkommen unverdächtig. Zunächst würde er seine Texte wie üblich bei Flaubert vorlesen. Bestenfalls, wenn all die anderen anwesend waren. Sollten sie dort nicht durchfallen, würde sich sicher jemand finden, der bereit war, sich für eine Veröffentlichung einzusetzen. Allerdings konnte es durchaus sein, dass sowohl die Novelle, der er den Titel En canot gab, als auch das Gedicht über die bärtige Frau zwar auf Wohlwollen stieß und für ausgelassene Stimmung sorgte … aber letzten Endes nicht wirklich ernst genommen wurde. Und davor hatte Guy Angst. Denn eine solche Reaktion wäre ein Rückschritt in seinem Streben, Schriftsteller zu werden. Ein Rückschritt, den er schwer verkraften würde. S. 150 f. Auszug aus dem Kapitel Eine pornografische Aufführung im Atelier Als sich das Jahr dem Ende neigte, brütete Guy über dem Konzept für einen Roman über eine unglückliche Ehe und überlegte sich Themen für weitere Novellen. Er saß am Schreibtisch und

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seufzte, während er brütete und überlegte. Sein Leben drehte sich im Kreis, denn auf jeden kleinen Erfolg folgte ein Erfolg … der genauso klein war oder gar ein Misserfolg. Kleine Erfolge waren Veröffentlichungen in kleinen Zeitungen. Misserfolge waren Theaterstücke, die abgelehnt wurden. Und irgendwie befürchtete er, dass ihn auch das Jahr 1878 nicht wei­terbringen würde. S. 174 Auszug aus dem Kapitel Verletzung der Sitten und der öffentlichen Moral Guy hatte den Eindruck endlich auf der Zielgeraden angekommen zu sein: Boule de suif würde im April erscheinen und sein Gedichtband war unter dem Titel Des vers angenommen worden – nun würde sich nur noch zeigen müssen, ob Guy auf dem Weg zum unabhängigen Schriftsteller auch noch die letzte Hürde nehmen würde: Und diese Hürde zu nehmen, war mindestens genauso kompliziert wie einen Flaubert zu überzeugen. Guy musste das Publikum gewinnen! Das Publikum, das Zola verschlang und noch immer Hugo las und von Abenteuergeschichten schwärmte. S. 209 Auszug aus dem Kapitel Allein Noch am selben Tag schickte er das Attest an seinen Arbeitgeber mit der Bitte, ihm einen dreimonatigen Sonderurlaub zu genehmigen, um wieder zu regenerieren. Auf die Antwort musste er nicht lange warten. Guy konnte es selbst kaum glauben: Aber das Ministerium hatte keine Einwände. Als Guy die Genehmigung in der Hand hielt, lächelte er zum ersten Mal seit langer Zeit. Er glaubte zu wissen, dass dieser Sonderurlaub der Beginn seines endgültigen Abschieds aus dem Ministerium war. Er hatte ein weiteres Ziel erreicht. Das Glücksgefühl, das ihn nach dieser Erkenntnis durchströmte, verjagte für einige Tage Kopfschmerzen, Blindheit und Herzrasen. Er nutzte sie, indem er schrieb wie ein Besessener. Als müsste er all die in den Ministerien verlorenen Jahre – es waren über acht! – nachholen. S. 224

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Das sollte genügen. Auf das in Textauszug 4 geschilderte Ereignis warte ich noch. Meine Frau hat zwar angeboten, ich dürfe mich aufs Schreiben konzentrieren, aber erstens würde ich sie damit unter Druck setzen, dauerhaft unser Einkommen zu garantieren, und zweitens wollte und will ich wenigstens ein bisschen zu unserem Jahreseinkommen beitragen. Und das schaffe ich auch – dank des Lehrerberufs. Noch mehr sehne ich mich danach, dass irgendwann auch mir die Frage gestellt wird, auf die Maupassant am Ende des Romans antworten darf. Was er gefragt wird, verrate ich natürlich nicht, denn man sollte nie das Ende eines Romans verraten. Wie sehr mich der Rollentausch selbst zu verschiedenen Geschichten animiert hat, das wiederum werde ich erzählen. Aber noch nicht jetzt.

Mehr Hausmann denn je

Einer der Gründe dafür, dass ich mich plötzlich noch wesentlich mehr um die Kinder kümmerte als in den Jahren zuvor, war die Entscheidung meines Sohnes, Vegetarier zu werden. Er hat sich dazu aus freien Stücken entschieden. (Wir sind es nicht und haben ihn daher auch nicht überredet.) Das bedeutete: Er aß nicht mehr in der fleischlastigen Mensa, und auf die nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung, die er noch in der fünften und sechsten Klasse in Anspruch genommen hatte, hatte er keine Lust mehr. Gleichzeitig entschied sich die beste Freundin meiner Tochter dazu, nicht mehr bis vier Uhr in den Offenen Ganztag zu gehen. Meine Tochter war immer gern im Offenen Ganztag gewesen, aber ohne ihre allerbeste Freundin wollte sie dann nicht mehr. Also meldeten wir sie ab, was dazu führte, dass beide Kinder direkt nach der Schule nach Hause kamen und ich plötzlich in einem Maße für meine Kinder da war, wie es meine eigene Mutter damals für mich und meinen Bruder gewesen war. Da ich auf Hochtouren am Maupassant-Roman arbeitete, passte mir das eigentlich überhaupt nicht. Aber ich nahm mir vor, mir Mühe zu geben und meine Kinder nach Möglichkeit nicht spüren zu lassen, dass ich in einer Phase war, in der ich am liebsten 24 Stunden am Tag am Roman gearbeitet hätte. Das gelang mir nicht immer, aber ziemlich oft. Mühe gab ich mir an einem ganz bestimmten Ort allerdings eher wenig: in der Küche! Das tat mir allein deshalb leid, weil sich die Kinder gemeinsam auf eine Essenswunschliste einigten, die sie mir feierlich überreichten: Montag: Nudeln mit Butter Dienstag: Pizza mit Eisberg-Salat Mittwoch: Reis mit Erbsen und überbackenem Käse Donnerstag: Kässpätzle ohne Zwiebeln Freitag: Pfannkuchen mit Käse

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Montag: Nudeln mit Hackfleischsoße ohne Hackfleisch Dienstag: Bratkartoffeln mit Spiegelei Mittwoch: Reis mit Bohnen Donnerstag: Gnocchi mit Eisberg-Salat Freitag: 1 Pizza & 1 Flammkuchen63 Ich hielt mich ziemlich lange an den ersten dieser Wünsche. Inzwischen ist es besser geworden, aber auch nur ein bisschen. Es ist mittags bei uns vermutlich so, wie man es sich vorstellt, wenn ein Vater zu Hause ist: Es gibt auffallend häufig Nudeln. Mal mit Butter. Mal mit Pesto. Damit meine Frau nicht immer schimpft, gibt es als Beilage Gemüse. Aber sie schimpft dann trotzdem ziemlich oft, weil Gemüse heißt: entweder Tiefkühlerbsen oder Tiefkühlbohnen. Die Wahrheit ist: Auf die Zubereitung des täglichen Mittagessens könnte ich gut und gern verzichten. Das machen 99 % aller Frauen im traditionellen Rollenmodell mit Sicherheit »besser«. Wenn nicht gar »deutlich besser«. Dabei ist es nicht so, dass ich nicht kochen könnte. Und nach Rezept kann ich praktisch alles zubereiten. (Dass ich mich am Buch Kochen und Backen nach Grundrezepten (Erstauflage 1932) von Luise Haarer orientiere, dass »jungen Mädchen und Frauen ein Ratgeber« sein soll, muss Ironie des Schicksals sein.) Nur: Ich nehme mir dafür nur ungern die Zeit. Sobald die Kinder aus dem Haus sind, setze ich mich an meinen Nichtschultagen sofort an den Schreibtisch, und an meinen Schultagen, wenn ich erst später Unterricht habe, auch. Und jeder, der Bücher schreibt, weiß, dass man quasi nie fertig ist. (Vor allem dann nicht, wenn man an mehreren Büchern bzw. Texten parallel arbeitet oder das nächste Projekt schon wartet – und das ist bei mir seit 1999 immer der Fall gewesen.) Deshalb bin ich zur Mittagessenszeit nie wirklich entspannt. Eher im Gegenteil: Mit einem mich selbst nervenden Fanatismus versuche ich, keine Sekunde Zeit zu verlieren, und das heißt: Ich arbeite meistens durch bis viertel vor eins. Um viertel nach eins kommen die Kinder. Es bleibt also eine halbe Stunde für die Zubereitung des Mittagessens. Während ich Mittagessen zubereite – auch das ist wahr63 Meine Tochter ist keine Vegetarierin. Aber so lange sie abends manchmal Wurst essen darf, ist alles kein Problem. Und das darf sie.

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scheinlich typisch Mann – versuche ich dann alles andere nebenher zu machen: Wäsche in die Waschmaschine stopfen, Geschirrspüler ausräumen, Wäsche aufhängen (falls ich doch schon morgens daran gedacht habe, eine Waschmaschine anzuschmeißen), ein wenig räumen bzw. zur Seite schieben … und dann kommen die Kinder. Und machen das, was Kinder halt so tun: Sie meckern über das Essen! Vor allem meine Tochter kann auf ganz unnachahmliche Art und Weise motzen, wenn ich ihrer Meinung nach etwas »falsch« gemacht oder etwas »vergessen« habe. Wenn ich mir aber ausnahmsweise doch mal richtig Mühe gegeben habe und dann das, was ich zubereitet habe, mehr oder weniger allein essen muss, ist die Stimmung mittags eher durchschnittlich. Das liegt vor allem an mir selbst, weil ich mir nicht angewöhnen kann, diese Zeit einfach als Pause zu sehen. Meistens beginne ich schon abzuräumen, während die Kinder noch essen. (Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf: Vielleicht schaffe ich es ja irgendwann doch noch, mich zu ändern.) Im Großen und Ganzen bemühe ich mich, mich anschließend nicht sofort zurückzuziehen und im Arbeitszimmer einzuschließen. Meiner Tochter helfe ich bei den Hausaufgaben. (Meinem Sohn würde ich auch helfen, aber er braucht eigentlich nie Hilfe.) Wenn meine Tochter will, spiele ich etwas mit ihr, und sobald wir anfangen etwas zu spielen, vergesse ich endlich den Schreibtisch, und das tut mir gut, was meine Tochter nicht weiß. Meinem Sohn habe ich ausdrücklich angeboten, ebenfalls mit ihm zu spielen. Früher fiel seine Wahl auf Risiko, inzwischen wählt er meistens Schach. Wir spielen beide einfach drauf los. Ohne Sinn und mit nur ein bisschen Verstand. Aber die meisten Partien sind richtige Schlachten, mal gewinnt er und mal ich. Ich habe ihm allein deshalb angeboten, mit ihm auf Wunsch was auch immer zu spielen oder mit ihm zu puzzeln, damit er nicht zu viel am PC hängt und irgendwelche Spiele spielt und während des Zockens in den Computer brüllt, weil er sich mit seinen Kumpels zwar werktags nicht oft trifft, sie aber via Skype ständig in Kontakt sind. (Was ich – ich hätte es mir nie zugetraut – interessant finde.) Oft kommt er mitten in einer intensiven Arbeitsphase in mein Zimmer (»mein« Zimmer bzw. »Papas« Zimmer ist das Arbeitszimmer) geplatzt und fragt: »Papa, Lust auf eine Partie Schach?« Oder: »Papa, Lust ein bisschen zu puzzeln?«

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Dann spielt sich das immer gleiche Ritual ab. Ich grummele: »Ja … gleich.« – »Du musst nicht …« – »Doch … gleich komme ich!« Gleich bedeutet dann im Schnitt zehn Minuten. Eigentlich will ich weiterarbeiten. Aber eigentlich finde ich auch, dass ich für meine Kinder da sein muss. Und eigentlich bin ich ein leidenschaftlicher Spieler. Vor allem allerdings am Wochenende und abends. Letztendlich ist es dann aber immer so wie mit meiner Tochter: Wenn wir erstmal in ein Schachspiel vertieft sind oder zu puzzeln beginnen und dabei ???-CDs oder die Känguru-Chroniken hören, schalte ich ab. Und so lebten und leben wir und finden es längst vollkommen normal, mittags gemeinsam zu essen und an den Nachmittagen jeder für sich oder alle gemeinsam zu Hause zu sein (sofern die Kinder nicht unterwegs sind) und darauf zu warten, dass Mama zwischen sechs und sieben nach Hause kommt. Vielleicht ist das das Beste an meinem mal wieder vertagten Durchbruch: Unser Rollentausch wurde nicht mal angekratzt. Das Gegenteil war der Fall. Er wurde quasi erneut zementiert.

Ausblick Wie sieht unser Rollentauschleben in zehn Jahren aus? Arbeitet meine Frau dann noch immer 100 % und schreibe ich dann noch immer Bücher, die veröffentlicht werden und sich mäßig verkaufen und unterrichte in Teilzeit? Keine Ahnung. Meine Frau liebt den Garten über alles und kann sich intensiv damit beschäftigen. Selbst wenn ich wollte, wüsste ich nicht, was man länger als eine Stunde lang im Garten gärtnern könnte. (Ich kann dort sehr gut lesen – stundenlang!) Wenn sie mit ihrer Mutter telefoniert, dann reden die beiden schon mal 18 Minuten lang darüber, wie man am besten Radieschen einsät. Bei mir ist das ganz anders, und ich bin nicht besonders stolz darauf: Ich esse gern Radieschen aus dem Garten, aber wie man sie anbaut und pflegt, ist mir egal. Ich interessiere mich nicht dafür. Also werde ich mich, wenn die Kinder aus dem Haus sind, vermutlich nicht um den Garten kümmern. Wird sie dann doch ihre Arbeitgeber bitten, auf 80 % gehen zu dürfen, um einen freien Tag zu haben (und sich ungestört im Garten austoben zu können)? Möglich. Werde ich dann

Ausblick145

aufstocken, weil ich an einer anderen Schule das machen kann, was an meiner jetzigen Schule nicht geht, zum Beispiel eine französische Theater-AG betreuen? Möglich. Werden wir nach Berlin oder woandershin ziehen, weil meiner Frau dort eine spannende (Vollzeit-) Stelle angeboten wird? Möglich. Dann würde ich erstmal sehen, was ich finde und unseren neuen Alltag organisieren. Werden wir woandershin ziehen, weil eine Schule dringend einen Lehrer wie mich sucht? Unmöglich. Aus zwei Gründen: Erstens wird keine Schule einen Lehrer wie mich suchen. Und zweitens ist allein der Gedanke, wir könnten uns beruflich plötzlich nach mir richten, absurd. Wird es mir gelingen, einen Bestseller zu landen, der in 26 Sprachen übersetzt wird? Hm. Die etwas entferntere Zukunft ist offen. Aber eine Sache schließe ich eher aus: Dass wir die Rollen »zurücktauschen«. Dass sie nur noch 50 % arbeitet und ich Vollzeit arbeite. Nicht, weil ich faul (geworden) bin. In meinen Stoßphasen arbeite ich jetzt auch »voll«.64 Aber dass ich am Ende derjenige bin, der im Zweifelsfall nicht einspringt, sollten meine Kinder schon mit Anfang zwanzig eigene Kinder bekommen, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Meine Frau auch nicht. Einmal hat sie sogar gesagt: »Du freust dich bestimmt, wenn unsere Tochter mit 17 ein Kind bekommt. Dann könntest du aussteigen und dich einfach ein Jahr um deinen Enkel kümmern.« Da steckt ein Funken Wahrheit drin: Einerseits würde ich mich nicht freuen, weil man in dem Alter vermutlich nie gewollt schwanger wird. Andererseits verzückt mich die Vorstellung geradezu, in Opa-Elternzeit zu gehen. Vielleicht hat genau das der Rollentausch aus beziehungsweise mit uns gemacht. Es sind diese Vorstellungen, die wir immer umgekehrt denken. In welcher Familie würde denn der 54-jährige Mann eine Auszeit nehmen, um seinem Kind in einer solchen Situation zu helfen? Bei uns gäbe es nach jetzigem Stand der Dinge keinerlei Diskussion darüber. Ich glaube, dass sich in zehn Jahren nicht viel verändert haben wird. Denn selbst wenn meine Frau reduzieren sollte, würde es nichts daran ändern, dass sie diejenige wäre, von deren Einkom64 Diese Zeilen schreibe ich gerade an Himmelfahrt 2017. Seit Stunden sitze ich schon am Schreibtisch. Meine Frau backt mit den Kindern.

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men wir leben würden. Sie bliebe diejenige, die entscheidet, mit welcher Summe wir die Kinder bei ihrer Ausbildung unterstützen könnten. Sie wäre auch noch immer diejenige, die die »strengeren« Arbeitszeiten hätte, während ich flexibel bliebe und mich weiterhin der langen Schulferien erfreuen könnte. Und wahrscheinlich werde ich im Alltag auch in zehn Jahren das machen, was ich jetzt mache: Ich beobachte Väter, die ihre Tochter in einer Tragetasche herumtragen oder mit ihrem anderthalbjährigen Sohn unterwegs sind und bin einerseits traurig, weil ich mich an meine eigene Elternzeit einfach gern zurückerinnere. Andererseits freue ich mich, weil ich immer häufiger solche Väter sehe. Meine Frau wird sich auch in zehn Jahren noch wundern, wenn eine hoch qualifizierte Frau lange in Elternzeit geht. Und sie wird sich freuen, wenn sie einer Mutter die Chance geben kann, beruflich voranzukommen. So hat sich unsere Wahrnehmung geändert. Wir sehen viele Dinge durch eine Rollentauschbrille. Aber abgesehen davon sind wir ganz normal geblieben. Zwei Menschen mit Stärken und Schwächen.

Das Thema in meinen Büchern Unser Rollentausch hat dazu geführt, dass mein Themenspektrum sich verändert hat. »Rollenverteilung« ist eines meiner zentralen Themen geworden. Und das ist mit Sicherheit nicht besonders erstaunlich, denn wie 99 % aller Schriftsteller habe auch ich mich immer wieder durch meine Erlebnisse inspirieren lassen. In meinem (unveröffentlichen) Roman Auszeit geht es um einen Teilzeitlehrer, der chaotisch ist, sich um die Kinder kümmert und erfolglos Bücher schreibt, während seine Frau, die extrem gut organisiert ist, Oberstufenleiterin in Vollzeit ist und Direktorin werden möchte. Bis hierhin ist von der Personenkonstellation alles recht autobiografisch. Irgendwann bedrückt ihn jedoch das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Er packt eine Sporttasche, bricht auf und verliert sich in der Hamburger Nacht. In meinem Roman Im Großstadtdschungel, der vermutlich nächstes Jahr erscheinen wird, ist die Mutter erfolgreiche Künstlerin und der Vater Buchhändler mit eigener Buchhandlung. Sie kümmern sich

Das Thema in meinen Büchern147

beide um die Kinder, die von der Großstadt mitten im Gewühl am Bahnhof Zoo verschluckt werden. Vollkommen verzweifelt begeben sich die Eltern zunächst zu zweit und dann jeder für sich allein auf die Suche, während der sie ihr gesamtes Leben hinterfragen. Ort der Handlung ist Berlin. Das Paar wohnt dort, wo wir gewohnt haben. Ich hatte ab 2007 begonnen, Vatergeschichten zu schreiben. Ein Dutzend davon existiert. Ich selbst habe die Geschichten noch nicht an Verlage geschickt, weil man für Kurzprosa dieser Art noch schneller eine Absage des Lektoratsassistenten oder der Verlagspraktikantin erhält als für einen Roman. Vorgelesen habe ich die Geschichten bisher nur auf Wettbewerben oder auf Literaturfestivals, wo Geschichten zu bestimmten Themen gesucht wurden. In einer meiner Kurzgeschichte geht es konkret um das Thema Elternzeit. In einer anderen um eine Mutter, die alles machen muss (und will) und eines Tages den Mann mitsamt anderthalbjährigem Kind allein lässt und shoppen geht. Und dann steht er plötzlich da, der Vater, und weiß nicht, was er mit dem Kind anfangen soll. Ich habe sogar ein ganzes Kinderbuch aus der Sicht eines sechsjährigen Mädchens geschrieben, das mit einer Mama aufwächst, die ständig auf Dienstreise ist, weshalb sie mit ihrem Bruder ständig allein beim Papa bleibt. An diesem Buch arbeite ich immer mal wieder und hoffe, es irgendwann selbstbewusst wem auch immer anbieten zu können. Wann mich das Thema nicht mehr interessiert, ist noch nicht abzusehen: Momentan plane ich noch weitere Geschichten und einen Roman dazu.

Was unsere Kinder denken

Im Zusammenhang mit diesem Buch habe ich meinen Kindern einige konkrete Fragen gestellt. Die Fragen sollten sie schriftlich beantworten und sich dafür auch Zeit nehmen. Bezeichnenderweise hat meine Tochter die erste Frage überhaupt nicht verstanden, worin ja eigentlich schon eine Aussage steckt. Ich habe die Rechtschreibung »angepasst« und einige Sätze ein wenig umgestellt, sonst aber nichts verändert. 1. Beschreibe Mamas und Papas Rolle in der Familie. Tochter – Sohn Mama: Hauptverdienerin, »Familienchef« Papa: oft zu Hause, Hausarbeit, Haupterziehender 2. Wünschst du dir manchmal, dass es anders wäre? Warum (nicht)? Tochter Manchmal wünsche ich mir, dass wir umziehen, weil ich es in Berlin auch schön finde. Aber ich will auch nicht, weil ich dann alle meine Freunde nicht mehr haben kann. Sohn Nein, es ist gut so, wie es ist. Ich kenne es ja auch gar nicht anders. Wir drei sind ja auch ein eingespieltes Team, aber natürlich gäbe es auch Vorteile, wenn es andersherum wäre: z. B. beim Thema »Programme installieren« oder bei Mathehausaufgaben

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3. Wie findest du es, dass Mama so oft auf Dienstreise ist? Begründe deine Meinung. Tochter Der Nachteil, wenn Mama oft auf Dienstreise ist, ist, dass ich sie dann nicht so oft sehe. Der Vorteil daran ist, dass ich dann nicht so viel aufräumen muss. Sohn Eigentlich ist es auch manchmal ganz schön, zu dritt zu sein. Vieles klappt besser und schneller, zum Beispiel das Frühstück. Außerdem gibt es viel weniger Streit. Manchmal nervt es aber auch ganz schön, weil das iPad eine ganze Woche weg ist oder wenn Papa abends meiner Schwester vorliest und ich ohne Gesellschaft bin (vor allem, wenn ich spät nach Hause komme). 4. Was nervt konkret an Papa? Was ist eigentlich ganz nett an ihm? Tochter An Papa nervt, dass er immer sofort stöhnt, wenn etwas auf den Boden fällt. Und wenn mein Bruder, Mama und ich beim Essen ein bisschen Quatsch machen wollen, will er das nicht. Das Gute an ihm ist, dass er leckeres Essen macht65 und dass er mir immer vorliest. Sohn An Papa nervt, dass er oft stöhnt wegen Sachen, die gar nicht »stöhnenswert« sind (zum Beispiel, wenn jemand oft hintereinander niest). Und dass er manchmal, wenn er gerade etwas schreibt, unansprechbar und gereizt ist. Und dass er, wenn wir zum Beispiel auch beim Spielen mit Mama quatschig sind, nicht mitmacht. Gut an ihm ist, dass er fast immer für dich da ist, dir bei jedem Problem (außer bei Mathe oder bei Problemen mit dem Computer) helfen kann und viel mit uns spielt.

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Was unsere Kinder denken151

5. Was nervt konkret an Mama? Was ist eigentlich ganz nett an ihr? Tochter An Mama nervt, dass man immer aufräumen muss. Gut an Mama ist, dass man mit ihr viel Spaß machen kann, auch mal eine Kitzelparty. Und manchmal erlaubt Mama sogar mehr als Papa. Zum Beispiel die Übernachtungsparty, die ich an meinem Geburtstag machen will. Sohn An Mama nervt, dass sie immer sehr schnell gereizt ist, wenn man zum Beispiel mit dem Besteck klirrt. (Papa nervt das auch, aber Mama noch extremer.) Dass sie manchmal Kopfschmerzen hat und dann sehr schnell »aggressiv« wird und dass sie ängstlicher ist als Papa, zum Beispiel beim Klettern. Aber Mama interessiert sich viel mehr für meine Interessen (zum Beispiel PC-Spiele) und in vielen Dingen ist sie nicht so streng wie Papa (zum Beispiel, wenn es um PC-Spiele geht).

Was zu sagen bleibt

Dieses Buch soll Mut machen. Oder einfach ermuntern. Oder zum Nachdenken anregen. Und natürlich Spaß bringen. Statt mit einem Fazit schließe ich mit einem Appell: Auf auf, Mütter und Väter, wagt den Rollentausch!

Achtung, es folgt noch der Epilog.

Epilog: Sommer 2016

Meine Frau ist an einem Sonntag sehr, sehr früh von einem Wagen abgeholt worden und zum Düsseldorfer Flughafen gefahren. Von dort fliegt sie Business Class an die Westküste der USA und spricht eine Woche lang ausschließlich englisch – sowohl im exzellenten Hotel, in dem sie untergebracht ist, als auch mit ihren dortigen Kollegen. Die Kinder und ich verbringen einen entspannten Sonntag. Dann steht uns eine ziemlich normale Woche bevor, und die sieht ungefähr so aus: Montag: Wir stehen gegen halb sieben auf, frühstücken, die Kinder gehen in die Schule, dann setze ich mich an den Schreibtisch, arbeite und ärgere mich über die Absage eines Verlags, mittags bereite ich das Essen für meinen Sohn zu, nachdem ich mit ihm gegessen habe, gehe ich in die Grundschule meiner Tochter – montags bleibt sie im Offenen Ganztag – wo ich mit Kindern lesen übe, gegen sechzehn Uhr versuchen wir mit meiner Frau, die gerade aufgestanden ist, zu telefonieren oder zu skypen, nachmittags hat meine Tochter Ballett und sitzt, bevor sie losgeht, heulend auf dem Bett und beschwert sich, weil ich keinen Dutt machen kann, aber irgendwie schaffen wir es dann doch, ihr einen Dutt zu machen, ich gehe einkaufen, hole auf dem Rückweg meine Tochter ab, vor dem Abendessen gieße ich auf dem Balkon und im Garten Blumen (was sonst meine Frau macht), nach dem Abendessen lese ich meiner Tochter vor und versuche mich anschließend noch zu meinem Sohn zu setzen, der ein Problem mit dem Computer hat, wobei ich ihm nicht helfen kann. Als auch er im Bett ist, lese ich und trinke Wein. Dienstag: Wir stehen gegen halb sieben auf, frühstücken, die Kinder gehen in die Schule, anschließend schmeiße ich den Geschirrspüler an, dann setze ich mich an den Schreibtisch, arbeite zwei Stunden und ärgere mich darüber, dass ein bestimmter Agent sich nicht gemeldet hat, radele in die Schule und gebe zwei Stunden Unter-

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richt, mittags kommen die Kinder und ich gleichzeitig aus der Schule und essen das, was vom Vortag übrig geblieben ist, nach dem Essen wird meine Tochter von einer anderen Mutter gemeinsam mit deren Tochter zum Cello und Orchester gebracht, ich verliere eine Partie Schach gegen meinen Sohn, mache mich auf den Weg, meine Tochter und ihre Freundin vom Cello abzuholen, kaufe unterwegs ein, vor dem Abendessen räume ich den Geschirrspüler aus und gieße auf dem Balkon und im Garten Blumen, wir essen, nach dem Abendessen lese ich meiner Tochter vor und setze mich anschließend noch zu meinem Sohn, der nicht weiß, was er für Mathe lernen soll, als auch er im Bett ist, lese ich und trinke Wein. Mittwoch: Wir stehen gegen halb sieben auf, frühstücken, die Kinder gehen in die Schule, dann setze ich mich eine Stunde an den Schreibtisch, arbeite und ärgere mich, weil SPON meinen Text nicht haben will, obwohl ich selbst ihn wie immer brillant finde, anschließend habe ich bis halb vier Schule, mittags essen die Kinder allein, gegen sechzehn Uhr versuchen wir mit meiner Frau, die gerade aufgestanden ist, zu telefonieren oder zu skypen, am späten Nachmittag hat meine Tochter Theaterkurs und mein Sohn Geigenunterricht, von wo aus er direkt zum Tae-Kwon-Do geht, abends hole ich meine Tochter vom Bus ab, vor dem Abendessen gieße ich auf dem Balkon und im Garten Blumen und schreibe anschließend an drei Mütter eine SMS beziehungsweise rufe sie an, weil meine Tochter sich einen Tag später verabreden will – niemand hat Zeit – nach dem Abendessen lese ich meiner Tochter vor und setze mich anschließend noch zu meinem Sohn, der die Mathearbeit leicht gefunden hat, als auch er im Bett ist, lese ich und trinke Wein. Donnerstag: Wir stehen gegen halb sieben auf, frühstücken, die Kinder gehen in die Schule und auch ich fahre zu meiner Schule, zwei Stunden Unterricht, anschließend werfe ich eine Waschmaschine an – bald kommt ja meine Frau wieder –, setze mich dann an den Schreibtisch und arbeite, nach dem Mittagessen habe ich Zeit für meine Tochter und schaue mir ihre Hausaufgaben an und übe mit ihr, anschließend spielen wir Siedler von Catan, gegen sechzehn Uhr versuchen wir mit meiner Frau, die gerade aufgestanden ist, zu telefonieren oder zu skypen, dann malt meine Tochter und ich arbeite noch ein bisschen, während mein Sohn den Computer anbrüllt und

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sich schließlich auf den Weg zum Orchester macht, vor dem Abendessen gieße ich auf dem Balkon und im Garten Blumen, nach dem Abendessen lese ich meiner Tochter vor und setze mich anschließend noch zu meinem Sohn und gucke mit ihm eine Stunde lang Star Wars (Episode VII), als auch er im Bett ist, lese ich und trinke Wein und schaue mir eine Folge meiner Lieblingsserie The Wire an. Freitag: Wir stehen gegen halb sieben auf, frühstücken, die Kinder gehen in die Schule, ich selbst fahre mit dem Roller ebenfalls zur Grundschule und lese in der Klasse meiner Tochter vor, kaum bin ich zurückgerollert, setze ich mich an den Schreibtisch und arbeite, anschließend mache ich den Geschirrspüler und eine Sechzig-GradWäsche an und räume auf, weil wir eine Woche lang nichts weggeräumt haben, nach dem Mittagessen werfe ich die Wäsche in den Trockner, am Nachmittag hat mein Sohn Klavier und meine Tochter Ballett, ich nutze die Zeit und gehe eine Runde laufen, vor dem Abendessen gieße ich auf dem Balkon und im Garten Blumen und beziehe die Betten, wofür ich immer die Dienstreisen meiner Frau nutze, dann hole ich meine Tochter ab, nach dem Abendessen lese ich meiner Tochter vor, die sagt, dass Mama jetzt mal wiederkommen solle, denn sie könne ihr viel schöner den Rücken kraulen als ich. Nachdem ich mir das angehört habe, setze ich mich noch zu meinem Sohn, der findet, dass Mama jetzt mal wiederkommen solle, das iPad sei schließlich lang genug weg gewesen, und gucke mit ihm die zweite Hälfte von Star Wars (Episode VII). Als auch er im Bett ist, lese ich und trinke viel Wein. Samstag: Wir stehen um halb neun auf, frühstücken und räumen auf und gehen einkaufen und alles ist sehr hektisch, denn mittags kommt meine Frau beziehungsweise Mama zurück. Sie wird sehr müde sein. Aber die Freude ist groß, als es klingelt und sie ihre Kinder in den Arm nimmt und mir einen flüchtigen Kuss gibt. Dann erzählen die Kinder – vor allem die Tochter – ohne Punkt und Komma, und meine Frau nickt, lacht ein bisschen und lässt sich schließlich auf den Balkon in einen Stuhl fallen. Wir unterhalten uns ein wenig, dann steht sie auf und betrachtet den Garten. Sie nickt. Anschließend betrachtet sie die Blumentöpfe auf dem Balkon. Sie nickt wieder. Nun wirft sie einen Blick in eine Richtung, die mir suspekt ist. Ihre Augen verengen sich zu gefähr-

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lichen Schlitzen, ihr Blick wirkt plötzlich wie versteinert: Denn an einem Geländer hängt ein Blumentopf … den ich dort wirklich noch nie habe hängen sehen. Die Blumen machen einen extrem trostlosen, unrettbaren Eindruck. Meine Frau schüttelt den Kopf und sagt mit noch immer versteinerter Miene: »Tja, dass du es schaffst, alle Blumen zu gießen … da habe ich wohl auch zu viel erwartet.« Ich sage nichts. Aber ich denke: Alles ist gut.